ORDO 63: Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 9783828260214, 9783828205734

Das Jahrbuch ORDO ist seit über 50 Jahren ein Zentralort der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aus dem Konze

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German Pages 591 [604] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Professor Hans Willgerodt zum Gedächtnis
Wertvolle Wissenschaft - Anmerkungen zu Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Beiträge zur Politischen Ökonomie
Was ist ein politischer Ökonom? - Zum Beitrag von Hans Willgerodt zur Theorie der Wirtschaftspolitik
Hauptteil
Die Verteidigung des Euro: ein österreichischer Ansatz (Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel)
Vom Euro zum Goldstandard? Eine Replik auf den Beitrag von Jesus Huerta de Soto
Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung? Anmerkungen zur Rolle der EZB auf den Kapitalmärkten
Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen
Re-Interpreting the “Chinese Miracle”: A Multi-Dimensional Framework
Ergänzende Anmerkungen zum chinesischen Wunder
Homo oeconomicus oder Homo culturalis? - Aktuelle Herausforderungen für das ordoliberale Menschenbild
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
Wie (un-)fair sind Ökonomen? - Neue empirische Evidenz zur Marktbewertung und Rationalität
Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games
Unternehmen als politische Akteure. Eine Ortsbestimmung zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung
Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? - Eine ordonomische Replik auf den Beitrag von Ludger Heidbrink
Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen
Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung - eine historisch-genetische Annäherung
Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum
Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive
Adverse Selektion light - Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen
Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft
Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik
Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion
Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt. Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht
Buchbesprechungen
Inhalt
Jahrbuch Qualitätsmedizin 2010
Wie verkauft man Wirtschaftsbücher? Zehn einfache Regeln
Marktmacht
Das Ende des Laissez-Faire
Nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise
Angewandte Gesundheitsökonomie. Praxisbuch für Angehörige nichtärztlicher Berufe in der stationären und ambulanten Versorgung
Eine humane Ökonomie?
Der Anstieg der Management-Vergütung: Markt oder Macht?
Wirtschaftsethische Perspektiven IX. Wirtschaftsethik in einer globalisierten Welt (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 228/IX)
Ausgewogene Analyse statt alternativloser Politik
Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen
Chancen und Risiken für die Soziale Marktwirtschaft im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme
Lebensmittel in den Medien
Marx reloaded
Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union
Reform der Finanzmarktregulierung
Wachstum durch Wissen: Lektionen der neueren Welt(wirtschafts)-geschichte
Unternehmensethik
Patente und Produktmarktwettbewerb
Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik: Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender
Internationales Management
William Baumols Markttheorie unternehmerischer Innovation
Röpkes Politische Ökonomie
Systemprinzipien der Gesundheitsversorgung in der Sozialen Marktwirtschaft
Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
Die Wirtschaftstrends der Zukunft
Patient im Visier
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
Recommend Papers

ORDO 63: Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft
 9783828260214, 9783828205734

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ORDO Band 63

ORDO Jahrbuch

für die Ordnung

von Wirtschaft

und

Gesellschaft

Band 6 3

Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Josef Molsberger

und

Thomas Apolte

Christian Müller

Franz Böhm

Norbert Berthold

Peter Oberender

Clemens Fuest

Ingo Pies

Walter Hamm

Razeen Sally

Wolfgang Kerber

Alfred Schüller

Martin Leschke

Viktor Vanberg

Ernst-Joachim Mestmäcker

Christian Watrin

Wernhard Möschel

Hans Willgerodt

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Lucius & Lucius • Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Thomas Apolte Westfälische Wilhelms-Universität Münster Institut für Ökonomische Bildung Scharnhorststraße 100,48151 Münster Professor Dr. Martin Leschke Universität Bayreuth Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre 5, insb. Institutionenökonomik Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth Professor Dr. Dr. h.c. Josef Mols berger Ammertalstraße 5, 72108 Rottenburg Professor Dr. Christian Müller Westfälische Wilhelms-Universität Münster Institut für Ökonomische Bildung Scharnhorststraße 100, 48151 Münster Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universität Bayreuth Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth Professor Dr. Ingo Pies Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lehrstuhl für Wirtschaftsethik Große Steinstraße 73, 06108 Halle (Saale) Professor Dr. Alfred Schüller Feldbergstraße 57, 35043 Marburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart -2012 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ISBN 978-3-8282-0573-4 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Vorwort Der vorliegende 63. Band des ORDO-Jahrbuchs behandelt im Beitragsteil drei Schwerpunkte: Gedanken zur Entwicklung der Eurozone, Probleme der (sozialen) Marktwirtschaft sowie Aspekte der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Daneben enthält der Band verschiedene Beiträge zu Problemfeldern der Marktwirtschaft. In der (neuen) Rubrik: „Vorträge zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft" findet sich eine Auswahl von Reden zu ordnungsökonomischen Themen. Jesus Huerta de Soto plädiert in seinem Beitrag für die Beibehaltung des Euro als Gemeinschaftswährung. Er stützt sich dabei auf Gedanken der Österreichischen Schule. In seinem Kommentar befasst sich Alfred Schüller mit grundlegenden Annahmen des Beitrags, und er fragt nach der Haltbarkeit der daraus gezogenen Schlussfolgerungen für einen Übergang vom Euro zum Goldstandard. Anschließend setzt sich Markus Kerber kritisch mit der Rolle der Europäischen Zentralbank auf den Kapitalmärkten auseinander. Er sieht die EZB eher als einen Wettbewerbsverfalscher denn als einen Krisenbewältiger. Albrecht Michler und Markus Penatzer kritisieren in ihrem Beitrag die Finanztransaktionssteuer als ein ungeeignetes Instrument zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Facettenreiche Einblicke in die marktwirtschaftliche Entwicklung Chinas (Chinese Miracle) geben Xingyuan Feng, Christer Ljungwall und Sujiart Guo in ihrem englischsprachigen Beitrag, der von Erich Weede durch einen Kommentar ergänzt wird. Die Autoren argumentieren und diskutieren vorwiegend aus einer Hayekianischen Perspektive. Herausforderungen für das ordoliberale Menschenbild diskutieren Manuel Wörsdörfer und Carsten Dethlefs. Sie kritisieren, dass in der Wirtschaftstheorie und -politik der Mensch zu einer rein statistischen Größe verkümmert, statt im Zentrum der Überlegungen zu stehen. Ulrich Witt setzt sich schließlich für eine Weiterentwicklung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft ein, um für zukünftige Herausforderungen (Wachstumsrückgang, Nachhaltigkeitsprobleme, Verteilungskämpfe) besser gewappnet zu sein. Hierzu werden konkrete Vorschläge für ein Steuer- und Sozialsystem unterbreitet. Haben Wirtschaftswissenschaftler eine andere Auffassung als die übrigen Studierenden von den Regeln der Fairness bzw. den Ergebnissen des Marktgeschehens? Dieser Frage widmen sich Johannes Suttner und René Ruske. Die Basis hierfür ist eine von den Autoren an der Universität Münster durchgeführte Studie. Michael Pickhardt entwickelt Mancur Olsons Argument weiter, dass kleine Gruppen erfolgreicher bei der Bereitstellung von Kollektivgütern sind als große Gruppen. Es wird gezeigt, dass sich die OlsonThese auch unter Verwendung der Ergebnisse von „Linear Public Goods Games" stützen lässt. Die Beiträge des Themenbereichs „Unternehmensverantwortung" wurden intensiv auf einem ORDO-Symposium (30./31. Mai 2012 in der Lutherstadt Wittenberg) diskutiert, das von der Ludwig-Erhard-Stiftung unterstützt wurde. Vielen Dank dafür! Diese Rubrik beginnt mit einer Arbeit von Ludger Heidbrink zur Frage, inwiefern Unternehmen als politische Akteure fungieren können. Er unterscheidet hierbei zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung. In seiner Replik zu dem Beitrag stellt Ingo Pies die Leistungsfähigkeit des ordo-ökonomischen Ansatzes heraus. Andreas Su-

VI

Vorwort

chanek betont in seinen Überlegungen zur Unternehmensverantwortung einen bisher wenig beleuchteten Anreizmechanismus: die Vermeidung erkennbar relevanter Inkonsistenzen im Unternehmensverhalten. Dem klassischen Thema der Beschäftigungsverantwortung der Unternehmen widmet sich Bernd Noll. Der Bogen wird von der vorindustriellen Zeit bis heute gespannt. Im Blickpunkt stehen insbesondere die institutionellen Bedingungen, die Rahmenregeln des Wirtschaftens. Das gesellschaftliche Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum analysieren schließlich Dominik H. Enste und Michael Hüther. In dem theoretisch und empirisch angelegten Beitrag zeigen die Autoren, dass Unternehmen unter angemessenen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen trotz eigennützigen Handlungsspielräumen einen Vorteil darin sehen, sich in erheblichem Umfang für die Gesellschaft zu engagieren. Mit zwei unterschiedlichen Themen endet der Beitragsteil: Erich Gawel und Wolfgang Brettschneider diskutieren in ihrem Beitrag die Implikationen der Forderung auf ein „Recht auf Wasser". Aus einer institutionenökonomischen Perspektive wird klar herausgearbeitet: Nur wo die Refinanzierung von Wasserdienstleistungen gesichert ist und mit den knappen Ressourcen verschwendungsfrei umgegangen wird, kann sich in der Sache ein Recht auf Wasser gleichsam von selbst nachhaltig ergeben. Anschließend zeigen Florian Drevs und Tristan Nguyen auf Basis einer empirischen Studie, dass unter deutschen Versicherten bei den guten Risiken eine Art Vollkaskomentalität vorherrscht und damit ein „Flat-Rate-Bias" bei der Wahl von Krankenversicherungstarifen. Diese Verzerrung ließe sich bei der Tarifgestaltung berücksichtigen. Die Rubrik „Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft" beginnt mit einem Redebeitrag von Erich Weede zu dem Thema „Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik" (Rede am 23. Juni 2012 auf den Hayek-Tagen in Bayreuth). Weede plädiert gegen einen voreiligen wissenschaftlichen und politischen Konsens in der Klimapolitik. Er argumentiert, dass durch einen stärkeren Wettbewerb in der Wissenschaft und der Klimapolitik adäquate Diagnosen und Therapievorschläge gefunden werden könnten. Lars Feld fordert in seinem Redebeitrag „Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion" einen klaren Ordnungsrahmen für den Umgang mit Staatsschulden. Zur Stabilisierung des Euro sieht er den Schuldentilgungspakt des Sachverständigenrats und den Weg in eine (vorsichtige) Bankenunion als wichtige Instrumente. (Es handelt sich um den Text der WilhelmRöpke-Vorlesung, gehalten unter dem Titel „Dezentralität im Bundesstaat und im Staatenverbund: Wilhelm Röpke, Europa und der Föderalismus" am 9. Februar 2012 am Wilhelm-Röpke-Institut in Erfurt). Ernst-Joachim Mestmäcker beschließt diese Rubrik des Jahrbuchs mit einem Beitrag „Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt. Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht" (Vortrag am 18. August 2011 im Rahmen der Jahrestagung der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main). Die Ausführungen schließen mit der Hoffnung, dass der imperialistische Kapitalismus entgegen Marx auch im internationalen Kontext zivilisiert werden kann. Voraussetzung hierfür ist für Mestmäcker ein adäquates Recht, das die freiheitlichen (ökonomischen) Gedanken von Adam Smith wieder aufnimmt und wettbewerbliche Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit sichert.

Vorwort

VII

Auch dieser ORDO-Band enthält wieder eine größere Zahl von Buchbesprechungen zu wirtschafte- und gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Den Autoren sei für die Besprechungen herzlich gedankt. *

Herausgeber, Schriftleitung und Verlag trauern um Professor Dr. Hans Willgerodt, emeritierter Ordinarius der Universität zu Köln sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Träger der AlexanderRüstow-Plakette und Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. Er verstarb am 26. Juni 2012. Hans Willgerodt war dem Jahrbuch ORDO seit Jahrzehnten verbunden, und er hat dieses Jahrbuch mitgeprägt wie kaum ein anderer. Von 1968 an „diente" er zunächst fünf Jahre in der Schriftleitung, 1973 wurde er in den Kreis der Herausgeber aufgenommen. Der Schriftleitung gehörte er 17 Jahre, bis 1984, an. Mitherausgeber von ORDO blieb er bis zu seinem Tode, und sein Rat war noch bis zuletzt der Schriftleitung willkommen. Auch als Autor hat Hans Willgerodt ORDO beinahe seit den Anfangen mitgeprägt. Seit seiner ersten Buchbesprechung in Band 5 (1953) und seinem ersten Aufsatz in Band 7 (1955) spiegeln seine zahllosen Beiträge zu diesem Jahrbuch die großen Themen der wirtschaftspolitischen und ordnungstheoretischen Diskussion in Deutschland und Europa: so etwa in den fünfziger Jahren die Lohnpolitik, die dynamische Rente und die europäische Wirtschaftsordnung, in den sechziger Jahren die Krise des Weltwährungssystems und die Frage der Planification in der EWG, in den siebziger Jahren Vermögenspolitik und die ersten Anläufe zu einer Währungsunion in der EG, in den achtziger Jahren die Krise der europäischen Agrarpolitik und die Welthandelsordnung, in den neunziger Jahren Probleme der Wiedervereinigung und des Wettbewerbs und schließlich in den letzten Jahren die multiplen Krisen. Willgerodts ORDO-Beiträge haben über den Tag hinaus Bestand und lohnen das Wiederlesen. Geradezu erschreckend aktuell ist sein Fazit in dem Aufsatz „Voraussetzungen einer europäischen Währungsunion" (ORDO 23, 1972, S. 67, 73, 79): „Wenn demnach die Einzelstaaten der EWG ihre Konjunktur- und Finanzpolitik nicht planmäßig aufeinander abstimmen, kommt bei starren internen Wechselkursen eine Art von faktischer Gemeinsamkeit der Konjunktur- und Geldwertentwicklung zustande, wobei der Einfluss der Länder mit lockerer Geldpolitik dominieren kann. Die ehemaligen Stabilitätsländer bringen in diesem Falle ein ,Integrationsopfer' durch inflatorische Aufweichung ihrer Währungen. [...] Es ist kaum anzunehmen, dass die Stabilitätsländer sich durchsetzen können, zumal auch bei ihnen fast alle politischen Kräfte in Verbindung mit einflussreichen, aber kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen auf lockere Geldpolitik zusteuern. [...] Die Vorstellung, man könne auf dem Umwege über die Währungsintegration zur Wirtschaftsintegration gelangen und damit auch die politische Integration fördern, erweist sich als dilettantischer Irrtum." In dem Beitrag „60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik" (ORDO 60, 2009, S. 3) hat Hans Willgerodt den Standpunkt dieses Jahrbuchs als eine „Position des aufrechten Stehens zwischen allen Stühlen" charakterisiert. Das gilt auch für ihn selbst.

VIII

Vorwort

Die enorme Strahlkraft seiner Arbeiten in den Bereichen der Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik wird von Hans Jörg Hennecke und Andreas Freytag in zwei Beiträgen gewürdigt, die diesen Band eröffnen. *

Wir trauern auch um unseren Kollegen Michael Pickhardt, der am 2. Oktober 2012 verstarb. Er ist Autor eines Beitrags zum diesjährigen Jahrbuch, dessen Publikation er leider nicht mehr erleben konnte. *

Die Schriftleitung dankt Herrn Stefan Hähnel für hilfreiche redaktionelle Arbeiten sowie Herrn Gesundheitsökonom Andreas Götz und Frau Nadine Blätterlein für das Management des Rezensionsteils. Ganz besonderer Dank gilt vor allem auch den zahlreichen Gutachtern, die mit ihren Stellungnahmen wieder maßgeblich zu Verbesserungen der angenommenen Papiere beigetragen haben. Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Inhalt

Professor Hans Willgerodt zum Gedächtnis

1

Hans Jörg Hennecke Wertvolle Wissenschaft - Anmerkungen zu Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Beiträge zur Politischen Ökonomie

3

Andreas Freytag Was ist ein politischer Ökonom? - Zum Beitrag von Hans Willgerodt zur Theorie der Wirtschaftspolitik

9

Hauptteil

19

Jesús Huerta de Soto Die Verteidigung des Euro: ein österreichischer Ansatz (Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel)

21

Alfred Schüller Vom Euro zum Goldstandard? Eine Replik auf den Beitrag von Jesús Huerta de Soto

45

Markus C. Kerber Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung? Anmerkungen zur Rolle der EZB auf den Kapitalmärkten

63

Albrecht F. Michler und Markus Penatzer Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen

85

Xingyuan Feng, Christer Ljungwall und Sujian Guo Re-Interpreting the "Chinese Miracle": A Multi-Dimensional Framework

109

Erich Weede Ergänzende Anmerkungen zum chinesischen Wunder

129

Manuel Wörsdörfer und Carsten Dethlefs Homo oeconomicus oder Homo culturalis? Aktuelle Herausforderungen für das ordoliberale Menschenbild

135

Ulrich Witt Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis

159

René Ruske und Johannes Suttner Wie (un-)fair sind Ökonomen? Neue empirische Evidenz zur Marktbewertung und Rationalität

179

X

Inhalt

Michael Pickhardt Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games

195

Ludger Heidbrink Unternehmen als politische Akteure. Eine Ortsbestimmung zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung

203

Ingo Pies Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? Eine ordonomische Replik auf den Beitrag von Ludger Heidbrink

233

Andreas Suchanek Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen

241

Bernd Noll Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung eine historisch-genetische Annäherung

261

Dominik H. Enste und Michael Hüther Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

293

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

325

Florian Drevs und Tristan Nguyen Adverse Selektion light - Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

365

Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft

383

Erich Weede Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik

385

Lars P. Feld Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion

403

Ernst-Joachim Mestmäcker Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt - Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht

429

Buchbesprechungen

449

Personenregister

571

Sachregister

581

Anschriften der Autoren

585

Professor Hans Willgerodt zum Gedächtnis

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Hans Jörg Hennecke

Wertvolle Wissenschaft - Anmerkungen zu Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Beiträge zur Politischen Ökonomie Hans Willgerodt gehört im besten Sinne des Wortes zum Urgestein dieses Jahrbuchs. Seit 1953, als er zum ersten Mal an dieser Stelle als Rezensent in Erscheinung trat, hat er ihm durch eine Fülle von Beiträgen und als langjähriger Mitherausgeber wie kein zweiter Autor seinen Stempel aufgeprägt und damit die Brücke von der Gründergeneration ordoliberalen Denkens bis in unsere Gegenwart hinein geschlagen. Seine Herkunft als Sohn eines preußischen Beamten, der tief in seiner niedersächsischen, genauer gesagt: in seiner weifisch-hannoverschen, Heimat verwurzelt war und in aufrechter Haltung den Nationalsozialismus überstanden hatte, prägt Willgerodt ebenso wie das geistige Erbe der mütterlichen Familie, in der über mehrere Generationen hinweg Doktoren und Pastoren stilbildend waren. Wie sein Onkel Wilhelm Röpke ist Willgerodt als Ökonom aus dieser Familientradition nur scheinbar ausgebrochen. Das Medizinstudium gab er nach erfolgreichem Physikum zwar zugunsten der Nationalökonomie auf, aber das Berufsethos nahm er beim Fakultätswechsel mit. Aus seiner Warte ist der gesunde menschliche Körper noch mehr als ein liberales Wirtschaftssystem „ein sich selbst steuerndes anpassungsfähiges System mit zahllosen Wechselwirkungen" (S. 219). Eine solche Gesamtordnung verfugt im Normalzustand über Kontrollen und Selbstheilungskräfte. Ab und an gerät sie aber in Krisen, in denen therapeutische Maßnahmen durch jemanden geboten sind, dessen Sachkunde sich nicht in der Kenntnis aller Details erschöpft, sondern vor allem im Verständnis des Ordnungszusammenhangs besteht. Der Ökonom, der Wissen über diesen Ordnungszusammenhang anzubieten hat, der im konkreten Entscheidungsfall, welcher vom gesunden Normalzustand abweicht, Diagnosen zu erstellen weiß und der dem Politiker oder dem Beamten geeignete Therapiemaßnahmen empfehlen kann, befindet sich also durchaus in einer Rolle, die deijenigen eines praktischen Arztes vergleichbar ist. Beide horten kein zweckfreies Wissen im Elfenbeinturm, sondern stehen in der praktischen Verantwortung, ihr Wissen in aktuelle Entscheidungssituationen einzubringen. Beide sind dabei von dem Grundgedanken geleitet, die Selbstregulierungsfahigkeit der Ordnung, soweit es eben geht, wiederherzustellen und sich aller unnötigen oder gar schädlichen Interventionen zu enthalten. Ein Unterschied mag insofern bestehen, als der Arzt zumeist die Rollen des Diagnostikers und des Therapeuten in sich vereint, während der Ökonom zwar durchaus Therapievorschläge anbieten kann, aber immer wieder die Erfahrung macht, dass die fur die Therapie verantwortlichen Politiker und Beamten die Annahme und Umsetzung seiner Vorschläge verweigern. Sie lassen sich allzu gerne von den erhofften kurzfristigen Effekten ihres Tuns leiten, im Sinne Claude-Frédéric Bastiats von dem, „was man sieht", aber nicht von dem, „was man nicht sieht", also von den langfristigen und oftmals unbeabsichtigten, aber unvermeidlichen Folgen ihres Tuns.

4

Hans Jörg Hennecke

Das ist für den Ökonomen bisweilen eine frustrierende Erfahrung, allerdings hat Willgerodt darüber nie resigniert oder sein Heil in Defaitismus gesucht. Auch wenn die Politik oft genug die „geistige Nahrungsaufnahme" (S. 221) verweigert, setzt er darauf, dass Aufklärung über Tatsachen und Zusammenhänge grundsätzlich möglich ist, und hat sich deshalb stets eine beneidenswert kämpferische und hartnäckige Haltung bewahrt. Anders als viele Liberale und Konservative, die sich nach etlichen Enttäuschungen durch die Politik in eine Art innerer Emigration zurückziehen, über Idealwelten fernab der politischen Realität nachsinnen oder in bestenfalls unterhaltsamen Zynismus versinken, ist Willgerodt dezidiert der Auffassung, dass man den Staat nicht kampflos den anderen überlassen darf. Seine ausdrückliche Bewunderung gilt daher denjenigen Liberalen, die Reformen von Staat und Verwaltung nicht nur vom gepolsterten Katheder herab oder in elitären Magazinen gefordert haben, sondern konkrete politische Verantwortung wahrgenommen haben. Das Vorbild des eigenen Vaters steht ihm dabei wohl ebenso vor Augen wie die historischen Leistungen Wilhelm von Humboldts und des Freiherrn vom Stein für Preußen und die freiheitlichen Reformen eines Ludwig Erhard, eines Luigi Einaudi oder eines Jacques Rueff nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun liegt ein Sammelband mit einundzwanzig Aufsätzen aus Willgerodts Feder vor, der die beeindruckende Bandbreite der Themen vor Augen führt, mit denen dieser sich in seiner rund sechs Jahrzehnte umspannenden Forschungs- und Lehrtätigkeit befasst hat. Die hier versammelten Texte, von denen einige ursprünglich in diesem Jahrbuch erschienen sind, geben in der Gesamtschau auch viel von der inneren Haltung und dem Selbstverständnis preis, mit dem er das Fach Wirtschaftspolitik in der Tradition Wilhelm Röpkes, Fritz Meyers und Alfred Müller-Armacks vertritt und als Gelehrtenpersönlichkeit eigenen Ranges maßgeblich prägt. Eingestimmt wird der Leser nicht nur durch ein instruktives Vorwort von Joachim Starbatty und Rolf Hasse, sondern auch durch pointierte Vorbemerkungen von Willgerodt selbst, mit denen er heutige Leser auf die Aktualität und die Kernanliegen des jeweiligen Aufsatzes hinweist. Vielen der Aufsätze, deren frühester 1964 und deren jüngster 2007 erschienen sind, merkt man an ihren ideenhistorischen Ort leicht an etwa dem Beitrag über „Demokratisierung der Wirtschaft und der Freiheit des einzelnen", in dem sich wie in einem Brennglas vieles von dem wirren und naiven Zeitgeist spiegelt, mit dem um 1970 herum in der Bundesrepublik einer Expansion der kollektivistischen Entscheidungsfindung zulasten der individuellen Freiheit und Verantwortung das Wort geredet wurde. Andere Aufsätze wie derjenige über die preispolitische Interpretation der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 oder über die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitischen und als juristischen Begriff sind selbst wichtige Quellen für die Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft. Jedem Leser werden je nach Geschmack und Motivation andere Beiträge ins Auge fallen, und an dieser Stelle lassen sich nur wenige Aspekte herausgreifen, um zu eigener Lektüre zu ermuntern. Die Beiträge, die als erster von zwei Teilen unter der Überschrift „Werte, Freiheit und Ordnung" zusammengefasst sind, sind der Darstellung der Wirtschaftspolitik als einer praktisch orientierten Moralwissenschaft gewidmet. Die Wirtschaftswissenschaften bestehen für Willgerodt im Aufzeigen der Konsequenzen, die Wertentscheidungen für die persönliche Freiheit einerseits oder für die Bevormundung des Individuums durch kollektivierte Entscheidungen andererseits mit sich bringen. Sie

Wertvolle Wissenschaft

5

stellen daher für den Bereich der Wirtschaft das Wissen bereit, das notwendig ist, um die Folgen von Werturteilen abzuschätzen. Das „Wissen" sollte dabei dem „Werten" vorausgehen: „Mindestens müssen Tatsachen und Zusammenhänge soweit aufbereitet werden, dass der Moralist seine Wertungen in voller Kenntnis dessen vollzieht, worüber er urteilt" (S. 29). Die Marktwirtschaft ist in diesem Lichte keineswegs eine amoralische Veranstaltung. Sie wirkt - so Willgerodts Tenor - sozial, weil private Wirtschaftstätigkeit positive externe Effekte hat und sie Wohlstand für alle weit besser ermöglicht als eine zentral gelenkte Wirtschaft. Wirtschaftliche Freiheit sei auch weit besser als andere Wirtschaftsordnungsprinzipien dazu geeignet, die etwa von der christlichen Sozialethik geforderte Würde der Arbeit zu gewährleisten. Und die Marktwirtschaft sei keineswegs diejenige Wirtschaftsordnung, welche die Menschen am ehesten dafür belohnt, sich an der moralischen Untergrenze zu bewegen. Unter der plausiblen Annahme, dass die Menschen moralisch unvollkommene Wesen sind, funktioniert die Marktwirtschaft besser als eine zentral gelenkte Wirtschaft oder als hybride Zwischenformen. Vor diesem Hintergrund sucht Willgerodt auch den streitbaren Dialog mit denjenigen Disziplinen wie der Theologie und der Philosophie, die sich zum Nachdenken über Moral besonders berufen fühlen. Dabei ist er darum bemüht, die Verbindungen zwischen Ordoliberalismus und christlicher Sozialethik zu stärken und sie zur gemeinsamen Arbeit an einer belastbaren Ordnungsethik einzuladen. Seine Botschaft ist dabei unmissverständlich: ,,[W]er nicht Arzt ist, sollte keine Blinddarmoperationen vornehmen, und wer nicht nationalökonomische Kenntnisse erworben hat, sollte keine wirtschaftspolitischen Vorschläge machen" (S. 39). Nicht nur gegen Moralisten, die eine Scheu vor wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen haben und ihre Urteile stattdessen aus Naivität oder mit dem Gestus der guten Gesinnung fallen, wendet sich Willgerodt. Auch Juristen, die sich mit ihren Definitionen über die Wirklichkeit hinwegzusetzen versuchen, konfrontiert Willgerodt mit der Existenz wirtschaftlicher Tatsachen und Zusammenhänge. Vor allem Ernst Forsthoff, der in den 1930er Jahren mit dem Begriff der „Daseinsvorsorge" einen bis heute nachwirkenden Beitrag zum nationalsozialistischen Staatsverständnis leistete, kommt dabei - zu Recht, muss man sagen - nicht gut weg. Willgerodts Werk kann auch als Appell verstanden werden, den inneren Zusammenhang der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften als „Staatswissenschaften" nicht aufzugeben. Aber auch für manche, die sich dem liberalen Lager zugehörig fühlen, hat Willgerodt unbequeme Botschaften. Für irrig erachtet er beispielsweise Versuche, wirtschaftswissenschaftliche Erklärungsansätze in einer Art expansivem Ökonomismus auf andere Lebensbereiche auszudehnen. Wenig hält er auch von einem Liberalismus, der in anarchistische Staatsverachtung umschlägt und notwendige und nützliche Staatsaufgaben leugnet. Wenig überzeugend ist es aus seiner Sicht auch, wenn die berechtigte Skepsis der Liberalen gegenüber der Verfügbarkeit und Zentralisierbarkeit von Wissen zu einer realitätsfremden und dogmatischen „Anmaßung von Unwissen" (S. 415) gerät. Ideologisch bedingte Fehlsichtigkeiten sind Willgerodt in jedem Falle suspekt. Dazu passt auch, dass er das unter vielen seiner Fachkollegen verbreitete „Streben nach reinen Formen" (S. 319) ablehnt. Bei aller Bedeutung, die er Regeln und Regelmäßigkeiten für das Funktionieren einer wirtschaftlichen Ordnung zumisst, denkt Willgerodt auch in der Kategorie der wirtschaftspolitischen „Ausnahme": ungewöhnliche, an sich regelwidrige

6

Christian Watrin

Maßnahmen der Wirtschaftspolitik dürfen nicht zum Regelfall werden, aber in manchen krisenhaften Situationen können sie Teil der Therapie sein - allerdings immer mit dem Ziel, den regelhaften Normalzustand wiederherzustellen. Beklemmend wird die Lektüre an solchen Stellen, wo sichtbar wird, wie verblüffend aktuell jahrzehntealte Warnungen Willgerodts noch immer oder schon wieder sind. Vor allem bei europapolitischen Fragen wird dies deutlich: In einem ohnehin bemerkenswerten Aufsatz, der August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und dessen Trias von „Einigkeit und Recht und Freiheit" gewidmet ist, setzt sich Willgerodt mit den deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts auseinander, die anfänglich für die deutsche Einigung plädiert hatten, um der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen, die dann aber als Nationalliberale der wilhelminischen Ära die nationale Einheit zum Selbstzweck erhoben und darüber die Idee der Freiheit aus dem Auge verloren. Willgerodts Hinweis, dass sich diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Debatte um die europäische Einigung in gewandelter Form wieder zeigt, hat viel für sich. Der freiheitsstiftende und freiheitssichernde Impuls der europäischen Integration ist heute in der Tat ziemlich verkümmert. Statt dessen dominiert die Doktrin einer Integration um jeden Preis, die im Falle politischer Opportunität - wie jedenfalls die jüngste Geschichte der europäischen Gemeinschaftswährung erweist - auch zulasten einer Ordnung von Freiheit und Verantwortung vorangetrieben wird. Von trauriger Aktualität sind angesichts der Staatsschulden- und Währungskrise in Europa auch die Beiträge, in denen sich Willgerodt mit der Politisierung von Währungen und mit dem Verteilen ungedeckter Rechte durch demokratische Wohlfahrtsstaaten auseinandersetzt. Was hier auf wenigen Seiten geboten wird, ist eine intellektuelle und moralische Abrechnung mit der verlockenden Ethik des Kettenbriefs, nach der zur Ermöglichung von Konsum in der Gegenwart eine immer weiter steigende explizite und implizite Staatsverschuldung aufgetürmt werden darf, weil spätere Generationen die Zeche dafür schon irgendwie - am elegantesten durch Geldentwertung - bezahlen werden. Zugegeben, Willgerodts Aufsätze sind keine leichte und bequeme Lektüre und lassen sich nicht durch bloßes Querlesen oder rasches Überfliegen in ihrer Substanz erschließen. Sie verlangen dem Leser Sorgfalt und Aufmerksamkeit ab. Dieser muss sich auf die für Willgerodt charakteristische Präzision der Argumentation einlassen und wird so zum Mitdenken erzogen. Die strenge, nach allen Seiten schonungslose Gedankenführung ist in eine schnörkellose Sprache gekleidet, die durch ihre Prägnanz und Dichte an vielen Stellen geradezu aphoristische Qualität besitzt: Ein origineller Aufsatz, in dessen Mittelpunkt die Bedeutung von Verlust und Risiko für die Unternehmerfunktion steht, wird beispielsweise durch folgenden Satz anmoderiert: „Die Kenntnis darüber, welche Pilze giftig sind und welche essbar, ist wohl nicht zuletzt durch Vergiftungen erlangt worden" (S. 281). Für die Lektüre des erwähnten Aufsatzes über Währungspolitik wird man als Leser gleich mit dem ersten Satz ohne Umschweife aufs richtige Gleis gesetzt: „Die Geschichte des Geldes ist nicht zuletzt eine Geschichte seines bewussten oder unbewussten Missbrauchs durch die Politik" (S. 323). Sein moralisches Rüstzeug und all die existenziellen Grenzerfahrungen, die er selbst während seiner formativen Jahre erlebt hat, werden in diesen dürren Satz gefasst: „In der Familie meiner Eltern war man schon Gegner des Nationalsozialismus, als das noch gefahrlich war" (S. 215).

Wertvolle Wissenschaft

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In diesem letzten Satz steckt vielleicht auch der Schlüssel zu der Persönlichkeit, die hinter dem Wissenschaftler steht. Es versteht sich von selbst, dass Willgerodt für Scheinheilige und Moralapostel vom Schlage des ein paar Jahre jüngeren Günter Grass nichts übrig hat. Aber auch das „selbstmörderische [...] Heldentum" seiner berühmten Altersgenossen, der Geschwister Scholl, steht ihm fern. Willgerodt hat sich weder von den totalitären Ideologien korrumpieren lassen und sich erst nachträglich als moralischer Athlet inszeniert, noch sich ihnen um eines bloßen Zeichen willens hingeopfert. Ihn trieb vielmehr eine Verantwortungsethik an, die ihn nicht nur im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne zu einem der großen Vordenker und kritischen Wegbegleiter der Sozialen Marktwirtschaft werden ließ, sondern in einem weiteren Sinne zu einem jener dünn gesäten „Bundesrepublikaner" - zu einem jener Wissenschaftler und Intellektuellen, die nach 1945 nicht gegen, sondern für diesen Staat und für dessen freiheitliche, antitotalitäre Grundausrichtung gestritten haben und ihn gegen Feinde und falsche Freunde aller Schattierungen und Moden über Jahrzehnte hinweg nach Kräften verteidigt haben. Auch von diesem wertvollen und vorbildhaften Stück bundesrepublikanischer Geistesgeschichte legt dieser Sammelband jenseits aller wirtschaftswissenschaftlichen Substanz Zeugnis ab.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Andreas Freytag

Was ist ein politischer Ökonom? - Zum Beitrag von Hans Willgerodt zur Theorie der Wirtschaftspolitik Inhalt I. II. III. IV. V. VI.

Einfuhrung Interventionen in die Märkte: Der Zoll Unsere passive Leistungsbilanz Kapitalverkehrskontrollen bleiben hoffähig - guten Argumenten zum Trotz Wege und Irrwege zur europäischen Währungsunion Kritische Würdigung

Literatur

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I. Einführung Eine der spannendsten Lehrveranstaltungen an der Universität zu Köln in den frühen 1990er Jahren trug den Titel „Volkswirtschaftliche Irrtümer". Die Besucher waren nahezu durchweg die Assistentinnen und Assistenten der volkswirtschaftlichen Lehrstühle. Vortragender war der Emeritus Professor Willgerodt. Er betonte, dass er nur einen Bruchteil der Fülle an tatsächlich beobachteten Irrtümern behandeln konnte. Diese Auswahl wurde von Hans Willgerodt gründlich und theoretisch sauber - meist ohne formale Verrenkungen - diskutiert. Wer diese Vorlesung besuchte, bekam eine wichtige Lektion für das Leben und die wissenschaftliche Arbeit erteilt: Es ist oftmals gerade nicht der erste Augenschein, nicht die scheinbar einleuchtende Ursache-WirkungsBeziehung, die richtig ist. Vielmehr sind die meisten Zusammenhänge komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Deshalb gilt es immer, einfache Wahrheiten und Heilslehren kritisch zu hinterfragen. Dies ist insbesondere deshalb so wichtig, weil die Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft nie Laborbedingungen vorfindet, sondern sich immer im politischen Raum und in der Realität abspielt. Hans Willgerodt konnte nachlässiges Denken und verkürzte oder verquere Argumentation nicht leiden. Er ärgerte sich darüber, dass in der Politik regelmäßig die kurzfristig vorteilhafte die nachhaltige, die gutgemeinte die gute Lösung verdrängt. Nie jedoch verwechselte er Argument und Person: Die Menschen konnte Hans Willgerodt gut leiden, auch wenn ihre Argumente schwach und ihre Entscheidungen fehlerhaft waren. Das machte ihn zu einem guten Lehrer und akademischen Freund, der nie müde wurde, Hinweise zu geben und an den Arbeiten seiner Kollegen Verbesserungen anzubringen. Generationen von Studenten haben von ihm gelernt.

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Darüber hinaus war Hans Willgerodt ein durch und durch politischer Ökonom. Zwar stand er der Public Choice Community inhaltlich nie sehr nahe. Er verortete den Beamten eher bei Max Weber als bei William Niskanen (Willgerodt 1979). Aber er verstand den politischen Prozess und die Mechanismen, die zu Entscheidungen führten. Er wusste um die Schwächen von Lehrbuchlösungen und betrieb oftmals Political Economy der klassisch liberalen Provenience. Die gesellschaftliche Moral sah Hans Willgerodt nicht in der Marktwirtschaft in Gefahr, sondern in einer von Gruppeninteressen geprägten Gesellschaft (Willgerodt 2011). Hinzu kommt sein enormes Relevanzurteil. Viele seiner Papiere sind noch Jahrzehnte später von hoher, manchmal geradezu bedrückender Aktualität. Das Werk Hans Willgerodts in einem Beitrag zu würdigen, erscheint ein utopisches Unterfangen. Zu breit ist sein Spektrum, zu tief die Analyse. In diesem kurzen Beitrag stehen seine außenwirtschaftlich orientierten Beiträge im Mittelpunkt. Dabei geht es darum zu zeigen, wie präzise und analytisch klar die Argumente von Hans Willgerodt sitzen und wie politisch durchdacht die Analyse ist. Dazu werden ausgewählte Themen aus seinem breiten Spektrum dahingehend untersucht, welcher Argumente sie sich bedienen und wie diese entwickelt werden. Zunächst geht es um die politische Ökonomik der Handelspolitik. Anschließend wird die Zahlungsbilanz betrachtet, die Handels- und Investitionsströme miteinander verbindet. Daran schließt sich das Thema Kapitalverkehrskontrollen an, das Hans Willgerodt über 40 Jahre lang beschäftigt hat, bevor die Europäische Währungsintegration, zu der Hans Willgerodt mit Koautoren im Jahre 1972 eine Studie erstellt hat, in den Blick genommen wird. Auch diese Studie ist überaus aktuell.

II. Interventionen in die Märkte: Der Zoll Zum Start macht eine kleine Anekdote die Präzision von Hans Willgerodt deutlich. Bei einem Vortrag am Institut für Wirtschaftspolitik vor einigen Jahren trug ein führender Vertreter der libertären Schule seine Sicht der Dinge zu staatlichen Eingriffen in die Märkte am Beispiel der Außenhandelsprotektion vor. Grundsätzlich wurde seine Kritik im Publikum geteilt, denn die negativen gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Handelsbarrieren sind ein Allgemeinplatz (siehe bereits Haberler 1933). Im Laufe der Ausführungen machte der Gastvortragende allerdings den Fehler, sämtliche Handelsbarrieren als gleichermaßen verwerflich, ja geradezu unmoralisch zu bezeichnen. Abgesehen davon, dass diese Kategorie in der Wirtschaftspolitik wenig hilfreich ist, denn sie kann zwar ein normatives Kriterium, aber keineswegs eine Erklärung für die jeweils ergriffenen Politikmaßnahmen bieten, gibt es Unterschiede zwischen z.B. Zöllen und Quoten, deren statische Wirkungen gleich sind, wenn man eine partialanalytische statische Betrachtung vornimmt. Bei einer dynamischen Betrachtung zeigen sich diese Unterschiede auf dramatische Weise. Auf diese Unterschiede wies Hans Willgerodt den Gast anhand dieses Beispiels unmittelbar hin, ohne dabei in rein theoretische Haarspalterei zu verfallen. Denn die Unterschiede zwischen Quote und Zoll gehen über das partialanalytische Modell hinaus und sind politisch überaus bedeutsam: Der Zoll diskriminiert nicht zwischen Anbietern und ändert im Zeitablauf seine Bedeutung, wenn es technischen Fort-

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schritt und Kostensenkungen gibt. Entweder er gewinnt an Bedeutung, sollte er als Mengenzoll ausgestaltet werden; dann bewirken Preissenkungen, dass der Zoll relativ an Gewicht zunimmt. Oder es wird ein Wertzoll erhoben, dann verliert er seine Wirkung mit den Kostensenkungen. Normale Elastizitäten vorausgesetzt, sinken im ersten Fall die Importe, während sie im zweiten, wesentlich häufiger auftretenden Fall steigen. Die Quote fuhrt nicht dazu, dass die Innovationen, Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungen unterbleiben. Sie werden nur nicht an die Kunden weitergegeben, weder durch den Preis noch durch die Menge. Gewinner ist derjenige, der die Quote zugeteilt bekommen hat; dies kann entweder der Produzent, der Exporteur oder der Importeur sein. Wenn die Quote versteigert wird, entstehen dem Staat Einnahmen. Gibt es einen anderen Zuteilungsmechanismus, leistet er der Korruption Vorschub, weil die Renten aus der Export- oder Importlizenz beachtlich sein können. All dies hat Hans Willgerodt damals in klaren Worten dem Referenten und zugleich dem Publikum erläutert. Man erkennt leicht, wie groß die Unterschiede zwischen zwei scheinbar gleichen, weil durch ein Zolläquivalent vergleichbar zu machenden Protektionsinstrumenten werden können, wenn man nur die richtige Perspektive wählt. Natürlich ist dies für sich genommen keine bahnbrechende theoretische Erkenntnis, die quasi aus dem Nichts in dem genannten Forschungsseminar auftauchte. Es macht aber deutlich, dass Hans Willgerodt erstens unbestechlich, zweitens unideologisch und drittens politisch denkend war. Liberale Glaubensbekenntnisse konnten bei ihm nicht verfangen. Um Hans Willgerodt zu überzeugen, musste man theoretisch sauber argumentieren, was bei ihm aber nicht hieß, dass man sich in einer nur für hochspezialisierte Fachkollegen noch verständlichen Weise ausdrücken soll: „Es kann nicht Aufgabe unserer Wissenschaft sein, eine kodifizierte Fachsprache zu entwickeln, die für den Patienten der Wirtschaftspolitik den gleichen und beabsichtigten Grad der Unverständlichkeit besitzt wie die medizinische Terminologie für den Kranken." (Willgerodt 1962, S. 321). Damit redet er aber nicht der Schlichtheit das Wort; nach einer Bemerkung zu den politischen Kräften (siehe unten) fährt er fort: „Auf der anderen Seite können komplizierte Zusammenhänge nicht um ihrer Popularität willen vereinfacht werden" (ebenda). Aber das Beispiel aus der Handelspolitik zeigt auch, dass er es nicht bei einer theoretisch sauberen Analyse beließ; auch die politische Perspektive war ihm wichtig. Denn aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kann selbst im Falle von wohlfahrtsmindernden Protektionsmaßnahmen das „Wie" relevant sein - und über die Höhe der Verluste entscheiden obwohl die Frage nach dem „Ob" bereits entschieden ist, weil die politische Logik die ökonomische Logik dominiert. Mit Fundamentalopposition gegen jede Art der staatlichen Eingriffe kann der politische - und noch mehr der unpolitische - Ökonom nichts ausrichten. Durch geschickt vorgetragene Argumente lässt sich aber eine moderate Politik erreichen, die vergleichsweise geringe gesamtwirtschaftliche Verluste mit sich bringt. So sind in der Handelspolitik Zölle den nicht-tarifären Handelsbarrieren fast immer vorzuziehen, weil die verzerrenden Wirkungen der Zölle durchweg geringer sind (.Dönges 1974). In seiner Habilitationsschrift fuhrt Hans Willgerodt (1962, S. 321) direkt zwischen den beiden oben zitierten Sätzen aus: „Denn die Nationalökonomie ist bei ihren Therapien auf die Mitarbeit der politischen Kräfte angewiesen, die soweit wie möglich verstehen müssen, worum es sich handelt". Damit wird deutlich, dass Hans Willgerodt die Volkswirtschaftslehre als eine Sozialwissenschaft begreift, die eng mit

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dem Forschungsgegenstand verwoben ist. Es zeigt sich auch die intellektuelle Nähe der klassischen Ordnungsökonomik zur Public Choice Theorie, die heute wohl nicht mehr in Frage gestellt wird. Zwar hat Hans Willgerodt nie selber explizit zur politischen Ökonomik der Handelspolitik gearbeitet, aber die Erkenntnisse1 fanden in seinem Umfeld Anwendung, indem z.B. Forschungsergebnisse kritisch dahingehend untersucht wurden, welchen Interessen sie dienen könnten (Hasse 1985).

III. Unsere passive Leistungsbilanz Der Güter- und Dienstleistungshandel mit dem Ausland wird in der Zahlungsbilanz erfasst. Diese ist eine recht einfach gehaltene und jedem mit der Buchführung halbwegs Vertrauten leicht nachvollziehbare Strombilanz. Dennoch trägt kaum ein wirtschaftspolitisches Thema so zur Verwirrung der politischen Elite bei wie die Zahlungsbilanz. Immer wieder werden die Überschüsse der Handelsbilanz, also die Exportüberschüsse, für Erfolgsmeldungen gehalten. Selbst in der sog. Qualitätspresse kann es passieren, dass am selben Tag ein Handelsbilanzüberschuss gefeiert und der sachnotwendig damit verbundene Netto-Kapitalexport bedauert wird. Hier lohnt sich ein weiteres Zitat von Willgerodt (1981, S. 190): „Mit keiner volkswirtschaftlichen Erscheinungsform verbinden sich von alters her derartig viele Irrtümer wie mit passiven Leistungsbilanzen. Die Nationalökonomen konnten dagegen nur mit Mühe ankämpfen; so ist es verständlich, wenn der Reformator der fränzöschen Währung und Wirtschaft, der spätere Kanzler des Institut der France, Jaques Rueff, einmal vorgeschlagen hat, die Außenhandelsstatistik zu verbieten: Man müsse bedenken, welchen Schaden sie in den Köpfen noch weiter anrichten werde". Aber auch die Wissenschaft ist nicht frei von solchen Schwächen. Allein dass in Standardlehrbüchern zur Außenwirtschaftslehre in der Vergangenheit ständig von einer Verschlechterung bzw. Verbesserung der Handelsbilanz die Rede war (z.B. Kindleberger 1963, S. 166, als auch Jarchow und Rühmann 1982, S. 53), spricht für eine gewisse normative Verwirrung auch in der Wissenschaft. Nicht zuletzt den steten Mahnungen von Hans Willgerodt ist es zu verdanken, dass sich der Sprachgebrauch hier geändert hat; in neueren Lehrbüchern ist es dem Verfasser dieser Zeilen nicht gelungen, Hinweise auf Verbesserungen und Verschlechterungen von Handelsbilanzen zu finden. Willgerodts akademischer Lehrer Fritz Meyer (1938) hat in einer umfassenden Studie die Zusammenhänge der Zahlungsbilanz und ihrer Anpassung an Schocks ausfuhrlich analysiert. In dieser Studie wird deutlich, dass man zu einer sinnstiftenden Betrachtung zahlungsbilanztheoretischer und -politischer Aspekte nur kommt, wenn man die Saldenmechanik und die Rolle von Nachfrage- und Angebotselastizitäten durchdrungen hat und wenn man die unterschiedlichen theoretischen Konzepte zur Erklärung und Bewertung von Teilsalden sorgfaltig auseinanderhält. Das Thema ist nicht trivial. Man kann grob zwei Ansätze unterscheiden, deren normative Schlussfolgerungen sich fundamental unterscheiden (Dluhosch, Freytag und Krüger 1992). Der Wettbewerbsfahigkeitsansatz betrachtet Länder in gewisser Weise wie Unternehmen und betrachtet Handelsbilanzüberschüsse als ein Zeichen dafür, dass ein Land mehr verkauft als kauft, 1

Siehe z.B. Krueger (1974), Tullock (1980) sowie Magee, Brock und Young (1989).

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mithin Gewinne erwirtschaftet. Damit wird allerdings die Hälfte der Zahlungsbilanz ausgeblendet, weil so getan wird, als seien die Kapitalströme Resultanten der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen eines Landes; deshalb greift dieser Ansatz zu kurz {Freytag und Meier 1994). Der attraktivere, weil wesentlich erklärungsstärkere Ansatz ist der sog. intertemporale Ansatz der Zahlungsbilanztheorie, der in den Teilsalden der Zahlungsbilanz das Ergebnis eines intertemporalen Kalküls sieht; die Kapitalbilanz ist dabei logisch die Wichtigere, da es zunächst der Bereitschaft, einen Kredit zu geben bedarf, bevor ein Land mehr konsumieren als produzieren kann (Böhm-Bcrwerk 1914). Aufbauend auf diesen Überlegungen wurde am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln sehr viel zur Zahlungsbilanz und ihrer Teilsalden gearbeitet. Immer wieder wurde der Versuch unternommen, die Betrachtung der Zahlungsbilanz in einen ganzheitlichem Rahmen stattfinden zu lassen und auf diese Weise zu Politikimplikationen zu gelangen, die nicht kurzsichtig und myopisch auf die Korrektur von scheinbar negativen Teilsalden abzielten. Insbesondere war dies in den Phasen der Fall, als Deutschland ein Leistungsbilanzdefizit aufwies, nämlich nach der zweiten Ölkrise und im Zuge der Wiedervereinigung. Beide Male wurde das Defizit in der Leistungsbilanz durch eine Steigerung staatlicher Verschuldung und nicht durch einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen verursacht. Zunächst hat Hans Willgerodt (1981) selber die Passivierung der deutschen Leistungsbilanz zwischen 1979 und 1981 und die damit verbunden Besorgnisse betrachtet. Insbesondere die seit 1975 stark angestiegene Staatsverschuldung der Bundesrepublik hat er dabei in den Fokus gerückt. Dessen ungeachtet aktivierte sich die Leistungsbilanz ab 1982 wieder. Nach der deutschen Wiedervereinigung bestand naturgemäß ein hoher Kapitalbedarf zur Finanzierung des Aufholprozesses der neuen Länder. Dieser wurde mit einer weiter steigenden Staatsverschuldung finanziert; die Kapitalgeber kamen aus dem Ausland. Private Sparer legten dennoch lieber selber im Ausland an, so dass sich die eigentümliche Situation ergab, dass es einen Nettokapitalabfluss privater Ersparnisse bei gleichzeitigem (und deutlich höherem) Nettokapitalzufluss an staatliche Akteure gab (Dluhosch, Freytag und Krüger 1992). Das Urteil über die deutsche Standortqualität Anfang der 1990er war entsprechend schwierig zu fällen. Nach dem sog. Wettbewerbsfahigkeitsansatz sind die Leistungsbilanzdefizite ein Zeichen für die Schwäche deutscher Unternehmen am Markt. Der intertemporale Ansatz sieht das Land in der Lage, sich zu verschulden und Kapital zu attrahieren; dies könnte grundsätzlich positiv stimmen. Allerdings stimmt hier weder das eine noch das andere, denn private Investitionen fanden nicht in dem Ausmaß statt, wie sie eine Kompensation der im Zuge der Wiedervereinigung verlorenen Arbeitsplätze bedurft hätte. Kredite wurden dem Staat für Zahlungen aus sozialen Erwägungen, also für Konsum gewährt. Insofern fallt das Urteil kritisch aus. Die Parallelen beider Fälle zur europäischen Staatsschuldenkrise seit 2009 sind auffallig. Leistungsbilanzdefizite der Peripherie sind ebenfalls durch staatliche und zumeist unproduktive private Verschuldung, weniger jedoch durch private Investitionen zustande gekommen. Leider herrscht im Wissenschaftsbetrieb die Tendenz, nur aktuelle Studien zu lesen; viele derjenigen, die die Ungleichgewichte anstatt der Staatsverschuldung als Haupttreiber der Krise in der Eurozone in 2012 gesehen haben, würden möglicher-

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weise nach der Lektüre des kurzen Aufsatzes Hans Wilgerodts aus dem Jahre 1981 klarer sehen.

IV. Kapitalverkehrskontrollen bleiben hoffähig - guten Argumenten zum Trotz Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007 beschloss Brasilien, eine Steuer auf kurzfristige Kapitalzuflüsse einzuführen, da das Land Ziel derartiger kurzfristig orientierter Kapitalzuflüsse wurde. In den OECD-Ländern hat die sehr expansive Geldpolitik zu sinkenden Realzinsen geführt, was die Anleger dazu veranlasste, das Geld in Schwellenländern sozusagen zu parken. Anders als in früheren Episoden ist diese Maßnahme kaum von Kritik begleitet worden: Weder aus der Wissenschaft noch aus der Politik, z.B. dem Internationalen Währungsfonds (IWF), gab es kritische Kommentare. Die brasilianische Reaktion ist in der Tat für sich genommen rational, da die Kapitalströme nicht deshalb so stark angestiegen sind, weil Anleger ein langfristiges Investment planen, sondern eben wegen der schlechten Rendite anderswo. Deshalb drohen Brasilien eine importierte Inflation und möglicherweise ein plötzlicher und makroökonomisch schädlicher Rückfluss der Mittel. Dies würde Willgerodt sicher auch so sehen. Allerdings würde er auch die Frage aufwerfen, ob die brasilianische Regierung den richtigen Zeitpunkt zur Beendigung der Maßnahme finden wird. Zu Kapitalverkehrskontrollen ist viel geschrieben worden. Sie werden in der Regel mit moralischen Erwägungen befürwortet. In der Eurokrise zum Beispiel hört man das Argument, nun müssten die Verursacher der Krise, nämlich die Spekulanten, zur Kasse gebeten werden. Dies soll mit einer Devisentransaktionssteuer, die für die Regierungen in Deutschland und Frankreich offenbar bereits beschlossen ist, geschehen. Abgesehen davon, dass die Schuldigen der Eurokrise, die ja im Kern eine Staatsschuldenkrise ist, nicht in Banken, Versicherungen oder Hedgefonds arbeiten, ist es schwer vorstellbar, dass die Steuer Spekulation eindämmt und die Krise mildert bzw. zukünftige Krisen verhindert. Sie dient wahrscheinlich auch allein dazu, einen Sündenbock zu finden, damit die politisch unbequemen wirtschaftspolitischen Reformen zur Beseitigung der eigentlichen Ursachen nicht angegangen werden müssen. Es ist naiv zu glauben, dass die Steuer erstens Verhaltensänderungen bewirkt und zweitens nennenswerte Einnahmen generiert. Zu diesem Thema hat Hans Willgerodt fundamentale Beiträge geliefert wie beispielsweise seinen umfassenden Beitrag über „Neue Kontrollen für den internationalen Kapitalverkehr?" (Willgerodt 1998). Dort werden die Argumente für und gegen Kapitalverkehrskontrollen ausführlich beleuchtet. Da ist zunächst das Wissensproblem: Welcher Wechselkurs ist im Falle einer wechselkursorientierten Maßnahme der Richtige? Wie viel Spekulation ist noch erträglich? Was ist der richtige Steuersatz? Daneben sind die Ausweichmöglichkeiten zu erwägen. Gerade im Fall einer deutsch-französischen Transaktionssteuer ergeben sich für die Investoren zahlreiche Ausweichmöglichkeiten, sodass am Ende wohl vor allem Kleinsparer, die ja bereits durch die Niedrigzinspolitik der EZB getroffen werden, ein zweites Mal leiden. Denn es kann wohl als gesichert gelten, dass die Steuer direkt an die Kunden weitergegeben wird.

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Auch bei diesem Thema zeigt Hans Willgerodt seine politökonomische Sichtweise. Wenn Kapitalverkehrskontrollen dazu dienen sollen, den Abfluss von Mitteln, die auch im Inland für Investitionen gebraucht würden, zu verhindern, ist das Gegenargument schlagend: Es wäre weitaus besser, das Kapital mit angemessenen Standortbedingungen zu attrahieren; dazu zählen zum Beispiel wettbewerblich orientierte Märkte und offener Marktzugang, gut ausgebildete Arbeitskräfte, eine funktionierende Infrastruktur, niedrige Inflation sowie solide Staatsfinanzen. Das bedeutet natürlich auch, dass Marktaustritt - auch durch Scheitern - möglich sein muss. Die damit verbundenen Arbeitsplatzverluste sollten dadurch ausgeglichen werden, dass andere, neue Unternehmen auf den Markt treten. Gegen diesen Strukturwandel wehren sich Betroffene häufig mit Erfolg; die Politik ergreift Maßnahmen zur Verhinderung der Arbeitsplatzverluste. Wandert ein Unternehmen (in Teilen oder komplett) ab, so wird dies schnell als „vaterlandsloses Verhalten" gebrandmarkt, anstatt anzuerkennen, dass Einkommen im Ausland erzielt wird oder im Falle einer nur teilweisen Verlagerung der Unternehmenstätigkeit in das Ausland sogar Arbeitsplätze hierzulande sicherer gemacht werden. Willgerodt (1998, S. 127-130) nennt die dahinterstehende Logik gruppenegoistisch. Wie oben bei der Diskussion der brasilianischen Einfuhrkontrollen für kurzfristige Anlagen bereits angedeutet wurde, würde Hans Willgerodt sicherlich auch darauf hinweisen, dass es politisch leichter ist, eine wirtschaftspolitische Intervention einzuführen, als sie zurückzunehmen. Dies gilt natürlich auch für Kapitalverkehrskontrollen, deren Effektivität im Übrigen umstritten ist. Die Erfahrung lehrt, dass sie die Probleme (Devisenknappheit, Wechselkursvolatilität u.a.) nicht lösen können. Für Hans Willgerodt stand fest, dass Kapitalverkehrskontrollen, wenn sie denn das gewünschte Ziel erreichen sollen, auf eine totale Devisenzwangsbewirtschaftung hinauslaufen, eine These, die er bereits 1975 erhärtete (z.B. in Hasse, Werner und Willgerodt 1975, S. 127). Auch in diesem Fall sei die Lektüre der Arbeiten Hans Willgerodts den politischen Entscheidungsträgern ans Herz gelegt.

V. Wege und Irrwege zur europäischen Währungsunion Bereits in den 1960er Jahren lagen Pläne zur Gründung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb der EWG der sechs Gründungsmitglieder vor. Damals blieben die Pläne darüber im Unklaren, welche Ziele die Geldpolitik verfolgen sollte und wie das Verhältnis der Zentralbank zur Politik, insbesondere mit Blick auf die Finanzierung der Staatshaushalte durch die Zentralbank, organisiert sein sollte. Die späteren Gründerväter der heutigen Währungsunion haben sich auf Regeln einigen können und somit scheinbar Klarheit geschaffen. Die grundsätzlichen Unterschiede in der Auffassung zum wirtschaftspolitischen Assignment haben diese Regeln freilich nicht ändern können. Die frühen Pläne wurden von Hans Willgerodt und seinen Koautoren 1972 ausführlich kommentiert. Die vagen Pläne wurden deutlich kritisiert und die Bedingungen für eine funktionierende Währungsunion aufgezeigt. Entscheidend ist die Unabhängigkeit der EZB von der Tagespolitik (Willgerodt et al. 1972), ein Thema, das in der wissenschaftlichen Literatur erst seit Ende der 1970er Jahre ernsthaft diskutiert wurde. Dies ist ein weiteres Beispiel für den Weitblick und das Relevanzurteil Willgerodts. Außerdem

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sei die Haushaltspolitik in zentrale Hände zu geben. Die zentrale Haushaltsstelle kann den nationalen Regierungen Anweisungen erteilen oder Mehrwertsteuersätze variieren, muss aber durch die nationalen Parlamente kontrolliert werden. Beistandskredite innerhalb der Währungsunion seien nicht nötig. Schließlich soll die Zentralbank für die tägliche Währungspolitik die Zuständigkeit erhalten, die Regeln werden von einem zu bestimmenden Gremium gesetzt, dessen Beschlüsse nur mit einer verfassungsähnlichen Mehrheit gefallt werden können (ebenda, S. 295-297). Insgesamt nimmt diese Schrift viele Kritikpunkte an der tatsächlichen Wirtschaftsund Währungsunion vorweg und diskutiert das Hauptproblem, nämlich die klare institutionelle Ausgestaltung der Beziehung von Fiskalpolitik und Geldpolitik sehr gründlich. Der Fokus ist korrekt gesetzt: Wie sich zeigt, sind auch über vierzig Jahre später die grundsätzlichen Auffassungsunterschiede darüber in Europa gewaltig. Das führt sogar dazu, dass völkerrechtlich verbindlich gestaltete Regeln zur fiskalischen Stabilität keine Bedeutung für Regierungen haben. Damit bilden diese unterschiedlichen Auffassungen eine der wesentlichen Ursachen für die schwerste Krise Europas seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Faszinierend an der Lektüre von Willgerodt et al. (1972) ist die Skepsis der Autoren hinsichtlich der Lebensfähigkeit von strengen Regeln innerhalb der Europäischen Union, die sich immer wieder bei der Lektüre des Buches zeigt. Willgerodt war auch in späteren Jahren ein Kritiker des europäischen Weges, ohne ein Anti-Europäer zu sein. Er wusste sehr wohl um die großen Vorteile und Gewinne der europäischen Integration. Aber er war auch Homo politicus genug, um die Gefahren zu erkennen, die in einer überstürzten und institutionell schwach und unglaubwürdig abgesicherten Vertiefung der Integration liegen.

VI. Kritische Würdigung Die Theorie der Wirtschaftspolitik ist nach Herbert Giersch (1961, S. 42-46) eine Kunstlehre, die auf normativen Aussagen beruht. Diese normativen Aussagen werden heute vielfach als nicht-wissenschaftlich betrachtet und von einigen Fachkollegen abgelehnt. Der Autor dieser Zeilen hält dies mit Willgerodt und Giersch für falsch. Sofern die normativen Elemente einer Aussage deutlich gekennzeichnet werden und wenn eine normative Aussage durch empirische Evidenz gestützt ist, ist sie legitim und wissenschaftlich. Sie gilt aber nur räum- und zeitbedingt. Diese Einschränkungen akzeptierend hat Hans Willgerodt ständig normative Aussagen getroffen und für eine rationale und wohlfahrtssteigernde Wirtschaftspolitik geworben. Er war sich darüber bewusst, dass diejenigen Wissenschaftler, die nur positive Analysen präsentieren und ohne ein wissenschaftliches Paradigma operieren, naiv sind und von der Politik für dubiose Zwecke vereinnahmt werden können. Genauso klar war ihm, dass eine reine „Lehrbuchwissenschaft", die nicht auf die politischen Umstände eingeht und Maximalforderungen stellt, ebenfalls naiv ist und ungehört verhallt. Vor diesem Hintergrund darf der Beitrag von Hans Willgerodt zur Theorie der Wirtschaftspolitik nicht unterschätzt werden. Anhand von vier Beispielen ist gezeigt worden, wie klar und gründlich Willgerodt die wirtschaftspolitische Lage analysiert, die Optionen geprüft und

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Vorschläge unterbreitet hat. Es wäre ein echter Verlust, wenn die Werke Hans Willgerodts von jungen Wissenschaftlern und Studierenden ignoriert würden, nur weil sie nicht sehr aktuell und nicht in heute relevanten Zeitschriften erschienen sind.

Literatur Böhm-Bawerk, E. (1914), Unsere passive Handelsbilanz, Neue Freie Presse vom 06., 08. und 09. Januar 1914, in: Franz X. Weiss (Hrsg.) Gesammelte Schriften von Eugen von BöhmBawerk, Wien, Nachdruck Sauer & Auvermann, Frankfurt a.M. 1968, S. 499-515. Dluhosch, Barbara, Andreas Freytag und Malte Krüger (1992): Leistungsbilanzsalden und internationale Wettbewerbsfähigkeit, Köln, Untersuchung zur Wirtschaftspolitik 89. Dönges, Juergen B. (1981): Handelshemmnisse, nicht-tarifäre, in: HdWW, Band 3, S. 784-794. Freytag, Andreas und Carsten P. Meier (1994), Internationale Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften: eine irrige Vorstellung, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Jg. 61, S. 48-51. Giersch, Herbert (1961), Allgemeine Wirtschaftspolitik - Grundlagen, Wiesbaden: Gabler Verlag. Haberler, Gottfried (1933): Der internationale Handel, Nachdruck 1970, Berlin, Heidelberg und New York. Hasse, Rolf (1985), Ökonometrie als Instrument der Interessenpolitik - Zum Aussagewert der UNCTAD-Berechnungen der Tokio-Runde für die Entwicklungsländer, Köln, Untersuchung zur Wirtschaftspolitik 64. Hasse, Rolf, Horst Werner und Hans Willgerodt (1975), Außenwirtschaftliche Absicherung zwischen Markt und Interventionismus - Erfahrungen mit Kapitalverkehrskontrollen, Frankfurt/Main, Fritz Knapp Verlag. Jarchow, Hans-Joachim und Peter Rühmann (1982), Monetäre Außenwirtschaft. I. Monetäre Außenwirtschaftstheorie, Göttingen, Vandenhoeck. Kindleberger, Charles P. (1963), International Economics, Homewood, Irwin. Krueger, Anne O. (1974): The Political Economy of the Rent-Seeking Society, in: American Economic Review, Jg. 84, S. 291-303. Magee, Stephen P., William A. Brock und Leslie Young (1989): Black Hole Tariffs and Endogenous Policy Theory, Cambridge et al. Meyer, Fritz W. (1938), Der Ausgleich der Zahlungsbilanz, Jena, Gustav Fischer Verlag. Tullock, Gordon (1980), The Welfare Costs of Tariffs, Monopolies and Theft, in: James M. Buchanan et al. (Hrsg.), Toward a Theory of the Rent-Seeking Society, Texas: Texas A&M University Press, S. 39-50. Willgerodt, Hans (1962), Handelsschranken im Dienste der Währungspolitik, Düsseldorf und München. Verlag Helmut Küpper vormals Georg Bondi. Willgerodt, Hans (1979): Wirtschaftsordnung und Staatsverwaltung, in: ORDO-Jahrbuch, Band 30, S. 199-217, wiederabgedruckt in Willgerodt (2011). S. 131-153. Willgerodt, Hans (1981), Unsere passive Leistungsbilanz, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jg. 30, S. 189-205. Willgerodt, Hans (1998), Neue Kontrollen für den internationalen Kapitalverkehr?, in Juergen B. Dönges und Andreas Freytag (Hrsg.), Die Rolle des Staates in der globalisierten Wirtschaft, Stuttgart, Lucius & Lucius. Willgerodt, Hans (2011), Werten und Wissen - Beiträge zur Politischen Ökonomie, Stuttgart, Lucius & Lucius. Willgerodt, Hans, Alexander Domsch, Rolf Hasse und Volker Merx (1972), Wege und Irrwege zur europäischen Währungsunion, Freiburg im Breisgau: Rombach.

Hauptteil

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Jesús Huerta de Soto

Die Verteidigung des Euro: ein österreichischer Ansatz (Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel) Inhalt I. Einleitung: das ideale Geldsystem II. Die Österreichische Tradition der Verteidigung fester Wechselkurse gegen einen monetären Nationalismus und flexible Wechselkurse III. Der Euro als „Proxy" des Goldstandards (oder warum die Verteidiger des freien Unternehmertums und der freien Marktwirtschaft den Euro unterstützen müssen, solange seine einzige Alternative die Rückkehr zum monetären Nationalismus ist) IV. Die heterogene und bunte „Atieurokoalition" V. Die wirklichen Kapitalvergehen Europas und der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank VI. Euro vs. Dollar (und Pfund) und Deutschland vs. USA (und UK)

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VII. Schlussfolgerung: Hayek versus Keynes

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Literatur

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Summary: In Defense of the Euro - An Austrian Perspective (With a Critique of the Errors of the ECB and the Interventionism of Brussels)

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I. Einleitung: das ideale Geldsystem Die Theoretiker der Österreichischen Schule haben große Anstrengungen unternommen, um das ideale Geldsystem einer Marktwirtschaft zu erläutern. Auf theoretischer Ebene haben sie eine Konjunkturtheorie entwickelt, die erklärt, wie ein wiederkehrender Zyklus durch eine nicht durch reale Ersparnisse gedeckte Kreditausweitung generiert wird. Diese Kreditausweitung durch ein auf Teildeckung operierendes Bankensystem wird von den Zentralbanken organisiert. Aus historischer Perspektive haben die Theoretiker das evolutionäre Entstehen des Geldes erklärt und ausgeführt wie die Zwangseingriffe des Staates angefeuert von mächtigen Interessengruppen die natürliche Evolution der Bankinstitutionen vom Markt entfernt und korrumpiert haben. Aus ethischer Perspektive haben sie die juristischen Erfordernisse und Prinzipien des Eigentumsrechts im Hinblick auf Bankverträge gezeigt. Diese Prinzipien entstehen aus dem

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Marktgeschehen selbst und sind gleichzeitig für sein Funktionieren unerlässlich.1 Die Schlussfolgerung der theoretischen Analyse ist, dass das aktuelle Geld- und Bankensystem mit einer echten Marktwirtschaft nicht kompatibel ist, an allen durch das Unmöglichkeitstheorem des Sozialismus erklärten Defekten leidet und eine kontinuierliche Quelle von finanzieller Instabilität und wirtschaftlichen Störungen ist. Mithin ist ein grundlegender Neuentwurf des globalen Geld- und Finanzsystems unerlässlich, welcher die uns quälenden Probleme bei der Wurzel packt. Dieser Entwurf sollte auf den folgenden drei Reformen basieren: (a) eine Wiedereinführung einer 100 prozentigen Reservedeckung als essentielles Prinzip des Privateigentumsrechts in Hinblick auf alle Gelddepositen und ihre Äquivalente; (b) die Abschaffung aller Zentralbanken, welche nach der vorherigen Reform (a) zu unnötigen Kreditgebern letzter Instanz werden und die als wahrhaftige Organe zentraler Finanzplanwirtschaft eine kontinuierliche Quelle von Instabilität sind. Dabei müssen auch die Regelungen für ein gesetzliches Zahlungsmittel und das sich kontinuierlich ändernde Gewirr an administrativen Regulierungen verschwinden, welches sich aus diesen ableitet; und (c) die Rückkehr zum klassischen Goldstandard, als einzigen weltweiten Geldstandard, der eine durch die staatlichen Kräfte nicht manipulierbare monetäre Basis bietet und fähig ist, den Inflationsgelüsten der verschiedenen sozialen Akteure ein Korsett anzulegen und sie zu disziplinieren.2 Die vorstehenden Ansätze erlauben nicht nur, wie gezeigt worden ist, die uns quälenden Probleme an der Wurzel zu lösen und damit ein noch nie da gewesenes ökonomisches und soziales Wachstum nachhaltiger Art anzustoßen, sondern haben auch den Vorteil zu indizieren, ob Reformenteilstücke in die richtige Richtung weisen. Zudem erlauben die Vorschläge ein besseres Urteil über die verschiedenen Alternativen der Wirtschaftspolitik für die uns umgebende reale Welt. Ausschließlich aus dieser Perspektive, aus den konjunkturellen Gegebenheiten und dem „Machbaren", ist unsere Analyse der relativen „Unterstützung" des Euro zu verstehen. Die vorliegende Arbeit versucht aus der Sicht der Österreichischen Schule ein solche Analyse zu entwickeln.

II. Die Österreichische Tradition der Verteidigung fester Wechselkurse gegen einen monetären Nationalismus und flexible Wechselkurse Die Ökonomen der Österreichischen Schule haben, solange das ideale Geldsystem noch nicht erreicht worden ist, es stets als einen von vielen Ökonomen - vor allem der Chicagoer Schule - begangenen schweren Fehler der Wirtschaftstheorie und der politischen Praxis betrachtet, flexible Wechselkurse in einem Umfeld monetären Nationalismus zu verteidigen, so als ob diese mehr im Einklang mit einer Marktwirtschaft stünden. Im Gegensatz dazu ist für die Österreicher, solange die Zentralbanken nicht abgeschafft und der klassische Goldstandard mit einer 100 prozentigen Reservedeckung nicht wiedereingeführt worden ist, alles zu unternehmen, damit sich das gültige Geld1

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Die wichtigsten Autoren und theoretischen Entwicklungen sind in Huerta de Soto (201 la [1998]) zu finden. Ibidem, Kapitel 9.

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system sowohl in seiner Funktion als auch in seinen Ergebnissen dem Ideal annähert. Dies erfordert den monetären Nationalismus soweit als möglich zu begrenzen; die Möglichkeit zu beenden, dass jedes Land eine autonome Geldpolitik entwickelt; und der inflationären Politik der Kreditausweitung ein so enges Korsett wie möglich anzulegen. Dadurch wird ein monetärer Rahmen geschaffen, der die ökonomischen, politischen und sozialen Akteure, und im Besonderen die Gewerkschaften und andere Interessengruppen, die Politiker und die Zentralbanken so weit es geht diszipliniert. In diesem Kontext und keinem anderen muss die Positionierung der Österreichischen Ökonomen wie der berühmten von Mises und von Hayek interpretiert werden. Dabei ragt die vernichtende hayeksche Analyse des monetären Nationalismus und der flexiblen Wechselkurse heraus, die Hayek bereits ab 1937 in seinem bemerkenswerten Buch Monetary Nationalism and International Stability entwickelte. 3 In diesem Buch zeigt Hayek, dass flexible Wechselkurse eine effiziente Ressourcenallokation auf internationalem Niveau behindern und außerdem die unmittelbaren realen Konsum- und Investitionsströme verzerren; außerdem erfordern sie, dass notwendige reale Anpassungen bei den Kosten nach unten immer durch das Anheben der restlichen Nominalpreise erfolgt. Das alles geschieht in einem chaotischen Umfeld kompetitiver Abwertungen, Kreditausweitung und Inflation, wodurch aller Art unverantwortliches Verhalten der Gewerkschaften gefordert und gedeckt wird. So werden kontinuierliche Forderungen nach höheren Löhnen und Arbeitsrechten angeregt. Diesen Forderungen kann nur nachgegeben werden ohne die Arbeitslosigkeit zu erhöhen, indem weiter inflationiert wird. Achtunddreißig Jahre später, im Jahr 1975, fasste Hayek sein Argument folgendermaßen zusammen: „It is, I believe, undeniable that the demand for flexible rates of exchange originated wholly from countries such as Great Britain, some of whose economists wanted a wider margin for inflationary expansion (called 'full employment policy'). They later received support, unfortunately, from other economists 4 who were not inspired by the desire for inflation, but who seem to have overlooked the strongest argument in favor of fixed rates of exchange, that they constitute the practically irreplaceable curb we need to compel the politicians, and the monetary authorities responsible to them, to maintain a stable currency " (Kursivschrift vom Autor hinzugefügt).

Um sein Argument weiter zu erhellen fugt Hayek noch hinzu: „The maintenance of the value of money and the avoidance of inflation constantly demand from the politician highly unpopular measures. Only by showing that government is compelled to take these measures can the politician justify them to people adversely affected. So long as the preservation of the external value of the national currency is regarded as an indisputable necessity, as it is with fixed exchange rates, politicians can resist the constant demands for cheaper credits, for avoidance of a rise in interest rates, for more expenditure on 'public works', an so on. With fixed exchange rates, a fall in the foreign value of the currency, or an outflow of gold or foreign exchange reserves acts as a signal requiring prompt government action. 5 With flexible exchange rates, the effect of an increase in the quantity of money on the internal price level is much too slow to be generally apparent or to be charged to those ultimately responsible for it. Moreover, the inflation of prices is usually preceded by a welcome increase in employment; it may therefore even be welcomed because its harmful effects are not visible until later."

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F. A. von Hayek (1971 [1937]). Obzwar Hayek diese nicht explizit erwähnt, bezieht er sich auf die Theoretiker der Chicago-Schule mit Milton Friedman an der Spitze, die wie in anderen Bereichen den Keynesianem die Hand reichen. Wir werden später sehen, wie bei einer gemeinsamen Währung wie dem Euro die disziplinierende Rolle der festen Wechselkurse durch die Kurse der Staats- und Unternehmensschulden eines Landes übernommen wird.

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Hayek kommt zu dem Schluß: „I do not believe we shall regain a system of international stability without returning to a system of fixed exchange rates, which imposes upon the national central banks the restraint essential for successfully resisting the pressure of the advocates of inflation in their countries -usually including ministers of finance" {Hayek 1979 [1975], S. 9-10). In Hinblick auf Ludwig von Mises ist es weithin bekannt, dass er sich von seinem hoch geschätzten Schüler Fritz Machlup abwendete, als dieser im Jahr 1961 auf einer Sitzung der Mont Pèlerin Society flexible Wechselkurse verteidigte. Laut R.M. Hartwell „Machlup's support of floating exchange rates led von Mises to not speak to him for something like three years" {Hartwell 1995, S. 119). Mises konnte verstehen, dass MakroÖkonomen ohne akademische Ausbildung in Kapitaltheorie wie Friedman und seine Anhänger aus Chicago sowie im Allgemeinen die Keynesianer die flexiblen Wechselkurse und ihren impliziten Inflationismus verteidigten. Er war aber nicht bereit zu entschuldigen, dass jemand wie Machlup, der sein Schüler gewesen war und mithin wirklich etwas von Ökonomie verstand, sich vom Pragmatismus und den flüchtigen Moden des politisch Korrekten mitreißen ließ. In der Tat bemerkte Mises zu seiner Frau, dass er Machlup nicht verzeihen konnte, weil "he was in my seminar in Vienna; he understands everything. He knows more than most of them and he knows exactly what he is doing" {Margit von Mises 1984, S. 146). Die Misessche Verteidigung fester Wechselkurse läuft parallel zu seiner Verteidigung des Goldstandards als ideales Geldsystem auf internationalem Level. So schrieb Mises 1944 in Omnipotent Government: „The gold Standard put a check on governmental plans for easy money. It was impossible to indulge in credit expansion and yet cling to the gold parity permanently fixed by law. Governments had to choose between the gold standard and their - in the long run disastrous - policy of credit expansion. The gold standard did not collapse. The governments destroyed it. It was incompatible with etatism as was free trade. The various governments went off the gold standard because they were eager to make domestic prices and wages rise above the world market level, and because they wanted to stimulate exports and to hinder imports. Stability offoreign exchange rates was in their eyes a mischief not a blessing. Such is the essence of the monetary teachings of Lord Keynes. The Keynesian school passionately advocates instability of foreign exchange rates" (Kursivschrift hinzugefügt).6

Die Misessche Geringschätzung fur die Ökonomen aus Chicago wundert nicht, da sie in diesem Gebiet wie in vielen anderen in die Arme des ungeschliffensten Keynesianismus fielen. Andererseits war es aus der Sicht von Mises relativ einfach den Goldstandard wiederherzustellen und zu festen Wechselkurse zurückzukehren: „The only condition required is the abandonment of an easy money policy and of the endeavors to combat imports by devaluation". Außerdem sind nach Mises nur die festen Wechselkurse mit einer wirklichen Demokratie kompatibel und der Inflationismus, der hinter den flexiblen Wechselkursen steht, ist im Wesentlichen undemokratisch: "Inflation is essentially antidemocratic. Democratic control is budgetary control. The government has but one source of revenue-taxes. No taxation is legal without parliamentary consent. But if the government has other sources of income it can free itself from their control" (Mises 1969, S. 251-253).

Um das Argument von Mises noch zu verstärken, müssen wir hinzufugen, dass der von Churchill nach dem Ersten Weltkrieg begangene Fehler nicht dem Goldstandard selbst anzulasten ist. Churchill setzte die Parität fest ohne die große Inflation des Papier-Pfunds, welches zur Kriegsfinanzierung ausgegeben worden war, zu berücksichtigen. Dieser Fehler hat weder etwas mit der aktuellen Situation des Euro gemein, der frei an den internationalen Märkten gehandelt wird, noch mit den Problemen der Peripheriestaaten der Eurozone, die ihren Ursprung im Verlust der realen Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte während der Blasenjahre haben (Huerta deSoto, 2011a, S. 313-314).

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Nur bei festen Wechselkursen sehen sich die Regierungen gezwungen ihren Bürgern die Wahrheit zu sagen. Daher ist die Versuchung, Inflation und flexible Wechselkurse in Anspruch zu nehmen, um die politischen Kosten unpopulärer Steuererhöhungen zu vermeiden, so groß und verderblich. Selbst wenn kein Goldstandard existiert, legen feste Wechselkurse der Willkür der Politiker ein Korsett an und disziplinieren sie: „Even in the absence of a pure gold standard, fixed exchange rates provide some insurance against inflation which is not forthcoming from the flexible system. Under fixity, if one country inflates, it falls victim to a balance of payment crisis. If and when it runs out of foreign exchange holdings, it must devalue, a relatively difficult process, fraught with danger for the political leaders involved. Under flexibility, in contrast, inflation brings about no balance of payment crisis, nor any need for a politically embarrassing devaluation. Instead, there is a relatively painless depreciation of the home (or inflationary) currency against its foreign counterparts" (Block 1999, S. 19, Kursivschrift hinzugefugt).

III. Der Euro als „Proxy" des Goldstandards (oder warum die Verteidiger des freien Unternehmertums und der freien Marktwirtschaft den Euro unterstützen müssen, solange seine einzige Alternative die Rückkehr zum monetären Nationalismus ist) Wie wir gesehen haben, sind die Ökonomen der Österreichischen Schule Anhänger des Goldstandards, weil er die Willkür der Politiker und Regierenden zügelt und beschränkt; weil er alle am demokratischen Prozess beteiligten Akteure diszipliniert und weil er das disziplinierte und moralische Handeln der Menschen fördert; kurz, weil er eine Bremse fur Lügen und Demagogie darstellt, sowie Transparenz und Ehrlichkeit in den sozialen Beziehungen ausweitet und erleichtert. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hat dies Ludwig von Mises am Besten ausgedrückt: „The gold standard makes the determination of money's purchasing power independent of the changing ambitions and doctrines of political parties and pressure groups. This is not a defect of the gold standard, it is its main excellence" (Mises 1966, S. 474). Die Einführung des Euro 1999 und seine effektive Vollendung ab 2002 bedeutete das Ende des monetären Nationalismus und der flexiblen Wechselkurse im größten Teil Kontinentaleuropas. Später werden wir die von der Europäischen Zentralbank begangenen Fehler kommentieren. Was uns an dieser Stelle interessiert ist festzustellen, dass die verschiedenen Staaten der Währungsunion ihre monetäre Autonomie vollständig aufgaben. Damit verloren sie die Möglichkeit zur Manipulation ihrer lokalen Währung, sie können sie also nicht mehr in den Dienst der jeweiligen politischen Notwendigkeiten stellen. In diesem Sinne und zumindest für die Mitglieder der Eurozone galt, dass diese anfing, in ähnlicher Weise zu operieren - und noch heute so funktioniert - wie der Goldstandard in seiner Zeit. Außerdem wurde mit dem Beginn der Großen Rezession von 2008 der disziplinierende Charakter des Euro für alle noch offensichtlicher: Zum ersten Mal haben sich die Länder der Währungsunion mit einer tiefen Wirtschaftsrezession auseinandersetzen müssen ohne über eine autonome Geldpolitik zu verfügen. Bis zur Einführung des Euro handelten die Regierungen und Zentralbanken bei Beginn einer Krise unweigerlich auf die gleiche Weise: Sie injizierten dem System die notwendige Liquidität, ließen die lokale Devise nach unten treiben und abwerten, und verschoben auf unbestimmte Zeit die schmerzhaften Strukturreformen

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der ökonomischen Liberalisierung, Deregulierung, Preis- und Marktflexibilisierung (vor allem des Arbeitsmarktes), die Verringerung der Staatsausgaben, sowie den Rückzug und die Demontage der Macht von Gewerkschaften und des Wohlfahrtstaats. Mit dem Euro ist trotz aller Fehler, Schwächen und Kompromissen, die wir später kommentieren werden, diese Art von unverantwortlicher Flucht nach vorn nicht mehr möglich gewesen. So haben sich beispielseise in Spanien im kurzen Zeitraum von einem Jahr zwei aufeinanderfolgende Regierungen wortwörtlich gezwungen gesehen, eine Reihe von Maßnahmen zu ergreifen, die, obzwar sehr unzureichend, sogar von den optimistischen Beobachtern bis dahin als politisch unmöglich und utopisch bezeichnet wurden: 1. In Artikel 135 der Verfassung wurde das antikeynesianische Prinzip der Haushaltsstabilität und des ausgeglichenen Haushalts für die Zentralregierung, die Bundesländer und Gemeinden eingeführt (James Buchanan wäre begeistert!). 2. Abrupt wurden alle pharaonischen Projekte ansteigender Staatsausgaben, des Stimmenkaufs und der Subventionen angehalten, auf welche die Regierungen normalerweise ihre Popularität und politische Aktivität stützen. 3. Die Gehälter aller Staatsbediensteten wurden zunächst um 5 Prozent gekürzt, danach um weitere 7 Prozent und schließlich eingefroren. Gleichzeitig wurde die Arbeitszeit erhöht. 4. Die staatlichen Renten wurden eingefroren. 5. Das normale Rentenalter wird schrittweise von 65 auf 67 Jahre erhöht. 6. Die veranschlagten Staatsausgaben wurden um mehr als 15 Prozent gesenkt. 7. Die Arbeitslosenhilfe wurde ab dem siebten Monat um 15 Prozent reduziert. 8. Die Verwicklung der Politik mit den lokalen und regionalen Sparkassen wurde fast vollständig eliminiert. 9. Der Arbeitsmarkt, die Ladenöffnungszeiten und im Allgemeinen das verwickelte Netz wirtschaftlicher Regulierung wurde liberalisiert.7 Und das gleiche was in Spanien geschehen ist, bestätigt sich in Irland, Portugal, Italien und selbst in Ländern die, wie Griechenland, bis jetzt als Paradigma der sozialen Hängematte, des Fehlens haushälterischer Strenge und demagogischer Politik hergehalten haben.8 Außerdem sind 7

In Spanien haben verschiedene Österreichische Ökonomen sich jahrzehntelang vergeblich für die Einführung dieser (und vieler anderer) Reformen ausgesprochen. Diese Reformen sind erst jetzt und dank des Euro mit erstaunlicher Dringlichkeit politisch möglich geworden. Zwei Beobachtungen: Die Maßnahmen in die richtige Richtung sind durch eine Steuererhöhung, vor allem auf die Einkommen und die Erträge aus mobilen Kapital getrübt worden, die erwartungsgemäß nicht zu signifikant höheren Steuereinnahmen gefuhrt hat (vgl. Das „Manifest" gegen die Steuererhöhungen, welches ich zusammen mit fünfzig weiteren Ökonomen im Februar 2012 unterzeichnet habe: www.juandemariana.org/nota/5371/manifiesto/subida/impositiva/respeto/senor); im Hinblick auf die Haushaltsstabilität und den ausgeglichenen Haushalt ist zu sagen, dass diese eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für das erneute Beschreiten eines nachhaltigen Wachstumspfades ist. Denn bei einer erneuten Kreditausweitung braucht es signifikante und enorme Haushaltsüberschüsse während der „fetten Jahre", um eine Wiederholung der schweren Probleme, die uns heute bedrängen, zu vermeiden.

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Zum ersten Mal und dank des Euro stellt sich Griechenland den Herausforderungen seiner eigenen Zukunft. Obwohl die verbitterten Monetaristen und störrischen Keynesianer es nicht anerkennen wollen, ist eine interne Deflation möglich und impliziert keine „perverse" Abwärtsspirale, wenn sie von grundlegenden Reformen der Liberalisierung und der Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit begleitet wird. Es stimmt, dass Griechenland bereits bedeutende Hilfen erhalten hat und erhält. Aber es ist nicht weniger wahr, dass Griechenland die historische Verantwortung trägt, alle jene Unken zu widerlegen, die aus verschiedenen Gründen es darauf abgesehen haben, dass die griechische Anstrengung misslingt, sodass sie in ihren Modellen die so abgedroschene (und eigennützige) Hypothese aufrechterhalten können, dass die Preise (und Löhne) nach unten rigide seien (vgl. außerdem die Bemer-

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die politischen Führer dieser ftinf Staaten, denen es nun unmöglich geworden ist, die Geldpolitik zu manipulieren, um der Bevölkerung die wahren Kosten ihrer Politik zu verschleiern, hochkant aus ihren respektiven Regierungen hinausgeworfen worden. Darüber hinaus sehen sich nach und nach sogar Staaten wie Belgien und vor allem Frankreich und die Niederlande, welche bis jetzt am Rande der Reformbemühungen standen, dazu gezwungen, die Fundamente ihrer voluminösen Staatsausgaben und ihrer überdehnten Wohlfahrtsstaaten zu überdenken. Und dies alles ist unbestreitbar dem neuen monetären Rahmen zu verdanken, der mit dem Euro eingeführt wurde und der daher bei allen Verteidigern der freien Marktwirtschaft und der Begrenzung der Staatsgewalt Freude auslösen sollte. Denn man kann sich nur schwer vorstellen, dass irgendeine dieser Maßnahmen in einem Umfeld von nationalen Währungen und flexiblen Wechselkursen unternommen worden wäre: die Politiker scheuen, wenn immer sie können, unpopuläre Reformen und die Bürger alles, was Opfer und Disziplin erfordert. Daher hätte man ohne den Euro das bisher übliche gemacht: nämlich eine Flucht nach vorne mit mehr Inflation, einer Abwertung der Währung um kurzfristig Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen zur Wiedergewinnung der „Vollbeschäftigung" (wobei den Gewerkschaften der Rücken gedeckt und ihre große Verantwortung als wahre Verursacher der Arbeitslosigkeit verborgen geblieben wäre). Man hätte, kurzum, die notwendigen Strukturreformen auf unbestimmte Zeit verschoben. An dieser Stelle ist es angebracht zwei bedeutende Unterschiede des Euro sowohl in Bezug auf ein System nationaler Währungen, die unter sich mit festen Wechselkursen verbunden sind, als auch zum Goldstandard selbst, hervorzuheben. Um mit dem Unterschied zum letzten Standard zu beginnen, ist es notwendig festzustellen, dass es viel schwieriger ist den Euro zu verlassen, als es seiner Zeit das Verlassen der Goldstandards war. Die mit dem Gold verbundenen Währungen behielten ihren lokalen Namen (Franken, Pfund, etc.), wodurch es während der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts relativ leicht war, die Goldverankerung zu lösen. Wie vom Regressionstheorem des Geldes, welches Mises 1912 (Mises 2012, S. 83-134) entwickelte, angezeigt, nutzte man ohne Bruch in der Kontinuität die nationale Währung, die nun nicht mehr in Gold eintauschbar war, wobei man sich auf ihre Kaufkraft just vor der Reform stützte. Diese Möglichkeit ist heute vollständig verschlossen für jene Länder, die wünschen, oder sich gezwungen sehen, den Euro zu verlassen. Da der Euro die einzige monetäre Bezeichnung für alle Länder der Währungsunion ist, erfordert sein Verlassen die Einführung einer neuen lokalen Währung, von einer viel geringeren und unbekannten Kaufkraft mit enormen Störungen für alle Wirtschaftssubjekte im Markt: Schuldner, Gläubiger, Investoren, Unternehmer, Arbeiter. 9

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kungen in Fußnote 9 über die desaströsen Effekte, welche die so gelobte Abwertung von Argentinien 2001 zeitigte). Zum ersten Mal hat sich der traditionell chaotische und korrupte griechische Staat einer „Rosskur" unterzogen. In den zwei Jahren (2010-2011) hat sich das Staatsdefizit um 8 Prozent verringert, die Gehälter der Beamten wurden zunächst um 15% und dann um weitere 20% gekürzt. Die Zahl der Staatsdiener wurde um 80.000 reduziert und beinahe die Hälfte der Gemeineangestellten wurden entlassen. Das Rentenalter wurde erhöht und die Mindestlöhne gesenkt, etc., etc. (Vidal-Folch 2012). Dieser „heroische" Neuaufbau sticht positiv vom ökonomischen und sozialen Verfall Argentiniens ab, welches den umgekehrten Weg des monetären Nationalismus, der Abwertung und Inflation einschlug. Wir sind daher glücklicherweise „angekettet an den Euro", um einen gelungenen Ausdruck von Cabrillo (Cabrillo 2012) zu verwenden. Vielleicht das heute typischste Beispiel, welches von Keyne-

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Zumindest in diesem konkreten Aspekt und aus der Sicht der Österreichischen Schule ist es notwendig anzuerkennen, dass der Euro dem Goldstandard überlegen ist und es für die Menschheit äußerst nützlich gewesen wäre, wenn in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die verschiedenen Länder sich gezwungen gesehen hätten im Goldstandard zu bleiben wie es heute beim Euro geschieht, wo jede andere Alternative in der Praxis fast unmöglich ist und viel schädlichere, schmerzhaftere und offensichtlichere Konsequenzen und Effekte für die Bevölkerung hätte. Es ist daher in gewisser Weise amüsant (und gleichzeitig peinlich) festzustellen, wie die Legion von Sozialingenieuren und politischen Interventionisten, die seinerseits angeführt von Jacques Delors die Einheitswährung als ein weiteres Instrument ihres grandiosen Projekts einer politischen Union Europas auslegten, heute mit Verzweiflung etwas betrachten, was sie in keinem Fall vorhersehen konnten: dass der Euro sich de facto wie der Goldstandard verhalten hat; Bürger, Politiker und Regierungen diszipliniert, den Demagogen die Hände bindet, die Interessengruppen bloßstellt (angeführt von den immer privilegierten Gewerkschaften) und sogar die Nachhaltigkeit und Fundamente des Wohlfahrtstaats selbst in Frage stellt.10 Genau darin besteht nach der Österreichischen Schule der komparative Hauptvorteil des Euro als Geldstandard im Allgemeinen und im Besonderen gegenüber dem monetären Nationalismus und nicht in den sehr prosaischen Argumenten wie „der Verringerung der Transaktionskosten" oder „der Beseitigung des Wechselkursrisikos", welche seiner Zeit von den immer kurzsichtigen Sozialingenieuren, die gerade am Zug waren, hervorgebracht wurden. Der zweite Kommentar, den wir machen müssen, bezieht sich auf den Unterschied zwischen dem Euro und einem System fester Wechselkurse im Hinblick auf den Anpassungsprozess, der sich entwickelt, wenn es zu einem unterschiedlichen Ausmaß in der Kreditausweitung und bei Staatseingriffen in verschiedenen Ländern kommt.

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sianem und Monetaristen angeführt wird, um die „Vorteile" einer Abwertung und das Verlassen eines festen Wechselkurs zu veranschaulichen, ist der Fall Argentiniens nach dem „Bankrun", der im Dezember 2001 stattfand. Dieses Beispiel ist doppelt falsch aus zwei Gründen. Erstens, weil der Bankrun lediglich eine Illustration davon ist, dass ein Teildeckungsbankensystem ohne einen Kreditgeber letzter Instanz unmöglich funktionieren kann (Huerta de Soto 201 la, S. 610). Zweitens, weil nach der so gelobten Abwertung das argentinische BIP pro Kopf sich von 7.726 Dollar im Jahr 2000 auf 2.767 Dollar zwei Jahre später reduzierte, was einen Wertverlust von zwei Drittel ausmacht. Dieser Rückgang von 65 Prozent des argentinischen Einkommens und Reichtums sollte all jene erbleichen, die sich heute unbeholfen und gewalttätig kund tun, um - wie beispielsweise in Griechenland - gegen die relativ geringeren Opfer und Preisrückgänge der gesunden und unausweichlichen internen Deflation zu protestieren, welche die Disziplin des Euro auferlegt. Außerdem sollte alle Phrasendrescherei über die „beeindruckenden" Wachstumsraten in Argentinien (über 8 Prozent jährlich ab 2003) wenig oder gar nicht beeindrucken unter Berücksichtigung der äußerst reduzierten Ausgangsbasis nach der Abwertung und der Armut, dem Kräfteverfall und chaotischen Charakter der argentinischen Volkswirtschaft, in der ein Drittel der Bevölkerung letztlich von Subventionen und Beihilfen abhängt, die tatsächliche Inflationsrate 30 Prozent übersteigt und die Knappheit, die Beschränkungen, die Regulierung, die Demagogie, das Ausbleiben von Reformen und die (Miss)Kontrolle der Regierung an der Tagesordnung sind (Gallo 2012). Auf ähnlich Weise äußert sich Pierpaolo Barbieri: „I find truly incredible that serious commentators like economist Nouriel Roubini are offering Argentina as a role model for Greece" (Barbieri 2012). Mario Draghi, Präsident der EZB, selbst ist sogar zu dem Schluß gekommen, dass das „Continental's social model is 'gone'" (Draghi 2012).

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Offensichtlich manifestieren sich diese Unterschiede in einem System fester Wechselkurse in starken Spannungen der Wechselkurse, die schließlich in expliziten Abwertungen kulminieren, was mit den hohen Kosten an Prestigeverlust einhergeht, den eine Abwertung glücklicherweise für die verantwortlichen Politiker mit sich bringt. Im Fall einer Einheitswährung wie dem Euro manifestieren sich diese Spannungen in einem allgemeinen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, der nur wettzumachen ist durch die Einführung von Strukturreformen, die notwendig sind, um die Flexibilität der Märkte, die Deregulierung aller Sektoren sowie die Rückgänge und Anpassungen zu garantieren, die in der Struktur der relativen Preise notwendig sind." Dies alles schlägt sich letztlich in den Einkünften des Staatssektors und daher in seiner Kreditwürdigkeit nieder. In der Tat sind in den aktuellen Umständen in der Eurozone die Kurse der Staatsschulden der einzelnen Länder an den Finanzmärkten das Abbild der Spannungen, die sich typischerweise bei Wechselkurskrisen entfalteten, als die Wechselkurse in einem Umfeld des monetären Nationalismus mehr oder weniger fest waren. Im Mittelpunkt stehen heute daher nicht die Devisenspekulanten, sondern die Ratingagenturen und vor allem die internationalen Investoren, die durch das Kaufen oder Nichtkaufen von Staatsanleihen den Rhythmus der Reformen auf gesunde Weise vorgeben. Gleichzeitig disziplinieren und diktieren sie das Geschick der einzelnen Länder. Man wird sagen, dass dies „nicht demokratisch ist." Jedoch ist genau das Gegenteil wahr. Bis heute hat die Demokratie chronisch daran gelitten, dass sie durch unverantwortliche politische Aktionen basierend auf monetärer Manipulation und Inflation korrumpiert wurde. Die Inflation ist eine echte Steuer mit verheerenden Folgen. Sie wird am Parlament vorbei graduell, verborgen und heimtückisch den Bürgern auferlegt. Mit dem Euro ist heute die Option der Inflationssteuer blockiert, zumindest auf der Ebene der Mitgliedsländer, deren Politiker mit einem Mal das Gesicht verloren und sich gezwungen gesehen haben, die Wahrheit zu sagen und den korrespondierenden Ansehensverlust auf sich zu nehmen. Die Demokratie braucht, wenn sie funktionieren soll, einen Rahmen, der die in ihm agierenden Akteure diszipliniert. Und heute spielt in Kontinentaleuropa der Euro diese Rolle. Daher ist der sukzessive Fall der Regierungen von Irland, Griechenland, Portugal, Italien und Spanien weit davon entfernt, ein Demokratiedefizit zu sein, sondern zeigt vielmehr den wachsenden Grad an Strenge, Haushaltstransparenz und demokratischer Gesundheit, welche der Euro in den jeweiligen Gesellschaften eingeführt hat.

IV. Die heterogene und bunte „Antieurokoalition" Als kurios und illustrativ müssen wir jetzt, wenn auch nur kurz, die heterogene und bunte Mischung der Feinde des Euro kommentieren, die in ihren Reihen solch verschiedene Elemente hat, wie die Prinzipienreiter der extremen Linken und Rechten, die nostalgischen oder unverbesserlichen Keynesianer Krugmanscher Art, die dogmatischen Monetaristen der flexiblen Wechselkurse wie Barro und andere, die blauäugigen Vertreter der Theorie der optimalen Währungsräume von Mundell, die in Angst versetzten

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Nur auf diese Weise können die im vorangegangenen Boom finanzierten Fehlinvestitionen zügig „verdaut" und liquidiert werden (Huerta de Soto, 2012, S. 304-309).

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Dollar- (und Pfund-) Chauvinisten und schließlich eine Legion von verwirrten Defätisten, die „angesichts des bevorstehenden Verschwindens des Euro" vorschlagen, ihn zu sprengen und schnellstmöglich abzuschaffen.12 Vielleicht ist die klarste Veranschaulichung (oder wenn man will der beste Beweis) dafür, dass Mises mit seiner Analyse des disziplinierenden Effekts fester Wechselkurse - und vor allem des Goldstandards - auf demagogische und gewerkschaftliche Politik vollkommen Recht hatte, die Art und Weise mit der die Führer linker Parteien, der Gewerkschaften, progressiver Meinungsbildner, der „indignierten Systembekämpfer", rechtsextreme Politiker, und im Allgemeinen aller Liebhaber der Staatsausgaben, staatlicher Subventionen und des Interventionismus offen und frontal gegen die vom Euro auferlegte Disziplin und im Konkreten gegen den Verlust der monetären Autonomie jeden Landes sowie ihr Gegenstück rebellieren: die so geschmähte Abhängigkeit von den Märkten, Spekulanten und internationalen Investoren bei der Möglichkeit die wachsende Staatsschuld abzusetzen, welche die Finanzierung der kontinuierlichen Defizite erfordert. Es reicht ein kurzer Blick in die am weitesten links stehenden Zeitungen13 oder die Erklärungen der demagogischsten Politiker14 oder der namhaftesten Gewerkschaftler zu lesen, um festzustellen, dass dies so ist und dass heute - genau wie es in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Goldstandard geschah - die Feinde des Marktes, die Verteidiger des Sozialismus, des Wohlfahrtstaats und die gewerkschaftliche Demagogie unisono sowohl öffentlich als auch privat gegen „die rigide Disziplin, welche uns der Euro und die Finanzmärkte auferlegen" anschreien und die unmittelbare und unbegrenzte Monetisierung aller Staatsschulden fordern, ohne im Gegenzug irgendwelche Sparmaßnahmen im Haushalt oder Reformen, welche die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, anzubieten. Innerhalb des akademischen Bereichs, jedoch auch mit großem Echo in den Medien ist die große Offensive der gegenwärtigen keynesianischen Theoretiker gegen den Euro herauszuheben. Diese ist erneut nur mit der Streitbarkeit vergleichbar, mit der Keynes selbst gegen den Goldstandard in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts 12

Zu dieser Analyse zähle ich nicht meinen verehrten Schüler und Kollegen Philipp Bagus (The Tragedy of the Euro, The Ludwig von Mises Institute, Auburn, Alabama, USA 2010). Denn aus deutscher Sicht bedroht die Manipulation des Euro durch die Europäische Zentralbank die traditionelle monetäre Stabilität, deren sich Deutschland mit der DM erfreute. Zweifelhafter erscheint mir sein Argument, dass der Euro unverantwortliche Politik durch einen Effekt ermutigt hat, welcher einer Tragödie der Allmende eigen ist. Denn während der Blasenperiode erfreuten sich die Mehrheit der Länder, die heute Probleme haben, mit der einzig möglichen Ausnahme Griechenlands, eines Haushaltsüberschusses (oder kamen ihm sehr nahe). Daher glaube ich, dass Bagus besser gelegen hätte, wenn er sein im Übrigen exzellentes Werk Die Tragödie der Europäischen Zentralbank genannt hätte, und damit besonders die schweren Fehler berücksichtigt hätte, welche die Europäischen Zentralbank während der Boomphase begangen hat und die wir in einem späteren Absatz kommentieren werden (ich danke Juan Ramón Rallo, der mir diese Idee nahegelegt hat).

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Die Leitlinie der inzwischen eingestellten spanischen Tageszeitung Público war in diesem Sinne paradigmatisch (vgl. zudem und als Beispiel den Fall von Estefanía (2011), und seine Kritik der bereits kommentierten Reform des Art. 135 der spanischen Verfassung, der das „antikeyenesianische" Prinzip des stabilen und ausgeglichenen Haushalts verankert). Vgl. beispielsweise die Erklärungen des sozialistischen Kandidaten für die französische Präsidentschaft, für den „der Weg der Sparsamkeit ineffizient, tödlich und gefahrlich ist." (Hollande 2012), oder die Aussagen der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen, nach der „wir zurück zum Franc gehen und das Zwischenspiel des Euro beenden sollten" (Martin Ferrand 2012).

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vorging. Besonders paradigmatisch ist der Fall Krugmans 15 , der als gewerkschaftlicher Kolumnist praktisch jede Woche die alte Leier wiederholt, dass der Euro ein „untragbares Korsett" für die Erholung der Beschäftigung darstellt und es sich sogar herausnimmt, die verschwenderisch nordamerikanische Regierung dafür zu kritisieren, dass sie nicht ausreichend expansiv agiere und bei ihren (andererseits zahlreichen) Fiskalstimuli zu kurz getreten sei. 16 Intelligenter und gebildeter, jedoch nicht weniger falsch, ist die Ansicht von Skidelsky, der zumindest die Österreichische Konjunkturtheorie 17 als einzige Alternative zu seinem geliebten Keynes anfuhrt und eindeutig anerkennt, dass die Interpretation der aktuellen Konjunktur, in der Tat, eine Wiederholung des Duells darstellt, welches Hayek und Keynes während der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts führten. 18 Noch seltsamer ist die Position, welche die neoklassischen Theoretiker der flexiblen Wechselkurse im Allgemeinen und die Monetaristen und Mitglieder der Chicagoschule im Besonderen einnehmen. 19 Es erscheint, als ob in dieser Gruppe die Neigung für die flexiblen Wechselkurse und den monetären Nationalismus über den Wunsch (den wir als ehrlich annehmen) überwiegt, liberalisierende Wirtschaftsreformen anzustoßen. Tatsächlich ist es für diese Theoretiker das Wichtigste, die geldpolitische Autonomie aufrechtzuerhalten und die lokale Währung abwerten (oder absenken) zu können, um „die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen" und die Arbeitslosigkeit so schnell als möglich zu absorbieren, um schließlich erst danach zu versuchen, Maßnahmen der Flexibilisierung und Liberalisierung anzustoßen. Ihre Einfalt ist überwältigend und wir haben uns schon auf dieselbe bezogen, als wir die Gründe der Meinungsverschiedenheit zwischen Mises für die Seite der Österreichischen Schule und Friedman für die Seite der Theoretiker der Chicago-Schule in der Debatte um feste und flexible Wechselkurse kommentierten. Mises hat immer klar erkannt, dass die Politiker nur Maßnahmen in die richtige Richtung ergreifen, wenn sie sich praktisch dazu gezwungen sehen und dass die flexiblen Wechselkurse und der monetäre Nationalismus praktisch jeden Anreiz eliminiert, der effektiv Politiker disziplinieren und die „Lohnrigidität nach unten" (die sich so in eine Art selbsterfüllende Annahme verwandelt, welche Monetaristen und Keynesianer gemeinsam unbesehen akzeptieren) beenden als auch mit den Privilegien der Gewerkschaften und der restlichen Interessengruppen aufräumen kann. Und daher wandeln sich Monetaristen langfristig, sogar zu ihrem eigenen Bedauern, in Reisegefährten der alten keynesianischen Lehren: 20 „Nach der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfahig-

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Vgl. als einen unter vielen Aufsätzen Krugman (2012) sowie Stiglilz (2012). Das Staatsdefizit der Vereinigten Staaten betrug in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 10% und 8,2% in den letzten drei Jahren. Im scharfen Gegensatz dazu lag das deutsche Defizit nur bei 1% im Jahr 2011. Eine moderne Erklärung der Österreichischen Konjunkturtheorie ist in Huerta de Soto (2011a) zu finden. Skidelsky (2011). Die Zahl der Ökonomen dieser Gruppe ist Legion. Die Mehrheit kommt (welch Zufall!) aus der Dollar-Pfund-Zone. Zu diesen zählen beispielsweise Robert Barro (2012), Martin Feldstein (2011) und der Berater des Präsidenten Barack Obama, Austan Golsbee (2011). Unter uns müssen wir, auch aus anderen Gründen, in diese Gruppe Ökonomen vom Prestige eines Pedro Schwartz, Francisco Cabrillo oder Alberto Recarte einschließen. Vgl. beispielsweise wie Krugman in seinem letzten Buch zur Unterstützung seiner Position Friedman zitiert (Krugman 2012, Kapitel 10).

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keit" schiebt man die Reformen auf später auf und was noch schlimmer ist, gewöhnen sich die Gewerkschaften daran, dass die verderblichen Effekte ihrer restriktiven Politik kontinuierlich durch sukzessive Abwertungen maskiert werden. Dieser latente Widerspruch zwischen dem freien Markt und der Unterstützung des Nationalismus und der monetären Manipulation mittels „flexibler" Wechselkurse, wiederholt sich bei vielen Anhängern der Theorie von Robert A. Mundeil zu den „optimalen Währungsräumen".21 Diese sind jene Räume, in denen „zuvor" eine große Mobilität aller Produktionsfaktoren bestanden hat. Falls dies nicht der Fall ist, sei es besser, diese mit Währungen mit geringerer Ausweitung aufzuteilen, um so eine autonome Geldpolitik gegenüber „externen Schocks" möglich zu machen. Aber wir müssen uns fragen: Ist diese Argumentation korrekt? Ganz und gar nicht. Die Hauptquelle der Rigidität der Arbeitsmärkte liegt in der staatlichen Intervention und Regulierung der Märkte selbst und ist fest in ihr verankert. Daher ist es absurd zu glauben, dass die Staaten und Regierungen schon vorher Harakiri begehen, ihre Macht aufgeben und ihre politische Klientel verraten mit dem Ziel, danach eine gemeinsame Währung anzunehmen. Die Realität ist genau das Gegenteil: Erst als sie in eine gemeinsame Währung (in unserem Falle den Euro) eingetreten sind, haben sich die Politiker gezwungen gesehen Reformen voranzutreiben, die bis vor kurzen unvorstellbar gewesen sind. In den Worten von Walter Block: „government is the main or only source of factor immobility. The state, with its regulations ... is the prime reason why factors of production are less mobile than they would otherwise be. In a bygone era the costs of transportation would have been the chief explanation, but with all the technological progress achieved here, this is far less important in our modern 'shrinking world'. If this is so, then under laissez-faire capitalism, there would be virtually no factor immobility. Given even the approximate truth of these assumptions the Mundellian region then becomes the entire globe - precisely as it would be under the gold standard" 22 .

Und dieser Schluss von Block ist genauso auf die Eurozone anzuwenden, die, wie wir schon gesehen haben, ein „Proxy" für den Goldstandard ist, der die willkürliche Macht der Politiker der Mitgliedsstaaten diszipliniert und begrenzt. Wir müssen auch erwähnen, dass die Keynesianer, Monetaristen und „Mundellianer" allesamt falsch liegen, da sie ausschließlich in Begriffen makroökonomischer Aggregate argumentieren und daher - mit Unterschieden im Detail - die gleiche Anpassung via monetärer Manipulation, fiskalischen „Feintuning", und flexiblen Wechselkursen vorschlagen. Für sie muss somit die Aufgabe des Verlassens der Krise auf makroökonomische Modelle und Sozialingenieure zurückfallen. Sie übersehen so vollständig die profunde mikroökonomische Verzerrung, welche die monetäre (und fiskalische) Manipulation in der Struktur der relativen Preise und der Verflechtung der Kapitalgüter hervorruft. Eine erzwungene Abwertung „schert alle über einen Kamm", d.h. sie bedeutet einen plötzlichen linearen und gleichmäßigen prozentualen Rückgang aller Preise von Konsumgütern, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren. Obzwar dies kurzfristig den Anschein einer intensiven Erholung der wirtschaftlichen Aktivität und einer großer Ab21

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Mündel! (1961). Obzwar Mundell die Einführung des Euros seit 1969 vorschlug und verteidigte, lieferte er in seinem wegweisenden Aufsatz zu den optimalen Währungsräumen paradoxerweise den Eurogegnern theoretische Munition. Block (1999, S. 21).

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sorption der Arbeitslosigkeit erweckt, wird in Wirklichkeit die Struktur der relativen Preise vollständig verzerrt (denn ohne die monetäre Manipulation wären einige Preise stärker gefallen, andere weniger und einige wären überhaupt nicht gefallen, sondern sogar noch gestiegen), eine allgemeine Fehlallokation von Produktivkräften und ein profundes Trauma erzeugt, bei dem jede Volkswirtschaft Jahre braucht, um es zu verdauen und sich davon zu erholen.23 Diese mikroökonomische Analyse, welche sich auf die relativen Presie und die Produktionsstruktur konzentriert, wird typischerweise von den Ökonomen der Österreichischen Schule vorgenommen.24 Diese Analyse ist hingegen im analytischen Instrumentarium der Koryphäen der Volkswirtschaftslehre, die sich gegen den Euro stellen, vollkommen abwesend. Schließlich, und außerhalb der rein akademischen Argumentation, erscheint die Beharrlichkeit der angelsächsischen Ökonomen, Investoren und Finanzanalysten beinahe suspekt, mit der sie darauf bestehen, den Euro herabzusetzen und ihm die schwärzeste Zukunft zu prophezeien. Diese Einschätzung wird durch die scheinheilige Position der verschiedenen US-Regierungen (und in geringerem Maße der Regierung des Vereinigten Königreichs) gestützt, welche halbherzig wünschen, dass die Eurozone „Ordnung in ihrer Volkswirtschaft herstellt" und dabei opportunistisch vergessen zu erwähnen, dass die Finanzkrise ihren Ursprung auf der anderen Seite des Atlantiks nahm, nämlich in dem Chaos und der expansiven Geldpolitik, welche jahrelang die Federal Reserve anführte und dessen Effekte die Welt über den Dollar infizierten, da dieser weiterhin als Weltreservewährung genutzt wird. Außerdem ist der Druck auf die Eurozone zumindest eine derart expansive und unverantwortliche Geldpolitik wie die Vereinigten Staaten („quantitative easing") einzuleiten, beinahe unerträglich und zugleich scheinheilig, da eine solche Geldpolitik zweifelsohne der europäischen Einheitswährung endgültig den Rest geben würde. Verbirgt sich hinter dieser Position der politischen, ökonomischen und finanziellen angelsächsischen Welt nicht eine versteckte und vergrabene Angst, dass des Dollars Zukunft als Weltreservewährung bedroht ist, falls der Euro überlebt und dem Dollar in nicht allzu ferner Zukunft eine wirkliche Konkurrenz machen kann? Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Frage immer zulässiger wird und, obwohl sie heute politisch wenig korrekt erscheint, den Finger in die Wunde legt, welche die Analysten und Verantwortlichen der angelsächsischen Welt am meisten schmerzt: der Euro wird zum sehr mächtigen Rivalen für den Dollar auf internationaler Ebene.25 23

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Vgl. die exzellente Analyse über den großen Schaden, welche die Abwertung des Pfunds auf Großbritannien ausübt, von Whyte (2012); zu den Vereinigten Staaten ist Laperriere (2012) zu konsultieren. Huerta de Soto (2011a). „The euro, as the currency of an economic zone that exports more than the United States, has welldeveloped fmancial markets, and is supported by a world class central bank, is in many aspects the obvious alternative to the dollar. While currently it is fashionable to couch all discussions of the euro in doom and gloom, the fact is that the euro accounts for 37 percent of all foreign exchange market turn over. It accounts for 31 percent of all international bond issues. It represents 28 percent of the foreign exchange reserves whose currency composition is divulged by central banks" (Eichengreen 2011, S. 130). Guy Sorman seinerseits hat sich bezogen auf „die ambivalente Einstellung der Experten und Finanzakteure aus den Vereinigten Staaten. Ihnen hat der Euro niemals gefallen, weil er, per definitionem, mit dem Dollar konkurriert: Weisungsgemäß erklärten uns die angeblichen amerikanischen Experten, dass der Euro nicht ohne eine Zentralregierung und ohne eine Fiskalunion überleben könne" (Sorman 2011). Insgesamt ist klar, dass die Verteidiger eines Währungswettbewerbs ihre Kräfte

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Wie wir sehen, besteht die Antieurokoalition aus sehr verschiedenen und mächtigen Interessen. Jede misstraut dem Euro aus unterschiedlichen Motiven. Jedoch teilen alle einen gemeinsamen Nenner: die Gründe, aus denen sie ihre Opposition zum Euro begründen, sind die gleichen (und sie würden sogar mit noch größerem Nachdruck wiederholt und schärfer artikuliert werden), die sie gegen den klassischen Goldstandard als internationales Geldsystem vorbringen würden. In der Tat besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Kräften, die sich in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusammen schlössen, um eine Abkehr vom Goldstandard zu erzwingen, und jenen, die heute - bis jetzt ohne Erfolg - versuchen, in Europa den alten und abgelaufenen monetären Nationalismus wiedereinzuführen. Wie wir bereits gezeigt haben, war es damals technisch viel einfacher den Goldstandard zu verlassen als es heute das Verlassen der Währungsunion ist. In diesem Kontext sollte es nicht überraschen, dass häufig sogar zum Behelf des dreistesten Defätismus gegriffen wird: die Katastrophe und Unmöglichkeit des Erhalts der Währungsunion wird verkündigt, um direkt im Anschluss als „Lösung" ihre unmittelbare Zerschlagung vorzuschlagen. Und es werden sogar internationale Wettbewerbe ausgeschrieben (selbstverständlich im Vereinigten Königreich, der Heimat Keynes und des monetären Nationalismus), auf die sich Hunderte von „Experten" und Arbitristen bewerben; jeder einzelne mit seinen Vorschlägen, wie man am besten und auf die schadloseste Art die Europäische Währungsunion auseinandernehmen kann.26

V. Die wirklichen Kapitalvergehen Europas und der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank27 Niemand kann bestreiten, dass die Europäische Union chronisch an einer Reihe wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Probleme leidet. Dennoch ist der geschmähte Euro kein Teil dieser Probleme. Ganz im Gegenteil wirkt der Euro als ein potentieller Katalysator, der die Schwere der wahren Probleme Europas offensichtlich macht und das Ergreifen der notwendigen Maßnahmen zur Lösung dieser Probleme beschleunigt (oder „überstürzt"). In der Tat ist heute dank des Euro das Bewusstsein weiter verbreitet denn je, dass die überdehnten europäischen Wohlfahrtsstaaten untragbar sind und wich-

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besser gegen das Dollarmonopol wenden solllten (in dem sie beispielsweise den Euro unterstützen) als für eine Wiedereinführung und Wettbewerb zwischen lokalen „Zwergwährungen" ohne große Relevanz einzutreten (Drachme, Escudo, Peseta, Lira, Pfund, Franc und, sogar DM). Dies ist beispielsweise bei dem im Vereinigten Königreich durch Lord Wolfson, dem Eigentümer der Ladenkette Next, ausgerufenen Wettbewerb der Fall, für den bis jetzt nicht weniger als 650 „Experten" und Arbitristen Vorschläge eingereicht haben. Wäre da nicht diese offensichtliche und grobe Scheinheiligkeit bei Initiativen dieser Art, die immer außerhalb der Eurozone ausgerufen werden (und vor allem im angelsächsischen Raum von jenen, die den Euro furchten, hassen oder geringschätzen), müsste man für die große Anstrengung und das Interesse danken, welche für die Zukunft einer Währung an den Tag gelegt wird, die letztlich nicht die eigene ist. Vielleicht ist es nützlich klarzustellen, dass der Autor dieser Zeilen ein „Europaskeptiker" ist, der dafür eintritt, dass die Europäische Union sich ausschließlich darauf beschränkt, den freien Verkehr von Personen, Kapital und Gütern in einem Umfeld einer Einheitswährung (wenn möglich Goldstandard) zu garantieren.

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tigen Reformen unterworfen werden müssen.28 Das gleiche lässt sich über die allumfassenden Hilfs- und Subventionsprogramme sagen, wobei die Gemeinsame Agrarpolitik die Krönung nicht nur hinsichtlich der sehr schädlichen Effekte sondern auch wegen ihrer vollständigen ökonomischen Irrationalität darstellt.29 Und vor allem ist in diesem Sinne auch die Kultur der Sozialklempnerei und die erdrückende Regulierung zu erwähnen, die unter dem Vorwand der Harmonisierung der verschiedenen nationalen Gesetzgebungen die Gesellschaften versteinert und verhindert, dass der europäische Binnenmarkt ein wahrhaft freier Markt ist.30 Heute zeigen sich mehr denn je die Hauptkosten aller dieser strukturellen Mängel: ohne eine autonome Geldpolitik sehen sich die verschiedenen Regierungen dazu gezwungen, buchstäblich alle staatlichen Ausgabenposten zu überdenken (und in diesem Falle zu reduzieren), und zu versuchen die internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen und zu erhöhen, indem sie die Märkte weit möglichst deregulieren und flexibilisieren (und vor allem den Arbeitsmarkt, der traditionell in vielen Ländern der Währungsunion besonders rigide ist). Den erwähnten Kapitalsünden der europäischen Wirtschaft sollte noch eine weitere vielleicht wegen ihres einzigartigen und heimtückischen Charakters noch schwerere hinzugefugt werden. Wir spielen auf die große Leichtigkeit an, mit der die europäischen Institutionen, oftmals wegen eine Fehlens von Weitblick, Führung oder Überzeugung vom eigenen Projekt sich in politische Maßnahmen verwickeln lassen, die langfristig mit den Anforderungen einer Gemeinschaftswährung und einem echten freien Binnenmarkt inkompatibel sind. So ist es erstens erstaunlich festzustellen, wie es immer häufiger vorkommt, dass die wachsenden und erstickenden Regulierungsmaßnahmen, die neu eingeführt werden, aus dem akademischen und politischen Umfeld der angelsächsischen Welt und im Konkreten der Vereinigten Staaten31 kommen, obgleich sich bereits sehr oft gezeigt hat, dass die Maßnahmen ineffizient oder höchst verzerrend sind. Dieser ungesunde Einfluss ist von fragwürdigen Ursprungs (erinnern wir uns daran, dass die Agrarsubventionen, die Gesetzgebung die fälschlicherweise als „Wettbewerbssicherung" bezeichnet wird oder die Regulierungen zur Unternehmensfuhrung und „sozialen Verantwortung des Unternehmens" wie viele andere gescheiterte Interventionen ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten selbst haben). Diese Staatseingriffe wiederholen sich heute Tag für Tat, verstärken sich - wie zum Beispiel in Bezug auf die internationalen Rechnungslegungs28

Wie wir bereits erwähnt haben, gab es beispielsweise jüngst gesetzliche Änderungen, die das Renteneintrittsalter sogar bis auf 67 Jahre erhöht haben (mit einem zusätzlichen Aufschub in Funktion der künftigen Lebenserwartung). Derartige Reformen sind auf dem Wege oder wurden bereits eingeführt in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland. Ein weiteres Beispiel ist die Einführung der sogenannten Praxisgebühr und weitergehende Privatisierungen im Bereich der staatlichen Gesundheitsfürsorge. Diese zaghaften Schritte gehen in die richtige Richtung. Wegen ihrer hohen politischen Kosten wären sie ohne Euro nicht unternommen worden und stechen auch gegen die gegensätzliche Tendenz heraus, welche die Gesundheitsreform Barack Obamas darstellt oder den offensichtlichen Reformstau, bei den unausweichlichen Reformen des britischen National Health Service.

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O'Caithnia (2011). Balcerowicz (2010); Booth (2011). Vgl. beispielsweise United States' Economy: Over-regulated America: The home of laissez-faire is being suffocated by excessive and badly written regulation", The Economist, 18. Februar 2012, S. 8, und die dort angeführten Beispiele.

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Standards oder bei den bis heute glücklicherweise gescheiterten Versuchen, die Vereinbarungen von Basel III für den Bankensektor (oder Solvency II für den Versicherungssektor) zum Abschluss zu bringen - und leiden an unkorrigierbaren grundsätzlichen theoretischen Mängeln und schweren Umsetzungsproblemen in der Praxis.32 Ein zweites Beispiel des ungesunden angelsächsischen Einflusses ist der „European Economic Recovery Plan", der unter dem Schirm des Washingtoner Gipfel unter der Führung keynesianischer Politiker wie Barack Obama und Gordon Brown sowie der Beratung von Ökonomen, die dem Euro feindlich gesinnt sind wie Krugman und anderer33, Ende 2008 durch die Europäische Kommission lanciert wurde und den Mitgliedsstaaten eine Erhöhung der Staatsausgaben von ungefähr 1,5 Prozent des BIP empfahl (was aggregiert um die 200 Milliarden Euro ausmacht). Obwohl einige Staaten wie Spanien den Fehler begingen, ihre Staatshaushalte auszudehnen, blieb von diesem Plan - Gott sei gedankt und zum Glück des Euro - zur Verzweiflung der Keynesianer und ihrer Jünger34 recht schnell nicht viel übrig, als es offensichtlich wurde, dass dieser Plan nur dafür sorgte, die Defizite zu erhöhen, das Erfüllen der Ziele des Vertrags von Maastricht unmöglich zu machen, und die Märkte für Staatsanleihen der Eurozone zu destabilisieren. Erneut wirkte der Euro wie ein disziplinierender Rahmen und eine antizipierende Bremse für die Staatsdefizite im Kontrast zum Haushaltschaos der Länder die Opfer des monetären Nationalismus sind: konkret die Vereinigten Staaten und besonders Großbritannien, welches 2010 mit einem Haushaltsdefizit von 10,1 Prozent des BIP und 2011 mit 8,8 Prozent abschloss, was weltweit nur von Griechenland und Ägypten übertroffen wurde. Trotz der enormen Defizite und Fiskalstimuli verharrt die Arbeitslosigkeit in Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf Rekordniveaus (oder sehr hohen Niveaus) und ihren Volkswirtschaften gelingt es nicht, wieder in Schwung zu kommen. Drittens und am Wichtigsten ist der wachsende Druck zu Gunsten einer kompletten politischen Union in Europa herauszuheben, welche als einzige „Lösung" dargestellt wird, um das Überleben des Euro langfristig zu sichern. Neben den „Eurofanatikern", welche sich immer an irgendeinen Vorwand hängen, mit dem sie eine größere Macht und Zentralismus zu Gunsten Brüssels rechtfertigen können, gibt es zwei Gruppen, welche zur Unterstützung der politischen Union zusammenarbeiten. Einerseits und paradoxerweise die Feinde des Euro vor allem angelsächsischen Ursprungs: Die Nordamerikaner, geblendet von der Zentralmacht aus Washington und sich dessen bewusst, dass ihr Modell in Europa nicht wiederholbar ist, wissen, dass sie mit ihrem Vorschlägen einen zersetzenden, tödlichen Virus für den Euro einführen. Die Briten nutzen den Euro (ungerechtfertigter Weise) als Sündenbock, um darauf ihre (vollkommen gerechtfertigten) Frustrationen über den wachsenden Interventionismus aus Brüssel zu stülpen. Die zweite Gruppe besteht aus jenen Theoretikern und Denkern, die glauben, dass nur ein

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Huerta de Sota (2003) und (2008). Zur Hysterie zu Gunsten der grandiosen Fiskalstimuli dieser Zeit ist Fernando Ulrich (2011) zu empfehlen. Krugman (2012), Stiglitz (2012). Wir hoffen, dass auch von dem „Konjunkturpaket" über 120 Mrd. Euro, das Hollande beim EU-Gipfel im Juni 2012 als Trostpreis zugesprochen wurde, nicht viel übrig bleibt. Vor allem die Unmöglichkeit dieses Paket - wie vorgesehen - ohne Erhöhung der Staatsschulden der 27 Mitglieder der EU zu finanzieren, stärkt diese Hoffnung.

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zentrales Regierungsorgan die Ziele für Defizit und Staatsverschuldung, welche in Maastricht vereinbart wurden, garantieren kann. Dieser Glaube ist falsch. Der Mechanismus der Währungsunion selbst garantiert, genau wie beim Goldstandard, dass jene Länder, welche die Haushaltsstrenge und Stabilität verlassen, ihre Solvenz gefährdet sehen und sich bedrängt sehen, schnellstens Maßnahmen zu ergreifen, um die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen wiederzugewinnen; falls sie sich nicht gezwungen sehen wollen, ihre Zahlungen einzustellen. Trotz obiger Beobachtungen liegt das größte Problem nicht in der Gefahr der unmöglichen politischen Union, sondern in der unbestreitbaren Tatsache, dass eine Politik der Kreditausweitung, welche von der Europäischen Zentralbank während einer Phase eines scheinbaren ökonomischen Booms dauerhaft durchgeführt wird, in der Lage ist, zumindest zeitweise den disziplinierenden Effekt des Euro auf die Wirtschaftsakteure der Mitgliedsländer zu eliminieren. Und so bestand der fatale Fehler der Europäischen Zentralbank darin, Europa nicht zu isolieren und vor der großen Kreditausweitung zu schützen, welche weltweit durch die Federal Reserve der Vereinigten Staaten seit 2001 organisiert wurde. Während einiger Jahre erlaubte die Europäische Zentralbank (in unserer Meinung nach flagranter Nichterfüllung des Vertrags von Maastricht), dass die Geldmenge M3 in Raten von sogar über 9 Prozent pro Jahr wuchs, was weit über dem „Referenzwert" von 4,5 Prozent liegt, welchen sich die EZB ursprünglich selbst gesetzt hatte (Issing 2008, S. 107).35 Außerdem verteilte sich dieses Wachstum - auch wenn es weniger leichtsinnig als das von der Federal Reserve der Vereinigten Staaten zu verantwortende ist - ungleich auf die Länder der Währungsunion, indem es überproportional die Staaten der Peripherie (Spanien, Portugal, Irland und Griechenland) betraf, welche mit ansahen, wie ihre Geldaggregate in einem Rhythmus wuchsen der drei bis viermal höher war als das Geldmengenwachstum in Frankreich oder Deutschland. Um dieses Phänomen zu erklären, lassen sich verschiedene Gründe anführen; über den damaligen Druck Frankreichs und Deutschlands keine zu strikte Geldpolitik zu fahren, bis zur absoluten Kurzsichtigkeit der Länder der Peripherie, die nicht anerkennen wollten, dass sie spekulative Blasen installiert hatten, und denen es auch nicht - wie im Fall Spaniens - gelang, ihren Repräsentanten im Rat der EZB eindeutige Instruktionen zu geben, damit sie die strikte Einhaltung der von der EZB selbst angestrebten Geldmengenwachstumsziele auf die Tagesordnung setzten. Tatsächlich erfüllten in den Jahren vor der Krise alle diese Länder, mit der Ausnahme Griechenlands36, die Defizitgrenze von 3% be-

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Konkret übersteigt das durchschnittliche Wachstum von M3 in der Eurozone zwischen 2000 und 2011 6,3%, wobei die hohen Wachstumsraten während der Blasenjahre 2005 (zwischen 7% und 8%), 2006 (zwischen 8% und 10%) und 2007 (zwischen 10% und 12%) zu betonen sind. Die vorstehenden Daten beweisen, wie bereits gezeigt worden ist, dass das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts, obzwar es sehr löblich ist, nur eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für Stabilität ist: im Laufe eines durch Kreditausweitung angestoßenen Zyklus können Verpflichtungen für Staatsausgaben während der Expansionsphase eingegangen werden mit der falschen Ruhe, welche die Überschüsse generieren. Diese Staatsausgaben sind dann, wenn unausweichlich die Rezession einsetzt, nicht aufrecht zu erhalten. Dies zeigt, dass das Ziel des ausgeglichenen Haushalts außerdem eine Wirtschaft erfordert, die nicht dem Hin und Her der Kreditausweitung unterliegt, oder zumindest, die Jahre der Expansion mit enormen Überschüssen abschließt. Vgl. zudem Balcerowicz (2010).

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Griechenland wäre damit der einzige Fall, auf den man das Argument der „Tragödie der Allmende" anwenden könnten, welches im Bezug auf den Euro in Bagus (2010) entwickelt wird. Daher haben

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quem. Einige schlössen wie im Fall Spaniens und Irlands sogar ihre Haushalte mit bedeutenden Überschüssen ab. 37 Obwohl erreicht wurde, dass der Kern der Europäischen Union nicht in den irrationalen Überschwung der Vereinigten Staaten verwickelt wurde, reproduzierte sich dieser auf diese Weise mit heftiger Virulenz in der Ländern der Peripherie Europas, ohne dass jemand - oder nur sehr wenige - die große Gefahr der Vorgänge richtig diagnostizierte. 38 Wenn die Akademiker und politischen Verantwortlichen sowohl in den betroffenen Ländern als auch in der Europäischen Zentralbank anstatt der aus der angelsächsischen Welt importierten makroökonomischen und monetaristischen Analyseinstrumente das korrespondierende Instrumentarium der Österreichischen Konjunkturtheorie benutzt hätten 39 - schließlich ist diese ein echtes Produkt kontinentalen ökonomischen Denkens - dann hätten sie rechtzeitig den größtenteils künstlichen Charakter der Prosperität dieser Jahre, die fehlende Nachhaltigkeit vieler Investitionen (vor allem im Immobiliensektor), welche durch die Leichtigkeit der Kreditvergabe ermutigt wurden, bemerkt und kurzum gewusst, dass der überraschende Überfluss der wachsenden Staatseinnahmen nur von kurzer Dauer sein würde. Dennoch und glücklicherweise hat sich, obwohl die Europäische Zentralbank im letzten Zyklus nicht den gerechtfertigten Ansprüchen der europäischen Bürger gewachsen war und ihre Politik tatsächlich als eine „große Tragödie" bezeichnet werden könnte, erneut die Logik des Euro als Einheitswährung letztlich durchgesetzt und jeden Einzelnen gezwungen, sich wieder auf den Pfad der Kontrolle zu begeben und einen Sparkurs einzuschlagen. Im folgenden Absatz werden wir kurz die spezifische Form besprechen, mit der die Europäische Zentralbank ihre Politik während der Krise entwickelt hat und wodurch diese sich von der Politik der Zentralbanken der Vereinigten Staaten und Großbritanniens unterscheidet.

VI. Euro vs. Dollar (und Pfund) und Deutschland vs. USA (und UK) Eine der herausragendsten Aspekte des letzten Zyklus, der in der Großen Rezession von 2008 endete, ist zweifellos das divergierende Verhalten bei Geld- und Fiskalpolitik in der angelsächsischen Welt (basierend auf einem monetären Nationalismus) und in den Ländern der Europäischen Währungsunion. Tatsächlich haben sowohl die Federal Reserve als auf die Bank von England seit Anbruch der Finanzkrise und Wirtschaftskrise in 2007-2008 eine Geldpolitik gefahren, welche die Zinssätze praktisch auf Null senkte, massiv Zahlungsmittel geschaffen, was unter dem euphemistischen Ausdruck „quantitative easing" bekannt wurde, und direkt und ganz ohne Scham Staatsschulden kontinuierlich monetisiert. 40 Zu dieser überexpansiven Geldpolitik (in die simultan die Empfehlungen von Monetaristen und Keynesianern eingehen) kommt noch der resolute

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wir im obigen Text argumentiert, dass das bemerkenswert Buch von Bagus statt Die Tragödie des Euro besser Die Tragödie der Europäischen Zentralbank genannt worden wäre. Die Überschüsse Spaniens betrugen in den Jahren 2005, 2006 und 2007 jeweils 0,96%, 2,02% und 1,90%. Die Überschüsse Irlands beliefen sich in den Jahren 2003, 2004, 2005, 2006 und 2007 jeweils auf 0,42%, 1,40%, 1,64%, 2,90% und 0,67%. Als Ausnahme ließe sich der Autor dieser Zeilen selbst zitieren, Huerta de Soto (2011, xxxvii). Ibidem. Im Fiskaljahr 2011 kaufte die Federal Reserve direkt 77 % aller neu emittierten US-Staatsschulden (Gramm and Taylor 2012). Ähnliches lässt sich über die Bank von England sagen, welche direkt 25 % der gesamten Staatsschulden des Vereinigten Königreichs hält. Angesichts dieser Zahlen erscheint die (direkte und indirekte) Monetisierung durch die Europäische Zentralbank als ein „Kinderspiel."

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Fiskalstimulus, welcher sowohl in den Vereinigten Staaten als auch Großbritannien das Aufrechterhalten von Haushaltsdefiziten nahe 10 Prozent ihrer jeweiligen Bruttoinlandsprodukte bedeutet (diese Defizite werden trotzdem noch, zumindest von den verbohrtesten Keynesianern wie Krugman und anderen als unzureichend angesehen). Im Gegensatz zu dem was mit Dollar und Pfund geschieht, können glücklicherweise in der Eurozone Geldinjektionen nicht mit der gleichen Leichtigkeit vorgenommen werden. Auch kann ein Haushaltschaos nicht unbegrenzt derart ungestraft aufrechterhalten werden. Zumindest in der Theorie ist es der Europäischen Zentralbank nicht gestattet, europäische Staatsschulden zu monetisieren. Obwohl sie auf massive Weise Staatsanleihen als Sicherheiten für ihre enormen Kredite an den Bankensektor akzeptiert und sogar ab dem Frühling 2010 direkt und sporadisch Anleihen der am stärksten bedrohten Länder der Peripherie (Griechenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien) aufgekauft hat, ist es richtig, dass ein grundlegender ökonomischer Unterschied zwischen der Handlungsweise der Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits und der Politik Kontinentaleuropas andererseits besteht: Während die monetäre Aggression und das Haushaltschaos in der angelsächsischen Welt schäm- und bedenkenlos mit Absicht durchgeführt werden, wird diese Politik in Europa nur „zähneknirschend" nach vielen, sukzessiven und endlosen „Gipfeln" verfolgt, wobei das Ergebnis die Frucht langer, harter und multilateraler Verhandlungen ist, bei denen es notwendig ist, eine Übereinstimmung von Ländern mit sehr unterschiedlichen Interessen zu erreichen und, was das Wichtigste ist: die Geldspritzen und die Hilfe für Länder mit Schuldschwierigkeiten werden im Gegenzug für Reformen bemessen und bewilligt, die auf Haushaltssparmaßnahmen (und nicht Fiskalstimuli) und der Einfuhrung von Maßnahmen der Angebotsseite beruhen, welche mit Liberalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit der Märkte konsistent sind.41 Obwohl eine viel frühere „de facto" Zahlungseinstellung des hellenischen Staates, die einen Schuldenschnitt (hair cut) von beinahe 75 Prozent für Privatinvestoren erreicht hat, die fälschlicherweise in diese Schulden vertraut hatten, besser gewesen 41

Vor diesem Hintergrund ist das am 29. Juni 2012 um 4 Uhr morgens erzielte Abkommen zu verstehen. In diesem Abkommen wurde der Kauf spanischer und italienischer Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt unter der Bedingung beschlossen, dass diese Länder ähnliche Vorgaben erfüllen, wie sie im Falle einer Rettung auferlegt werden. Zudem wurde das Prinzip „par conditio creditorum" eingeführt und damit der Vorrang öffentlicher Gläubiger beendet. Außerdem wurde die Möglichkeit direkter Bankhilfen beschlossen, ohne dass diese das Staatsdefizit belasten. Luskin und Roche Kelly sind sogar so weit gegangen sich auf „Europe's Supply-Side Revolution" (Luskin und Roche Kelly 2012) zu beziehen. Auch ist der „Plan für Wachstum in Europa" angeregt am 20. Februar 2012 durch die politischen Führer von zwölf Ländern der Europäischen Union (unter denen sich jene von Italien, Spanien, den Niederlanden, Finland, Irland und Polen befinden) zu nennen, welcher nur Maßnahmen der Angebotsseite und in keiner Weise Fiskalstimuli erwähnt. Gleichsam nennenswert ist das Manifest „Initiative for a Free and Prospering Europe" (IFPE) unterzeichnet in Bratislava unter anderen durch den Autor dieser Zeilen im Januar 2012. Kurzum, es erscheint in Ländern wie Spanien Priorität zu haben, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen weg von einer spekulativen und „heißen" Ökonomie basierend auf der Kreditausweitung hin zu einer „kalten" Ökonomie basierend auf Wettbewerbsfähigkeit. In der Tat werden, sobald die Preise sinken („interne Deflation") und sich die Struktur der relativen Preise anpasst, in einem Umfeld der Wirtschaftsliberalisierung und Strukturreformen, zahlreiche unternehmerische Gewinnmöglichkeiten bei nachhaltigen Investitionen entstehen, die in einem so ausgedehnten Wirtschaftsraum wie dem des Euro garantiert eine Finanzierung finden. Auf diese Weise kommt es zur notwendigen Gesundung und die so ersehnte Erholung unserer Volkswirtschaften, die eine „kalte", nachhaltige und auf Wettbewerbsfähigkeit basierende ist, wird garantiert.

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wäre, ist ein untrügliches Zeichen an die Märkte gesendet worden, das für die restlichen Länder in Schwierigkeiten keinen anderen Ausweg lässt als mit Ensthaftigkeit, Energie und ohne Aufschub die notwendigen Reformen anzupacken. Und wie wir bereits gesehen haben, haben selbst Staaten wie Frankreich, bis heute scheinbar unantastbar und wohlhabend mit ihren überdehnten Wohlfahrtsstaaten, erlebt, wie sie die höchste Kreditqualität für ihre Staatsschulden verloren, wodurch sich die Zinsdifferenz zu deutschen Bundesanleihen vergrößerte und sie sich zunehmend gezwungen sahen, Spar- und Liberalisierungsmaßnahmen zu ergreifen, wollten sie nicht ihre bis dato unanfechtbare Mitgliedschaft im „harten Kern" des Euro gefährdet sehen.42 Aus politischer Sicht ist auf jeden Fall die Führung durch Deutschland offensichtlich (und im Besonderen durch Kanzlerin Angela Merkel), welche diesen ganzen Gesundungs- und Sparprozess anstößt (und sich gegen jede Art törichter Vorschläge, wie die Emission von „Eurobonds" zur Wehr setzt, welche die Anreize zu durchgreifenden Reformen in den Krisenländern eliminierten). Dies geschieht vielfach gegen Wind und Strömung, da einerseits der internationale Druck - vor allem seitens der nordamerikanischen Regierung Barack Obama's - hin zu einem Fiskalstimulus konstant ist. Obama's Regierung nutzt dabei die „Eurokrise", um vom Fehlschlag der eigenen Politik abzulenken. Andererseits bietet Deutschland dem Unverständnis und der Ablehnung seitens all jener die Stirn, welche nur wünschen im Euro zu verbleiben, weil es ihnen Vorteile bringt, sich aber gleichzeitig gewaltsam gegen die bittere Disziplin sträuben, welche die Einheitswährung allen, und vor allem den populistischsten Politikern und den unverantwortlichsten privilegierten Interessengruppen aufzwingt. In jedem Fall und zu Illustrationszwecken, die verständlicherweise Keynesianer und Monetaristen zur Verzweiflung treiben, ist es notwendig zu betonen, wie verschieden bis heute die Ergebnisse der nordamerikanischen Politik des Fiskalstimulus und monetären „quantitative easing" verglichen mit der deutschen Angebotspolitik und relativen Fiskalsparsamkeit im monetären Umfeld des Euro gewesen ist: das Staatsdefizit beträgt in Deutschland 1%, in den Vereinigten Staaten über 8,20%; Arbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 6,9 %, in den Vereinigten Staaten bei knapp 9%; die Inflation ist in Deutschland 2,5%, in den Vereinigten Staaten über 3,17%; das Wachstum in Deutschland steht bei 3%, in den Vereinigten Staaten bei 1,7% (Die Parameter für Großbritannien sind noch ein wenig schlechter als die amerikanischen). Der Zusammenprall der Paradigmen und der Kontrast der Ergebnisse könnte nicht offensichtlicher sein.43

VII. Schlussfolgerung: Hayek versus Keynes Genau wie seinerzeit beim Goldstandard gibt es unzählige Kritiker des Euro, die diesen wegen seiner größten Tugend hassen: Die Fähigkeit, verschwenderische Politiker und Interessengruppen zu disziplinieren. Es ist offensichtlich, dass der Euro in keiner Weise der ideale Geldstandard ist. Das ideale Geldsystem ließe sich nur mit einem klas-

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In diesem Kontext und wie wir bereits in dem Absatz über die „bunte Antieurokoalition" erklärt haben, verwundern die Kommentare der französischen Präsidentschaftskanditaten nicht, die wir in Fußnote 13 erwähnt haben. Geschätzte Daten zum 31. Dezember 2011.

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sischen Goldstandard, einer Reservevolldeckung für Sichteinlagen und der Abschaffung der Zentralbanken erreichen. Und so ist es sehr gut möglich, dass sobald etwas Zeit verflossen ist und die geschichtliche Erinnerung über die jüngsten monetären und finanziellen Ereignisse verblasst sind, die Europäische Zentralbank erneut ihre alten Fehler begeht und eine neue Blase der Kreditausweitung antreibt und pflegt.44 Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Sünden der Federal Reserve und der Bank von England noch viel schwerwiegender gewesen sind, und dass zumindest in Kontinentaleuropa der Euro dem monetären Nationalismus ein Ende gesetzt hat und für die Staaten der Währungsunion als ein „Proxy" des Goldstandards (auch wenn es ein zurückhaltender Proxy ist) fungiert. Somit treibt der Euro zu haushälterischer Strenge, tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit erhöhenden Reformen und setzt den Missbräuchen des Wohlfahrtsstaates und der politischen Demagogie ein Ende. In jedem Fall ist es wichtig anzuerkennen, dass wir uns an einem historischen Punkt befinden.45 Vom Überleben des Euro hängt es ab, ob ganz Europa die traditionelle germanische Geldstabilität verinnerlicht und sich zu Eigen macht. Diese Stabilität ist in der Praxis der einzige und unersetzbare disziplinarische Rahmen, unter dem kurz- und mittelfristig die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum der Europäischen Union angetrieben werden kann. Aus internationaler Sicht wird das Überleben und die Konsolidierung des Euro es zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen, dass eine Währung entsteht, die effektiv mit dem Dollarmonopol als Weltreservewährung konkurrieren kann und daher die Fähigkeit Nordamerikas diszipliniert, systemische Finanzkrisen wieder anzustoßen, die wie jene von 2007 die Ordnung der Weltwirtschaft gefährden. Vor ein wenig mehr als achtzig Jahren befand sich die Welt in einem sehr ähnlichen historischen Kontext, als man debattierte, ob es besser sei, beim Goldstandard zu bleiben und mit ihm sich der Haushaltsausterität, den flexiblen Arbeitsmärkten und dem freien und friedfertigen Handel anheim zu geben, oder aber den Goldstandard zu verlassen und somit allerorten den monetären Nationalismus, inflationäre Politik, Starrheit der Arbeitsmärkte, Interventionismus, „Wirtschaftsfaschismus" und Handelsprotektionismus einzuführen. Hayek und die Österreichischen Ökonomen - allen voran von Mises 44

An anderer Stelle habe ich mich auf die inkrementellen Reformen bezogen, die, wie beispielsweise die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken (vom Typ Glass Steagal Act) den Euro ein wenig verbessern könnten. Andererseits ist es jedoch in Großbritannien gewesen, wo paradoxerweise (oder auch nicht, wenn man den verheerenden sozialen Schaden bedenkt, der durch die britische Bankenkrise verursacht wird), meine Vorschläge auf das größte Echo gestoßen sind und sogar ein Gesetzesvorschlag in das britische Parlament eingebracht wurde, um das Peelsche Bankgesetz von 1844 (welches kurioserweise immer noch gültig ist) zu komplettieren, indem die Volldeckung auf Sichteinlagen ausgedehnt wird. Der dort erreichte Konsensus zur Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken muss als ein (sehr scheuer) Schritt in die richtige Richtung angesehen werden (Huerta de Soto 2010 und 2011b).

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Mein politischer Pate, der navarresische Unternehmer Javier Vidal Sario, vollkommen klar und aktiv mit seinen 93 Jahren, bestätigt mir, dass er in seinem ausgedehnten Leben niemals Zeuge - nicht einmal während der Jahre des Stabilisierungsplans von 1959 - einer ähnlichen kollektiven Anstrengung von Haushaltsdisziplin, institutioneller Strenge und ökonomischer Gesundung wie der heutigen gewesen ist. Dazu kommt noch der historische Wert, dass sich diese Anstrengung nicht auf ein konkretes Land (zum Beispiel Spanien) bezieht, noch auf eine spezifische Währung (zum Beispiel die Peseta), sondern sich auf ganz Europa erstreckt mit einigen hundert Millionen Menschen und im Rahmen einer Einheitswährung (des Euro).

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unternahmen eine titanische intellektuelle Anstrengung, indem sie die Vorteile des Goldstandards und der Handelsfreiheit analysierten, erklärten und verteidigten. Sie taten dies gegenüber Theoretikern - angeführt von Keynes und den Monetaristen - , die darauf setzten, die monetären und fiskalischen Fundamente der liberalen Wirtschaft zu sprengen, die bis dahin die Industrielle Revolution und den Fortschritt der Zivilisation angetrieben hatten. 46 In diesem Fall entwickelte sich das ökonomische Denken schließlich auf ganz anderen Pfaden als den von Mises und Hayek verteidigten mit den unheilvollen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen, die wir alle kennen. Als Konsequenz dessen ist erstaunlicherweise die Welt heute im 21. Jahrhundert immer noch mit finanzieller Instabilität, einem Fehlen an Haushaltsdisziplin und politischer Demagogie behaftet. Aus all diesen Gründen und vor allem, weil die Weltwirtschaft dies dringend benötigt, verdienen es bei dieser neuen Gelegenheit Mises und Hayek 47 endlich zu triumphieren, und der Euro (zumindest provisorisch bis er definitiv durch einen Goldstandard abgelöst wird) verdient es zu überleben. 48

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Schon 1924 schrieb der große nordamerikanische Ökonom Benjamin M. Anderson folgendes: „Economical living, prudent financial policy, debt reduction rather than debt creation - all these things are imperative if Europe is to be restored. And all these are consistent with a greatly improved standard of living in Europe, if real activity be set going once more. The gold standard, together with natural discount and interest rates, can supply the most solid possible foundation for such a course of events in Europe". Zweifellos wiederholt sich die Geschichte ein weiteres Mal (Anderson 1924). Ich danke meinem Mitarbeiter Antonio Zanella, der mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht hat.

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Der historische Wendepunkt reproduziert sich außerdem in aller Schärfe in China, dessen Volkswirtschaft sich in diesen Momenten am Rande eines expansiven und inflationären Zusammenbruchs steht. Vgl. „Keynes versus Hayek in China", The Economist, 30. Dezember 2011, sowie „Free exchange: Hayek on the standing committee", The Economist, 15. September 2012, S. 64. Wie wir bereits gesehen haben, stellte sich auch Mises, der große Verteidiger des Goldstandards und der Bankfreiheit mit 100 prozentiger Reservedeckung in den 1960er Jahren frontal gegen die Theoretiker der flexiblen Wechselkurse mit Milton Friedman an ihrer Spitze. Mises prangerte das Verhalten seines Schülers Machlup an, als dieser die Verteidiger fester Wechselkurse im Stich ließ. Heute, fünfzig Jahre später und im Zusammenhang mit dem Euro, wiederholt sich die Geschichte: bei jener Gelegenheit triumphierten die Epigonen des monetären Nationalismus und der Instabilität der Wechselkurse mit den heute bekannten Folgen. Dieses Mal hoffen wir, dass die Lektion verstanden worden ist, und dass Mises letztlich triumphiert. Der Welt braucht dies, und er verdient es.

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Summary: In Defense of the Euro - An Austrian Perspective (With a Critique of the Errors of the ECB and the Interventionism of Brussels) This paper defends the Euro from the point of view of Austrian Economics. Following Mises and Hayek it demonstrates the Euro is acting as a proxy of the gold standard disciplining politicians and putting a limit to the growth of the welfare state.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Alfred Schüller

Vom Euro zum Goldstandard? Eine Replik auf den Beitrag von Jesus Huerta de Soto* Der Euro, so meint Huerta de Soto, verdient es, wegen seines disziplinierenden Einflusses auf die Mitgliedsländer zu überleben - zumindest provisorisch, bis er definitiv durch einen Goldstandard abgelöst wird. In festen Wechselkursen und erst recht in einer Währungsunion sieht Huerta de Soto gleichsam systemimmanente Schrittmacher auf dem Weg zum Goldstandard. Bewegliche Wechselkurse führten dagegen von diesem Ziel, dem „idealen Geldsystem", weg. Der Text ist gedankenreich, anregend, enthält Thesen, die ich teile, so zum Beispiel das Plädoyer für den Goldstandard, die Kritik am ungesunden angelsächsischen Einfluss auf Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, der Hinweis auf die „titanische intellektuelle Anstrengung" der Österreichischen Ökonomen wie von Mises und Hayek. Tatsächlich ist es, nachdem die Goldwährung weltweit vom staatlichen Papiergeldmonopol verdrängt worden ist, nicht gelungen, Bedingungen zu schaffen, die Staaten und internationale Instanzen daran hindern können, die Geldwirtschaft zur Ursache von schwerwiegenden Störungen des Wirtschaftsablaufs und zu einem Instrument menschlicher Ausbeutung und Unfreiheit zu machen. Meine Anmerkungen beziehen sich auf grundlegende Annahmen des Textes und die Frage der Haltbarkeit der daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Hierzu gehe ich auf fünf Thesenkomplexe (nachstehend kursiv gesetzt) näher ein, die nach meiner Auffassung im Mittelpunkt von Huerta de Sotos Argumentation stehen. Es werden bei weitem nicht alle Punkte des Aufsatzes angesprochen, die dies eigentlich verdienten: These eins : Flexible Wechselkurse verleiten zur monetären, sozial- und fiskalpolitischen Disziplinlosigkeit. Keynesianer und Monetaristen haben dies geradezu sträflich verkannt. Sie haben damit Spielraum für eine autonome Wirtschaftspolitik und den monetären Nationalismus geschaffen, ja darauf gesetzt, „die monetären und fiskalischen Fundamente der liberalen Wirtschaft zu sprengen" (S. 42). Nur bei festen Wechselkursen sehen sich die Regierungen gezwungen, den Weg zu einer höheren Geldwertmoral einzuschlagen und beizubehalten und „ ihren Bürgern die Wahrheit zu sagen " (S. 25). Flexible Wechselkurse sind der ursächliche Auslöser der Disziplinlosigkeit, feste Wechselkurse verhindern oder überwinden diese. Anmerkungen: 1. Es besteht kein Zweifel: Relativ stabile, nur innerhalb eines eng begrenzten Bereichs schwankende Wechselkurse sind bei anspruchsvoller Währungskonvertibilität für den internationalen Wirtschafts- und Kapitalverkehr grundsätzlich eine bessere Vor-

Jestis Huerta de Soto, Die Verteidigung des Euro: ein österreichischer Ansatz (Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel), vgl. S. 21-44 des vorliegendes Jahrbuchs.

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aussetzung als frei bewegliche Wechselkurse (siehe hierzu grundlegend Meyer 1961, S. 558 ff.). Denn diese verursachen neben den marktüblichen Preisrisiken ein Wechselkursrisiko. Internationale Transaktionen lohnen sich deshalb erst bei größeren Preisdifferenzen. Doch hängt die Frage, welchem der marktwirtschaftlichen Systeme des Zahlungsbilanzausgleichs der Vorrang gebührt, nicht von der Höhe der Transaktionskosten ab, sondern davon, ob unter den gegebenen Bedingungen die erforderlichen Spielregeln eingehalten werden. Für stabile Wechselkurse ist eine am Ziel der Geldwertstabilität orientierte fiskal- und geldpolitische Regeldisziplin unverzichtbar. (Das gilt auch für eine Währungsunion und für den Goldstandard). Mangelt es daran, bleibt - auch als Langfristlösung - nur der Übergang zu beweglichen Wechselkursen, wenn dirigistische (nicht-marktwirtschaftliche) Ausgleichsverfahren ausgeschlossen bleiben sollen, die politischen Kalkülen folgen (siehe Schüller 2012). 2. Einige Tatsachen. Bis zum Ersten Weltkrieg galten feste Wechselkurse als Merkmal der internationalen wirtschaftlichen Integration. Hiervon gab es allerdings bemerkenswerte Ausnahmen: Die Kipper- und Wipperzeit (1618-1623), in der - wie insgesamt im System des metallischen Sortengeldes {Meyer/Schüller 1976, S. 12 ff.) - die verschlechterten Münzen mit einem schwankenden Disagio gehandelt wurden. Die Zeit der Assignatenwährung in der französischen Revolution (1790-1796) nach Aufgabe des Zwangskurses. Die Aussetzung der Goldeinlösungspflicht der Bank von England nach Verfall des Pfundkurses (1797-1821), ebenfalls durch übermäßige Staatsausgaben verursacht. Ähnliches geschah im 19. Jahrhundert in ÖsterreichUngarn. Verfall des Wechselkurses der Reichsmark im Gefolge der Inflation von 1914 bzw. der Hyperinflation nach 1919. Stabilisierung der Währung Ende 1923 mit Hilfe flexibler Wechselkurse, die als Brücke von der Rentenmark zur Reichsmark dienten, um dieser wieder zur Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Die Wechselkurse im Rahmen des Gold-Devisen-Standards ab 1925 waren formal stabil, tatsächlich aber vom politischen Prestigedenken bestimmte Paritäten. Diese konnten den unterschiedlichen wirtschaftlichen Problemlagen und wirtschaftspolitischen Zielen der Teilnehmer nicht gerecht werden und vergrößerten die bestehenden internationalen Wettbewerbs- und Vertrauensdifferenzen. Im Rahmen des Bretton Woods-Systems wurde aus dem Fixkursregime ab Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre in dem Maße eine schwerfällige Stufenflexibilität, wie in den USA unter Kennedy und Johnson der Weg des „Fiskalsozialismus" (Röpke 1963, S. 100 ff.) beschritten wurde. Die festen Wechselkurse „auf Abruf {Fritz W. Meyer) erschwerten bei unterschiedlichen Geldentwertungsraten und damit verbundenen Zins- und Vertrauensdifferenzen die Kalkulierbarkeit der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ganz ungemein und nahmen den Ländern die Souveränität in Währungsfragen, die auf einen stabilen Geldwert bedacht waren. Die stabilitätswilligen Länder hatten einseitig die Anpassungslasten aus Zahlungsbilanzungleichgewichten zu tragen, entweder dadurch, dass sie die Folgekosten aus einer Zwangskreditierung zu übernehmen hatten, aufwerteten oder zur Anpassungsinflation übergingen. Trotzdem räumten noch im Dezember 1972 namhafte Währungsfachleute dem System flexibler Wechselkurse bei der Neugestaltung der internationalen Währungsordnung eine ebenso geringe Chance ein wie einer Rückkehr zu einer Art Goldwährung (siehe Schüller 1975, S. 247 ff.). Vier Monate später erwies sich der Übergang zu beweglichen Kursen als unausweichlich.

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3. In der Praxis des Bretton Woods-Systems wurden, wie auch vorher schon, feste Wechselkurse als eine selbständige (wirtschafts-)politische Angelegenheit behandelt, nicht aber, wie es meines Erachtens angemessener gewesen wäre, als ein Mittel zur Erreichung von übergeordneten Zwecken der Wirtschaftspolitik (wie Geldwertstabilität, Freiheit des Güter- und Kapitalverkehrs). Feste Wechselkurse waren unter den vielfach gegebenen Bedingungen nicht mit den genannten oder anderen Zielen der Wirtschaftspolitik (etwa dem Integrationsziel im Verständnis einer internationalen „Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft" - Wilhelm Röpke) zu vereinbaren. Diese Erfahrung wurde auch mit dem Fixkursregime des Europäischen Währungssystems (EWS) nach 1979 gemacht. Es war als Test für die Europäische Währungsunion gedacht, musste jedoch 1993 aufgegeben werden. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen erwies sich nach zahlreichen Realignments, starken Gefahrdungen der Geldwertstabilität, der Freiheit des internationalen Güter- und Kapitalverkehrs und der Währungskonvertibilität wieder einmal als unausweichlich (zum Scheitern des EWS siehe Smeets 1993, S. 109 ff.). Und im Bereich der Transformationsländer zeigte sich nach 1989, dass bewegliche Wechselkurse deutliche Vorteile beim Übergang zur Währungskonvertibilität und für eine marktwirtschaftliche Integration in die Weltwirtschaft aufweisen. Freilich hat sich dabei auch gezeigt, dass die meisten Regierungen versuchten, mit fixierten Kursen zu experimentieren. Man dachte eben unter dem nachdrücklichen Beratungseinfluss des Internationalen Währungsfonds (IWF), der primär an der institutionellen und funktionellen Absicherung seiner Existenz und Expansionsmöglichkeiten interessiert ist, - von den unbestreitbaren Vorzügen fester Wechselkurse her, ignorierte aber die dazu erforderlichen Bedingungen und Spielregeln. Dazu neigen bis heute auch politisch einflussreiche Teile der Wirtschaft, die eine (vermeintlich) sichere Kalkulationsgrundlage mehr schätzen als eine realistische Knappheitsanzeige. Wechselkursverschlechterungen gelten als Indikator für wirtschaftspolitisches Versagen, bedrohen inkompetente Regierungen, die deshalb aus eigenem Überlebensinteresse vielfach feste Wechselkurse, Wechselkurskartelle und gemeinsame Wechselkurse unter dem Schutz internationaler Instanzen bevorzugen. Die Vermutung ist nicht unbegründet, dass vor allem interventionistisch eingestellte Staaten und internationale Institutionen stabilen Wechselkursen den Vorzug geben, um im internationalen Währungswettbewerb eine bessere Position hinsichtlich der bestehenden Inflations-, Zins- und Vertrauensdifferenzen vorspiegeln zu können. Auch im Eurosystem herrscht in einem inzwischen kaum zu überbietenden Ausmaß die Auffassung vor, der gemeinsame Wechselkurs dürfe nicht Gegenstand der freien Marktbeurteilung sein. In Wirklichkeit geht es darum, den Bürgern die Wahrheit über die Kosten der Sicherung des Euro und der staatlichen Stützung des gemeinsamen Wechselkurses vorzuenthalten. Folgerung 1: Die genannten Beispiele stehen im Widerspruch zur These eins und legen einen umgekehrten Kausalzusammenhang nahe: Am Anfang stand und steht eine undisziplinierte Finanz- und Währungspolitik, begünstigt durch allzu langes Festhalten an unrealistischen festen Wechselkursen, gestützt auf Auslandskredite, Beschränkungen des Kapital- und Handelsverkehrs sowie andere Hilfsmaßnahmen. Diese ermöglichen es, marktwidrige Wechselkurse zeitweilig zu stabilisieren und damit eine unsolide Finanz* und Währungspolitik fortzusetzen. Immer wieder konnte im Bretton Woods-

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System das Schlüsselproblem des Zahlungsbilanzausgleichs, die binnenwirtschaftliche Anpassung durch eine konsequente Antiinflations- und Ordnungspolitik, hinausgeschoben werden - mit weltweit negativen Allokations- und Verteilungswirkungen. Am Ende haben flexible Wechselkurse den Ausweg aus immer stärker aufkommenden Bestrebungen zum monetären Nationalismus, zu Kapitalverkehrskontrollen und zum handelspolitischen Protektionismus gewiesen. Die Öffnung des Währungswettbewerbs mit der Wechselkursfreigabe seit 1973 hat dazu beigetragen, dass eine ungewöhnliche Fülle von nationalen und weltweiten ordnungspolitischen Fehlentwicklungen aus dem Weg geräumt werden konnten, die in der vorangegangenen Zeit fixer Kurse entstanden sind. Folgerung 2: Flexible Wechselkurse haben, bei aller Unvollkommenheit, auch auf längere Sicht im Vergleich zu fixierten Paritäten sicher weniger Nachteile und überdies eine Reihe zusätzlicher Vorteile, solange die fiskal- und geldpolitischen Ziele international nicht im Hinblick auf einen stabilen Geldwert harmonisiert sind (siehe hierzu Molsberger 1978, S. 169). Länder, die eine stabilitätsorientierte Fiskal- und Währungspolitik bevorzugen, können daran nicht gehindert werden, weil sie sich bei flexiblen Wechselkursen in hohem Maße vor einer Reihe gravierender monetärer Ansteckungsgefahren und Belastungen schützen können. Hayek, auf den sich Huerta de Soto beruft, bezeichnete 1977 (2011, S. 141 f.), zwei Jahre vor der Einführung des EWS, die Pläne für eine europäische Währungseinheit als Irrweg, ja als Ausdruck einer gefahrlichen Utopie und Quelle monetärer Übeltaten. Er ging in seinem Plädoyer für ein System frei konkurrierender Währungen davon aus, dass über bewegliche Wechselkurse, mit langfristig günstigen Perspektiven für abnehmende Schwankungen, der Weg auch zum Goldstandard führen könnte. In der Tat lassen sich die Schwankungen von Wechselkursen durch eine internationale Harmonisierung der fiskal- und geldpolitischen Ziele auf der Grundlage vertrauenswürdiger, freiheitlicher Wirtschaftsordnungen so weit begrenzen, dass daraus vergleichsweise stabile Wechselkurse hervorgehen können. Auch der Euro als Parallelwährung zu den bestehenden nationalen Währungen hätte sich im offenen Währungswettbewerb durch größere Stabilität und Attraktivität - auch hinsichtlich der Wechselkursschwankungen - hervortun und Anerkennung verschaffen können. Jedenfalls hätte damit den Inflationsgelüsten und planwirtschaftlichen Neigungen, wie sie im Euroraum zunächst verdeckt bestanden, inzwischen unverhohlen auf dem Vormarsch sind, vorgebeugt werden können. Die Ausweichmöglichkeiten, die noch das Fixkurssystem von Bretton Woods den stabilitätswilligen Ländern bot, sind im Eurosystem ausgeschlossen. Zu den verhängnisvollen Konsequenzen siehe These zwei, Punkte 1. und 2. Folgerung 3: Weder feste, noch flexible, noch gemeinsame Wechselkurse, sondern nur marktgerechte Wechselkurse können ein sinnvolles wirtschaftspolitisches Ziel sein. Die „Richtigkeit" von Wechselkursen wie die von Marktpreisen ist danach zu beurteilen, inwieweit die Voraussetzungen oder Spielregeln für die Entfaltung freier (Devisen-) Marktprozesse gegeben sind. Wechselkurse hinter staatlichen Schutzmauern stehen im Widerspruch dazu.

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These zwei: Die Anhänger flexibler Wechselkurse argumentieren ausschließlich in Begriffen makroökonomischer Aggregate. Vollständig übersehen wird die mikroökonomische Verzerrung, die dadurch entsteht. Im Falle einer Abwertung werden z. B. alle über einen Kamm geschoren. Alle Preise von Konsumgütern, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren sind plötzlich gleichmäßig rückläufig (und das Umgekehrte wäre bei einer Aufwertung zu folgern - A. S.). Das Ergebnis: „... die Struktur der relativen Preise wird vollständig verzerrt" (Huerta de Soto, S. 32 f.). Das Argument ist nicht haltbar, wenn die volkswirtschaftlichen Anpassungsprozesse bei Ungleichgewichten der Zahlungsbilanz für den Fall stabiler und beweglicher Wechselkurse vergleichend betrachtet werden. Hierbei ist darauf zu achten, dass von vergleichbaren Bedingungen ausgegangen wird. (Grundlegend hierzu Meyer 1951, S. 345364; derselbe 1961, S. 580 ff.). 1. Der Fall stabiler Wechselkurse: Der Geldmengen-Einkommen- bzw. GeldmengenPreis-Mechanismus ist hierbei das Verfahren des Zahlungsbilanzausgleichs. Angenommen wird, dass im Rahmen eines Fixkurssystems oder des Goldstandards als gemeinsame Währungsordnung das Gesetz der Erhaltung der Kaufkraft wirksam ist. Dieses erfordert von einem Land, das aufgrund eines entstehenden Inflations-, Zinsund Vertrauensgefalles gegenüber dem Ausland Währungsreserven (Devisen oder Gold) verliert, eine anpassende Deflationspolitik, von dem Land mit zufließenden Währungsreserven eine entsprechende Inflationspolitik betreibt. Das Ausmaß der Ab- und Zuflüsse und der damit verbundenen Kontraktions- und Expansionswirkungen hängt entscheidend vom „Marktpreismechanismus" ab, der auf mikroökonomischen Prozessen gründet und dem Geldmengen-Einkommen-Mechanismus gleichsam vorgelagert ist und mit diesem fortwirkt (siehe hierzu Meyer 1938, S. 36 ff.). Das drastische Mittel der Devisen- oder Goldbewegung kommt umso weniger zum Zuge, je wirkungsvoller der Marktpreismechanismus ist, d. h. je mobiler die Faktoren und je flexibler die Preise im Kreis der Fixkursländer sind. Dieses Ausgleichsverfahren wird je nach Intensität des Wettbewerbs in den verschiedenen Wirtschaftszweigen ganz unterschiedliche Preisbewegungen, Anpassungsreaktionen und Wirkungen im komplexen Faktor- und Gütermarktbereich, auf Konjunktur und Beschäftigung auslösen - Bewegungen, die auch im Raum divergieren. Dies lässt sich mit Meyer (1951) auch wie folgt erklären: Die inländische Exportwirtschaft steht mit ihrem Absatzbein gleichsam im Ausland. Wird dort, entsprechend den Spielregeln, auf den Währungszufluss mit einer expansiven Geldpolitik reagiert, wächst die Nachfrage und die davon ausgehende Wirkung auf Konjunktur und Beschäftigung ganz unterschiedlich. Und auf der Kostenseite steht die Exportwirtschaft vor der Situation, dass sie je nach Stärke des Preisdrucks auf frei werdende Produktionsmittel anziehend wirkt und diese nutzen kann, um mehr auszuführen. Folglich ist nicht zu erwarten, dass die Kontraktionspolitik im Inland und spiegelbildlich die Expansionspolitik im Ausland alle über einen Kamm schert, wobei hinzuzufügen ist, dass nicht im Gesamtbereich dieser Währungsordnung überall zugleich eine Kontraktions- und Expansionspolitik betrieben wird. Entscheidend ist also, dass die Spielregeln eingehalten werden, wie es für jedes funktionsfähige Fixkurssystem, jede Währungsunion und für die Goldwährung unabdingbar ist. In den polit-ökonomischen Schwierigkeiten, dem gerecht zu werden, liegen die Gründe für

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die genannten Beispiele aus der älteren und jüngeren Währungsgeschichte, in denen Fixkurssysteme gescheitert sind und der Übergang zu beweglichen Wechselkursen den Ausweg bot. Das wäre auch der Fall, würde ein Land die Regeln des Goldstandards verletzen und müsste deshalb aus dieser Währungsordnung ausscheiden. Liegt darin nicht eine wesentliche Voraussetzung für den Bestand und die Leistungsfähigkeit des Goldstandards? Huerta de Soto weist zu recht darauf hin, dass „es viel schwieriger ist, den Euro zu verlassen" (S. 27) als den Goldstandard. Gleichwohl sieht er in der unlösbaren Verkettung der Euroländer an den Euro einen glücklichen Umstand, ja einen wichtigen Aspekt der Überlegenheit des Euro gegenüber dem Goldstandard. Doch der damit verbundene unglückliche Umstand sollte nicht übersehen werden: Eine Mitgliedschaft auf Gedeih und Verderb stärkt die Verhandlungsposition der Länder mit unsolider Wirtschafts- und Finanzpolitik, so dass die unabänderliche Verkettung einigen Ländern besonders schwere Ketten aufladen kann. Besteht keine Aussicht, dass diese Lastenverteilung reihum geht, dürfte sich in der Fiskal- und Geldpolitik fortschreitend die Grenzmoral durchsetzen (siehe Schüller 2011, S. 497 f.): Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. 2. Der Fall beweglicher Wechselkurse: Der analoge makroökonomische Störfall bei beweglichen Wechselkursen (Abwertungstendenz im Inland, Aufwertungstendenz im Ausland) beruht ebenfalls regelmäßig auf wirtschaftspolitischen Zielinkonsistenzen, aus denen Inflations- Zins- und Vertrauensdifferenzen entstehen. Mit diesen verändern sich uno actu die Erwartungen hinsichtlich der Güter- und Faktorknappheiten und der jeweiligen Preise zwischen dem abwertenden Inland und dem aufwertenden Ausland, wobei die Preisverschiebungen auch wieder im Raum divergieren. Und je nach Einfluss dieser Preise auf die Kosten werden diese unterschiedlich steigen. Bei unveränderten Erlösen der Unternehmen und Wirtschaftszweige verschlechtern sich für diese die Konjunktur- und Beschäftigungsbedingungen. Im Export haben die Erlöse steigende Tendenz, während die Kosten unverändert bleiben oder nach unten tendieren, je weniger die Importgüter kosten, die eingesetzt werden. Diese Änderungen haben umso mehr Einfluss auf das jeweilige binnen- und außenwirtschaftliche Geschehen, je stärker Konjunktur und Beschäftigung über den Marktpreismechanismus, der im System flexibler Wechselkurse ebenfalls vorgeschaltet und fortwirkend zur Geltung kommt, in den internationalen Wettbewerbs- und Preiszusammenhang einbezogen sind. Es entstehen jedenfalls auch hierbei, wie für die Anpassungswirkungen des Marktpreismechanismus im Fall stabiler Wechselkurse kurz skizziert, mit den Veränderungen der Knappheitsrelationen ganz unterschiedliche mikroökonomische Konsequenzen für Preise, Nachfrage und Angebot, für Konjunktur und Beschäftigung. Und je wirksamer der Marktpreismechanismus ist, desto weniger müssen sich die Wechselkurse verändern. Wenn nun Huerta de Soto davon ausgeht, dass die Wirtschaftspolitik in einem Land mit frei beweglichen Wechselkursen von ihrer geld- und kreditpolitischen Autonomie Gebrauch macht, um konjunktur- und beschäftigungspolitische Nachteile zu vermeiden, dann würden die mikro- und makroökonomischen Wirkungen erneut in Erscheinung treten - mit ungünstigen Rückwirkungen auf den Ausgleichsprozess. Genau so wäre es, wenn versucht würde, unrealistische feste Wechselkurse mit staatlicher und suprastaatlicher Hilfestellung gegen die Marktkräfte zu stabilisieren, wie

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das auch jetzt mit der Praxis massiver staatlicher Beihilfen für den Euro geschieht. Mit den Rettungsschirmen und mit dem permanenten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wird der Realitätsgehalt des gemeinsamen Wechselkurses auf Dauer systematisch verschleiert. Die Wechselkurswahrheit wird zwar versteckt, doch ändert das nichts an den verzerrenden Wirkungen auf den internationalen Preis- und Wettbewerbszusammenhang (siehe These vier, Punkt 2.). Zusammengefasst: In beiden Systemen des Zahlungsbilanzausgleichs spielt die differenzierende und angleichende Kraft des Marktpreismechanismus eine entscheidende Rolle. Sie ist ausschlaggebend dafür, dass nicht alles über einen Kamm geschoren wird. Auch ist das System beweglicher Wechselkurse ordnungspolitisch nicht minder anspruchsvoll. In beiden Fällen arbeitet der Mechanismus der Zahlungsbilanz schlecht, wenn die Funktionsbedingungen nicht eingehalten werden. Die langjährigen Erfahrungen mit flexiblen Wechselkursen seit 1973 lassen jedenfalls nicht darauf schließen, dass diese größere Schäden angerichtet haben als es Fixkurssysteme getan hätten. Den verbreiteten Glauben an die Vorteile des Systems stabiler Wechselkurse führt Meyer (1951, S. 351 f.) zum Teil darauf zurück, „dass man unzulässigerweise gewisse Erfahrungen aus den Devaluationsprozessen der 30er Jahre generalisiert hat".1 Vor allem aber habe „man das Urteil über den Ablauf und die Auswirkungen der Wechselkursänderungen aus einer oberflächlichen Analyse dieses Prozesses gewonnen ...". These drei: Die Einführung des Euro sollte bei allen Verteidigern der freien Marktwirtschaft und der Begrenzung der Staatsgewalt „Freude auslösen", (S. 27), weil er einen letztlich unausweichlichen ordnungspolitischen Reformdruck erzeugt (S. 26 f., S. 40 f.), das Bewusstsein für die Schwere der wahren Probleme Europas unauslöschlich stärkt. Diese entstehen aus Präferenzen für eine wohlfahrtsstaatliche Wirtschaftspolitik. Jedes Land muss für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Fehler selbst einstehen. In dieser Ordnungsmacht des Euro liegt sein eigentlicher Vorteil, nicht in den verringerten Transaktionskosten und in der Beseitigung des Wechselkursrisikos. Die vom Euro ausgehende disziplinierende Wirkung auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik kommt damit dem idealen Geldsystem, dem Goldstandard, am nächsten. „Die Einführung des Euro 1999 und seine effektive Vollendung ab 2002 bedeutete das Ende des monetären Nationalismus und der flexiblen Wechselkurse im größten Teil Kontinentaleuropas" (S. 25). Der „geschmähte Euro" (S. 34) ist kein Teil der Probleme der Euroländer. Versagt haben nur die europäischen Institutionen (S. 35). Und Schuld an allem ist der „ ungesunde angelsächsische Einfluss " auf die Wirtschaftstheorie (S. 36). Das ist eine sympathische Liste mit schlagenden Argumenten für eine wünschenswerte Europäische Währungsunion. Doch setzt eine solche Währungseinheit für den Fall makroökonomischer Störungen voraus, dass die Regierungen unter Verzicht auf eine vergleichsweise bequeme fiskal- und geldpolitische Finanzierung bereit sind, primär auf die Selbststeuerungs- und Anpassungskraft des Marktpreissystems und damit auf dessen liberalisierende Ordnungsmacht zu setzen. Doch wie steht es mit den Bedingungen für das Wünschenswerte tatsächlich? 1

Auch Keynes (1943, S. 20) wollte in seinem Plan fiir eine Internationale Zahlungsunion (International Clearing Union) mit der Wechselkursfixierung konkurrierenden Abwertungen vorbeugen. Währungsabwertungen aus Wettbewerbsgründen zu verhindern, war auch eines der Ziele des Bretton WoodsSystems.

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1. Ich beginne mit einem Beispiel, aus dem eine disziplinierende Wirkung fester Wechselkurse im Sinne der These drei gefolgert werden kann (siehe hierzu Meyer 1958, S. 153 ff.). Deutschlands ordnungspolitischer Weg zur wirtschaftlichen Gesundung wurde nach 1948 durch eine aufgezwungene Überbewertung der DM erschwert. Und als es 1949 im Rahmen des Bretton Woods-Systems zu einem allgemeinen Realignment der Wechselkurse kam, wurde der Bundesrepublik ein völlig unzureichender Abwertungssatz von ca. 20 % zugestanden. Konkurrierende westliche Länder wie Großbritannien und Frankreich konnten dagegen im Interesse der Exportförderung mit weit höheren Sätzen abwerten. Um trotz dieser massiven Behinderung die Exportkraft steigern und damit Anschluss an die existenzwichtige Integration in die Weltwirtschaft gewinnen zu können, setzte sich die deutsche Regierung - im Widerspruch zu den Empfehlungen der in- und ausländischen Vertreter der „Keynesianischen Botschaft" - für eine relativ bessere Erhaltung des Geldwertes und für die Stärkung des Marktpreismechanismus ein, als es in den wichtigen Konkurrenzländern für nötig erachtet wurde. Auf diese Weise ist es gelungen, den Nachteil der politisch aufgezwungenen Überbewertung der DM, die den Import begünstigte und den Export hemmte, durch innere Anpassung auszugleichen und dem Export auf eine solide beschäftigungswirksame Weise den Weg zu ebnen. Im Gefolge des selbstauferlegten Reformzwangs entstand bereits 1952 ein beachtlicher Leistungsbilanzüberschuss. Durch Mobilisierung und Stärkung der inneren Ordnungskräfte konnte sogar aus dem äußeren Hindernis eines (nicht marktgerechten) festen Wechselkurses ein Vorteil gemacht werden. Es ist offensichtlich möglich, selbst in ein zunächst nicht marktgerechtes Wechselkursregime hineinzuwachsen, wenn mit der inneren Ordnungspolitik die Weichen für eine entsprechende Anpassung gestellt werden und streng nach dem Grundsatz verfahren wird, Anpassung geht vor Finanzierung (was seinerzeit noch für die Auflagenpolitik der IWF-Kredite galt). Schon Ende der fünfziger Jahre hatte sich dann die deutsche Leistungsbilanz so weitgehend aktiviert, dass aus Gründen der Geldwertsicherung eine Aufwertung dringend geboten gewesen wäre. Doch sah sich die Bundesrepublik unter dem Fixkursregime des IWF einem politischen Wohlverhaltenszwang ausgesetzt und bei Verzicht auf die fällige Aufwertung im Zeichen des sog. Dollarüberhangs um die Chance gebracht, den Inflationsimport abzuwehren, überzogene Hilfsbegehren von Defizitländern und maßlose Tarifansprüche der Gewerkschaften zurückzuweisen sowie anderen Gefahren der Fehlallokation in der Welt zu begegnen. Diese sind unter anderem dadurch entstanden, dass der IWF - vor allem unter dem Druck der USA die bisherige Anpassungspriorität mehr und mehr durch den Grundsatz ersetzte: „Finanzierung vor Anpassung". Ein frühzeitiger Übergang zu flexiblen Wechselkursen hätte Deutschland und allen Mitgliedsländern des Fonds große wirtschaftliche Schäden und der westlichen Welt eine tiefgehende Erschütterung der fiskalischen und monetären Grundlagen ersparen können. Der Niedergang des Bretton WoodsSystems lehrt, dass das Hineinwachsen der Eurostaaten in das gemeinsame Wechselkursregime möglich, aber unwahrscheinlich ist, wenn der Gedanke des selbstauferlegten Reformzwangs nicht hoch im Kurs steht, es vielmehr bei der fiskalsozialistischen Grundeinstellung bleibt, vor deren ansteckender Wirkung sich einzelne Länder nicht hinreichend schützen können, wenn sie aus Gründen einer romantischen euro-

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päischen Gemeinschaftssolidarität selbst bei fortgesetzter Verletzung der Regeln des Eurosystems nicht austreten wollen. 2. Der Euro stärkt mit den auf Dauer angelegten Sicherungseinrichtungen und anpassungsdirigistischen Vorkehrungen das politisch-bürokratische Europamodell und die antimarktwirtschaftlichen Kräfte, „die in ihrem Herzen Jakobinische Zentralisten sind, ohne vom Geiste des Föderalismus einen Hauch verspürt zu haben" (Röpke 1945/1979, S. 84). Aus der Eurozone droht ein weltwirtschaftlicher Krankheitsherd mit starker Ansteckungskraft zu werden. Ein Betriebsunfall? Sehen maßgebliche Vertreter der Institutionen, denen Huerta de Soto Versagen vorwirft, den Euro mit dem Vorrang der Finanzierung vor der Anpassung nicht auf dem richtigen Weg? War von dieser Seite die Europäische Währungsunion ernsthaft als Bollwerk gegen die Wiederbelebung der weltweiten ideologischen Basis des Inflationismus gedacht? Das müsste das Eurosystem sein, wenn es dem zustreben soll, was den Goldstandard unter anderem auszeichnet. Wie stark die Erwartung verunsichert ist, dass das Eurosystem die Stabilität des Geldwertes sichern kann, lässt sich indirekt am rasch wachsenden Angebot von inflationsgeschützten Anleihen erkennen. In der Zeit der Goldwährung war der Gebrauch von Geldwertsicherungsklauseln erlaubt, aber weithin unüblich, weil unnötig. Wirklichkeit und Idealziel des Euro gehen inzwischen weit auseinander. Nur vorübergehend? 3. Die Freunde der Marktwirtschaft in Deutschland2 haben dem Versprechen einer stabilen Einheitswährang als geheimer liberalisierender Ordnungsmacht kein langes Leben zugetraut. Die Euroskeptiker von damals, alles andere als Leute, die bewusst oder unbewusst dazu neigen, „die monetären und fiskalischen Fundamente der liberalen Wirtschaft zu sprengen" (S. 42), erkannten und erkennen: Für die unverzichtbare Einhaltung der Regeln und Funktionsbedingungen einer Währungsunion (siehe Hayek 1939/1976, S. 324 ff.) waren und sind die ordnungs- und finanzpolitischen Traditionen, Überzeugungen, politischen Ideale und Ziele der Mitgliedsländer zu verschieden, so sehr immer wieder versucht wird, die Gegensätze zu verharmlosen oder zu vertuschen. Es mangelt bis heute an der Einmütigkeit, sich für eine monetäre Vertrauensgemeinschaft verantwortlich zu fühlen und verlässliche Grundsätze und Regeln der Staatsverschuldung und des Schuldenabbaus, der Unabhängigkeit der EZB und der Geldwertstabilität zu schützen. Nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland gab und gibt es einflussreiche politische Kräfte, die entschlossen darauf hingearbeitet haben, die „Macht der D-Mark" (in der Sache war damit der Härteund Ansehensvorsprung der DM in Europa und in der Welt gemeint), das sie tragende liberale Programm der „Freiburger Schule" zu beseitigen und die EZB dem Primat der Sozial- und Fiskalpolitik zu unterwerfen, um aus dem Euro politisches Geld und aus dem Währungsrechner einen schutzbedürftigen politischen Wechselkurs zu machen. Hierfür wurden schon auf dem Dubliner Gipfeltreffen von 1996 die Weichen gestellt. Der von der deutschen Regierung in der Sache ziemlich isoliert vertretene „Europäische Stabilitätspakt", der die Währungsunion im Sinne des Anspruchs „Anpassung vor Finanzierung" vor einer unsoliden Fiskalpolitik mit empfindlichen

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Vgl. etwa den Artikel „Der Euro kommt zu früh" und ist mit zu schweren Hypotheken belastet, FAZ, Nr. 33 vom 9. 2. 1998, S. 15.

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Strafen schützen sollte, wurde als wunderliche Neigung abgetan und durch einen zahnlosen „Stabilitäts- und Wachstumspakt" ersetzt, inzwischen durch einen „Wachstums- und Beschäftigungspakt", der mit dem heute vorrangigen schwammigen Wachstums- und Beschäftigungsziel nach Bedarf für bequeme Finanzierungszwecke aufgeweicht werden kann. Entscheidend sind letztlich nicht die „Fehler der EZB und der Interventionismus aus Brüssel", sondern das Versagen der maßgebenden Ratsmitglieder. 4. Huerta De Soto macht sich die verheißungsvolle und sympathische Vorhersage zu eigen, der Euro werde über die bekannten Vorteile des Währungsunion hinaus die Herrschaft des sog. „Neuen Leviathan" brechen, also die weit fortgeschrittene Aushöhlung der Marktwirtschaft durch wohlfahrtsstaatliches Handeln beenden. Tatsächlich scheint der Euro auf dem Speiseplan des „neuen Leviathan" weiter vorzurücken. Warum? Die Währungsunion war von Anfang an schuldnerfreundlich und auf künstliche Ungleichgewichte hin angelegt, sonst wären allenfalls drei Staaten für eine Mitgliedschaft in Frage gekommen. Der Euro hat vor allem in den Südländern mit Hilfe „deutscher" Zinssätze den Vormarsch und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Programme auf Pump begünstigt. Der Euro ist „Teil der Probleme der Euroländer", weil für die Kosten der unbezahlbar gewordenen Wohlfahrtsstaaten die Mitgliedsländer mit vergleichsweise größerer Haushaltsdisziplin haften müssen. Und um diese Belastung, die sich auf wenige (noch) kapitalkräftig erscheinende Länder konzentriert, nicht uferlos werden zu lassen, wird die EZB sich rechtswidrig immer stärker zu einer weichen Geldpolitik gedrängt sehen und drängen lassen, langfristig auch getrieben vom zu erwartenden Aufgabenverständnis und den Eigeninteressen der ESM-Bürokratie. Kann das Jahr 2002 als Beginn der „effektiven Vollendung" des Euro verstanden werden? In diesem Jahr haben Deutschland, Frankreich und Italien auf Brüssel massiven Druck ausgeübt, um vor dem Pranger der Vertragsverletzung und vor empfindlichen Bußgeldern bewahrt zu werden. Schließlich wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Jahre 2005 auch von der deutschen Regierung beliebigen (tages-)politischen Interessen untergeordnet: So müssten bei der Frage, ob ein Haushaltsdefizit „übermäßig" sei, neue Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Konjunkturlage, nationale Inflationsrate und Lohnentwicklung, staatliche Investitionen für Forschung, Bildung, Strukturreformen, hohe Nettozahlungen in den EU-Haushalt, länderspezifische „Sonderlasten". Die dahinter stehenden politischen Kräfte sind keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht, waren vielmehr im Vorfeld des Europrojekts in der politischen Verantwortung oder auf dem Sprung in diese - mit einer klaren Präferenz für den Vorrang der bequemen Finanzierung vor der unbequemen Anpassung. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, dem vorhersehbar Schuldnerinteressen geopfert wurden, konnte von der Wirtschaft und den Banken der Nordländer als kostenlose Staatsbürgschaft für den Export von Kapital und Gütern im Euroraum empfunden werden - angesichts der als Weg ohne Umkehr aufgefassten Währungsunion eine

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durchaus rationale Erwartung in die Wirksamkeit der „Schirmtheorie". 3 Das Prinzip der unwiderruflichen Mitgliedschaft in der Währungsunion, in dem Huerta de Soto eine Überlegenheit des Euro gegenüber dem Goldstandard sieht (S. 28), hat die potentiellen Importländer - ohne den automatisch auf eine Saldenbegrenzung hinwirkenden Wettbewerbsschutz durch den Geldmengen-Einkommen- bzw. den Wechselkursmechanismus - zu einer fortdauernden Nettoverschuldung verleitet. Dadurch konnte die innere Bereitschaft verkümmern, den für die Anpassung in einer Währungsunion entscheidenden Marktpreismechanismus vorsorglich und nachhaltig zu stärken und zur Geltung zu bringen. Der Vorrang der bequemen Finanzierung vor der unbequemen Anpassung wurde ohne Rücksicht auf den anwachsenden Schuldendienst und auf den verwundbarsten Punkt der Schuldentilgung herbeigeführt. Dieser besteht bekanntlich in der Entscheidung, den schuldnerischen Verpflichtungen zu entsprechen. Erst mit diesem Entschluss, also nicht automatisch, kommt die Aktivierung der Leistungsbilanz in Gang. Diese ist Folge, nicht Voraussetzung des Kapitaldienstes. Die unwiderrufliche Mitgliedschaft in der Währungsunion in Verbindung mit der permanenten und nach politischem Bedarf erweiterten Schirmfunktion des ESM begünstigt nun aber Neigungen, den verwundbarsten Punkt der Schuldentilgung zu ignorieren. Auch die Gläubiger sehen sich nicht gezwungen, hinreichend zu bedenken, wie es um die Verwendungsqualität der Mittel, die Schuldienstbereitschaft und die Schuldendienstfahigkeit der Kreditnehmer bestellt ist, ob ggfs. ausgleichsnotwendige Ausfuhrgüter der Schuldnerstaaten verfugbar sind, die im Euroraum und in Drittstaaten in ausreichendem Maße ohne Hilfe des Wechselkursmechanismus Absatz finden können. Diese sog. Transferbegabung eines Schuldnerlandes ist kein Datum, sondern ein Problem der Ordnungspolitik 4 , für die der Staat zuständig ist und damit entscheidenden Einfluss auf den verwundbarsten Punkt der Schuldentilgung hat, diesen aber ignorieren kann, wenn die Mitgliedschaft in der Eurozone unter allen Umständen garantiert ist. Und die Gläubiger, die die defizitäre Leistungsbilanz ermöglicht haben, können sich der unverzichtbaren Haftung in dem Maße entziehen, wie kollektive Haftungsmechanismen in der Eurozone mit Hilfe der EZB und des ESM vordringen. Da es sich um Dauereinrichtungen der Währungsunion handelt, ist es fraglich, ob und wie weitgehend jedes Land für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Fehler selbst einstehen muss. Wie schon seit Ende der 50er Jahre politisch einflussreiche Wirtschaftsverbände eine rechtzeitige DM-Aufwertung zu verhindern wussten, wird von dieser Seite auch jetzt wieder die marktfremde Sicherung des gemeinsamen Eurokurses als unverzichtbares Mittel gefordert, um den Export zu fordern, also eine verdeckte Form von Valutadumping zu praktizieren. Grundsätzlich kann eine Politik fester oder gemeinsamer

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Mit „Schirmtheorie" wurde in den 70er Jahren die (verfehlte) Erwartung westlicher Kreditgeber ausgedrückt, dass die UdSSR zur Sicherung ihrer erstklassigen Bonität und aus Gründen der Gemeinschaftssolidarität für die Verbindlichkeiten der kleineren RGW-Staaten notfalls bürgen würde. Selbst die Rechte an sog. reinen Binnengütern wie an Immobilien, an Unternehmen und an zahlreichen potentiellen Exportgütern können bei hinreichender Verbilligung an Ausländer verkauft und zur Aktivierung der Leistungsbilanz beitragen.

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Wechselkurse mit Bedacht nur gefordert werden, wenn Konsens besteht, dass die damit verbundenen Unannehmlichkeiten und internationalen Koordinationszwänge als zumutbar und einlösbar angesehen werden. Zu der Frage, ob dieser Konsens nachträglich nach dem Motto „Aus Schaden wird man klug" auch für ein solides Schuldienstmanagement erreicht werden kann, siehe These fünf. 5. Die Währungsunion hat zwar dem „monetären Nationalismus und beweglichen Wechselkursen" in der Eurozone förmlich das Ende bereitet, dafür aber umso mehr Neigungen zu einem fiskalischen Nationalismus, zu verdeckten Wechselkursdiskriminierungen und -begünstigungen, und zum europäischen Inflationismus zum Durchbruch verholfen. Die EZB ist dabei, ihre Geldpolitik nach den fiskalpolitischen „Bedürfnissen" einzelner Länder auszurichten und dem Wunsch nach privilegierten Zinskonditionen, also einer länderspezifischen Form des „billigen Geldes" entgegenzukommen. Es gibt somit Euroländer, die in der gemeinsamen Währung verschuldet sind, die sie inzwischen mit Hilfe der EZB auf der Grundlage der Monetarisierung dubioser Aktiva quasi selbst herstellen können. Die verschiedenen Staaten der Währungsunion haben also keineswegs ihre geldpolitische Autonomie „vollständig" aufgegeben (S. 25). Der monetäre Nationalismus besteht indirekt fort - mit der Gefahr, zur allgemeinen Nachahmung freigegeben zu werden. Die geistig-politische Grundlage dieser Praxis, die sich die Idee der Währungsunion zunutze macht, wurzelt in der angelsächsischen Wirtschaftstheorie, die im Anschluss an die Lehre von Lord Keynes in einer aktivistischen makroökonomischen Nachfragesteuerung den kürzesten, ja den einzigen Weg sieht, um dem wirtschaftlichen Wachstum und der Beschäftigung Beine zu machen. Diese Variante des modernen Wohlfahrtsstaates wird von Huerta de Soto zu recht scharf kritisiert. Doch in Verbindung mit der vordringenden Herrschaft der Grenzmoral in der Eurozone wird in den sozial- und fiskalpolitischen sowie monetären Aspekten des modernen Wohlfahrtsstaates ein unverzichtbarer Faktor für eine staatsinterventionistische Krisenbewältigung und Stabilisierung gesehen. Mit dem Eurosystem ist dem „Neuen Leviathan" mehr Kraftfutter gereicht statt Diätkost verordnet worden. Dieser Befund steht im Widerspruch zur folgenden These. These vier: Mit dem Euro ist ein neuer monetärer Rahmen geschaffen worden, der in Spanien, Irland, Portugal, Italien und selbst in Ländern wie Griechenland eine hoffnungsvolle wohlfahrtsstaatliche Wende eingeleitet hat. Man kann sich nur schwer vorstellen, „ dass irgendeine dieser Maßnahmen in einem Umfeld von nationalen Währungen und flexiblen Wechselkursen unternommen worden wäre". Ohne den Euro hätte man „ eine Flucht nach vorne mit mehr Inflation, einer Abwertung der Währung und [...] die notwendigen Strukturreformen auf unbestimmte Zeit verschoben" (S. 27). Die politischen Führer können die Geldpolitik nicht mehr manipulieren, „ um der Bevölkerung die wahren Kosten ihrer Politik zu verschleiern " (S. 27). Anmerkungen: Die Frage, ob die genannten und andere überschuldete Eurostaaten sich schon im Magnetfeld der liberalisierenden Ordnungsmacht des Euro befinden oder sich diesem angenähert haben, wird widersprüchlich beantwortet. Tatsache ist, dass die vergleichsweise hohe Kapitalabwanderung aus diesen Ländern anhält. Die einleitende Feststellung

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in These vier erfordert eine sorgfaltigere Prüfung, als es hier möglich ist. Ich beschränke mich auf Anmerkungen zu den anderen Aspekten der These vier: 1. Die südlichen Euroländer - und nicht nur diese - hätten ohne Währungsunion bzw. ohne Garantie der ewigen Mitgliedschaft nicht so stark und lange die äußere Finanzierung durch die schuldnerfreundliche Eurozone der inneren Anpassung vorziehen können. Die zu beklagende Situation wäre erst gar nicht mit den heute vorwaltenden ansteckenden Anspruchshaltungen und maßlosen Umverteilungserwartungen entstanden. Und die nördlichen Euroländer hätten sich nicht darauf beschränken können, „die Fundamente ihrer voluminösen Staatsausgaben und ihrer überdehnten Wohlfahrtstaaten" nur zu „überdenken" (S. 27, Hervorhebung A. S.). Gerade von den Regierungen dieser Länder ist aber unter Berufung auf die vermeintlichen politischen Zwänge des Euro bis auf weiteres eher zu erwarten, dass sie neben der Kollektivierung der bisherigen und künftiger Staatsschulden systematisch auf eine Europäisierung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen hinarbeiten und hierfür höhere Inflationsraten in Kauf nehmen. 2. Ohne Währungsunion hätten die betreffenden Länder im offenen internationalen Zins-, Geldwert- und Wechselkurswettbewerb unübersehbare Frühwarnungen auch im mikroökonomischen Bereich ausgesendet und erkennen lassen, dass sich eine nachteilige Inflations-, Zins-, Wechselkurs- und Vertrauensdifferenz anbahnt, die stabilisierende Anpassungen im Bereich der nationalen Geld-, Fiskal- und Ordnungspolitik erfordert, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Die durch die Währungsunion enthemmten Schuldner und Gläubiger hätten sich im eigenen Interesse sorgfaltiger um die Verwendungsqualität der Kredite und die Schuldendienstfahigkeit der Kreditnehmer kümmern müssen. Die Kreditbedingungen wären im Verschuldungsprozess erschwert, nicht erleichtert worden. Die Gläubiger wären im Falle einer Staatsinsolvenz daran interessiert, sich in den Dienst einer erfolgreichen wirtschaftlichen Sanierungspolitik zu stellen und für Entlastung der Schuldnerländer zu sorgen (siehe Schüller 2011, S. 497 f.). Aus dem Versagen der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik wäre keine rechtswidrige Politik der europäischen Kollektivhaftung entstanden, die zur Verantwortungslosigkeit verleitet. Wäre es ohne Euro, wie Huerta de Soto annimmt, zu einer „Flucht nach vorne", vor allem zu einer bewusst liederlichen Geldpolitik mit mehr Inflation und zu einem vorsätzlichen Abwertungswettlauf gekommen? Eine derartige Versuchung kann nicht abgetan und ein für allemal als erledigt betrachtet werden. Doch gegen die Annahme spricht folgendes: Der wirtschaftliche Wohlstand der Eurostaaten ist bei ihrer begrenzten Autarkiebegabung in hohem Maße von einer weitgehenden Verflechtung in die internationale Arbeitsteilung abhängig, erst recht bei dem zwischenzeitlich erreichten hohen Grad der Internationalisierung der Produktion, des Absatzes und der Finanzierung. Würde auf nationaler Ebene die Geldwertstabilität vernachlässigt, verschlechterte sich der Wechselkurs, was prompt öffentlich angezeigt und kritisch beurteilt würde. Allein das wirkt meist abschreckend (Schüller 1975, S. 276 f.). Auch die lange Erfahrung mit flexiblen Wechselkursen (siehe These eins) spricht nicht dafür, dass die Neigung zum Abwertungswettlauf groß ist. Und die Gefahr des Inflationsimports kann im System flexibler Wechselkurse zwar nicht vollständig, aber weitgehend gebannt werden. Die von den fuhrenden Inflationsländern ausgehende

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Inflationsgefahr kann sich bei konkurrierenden Währungen nicht ausbreiten, jedenfalls bei weitem nicht in dem Ausmaß wie im Eurosystem. Hier steht der gemeinsame Wechselkurs auf monströsen finanziellen Staatskrücken. Als politischer Preis unterliegt er nur eingeschränkt der kritischen Marktbeurteilung. Das gilt auch für die euroweite Inflationsmessung.5 Die daraus entstehenden binnen- und außenwirtschaftlichen Verfälschungen der Arbeitsteilung, die von unrealistischen festen Wechselkursen bei unterschiedlichen Inflations- und Zinsdifferenzen her bekannt sind, stehen meines Erachtens im Widerspruch zum Argument von der immanenten Ordnungskraft des Euro für die Mitgliedsländer: Denn die marktwidrige staatliche Stabilisierung des gemeinsamen Wechselkurses privilegiert die aufwertungsreifen und diskriminiert die abwertungsreifen Länder. Die bestehenden Unterschiede in der Produktivität, in der Wettbewerbskraft und Schuldendienstfahigkeit der Mitgliedsländer werden dadurch eher größer als kleiner, wenn die betreffenden Länder nicht von der im Anschluss an die These drei, Punkt 1. geschilderten Möglichkeit des selbstauferlegten Reformdrucks beharrlichen Gebrauch machen. Eine verkehrte Welt der Eurozone - Finanzierung als Bringschuld, Anpassung als Holschuld der Gemeinschaft - dürfte nicht forderlich sein, um einen solchen politisch unbequemen Reform- und Anpassungsdruck zu erzeugen. Bei all dem wird das Ausmaß verschleiert, in dem die Sparer und Steuerzahler der Überschussländer für die Kollektivhaftung künftig in Anspruch genommen werden müssen. Und mit der wachsenden Bereitschaft zur gemeinsamen Schuldenhaftung mit starkem bürokratischen Drang nach Ausdehnung, wie er dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (wegen der unlösbaren Verkettung der Mitgliedsländer mehr noch als dem großen Bruder IWF) innewohnt, verliert das Argument, dass jedes Land für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Fehler selbst aufkommen muss, an Überzeugungskraft. Auf dem Weg zur Herrschaft der Grenzmoral, die im Wettbewerb um die schlechteste Finanzpolitik und unter dem zwangähnlichen Druck zur Nachahmung der ordnungspolitischen Unvernunft anderer entsteht, bestimmen die Länder mit der geringsten Schulden- und Geldwertmoral die Anpassungsrichtung aller Länder. These fünf. Die bestehende Geld- und Bankenordnung ist eine Quelle finanzieller Instabilität und wirtschaftlicher Störungen. Für einen grundlegenden Neuentwurf des globalen Geld- und Finanzsystems bedarf es der Rückkehr zum klassischen Goldstandard, als „einzigen weltweiten Geldstandard, der eine durch die staatlichen Kräfte nicht manipulierbare monetäre Basis bietet und fähig ist, den Inflationsgelüsten der 5

Vor der Euroeinfiihrung konnte die Inflation mit Hilfe national unterschiedlicher Warenkörbe gemessen werden. Es wurde versucht, den eigenartigen nationalen Kaufgewohnheiten Rechnung zu tragen. Die EU-Kommission hat mit dem Euro die verschiedenen Warenkörbe zugunsten eines (irrealen) durchschnittlichen europäischen Verbraucherverhaltens vereinheitlicht. Die ausgewiesene eurozonenweite Inflationsrate mag nach dem europäischen Messkonzept niedrig erscheinen. Das bedeutet aber, dass die Inflationsraten nach den nationalen Messmethoden erheblich voneinander abweichen können. Auch wenn man aus Sicht der Österreichischen Schule der Meinung sein kann, dass in nationalökonomischen Überlegungen für einen Begriff wie den des Preisniveaus kein Platz sei, so dürfte dies erst recht für das gemeinsame europäische Messverfahren gelten. Doch davon unabhängig: Die europaweite Inflationsmessung ist geeignet, dazu beizutragen, die länderspezifischen Kosten der europäischen Geldpolitik zu verschleiern.

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verschiedenen sozialen Akteure ein Korsett anzulegen und sie zu disziplinieren " (S. 22). Der Euro ist offensichtlich keineswegs der ideale Geldstandard. Doch verdient er es, gleichsam als ein Entwurfsmuster („Proxy") des Goldstandards zu überleben - bis die Zeit reif ist, für die Ablösung durch den Goldstandard (S. 41 f.). Anmerkungen: Vom Euro zum Goldstandard? 1. Als Anhänger der internationalen Goldwährung wird man Huerta de Sotos Vorstellung von einer idealen Geldordnung nur allzu gerne zustimmen (Schüller 2012). Doch ist der Euro ein „richtiger" Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel? Für Huerta de Sotos Annahme könnte generell sprechen, dass der bisherige Missbrauch einer Idee den richtigen Gebrauch nicht ein für allemal zunichte machen muss. Könnte die Gefahrdung des Euro nicht als lehrreicher Umweg zu seiner Gesundung in Kauf genommen werden? Kann eine Politik, die sich an den tragenden Säulen einer Währungsunion orientiert, aus dem fragilen Gebäude nicht das machen, was Huerta de Soto aus Österreichischer Sicht und die „Freiburger" mit dem Primat der Währungspolitik im Sinn haben? Können heterogene Länder nicht straffer als bisher zusammengespannt, kann das übereinstimmende liberale Ordnungsdenken nicht „von oben" herbeifinanziert und herbeidirigiert werden? Kann aus einem von außen auferlegten Reformzwang nicht ein selbstauferlegter Reformzwang werden? Gelänge es, vom falschen auf das richtige Gleis zu kommen, dann wäre die damit entstehende Währungsunion eine höchst anspruchsvolle und wünschenswerte internationale Währungsordnung. Und eigentlich könnte sich insoweit damit der Übergang zum Goldstandard erübrigen. Doch die Verfassung einer Währungsunion ist nur so gut, wie der Wille stark ist, die Normen und Wertmaßstäbe der Regeln einzuhalten. Für die angedeutete Weichenstellung müsste es ordnungspolitisch überzeugende Vorkämpfer geben. 2. Die erkennbaren Konturen der künftigen europäischen Währungsunion deuten nicht auf einen solchen Gleiswechsel hin. Die Vordenker für eine wünschenswerte Eurozone bzw. Goldwährung, soweit es solche im politischen Raum überhaupt gibt, stoßen eher auf bewusstes Missverstehen, ja auf schroffe Ablehnung. Wer so denkt, gilt als Anti-Europäer. Demzufolge scheinen die Maßnahmen zur Rettung des Euro primär (noch) nicht von den Anforderungen bestimmt zu sein, den Marktpreismechanismus gleichsam aus überzeugtem und selbstauferlegtem Reformzwang zum Zentrum der inneren Politik für eine energische finanzielle und monetäre Disziplin zu machen. Damit könnten zugleich die inzwischen erlahmten Bemühungen neuen Auftrieb erhalten, den Binnenmarkt zu sichern, von massiven Wettbewerbsbeschränkungen zu befreien - z. B. im Dienstleistungsbereich und im Handel mit Drittländern. Tatsächlich herrscht die Neigung vor, im Euro einen letzten Zweck, nicht ein Mittel der Integration zu sehen. Darauf deutet die Bereitschaft zu einer zunehmend technokratischen Instrumentierung der Politik im Dienste einer Eurosicherung um jeden Preis hin, auch um den Preis einer zentralisierten interventionistischen Makro- und Mikrosteuerung des europäischen Integrationsprozesses (Schüller 2012). Gemeinschaftssolidarität dürfte in dieser Währungsunion schließlich nur noch als Bereitschaft aller Mitgliedstaaten zu deuten sein, eine europäische Hausordnung hinzunehmen, die im Banne eines fatalen Einheitsverständnisses vorzuschreiben und zu überwachen versucht, wie unter dem gemeinsamen Eurodach zu wohnen ist. Werden

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Alfred Schüller

sich die, die ihre Wohnung pfleglich behandeln, nicht in der Rolle derjenigen wiederfinden, die für jene aufzukommen haben, die - gemessen an den Regelerfordernissen einer Währungsunion - ihre Wohnung sorglos nutzen? Dann würde sich die Wohnkultur generell verschlechtern - mit abnehmender internationaler Wettbewerbskraft und Wohlstandsperspektive. 3. Mit dem fortschreitenden Eurodirigismus wird sich das heute bestehende asymmetrische Verhältnis von Anpassung und Finanzierung in dem Maße verfestigen, wie durch politisch-bürokratische Lenkungs- und Überwachungsverfahren die geistigmoralischen Kräfte eines wirklichen Reformföderalismus erlahmen. Umso weniger lassen sich die Lebensverhältnisse der überschuldeten, produktivitäts- und wettbewerbschwachen Mitgliedsländer aus selbstauferlegter Gestaltungskraft verbessern. Umso lauter wird unter Berufung auf eine vermeintlich „strukturelle" Passivität der Leistungsbilanz der Ruf ertönen, den Ausgleich mit Hilfe permanenter Zuweisungen aus Brüssel herzustellen - letztlich mit dem Ziel, einheitliche Lebensverhältnisse in der Eurozone herzustellen. Bei einem europäischen Steueraufkommens- und Länderfinanzausgleich werden sich die Geber- und Nehmerländer unausweichlich ungerecht behandelt fühlen - auf europäischer Ebene ungleich mehr als etwa in Deutschland vor und nach 1989. Hier war und ist die Bereitschaft, Lasten im gemeinsamen Wirtschaftsraum zu verteilen, letztendlich vom Zusammengehörigkeitsgefühl „Wir sind ein Volk" bestimmt. Im Euroraum kann davon wohl kaum ernsthaft ausgegangen werden. Die konzeptionellen Schwächen einer eurodirigistischen Umverteilungspolitik werden aus einem solchen Europamodell ein Durcheinander von diskretionären Regelauslegungen und nicht ernsthaft geahndeten Rechtsbrüchen machen. Aus einem zu Tode gehetzten Verständnis von Gemeinschaftssolidarität kann keine wünschenswerte rechtliche, wirtschaftliche und politische Ordnung in Europa entstehen. Freilich ist nicht auszuschließen, dass Menschen sich in einer schlecht funktionierenden Währungsunion einrichten, vielleicht sogar heimisch fühlen und blind für schleichende Entmündigungen werden können, dass Menschen sich einreden lassen, die mit den Eurosicherungen verbundenen persönlichen Nachteile als zumutbares Opfer, ja als unausweichlich für den Europagedanken hinzunehmen. So sehr dies auch der Fall sein mag, es dürfte umso lohnenswerter sein, sich um die Einsichtsfahigkeit der Menschen zu bemühen, ihre Urteilskraft im Hinblick auf die unnötige Zunahme ungünstiger wirtschaftlicher und sozialer Ereignisse zu stärken und aus ihnen Bundesgenossen für einen Gleiswechsel und eine bessere Währungsordnung zu machen. 4. Das erweist sich umso mehr als notwendig und aussichtsreich, als eine aus der Transfer- und Fiskalunion hervorgehende Inflationsunion im internationalen Wettbewerb mit Kosten und Begleiterscheinungen der Desintegration verbunden ist, die zu der Erkenntnis führen, dass die Politik des billigen Geldes aufgegeben werden muss - allein wegen steigender Zinsbelastungen der öffentlichen und privaten Haushalte. Und je länger die Inflation gedauert hat, desto mehr haben sich entsprechende Erwartungen in Verträgen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen aller Art verfestigt. Bleibt im Gefolge einer letztlich unausweichlichen Härtung der Geldpolitik bei schrumpfenden Erlösen die Kostenseite weniger nachgiebig, kommt es zu den typischen Folgeerscheinungen einer Stabilisierungskrise - Aufdeckung der Fehlallokati-

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onen, rückläufige Investitionstätigkeit, Firmenzusammenbrüche, Beschäftigungsrückgang usw. Mit dem offensichtlichen Scheitern der Versuche, die wahren Kosten der Politik der Eurosicherung zu vertuschen, zeigen sich eine immer größer werdende Zahl von nicht kompensierbaren Freiheits- und Wohlstandseinbußen, ein fortschreitender innerer Zerfall der Gemeinschaft mit dem Aufkommen von längst überholt geglaubten Ressentiments. Damit könnte sich auch das politische Denken in der Eurozone grundlegend wandeln und der Gedanke aufkommen: Wir müssen bewusst einen anderen Weg einschlagen. Hat Huerta de Soto nicht doch recht, wenn er im Euro einen Schrittmacher für den Goldstandard sieht? 5. Damit wird eine mögliche Stoßrichtung der Gedanken Huerta de Sotos erkennbar, die aus Österreichischer Sicht konsequent erscheint und als Prinzip des Aussitzens bezeichnet werden könnte: Danach wäre es am einfachsten, nichts zu tun und abzuwarten, bis das waghalsige Experiment der Währungsunion sich mehr und mehr als Produzent von Integrationsillusionen in einer Art von Selbstüberlistung ad absurdum führt und aufgegeben werden muss. Können wir davon ausgehen, dass die desillusionierten Menschen dann bereit sind, bisherige Fehldeutungen und unberechtigte Vorhaltungen, die mit dem Goldstandard in Verbindung gebracht werden, aufzugeben und die in dieser internationalen Geldordnung liegenden Vorteile anzuerkennen? Carl Menger drückte den Gedanken der Desillusionierung und spontanen Gegensteuerung so aus: Es gibt in der Wissenschaft nur ein „sicheres Mittel für den endlichen Sieg einer Idee: dass man jede gegnerische Richtung sich vollständig ausleben lasse" (von Mises 1978, S. 22). Mises hat den zitierten Satz von Carl Menger wie folgt abgewandelt: „Das Wahre wird sich schon durch seinen eigenen Gehalt durchsetzen, wenn die Menschen die Fähigkeit haben, es zu erfassen..." (ebenda). Ob auf dem Weg, der über die Politik der Eurosicherung in eine nichtliberale europäische Ordnung fuhrt, die Menschen für eine förmliche Rückkehr zur Goldwährung, für die Einsicht in die dazu erforderliche Regeltreue und die Erkenntnis gewonnen werden können, dass es zum liberalen privatwirtschaftlich verfassten Typ der internationalen Ordnung im allgemeinen und der europäischen Integration im besonderen keine konkurrenzfähige Alternative gibt, sei dahingestellt. Immerhin könnten sich Länder zusammenfinden (warum nicht auch ehemalige Euroländer, die von der Idee der Währungsunion maßlos enttäuscht sind?), um in einem zunächst kleinen Kreis von Gleichgesinnten die Goldwährung einzuführen. Eine solche Pionierleistung könnte auf weitere Länder ansteckend wirken. Es ist in der Eurozone, wie gezeigt, mit einer rasch ansteigenden Fülle von volkswirtschaftlichen Schädigungen zu rechnen, die sich nicht oder zu einem unverantwortlich hohen Preis, nämlich des Scheiterns des Binnenmarktgedankens, kompensieren lassen, wenn es bei dem eingeschlagenen Weg bleibt. Der erforderliche Mentalitätswandel in der Politik und in der Bevölkerung könnte sich unter dem Druck eines verschärften internationalen Währungs- und Ordnungswettbewerbs (z. B. ausgehend von Schwellenländern, Nicht-Euroländern, den USA) verstärken und beschleunigen. 6. Im Übrigen kann der Goldstandard ein grundsätzliches Bewusstsein dafür vermitteln, wie eine an Regeln gebundene Währungsordnung funktioniert und auch heute im Dienste einer marktwirtschaftlichen Integrationspolitik funktionieren könnte - etwa für den Fall, dass nach einem Zerfall der Eurozone in verschiedene Währungsräume

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Alfred Schüller (siehe hierzu Kerber 2010) die heutige Vielfalt der EU-Währungen erweitert würde. Im Hinblick darauf wäre schon viel gewonnen, gelänge es, den Wettbewerb dieser Währungen vor Verfälschungen zu schützen. Wirklich freie Wechselkurse können die Kontrolle über die Geldversorgung erleichtern und die Fiskal- und Währungspolitik vor einer Reihe gravierender Aufgabenanmaßungen und Missbräuchen bewahren. Daran gemessen sind die heutigen Rettungsmaßnahmen für den Euro und der als Dauereinrichtung installierte ESM supranational organisierte und finanzierte Verfälschungen des Währungswettbewerbs, der europäischen und weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Mit dem Übergang der Euroländer (einzeln oder in Gruppen) zu einem System flexibler Wechselkurse wäre - in Verbindung mit Reformen der inneren und äußeren Währungspolitik - der Weg zu einer marktgerechten Stabilisierung der Wechselkurse und über diese zum Goldstandard nicht verbaut.

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

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Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung? Anmerkungen zur Rolle der EZB auf den Kapitalmärkten Inhalt I. Das Problem: Währungsunion und Wettbewerbsordnung II. Die Phänomenologie der eurobedingten Wettbewerbsverfalschungen III. Die Perpetuierung der eurobedingten Wettbewerbsverfalschungen durch die EZB IV. Die Art. 123 - 125 AEUV als System unverfälschten monetären Wettbewerbs: Normen ohne Sanktionen V. Die Folge: Der Kollaps des Eurosystems auf Raten

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The Distortion of Competition organised by Central Banks. Comments on the role of ECB on capital markets

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I. Das Problem: Währungsunion und Wettbewerbsordnung Als die Europäische Union noch weit davon entfernt war, ein Binnenmarkt zu sein, nannte sie sich EWG. Eines stand jedoch damals fest: Die eventuelle Vergemeinschaftung der Währung1 sollte kein Selbstzweck sein, sondern der Vollendung des Binnenmarktes dienen. Diesem zweckhaften Ansatz folgte die Begründung der Europäischen Kommission für die Forderung nach einer Währungsunion in der Zeit der Präsidentschaft Delors. Delors insistierte, es gäbe keine Vollendung des Binnenmarktes ohne Währungsunion. Diesem Postulat klatschten die Großbanken, insbes. die Researchabteilung der Deutschen Bank Beifall,2 während aus dem Vereinigten Königreich Kritik an diesem französischen Konzept der Schaffung einer Einheitswährung per Verwaltungsakt kam. Die Bank of England plädierte - aus welchen Gründen auch immer - für einen evolutionären Ansatz der Währungskonvergenz durch Ausbau des ECU als Hartwährung.3

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Zur Geschichte des Werner-Plans vgl. Tietmeyer (2005, S. 39 f.). Deutsche Bank Research (1996). Das Schatzamt Ihrer Majestät (1989).

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Mestmäcker hat auf die zentrale Bedeutung des Binnenmarkts fur die europäische Integration hingewiesen und als sein Kennzeichen das System unverfälschten Wettbewerbs, so wie es in Art. 3 g EWGV später in Art. 3 Abs. 1 g EG-Vertrag dargelegt worden war, genannt.4 Diese Definition ist ausweislich der Vorschrift des Art. 26 AEUV weiterhin geltendes Recht. Dort heißt es: „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist."

Die einzelnen Zuständigkeiten der Europäischen Union, so wie sie in Art. 2-6 AEUV genannt sind und auf deren Ausübung die Politiken der Europäischen Union gem. Art. 26 AEUV fußen, dienen der Verwirklichung bzw. der Gewährleistung des Funktionierens des europäischen Binnenmarktes. Dazu gehört insbesondere auch die Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs. Der Binnenmarktbezug eröffnet fur sich genommen Handlungsbefugnisse der EU. Dazu gehört zuvorderst die Rechtsangleichung gem. Art. 114 AEUV.5 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil6 implizit Zweifel daran geäußert, dass eine Währungsunion zwischen souveränen Staaten möglich sei, ohne zuvor eine politische Union zu schaffen. Es hat auf das historische Beispiel des Deutschen Reichs verwiesen, nach dessen Gründung 1871 noch eine Fülle von Währungen der einzelnen Länder lange Zeit kohabitierten, bevor sich eine Einheitswährung herausbildete.7 Trotz des Hinweises auf die Krönungstheorie, also der These, dass die Vereinheitlichung der Währung die politische Einigung kröne und nicht umgekehrt, respektierte es den politischen Willen der Bundesregierung und der von ihr getragenen Mehrheit im Deutschen Bundestag, das Experiment einer Währungsunion souveräner Staaten zu wagen und stellte seine verfassungsrechtlichen Zweifel zurück. Dies darf indessen nicht zu der Folgerung verleiten, dass der Euro - also die Einheitswährung und sein Erhalt - zur eigentlichen raison d'être der Europäischen Union geworden sei. Die Währungsunion ist also in rechtlicher Hinsicht kein Zweck an sich.8 Insoweit verkennt der Diskurs einzelner Politiker, wenn der Euro scheitere, würde auch Europa scheitern9, den rechtlichen Rang der EWU. Gemäß Art. 3 Abs. 4 EUV „errichtet die EU eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist. " Dieses Postulat ist eindeutig als ein politisches Ziel beschrieben worden, welches nur nach Maßgabe der normativen Orientierung der EU, also wie sie im AEUV im Einzelnen niedergelegt ist, politisch-administrativ implementiert werden darf.10 Für die Ausgestaltung der Europäischen Währungsunion sowie des Beitritts von EU-Mitgliedsländern enthält der AEUV präzise Bedingungen und Richtlinien (vgl. Art. 140 Abs. 1 u. 2 AEUV für den Beitritt; Art. 120-133 ff. AEUV für die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungspolitik). Diesen Bestimmungen geht die zentrale normative Orientierungsvorschrift des Art. 119 AEUV voraus. Sie nennt die unab4 5

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Mestmäcker/Schweitzer (2004, § 2, Rn. 1-6). Vgl. hierzu vertiefend Hatje (2009) zu Art. 14 EGV, Rn. 8 ff.; Remien (2010) zu § 14 Rn. 7 ff. sowie Frenz (2011, Rn. 3344 ff.); Steiner/Woods (2009, S. 345 f.). BVerfGE89, 155. Vgl. BVerfGE 89, 155 (206); dazu vertiefend: Herrmann (2010, S. 150 ff.). So auch Ohr, Braucht der Markt den Euro, FAZ v. 28.10.2011, S. 12. Merkel (2010). So auch Louis (2009, S. 39 ff.).

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dingbaren inhaltlichen Maßstäbe der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik unter Hinweis auf Preisstabilität und offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 Abs. 2 AEUV). Sie knüpft damit sogar an die wortlautidentische Bestimmung der Vorgängernorm im EGV, den Art. 4 EGV, an. Wie diese relativiert sie die Erreichbarkeit der Europäischen Währungsunion durch den Hinweis auf die Voraussetzungen hierfür." Sie enthält keine neuen Kompetenzen und Befugnisse und wiederholt in Absatz 2 die Parallelität der Integration von Wirtschaftspolitik einerseits und Währungspolitik andererseits.12 Dies entspricht den ökonomischen Prämissen einer Integration-, Wirtschafts- und Währungspolitik. Die „richtungsweisenden" Grundsätze des Art. 119 Abs. 2 AEUV durch die Festlegung der EU-Wirtschafts- und Währungspolitik auf stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz erinnern also an nichts anderes als die ökonomische Ratio und Vorbedingung jedweder dauerhaften Wirtschafts- und Währungsintegration. Wird sie nicht länger beachtet und bricht die EU aus dem Normenkorsett der Art. 123 - 133 AEUV aus, werden die Ziele des Art. 119 AEUV gefährdet und es entfällt die Tauglichkeit der Währungsunion als Instrument zur Erreichung derselben. Über die seit 2009 anhaltende Krise der Eurozone wird gestritten, ob sie eine „Krise des Euros" 13 oder nicht nur eine Schuldenkrise der einzelnen Mitglieder der Eurozone 14 sowie der Nichterfüllung ihrer normativen Pflichten gem. Art. 126 AEUV darstelle. Dazu gehört die Feststellung, dass prima facie die Annahme der Europäischen Kommission, durch die Schaffung des Euro würde der Binnenmarkt verwirklicht und sich darüber hinaus quasi automatisch zwischen den Mitgliedern der Eurozone auch in kompetitiver Hinsicht große Homogenität einstellen, als widerlegt anzusehen ist.15 Von der französischen Regierung wird dieses Phänomen wachsender Heterogenität als eine unmittelbare Folge des Mangels an „politischer Koordination" des Wettbewerbs der Wirtschaftspolitiken angesehen. Deutschland mit den anderen Leistungsbilanzüberschussländern sei der eigentliche Verursacher der Heterogenität in der Eurozone und damit der fortlaufenden Ungleichgewichte. Der These, „Deutschland lebe auf Kosten der Südländer", ist Berthold Busch entgegengetreten. 16 Indessen hat Bundeskanzler a. D. Schmidt auf einem SPD-Parteitag die deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse als Problem für die EWU qualifiziert. Gleichzeitig hat er die bisherige Politik der EZB gelobt. Sie sei die einzige europäische Institution, die funktioniere. Damit hat er der französischen Politik eine Steilvorlage gegeben. Paris will seit langem der EZB ausdrückliche fiskalpolitische Kompetenzen geben. Mit der Ernennung von Benoit Cceure zum Mitglied des Direktoriums, das für die Marktoperationen zuständig ist, ist die Pariser Regierung diesem Ziel

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Vgl. hierzu vertiefend Hatje (2009) zu Art. 4 EGV Rn. 14 f. ' 2 Bandilla (2011), Art. 119 AEUV, Rn. 17, 31 ff. 13 Vgl. u. a.: Merkel (2010). 14 Mersch (2011): „Wir befinden uns nicht in einer Euro-Krise." Vielmehr handele es sich um eine Schuldenkrise von einigen Euro-Staaten. 15 So fuhrt z. B. an der empirischen Feststellung kein Weg vorbei, dass ,,[d]ie portugiesischen Lohnstückkosten [...] seit 1999, dem Jahr der Euroeinführung, um 26 Prozentpunkte stärker gestiegen [sind] als die deutschen und um 11 Prozentpunkte mehr als der EU-weite Durchschnitt [...]. Portugal [...] somit gegenüber Deutschland substantiell an Wettbewerbsfähigkeit verloren [hat]." S.12; unter http://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/CEP-Default-Index/Portugal_2011 .pdf. 16 Busch/Matthes/Grömling (2011, S. 537-542).

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faktisch ein gutes Stück näher gekommen.17 Kurz nach Ernennung von Cceure führte die EZB am 8.12.2011 ihr erstes Refinanzierungsgeschäft über drei Jahre zu Geldmarktkonditionen durch. Ende Dezember hatten sich die Banken - darunter viele Banken Südeuropas18 - mit Liquidität von EUR 489 Mrd. vollgesogen.

II. Die Phänomenologie der eurobedingten Wettbewerbsverfälschungen Die Wirkungen des Euro in den heutigen Problemländern sind hinlänglich bekannt: Hier setzte - besonders in Spanien - aufgrund dieser realwirtschaftlich unverdienten Vorteile der Niedrigzinsfinanzierung (erstmalig fixe Zinsen für Kredite über 30 Jahre) ein historischer Bauboom ein sowie ein ungebremster Konsum des Staates. Für Italien hatten Spethmann/Steiger bereits daraufhingewiesen, dass dieses klassische Weichwährungsland 1992 auf 12,2 % seines Bruttoinlandsproduktes an Zinszahlungen für seine Staatsschulden aufwenden musste, die damals 116,1 % des BIP erreichten (im Vergleich zu 2,5 % des BIP im Falle von Deutschland, das damals nur einen Schuldenstand von 41,8 % des BIP hatte). Bereits im Jahre 2002 musste der italienische Staat nur noch weniger als die Hälfte des früheren Wertes - 5,8 % des BIP - an Zinsen aufwenden, obwohl sich sein Bruttoschuldenstand gemessen am BIP nur geringfügig auf 106,3 % verringert hatte.19 Summa summarum lässt sich feststellen, dass die Währungsunion in den Problemländern die Marktdisziplin gegenüber einer verfehlten Fiskalpolitik suspendierte und realwirtschaftlich, insbesondere in der Immobilienwirtschaft, eine Blase von Investments erzeugte,20 für die mittelfristig am Markt kein Bedarf bestand. Keines dieser Länder nutzte in Zeiten des Wachstums die hieraus sprudelnden Steuereinnahmen, um seine Ausgabenstruktur auf eine Zeit ohne bzw. schwaches Wachstum einzustellen. Hauptmeier/Sanchez-Fuentes/Schuknecht haben den quantifizierten Beweis dafür erbracht, dass die Südländer einschließlich Frankreichs die Zinsvorteile des Euro nicht genutzt haben, um ihre öffentlichen Finanzen zu konsolidieren, sondern im Gegenteil, um eine zum Teil prozyklische, expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Dies widerlegt eindrucksvoll die These der Europäischen Kommission, dass die Handlungsspielräume, die unverdient für Weichwährungsländer durch Eintritt in die Währungsunion geschaffen wurden, fiskalisch zur Konsolidierung genutzt werden. Mehr noch: Hätten die vorgenannten Länder eine Konsolidierung ähnlich wie Deutschland betrieben, befanden sie sich heute nicht in einer nahezu ausweglosen fiskalpolitischen Situation.21

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Vgl. Kerber (2012). Von EUR 489 Mrd. wurden allein von italienischen Banken EUR 112 Mrd. abgerufen. Vgl. des Näheren: Spethmann/Steiger (2004, S. 363-371). Stellungnahme der Deutschen Bundesbank, Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1099/10, S. 5. Vgl. Hauptmeier/Sanchez-Fuentes/Schuknecht (2011, 597-617).

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Dieses Phänomen der Wettbewerbsverfälschungen der Eurozone wurde bereits vor dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise wissenschaftlich wahrgenommen.22 Neben der Suspendierung der Marktdisziplin sowie der Anreizbildung für Blasen in der Immobilienwirtschaft tritt das Phänomen der künstlichen Stärkung der Massenkaufkraft: Obschon das Bruttosozialprodukt von Griechenland und Spanien verteilt auf die Einwohner sehr viel niedriger liegt als in Deutschland23, haben sich die Pro-Kopf-Einkommen dieser Länder an die der Bundesrepublik Deutschland zunehmend angeglichen. In Irland, das im Herbst 2010 finanziellen Beistand von Europäischer Union, der European Financial Stability Facility (EFSF) und dem IWF erhielt, lag das Pro-Kopf-BruttoInlandsprodukt bis 2009 sogar höher als in Deutschland.24 Nach alledem hat die Vergemeinschaftung der Währungen der Mitglieder der Eurozone den Europäischen Binnenmarkt nicht vollendet, sondern - sowohl auf den Kapitalmärkten als auch in der Realwirtschaft - zu derartigen Wettbewerbsverfalschungen geführt, dass nunmehr im Wege von Bail-outs die Folgeverwerfungen aufgefangen werden sollen. Die Europäische Währungsunion - soweit sie die Art. 126 und 125 AEUV weiterhin flagrant verletzt - gefährdet also die Verwirklichung und Gewährleistung des Binnenmarkts, weil sie den Wettbewerb strukturell verfälscht.

III. Die Perpetuierung der eurobedingten Wettbewerbsverfalschungen durch die EZB Die Phänomenologie der eurobedingten Wettbewerbsverfalschungen wäre allerdings unvollständig, wenn nicht, seitdem die Grenzen der Interventionsfahigkeit des EFSF erkannt worden sind, die wachsende Rolle der EZB als ein Schrittmacher von Wettbewerbsverfälschungen näher untersucht würde. Nachdem die Hellenische Republik von den Mitgliedern der Eurozone einen Kredit in Gestalt eines Finanzbeistands erhalten hatte, beschloss die EZB mit Datum vom 6.5.2010 temporäre Maßnahmen hinsichtlich der Notenbankfahigkeit der von der griechischen Regierung begebenen und garantierten marktfähigen Schuldtitel.25 In dem Beschluss heißt es: „Auf dem Finanzmarkt herrschen gegenwärtig außergewöhnliche Umstände vor, die aus der Finanzlage der griechischen Regierung entstanden sind; es finden Diskussionen für einen von den Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebiets und dem internationalen Währungsfonds unterstützten Konsolidierungsplan statt, und es besteht eine Störung der normalen Markbewertung der von der griechischen Regierung begebenen Wertpapiere mit negativen Auswirkungen auf die Stabilität des Finanzsystems."

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Hishow (2006): Angesichts dieser empirisch nicht zu leugnenden Probleme der Schaffung eines integralen Währungsraums von anfanglich 11 und mittlerweile 17 Staaten mag es entsetzlich anmuten, dass Daniel Gros allen Ernstes eine Währung vom Atlantik bis zum Ural als denkbar und wünschenswert beschrieben hat, Daniel Gros, One Euro from the Antlantic to the Ural, CESifo Forum, S. 26-31 (29). Vgl. economic-growth.eu, EU-Mitgliedstaaten (mit Schweiz und Norwegen): 20-Jahres-ÜberblickBIP pro Kopf (1986-2006, in konstanten Preisen v. 1995, in Euro); unter http://epp.eurostat.ec. europa.eu/tgm/graph.do?tab=graph&plugin= 1 &language=de&pcode=tsiebO 10&toolbox=type (22.05.2012). Vgl. The World Bank, Data, GNI per capita; unter http://data.worldbank.org/indicator/ NY.GNP.PCAP.CD. Amtsblatt der Europäischen Union vom 11.5.2010, LI 17/102.

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Nach dieser Beschreibung und Auswertung der Marktsituation für griechische Anleihen kommt die EZB zu der Auffassung, dass die Mindestanforderungen des Eurosystems für die Bonitätsschwellenwerte gemäß den Bestimmungen des Bonitätsbeurteilungsrahmens des Eurosystems für marktfähige Sicherheiten für griechische Anleihen unbefristet ausgesetzt werden. Zwar spricht der EZB-Rat nur von einer temporären Aussetzung, ermächtigt sich indes selbst, diese Suspendierung der Bonitätsschwellenwerte aufrecht zu erhalten, weil er der Ansicht ist, „dass nur die Stabilität des Finanzsystems die normale Anwendung des Handlungsrahmens für geldpolitische Operationen des Eurosystems erlaubt."20

Die Aussetzung der Bonitätsschwellenwerte des Eurosystems für die von der griechischen Regierung begebenen marktfähigen Schuldtitel und ihre Fingierung als refinanzierungsfähige Sicherheiten ungeachtet ihres externen Ratings27 hatte ggf. gravierende Wirkungen für die Bilanz der EZB bzw. des gesamten Eurosystems.28 Indessen steht bereits jetzt fest, dass die EZB in den von ihr für die Geldpolitik als entscheidend angesehenen Staatsschuldenmärkten einen Marktteilnehmer - Griechenland - hinsichtlich der Staatsschuldtitel aus dem Markt genommen hat und somit der Marktdisziplin nicht länger aussetzt.29 Irland und Portugal folgten. Bei Irland alimentierte die EZB in einem bisher unveröffentlichten Ausmaß den gesamten irischen Bankensektor durch die Refinanzierung von verbrieften Immobilienforderungen, die den eigenen Bonitätsanforderungen nicht mehr entsprachen. Der Druck auf die Regierungen der Eurozone, für Irland ein Bail-out zu organisieren, ging daher vom EZB-Präsidenten aus, der die Liquiditätssicherung irischer Banken angesichts der Wertlosigkeit der verbrieften Immobilienforderungen irischer Banken nicht länger fortsetzen wollte. Durch diese marktinadäquate Refinanzierung irischer Banken hat die EZB das historische Verdienst, den irischen Bankensektor vor der Liquidierung gerettet zu haben. Dies mag aus übergeordneten Interessen der Stabilität des Bankensystems vertretbar gewesen sein. Faktisch hat die EZB für die Gesamtheit der irischen Banken Konkursverschleppung betrieben, die Marktbereinigung verhindert und den aufgeblähten irischen Bankensektor in seiner Struktur zementiert.30 Die Wirkungen des so genannten qualitativen easings, also der Akzeptanz von marktfähigen und nicht marktfähigen Wertpapieren minderer Güte zur Bankenrefinanzierung, wird in dem Maße, wie sie von den einzelnen Ländern und ihren Banken in unterschiedlichem Ausmaß in Anspruch genommen wird, langfristig zu einer Wettbewerbsverfälschung auf den Kapitalmärkten führen. Dies gilt unabhängig davon, ob die EZB für diese Politik des qualitative easings überhaupt eine geldpolitische Ermächti-

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Beschluss der EZB vom 6.5.2010, Erwägung 5. Ihr folgte am 30.3.2011 dieselbe Entscheidung für irische Staatsanleihen. Vgl. hierzu Kerber (2011 a, S. 625 ff.). Die fingierte Bonität bestimmter griechischer Schuldtitel gilt gem. Art. 3 des Beschlusses der EZB vom 10.5.2010 nicht nur für begebene marktfähige Schuldtitel der griechischen Regierung, sondern auch für garantierte marktfähige Schuldtitel als Sicherheiten. So heißt es in Art. 3 „Der Bonitätsschwellenwert des Eurosystems gilt nicht für die von juristischen Personen an Griechenland emittierte und von der griechischen Regierung in vollem Umfang garantierte marktfähige Schuldtitel. Eine von der griechischen Regierung geleistete Garantie unterliegt weiterhin den Voraussetzungen der allgemeinen Bonitätsregelungen." Vgl. hierzu Kerber (201 la, S. 625 f.).

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Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung?

gungsgrundlage hat. Die Politik des selektiven qualitative easings gegenüber Griechenland, Irland und Portugal beleuchtet die wettbewerbliche Relevanz des Sicherheitenverzeichnisses der EZB für die Qualifizierung der Notenbankfähigkeit von Wertpapieren. Abbildung 1: Das Sicherheitenverzeichnis Das Sicherheitenverzeichnis Das Eurosystem hatte bislang einen einheitlichen Rahmen für notenbankfähige Sicherheiten. Dieser wird einheitliches Sicherheitenverzeichnis (single list) genannt. In diesem werden die Zulassungskriterien für die Notenbankfähigkeit von Sicherheiten (z.B. der Bonitätsschwellenwert) sowie die Verfahren zur Bonitätsprüfimg und Risikokontrolle festgelegt. Aufgrund des unterschiedlichen Rechtscharakters und der damit verbundenen unterschiedlichen operativen Effizienz wird zwischen marktfähigen und nicht marktfähigen Sicherheiten unterschieden. Notenbankfähige marktfähige Sicherheiten werden in einem elektronischen Verzeichnis veröffentlicht. Die nicht marktfähigen Sicherheiten werden hingegen nicht veröffentlicht. Die single list wurde zum 1.1.2007 eingeführt und gilt seitdem eurosystemweit. Davor gab es ein Zwei-Kategorien-Verzeichnis: Kategorie 1 galt eurosystemweit. Sicherheiten der Kategorie 2 hingegen waren nicht grenzüberschreitend nutzbar und wurden von den einzelnen nationalen Zentralbanken länderspezifisch bestimmt. Dies geschah zu Beginn des Eurosystems, damit die Banken mit im Verhältnis ähnlich hohen Besicherungskosten an den Zentralbankgeschäften teilnehmen konnten, ohne ihre Bilanzstruktur signifikant ändern zu müssen. Denn im länderübergreifenden Vergleich wiesen sie oftmals starke heterogene Bilanzen auf. Dass einige Sicherheitenklassen nur in bestimmten Ländern zugelassen waren, wurde jedoch zunehmend als potenzielle Aushöhlung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Euroraum angesehen. Im Zuge der Einführung des einheitlichen Sicherheitsverzeichnisses wurden auf Euro lautende Schuldtitel von Emittenten aus den USA, Japan, Kanada und der Schweiz, Kreditforderungen sowie RMBDs* hinzugenommen, Aktien hingegen gestrichen. Um das Risiko finanzieller Verluste zu verringern, werden Abschläge auf den Wert der Sicherheiten (haircuts) genommen. Zu diesem Zweck gibt ein aus sieben Klassen bestehendes System, in dem je nach Restlaufzeit und Liquiditätskategorie prozentuale Sicherheitsabschläge festgelegt sind. Um den Ausweitungen des Sicherheitenrahmens seit 2008 Rechnung zu tragen, wurde dieses System zum 1.1.2011 zusätzlich nach Bonitätsklassen gestaffelt. * Retail Mortgage-Backed

Debt Instrument = Mit hypothekarischen

Darlehen an Privatkunden besicherter

Schuldtitel

Das Sicherheitenverzeichnis, aus dem die Banken entnehmen können, welche Wertpapiere sie im Rahmen der Refinanzierungsgeschäfte bei den Nationalen Zentralbanken einreichen können, ist für den Bankenwettbewerb maßgeblich. Ist es - wie in den Anfangen der EZB uneinheitlich oder wird es uneinheitlich gehandhabt, sind die Refinanzierungsbedingungen für Kreditinstitute in der EWU von Land zu Land verschieden. Dem entsprechend unterschiedlich sind die Bedingungen beim Wettbewerb um Kreditkunden. Die EZB hatte zunächst für das Eurosystem das Sicherheitenverzeichnis vereinheitlicht, um eine wettbewerbsverzerrende Wirkung durch unterschiedliche Sicherheitenverzeichnisse der nationalen Zentralbanken des Eurosystems zu verhindern. Mit der bislang unbegrenzten Sonderbehandlung von Griechenland, Irland und Portugal hat sie die Banken dieser Länder bevorzugt behandelt und einen bislang unbefristeten Ausnahmebereich geschaffen. Einen ähnlichen, bisher nicht in vollem Umfang ermessenen Effekt wird die Politik des quantitative easings haben. In dem Maße wie die EZB - sei es bei der Emission des spanischen Staates im Sommer 2010, sei es bei der Emission der Portugiesischen Repu-

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Markus C. Kerber

blik Anfang 2011 - Teile des Emissionsvolumens in eigene Bücher nimmt,31 verfälscht sie den Wettbewerb auf den Kapitalmärkten. Ihre Weigerung, Rechenschaft über das Ausmaß der Refinanzierung sowie die begünstigten Staaten und Kreditinstitute zu geben und sich über das Volumen der Anleihenkäufe zu erklären, geht einher mit einer seit 2007/2008 insbesondere von der Banque de France, Banca di Italia und Banco de Espana anhaltenden Praxis, den Anteil von sonstigen Wertpapieren32 in ihrer Bilanz teilweise exponentiell zu erhöhen (vgl. Abb. 2). Obwohl diese Nationalen Zentralbanken wenig bis keine Rechenschaft darüber ablegen, wie sich dieses Portefeuille zusammensetzt, liegt die Vermutung nahe, dass die Nationalen Zentralbanken dieser Länder in konzertierter Aktion mit dem jeweiligen Finanzministerium einen Teil der von der Regierung emittierten und/oder garantierten Schuldverschreibungen aufgekauft haben, um so den Zins für Staatsanleihen und andere Wertpapiere künstlich niedrig zu halten. Abbildung 2: NZB autonome Ankäufe 7 . 2 Sonstige W e r t p a p i e r e [Mio. Euro]

Von links nach rechts

1 1 . 3 Sonstiges Finanzanlagevermögen [Mio. Euro]

• EZB • Malta

90.000

90.000

• Zypern

80.000

• Slowenien

80.000

70.000

• Luxemburg

70.000

60.000

• Deutschland

60.000

50.000 40.000

• Portugal • Finnland

50.000

ä» Österreich

40.000

30.000

• Slowakei

30.000

20.000

m Niede Hände m Belgien

20.000

10.000

o

abfand a Griechenland

10.000

o

»Italien m Frankreich M Spanien

Quelle: Europolisss

31 32

33

Vgl Financial Times Deutschland (2010). Diese figurieren im konsolidierten Finanzausweis des Eurosystems unter der Position 7.2 Sonstige Wertpapiere und unter 9. Sonstige Aktiva. Die Positionen 7.2 und 9. des konsolidierten Bilanzausweises des Eurosystems entsprechen in der Mustergliederung für die Bilanzen der NZBs den Positionen 7.2 Sonstige Wertpapiere und 11. Sonstige Aktiva. Entgegen dem konsolidierten Bilanzausweis des Eurosystems ist die Position 11. Sonstige Aktiva in den Bilanzen der NZBs bzw. der EZB weiter untergliedert. Sodass sich aus diesen nach der Mustergliederung die Position 11.3 Sonstiges Finanzanlagevermögen finden lässt, wenngleich insb. die Banque de France und die Banca d'Italia erheblich von dieser Mustergliederung abweichen. Vgl. EZB-Leitlinie, 11.12.08, über die Rechnungslegungsgrundsätze und das Berichtswesen im Europäischen System der Zentralbanken, (EZB/2008/21), Anhang IV, Position 11.3 Sonstige finanzielle Vermögenswerte, S.57; unter http://www.ecb.int/ecb/legal/pdf7 l_03620090205de00460058.pdf; Vgl. Banque de France, Introductory Letter to the Banque de France's Annual Report 2010, Note 11, S.110; unter http://www.banque-france.fr/fileadmin/ user_upload/banque_de_france/publications/pdf/2010-annual-report-banque-de-france2.pdf. Erstellt vom Europolis Research nach Daten der Jahresabschlüsse der NZBs des Eurosystems und der EZB von pro forma 1998 bis 2010. In beiden Abbildungen von rechts nach links für die Länder Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland, Irland, Belgien, Niederlande, Slowakei, Österreich, Finnland, Portugal, Deutschland, Luxemburg, Slowenien, Zypern, Malta sowie für die EZB.

Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung?

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Das EFSF oder seine Perpetuierung durch das ESM nach einer eventuellen Revision des Art. 136 AEUV zielen darauf ab, Ländern in Finanznot Finanzmittel zu nicht marktgerechten Konditionen zukommen zu lassen.34 Damit wird die Möglichkeit der Wettbewerbsverfälschung auf den Kapitalmärkten verstetigt und normativ-institutionell abgesichert. Schon jetzt begibt die ESFS langlaufende Anleihen, um die so aufgenommenen Gelder zum Selbstkostenpreis an die Finanznotstandsländer weiterzureichen.35 Dem Garantiegeber wird somit das marktübliche Entgelt vorenthalten und die Finanznotstandsstaaten werden vor der Marktdisziplin geschützt. Wie beurteilen sich diese von EZB/EFSF36 und demnächst ESM37 organisierten Wettbewerbsverzerrungen im AEUV?

IV. Die Art. 123 - 125 AEUV als System unverfälschten monetären Wettbewerbs: Normen ohne Sanktionen Art. 123, 125 AEUV sollen verhindern, dass die Gemeinschaftswährung und ihre Institutionen zur Verfälschung des Wettbewerbs und zur Aushebelung der Marktdisziplin beitragen. Sie gestalten die unabdingbaren normativen Zielsetzungen des Art. 119 AEUV instrumental aus. Denn diese Vorschriften sind nicht nur Normen, die ungeachtet der Reichweite ihres Adressatenkreises und Problematik ihrer Einklagbarkeit durch Bürger der EU die Fähigkeit der Zentralbank sichern sollen, eine vorrangig auf Inflationsbekämpfung ausgerichtete Geldpolitik zu betreiben.38 Otmar Issing hat das ökonomische Telos des Art. 125 AEUV - weit über das rechtliche Bail-out-Verbot hinaus dargelegt.39 „Das No-Bail-out Prinzip reicht weit über den Einsatz finanzieller Mittel hinaus. Es ist Ausdruck der Tatsache, dass es sich nicht um eine Art Staat, sondern einen Verbund oder wie auch immer genannten Zusammenschluss von nach wie vor souveränen Staaten handelt, die zunächst einmal ,lediglich' ihre geldpolitische Souveränität an eine europäische Institution abgetreten haben. Für außergewöhnliche, exogene Schocks wie Naturkatastrophen ist Hilfe der Gemeinschaft vorgesehen. Für alle ,haus-

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Die EFSF leiht das Geld, dass sie am Finanzmarkt aufnimmt, zu den Refinanzierungskosten plus Betriebskosten (funding costs plus operational costs) weiter. Vgl. EFSF, FAQs unter C8 - What is the interest rate of EFSF loans?, S.6; unter http://www.efsf.europa.eu/attachments/faq_en.pdf. Die Refinanzierungskosten der EFSF lagen bisher nur leicht über der Rendite von zehnjährigen deutschen Staatsanleihen und damit weit unter dem Marktzins für ähnliche Papiere der Finanznotstandstaaten. Vgl. Bloomberg, 5.1.2012, EFSF Boosts Yield Spread By Seven Times To Seil $4 Billion Bonds; unter http://www.bloomberg.com/news/2012-01 -05/efsf-pays-seven-times-yield-spread-ofyear-ago-to-sell-4-billion-of-bonds.html; Vgl. Zeit-Online, Dieter Wehrmut, 18.4.2012, Spanienkrise kann - und muss - gelöst werden; unter http://blog.zeit.de/herdentrieb/2012/04/18/spanienkrise-kannund-muss-gelost-werden_4628 FAZ v. 17.3.2012, S. 21, „EFSF begibt langlaufende Anleihen". Europäische Finanzstabilitäts-Fazilitität. Europäischer Stabilitätsmechanismus. Vgl. Art. 127 AEUV. Issing (2010, S. 16): „Dem Hinweis, die Erfahrungen Griechenlands mit allen negativen Folgen, auch denen mit harten Auflagen von Seiten der Kreditgeber, sprächen nicht gerade für die Relevanz dieser These, sind zwei Einwände entgegenzuhalten. Zum einen handelt es sich hier um einen Extremfall, zum anderen wirkt sich die ,Aufweichung' der Politik (Wegfall bzw. Minderung einer Budgetrestriktion) erst allmählich aus, die Folgen sind möglicherweise erst von der Nachfolgerregierung zu tragen. Polit-ökonomisch bedeutet die Aufgabe bzw. Einschränkung des No-Bail-out Prinzips eine Art Einladung, über seine Verhältnisse auf Kosten anderer zu leben. Nichts anderes steht hinter der Forderung, die Währungsunion in Richtung Transferunion auszubauen. Damit würde jedoch der Charakter der bestehenden Währungsunion grundsätzlich geändert."

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Markus C. Kerber

gemachten' Fehler haftet jedes Land selbst. Wird dieses Prinzip unterhöhlt oder gar ausgehebelt, ist nach allen theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen mit erheblichen Fehlanreizen (Moral Hazard) zu rechnen: Einzelne Staaten könnten versucht sein, im Vertrauen auf die Hilfe von außen einen kurzsichtigen finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs zu verfolgen, der die finanzielle Unterstützung dann auch wahrscheinlich werden lässt".

Durch den Ausschluss solidarischer Haftung von Staatsschulden soll also sichergestellt sein, dass jedes Mitglied der Eurozone gegenüber seinen Gläubigern für seine eigenen Schulden haftet und somit in vollem Umfang der Marktdisziplin ausgesetzt ist. Art. 124 AEUV soll die bevorzugte Finanzierung von Mitgliedern der Eurozone bzw. ihrer öffentlichen Körperschaften durch das Eurosystem gerade verhindern.40 Die Stoßrichtung dieser Vorschrift ist eine antidiskriminatorische, weil sie jene Marktteilnehmer schützen will, die von einer Nichtanwendung dieser Regel diskriminiert wären. Gleiches wird auch von Art. 123 AEUV mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung verfolgt. Sein Ziel ist es, nicht nur zu verhindern, dass Mitglieder des Eurosystems die Regierungen der Eurozone direkt finanzieren und damit der Inflation Vorschub leisten,41 sondern den Wettbewerb auf den Kapitalmärkten zwischen Staaten in vollem Umfang aufrecht zu erhalten und vor Verfälschungen durch die Zentralbanken zu schützen.42 Diese doppelte Stoßrichtung der Art. 123, 125 AEUV ist in der bisherigen Kommentierung noch verkannt worden.43 Dies gilt sowohl für den Charakter der Art. 123 - 125 AEUV als subjektive Rechte als auch für die ultimative Finalität dieser Normen in dem vom AEUV angestrebten System unverfälschten Wettbewerbs. Sie werden zusammen mit dem Verbot exzessiver Defizite gem. Art. 126 AEUV deshalb als Grundpfeiler der EWU bezeichnet, weil das Experiment einer Währungsunion als Verbund wirtschafts- und finanzpolitisch souveräner Staaten von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, wenn diese Regeln nicht minutiös eingehalten würden. Hängt die Nachhaltigkeit eines so gewagten Experiments wie das einer Währungsunion souveräner Staaten, noch dazu mit heterogenen Volkswirtschaften, entscheidend von der Regelbindung sowohl nationaler Fiskalpolitik als auch europäischer Geldpolitik ab, so sind diese Regeln streng auszulegen. Für ihre Suspendierung aufgrund von „Marktstörungen" oder anderer ungeschriebener Ausnahmetatbestände ist also kein Platz. Hinzukommt der Wettbewerbsgedanke des AEUV. Er ist bei systematischer Auslegung der Vorschriften im Gesamtgefüge des AEUV imperativ zu beachten. Mit der Substitution der nationalen Währungen - insbesondere einer geachteten Starkwährung 40

Erster Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3604/93 des Rates vom 13. 12. 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung des Verbots des bevorrechtigten Zugangs gemäß Art. 104üa des Vertrags, ABl. 1993 Nr. L 332/4: „Das in Artikel 104a des Vertrages vorgesehene Verbot des bevorrechtigten Zugangs zu den Finanzinstituten trägt wesentlich dazu bei, den öffentlichen Sektor bei seinen Finanzierungsgeschäften der Disziplin der Marktmechanismen zu unterwerfen, und hilft somit, die Haushaltsdisziplin zu stärken. Ferner werden dadurch die Mitgliedstaaten hinsichtlich des Zugangs des öffentlichen Sektors zu den Finanzinstituten gleichgestellt."; Häde (2011), Art. 124 AEUV, Rn. 1.

41

In diesem Sinne: Frenz (2010), Rn. 3644 ff.; Verordnung (EG) Nr. 3603/93, Erwägungsgründe. Kerber (201 l b , S . 39/47). Vgl. den ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3604/93 des Rates vom 13. 12. 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung des Verbots des bevorrechtigten Zugangs gemäß Art. 104a des Vertrags, ABl. 1993 Nr. L 332/4; Häde (2011), Art. 124 AEUV, Rn. 1.

42 43

Spielmacher der Wettbewerbsverfalschung?

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wie der DM - durch eine Einheitswährung wechselt nicht nur der Adressat des Einlösungsversprechens, wie das BVerfG im Euro-Urteil 1998 zutreffend festgestellt hat.44 Neben den geldpolitischen normativ-institutionell gestalteten Sicherungen im AEUV, die die Verfassungsverpflichtung des Art. 88 2 GG ausdrücklich postuliert, darf die Beseitigung des Währungswettbewerbs durch die Gemeinschaftswährung nicht dazu fuhren, dass auf den Märkten für Staatsschulden der Emittenten-Wettbewerb verfälscht, auf dem Markt der Banken der Wettbewerb zwischen Kreditinstituten verzerrt und zwischen den Nationalen Zentralbanken, die zum ESZB gehören, Risiken und Ressourcen hin- und hergeschoben werden, die im Falle des nationalen Wettbewerbs nach marktwirtschaftlichen Prinzipien alloziert worden wären. Daher sind die unterschiedlichen Verstöße für die Schaffung von Eurobonds, also Anleihen, die von allen Ländern der Eurozone über ein gemeinsames Vehikel emittiert würden, nicht nur risikoinadäquat, sondern stellen auch politisch veranlasste Verfälschungen des Wettbewerbs auf den Kapitalmärkten dar. Die Art. 123 - 126 AEUV wollen also nicht etwa nur das Fiskalverhalten der Eurozonenländer regeln, sondern angesichts des Gefahrenpotentials der von einer Zentralbank verwalteten Einheitswährung für den Wettbewerb auf den vorgenannten Märkten strengste Vorkehrungen treffen. Daher müssen die in Art. 123 - 126 AEUV enthaltenen Verbote nicht nur streng ausgelegt werden, sondern auch solche Vorgänge erfassen, die ökonomisch mit den in Art. 123 - 126 AEUV beschriebenen Tatbeständen äquivalent sind. Dies hat insbesondere für die Auslegung der Satzung ESZB/EZB zur Folge, dass deren Kompetenzzuweisung restriktiv zu handhaben ist. So ist die Anwendung „anderer Instrumente der Geldpolitigem. Art. 201 Satzung ESZB/EZB nur dann zulässig, wenn es sich - im Unterschied zur Fiskalpolitik - um ein geldpolitisches Tätigwerden der EZB handelt. Ähnlich restriktiv ist das Tätigwerden der EZB als fiscal agent gem. Art. 21 II Satzung ESZB/EZB zu beurteilen. Keineswegs darf hiermit das Verbot der monetären Finanzierung gem. Art 123 AEUV umgangen werden und zwar unabhängig davon, ob die EZB unmittelbar Staatsanleihen zeichnet oder mittelbar auf dem Sekundärmarkt erwirbt.45 Dies gilt auch für das am 8.12.2011 beschlossene Angebot zweier Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems mit einer Laufzeit von jeweils drei Jahren zum 21.12.2011 und 29.2.2012. So konnten die Banken zu Geldmarktbedingungen für drei Jahre unbegrenzte Liquidität erhalten.46

44

45

46

BVerfGE 97, 350 (371): Art. 88 Satz 2 GG bringt den Willen des Verfassunggebers zum Ausdruck, eine Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Bundesbank auf eine EZB unter der Voraussetzung zuzulassen, dass die EZB unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet. Die so verfassungsrechtlich legitimierte Fortbildung der Europäischen Union ist auf eine Entscheidung über den Eintritt in die Währungsunion unter bestimmten Teilnehmerstaaten angelegt. Unabhängig von dem genauen Hergang des Erwerbs war die fiskalische Unterstützung Portugals durch die EZB in Gestalt von Kauf bzw. Mitzeichnung der letzten vor dem Bail-out von Portugal begebenen Anleihe mit Art. 123 - 126 AEUV unvereinbar; dazu auch: Frenz (2011), 93, Rn. 3647 f. sowie die Verordnung Nr. 3603/93 VO (EG). Vgl. hierzu im Einzelnen unter 4.

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Markus C. Kerber

Die Maßnahmen müssen sich allein nach den normativen Maßstäben der Art. 123 126 AEUV richten. Deren Auslegung orientiert sich an den Auslegungsmethoden des Unionsrechts bzw. seinem überragenden Telos: Schaffung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs. Wird dieser Telos - wie seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise 2008 - sowohl von der Eurogruppe als auch der EZB, ganz zu schweigen von der Kommission der Europäischen Union ignoriert, verlieren die normativen Postulate nicht ihre Geltung. Indessen ist es denkbar, dass erst die implosive oder explosive Entwicklung der Eurozone an diese Postulate nachhaltig erinnert.

V. Die Folge: Der Kollaps des Eurosystems auf Raten Mit Datum vom 8.12.2011 hat der Rat der Europäischen Zentralbank folgende Maßnahmen zur Unterstützung der Kreditvergabe beschlossen: •

Die Durchfuhrung von zwei längerfristigen Refinanzierungsgeschäften mit einer Laufzeit von 36 Monaten verbunden mit der Option einer vorzeitigen Rückzahlung nach einem Jahr.



Die Aussetzung der am letzten Tage der Mindestreserveerfüllungsfrist durchgeführten Feinsteuerungsoperationen mit Wirkung zum 14.12.2011 sowie eine Absenkung des Mindestreservesatzes von derzeit 2 % auf 1 % mit Wirkung zum 18.1.2012.47

Dies begründete der EZB-Rat mit der Notwendigkeit, „negative Auswirkungen der anhaltenden Spannung in einigen Finanzmarktsegmenten des Eurogebiets auf den geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu vermeiden."

Die EZB führte dazu einmal mehr aus, dass diese Spannungen geeignet seien, „den geldpolitischen Transmissionsmechanismus des Eurosystems und damit seine Fähigkeit, Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten, zu beeinträchtigen."

Dieses außerordentlich zinsgünstige Angebot geht einher mit einer Absenkung der Anforderungen an die Sicherheiten zum einen durch Herabsetzung des Bonitätsschwellenwertes für bestimmte asset-backed securities (ABS) und zum anderen, indem die Nationalen Zentralbanken bald auch vorübergehend nicht notleidende Kreditforderungen (das heißt Bankkredite) als Sicherheiten akzeptieren dürfen, sofern diese bestimmte Zulassungskriterien erfüllen. 49 Ein so unwiderstehliches Angebot haben sich 523 europäische Banken beim ersten Dreijahrestender nicht entgehen lassen und insgesamt Gelder in Höhe von EUR 489,2 Mrd. bei der Europäischen Zentralbank bzw. beim Eurosystem abgerufen. 50 Bereits jetzt steht fest, dass weder die Zinskonditionen noch die Absenkung der Sicherheitsanforde-

47

49 50

Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Zentralbank vom 8.12.2011, EZB kündigt Maßnahmen zur Unterstützung der Kreditvergabe der Banken und der Geldmarktaktivitäten an; unter http://www.bundesbank.de/download/ezb/pressenotizen/2011/20111208.geldmarktaktivitaet.pdf Monatsbericht der Europäischen Zentralbank, Dezember 2011, S. 8 - 10. Vgl. hierzu Art. 3 und 4 des Beschlusses der EZB vom 14.12.2011, ABl. L 341/65 vom 22.12.2011. Vgl. EZB, Open market Operations, Longer Term Refinancing Op.-Allotment vom 22.12.2011; unter http://www.ecb.int/mopo/implement/omo/html/20110149_all.en.html

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rungen das Kreditgeschäft der Banken beflügelt haben. Ganz im Gegenteil: Noch vor Jahresende51 nutzten die Banken die Liquiditätsflut nicht etwa, um das Kreditgeschäft anzukurbeln, sondern legten es als Einlagenfazilität bei den Nationalen Zentralbanken des Eurosystems an.52 Nicht einmal der damit verbundene Zinsverlust konnte die Banken davon abhalten, diese Sicherheitsmaßnahme zu ergreifen. Risiken am Geldmarkt wollen die Banken gegenwärtig nicht eingehen. Mehr noch: Der Branche ist bekannt, dass die Institute aus den potentiellen oder aktuellen Finanznotstandsstaaten Italien, Spanien, Portugal, Irland, Belgien und Griechenland fast ausschließlich auf eine Finanzierung durch das Eurosystem angewiesen sind. Spätestens im Frühjahr 2012 hätte sich zeigen müssen, ob die von der Europäischen Zentralbank gewährte Geldschwemme überhaupt im realen Wirtschaftskreislauf angekommen ist. Dies ist nicht der Fall, weil die Banken mit der zinsgünstigen Liquidität anderweitig - z. B. durch Trading von staatlichen Anleihen - ertragreichere und risikolosere Geschäfte tätigen können. Die Absenkung der Sicherheitsanforderungen für ABS-Papiere dürfte dann final beurteilt werden können, wenn diese Papiere fällig werden. Beunruhigend ist, dass beim ersten Dreijahrestender allein italienische Banken insgesamt EUR 116 Mrd. abgerufen haben.53 Problematisch dürfte es auch sein, dass Kreditinstitute selbst emittierte Anleihen beim Eurosystem einreichen können, wenn nur die betreffende Regierung eine Garantie hierfür ausgesprochen hat.54 Abgesehen von der Tauglichkeit der Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Ankurblung der Kreditvergabe stellt sich die bohrende Frage, ob die Europäische Zentralbank nicht in konzertierter Aktion mit den Regierungen der Finanznotstandsstaaten Kollaterale akzeptiert, die nur durch die Garantie eines ggf. maroden Staatsschuldners noch handelbar sind.55 Der Beschluss der Zentralbank vom 14. Dezember 201156 über zusätzlich zeitlich befristete Maßnahme hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit von Sicherheiten57 hat diese Lücke geschlossen. In einem Punkt indes wird sogar das Tor für eine weitere Ausnahmeregelung aufgestoßen. So heißt es in Art. 4 des vorgenannten Beschlusses unter der Überschrift „Zulassung bestimmter zusätzlicher Kreditforderungen": 51

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57

Vgl. FAZ vom 28.12.2011, S. 17, „Banken parken so viel Geld bei der EZB wie noch nie"; wiwo online vom 21.12.2011, „Banken greifen sich 500 Mrd. Euro" http://www.wiwo.de/ politik/europa/ezb-programm-banken-greifen-sich-500-milliarden-euro/5983030.html (13.1.2012). SZ vom 28.12.2011, S. 17, „So viel Angst war noch nie"; SZ vom 31.12.2011, S. 30, „Parkhaus EZB"; FAS vom 22.1.2012, S. 31, „Retten die Super-Marios Europa?". FT Deutschland vom 9.1.2012, Italienische Banken hängen am Tropf der EZB, http://www.ftd.de/finanzen/maerkte/anleihen-devisen/:schuldenkrise-italienische-banken-haengen-amtropf-der-ezb/60151984.html?mode=print (13.1.2012). Europäische Zentralbank, Monatsbericht 12/2011, S. 9: A u ß e r d e m beschloss der EZB-Rat, vorübergehend Kreditforderungen als Sicherheiten zu akzeptieren, die auf nationaler Ebene als notenbankfahig eingestuft werden." Ebenda. Brunnermeier hat vor dieser kollusiven Zusammenarbeit von Banken, Staat und Europäischer Zentralbank ausdrücklich gewarnt und in diesem Zusammenhang von einem „Sarkozy-Trade" gesprochen. Vgl. hierzu FAZ vom 17.12.2011, S. 24, „Trügerische Hoffnung auf den Sarkozy-Trade"; Reuters vom 20.12.2011, „Hopes for pre-holiday crisis relief ride on 3-year loans", http://www.reuters.com/article/201 l/12/20/us-ecb-loans-idUSTRE7BJ0VE20111220 (23.1.2012). Insbesondere hinsichtlich der Eignung von Bankforderungen (Kreditforderungen) im Rahmen der Repo-Geschäfte waren in dieser Pressemitteilung eine Reihe von Einzelheiten offengelassen worden. Amtsblatt der Europäischen Union, L 341/65 vom 22.12.2011.

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Markus C. Kerber

Abs. 1

„Eine Nationale Zentralbank kann Kreditforderungen, die nicht den Zulassungskriterien des Eurosystems entsprechen, Sicherheiten für geldpolitische Operationen des Eurosystems hereinnehmen.

Abs. 2

„Die Nationalen Zentralbanken verabschieden Zulassungskriterien und Risikokontrollmaßnahme zur Hereinnahme von Kreditforderungen gemäß Absatz 1. Diese Zulassungskriterien und Risikokontrollmaßnamen unterliegen der vorherigen Zustimmung des EBZ-Rats."

Diese erneute Ausnahmeregelung hat den ehemaligen Wunsch der EZB für die Eignung von Wertpapieren zur Refinanzierung im Rahmen des Repo-Geschäfts einheitlich zu entscheiden, stark relativiert. Am 9.2.2012 hat laut EZB-Pressemitteilung der EZBRat sieben Nationalen Zentralbanken - und zwar der Central Bank of Ireland, der Banco de Espana, der Banque de France, der Banca d'Italia, der Zentralbank von Zypern, der österreichischen Nationalbank und der Banco de Portugal - spezifische nationale Zulassungskriterien und Risikokontrollmaßnahmen bezüglich der temporären Hereinnahme zusätzlicher Kreditforderungen als Sicherheiten für die Kreditgeschäfte des Eurosystems genehmigt. Diese Zentralbanken haben zwischenzeitlich alle die entsprechenden Beschlüsse zur weiteren Absenkung der Bonitätsanforderungen getroffen.58 Bereits im Monatsbericht Januar 2012 wusste die EZB die Auswirkungen des ersten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfts mit dreijähriger Laufzeit zu würdigen.59 Zunächst hatte die EZB das zu bestätigen, was bereits durch Presseveröffentlichungen bekannt geworden war: „Am 21. Dezember 2011 hatten 523 Kreditinstitute insgesamt einen Betrag in Höhe von EUR 489,2 Mrd. abgerufen. In diesem Betrag sind EUR 45,7 Mrd., die von dem im Oktober zugeteilten 12monatigen langfristigen Refinanzierungsgeschäft umgeschichtet wurden." 60

Der noch ausstehende Betrag dieses 12monatigen langfristigen Refinanzierungsgeschäfts beläuft sich allerdings auf die relativ geringe Summe von EUR 11,2 Mrd. Obwohl die bei dreimonatiger Laufzeit bereitgestellte Liquidität deutlich zurückging, erhöhte sich die Liquidität insgesamt um EUR 193,4 Mrd. Die EZB gesteht zu, dass diese Rekordbeträge zu einem automatischen Anstieg des umlaufenden Basisgeldes geführt hätten. Sie ergänzt, dass auf altbewährtem Niveau - und zwar unabhängig davon, wie die einzelnen Banken die Liquidität nutzen - sich dies entweder in den Girokontogutha58

59 60

Vgl. EZB-Pressemitteilungen vom 09.02.20112, EZB-Rat genehmigt Zulassungskriterien für zusätzliche Kreditforderungen; unter http://www.ecb.int/press/pr/date/2012/html/prl20209_2.de.html Central Bank of Ireland; unter http://www.centralbank.ie/press-area/press-releases/Pages/ EligibilityCriteriaforAdditionalCreditClaims.aspx. Banco de Espana; unter ttp://www.bde.es/webbde/en/secciones/prensa/Notas_Informativ/ anoactual/presbe2012_4e.pdf. Banque de France; unter http://www.banque-france.fr/uploads/tx_bdfgrandesdates/2012-02-9eligibility.pdf. Banca d'Italia; unter http://www.bancaditalia.it/media/comsta/2012/com_bce_09022012/ Comunicato_stampa_09022012_en.pdf. Zentralbank von Zypern; unter http://www.centralbank.gov.cy/nqcontent.cfm?a_id=l 1970&lang=en Oesterreichische Nationalbank; unter http://www.oenb.at/de/presse_pub/aussendungen/2012/2011ql/ pa_20120209_oenb ezb-rat_genehmigt_erweiterte_kriterien_fuer_nicht_marktfaehige_sicherheiten_ 245288_page.jsp#tcm: 14-245345. Banco de Portugal; unter http://www.bportugal.pt/en-US/OBancoeoEurosistema/ ComunicadoseNotasdeInformacao/Pages/combp20120209.aspx. EZB Monatsbericht Januar 2012, S. 32 f. Insgesamt haben sich 123 Banken für eine solche Umschichtung entschieden, während 58 Banken an dem 12monatigen langfristigen Refinanzierungsgeschäft festhielten.

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ben der Banken oder im Rückgriff auf die Einlagefazilität widerspiegeln werde. Die EZB spekuliert über die Gründe der hohen Abberufung von Liquidität durch die Banken: Die Banken könnten beim ersten dreijährigen langfristigen Refinanzierungsgeschäft deshalb so hohe Gebote platziert haben, weil sie das Geschäft in preislicher Hinsicht im Vergleich zu den aus den Euribor-Softkursen abgeleiteten Preisen 2011 von den Marktteilnehmern für die Emission von Schuldverschreibungen gefordert wurden, als attraktiv empfanden. Bei ihrer Würdigung der Maßnahmen vom 8. Dezember 2011 betonte die EZB rezidivierend ihr Motiv, „auch künftig eine wirksame Transmission geldpolitischer Impulse auf die Realwirtschaft sicherzustellen und somit die Banken dabei zu unterstützen, die Kreditgewährung auf private Haushalte und nicht finanzielle Kapitalgesellschaften im Euroraum aufrecht zu erhalten und auszuweiten".

Dennoch bleibt abzuwarten, ob die von ihr zu einmalig günstigen Konditionen gewährte Liquidität in der Realwirtschaft ankommen wird. Dies ist bis heute nicht der Fall. Die einmalige Kombination von Langfristigkeit des Refinanzierungsgeschäftes, Absenkung des Mindestreservesatzes sowie der Absenkung der Bonitätsschwellenwerte für ABS und nicht notleidende Kreditforderungen hat nur zu einem easing der Emissionsbedingungen von Staatsanleihen der potentiellen Finanznotstandsländer Frankreich, Spanien und Italien gefuhrt. Sowohl Italien als auch Frankreich und Spanien vermochten in der ersten Woche des Februar 2012 umfangreiche Emissionen zu platzieren, die hinsichtlich der Zinskonditionen weitaus günstiger lagen als vor Jahresende. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass allein die italienischen Banken EUR 116 Mrd. von den beim ersten Dreijahrestender gewährten EUR 489 Mrd. abgerufen hatten und in Verbindung mit der Garantie des italienischen Staates für Emissionen ihrer Banken und damit der Notenbankfahigkeit dieser Papiere dafür gesorgt hatten, dass die so geschaffene Bankliquidität zum Kauf von Staatsanleihen verwendet werden konnte. Hierbei handelt es sich um die Wiedereinführung der Garantieregelung des italienischen Staates aus dem Jahre 2008. Sie enthalten u. a. Garantien des italienischen Finanzministeriums zugunsten von Bankanleihen.61 Zusammenfassend stellt sich also eine Arbeitsteilung zwischen der Regierung des Finanznotstandslandes, der EZB und den jeweiligen Banken wie folgt dar: Die EZB und das Eurosystem lockern die Anforderungen an die Notenbankfahigkeit von Wertpapieren, die von Banken emittiert worden sind. Der jeweilige Staat, insbesondere Italien, garantiert die Emission von Bankanleihen. Die Bank emittiert die entsprechenden Papiere, reicht sie im Rahmen der Refinanzierungsgeschäfte bei der EZB bzw. dem Eurosystem ein und nutzt die so gewonnene zusätzliche Liquidität, um Staatsanleihen z. B. Italiens im großen Umfang zu erwerben. Dies führt auf dem Staatsanleihenmarkt zweifellos zu einer „Entspannung", vergrößert aber das Ausfallrisiko der so agierenden Bank. Indes können bis zum Eintritt dieses Risikos die so agierenden

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Vgl. ECB, Opinion of the European Central Bank of 24 January 2012 on a guarantee scheme for the liabilities of Italian banks and on the exchange of lira banknotes (CON/2012/4); unter http://www.ecb.int/ecb/legal/pdf/en_con_2012_4_f.pdf.

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Banken sehr üppige Margen verdienen. Denn Margen von 300 bis 400 Basispunkten dürfen als mehr als risikoadäquat angesehen werden. Trotz dieser Liquiditätswelle hält das Misstrauen der europäischen Banken untereinander an. Die Banken parkten trotz des Zinsverlustes nach dem ersten DreijahresTender überschüssige Mittel in Höhe von bis zu EUR 511 Mrd. 62 und nach dem zweiten Dreijahres-Tender sogar in Höhe von bis zu EUR 821 Mrd. 63 - so viel wie nie zuvor bei der EZB. Diese Geldanlage bei der EZB erfolgt zu einem Zinssatz von 0,25 % 64 , obwohl die Banken für die EZB Liquiditätsbereitstellung mit einem Zins von 1 % zu bezahlen haben. 65 Die Banken nehmen also lieber einen Zinsverlust in Kauf, statt das Geld an Konkurrenten zu verleihen. Obwohl das erste langfristige Finanzierungsgeschäft vom 8.12.2011 das grassierende Misstrauen der Banken untereinander genauso wenig beendet hatte, wie es die Kredittätigkeit der Banken ermutigen konnte, teilte die EZB mit Datum vom 29.2.2012 nahezu EUR 530 Mrd. im Rahmen des zweiten Dreijahrestender an dieses Mal insgesamt 800 Banken aus.66 Wieder kam ein großer Teil der bietenden Banken aus problembehafteten, aktuellen oder potentiellen Finanznotstandsländern. Schon im Vorlauf zu diesem Dreijahrestender war darauf hingewiesen worden, wie die Banken, insbesondere in Problemländern mit diesen Finanzspritzen zu Sonderkonditionen umgehen. Spanische Banken hatten innerhalb kürzester Zeit - innerhalb eines Monats - ihren Bestand an Staatsanleihen um EUR 23,1 Mrd. auf EUR 229,6 Mrd. erhöht. Über das Engagement französischer Banken bei französischen Staatsanleihen liegen bislang keine verlässlichen Angaben vor, obwohl sich im Händlerjargon bereits vor dem ersten Dreijahrestender im Dezember 2011 die Bezeichnung „Sarkotrade" eingebürgert hat.67 Ob auch mit dem zweiten Dreijahrestender die Banken vor allen Dingen Staatsanleihen in ihr Portfolio nehmen werden, wird unterschiedlich beurteilt. In einer Analyse der Commerzbank vom 29.2.2012 68 wird die Ansicht vertreten, dass die Banken die abgerufenen Gelder im Wesentlichen für die Ablösung bereits eingegangener Engagements bei der Zentralbank werden nutzen müssen. In demselben Bericht wird darauf hingewiesen, dass die Liquidität, die die EZB zur Verfugung stellt und zwar in Höhe von EUR 1,2 Billionen, dreimal so hoch sei wie der theoretische Liquiditätsbedarf des europäischen Bankensystems. 62

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Vgl. EZB-Pressemitteilung vom 7.2.2012, Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 3. Februar 2012; unter http://www.ecb.int/press/pr/wfs/2012/html/fsl20207.de.html. Vgl. EZB-Pressemitteilung vom 6.3.2012, Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 2. März; unter http://www.ecb.int/press/pr/wfs/2012/html/fsl20306.de.html. Vgl. Bundesbank, Zeitreihe SU0200: Zinssatz der EZB für die Einlagefazilität; unter http://www.bundcsbank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php?lang=de&open=7insen&func^ow&tr^S U0200. Vgl. Bundesbank, Zeitreihe SU0202: Zinssatz der EZB für Hauptrefinanzierungsgeschäfte; unter http://www.bundesbank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php?lang=de&open=zinsen&func=row&tr=S U0202. Vgl. ECB, Open market Operations, Longer Term Refinancing Op.-Allotment vom 29.01.12; unter http://www.ecb.int/mopo/implement/omo/html/20110149_all.en.html. Vgl. FAZ, 27.2.2012, EZB-Tender - Hoffnung auf neue „Sarko-Trades"; unter http://rn.faz.net/aktuell/ finanzen/anleihen-zinsen/ezb-tender-hoffhung-auf-neue-sarko-trades-11664673.html. Vgl. Commerzbank Research, Ahead of the curve, 1.3.2012, Das Leben danach, S.12f.

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Obwohl die Nettozunahme der Zentralbankgelder aufgrund der EUR 530 Mrd. Zuteilung nur EUR 311 Mrd. beträgt, weil parallel drei andere Refinanzierungsgeschäfte in Höhe von EUR 255 Mrd. ausliefen, 69 dürfte das Refinanzierungsgeschäft der EZB auch bei jenen letzte Zweifel beseitigt haben, die noch der Meinung anhängen, die EZB nähme hier ein geldpolitisches Mandat wahr. Vielmehr ist die EZB zum fiskalpolitischen Scharnier zwischen Finanznotstandsstaaten und ihren Banken geworden. Sie versorgt die Banken dieser Länder einerseits mit Liquidität und andererseits mit einer Herabstufung der Sicherheitsanforderungen an einreichbare Kollaterale. Dies zusammen mit den staatlichen Garantien für Eigenemissionen der Banken, die sodann bei der EZB eingereicht werden, ist ein Phänomen, das man in der Finanzbranche mit dem Ausdruck originate to repo bezeichnet. Ein prominenter Vertreter des deutschen Bankenverbandes, dessen Mitglieder auf diese Art von Finanzierung nicht angewiesen sind, drückte es einfacher aus: „Die Banken aus den Südstaaten drucken ihr Geld jetzt selbst."

Die EZB hat also nicht nur ihr geldpolitisches Mandat längst aufgegeben, sondern nutzt ihre Unabhängigkeit und die Freiheit von der Einflussnahme jener Länder, deren Steuerzahler für all die schlechten Risiken haften werden, um in einem historisch einmaligen Ausmaß den Wettbewerb auf dem Markt für Eurostaatsschulden zu verfalschen. Dies geschieht zu Lasten der Steuerzahler als Lender of last resort jeder Zentralbank und wird die Marktspannungen und Bewertungen der potentiellen und aktuellen Finanznotstandsländer nicht fundamental ändern, sondern kann nur Zeit kaufen, um ihnen die kompetitive Sanierung zu gestatten. 70 Dafür hat die EZB aber nicht nur kein Mandat. Mehr noch: Ihr ist ein solches Verhalten nach den Bestimmungen des AEUV eindeutig verboten. Dennoch ist sie zu einem Spielmacher der Wettbewerbsverzerrungen geworden. Von daher gewinnt die These von George Seigin7' über Zentralbanken als Quelle von Instabilität ein konkretes und anschauliches Beispiel. Heinsohn hat sich unlängst dieser Kritik im Ergebnis vehement angeschlossen. 72 Surrealistisch mutet die Reaktion der Banken auf die außerordentlich zinsgünstigen und langfristigen Finanzspritzen an. Denn die Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB bzw. dem Eurosystem sind zum Monatsende Februar 2012 auf Rekordhöhe gesprungen. Sie stiegen vom 24.2. zum 2.3. um mehr als EUR 300,00 Mrd. auf EUR 820,82 Mrd. an. 73 Dieser neue Höchststand ist umso aufschlussreicher, als die Banken, die das Geld über Nacht beim Eurosystem einlegen, signifikante Zinsverluste 69

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Vgl. EZB-Pressemitteilung vom 28.12.2011, Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 23. Dezember 2011; Positionen, die nicht mit geldpolitischen Operationen zusammenhängen; unter http://www.ecb.int/press/pr/wfs/2011/html/fsl 11228.de.html. Vgl. dazu u.a. den Chefvolkswirt der Commerzbank, Dr. Jörg Krämer: "Die EZB hat Zeit gekauft, sie kann die Probleme nur übertünchen, sie kann sie nicht lösen." SZ v. 1.3.2012, S. 2, "Love me, Tender". Vgl. Seigin, Central Banks as Sources of Financial Instability, The Independent Review, v. 14, n. 4, Spring 2010, S. 485-496.; Vgl. hierzu auch Hayek, F. A. (1977): Entnationalisierung des Geldes, Schriften zur Währungspolitik und Währungsordnung; Gesammelte Schriften in deutscher Sprache Abt. A Band 3, Herausgegeben von Alfred Bosch, Reinhold Veit und Verena Veit-Bachmann, Tübingen 2012; S. 150. Heinsohn (2012). Vgl. EZB, 9.3.2012, Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 2. März 2012; unter http://www.ecb.int/press/pr/wfs/2012/html/fsl20306.de.html.

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im Verhältnis zu der einprozentigen Verzinsung des langfristigen Finanzierungsgeschäftes in Kauf nehmen müssen. Also scheint das grassierende Misstrauen zwischen den Banken durch die großzügigen Finanzspenden der EZB nicht überwunden zu sein. Mehr noch: In der real existierenden Ökonomie ist das von der EZB zu einmalig günstigen Bedingungen geschaffene Geld bislang nicht angekommen. Damit steht fest: Zwar handelt die EZB zunehmend außerhalb ihres geldpolitischen Mandats und wird zum Büttel der Finanzpolitik. Aber sie schafft es nicht, mit ihrer Methode Vertrauen zu stiften oder zumindest den Geldmarkt wieder zum Funktionieren zu bringen, ganz zu schweigen von der Kredittätigkeit der Banken. Sie sind weiterhin außerordentlich zurückhaltend. Von der Geldschwemme der EZB haben also nur solche Staaten und Banken einen Nutzen, die sich nicht mehr über den Kapitalmarkt finanzieren können. Gleichzeitig jubelt die deutsche Bundeskanzlerin - ihr folgende die Pariser Politik nach Unterzeichnung des fiscal compact über die wohlfeile Rolle der EZB. Sie mag der Bundeskanzlerin und anderen Politikern dabei geholfen haben, die fundamentalen Probleme der Eurozone ggf. sogar über einen bestimmten Wahltag hinaus verschoben zu haben. Dies ändert nichts an dem Umstand, dass die EZB trotz ihres ultra viresHandelns an die Grenzen ihrer faktischen Wirksamkeit gerät. Damit ist nicht nur die Politik sondern auch die Zentralbank vollständig zum Gefangenen des Finanzsektors geworden. Wie wenig nachhaltig die von unterschiedlichen Kreisen herbeigeredete Beendigung der Krise der Eurozone ist, wird aus den Daten sichtbar, die Spanien veröffentlicht hat. Statt das mit der Europäischen Kommission angestrebte Ziel eines Defizits von 4,4 % zu erreichen, wird das laufende Defizit von Spanien 5,5 % des BIP ausmachen.74 Selbst in den Niederlanden wird es aufgrund der schwachen konjunkturellen Entwicklung schwierig werden, den Defizitwert von 3 % einzuhalten.75 Dies alles zeigt: Nicht einmal die EZB, geschweige denn die Politiker können den europäischen Finanznotstand stoppen. Im Gegenteil: Wer wie die EZB den Wettbewerb auf dem Euro-Staatsschuldenmärkten massiv beschränkt, verfälscht und verzerrt, nimmt billigend in Kauf, dass die Anpassungsprozesse bei Problembanken und Problemländern verzögert, verschoben oder ganz suspendiert werden. Die EZB hat so den Wettbewerb in seiner zentralen Steuerungsfunktion aus den Angeln gehoben, die Art. 123 ff. AEUV fortgesetzt verletzt und dafür sogar die Möglichkeit eines Finanzkollaps bewusst in Kauf genommen. ****

Rudolf Hilferding beschrieb 1909 in seinem großen Werk „Das Finanzkapital" hellsichtig, wenn auch mit forciert marxistischer Methode, die Entwicklung des Finanzkapitalismus. Hierfür wurde er von der kommunistischen Partei als Renegat herabqualifiziert. Die Verselbstständigung des Finanzsektors bei kollusiver Verquickung von Zentralbanken und Staatsmacht hat sich eurobedingt auf eine Weise verwirklicht, die Hilfer74

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Vgl. Handelsblatt, 9.3.2012, EU Kommission überprüft Spaniens Defizitzahlen; unter http://www.handelsblatt.corn/politik/international/spanien-eu-kommission-ueberprueft-spaniensdefizitzahlen/63101 OO.html. Handelsblatt, 1.3.2012, Niederlande verpassen alle Defizitziele; unter Vgl. http://www.handelsblatt.com/politik/international/euro-stabilitaetskriterien-niederlande-verpassenalle-defizitziele/6276882.html

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ding perplex gemacht hätte. Die dauerhafte Suspendierung des Mechanismus von Finanzmärkten - d. h. die partiell sanktionslosen Fehlinvestitionen von Geschäftsbedanken und ihre Kompensation durch Zentralbanken durch sogenannte temporäre Maßnahmen der EZB, für die es keine Exit-Strategie gibt, - fuhrt über kurz oder lang zur Abschaffung der Marktwirtschaft im Bereich des Finanz- und Kreditwesens. Dann wäre mit Hilfe des Euros im Ergebnis das erreicht worden, was kein radikal - sozialistisches Programm bislang zu verwirklichen geschafft hat: Die faktische Verstaatlichung des Finanz- und Kreditwesens. Obwohl dieses „Opfer" zur Eurorettung gewaltig wäre, würde dies auch nichts am Schicksal der Einheitswährung ändern. Sie ist moribund. Das Experiment ist gescheitert und alle konzeptionellen Anstrengungen sollten darauf konzentriert werden, den modus vivendi einer politisch weichen Landung des Projektes zu finden. Dies sollten die Europäer nicht Lord Wolfson aus dem britischen Oberhaus und seinen an sich sehr sinnvollen Ideenwettbewerb allein überlassen. Denn dessen fünf bisher selektionierte Vorschläge 76 sind Kompilationen von Praktikern der Londoner Finanzwelt, die unterstellen, dass nur ein Break-up der Eurozone mit einer Rückkehr zur nationalen Währung die „Lösung" darstelle. Dies verengt die Lösungssuche und unterschlägt, dass eine Parallelwährung zum Euro - also mehr Währungswettbewerb - die Reorganisation der europäischen Währungsordnung evolutionär anregen könnte. 77

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Vgl. Policy Exchange, Wolfson Economics Prize; Vgl. Kerber, Ideen ohn Zündstoff - Die Lösungsansätze in Lord Wolfsons Wettbewerb zur Abwicklung der Eurozone; unter http://www.europolisonline.org/ unter http://www.policyexchange.org.uk/component/zoo/item/wolfson-economics-prize Vgl. hierzu Kerber, Mehr Wettbewerb wagen, Ein Konzept zur Reform der Europäischen Währungsordnung, Stuttgart 2012.

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Markus C. Kerber

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Zusammenfassung Obwohl die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion als ein System unverfälschten Wettbewerbs konzipiert wurde, das den gemeinsamen Binnenmarkt realisieren sollte, entwickelt sich die EZB durch ihre geldpolitischen Lockerungen immer mehr zu einem Spielmacher der Wettbewerbsverfalschung. Der folgende Beitrag setzt sich kritisch mit den von der EZB seit Mai 2010 in Anspruch genommenen, ungeschriebenen Ausnahmebefugnissen wie z.B. die fiskalpolitisch motivierte Herabsetzung bzw. Aussetzung von Bonitätsschwellenwerten für Staatsanleihen sowie das Phänomen der „Originate-to-Repo-Geschäfte" auseinander.

Spielmacher der Wettbewerbsverfalschung?

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Summary: The Distortion of Competition organised by Central Banks. Comments on the role of ECB on capital markets. The creation of the European Monetary Union should be a system of undistorted competition seeking to establish a single market. Contrary to this objective the ECBhas distorted the competition by its policy of qualitative and quantitative easing since May 2010. One could call it thematchmaker of distorted competition. This paper critically observes the extra-legal emergency measures, e.g.the reduction or suspension of the Eurosystem's credit quality threshold as well as the "originate-to-Repo-operations".

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Albrecht F. Michler und Markus Penatzer

Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen Inhalt I. II. III. 1. 2. 3. IV. 1. 2. 3. 4. V.

Problemstellung Zielsetzungen der Finanztransaktionssteuer Ausgestaltungsmöglichkeiten der Finanztransaktionssteuer Besteuerungsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten Verbreitung von Finanztransaktionssteuern Der Vorschlag der Europäischen Kommission Auswirkungen der Finanztransaktionssteuer Direkte Kosteneffekte Mengeneffekte einer Finanztransaktionssteuer Preiseffekte einer Finanztransaktionssteuer (Risiko)Allokationseffekte der Transaktionssteuer Schlussfolgerungen und eine Lösungsalternative

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Financial transaction tax: Objectives and potential effects

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I. Problemstellung Im Juni 2012 einigten sich die deutschen Regierungsparteien mit Bündnis 90/ Die Grünen und der SPD auf Grundzüge einer Besteuerung von Finanzgeschäften. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT) war Voraussetzung für die Zustimmung der Oppositionsparteien zum Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Europäischer Fiskalpakt). Dessen Ratifizierung bedarf einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat. Wie in Deutschland wird auch in vielen anderen Ländern der Europäischen Union weiterhin heftig über den Nutzen einer derartigen Besteuerung diskutiert. Deshalb wurden die Pläne der EUKommission eine Finanztransaktionssteuer ab 2014 einzuführen, von den EUFinanzministern im März 2012 zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Vor diesem Hintergrund werden im nächsten Abschnitt zunächst die Zielsetzungen einer Finanztransaktionssteuer aufgezeigt, da in der wirtschaftspolitischen Diskussion neben dem fiskalischen Zweck auch auf den Lenkungscharakter der Steuer verwiesen wird. Das dritte Kapitel erläutert die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Steuer, be-

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Albrecht F. Michler und Markus Penatzer

schreibt bislang realisierte Ansätze und erläutert das von der EU-Kommission im Herbst 2011 vorgeschlagene Richtlinienkonzept. Im Anschluss werden gesamtwirtschaftliche Auswirkungen respektive die Effekte für die Finanzmärkte analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und eine alternative Besteuerung der organisierten Finanzmärkte vorgeschlagen.

II. Zielsetzungen der Finanztransaktionssteuer Die Fiskalfunktion einer Finanztransaktionssteuer Als EU-Kommissionspräsident Barroso die Einführung der Steuer im September 2011 vor dem Europa-Parlament in Straßburg ankündigte, ging er davon aus, dass man mithilfe dieser Steuer jährlich ca. 57 Mrd. EUR einnehmen könne. Die Hälfte der Einnahmen sollten nach Vorstellungen der EU-Kommission in den gemeinsamen EUHaushalt einfließen, der Rest verbliebe für die Haushalte der Mitgliedstaaten. Die potenziellen Einnahmen weisen in Abhängigkeit von den gewählten Steuersätzen, den Ausweichmöglichkeiten der Finanzmarktakteure, der Verlagerung von Handelsaktivitäten und der unterstellten Preiselastizität allerdings eine enorme Bandbreite auf. Die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie zu den Auswirkungen der Steuer beschreibt eine mögliche Spanne für die geschätzten Einnahmen von 16,4 Mrd. bis zu 434 Mrd. EUR pro Jahr. Neben der Erschließung einer eigenständigen Finanzierungsquelle für den EUHaushalt wäre allerdings auch eine anderweitige Verwendung der Einnahmen denkbar. Im Februar 2010 starteten mehr als 50 karitative Einrichtungen eine Initiative zur Einführung einer FTT (sog. Robin-Hood-Steuer). Die Steuereinnahmen sollten demzufolge je zur Hälfte für die nationalen Haushalte und für internationale Entwicklungshilfeprojekte verwendet werden. Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Finanzkrise Die Finanzkrise und die darauf folgende Staatsschuldenkrise in vielen Industrie- und Entwicklungsländern hat zu erheblichen Mehrbelastungen für den Steuerzahler geführt, deren Höhe sich allerdings nur schwer beziffern lässt.1 Sowohl die Bevölkerung als auch die Wirtschaftspolitik vertreten mehrheitlich die Auffassung, dass sich der Finanzsektor - als „Hauptverursacher" der Krise - bislang nicht ausreichend an diesen Kosten beteiligt hat. Mithilfe der FTT soll daher die Kostenbelastung vom Steuerzahler teilweise auf die Finanzmarktakteure überwälzt (bear its fair share) und ein angemessener Beitrag zum Schuldenabbau und zur Konsolidierung der Staatshaushalte geleistet werden.

Entsprechende Schätzungen von internationalen Organisationen wie vom IMF und anderen Institutionen weichen erheblich voneinander ab. Die direkten Kosten der Finanzkrise für den Steuerzahler dürften in den meisten Industrieländern am Ende unter 1% des BIP verbleiben. Auch unter den von der Krise besonders stark betroffenen Ländern dürften die entsprechenden Kosten am Ende nicht über 2% des BIP liegen. Erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern lassen sich auf die Gestaltung der Stützungsprogramme, den Kreis der einbezogenen Banken und den Zeitpunkt des Ausstiegs aus Staatshilfen zurückführen. Berücksichtigt man darüber hinaus die Kosten der immer noch anhaltenden Staatsschuldenkrise - insbesondere in der Eurozone - wird eine unmittelbare Zurechnung noch schwieriger.

Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen

Lenkungsfunktion

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Finanztransaktionssteuer

Zur Vermeidung künftiger Finanzkrisen sollen mithilfe der FTT sowohl der Umfang von Finanztransaktionen als auch besonders riskante Geschäfte der Finanzinstitute eingedämmt und damit die Gefahren spekulativer Blasen auf den Finanzmärkten reduziert werden. Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, dass sich der Umfang der Finanztransaktionen in den letzten Dekaden deutlich von den realwirtschaftlichen Aktivitäten abgekoppelt habe und die „reinen" Finanztransaktionen häufig einen hoch spekulativen Charakter aufwiesen. Im Fokus steht insbesondere eine „Entschleunigung" des sog. Hochfrequenzhandels (high frequency trading), bei dem in Bruchteilen von Sekunden computergestützte Geschäfte und Gegengeschäfte zu Lasten anderer Marktteilnehmer durchgeführt werden. Diese Transaktionen wurden in letzter Zeit für teilweise dramatische Kursschwankungen - insbesondere auf Aktienmärkten - verantwortlich gemacht. 2 Die Besteuerung der Transaktionen im Hochfrequenzhandel - die völlig losgelöst von realwirtschaftlichen Aktivitäten seien - würde die Gewinnmargen reduzieren, und erhebliche Teile des Hochfrequenzhandels kämen zum Erliegen. Steuersystematische

Gründe

Die Befürworter der FTT verweisen darauf, dass eine Ungleichbehandlung zwischen den Finanz- und Gütermärkten bestehe. Während beispielsweise Industrieunternehmen bereits beim Kauf von Rohstoffen und Vorprodukten über die Mehrwertsteuer belastet würden, blieben Transaktionen auf den Finanzmärkten weitgehend unbesteuert (undertaxed sector). Aus steuersystematischen Gründen wäre eine Angleichung erforderlich. Umverteilungseffekte Die Einführung einer FTT kann aus Sicht der Befürworter einen progressiven Umverteilungseffekt haben. Da die vom Finanzsektor erbrachten Dienstleistungen verstärkt höheren Einkommensgruppen zugutekämen, nehme die Steuerwirkung proportional zum Einkommen zu. Dies gilt insbesondere für eine auf Transaktionen mit Finanzinstrumenten wie Anleihen und Eigenkapitalanteilen und ihren Derivaten beschränkte Steuer (European Commission 201 la, S. 5). Steuerharmonisierung Eine Reihe von EU-Ländern hätten bereits eine nationale Besteuerung der Banken bzw. eine Transaktionssteuer eingeführt, was zu Wettbewerbsverzerrungen und zu einer Reallokation der Finanzmittel innerhalb und außerhalb der Europäischen Union führt. Mithilfe einer EU-weiten FTT könnten die bisherigen Steuern ersetzt und eine Steuerharmonisierung herbeigeführt werden.

III. Ausgestaltungsmöglichkeiten der Finanztransaktionssteuer 1. Besteuerungsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten Eine FTT soll im Grundsatz den gesamten Handel auf den Finanzmärkten erfassen, d.h. also alle Transaktionen mit Wertpapieren wie Aktien und Anleihen aber auch Geschäfte mit Devisen und Derivaten berücksichtigen. Darüber hinaus können aber auch

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Es wird inzwischen davon ausgegangen, dass mittlerweile 70 % des US-amerikanischen Aktienhandels von Computern gesteuert wird.

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andere Wertpapiere und Transaktionen mit Immobilien und Rohstoffen einbezogen werden. Unstrittig ist, dass die Steuer auf den organisierten Märkten erhoben werden soll. Ob auch der außerbörsliche Handel erfasst werden soll und kann, bleibt in der allgemeinen Debatte häufig unbeantwortet. In der Praxis gibt es eine Reihe von speziellen Steuern, die auf unterschiedliche Art und Weise auf die Transaktionsprozesse einwirken und an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden sollen: •

Die Tobin-Steuer stellt auf die Besteuerung von internationalen Devisengeschäften ab. Durch eine geringfügige Besteuerung auf sämtliche Devisenmarkttransaktionen sollten kurzfristige Spekulationen auf den Devisenmärkten eingedämmt werden. Tobin versprach sich dadurch eine deutliche Reduktion der Wechselkursvolatilitäten, die insbesondere nach dem Zusammenbrach des Fix-KursSystems von Bretton Woods im März 1973 zu beobachten waren (Eichengreen, Tobin und Wyplosz 1995). Die Verwendung der Steuer spielte aus Sicht von Tobin eine untergeordnete Rolle.



Eine Registrierungssteuer (registration tax) soll auf Kapitalerhöhungen erhoben werden, die Unternehmen durch Kapitalbeteiligungen, Darlehen oder die Ausgabe von Anleihen bzw. Aktien realisieren.



Die Bankentransaktionssteuer - die häufig in südamerikanischen Ländern eingesetzt wird - ist eine Steuer, welche Bankeinlagen oder Entnahmen von Bankkonten besteuert (Matheson 2011). Diese Steuer ist jedoch durch eine sehr spezifische Ausgestaltung charakterisiert und erlaubt deshalb keine Aussagen über eine allgemeine Wirkung der Transaktionssteuer.



Die Grunderwerbssteuer (real estate transaction tax) wird beim Verkauf eines Grundstücks erhoben. Sie findet sich in nahezu allen Jurisdiktionen: aus Sicht der öffentlichen Hand besteht ihr Vorteil insbesondere darin, dass Grund und Boden nicht ins Ausland verlagert werden können; die Möglichkeiten zur Steuervermeidung bzw. -umgehung sind begrenzt (Matheson 2011).



Eine Besonderheit bilden Stempelsteuern (stamp duty), welche beim Abstempeln von Papieren oder Dokumenten durch eine Behörde anfallen, also etwa bei der Emission von Aktien oder Anleihen bzw. beim Eigentumsübergang von Grundstücken.

Ein anderes Konzept - was nicht mit einer Transaktionssteuer verwechselt werden sollte - liegt der Finanzaktivitätssteuer zugrunde. Grundlage dieser Besteuerung sind die Gewinne von Finanzinstitutionen sowie die Gehälter und Bonuszahlungen an Mitarbeiter. Einerseits liefert die Finanzaktivitätssteuer - im Gegensatz zur FTT - nur geringe Anreize, den Handel auf andere Finanzplätze zu verlagern, die keine entsprechende Steuer erheben. Andererseits lassen sich mithilfe der Finanzaktivitätssteuer die Umsätze auf den Finanzmärkten, insbesondere Art und Umfang spekulativer Geschäfte, nicht eindämmen. Im Ergebnis entfällt der Lenkungscharakter der Steuer. Zudem würden die Steuereinnahmen voraussichtlich deutlich niedriger ausfallen.

Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen

• 89

2. Verbreitung von Finanztransaktionssteuern Auch wenn gegenwärtig intensiv über potenzielle Vor- und Nachteile von Finanztransaktionssteuern diskutiert wird, handelt es sich dennoch um ein seit Jahrzehnten bekanntes Instrument, das immer wieder zum Einsatz kam und teilweise auch wieder abgeschafft wurde. Eine Transaktionssteuer auf Eigenkapitalinstramente erhebt derzeit eine Reihe größerer Volkswirtschaften wie China, Indien, Indonesien, Italien, Südafrika, Südkorea und Großbritannien (Schulmeister, Schratzenstaller und Picek 2008, Matheson 2011). Es fällt auf, dass Deutschland, neben Kanada, eine der wenigen westlichen Industrienationen ist, welche überhaupt keine FTT erhebt. Die Börsenumsatzsteuer wurde in Deutschland im Jahr 1991 abgeschafft. Die USA haben seit 1966 keine Börsenumsatzsteuer mehr. Es gibt jedoch eine Aktiengebühr, die von der Börsenaufsicht SEC erhoben wird (Schulmeister, Schratzenstaller und Picek 2008, Matheson 2011). Diese beträgt wie die Tabelle 1 zeigt 0,0013% und ist damit im Vergleich zu anderen Ländern sehr gering. Es gibt darüber hinaus in einzelnen US-Bundesstaaten Vermögenstransaktionssteuern. In Europa ist als bedeutende Volkswirtschaft mit einer FTT das Vereinigte Königreich zu nennen, wobei auch hier bemerkenswert ist, dass sich die Steuer auf Aktien und Optionen sowie Futures beschränkt. Insgesamt lässt die nachfolgende Tabelle von Matheson (2011) den Schluss zu, dass es keine bedeutende Volkswirtschaft gibt, welche eine umfassende FTT eingeführt hat.

K.A.

Registersteuer von 0,4 %.

1 K.A.

K.A.

|lCanada

Mexiko

Japan

0,01%-0,14% auf Aktienhandel außerhalb der Börse

165 € Gebühr auf Aktienausgabe und 5% bei Untemehmensverkäufen.

Italien

K.A.

]1 K. A.

0,1 des Aktienwertes, sowie eventuell lokale Stempelsteuern

0,25% des Aktienpreises, 0,025% auf Tageshandel, sowie lokale Stempelsteuern

K. A.

15-30 Tip Steuer, welche 2008 abgeschafft wurde

K.A.

5% der Kapitalverteilung und Gegenstand der Umsatzsteuer

Frankreich

K.A.

[ K. A.

K. A.

0,25-2% des Darlehenswertes

Lokale Stempelsteuern

Lokale Stempelsteuern

K. A.

K. A.

K.A.

0,1% fur den Auftraggeber

Indonesien

K.A.

China

1,5% Steuer auf Darlehen

1,5% Steuer auf Eigenkapitalprodukte, welche über Depositary Receipts an ausländischen Märkten verfügbar sind. Sie wurde 2008 von ursprünglich 3% gesenkt.

K.A.

K.A.

Brasilien

Es gibt Steuern auf Bundesstaatenebene, welche Anleihen und Darlehen belasten können.

Es kann zu einer Bundesstaatenbesteuerung von Aktien kommen.

K.A.

K.A.

Australien

Provinziale Stempelsteuer, sie beträgt in der Regel 1% und besteuerte Anleihen und Renten

Anleihen/Darlehen

Bundesstempelsteuer auf Aktien transfers. Sie wurde im Jahr 2001 abgeschafft.

Indien

K.A.

Argentinien

Eigenkapitalprodukte

1

K.A.

K.A.

K. A.

K.A.

K.A.

K.A.

K.A.

K.A.

I K . A.

0,38% Steuer auf Forex, 5,28% auf short-term Forex

K.A.

K.A.

Forex

I

K. A.

K. A.

K. A.

K. A.

K. A.

K. A.

i Futures

K.A.

K. A.

K. A.

K.A.

K. A.

II

K.A.

K. A.

K. A.

' K.A.

K.A.

0,017% auf 0,01% des Premium, Lieferpreises 0,125% auf Strike i

K. A.

K. A.

K.A.

K. A.

K. A.

K.A.

Optionen

I

K.A.

Kapitalzuströme

K.A.

K.A.

K.A.

K.A.

K.A.

K.A.

K. A.

K.A.

K. A.

Eine 2% Steuer auf Kapitalzuströme in Aktienmärkte und Anleihenmärkte


)

Autor/en

Jahr

Methode1

1

Kearl et al.

1979

Umfrage

2

Bobe und Etchegoyen

1981

Umfrage

3

Marwell und Arnes

1981

LE

#

4

Frey et al.

1982

Umfrage

5

Schneider et al.

1983

Umfrage

6

Pommerehne et al.

1983

Umfrage

7

Kahneman et al.

1986a

Umfrage

8

Kahnemati et al.

1986b

Umfrage

d)

e)

Stichprobe „Ökonomen"

Stichprobe "NichtÖkonomen"' Kontrollgruppe

Mitglieder "American Economic Association" zufällig ausgewählte Stichprobe an Ökonomen ÖkonomieStudenten zufällig ausgewählte Stichprobe an Ökonomen zufällig ausgewählte Stichprobe an Ökonomen zufällig ausgewählte Stichprobe an Ökonomen n/a

f) (e) oder 1) PO'/>2) P(F,>3) P(7,> 1) PO;>2) PO*>3) P(L'I> 1) P(}-, > 2 ) PO'; > 3 )

a

b

c

d

e

Preis

Windhund

Zufall

Behörde

Rationierung

-0,04 -0,05 -0,20 0,29 0,16

-0,30 -0,36 -106,88

-0,91

-1,12 *** -0,85 *** -1,19 *** -0,43 *** -0,44 ***

0,65

-0,50 * -0,42 0,03

-0,27 * -0,24

-0,68

-1,14***

-0,30

-0,26 0,27

-0,60 ***

1,38 0,16

0,55 ** -28,68 0,16 0,19 -52,30 -0,36 0,05

0,40 ** -0,40 -0,12 0,39

0,33* 2,46*** 22,22

0,73*** -0,37 -37,07

Signifikanzniveaus: *** (1%), ** (5%), * (10%) P = Wahrscheinlichkeit; Yt = abhängige Variable mit Ausprägungen 1 (= sehr gerecht) bis 4 (= sehr ungerecht); i = a, b, c, d

Besonders hervorheben wollen wir die signifikanten Effekte für die Wahrscheinlichkeit, dass Yj > 2 ist. Denn hier werden die Kategorien, die die Einstellung „gerecht" abbilden (1 und 2) mit denen verglichen, die die Einstellung „ungerecht" abbilden (3 und 4). Beim Preissystem sind auf diesem Niveau alle Koeffizienten der einschlägigen Variablen signifikant. Darüber hinaus ist econ_stud auch dann signifikant, wenn die Kategorien 1 bis 3 gegen 4 verglichen werden. Was den Einfluss der politischen Einstellung auf das Gerechtigkeitsempfinden bezüglich des Preismechanismus angeht, so ist der Erwartungswert, diesen Mechanismus als gerecht einzustufen, umso höher, je weiter man politisch rechts steht. Dies führen wir darauf zurück, dass die politische Rechte bzw. Konservative eher individualistischmarktwirtschaftlichen Lösungen zugeneigt ist, die den persönlichen Bedürfnissen und der persönlichen Leistungsfähigkeit der Menschen folgen. Aus diesem Grund dreht sich bei Verfahren e), der Rationierung, das Bild um (vgl. Tab. 4 und 5): Unter distributiven Gesichtspunkten stellt es das gerechteste Allokationsverfahren dar. Wie zu erwarten ist, gilt hier, dass es in rechte Richtung an Zustimmung verliert. Besonders bemerkenswert ist, dass polatt beim Preissystem auf jedem Niveau Erklärungskraft besitzt (Tabelle 5). Die Bedeutung der politischen Einstellung steht damit im Widerspruch zu Haucap und Just (2010): Bei ihnen ist sie bei keinem der fünf Allokationsmechanismen signifikant. Im Hinblick auf das Geschlecht scheint sich die These vom „harten" und „weichen" Geschlecht zu bestätigen. Mannsein erhöht die Wahrscheinlichkeit, sowohl das Preissystem als auch das Windhundverfahren für gerechter zu halten. Bei der Rationierung, dem am wenigsten konfliktiven Mechanismus (je nachdem wie die örtliche Behörde das Wasser verteilen würde), dreht sich das Bild folglich um (vgl. Tab. 4 und 5). Auch Cipriani et al. (2009) kommen hinsichtlich des Marktsystems zu diesem Ergebnis, weisen jedoch auf empirisch divergierende Evidenz in dieser Frage hin (S. 465). Einen empirischen Beleg, dass Männer auch eigennutzorientierter sind, liefern Selten und Ockenfels (1998) sowie Frank und Schulze (2000). In Tabelle 5 fällt beim Windhundverfahren ins Auge, dass sex einen signifikanten negativen Einfluss lediglich auf P(Y, > 1) hat. D.h., dass unsere männlichen Studenten zur Extremposition neigen und das Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst." tendenziell für sehr gerecht halten.

Wie (un-) fair sind Ökonomen? Neue empirische Evidenz zur Marktbewertung und Rationalität • 191

2. Indoktrination Mit econlect lassen sich keine signifikanten Einflüsse auf die Wahrscheinlichkeit erklären, das Preissystem für gerecht zu halten. Allerdings fallen unter bereits gehörte wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen vor allem auch solche, die kaum bis keine Rational-Choice-Bestandteile enthalten. Selbst bei denen, die einen höheren RationalChoice-Anteil suggerieren, können wir nicht ermitteln, inwieweit die Studenten tatsächlich mit dieser Theorie konfrontiert worden sind. Doch auch falls econlect einen signifikanten Einfluss hätte, muss dieser keineswegs auf eine Indoktrination zurückzufuhren sein. Denn die Studenten haben in vergangenen Semestern wirtschaftswissenschaftliche Veranstaltungen vermutlich deswegen besucht, weil sie es wollten und nicht weil sie es mussten. In diesem Fall hätten wir einen weiteren Selektionseffekt mehr. econschool hat ebenfalls auf keines der fünf vorgeschlagenen Mechanismen einen signifikanten Einfluss. Das Ergebnis bleibt auch dann robust, wenn wir die Variable econ stud aus den Regressionen entfernen, die man als von econschool abhängig vermuten könnte. Ein x2-Homogenitätstest zeigt uns zudem, dass die Verteilung der Ökonomen vs. Nicht-Ökonomen hinsichtlich eines Schulfachs Wirtschaft nicht signifikant verschieden ist. Den Erklärungsgehalt von econschool müssen wir aber dahingehend relativieren, dass auch Fächer wie Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen darunter fallen, in dem Ökonomie mit zwei anderen Teildisziplinen vermittelt wird und entsprechend keinen breiten Raum findet. Immerhin kommen 72,2 % unserer befragten Studenten aus Nordrhein-Westfalen. Wie wirkt sich nun aber die sechsstündige Indoktrination durch MikroÖkonomik und damit Rational Choice im Laufe eines Semesters auf die Studenten aus? Wie in Tabelle 3 zu sehen ist, waren es zu Beginn des Semesters 47,9 % und zum Ende 52,4 %, die das Preissystem als „sehr gerecht" oder „akzeptabel" qualifizierten. Um Selektionseffekte auszuschließen, matchen wir beide Befragungsrunden und erhalten 129 Beobachtungspaare. Tabelle 6 gibt die neuen Anteile für die gematchte Gruppe wieder. Tabelle 6:

Anteile der gematchten Gruppe in MikroÖkonomik, die das jeweilige Allokationsverfahren als „sehr gerecht" oder „akzeptabel" qualifizieren a

b

c

d

e

Semesteranfang

46,9 %

70,3 %

9,3 %

45,0 %

97,7 %

Semesterende

56,6 %

53,1 %

10,9%

42,2 %

98,5 %

Um auf Unterschiede in der Verteilung hinsichtlich aller vier Antwortkategorien am Anfang und Ende des Semesters zu testen, führen wir für jedes Allokationsverfahren einen %2-Homogenitätstest durch. Im Ergebnis sind die Unterschiede im Antwortverhalten nur beim Windhundverfahren (b) (schwach) signifikant. Ansonsten zeigen sich keine signifikanten Unterschiede. Insofern können wir einen Indoktrinationseffekt dahingehend ausmachen, dass ein Verfahren, welches alleine nach individueller Leistungsfähigkeit alloziert, als ungerechter beurteilt wird. Die Indoktrination bei den Ökonomen führt sogar so weit, dass sich die Verteilung der Antworten am Ende des Semesters

192

René Ruske und Johannes Suttner

nicht mehr signifikant von der Gesamtheit der anderen Studenten unterscheidet. Während einerseits also die Wirtschaftsstudenten bereits im Vorfeld ihre gegenüber dem Marktsystem aufgeschlossene Haltung mitbringen und sich daran durch intensives Auseinandersetzen mit Rational Choice nichts mehr wesentlich ändert, schwindet im Laufe des Semesters die Überzeugung für Marktalternativen wie dem Windhundverfahren durch intensives Rational-Choice-Training. Die einzige Studie, die mit Blick auf die Marktorientierung von Ökonomie-Studenten keinen Indoktrinationseffekt feststellt, ist von Frey et al. (1993). Mit unserer Studie liefern wir einen weiteren empirischen Beleg für diesen Sachverhalt.

IV. Fazit Um die Selektions- und Indoktrinationshypothese zu überprüfen, haben wir basierend auf Frey et al. (1993) bzw. Haucap und Just (2010) im Wintersemester 2011/2012 eine Umfrage unter Studenten der Wirtschaftswissenschaften und anderer Studienrichtungen durchgeführt. Dabei mussten die Studenten fünf verschiedene Mechanismen zur Allokation einer knappen Ressource bewerten, darunter auch eine Allokation über das marktliche Preissystem. Um den Indoktrinationseffekt besser als in der bisherigen Literatur messen zu können, haben wir bei den Ökonomen am Ende des Semesters eine zweite Umfrage durchgeführt. Während des Semesters sind sie mit Rational Choice im Rahmen des Moduls „MikroÖkonomik" in Berührung gekommen. Da es sechs Semesterwochenstunden umfasst, war für die Studenten der Umgang mit Rational Choice sehr intensiv. Im Ergebnis zeigt sich, dass es einen klaren Selbstselektionseffekt gibt. Wer Ökonomie studiert, zeigt noch vor jeglichem Kontakt mit den Inhalten des Studiums eine deutliche Affinität zur Marktlösung. Einen signifikanten Indoktrinationseffekt konnten wir im Hinblick auf die Marktlösung dagegen nicht nachweisen, obwohl die Studenten in zeitlich großem Umfang mit Inhalten der MikroÖkonomik konfrontiert waren. Hinsichtlich einer Marktalternative - dem Windhundverfahren - gleicht sich aber die Beurteilung der Ökonomen der ihrer Kommilitonen anderer Fachbereiche an. Während es für den Selektionseffekt profunde empirische Evidenz in der Literatur gibt, verhält es sich beim Indoktrinationseffekt nicht so. Wir hoffen daher, mit unserer Studie einen Beitrag geleistet zu haben, der einen weiteren Baustein in der Frage nach der Andersartigkeit der Ökonomen darstellt. Das Studium scheint sie nicht noch mehr zu Ökonomen zu machen. Zukünftige Forschung wird die Frage nach einer Indoktrination aber noch weiter verfeinern können. Würden Ökonomen durch ein Fach Wirtschaftsethik Fairness-Aspekte eher berücksichtigen? Kritische Beobachter der Wirtschaftskrise würden dies wohl so sehen. Die implizit hinter dieser gesamten Forschung steckende Frage bleibt aber weiterhin unbeantwortet: Warum sind Ökonomen eigentlich nun anders? Hier spielen unseres Erachtens noch viel mehr Faktoren eine wichtige Rolle, als bisher in der Forschung analysiert worden sind. Auch hierum wird sich wohl die eine oder andere Studie noch drehen.

Wie (un-) fair sind Ökonomen? Neue empirische Evidenz zur Marktbewertung und Rationalität • 193

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194

René Ruske und Johannes Suttner

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Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag analysiert Unterschiede zwischen Ökonomen und NichtÖkonomen im Hinblick auf die Bewertung verschiedener Mechanismen zur Allokation einer knappen Ressource sowie den isolierten Einfluss von Rational Choice auf die Einstellung von Ökonomen. Zu diesem Zweck führten wir basierend auf Frey et al. (1993) und Haucap und Just (2010) unter über 600 Studenten verschiedener Fachrichtungen der Universität Münster eine Umfrage durch. Es zeigt sich, dass sich abhängig von ihrer Fachrichtung unterschiedliche Ansichten insbesondere über die Fairness des Marktmechanismus ergeben. Hauptsächlich ist dies auf Selbstselektionseffekte unter den Ökonomen zurückzuführen. Eine Konfrontation mit Rational Choice, mit der wir die Indoktrination der Ökonomen messen, führte aber kaum zu Änderungen bei der Einstellung der Ökonomen.

Summary: How (un-)fair are economists? New empirical evidence on market valuation and rationality The present document analyzes the differences between economists and noneconomists with respect to the valuation of various mechanisms for the allocation of a scarce resource, as well as the isolated influence of rational choice on the fairness judgment of economists. For this purpose, we conducted a survey based on Frey et al. (1993) and Haucap and Just (2010) among more than 600 students of different fields of studies from the University of Münster. As a result, we show that there are different attitudes depending on the field of study, especially with regard to the fairness of the market mechanism. This fact could mainly be explained by self-selection effects of economists. Furthermore, this article shows that indoctrination with rational choice had almost no effect on the judgment of economists.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Michael Pickhardt

Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games Content I. II. III. IV.

Introduction Linear Public Goods Games Pareto-optimality and Group Size Concluding Remarks

195 196 198 200

Literatur

201

Summary: Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games

201

I. Introduction In his seminal contribution, Mancur Olson (1971, p. 35) concludes that "the larger the group, the farther it will fall short of providing an optimal amount of a collective good". To put this differently, "sufficiently small groups can provide themselves with some amount of a collective good through the voluntary and rational action of one or more of their members [and] in this they are distinguished from really large groups" (Olson 1971, pp. 32-33). Olson's conclusion is essentially based on cost and benefit considerations. He shows, both analytically and graphically, that the collective good may be provided to some extent, if "the gain to the individual exceeds the total costs of providing the collective good to the group" (Olson 1971, p. 33). In this context it is worth emphasizing that the term 'gain' should be interpreted widely and may not only encompass incentives such as monetary and social ones, but also erotic, psychological, moral, etc. incentives (see Olson 1971, p. 61, fn. 17). The main purpose of the present paper is to reconfirm Olson's statement by using a novel alternative reasoning for his claim that small groups may find it easier to provide themselves with an optimal amount of collective or public goods than large groups do. Moreover, the analysis is conducted within the framework of linear public goods games or experiments, which emerged only after Olson's work as a popular tool for analyzing human subject behavior with respect to providing public goods. The paper is organized as follows. In the next section a typical linear public goods game is introduced and analyzed with respect to the purpose of this paper. Based on this analysis, I then discuss the connection between Pareto-optimality and group size in section three and derive a novel reasoning for Olson's statement. The final section summarizes and concludes.

196

Michael Pickhardt

II. Linear Public Goods Games The literature on linear public goods games has been surveyed by Chaudhuri (2011), Zelmer (2003) and Ledyard (1995), among others. In a generalized homogenous standard setting, each human subject in the experiment faces an identical linear payoff function of the following form, Ui=a(Bi-xi)

+0 Ki=l

(1)

where the index i denotes the i-th subject, with i = 1, ..., s, Ui denotes individual payoff, Bi represents the given individual endowment or budget in each round, xi denotes individual contribution to the public good, (Bi - xi) is the individual quantity of the private good and individual contributions to the public good summarized over all s subjects represent the quantity of the public good, which is consumed in a nonrival manner by all subjects and a and p are parameters of the model. Hence, in terms of Olson linear public goods games typically deal with inclusive goods and inclusive groups. Moreover, Ui, Bi and xi are usually measured in terms of tokens and right after the experiment subjects receive their payoff in local cash (e.g. Euro, Dollar) by applying a predetermined exchange rate between tokens and local cash. Also, the group size s and parameters a and p are selected by the experimenter in a way that a prisoner's dilemma situation arises, which is the case whenever the following condition holds: 1/s < MPCR < 1

(2)

where MPCR is the marginal per capita return of a contribution to the public good (e.g. see Croson 2007, p. 200). In general, the MPCR is the marginal incentive to contribute to the public good (e.g. see Ledyard 1995, p. 149). In the case of equation (1) the MPCR, therefore, amounts to: p/a. At this point it is worth emphasizing that the following analysis holds for any parameter set that simultaneously fits equations (1) and (2), and where subjects take their decisions voluntarily, cannot communicate with each other and spend their budgets in a discrete manner (see Hokamp and Pickhardt 2011, for further details). However, these conditions prevail in any standard linear public goods experiment. For illustrative purposes alone assume that Bi = 2 for all i, a = 1,(3 = 0.4, s = 3 and that subjects must spend their budgets token by token as in most linear public goods experiments. Hence, in the present case, subjects may choose between three alternatives: contributing their two tokens to the public good and keeping nothing as their private good, which is denoted as full-contribution (FC), contributing one token to the public good and keeping the other one as their private good, which is denoted as partial contribution (PC) or contributing nothing to the public good and keeping both tokens as their private good, which is denoted as non-contribution (NC). Following Pickhardt (2005, p. 142; 2003, p. 188), Table 1 shows the set of feasible allocations, subject to equation (1) and the parameter set. In particular, in Table 1 Alio, denotes the allocation, sFC (sPC, sNC) denotes the number of full-contributors (partial-

Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games • 1 9 7

contributors, non-contributors), UFC (UPC, UNC) denotes the individual payoff of a full-contributor (partial-contributor, non-contributor), sFCxUFC (sFOUFC, sFOUFC) denotes the payoff of the group of full-contributors (partial-contributors, non-contributors) which for brevity is not displayed, X (= Zi xi) denotes the total quantity of the public good, W denotes the group payoff or welfare level and CA denotes the number of clone allocations. Table 1: Set of Feasible Allocations with n = 3 Alio. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

SFC*UFC

spcx Upc

-

-

1^1.4

-

1x0.8 -

1x1.2 -

lxl.6 2x1.6 2x2 3x2.4

-

2x1.8 1x2.2 3x2.2 2x2.6

SNCxUHC

3x2 2x2.4 2x2.8 1x2.8 1x3.2 -

-

1x3.6

1x3

-

-

-

X 0 1 2 2 3 3 4 4 5 6

W 6 6.2 6.4 6.4 6.6 6.6 6.8 6.8 7 7.2

CA 0 2 2 2 5 0 2 2 2 0

Note: Figures set in bold denote a Pareto-optimal allocation.

For example, consider allocation three (Alio. 3) of Table 1. In this case one subject contributes his or her full budget to the public good (xi = 2; alternative FC) and receives an individual payoff of 0.8 tokens, whereas the two remaining subjects both contribute nothing to the public good (xi = 0; alternative NC) and receive an individual payoff of 2.8 tokens each. Likewise, in allocation six all three subjects choose alternative PC and receive an individual payoff of 2.2 tokens each, whereas in allocation ten they all choose alternative FC and get an individual payoff of 2.4 tokens each. Moreover, due to the prevailing prisoner dilemma deviation from contributing to the public good is always beneficial. For example, if allocation ten prevails a subject that switches ceteris paribus from alternative FC to NC will increase its individual payoff from 2.4 to 3.6 tokens in allocation eight. Hence, rational and selfish, individual payoff maximizing subjects will always choose not to contribute to the public good (NC) and allocation one represents the non-cooperative Nash-equilibrium. However, Table 1 also illustrates that pure altruists have an incentive to always contribute their entire endowment (FC) because each token contributed to the public good (X) increases group payoff or welfare (W) by 0.2 tokens. With respect to the purpose of the present paper, another interesting feature of Table 1 is that it allows for identifying the entire set of Pareto-optimal allocations as a subset of the total number of allocations. In fact, Pareto-optimal allocations are denoted in bold in Table 1, whereas Pareto-inferior allocations are not. For example, allocation five is Pareto-optimal because there is no other allocation in the set of feasible allocations that makes at least one subject better off without making any other subject worse off. In contrast, if we consider an allocation that is not Pareto-optimal, such as allocation six, then there is at least one allocation in the set of feasible allocations that allows one subject to

198

Michael Pickhardt

be better off, without making any other subject worse off, here allocation ten where all three subjects are better off (see Table 1). Finally, it is worth noting that allocations one to ten in Table 1 represent the set of Pareto-distinguishable allocations. For each of these allocations the permutations can be calculated from, s! / (sFC! sPC! sNC!), see Hokamp and Pickhardt (2011). In Table 1 column CA denotes the number of clone allocations, which is the permutation for this allocation minus one arbitrarily selected master allocation. The master allocation is shown in Table 1 as the Pareto-distinguishable allocation and the number of clone allocations then indicates that this master allocation has a number of Pareto-nondistinguishable clone allocations. The total number of allocations can be calculated by adding all master allocations plus their clone allocations, here: 10 + 17 = 27, according to Table 1. The total number of Pareto-optimal allocations is calculated by adding the allocations denoted in bold in the same manner, which gives: 6 + 13 = 19. This allows for calculating what Hokamp and Pickhardt (2011) call the Pareto-ratio, e.g. the number of Pareto-optimal allocations over the number of allocations, here: 19/27 = 0.70. In fact, we now have discussed linear public goods games in sufficient detail to move on to analyzing the relationship between Pareto-optimality and group size in the following section.

III. Pareto-optimality and Group Size To proceed, in a first step group size is increased ceteris paribus from three to five subjects. Again, this size is used for simplicity alone and with a view to keep the Table 2 readable. Inspection of Table 2 and a comparison with Table 1 reveals the following: i) the number of Pareto-distinguishable allocations is now 21 instead of 10, ii) the total number of allocations is up to 21 + 222 = 243, iii) the number of Pareto-optimal allocations is up to 6 + 45 = 51, iv) and the Pareto-ratio is down to 51/243 = 0.21.

Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games • 1 9 9

Table 2: Set of Feasible Allocations with s = 5 Alio. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

sFC*UFC

spcxUpc

-

-

-

1x0.8 -

lxl.2 -

1x1.6 2x1.6 -

1x2 2x2 1x2.4 2x2.4 3x2.4 2x2.8 3x2.8 3x3.2 4x3.2 4x3.6 5x4

lxl.4 2x1.8 -

3x2.2 1x2.2 4x2.6 2x2.6 -

5x3 3x3 1x3 4x3.4 2x3.4 -

3x3.8 1x3.8 2x4.2 -

1x4.6 -

sncxUNC 5x2 4x2.4 3x2.8 4x2.8 2x3.2 3x3.2 1x3.6 2x3.6 3x3.6 -

1x4 2x4 -

1x4.4 2x4.4 -

1x4.8 -

1x5.2 -

X 0 1 2 2 3 3 4 4 4 5 5 5 6 6 6 7 7 8 8 9 10

W 10 11 12 12 13 13 14 14 14 15 15 15 16 16 16 17 17 18 18 19 20

CA 0 4 9 4 9 19 4 29 9 0 19 29 4 29 9 9 19 9 4 4 0

Note: Alio, denotes the allocation, sFC (sPC, sNC) denotes the number of full-contributors (partialcontributors, non-contributors), UFC (UPC, UNC) denotes the individual payoff of a full-contributor (partial-contributor, non-contributor), sFCxUFC (sFOUFC, sFCxUFC) denotes the payoff of the group of full-contributors (partial-contributors, non-contributors) which for brevity is not displayed, X denotes the quantity of the public good, W denotes the group payoff or welfare level and CA denotes the number of clone allocations. Figures set in bold denote a Pareto-optimal allocation.

In fact, a closer inspection of Tables 1 and 2 shows the driving force behind the drop of the Pareto-ratio. Given the parameter values and equations (1) and (2), a Paretooptimal allocation strictly requires that no more than two subjects choose a deviation from the alternative full contribution, s F c• Put differently, the sum of the number of subjects having chosen the alternatives partial contribution, spc, and/or non-contribution, SNC, must not exceed two, that is, SPC + SNC < 2. Inspection of Table 1 and 2 shows that this condition is met by all Pareto-optimal allocations, which implies that this condition is independent from the group size s. However, since the group size must necessarily meet the condition, 5 = sFc + spc + SK, it immediately follows that an increase or decrease in the group size, s, requires an identical increase or decrease of the number of full contributors, sFC. Thus, in Table 1, with 5 = 3, at least one full contributor is required for a Pareto-optimal allocation, SFC ^ 1, whereas in Table 2, with s = 5, at least three full contributors are required for a Pareto-optimal allocation, SFC ^ 3. Again, inspection of Tables 1 and 2 confirms this result. Moreover, at this point it is worth noting that Hokamp and Pickhardt (2011) have derived and proved these conditions for the general case. Using their result four, Table 3 shows relevant values for higher group sizes.

200 •

Michael Pickhardt

Table 3: Group Size, Pareto-ratio and Full Contributors Group Size Pareto-ratio Spc + Sue SFC

3 19/27

5 51/243

10

50 10

201/3

75 50

5.001/3

21

100 75

11,251/3

32

20,001/3'°°

(-0.70)

(=0.21)

(=0.003)

(=6.96" )

(=1.85" )

(^.ss- 44 )

98

Note: Spc (spc, s N c) denotes the number of full-contributors (partial-contributors, non-contributors).

To summarize, Tables 1 through 3 demonstrate that the share of Pareto-optimal allocations among the overall set of feasible allocations is ceteris paribus much higher in small groups than in large groups. Moreover, other things being equal, in small groups a much lower share of the group members has to folly contribute to reach a Paretooptimal allocation than in large groups. In fact, if the group size gets very large, almost all group members have to fully contribute to the public good to reach a Pareto-optimal allocation. To put this differently, in small groups, the share of subjects, who are motivated according to Olson by an individual gain (of social, erotic, psychological, or moral nature) that exceeds the total costs of providing the collective good to the group, can be substantially smaller than in large groups.1 As there is no good reason to assume that the distribution of these behavioral (Olson) types in a group depends on the group size, small groups have a much larger chance to reach a Pareto-optimal provision level of public goods because they need a substantially lower share of group members who show such an Olson-type behavior pattern. Hence, on purely technical grounds, small groups will find it much easier to agree on a Pareto-optimal provision of public goods. To this extent, the preceding analysis represents a novel reasoning for Mancur Olson's (1971, p. 35) claim that "the larger the group, the farther it will fall short of providing an optimal amount of a collective good".

IV. Concluding Remarks By using the popular framework of linear public goods games and a new tool for identifying all Pareto-optimal allocations in such games, this note has shown that ceteris paribus there is a negative relation between the Pareto-ratio and the group size in these games. This finding supports the claim of Mancur Olson as noted above. Further, it must be emphasized that the analysis explicitly applies to what Olson has termed inclusive goods and inclusive groups. Therefore, arguments put forward by early critics of Olson's analysis, for example by Chamberlin (1974, p. 712), who argued that 1

Note that monetary incentives are excluded here because this would imply that for one or more group members the MPCR is higher than one, which would violate condition (2). However, Brandts and Schram (2001) and others did run such experiments. In contrast, motivations of a social, erotic, psychological, or moral nature are compatible with condition (2) and numerous experiments have shown that human subjects indeed contribute to public goods due to these and similar motivations.

Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games • 2 0 1

Olson's analysis would not hold for inclusive goods and groups, but just for exclusive ones, may be clearly rejected. Finally, by making use of the tools presented here and in Hokamp and Pickhardt (2011), it would now be possible to experimentally test whether human subjects do find it easier to agree on a Pareto-optimal allocation in linear public goods games, if they have the relevant information about the Pareto-optimality of the prevailing allocation. Thus, testing Olson's assertion with human subjects in laboratory environments seems to be a promising task for future research.

Literatur Brandts, J. and A. Schram (2001), Cooperation and noise in public goods experiments: applying the contribution function approach. Journal of Public Economics, Vol. 79, pp. 399-427. Chamberlin, J. (1974), Provision of Collective Goods as a Function of Group Size, The American Political Science Review, Vol. 68, pp. 707-716. Chaudhuri, A. (2011), Sustaining cooperation in laboratory public goods experiments: a selective survey of the literature, Experimental Economics, Vol. 14, pp. 47-83. Croson, R. T. A. (2007), Theories of commitment, altruism and reciprocity: Evidence from linear public goods games, Economic Inquiry, Vol. 45, pp. 199-216. Hokamp, S. and M. Pickhardt (2011), Pareto-optimality, Linear Public Goods Games, Discussion Paper, University of Muenster, http://www.wiwi.uni-muenster.de/cawm/forschen/ Download/WPHokampPickhardtPLPGG.pdf Ledyard, J. O. (1995), Public goods: A survey of experimental research, in: J.H. Kagel, A. Roth (eds.), The Handbook of Experimental Economics, Princeton, pp. 111-194. Olson, M. (1971/1965), The Logic of Collective Action - Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge. Pickhardt, M. (2003), Studien zur Theorie öffentlicher Güter, Marburg. Pickhardt, M. (2005), Teaching public goods theory with a classroom game. Journal of Economic Education, Vol. 36, pp. 145-159. Zelmer, J. (2003), Linear public goods experiments: A meta-analysis, Experimental Economics, Vol. 6, pp. 299-310. Summary: Pareto meets Olson - A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games In this paper I examine the relationship between Pareto-optimality and group size in linear public goods games or experiments. In particular, I use the standard setting of homogeneous linear public goods experiments and apply a recently developed tool to identify all Pareto-optimal allocations in such settings. It turns out that under any conceivable circumstances, ceteris paribus, small groups have a higher Pareto-ratio (Paretooptimal allocations over total allocations) than large groups. Hence, if Pareto-optimality of an allocation is a property that makes such allocations acceptable and maintainable, small groups will find is easier to provide Pareto-optimal amounts of a public good than large groups. This is a novel reasoning for Mancur Olson's claim, in particular, with respect to what he has termed inclusive goods and inclusive groups.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Ludger Heidbrink

Unternehmen als politische Akteure. Eine Ortsbestimmung zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung Inhalt I. Einleitung II. Zur veränderten gesellschaftlichen und politischen Rolle von Unternehmen.... III. Die Verantwortung von Unternehmen. Ein heuristischer Strukturierungsvorschlag IV. Von der Ordnungsverantwortung zur Systemverantwortung 1. Das Konzept der Ordnungsverantwortung 2. Grenzen der Ordnungsverantwortung V. Unternehmen als politische Akteure aus Sicht der Systemverantwortung VI. Fazit: Zuständigkeit, Legitimität und Fähigkeit von pol. Unternehmen

203 204 207 211 212 218 221 226

Literatur

227

Zusammenfassung

232

Summary: Companies as political actors. Locating regulatory responsibility and systemsresponsibility

232

I. Einleitung Die politische Rolle von privatwirtschaftlichen Unternehmen hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten stark verändert. Im Vollzug der Globalisierung werden von Unternehmen zunehmend Aufgaben und Leistungserbringungen erwartet, die bislang im Hoheitsgebiet der Nationalstaaten gelegen haben. Nicht nur multinational operierende Konzerne, sondern auch mittelständische Unternehmen sehen sich mit Verantwortungsanforderungen konfrontiert, die bis vor kurzem noch in den Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge und Gemeinwohlpolitik gefallen sind. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Konsequenzen die veränderte Verantwortungsverteilung zwischen staatlichem und privatwirtschaftlichem Sektor für die politische Rolle von Unternehmen hat. Die verstärkte Zuschreibung politischer Aufgaben an Unternehmen und ihre Übernahme setzen nicht nur voraus, dass Unternehmen den Status verantwortlicher Akteure und die Fähigkeit zur Erbringung öffentlicher Leistungen besitzen. Die Verschiebungen im öffentlich-privaten Verantwortungsgefiige

204

Ludger Heidbrink

werfen auch Fragen nach der Legitimität und Reichweite der politischen Aufgabenerfüllung durch Unternehmen auf. Zu diesem Zweck werde ich mich im Folgenden zuerst mit den Ursachen für diese Entwicklung befassen und danach mit den systematischen und pragmatischen Folgen, die sich fiir ein adäquates Verständnis der politischen Verantwortung von Unternehmen in globalisierten Marktgesellschaften ergeben. Meine These lautet, dass Unternehmen nicht nur die Handlungsverantwortung für die Folgen ihrer geschäftlichen Operationen und die Ordnungsverantwortung für die Mitgestaltung und Umsetzung von Rahmenregeln tragen, sondern darüber hinaus eine spezifische Systemverantwortung für die Aufrechterhaltung der Funktionsbedingungen des Gesellschaftssystems, das ihnen ihre operativen Tätigkeiten ermöglicht. In einer kritischen Auseinandersetzung mit der Ordonomik werde ich zeigen, dass sich die systemische Verantwortung von Unternehmen nicht hinreichend mit ordnungsökonomischen Argumenten begründen lässt, da hierbei ein verkürztes Moral- und Politikverständnis zugrunde gelegt wird, das den Risiken des Diskurs- und Regelversagens auf volatilen und entgrenzten Märkten nicht gerecht wird. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung wird lauten, dass es für Unternehmen im langfristigen Interesse liegt, politische Mitverantwortung nicht nur aus ökonomischen Nutzenkalkülen, sondern aus Gründen der gesellschaftlichen Krisenvermeidung zu übernehmen.

II. Zur veränderten gesellschaftlichen und politischen Rolle von Unter nehmen Unternehmen sind in der Mehrzahl privatwirtschaftliche Organisationen mit dem Zweck der Gewinnerzielung zur Erfüllung von Interessen legitimierter Anspruchsgruppen im Rahmen bestehender Grundordnungen. Sie unterliegen als juristische Personen rechtsstaatlichen Gesetzen und Regelungen, durch die ihnen einklagbare Pflichten und Rechte zukommen, die - national und kulturell bedingt - unterschiedliche Reichweiten besitzen. Während in den USA Firmen und Konzerne als „legal persons" einen bürgerrechtsähnlichen Status besitzen, der zivil- und strafrechtliche Sanktionen erlaubt,1 unterliegen Unternehmen in Europa, insbesondere in Deutschland, keiner genuin strafrechtlichen Haftung, die gesamtschuldnerische Sanktionen nach sich zieht.2 Unternehmen stellen je nach Rechtskultur und nationalstaatlicher Verfassung „legal fictions" dar, die der arbeitsteiligen Wertschöpfung mit kooperativen Mitteln innerhalb einer existierenden Sozialstruktur dienen.3 Hieraus resultieren grundsätzliche Schwierigkeiten der Verantwortungszuschreibung an privatwirtschaftliche Unternehmen innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts. Als legale Konstruktion eigenen Rechts sieht sich die Unternehmung ähnlich natürlichen Personen mit dem Problem konfrontiert, ein Akteur des Marktes und der Politik zugleich zu sein. Als Marktakteure verfolgen Firmen das Ziel der Gewinnsteigerung im

1 2 3

Vgl. Matys (2011, S. 42 ff). Vgl. Maurach und Zip/(1992, S. 187 f.). Siehe auch Heine (1995, S. 201 ff.). Vgl. Wieland(2009, S. 262 f.).

Unternehmen als politische Akteure

205

Interesse ihrer Investoren, während sie als politische Akteure dem Gebot der Gemeinwohlorientierung unterliegen. Als marktlich und politisch eingebettete Organisation muss sich die moderne Unternehmung mit dem auseinandersetzen, was Kenneth Goodpaster das „Stakeholder-Paradox" genannt hat, nämlich gesellschaftliche Normen und Ansprüche zu erfüllen, ohne dabei wirtschaftliche Treuhänderpflichten zu verletzen.4 Diese Herausforderung wird durch den Gestaltwandel des Nationalstaates bei der hierarchischen Steuerung öffentlicher Prozesse verstärkt. Die Veränderung der Staatstätigkeit aufgrund globaler Vorgänge der Entgrenzung und Transnationalisierung stellt keine eindeutige Entwicklung dar, die sich auf den Nenner einer „Entzauberung des Staates" oder der „Govemance without Government" bringen ließe.5 Vielmehr hat die Staatstätigkeit, wenn man sich die Umwelt-, Sozial- und zuletzt die Finanzmarktpolitik anschaut, in ihrer Quantität sogar zugenommen. Die eigentlichen Veränderungen liegen vor allem in den Instrumenten und Verfahren der staatlichen Steuerung, die nicht mehr auf Top-Down-Strategien und Command-and-Control-Mechanismen beruht, sondern auf den Prinzipien der regulierten Selbstregulierung und der Förderung kooperativer Arrangements, wie sie etwa in Public Private Partnerships oder der Beteiligung von Unternehmen an Normverfahren zum Ausdruck kommen.6 Mit dem Übergang zu heterarchischen und kontextuellen Formen der Steuerung haben nicht-staatliche Akteure an Bedeutung gewonnen, die in Gestalt von transnationalen Organisationen und privatwirtschaftlichen Unternehmen politisch relevanten Einfluss auf kollektive öffentliche Prozesse ausüben. Die Politisierung von Firmen und Konzernen ist deshalb weniger Ausdruck einer Abdankung des Nationalstaates als vielmehr eines gravierenden Wandels von Governanceverfahren, durch die der demokratische Interventionsstaat klassischer Prägung vor eine Reihe von neuen Herausforderungen gestellt wird, bei deren Bewältigung er auf die aktive Beteiligung von Unternehmen angewiesen ist.7 Zu diesen neuen demokratiepolitischen Herausforderungen, die im Schnittfeld von staatlicher Daseinsvorsorge und privatwirtschaftlicher Partizipation liegen, lassen sich im Anschluss an Michael Zürn und Helmut Weidner vor allem drei substanzielle Aufgabenfelder zählen:8 Zum einen geht es um den ungehinderten Ablauf von Transaktionen auf Märkten, die etwa durch die Beseitigung von Handelsbarrieren, die Festlegung von Tarifen und Zöllen, die Gestaltung von Handelsabkommen oder die Bestimmung von Wettbewerbsregeln geleistet werden. Zum zweiten müssen negative Folgen von Märkten eingegrenzt werden, die in Form selbstgefahrdender Externalisierungen auftreten können. Hierzu zählen umweltpolitische Maßnahmen der Ressourcenschonung und Energieeffizienz, aber auch finanzpolitische Instrumente der Bankenaufsicht und Kapitalsicherung, die der Stabilisierung von Märkten dienen. Zum dritten geht es um die Korrektur sozial unerwünschter Marktergebnisse, die sich in Form verteilungspolitischer Interventionen durchfuhren lassen und zu denen u.a. die Festlegung von Mindest-

4 5 6 7 8

Goodpaster (1991, S. 63). Vgl. Wilike (1983); Rosenau und Czempiel (1992). Vgl. Schupperl (2007, S. 475 ff.). Vgl. Mayntz (2007); Becker, John und Schirm (2007, S. 83 ff.); Wolf(2(X)S, S. 54 ff.). Vgl. Zürn und Weidner (2009, S. 158 ff.).

206

Ludger Heidbrink

löhnen, Sozial- und Arbeitslosenhilfe oder Steuererhöhungen zur Finanzierung von Ausbildungs- und Entwicklungsmaßnahmen gehören. Bei der Schaffung, Stabilisierung und Korrektur von Marktergebnissen stößt der Nationalstaat nicht nur durch seine begrenzte Reichweite an Steuerungsgrenzen, sondern auch aufgrund eines globalen Politikwettbewerbs, der in seiner Tendenz zu einer Deregulierungsspirale, dem levelling down von Sozial- und Umweltstandards sowie zur Schwächung nationaler Konkurrenzfähigkeit führt.9 Wie auch immer man die Deregulierungsdynamik in Hinsicht auf die Kontrolle globaler Marktprozesse einschätzt, steht zumindest fest, dass der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten zu einem erheblichen Teil politikbedingt ist und mit staatlich verursachten Konkurrenzkonflikten und Kooperationsdilemmata zusammenhängt, wie sie regelmäßig bei der Bestimmung transnationaler Rahmenregeln, etwa in der Klima- und Sicherheitspolitik, sichtbar werden. Angesichts dieser teils strukturell bedingten, teils hausgemachten Souveränitätseinbußen stehen dem demokratischen Interventionsstaat mehrere Möglichkeiten des Gegensteuerns zur Verfügung. Er kann auf marktkonforme Steuerungsinstrumente setzen, um die unerwünschten und schädlichen Effekte von Märkten im Griff zu halten. In diesen Bereich fallen ökonomische und rechtliche Mechanismen der Verteuerung der Gemeingüternutzung, der Verschärfung von Verschmutzungsverboten oder des Handels mit Emissionszertifikaten. Ein weiteres Mittel sind Informations- und Labeling-Strategien, die zu einer höheren Transparenz und Bewertbarkeit von Gütern führen oder der Verbraucheraufklärung und Stakeholder-Kommunikation dienen. Ein ähnlicher Weg besteht in der Selbstverpflichtung auf soziale und ökologische Grundstandards wie die ISO 26000, die sich auf die Social Responsibility von Organisationen bezieht, oder in der öffentlichen Moralisierung des Unternehmensverhaltens, wie sie durch die EUStrategie zur gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung und nationale CSRProgramme betrieben wird.10 Hierbei geht der demokratische Interventionsstaat verstärkt den Weg der supra- und transnationalen Umsetzung politischer Regelungen und der Etablierung von Institutionen, die über die Staatsgrenzen hinweg zur Kontrolle von Märkten und der Vermeidung gesellschaftlicher Schadensfolgen beitragen. In diesen Bereich fallen nicht nur globale Funktionsregime wie die WTO oder der internationale Strafgerichtshof, sondern auch überstaatliche Verträge und Rechtsabkommen, die auf die Förderung von Handelsprozessen und die Eindämmung unerwünschter Marktergebnisse zielen. Hierin gehört auch der Zuwachs transnationalen Regierens, an dem nicht-staatliche Akteure wie NGOs oder multinationale Konzerne beteiligt sind. Die Kooperation staatlicher und nichtstaatlicher Akteure und Organisationen kann sich in internationalen Standardisierungen und Zertifizierungen niederschlagen, zu denen etwa die OECD- und ILO-Leitlinien, ISO- und DIN-Normen sowie Managementsysteme und Verhaltenskodizes wie die Business Social Compliance Initiative (BSCI) oder das Forest Stewardship Council (FSC) zählen. Darüber hinaus schließen sich immer mehr Unternehmen, gesellschaftliche Akteure und staatliche Einrichtungen zu transnationalen Public Private Partnerships oder

9

10

Zu einer differenzierten Sicht der globalisierungsbedingten Race-to-the-Bottom-Diagnose vgl. Noll (2010, S. 312 ff.). Vgl. Schmidpeter und Palz (2008); Habisch und Brychuk (2011); Schmiedeknecht und Wieland {2012).

Unternehmen als politische Akteure

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Multistakeholder-Initiativen zusammen, die beispielsweise in Gestalt des Global Compact, der UN Guiding Principles on Business and Human Rights oder der Global Business Initiative on Human Rights öffentliche Güter produzieren und politische Regelungsleistungen erbringen, zu denen der Nationalstaat alleine nicht in der Lage ist." In dieser Entwicklung hin zu einer „Politisierung ohne Staat" 12 liegt die veränderte gesellschaftliche und politische Rolle von Unternehmen begründet. Insbesondere global agierende Kapitalgesellschaften und börsennotierte transnationale Unternehmen finden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Situation wieder, in der sie „willingly or not, become politically engaged". 13 Die Diskussion um Regeln der Good Govemance und Corporate Governance, wie sie auf betriebs- und volkswirtschaftlicher Seite gefuhrt wird, bzw. um Global Governance, New Governance und Public Private Governance, wie sie auf sozial- und politikwissenschaftlicher Seite ausgetragen wird, ist Ausdruck einer veränderten Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, bei der Firmen und Konzerne eine neuartige Position zwischen marktkonformen und politikstrategischen Steuerungsformen einnehmen, mit der sie sich nolens volens auseinander setzen müssen. 14 Schlagworte von der Politisierung der Ökonomie und der Ökonomisierung der Politik erfassen deshalb nur pauschal und undifferenziert diese neuartige Lage, in der privatwirtschaftlichen Unternehmen gesellschaftliche Aufgaben und politische Zielerfullungen zu einem Teil von außen zugeschrieben werden, zu einem anderen Teil aktiv von ihnen übernommen werden. Die zentrale Herausforderung, mit der Unternehmen konfrontiert sind, besteht angesichts der veränderten Steuerungskompetenzen des demokratischen Interventionsstaates in erster Linie darin, eine doppelte Wertschöpfung zu betreiben, bei der marktliche und politische Zwecke miteinander verbunden werden. Diese doppelte Wertschöpfung wirft Fragen nach der Zuständigkeit, Legitimität und Fähigkeit des politischen Unternehmens auf, die aus einer adäquaten Heuristik der Unternehmensverantwortung abgeleitet werden müssen.

III. Die Verantwortung von Unternehmen. Ein heuristischer Strukturierungsvorschlag Eine adäquate Heuristik der Unternehmensverantwortung richtet sich auf den speziellen Akteursstatus und die besondere Organisationsform von Unternehmen. Privatwirtschaftliche Unternehmen lassen sich grundsätzlich aus zwei Perspektiven, nämlich dem methodologischen Individualismus und methodologischen Kollektivismus beschreiben. 15 Aus Sicht des methodologischen Individualismus bilden Unternehmen höherstufige Handlungseinheiten, deren Operationen aus der Summe von Einzelhandlungen hervorgehen und die als korporative Akteure keine eigenständige Kollektiwerantwortung, sondern eine abgeleitete Individualverantwortung tragen. Grundlage der Ver-

11 12 13 14 15

Vgl. Lukas (2007); Crane, Matten und Moon (2008); Weitstem (2009). Zürn und Weidner (2009, S. 179). Scherer, Palazzo und Baumann (2006, S. 507). Siehe u.a. die Beiträge von Fuchs und Nölke in Schirm (2004). Vgl. historisch Schumpeter (1970/1908, S. 88 ff.); Hayek (1952, S. 15 f.); dazu Udehn (2001).

208

Ludger Heidbrink

antwortungszuschreibung ist das rationale Individuum, das in Kooperation mit anderen Akteuren und innerhalb der Unternehmensorganisation eigeninteressierte Ziele verfolgt. Aus Sicht des methodologischen Kollektivismus stellen Unternehmen dagegen korporative Handlungseinheiten dar, die autonom operieren und eine eigenständige Kollektivverantwortung tragen, die sich nicht kausal auf individuelle Handlungen zurückführen lässt. Grundlage der Verantwortungszuschreibung ist eine kollektive Intentionalität der Unternehmensorganisation, die unabhängig von individuellen Entscheidungen die Umsetzung von Unternehmenszielen verfolgt.16 Während der methodologische Individualismus die unternehmerische Organisation als korporativen Akteur betrachtet, dem Verantwortung nur auf der Grundlage von und in Analogie zu natürlichen Personen zugeschrieben werden kann, sieht der methodologische Kollektivismus in Unternehmen autonome soziale Einheiten, die ohne den Rückgriff auf natürliche Personen Verantwortung tragen können. Diese Unterscheidung ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern besitzt unmittelbare Auswirkungen auf die Zuständigkeit von Unternehmen für ihre operativen Folgen und ihre Rolle als eigenständige soziale und politische Akteure. Denn eine Heuristik der Unternehmensverantwortung, die davon ausgeht, dass in Korporationen die Individuen die letztinstanzlichen Verantwortungsträger sind, besitzt den Vorteil, das Operieren von Unternehmen auf personale Akteure zurückführen und durch individuelle Anreize und Präferenzbildungen steuern zu können. Der Nachteil der individualistischen Unternehmensverantwortung besteht allerdings darin, dass Verantwortungsdefizite auf der Organisationsebene nicht genügend erfasst werden und Verantwortungslücken in der Unternehmensstruktur und -Verfassung keine adäquate Berücksichtigung finden. Dagegen besitzt die kollektivistische Heuristik der Unternehmensverantwortung den Vorteil, dass sich Unternehmen als eigenständige Verantwortungseinheiten erfassen lassen und durch kollektive Rahmenregeln und Steuerungsmechanismen gelenkt werden können. Der Nachteil besteht darin, dass Verantwortungsdefizite auf der Individualebene nicht ausreichend erfasst werden, die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten an Organisationen erheblich voraussetzungsvoller und die regulative Lenkung von Kollektiveinheiten weitaus schwieriger ist.17 Ein sinnvoller Weg besteht darin, die individualistische und die kollektivistische Sichtweise miteinander zu verbinden, um eine wirklichkeitsangemessene Heuristik der Unternehmensverantwortung zu erhalten, da privatwirtschaftliche Organisationen de facto als Kombination aus individuellen und kollektiven Handlungselementen beschrieben werden müssen. Daran anschließend bedarf es einer Erweiterung der handlungstheoretischen Sichtweise von Unternehmen um eine systemtheoretische Perspektive, die dafür sorgt, dass die operative und normative Eigenlogik von Unternehmen innerhalb ausdifferenzierter sozialer Subsysteme eine adäquate Berücksichtigung findet.18 Unternehmen lassen sich im Anschluss an Peter French und Patricia Werhane als „sekundäre moralische Akteure"19definieren, deren genereller Verantwortungsstatus aus den Rechten und Pflichten individueller Akteure resultiert und sich in einem Analogie16 17 18 19

Vgl. Neuhäuser (2011, S. 133 ff.). Vgl. Coleman (1985, S. 89 f.). Vgl. Heidbrink (2010a, S. 193 ff.). Werhane (\992, S. 330).

Unternehmen als politische Akteure

209

schluss darauf zurückführen lässt. Die Position der analogen Verantwortung zwischen Individuen und Korporationen wird auch von Kenneth Goodpaster vertreten, der die „responsible Corporation" aus der prinzipiellen Übertragbarkeit moralischer Prinzipien („moral projection") von Personen auf Unternehmen ableitet.20 Korporationen sind danach den strukturell gleichen normativen Verpflichtungen unterworfen wie Individualakteure. Voraussetzung hierfür ist, dass Unternehmen über interne Entscheidungsstrukturen verfügen, die es ihnen ermöglichen, ähnlich wie Personen zurechnungsfähige Handlungsentscheidungen zu generieren. Nach French ist eine solche „Corporation's Internal Decision Structure" (CID-Structure), die auf der organisationsinternen Regelung von Macht- und Anerkennungsverhältnissen beruht, eine zentrale Bedingung dafür, Unternehmen als vollwertige Verantwortungsakteure zu behandeln.21 Unter diesen Voraussetzungen lassen sich Unternehmen als höherstufige Handlungseinheiten betrachten, die nicht nur juristische, sondern auch moralische Rechte und Pflichten besitzen, für deren Erfüllung sie sui generis verantwortlich sind. Wesentlich für die Zuschreibung von Verantwortung ist, dass Unternehmen durch eine strukturelle Homogenität gekennzeichnet sind, die es ihnen ermöglicht, intentionale Handlungsprozesse auszubilden und umzusetzen. In welchem Maß dabei personale Akteure Mitverantwortung tragen, hängt von den innerkorporativen Organisationsstrukturen sowie formellen und informellen Regeln der Verantwortungsteilung ab, die unter anderem auf der Zuständigkeit für Aufgaben und Gebiete, internen Hierarchien und Weisungsbefugnissen, Kompetenzfeldern und Machtverhältnissen beruhen.22 Die Beschreibung von Unternehmen als sekundäre moralische Akteure erlaubt eine Verbindung von individualistischen und kollektivistischen Handlungselementen. Gleichwohl besitzen Korporationen in dieser Sichtweise nur eine analoge und derivative Verantwortung für ihre Operationen, die aus dem Zusammenwirken primärer Einzelhandlungen von Individualakteuren in der Korporation abgeleitet wird. Denn das Zusammenspiel von Einzelhandlungen in der Korporation beruht auf formellen und informellen Regeln sowie individuellen Handlungsintentionen, die nicht in gleicher Weise für die korporative Gesamtorganisation gelten. Die Ausbildung von Intentionen und die normative Verhaltenskontrolle folgen auf der Ebene der Korporation einer anderen Steuerungs- und Zurechnungslogik als auf der Ebene der Individualaktionen.23 Gerade dort, wo in der Tradition der legal person und der juristischen Person privatwirtschaftliche Korporationen moralisch und rechtlich verantwortbar gemacht werden, bleibt die Zurechenbarkeit im wörtlichen Sinn an den Personenstatus gebunden. Auch dann, wenn eine kollektivistische Erweiterung der individualistischen Organisationsverfassung stattfindet und Unternehmen als Personen eigenen Rechts behandelt werden, stellt der individualistische Handlungsbegriff weiter den leitenden Maßstab der Bewertung dar, so dass die Rede von korporativer Verantwortung nur dort Sinn macht, wo sie sich auf individuelle Verantwortung zurückführen lässt.24

20 21 22 23 24

Goodpaster (1983, S. 14 f.). Vgl. French (1992, S. 322 f.). Vgl. Lenk und Maring (1995, S. 276 ff.). Zur Debatte um kollektive Intentionalität siehe Schmid und Schweikard (2009). Vgl. Seebaß (2QQ\,S. 90).

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Ludger Heidbrink

Will man also nicht den Fehler des Reduktionismus begehen und kollektive Prozesse in letzter Konsequenz wieder mit individuellen Handlungen identifizieren, bedarf es einer veränderten Heuristik der Unternehmensverantwortung. Der Umstand, dass Korporationen durch eine operative und normative Eigenlogik gekennzeichnet sind, macht eine systemische Erweiterung der an personalistischen Kriterien orientierten korporativen Verantwortungsmodelle erforderlich. Im Rückgriff auf die Systemtheorie können Korporationen als autonome Handlungseinheiten innerhalb des sozialen Subsystems der Wirtschaft beschrieben werden,25 die durch spezifische Verantwortungsformen in Bezug auf die Umwelt dieses Subsystems gekennzeichnet sind. Die Notwendigkeit eines eigenständigen Konzepts der Systemverantwortung resultiert daraus, dass Unternehmen selbstständige Organisationssysteme im Wirtschaftssystem als einem gesellschaftlichen Teilsystem sind und dadurch der spezifischen Eigenlogik komplexer Prozesse unterworfen sind, „die zwar durch Handlungen bzw. Entscheidungen bedingt sind (kulturelle Prozesse), die aber nicht sinnvoll als irgend jemandes Handlung konzipierbar sind (subjektlose Prozesse)"26. Gegenstand der Systemverantwortung sind Systemprozesse, die zwar aus Handlungsprozessen hervorgehen, sich aber nicht auf diese reduzieren lassen, da sie - mit den Worten Hayeks - nicht auf „bewusstes Planen" zurückgeführt werden können, sondern „das unvorhergesehene Ergebnis der Handlungen der Individuen"27 sind. Die Systemverantwortung stellt deshalb nicht nur eine Erweiterung akteurszentrierter Verantwortungstheorien dar, sondern bezieht die Eigendynamik und Selbstreproduktion (Autopoiesis) sozialer Systemprozesse mit ein, die auf nicht-linearen Vollzügen der emergenten Selbstorganisation und der Entstehung unintendierter Systemfolgen beruhen.28 Im Unterschied zu akteurszentrierten Verantwortungsmodellen richtet sich die Systemverantwortung nicht nur auf die Verantwortung in Systemen, sondern bezieht sich darüber hinaus auf die Verantwortung von Systemen selbst. Die Systemverantwortung umfasst drei Hauptfunktionen.29 Hierzu gehört zum einen die Einbeziehung von Ungewissheitsprozessen, die sich aus der Eigendynamik von Systemen ergeben und in systemtypischen Faktoren der Intransparenz (fehlende Informationen), der Unsicherheit (mangelnde Planung und Kontrolle) und nicht-intendierter Risikofolgen (soziale und ökologische Schäden) bestehen.30 Ein zweites Kennzeichen ist die Erweiterung der Handlungsverantwortung um eine Designverantwortung, die sich auf die Gestaltung organisationaler Strukturen (Mitarbeiter- und Führungsprozesse), die Förderung der Unternehmenskultur (z.B. durch Wertemanagement) oder die Institutionalisierung von Verhaltensstandards (etwa durch Kodizes und Leitbilder) richtet, die zur Selbstbindung von Korporationen an Prinzipien der responsiven Unternehmensorganisation beitragen.31 Zum diitten beruht die Systemverantwortung auf Verfahren der Kontextsteuerung, die mit politischen und rechtlichen Instrumenten der „Regulierung selbstregulati-

25 26 27 28 29 30 31

Siehe Luhmann (1994). Zum Handlungsstatus von Systemen vgl. Willke (2000, S. 167 ff.). Lübbe (1998, S. 15). tfaye*(1952,S. 17). Vgl. Bühl (1998, S. 92 ff.). Vgl. zum Folgenden ausfuhrlicher Heidbrink (2003, S. 244 ff.); Heidbrink (2007a, S. 46 ff.). Vgl. Heidbrink (201 Ob, S. 4 ff.). Vgl. Bühl (1998, S. 30 ff.); Ortmann (2010, S. 253 f.); Küpers (2008, S. 319 ff.).

Unternehmen als politische Akteure

211

ver Prozesse"32 dafür sorgt, dass Unternehmen rechts-, sozial- und umweltstaatliche Ziele der Gemeinwohlorientierung einhalten und sich aus kooperativen Interessen an der Erbringung öffentlicher Leistungen beteiligen.33 Mit dem Instrument der Kontextsteuerung wird weder direkt in marktwirtschaftliche Prozesse und Unternehmen interveniert noch werden über Rahmenregeln korporative Handlungsanreize gesetzt, sondern durch „strukturelle Koppelungen" und die „Interpénétration" von politischem und wirtschaftlichem System werden Unternehmen dazu gebracht, eigene Verfahren der gesellschaftsverträglichen Selbststeuerung (z.B. Programme des Umwelt- und Sozialmanagements) auszubilden und umzusetzen.34 Die hier vorgeschlagene Systemheuristik erlaubt es, Handlungs- und Systemprozesse miteinander zu verbinden und Unternehmen als eigenständige Handlungssysteme zu erfassen, deren kollektive Zwecksetzungen nicht auf individuelle Absichten zurückgeführt werden müssen, wohl aber personale Handlungen einschließen.35 Die Systemverantwortung zielt auf die Ausbildung von Handlungssystemen mit autonomer Verantwortungsbereitschaft und Verantwortungsfáhigkeit, indem sie die institutionelle Steuerung von Korporationen mit unternehmerischen Praktiken der Selbstverpflichtung verbindet und dabei den Fokus auf die faktische Einbettung von Unternehmen in transnationale Prozesse der Politisierung ohne Staatlichkeit setzt. Im weiteren Verlauf soll gezeigt werden, dass das systemische gegenüber individualistischen und kollektivistischen Verantwortungsmodellen den Vorzug besitzt, durch die Verbindung von Handlungs- und Systemprozessen eine „Absorption von Unsicherheit"36 zu ermöglichen, die zur Folge hat, dass Unternehmen auch dort politische Mitverantwortung zugeschrieben werden kann, wo volatile und entgrenzte Marktbedingungen herrschen und Akteure über kein sicheres Rationalverhalten verfugen.37

IV. Von der Ordnungsverantwortung zur Systemverantwortung Die systemische Erweiterung sekundärer korporativer Verantwortung, so lautet die bisher verfolgte Hypothese, hat den heuristischen Vorteil, dass sich Unternehmen auch dann als moralfähige Organisationen adressieren lassen, wenn sie in transnationale politische Prozesse eingebunden und disparaten gesellschaftlichen Ansprüchen ausgesetzt sind. Die Systemverantwortung soll als heuristischer Ansatz dafür sorgen, dass die heterogenen Obligationsformen genauer in den Blick genommen werden können, die aus dem Gestaltwandel des Nationalstaates und der Integration von Unternehmen in MultiStakeholder-Netzwerke resultieren, durch die globale Marktgesellschaften in wachsendem Maß gekennzeichnet sind. Wie eingangs beschrieben, haben sich aufgrund veränderter staatlicher Governance zwischen Unternehmen, NGOs, zivilgesellschaftlichen Akteuren und politischen Institu-

32 33 34 35 36 37

Hoffmann-Riem (2001, S. 28); vgl. auch Hoffmann-Riem (2000, S. 56 ff.); Willke (1997, S. 72 ff.). Vgl. Di Fabio (1999, S. 93 ff.). Vgl. Münch (1996, S. 45 ff.). Vgl. auch Maring (2001, S. 318 ff.). Luhmann (1999, S. 174). Siehe hierzu schon Albert (1967, S. 37 ff.).

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tionen überlappende Verantwortungssektoren herausgebildet, die neue Verfahren der Verantwortungsteilung und -Verteilung erfordern, die von der bislang nationalstaatlich organisierten Erfüllungs- über die Gewährleistungs- und Infrastruktur- bis zur Auffangverantwortung reichen.38 Vor diesem Hintergrund stößt auch das Konzept des sekundären Akteurs, das den kollektivistischen Ansätzen gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung zugrunde liegt, an systematische und pragmatische Grenzen. Der Grund liegt darin, dass es auf zwei Prämissen beruht, die unter den Umständen der transnationalen Situation von Unternehmen nicht mehr ohne weiteres erfüllt sind. Es setzt voraus, „that we can hold institutions such as corporations responsible, morally and socially responsible, just as we hold individual people morally and socially responsible." Und es geht davon aus, dass „even if we can make a case for institutional responsibility (...) we then have to address the extent of that accountability"39 in Analogie zu personalistischen Verantwortungskriterien. Das Konzept sekundärer korporativer Verantwortung gerät, anders gesagt, dort an Grenzen, wo „corporations are mezzosystems embedded in larger political, economic, legal, and cultural systems". Die multidimensionale Einbettung von Unternehmen macht einen „systems approach"40 erforderlich, der dazu beiträgt, die funktionale und normative Vernetzung von Unternehmen mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu bestimmen und die daraus resultierenden Verantwortlichkeiten zu definieren. Vor dem Hintergrund wachsender moralischer und politischer Ansprüche an Unternehmen, die von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite artikuliert werden, besteht der Vorteil des Systemansatzes darin, dass er „takes into account what each party brings to the table, in terms of both claims and capabilities, and holds each to some measure of accountability."41 Die Notwendigkeit der systemischen Erweiterung der Unternehmensverantwortung möchte ich im Folgenden vor dem Hintergrund des Konzepts der Ordnungsverantwortung deutlich machen, so wie es aus ordonomischer Sicht entwickelt worden ist.42

1. Das Konzept der Ordnungsverantwortung Die ordonomische Konzeption der Unternehmensverantwortung beruht auf einer ökonomischen Theorie der Moral, wonach individuelle oder kollektive Akteure aus zweckrationalen Gründen moralische Ziele verfolgen, um wechselseitige Vorteile zu realisieren. Das Motiv des Eigeninteresses als Grundlage moralischen Handelns wird dabei nicht auf individuelle Dispositionen zurückgeführt, sondern aus sozial beobachtbaren Verhaltensweisen abgeleitet. „Das entscheidende Kriterium dafür, ob bzw. inwieweit eigeninteressiertes Verhalten als moralisch qualifiziert werden kann, wird nicht innerhalb, sondern außerhalb des Individuums verortet. Für die Zuschreibung von Moral kommt es demnach nicht darauf an, was ein Handelnder denkt, sondern wie er sich 38 39 40

41 42

Siehe genauer Heidbrink (2007b, S. 97 ff.). Werhane (2007, S. 461). Werhane (2007, S. 465). Zum „systems approach" in einem erweiterten evolutionären Sinn vgl. Laszlo und Krippner (1998, S. 54). Werhane (2007, S. 472). Zum ordononomischen Ansatz vgl. Pies (2009, S. 2 ff.).

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213

im sozialen Raum anderen gegenüber verhält. Mithin ist das aus ökonomischer Sicht ausschlaggebende Kriterium die - empirisch beobachtbare - Unterscheidung zwischen einer einseitigen Besserstellung auf Kosten anderer und einer wechselseitigen Besserstellung durch Realisierung gemeinsamer Vorteile."43 Korporative Akteure handeln somit dann moralisch, wenn sie dilemmatische Entscheidungssituationen durch Selbstbindungen auflösen, um gemeinsame Besserstellungen zu erreichen.44 Auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses des Homo oeconomicus dient die Moral der Verwirklichung individueller Vorteile durch kollektive Kooperationen. Dieses vorteilsorientierte Verständnis der Moral beansprucht nicht nur für sich den empirischen Vorzug der Beobachtbarkeit moralischen Handelns, sondern auch den pragmatischen Vorzug der Anreizkompatibilität, da Akteure durch Stimuli und Sanktionen dazu gebracht werden können, aus eigenen Interessen fremden Zielen zu folgen.45 Hierzu sind aus ordonomischer Perspektive vor allem Unternehmen in der Lage, weil sie als korporative Akteure über eine spezifische Selbstbindungsfahigkeit verfugen, die natürlichen Personen in mehrfacher Hinsicht überlegen ist: „Die überlegene Selbstbindungsfahigkeit korporativer Akteure und folglich ihre überlegene Verantwortungsfähigkeit resultiert aus zwei Faktoren, die sich wechselseitig unterstützen und verstärken: Erstens verfügen korporative Akteure im Unterschied zu natürlichen Personen über einen prinzipiell unendlichen Zeithorizont. Dadurch ist es ihnen möglich, langfristige Investitionen zu tätigen, die sich für einzelne Individuen nicht auszahlen würden. Zweitens wird der .Charakter' eines korporativen Akteurs durch eine Organisationsverfassung konstituiert, die formelle und informelle Regeln umfasst. (...) Hierdurch ist der ,Charakter' eines korporativen Akteurs leichter programmierbar (...) als der Charakter einer natürlichen Person. Korporative Akteure sind verlässlichere, berechenbarere Interaktionspartner. (...) Folglich sind sie ganz hervorragend dazu geeignet, nicht nur sich passiv Verantwortung zuschreiben zu lassen, sondern auch - im Wege individueller Selbstbindung - Verantwortung aktiv tatsächlich zu übernehmen." 46

Die korporative Selbstbindungskompetenz ist aus ordonomischer Sicht ein wesentlicher Grund dafür, dass Unternehmen nicht nur in der Lage sind, sondern auch die Bereitschaft besitzen, den „Trade Off' 4 7 zwischen Moral und Eigeninteresse aufzulösen, der wettbewerblich verfasste Marktwirtschaften unter den Bedingungen interaktionslogischer Handlungsprozesse und dem Vorrang eines individualethischen Verantwortungsprinzips kennzeichnet. Während es unter individualethischen Vorzeichen entweder zu einer zynischen Missachtung oder einer moralistischen Überformung von Verantwortung kommen kann, die aus einer fortgesetzten „Diskrepanz zwischen Sozialstruktur und Semantik",48 also dem Gegensatz von realer gesellschaftlicher Verfassung und ideeller Beschreibung hervorgehen, sorgt eine interaktionslogische und kooperationsethische Erweiterung des Verantwortungsprinzips dafür, dass Faktizität und Normativität, soziale Wirklichkeit und moralische Reflexion in Übereinstimmung gebracht werden können. Unter kooperationsethischen Vorzeichen folgen korporative Akteure einer langfristigen Klugheitsheuristik, wonach es klug sein kann, zugunsten zukünftiger Vor-

43 44 45 46 47 48

Pies (2001, S. 185). Vgl. Vanberg (2000, S. 586 ff.). Zur Anreizstruktur siehe Suchanek (2001, S. 31 ff.). Pies (2001, S. 187). Pies und Beckmann (2008, S. 35). Pies und Beckmann (2008, S. 32).

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teile aktuelle Nachteile in Kauf zu nehmen und mit Wettbewerbern auf einer moralischen Grundlage zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Renditen zu erzielen.49 Verantwortung stellt aus ordonomischer Sicht eine Investition in zukünftige Handlungsbedingungen zum wechselseitigen Vorteil dar,50 die einer anreizkompatiblen Gestaltung interaktionslogischer Spielregeln bedarf, damit weder Überforderungs- noch Ausnutzungseffekte unter den Kooperationsakteuren entstehen. Die Gestaltung interaktionslogischer Spielregeln folgt konsequenterweise aus den Interessen von korporativen Akteuren an wechselseitig vorteilhaften Kooperationsbedingungen, die durch einen „Wechsel der Blickrichtung von einer Verantwortung im Spiel zu einer Verantwortung für das Spiel"51 erreicht wird. Im Unterschied zur Handlungsverantwortung für individuelle Spielzüge richtet sich die aufgrund interaktionslogischer Kooperationsziele erforderliche Ordnungsverantwortung auf die Veränderung der Spielregeln selbst, die zusammen mit klugheitsethischen Anreizbildungen und unter Konsistenzbedingungen angesetzten Ergebniskontrollen umgesetzt werden muss.52 Die Veränderung der Spielregeln geschieht auf einer höherstufigen Spielebene in Form der Beteiligung von korporativen Akteuren an der kollektiven Gestaltung von Regeln. Dabei übernehmen Unternehmen die Steuerungsverantwortung für die Rahmenordnung, unter der sie auf Märkten und in gesellschaftlich verfassten Kontexten agieren: „Steuerungsverantwortung bezeichnet die Übernahme von Ordnungsverantwortung im Meta-Spiel".53 „Hier geht es um die Gestaltung von Sozialstrukturen durch institutionelle Reformen - angefangen von organisationsinternen Verhaltenskodizes über Branchenstandards für Unternehmen bis hin zu Gesetzesinitiativen und internationalen Übereinkommen."54 Weil die gemeinsame Regelsetzung und die individuelle Befolgung der Regeln bereits die kollektive Bindungsbereitschaft der Beteiligten voraussetzt, da ansonsten aufgrund vorhandener Dilemmastrukturen keine Vorteilserreichung für alle gewährleistet ist, bedarf es der Erweiterung der Steuerungsverantwortung um die Aufklärungsverantwortung für die Bestimmung gemeinsam gültiger Rahmenregeln. Die Aufklärungsverantwortung dient der Überwindung vorhandener Dilemmastrukturen durch die „Aufklärung gemeinsamer Interessen". Sie zielt auf der Ebene eines „Meta-Meta-Spiels" auf das „geteilte Wissen um dieses Interesse" und sorgt durch Verfahren diskursiver Regelfindung, die den Abbau von Informationsrestriktionen zur Folge haben, für die Kooperationsbereitschaft der beteiligten Parteien.55„Zu denken ist hier an Diskurse beispielsweise innerhalb von Unternehmen, in Verbänden, in Multi-Stakeholder-Foren oder an Runden Tischen. In diesen gesellschaftlichen Dialogforen gilt es, Probleme zu thematisieren und so zu beschreiben, dass gemeinsame Regelinteressen identifiziert werden."56

49 50 51 52 53 54 55 56

Vgl. Homann und Blome-Drees (1992, S. 35 ff.). Vgl. Suchanek und Lin-Hi (2008, S. 90 ff.); Lin-Hi (2009, S. 73 ff.). Vgl. Pies und Beckmann (2008, S. 44 f.) Siehe auch Homann (2004, S. 3 ff.); Beckmann (2010). Pies und Beckmann (2008, S. 48). Pies (2009, S. 296). Vgl. Pies und Beckmann (2008, S. 49 ff.). Pies (2009, S. 296 f.).

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Unternehmen als politische Akteure

Die Ordnungsverantwortung umfasst somit nicht nur die Gestaltung der Sozialstruktur durch kollektive Regelsetzungen (Steuerungsverantwortung), sondern auch Verfahren der diskursiven Regelfindung (AufklärungsVerantwortung). Ihr heuristisches Ziel besteht darin, die aktionslogische Verantwortung für Handlungsfolgen in der Weise mit der interaktionslogischen Verantwortung für Rahmenregeln zu verbinden, dass sowohl die individuelle Ergebniskontrolle und kausale Zurechenbarkeit unternehmerischer Operationen aufrecht erhalten bleiben als auch die anreizethisch fundierte Mitgestaltung wechselseitig vorteilhafter Kooperationsbedingungen gewährleistet ist (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Die klugheitsethische Verantwortungssystematik Ordnungsverantwortung Verantwortung als

Aktionslogische Situationen

Interaktionslogische Situationen

Spielebene

Handlungsverantwortung

Aktions. h

Interaktionsergebnis

Steuerungsverantwortung

Individuelle SelbstKollektive Selbstbindung Im einseitigen bindung, sofern Gefangenendilemma auch die anderen bereit sind

Zweiseitiges Gefangenendilemma

Spiel

Ergebnis kollektiver Regelsetzung

Meta-Spiel

Aufklärungsverantwortung

Einstieg in Diskurs durch doppeltes Signal

Ergebnis kollektiver Regelfindung

Meta-Meta-Spiel

Quelle: Pies und Beckmann (2008, S. 52).

Auf der gesellschaftspolitischen Ebene stellt sich damit die Frage, wie die individuellen Vorteilskalküle so beeinflusst werden können, dass sie zu gesamtgesellschaftlich erwünschten (vorteilhaften) Ergebnissen fuhren. Dabei sind drei Arten von Kosten zu berücksichtigen: die „Problemkosten", die auf der Ebene der Spielzüge anfallen und als individuell wahrgenommene Nachteile den subjektiven Regelbedarf und damit den Vorteil der Ordnungsverantwortung bestimmen; die „Bindungskosten", die auf der Ebene der Spielregeln entstehen und als Nachteile kollektiver Regelsetzung bzw. übernommener Steuerungsverantwortung gesehen werden; die „Diskurskosten", die auf der Ebene der Spielreflexion auftreten und als Nachteile gemeinsamer Regelfindung bzw. übernommener Aufklärungsverantwortung empfunden werden.57Alle drei Kostenformen begrenzen in ihrer jeweiligen Höhe die individuelle Verantwortungsfahigkeit, da aus ordonomischer Sicht Akteure ihre Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme davon abhängig machen, welche Nutzen sie daraus beziehen. Folglich müssen die Kosten so gestaltet werden, dass die Vorteile der Verantwortungsübernahme die Nachteile der Verantwortungsausübung überwiegen. Dies geschieht auf der Ebene der Spielzüge durch die Transformation von gesellschaftlichen Kosten sozialer Missstände in individuelle Problemkosten, die z.B. in Gestalt persönlicher Haftung dafür sorgen, dass Ak57

Vgl. Pies und Beckmann (2008, S. 54 f.).

216

Ludger Heidbrink

teure Ordnungsverantwortung übernehmen. Auf der Ebene der Spielregeln unterstützen vertragliche Vereinbarungen und freiwillige Selbstverpflichtungen Akteure dabei, sich an einer kollektiven Umsetzung der Steuerungsverantwortung zu beteiligen. Auf der Ebene der Spielreflexion stehen zahlreiche Instrumente der Deliberation und Partizipation zur Verfugung, die etwa in Gestalt von Stakeholder-Dialogen, betrieblicher Mitbestimmung oder der Beteiligung an sozialen Netzwerken die gemeinsame Ausübung von Aufklärungsverantwortung erleichtern. Die Umsetzung von Ordnungsverantwortung erweist sich somit als „dezidiert gesellschaftspolitische (Gestaltungs-)Aufgabe", bei der es darum geht, „systematisch Ansatzpunkte zur gesellschaftlichen Stärkung individueller Verantwortungsfahigkeit natürlicher und korporativer Akteure" zu identifizieren.58 Diese Stärkung vollzieht sich über institutionelle Anreizarrangements, die dafür sorgen, dass Akteure sich durch wechselseitig vorteilhafte Interaktionen besser stellen und die dafür erforderlichen Kooperationsstrukturen auf Dauer gestellt werden. Der Schlüssel hierzu liegt in der Selbstbindungsfähigkeit und Diskursfähigkeit von Akteuren, durch die sie in die Lage versetzt werden, ihre Handlungsräume so mitzugestalten, dass ihnen hieraus kooperative Vorteile entstehen. Aus ordonomischer Sicht ist für diese Konzeption der Ordnungsverantwortung „kein systematischer Unterschied mehr nötig zwischen der Verantwortung natürlicher Personen und der Verantwortung korporativer Akteure", da beide „durch Selbstbindung und Diskursteilnahme ihr Eigeninteresse in kluger Weise verfolgen und so Verantwortung übernehmen"59 können. Im Vergleich zu natürlichen Personen verfugen Unternehmen vielmehr über eine erheblich größere Verantwortungsfahigkeit, da sie höheren Problemkosten ausgesetzt sind (die sie zur Regeländerung motivieren), wirkungsvollere Bindungstechnologien besitzen, professionellere Diskursverfahren organisieren und, wie schon erwähnt, langfristigere Investionen tätigen können. Aufgrund der besonderen Selbstbindungs- und Diskurskompetenzen tragen Unternehmen deshalb auch im transnationalen Horizont eine spezifische Mitverantwortung für Prozesse der Regelsetzung und Regelfindung, die durch den Nationalstaat alleine nicht mehr geleistet werden können. Die Beteiligung an Aufgaben der Global Governance resultiert aus dem Eigeninteresse von Unternehmen, angesichts nachlassender staatlicher Regulierungskompetenzen eine aktive Ordnungsverantwortung für die institutionelle Steuerung von Rahmenregeln und die diskursive Aufklärung des Regelwissens zu übernehmen, um bessere Handlungsbedingungen als ökonomische Akteure zu gewinnen: „In the face of poor regulatory frameworks, companies need to adopt a political role in new governance in order to better fulfill their role as economic actors. By participating in processes of new governance, business firms, as corporate citizens, conduct themselves in the political sphere just the same as they do in their day-to-day business: they engage in individual and collective commitments that improve the rules of the economic game. In a nutshell, the ordonomic understanding is that the role of corporate citizens in processes of new governance is just win-win oriented value creation writ large."60

58 59 60

Pies und Beckmann (2008, S. 56). Pies und Beckmann (2008, S. 58 f.). Pies, Beckmann und Hielscher (2011, S. 184).

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Aus ordonomischer Sicht sind Unternehmen somit als Corporate Citizens zu betrachten, die sich aus Gründen wettbewerblicher Vorteilsverfolgung an gesellschaftlich erwartete Verhaltensregeln binden und an Aufgaben der öffentlichen Leistungserbringung beteiligen. Das Konzept der Ordnungsverantwortung stellt ein anreizethisches und klugheitsheuristisches Modell des politischen Unternehmensbürgers dar, der aus wohlverstandenen Vorteilskalkülen staatliche Governanceaufgaben übernimmt, indem er an kollektiven Verfahren der Regelsetzung und Regelfindung partizipiert. Auf diese Weise lassen sich motivationale Gründe benennen, warum Unternehmen sich als privatwirtschaftliche Akteure für öffentliche Aufgaben engagieren und politische Verantwortung übernehmen, ohne vom demokratischen Interventionsstaat und zivilgesellschaftlichen Stakeholdera regulativen Eingriffen und normativen Ansprüchen unterworfen zu werden. Die Leistung des ordonomic approach besteht darin, die politische Unternehmensverantwortung aus der Perspektive aufgeklärter Marktakteure ableiten zu können, die sich unter faktischen Wettbewerbsverhältnissen und vorhandenen ökonomischen Restriktionen für eine Verbesserung marktpolitischer Rahmenbedingungen einsetzen. Darüber hinaus fuhrt die Ordnungsverantwortung zu einer Eingrenzung der Unternehmensverantwortung auf die moralischen und politischen Handlungsfolgen korporativer Akteure und beugt damit einer Expansion des Verantwortungsprinzips vor, die sich in einem Widerspruch zwischen semantischer Einforderung und sozialstruktureller Umsetzung niederschlägt. Unter der Voraussetzung konsistenter Erfolgskontrollen und institutioneller Einflussmöglichkeiten lassen sich Unternehmen Steuerungs- und Aufklärungsverantwortlichkeiten zuschreiben, die aus ihren besonderen Fähigkeiten zur Selbstbindung und Diskursbildung resultieren. Und nicht zuletzt lässt sich durch die kooperationsethische Ausrichtung der Ordnungsverantwortung eine Verbindung von marktlicher und politischer Wertschöpfung herstellen, die die Chancen für Unternehmen erhöht, gesellschaftliche Ziele zu realisieren, ohne wirtschaftliche Treuhänderpflichten zu verletzen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: The ordonomic perspective on the new governance

Semantics: Informational Incentives of Ideas

Meta-Meta Game Rule-finding discourse

„ . , Social structure: Institutional Incentives

Meta Game Rule-setting process

New-governance processes for creating adequate conditions for mutually advantageous value creation

Basic Game Value Creation through cooperation in the day-to-day core business

Rule-following social interactions

1

Within-game responsibility

Ordo-Responsibility Governance Responsibility

Discourse Responsibility

Quelle: Pies, Beckmann und Hielscher (2011, S. 181).

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2. Grenzen der Ordnungsverantwortung Trotz dieser heuristischen Vorteile stößt der ordonomische Ansatz an eine ganze Reihe von Grenzen, die eine Erweiterung um das Konzept der Systemverantwortung notwendig machen. So beruht das Prinzip der Ordnungsverantwortung (1.) weiterhin auf einem individualistischen Paradigma korporativen Handelns, das zwar kollektivistisch umformuliert, aber in seinen methodischen Grundzügen beibehalten wird. Das Festhalten am methodologischen Individualismus ist zwar aus Gründen der Zurechenbarkeit und Kontrollierbarkeit von Handlungsfolgen verständlich, klammert aber die Eigendynamik und nicht intendierten Konsequenzen korporativer Operationen unter funktionalen Systembedingungen und vor dem Hintergrund von Netzwerkprozessen aus.61 Das Gleiche gilt für die Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen natürlichen Personen und korporativen Akteuren, die aus ordonomischer Sicht ähnlich wie Personen als durch Anreizarrangements steuerbare Akteursformationen behandelt werden. Durch diese Analogisierung wird der strukturell eigenständige Charakter von Organisationen nicht genügend berücksichtigt, die keine höherstufigen Kollektive darstellen, sondern autonome Handlungssysteme, die keine direkten moralischen und politischen Intentionen ausbilden und deshalb nur begrenzt durch klugheitsethische Vorteilskalküle und selbstregulative Bindungstechnologien zur Verantwortungsübernahme gebracht werden können.62 Während das Konzept der Ordnungsverantwortung die anreizethische Steuerbarkeit von Korporationen überschätzt, unterschätzt es zugleich (2.) die intrinsische Bedeutung von Moral für personale Akteure. Auch wenn die Ordonomik von einem erweiterten Verständnis des Homo oeconomicus und des Rational-Choice-Paradigmas ausgeht, das alle Zwecke einschließt, denen Akteure subjektiv nachgehen wollen,63 bleiben die instrumentalistische Perspektive der Zweckoptimierung und das ökonomistische Verfahren der Nutzenmaximierung hierbei leitend. Die ökonomische Theorie der Moral beruht auf einer reduktionistischen Heuristik moralischer Gründe, die mit rationalen Motiven identifiziert werden.64 Unter dem Primat der Vorteilskalkulation werden moralisch vorzugswürde Ziele verfolgt, weil sie rational vorteilhafte Folgen haben. Wer das Handeln von Personen auf die Überwindung von Dilemmasituationen und die Verbesserung individueller Zustände zurückführt, verwechselt rationalitätstheoretische mit moralitätstheoretischen Argumenten. Die Rationalitätsbedingungen einer Herstellung der wechselseitigen Besserstellung garantieren noch keine Moralitätsbedingungen einer gleichen und gerechten Verteilung von Kooperationsgewinnen und -lasten. Zwischen dem Rationalitätsdiskurs der Vorteilsorientierung und dem Moralitätsdiskurs der Gleichheitsherstellung bestehen kategoriale Unterschiede, die sich auch durch eine aufgeklärte ökonomische Moralbegründung nicht überwinden lassen.65

61 62 63 64 65

Vgl. grundlegend Teubner (2009). Vgl. am Beispiel strafrechtlicher Präventionsmaßnahmen Kyora (2001, S. 194 ff.). So Pies (2009, S. 290). Siehe auch Chwaszcza (2003). Vgl. Kersting (2008, S. 136 ff.).

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Darüber hinaus fußt das Rational-Choice-Paradigma (3.) auf einem empirisch verkürzten Fairnessverständnis, das ethisches Handeln auf interessegeleitetes Handeln zurückführt und moralische Entscheidungen auf Klugheitsreflexionen reduziert. Aus der Perspektive des Homo oeconomicus ist nicht nur unklar, warum Akteure im Alltag moralische Ziele verfolgen, ohne ein direktes Interesse an ihnen zu haben, und sich fair verhalten, auch wenn ihnen dadurch keine unmittelbaren Vorteile entstehen.66 Unklar bleibt auch umgekehrt, wie auf der Basis des aufgeklärten Eigeninteresses sich kooperationsrelevante Haltungen der Verlässlichkeit und des Vertrauens herausbilden sollen und wie durch strategische Präferenzverfolgung stabile Institutionen entstehen können, die eine kollektiv bindende Kraft besitzen. 67 Wo die Übernahme von Ordnungsverantwortung primär auf das korporative Selbstinteresse zurückgeführt wird, wird entweder aus dem methodischen Konstrukt des Homo oeconomicus ein Idealtypus gemacht, den es in dieser Gestalt empirisch nicht gibt.68 Oder die Ordnungsverantwortung wird aus einem strategischen Interesse an Moral abgeleitet, die auf Dauer keine stabilen sozialen Interaktionen und Institutionen begründet. Dem moralischen Instrumentalismus entspricht (4.) ein diskursiver Kognitivismus, der die Selbstbindungsfahigkeit von korporativen Akteuren auf ihre Diskursfahigkeit zurückfuhrt. Es macht ebenfalls einen kategorialen Unterschied aus, ob gemeinsame Interessen und daraus resultierende Verhaltensnormen in diskursethischen Verfahren gefunden und begründet werden und inwieweit sie von den Diskursteilnehmern befolgt und umgesetzt werden. 69 Die ordonomische Zurückfuhrung von kooperativen Regelbindungen auf diskursive Regelfindungen setzt eine Kooperationsbereitschaft voraus, die sich nicht aus der Aufklärung über geteiltes Wissen und explizierten Informationen ableiten lässt. Wer Verhaltensregeln aus Normenwissen deduziert, begeht einen kognitivistischen Fehlschluss, da das Explanandum des kooperativen Handelns nicht im Regelwissen, sondern in der Regelbefolgung liegt. Zudem vollzieht sich der Übergang von der Regelfindung über die Regelsetzung zur Regelbefolgung im Unternehmensalltag nicht im Prozess einer logischen Deduktion auf verschiedenen Spielebenen, bei der sich Akteure aus kognitiver Einsicht in die Geltung von Normen auf kooperative Handlungszüge einigen, sondern ist de facto komplexen Abstimmungs- und Umsetzungsprozessen unterworfen, in denen am Ende zumeist keine objektiven Gründe, sondern situative Erfordernisse den Ausschlag geben. Aus ordonomischer Perspektive wird nicht nur der Mind Behaviour Gap zwischen Bewusstsein und Handeln unterschätzt, wonach Akteure nicht immer tun, was sie wissen, 70 sondern auch zugleich die diskursiv begründete Selbstbindungskompetenz von Unternehmen überschätzt, die unter Wettbewerbs- und Konkurrenzbedingungen Dilemmastrukturen häufig nicht durch die Übernahme von Steuerungs- und Aufklärungsverantwortung als durch dezisionistische Marktentscheidungen auflösen. 71

66 67 68 69 70 71

Zu einer Erweiterung des Eigennutzansatzes siehe Ockenfels und Raub (2010). Siehe Hartmann (2011). Siehe schon Schmölders (1973, S. 32 f.). Dazu ausführlicher Heidbrink (2003, S. 128 ff.). Siehe hierzu Newholm und Shaw (2007). Zu dilemmatischen Entscheidungen vgl. Heidbrink (2000, S. 285 ff.).

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Deshalb lässt sich (5.) die Legitimation politischer Unternehmensverantwortung nicht allein im Rückgriff auf die Einhaltung der marktwirtschaftlichen Grundordnung und wettbewerblichen Rahmenbedingungen begründen.72 Diskursiv herbeigeführtes Einverständnis mit kooperationsethisch vorteilhaften Spielregeln ist etwas anderes als die demokratische Rechtfertigung einer freiheitlichen und menschenrechtlichen Gesellschaftsverfassung. Das Interesse an ökonomisch vorzugswürdigen Regelsetzungen stellt keine Legitimation politischer Regelgeltungen dar. Von einer klugheitsethisch motivierten Ordnungsverantwortung führt kein direkter Weg zu einer demokratisch fundierten Unternehmensverantwortung, da hierzu die korporative Interessensverfolgung und der politische Status von Unternehmen als Corporate Citizen selbst einem demokratischen Rechtfertigungsverfahren unterworfen werden müssten.73 Es reicht nicht aus, in einer aktionslogischen Bedingungsanalyse aus der Selbstbindungskompetenz und Verantwortungsfahigkeit von Unternehmen ihre Zuständigkeit für öffentliche Aufgaben abzuleiten, ohne in einem höherstufigen Legitimationsverfahren die „democratic accountability"74 von privatwirtschaftlichen Unternehmen zu klären. Gleichzeitig ergibt sich durch die ungenügend geklärte politische Einbettung von Unternehmen das Risiko ihrer deliberativen Überforderung.75 Da aus ordononomischer Sicht Unternehmen primär den Status ökonomischer Akteure besitzen, entsteht nicht nur ein Legitimations-, sondern auch ein Kompetenzproblem, weil privatwirtschaftliche Organisationen und ihre Führung normalerweise nicht darin ausgebildet sind, Ordnungsverantwortung zu übernehmen76, obwohl genau dies immer wichtiger werde: „The competence to take on ordoresponsibility (...) is increasingly importantfor managers to earn andsecure their companies' license to (co-)operate and thus to foster successful value creation."71 Der Grund für diese direkte Erwartung und Forderung staatlicher Leistungserbringung von Unternehmen liegt (6.) in der indirekten Normativität der Ordonomik begründet, die zwar die unmittelbare ethische und politische Adressierung von Unternehmen vermeiden will, um die Risiken einer zynischen Regelmissachtung und moralistischen Regelherrschaft zu vermindern, in deren Folge Sozialstruktur und Semantik auseinander fallen, die aber durch eine implizite Normativität der Nutzenmaximierung und Vorteilskalkulation dazu führt, dass ökonomisch effektive Wettbewerbsbedingungen letztlich nur durch einen regulierenden Staat realisierbar sind, da sonst keine kooperationsstabilisierenden Strukturen gewährleistet werden. Das ökonomistische Paradigma der interessegeleiteten Anreizethik sorgt dafür, dass bei der marktpolitischen Steuerung primär auf Instrumente der staatlichen Ordnungsgestaltung und unternehmerischen Selbstbindung gesetzt wird. Im ordononomischen Vertrauen auf regulative Governancemechanismen werden nicht nur verhaltenspsychologische Einflussfaktoren ausgeklammert, die auch bei rationalen Akteuren zu systematisch verzerrten Entscheidungen führen.78 Es werden zudem bei der Umsetzung der Unternehmensverantwortung einseitig sanktionsbewehrte Strategien der Regulierung und Standardsetzung verfolgt, statt stärker auf 72 73 74 75 76 77 78

Vgl. Homann (2004, S. 7 f.). Vgl. Scherer, Palazzo und Baumann (2006, S. 519 ff.). Vgl. Crane und Matten (2007, S. 67 ff.) Vgl. hierzu Willke und Willke (2008, S. 34 ff.). Reich (2007, S. 258). Pies, Beckmann und Hielscher (2011, S. 182). Siehe Etzioni (2011); Treviho, Weaver und Reynolds (2006).

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Taktiken der freiwilligen Selbstbindung und des wertegeleiteten Handelns zu setzen, das in der Unternehmenspraxis häufig effektivere Wirkungen entfaltet als anreizfundierte Ordnungsregeln.79 Aufgrund dieser Grenzen, an die der ordonomische Ansatz stößt, ist eine Erweiterung der Ordnungsverantwortung um die Systemverantwortung erforderlich. Der systemische Ansatz stellt in einer Reihe von wichtigen Punkten eine heuristisch sinnvolle Ergänzung der Ordonomik dar, die im folgenden Abschnitt in Hinblick auf die politische Rolle von Unternehmen erläutert werden soll.

V. Unternehmen als politische Akteure aus Sicht der Systemverantwortung Unternehmen lassen sich grundsätzlich dann als verantwortungsfahige Akteure beschreiben, wenn sie analog zu natürlichen Personen über eine stabile Identität verfügen, kausalen Einfluss auf ihre Handlungsfolgen haben, zu einer intentionalen Ereigniskontrolle in der Lage sind und das Bewusstsein der Normgültigkeit besitzen.80 Unter diesen Voraussetzungen stellen Unternehmen moralfahige Organisationen dar, die als korporative Akteure in strukturell homologer Weise zu Individuen Verantwortung tragen und übernehmen können.81Aus Sicht der Ordnungsverantwortung werden Unternehmen in der Tradition des methodologischen Individualismus als korporative Akteure behandelt, die über ethische Anreizarrangements (selbst-)steuerbar sind. Die politische Verantwortung von Unternehmen wird im Wesentlichen darin gesehen, sich aus aufgeklärtem Eigeninteresse an der Gestaltung von Ordnungsregeln für eine Verbesserung der Bedingungen wechselseitig vorteilhafter Wertschöpfung zu beteiligen. Diese Zielsetzung steht zwar in Übereinstimmung mit marktwirtschaftlichen Rahmenregeln der globalisierten Politik, die durch eine nachlassende Steuerungs- und Integrationskraft demokratischer Nationalstaaten gekennzeichnet ist, nicht aber in Übereinstimmung mit ihren gesellschaftlichen Rahmenregeln. Die Ordnungsverantwortung ist primär ein Prinzip der marktwirtschaftlichen Governance. Darüber hinaus setzt das Prinzip der Ordnungsverantwortung auf Verfahren der zweckrationalen Regelbildung und diskursiven Selbstbindung, die der Eigenlogik von Organisationen und der Praxis von Verständigungsprozessen nicht angemessen sind. Aus Sicht der Ordnungsverantwortung lassen sich zwar klugheitsheuristische Argumente für die Investition von Unternehmen in die politische Verbesserung ökonomisch relevanter Kooperationsbedingungen angeben, nicht aber für die Beantwortung der Frage, inwieweit Unternehmen die Zuständigkeit, Legitimität und Fähigkeit für die Umsetzung genuin politischer Aufgaben besitzen, die durch keine direkte wirtschaftliche Vorteilsrelevanz gekennzeichnet sind, sondern gesellschaftlichen Zielen folgen. 79 80 81

Vgl. WolfftX al. (2009, S. 253 ff.); Eigenstetter (2006). Vgl. Korenjak, Ungericht und Raith (2010, S. 153). Siehe auch Fetzer (2004, S. 144 ff.). Neuhäuser unterscheidet zwar zwischen individueller und korporativer Verantwortung und will eine eigenständige Verantwortung von Unternehmen begründen, fuhrt aber letztlich die korporative Verantwortung wieder auf individuelle Verantwortung zurück (2011, S. 123): „Unternehmen sind vernünftige und moralfahige Akteure, weil ihre individuellen Mitarbeiterinnen vernünftige und moralfahige Akteure sind."

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Die Ordnungsverantwortung stellt, anders gesagt, kein ausreichendes politisches Governanceprinzip dar, um die Defizite angemessen zu korrigieren, die sich aufgrund von Diskurs-, Markt- und Regelungsgrenzen in der Praxis ergeben können. Es werden nicht nur die Risiken des Diskursversagens in Gestalt systematisch abweichender Rationalitätsentscheidungen und fehlender motivationaler und kognitiver Kooperationsbedingungen nicht angemessen berücksichtigt, sondern insbesondere die Risiken des Marktversagens, die aufgrund der Externalisierung ökonomisch nicht messbarer Kosten entstehen können, sowie die Risiken des Regelversagens, die durch global begrenzte Instrumente der Anreizsteuerung und Sanktion von Regelverstößen auftreten können.82 Das Risiko des Diskurs-, Markt- und Regelversagens erfordert die Ergänzung der Ordnungsverantwortung um eine Systemverantwortung, die den Grenznutzen der ökonomischen Moraltheorie einbezieht und heuristisch erweiterte Instrumente der Steuerung moralischen Markthandelns zur Verfügung stellt. Eine derartige Erweiterung lässt sich nur durch einen „komplexen Steuerungsmix"83erreichen, der die ordnungsökonomische mit einer systempolitischen Steuerung der Unternehmensverantwortung verbindet. Aus systempolitischer Perspektive tragen Unternehmen nicht nur die Mitverantwortung für die Verbesserung wechselseitig vorteilhafter Kooperationsbedingungen, sondern auch für die Gewährleistung der normativen Systembedingungen, der sie ihre Kooperationsfahigkeit und Wertschöpfungskompetenzen verdanken und die auf gesellschaftsethischen Zielen der öffentlichen Leistungserbringung beruhen. Während die Ordnungsverantwortung primär aus dem wirtschaftlichen Interesse an stabilen Interaktionsbeziehungen und Wettbewerbsstrukturen von Marktakteuren hervorgeht, gründet die Systemverantwortung in der politischen Stabilisierung des Marktsystems und der gemeinwohlorientierten Kontrolle seiner kontingenten Eigendynamik. Im Unterschied zur Ordnungsverantwortung ist die Systemverantwortung nicht nur auf die Überwindung von Dilemmastrukturen durch die Reform institutioneller Spielregeln gerichtet, sondern vielmehr auf die sozial- und umweltverträgliche Transformation vorhandener Institutionen, die im Fall scheiternder Marktprozesse durch eine Änderung des Spielprozesses selbst umgesetzt werden muss.84 Systemverantwortung bedeutet deshalb nicht nur Verantwortung im und für das Spiel, sondern externe Verantwortbarkeit des Spiels, dessen Steuerungsgrenzen mit in den Spielprozess einbezogen werden. Die Systemverantwortung stellt ein notwendiges Komplement politischer Governance dar, die von privatwirtschaftlichen Unternehmen über ihre Ordnungsverantwortung hinaus übernommen wird, um die Risiken des Diskurs-, Markt- und Regelversagens zu reduzieren, mit denen unter den Bedingungen nachlassender nationalstaatlicher Steuerungskraft und einer wachsenden Volatilität und Entgrenzung von Marktprozessen gerechnet werden muss. Die systemische Perspektive der Unternehmensverantwortung zeigt sich insbesondere dort, wo Firmen aus Gründen eines reflexiven Risikomanagements politische Aufgaben übernehmen und gemeinwohlorientierte Leistungen erbringen. Die Wahrnehmung staatlicher Steuerungsaufgaben in Bereichen des Umweltschutzes, der Arbeits- und So-

82 83 84

Vgl. Morner (2010, S. 341 ff.). Momer (2010, S. 347). Vgl. Mirvis und Googins (2009, S. 19 ff.).

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zialstandards, der öffentlichen Sicherheit und Korruptionsvermeidung resultiert nur vordergründig aus ökonomischen Nutzenkalkülen, da die Mehrzahl der übernommenen Aufgaben und Selbstverpflichtungen keine direkt nachweisbaren wirtschaftlichen Vorteile nach sich zieht. 85 So beteiligen sich Unternehmen an öffentlichen Diskursverfahren wie dem nationalen CSR-Forum der Bundesrepublik oder der Entwicklung der ISO 26000 weniger aus wettbewerblichen Gründen als aus Gründen der Prävention von Systemkrisen, die durch die wachsende Ressourcenknappheit, den demographischen Wandel und soziale Integrationsprobleme entstehen können. 86 Unternehmen engagieren sich für den Klimaschutz und nehmen Nachhaltigkeitsziele in ihre Geschäftspraxis nicht vorrangig aus Kosten- und Reputationsgründen auf, sondern um sozialen und politischen Risiken der Migration oder territorialer Konflikte durch Rohstoff- und Wassermangel entgegenzuwirken. 87 Multinationale Konzerne setzen sich für globale Regelwerke wie den Global Compact ein und unterstützen in ihren Zulieferer- und Produktionsländern die Einhaltung der Menschenrechte nicht allein aus ordnungsrechtlichen Gründen, sondern um insbesondere politische Stabilität und die Herausbildung demokratischer Institutionen in Krisenregionen zu gewährleisten. 88 Privatwirtschaftliche Unternehmen treten somit als Ko-Produzenten von Staatlichkeit auf, die durch die Mitentwicklung von Normen und die Übernahme von Sicherheitsaufgaben bis zur Infrastrukturversorgung für eine gesellschaftlich relevante Erzeugung öffentlicher Güter und Dienstleistungen sorgen. Sie tragen damit zu einer „CoPerformance of Governance" bei, die über herkömmliche Public-Private-PartnershipAktivitäten und die Beteiligung an staatlichen Regelungsverfahren hinausreicht. 89 Indem Unternehmen zu eigenverantwortlichen politischen Govemance-Akteuren werden, die quasi-staatliche Leistungen der Daseinsvorsorge, Rechtsumsetzung und des Konfliktmanagements übernehmen, sorgen sie für eine normative Stabilisierung der gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ihnen ihre eigenen Operationsbedingungen ermöglichen. Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Voraussetzungen für unternehmerische Operationen geht insofern über die ordonomische Ordnungsverantwortung hinaus, als systemische Risiken und das Versagen von Diskurs- und Regelverfahren in die Mitsteuerung marktwirtschaftlicher Prozesse einbezogen werden. Aus Sicht der Systemverantwortung reicht es nicht aus, in der vorteilsorientierten Zustimmung zum „Marktspiel" das moralische Hauptkriterium zu sehen, 90 da hierbei weder das potentielle Scheitern marktlicher Ordnungen noch die Externalisierung von Kosten auf diejenigen, die nicht am Marktspiel teilnehmen können, genügend berücksichtigt werden. Die Systemverantwortung stellt im Unterschied zur Ordnungsverantwortung keinen aus individuellen Präferenzen abgeleiteten, sondern einen eigenständigen prozeduralen Verantwortungstypus dar, der es erlaubt, Unternehmen im Sinn verschuldensunabhängiger Präventionsmaßnahmen auch nicht-intendierte Schadensfolgen zuzurechnen, wenn diese durch

85 86 87 88 89 90

Hierzu schon Vogel (2006, S. 16 ff.). Vgl. auch Habisch und Brychuk (2011, S. 117 f.). Siehe Loew, Clausen und Rohde (2011). Vgl. Morrison (2011, S. 15 f.). Vgl. Schuppen (2008, S. 27 ff.). So Vanberg (2000, S. 595 f.).

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die Fehisteuerang der Gesamtorganisation entstanden sind.91 Die Heuristik der Systemverantwortung fuhrt somit zu einer erweiterten korporativen Zurechnungspraxis, da Unternehmen bei ihrer Selbstorganisation auch kontingente Faktoren wie betriebliche Desorganisation, Fehlentscheidungen, Willkür oder Machtstreben, die sich nicht aus der Perspektive des rationalen Wahlverhaltens vorteilsorientierter Akteure erklären lassen, berücksichtigen müssen. Dabei liegt die Berücksichtigung nicht-rationalen Verhaltens und defektöser Konsequenzen für das Gesellschaftssystem im erweiterten Interesse der Unternehmen, da sie auf diese Weise Risiken der Selbstschädigung vorbeugen und zu einer langfristigen Stabilisierung ihrer gesellschaftlichen Operationsbedingungen beitragen. Die Systemverantwortung ist so gesehen ein politischer Modus der „Metaverantwortung"92, die zur nachhaltigen Umsetzung marktwirtschaftlicher Ordnungsverantwortung erforderlich ist. Die systemische Metaverantwortung resultiert aus dem Umstand, dass Firmen mit Residualrisiken in Hinblick auf ihre Stakeholder, Mitarbeiter, Konkurrenten und Ressourcen konfrontiert sind, die in einer operativ vernetzten und territorial entgrenzten Unternehmensumwelt nicht mit den herkömmlichen Instrumenten der ordonomischen Steuerungs- und Aufklärungsverantwortung lösbar sind, da diese auf der Mikroebene die verzerrte Entscheidungsrationalität von Akteuren und auf der Makroebene die soziale Einbettung von Unternehmen sowie die Zunahme marktüberschreitender Beziehungen nicht genügend berücksichtigen.93 An die Stelle von Transaktionen und expliziten Verträgen sind heute netzwerkbasierte und marktüberschreitende Kollaborationsprozesse getreten, die auf „implicit contracts negotiated in a non-market publica arena"94 beruhen. Nach John Boatright macht die globale Entgrenzung der Firma und ihre Einbettung in soziale Vertragsverhältnisse ein neues Verständnis politischer Unternehmensverantwortung erforderlich, das zwar aus gewandelten Wettbewerbsverhältnissen hervorgeht, aber in letzter Konsequenz auf die Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen und die Gewährleistung von Rechten zielt: „In consequence, the goods and services that accrue to individuals in society result from their separate roles as economic actors in a market and as citizens of a state. However, in the new competitive environment, the market no longer plays this distributive role to the same extent, and more goods and services become contestable in the public arena. Insofar as these goods and services are viewed as rights, their administration is no longer a matter purely for government but for corporate decision making as well"95. Die Erbringung öffentlicher Leistungen und die Gewährleistung sozialer Rechte geschehen aus Gründen der Systemverantwortung, die nicht im Widerspruch zum wirtschaftlichen Eigeninteresse steht, sondern vielmehr durch eine reflexive Erweiterung von ökonomischen Vorteilskalkülen zu einer Verbesserung unternehmenspolitischer Operationsbedingungen führt. Die Frage, „why should (corporations) assume such ex-

91 92 93 94 95

Vgl. Kyora (2001, S. 207 ff.). Vgl. Bayertz (1995, S. 60 ff.). Vgl. Palazzo (2011, S. 125 und 127). Boatright (2011, S. 143). Boatright (2011, S. 144).

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tensive responsibilities if there is nothing in it for them"96, kann letztlich besser mit systemethischen als mit ordnungsethischen Argumenten beantwortet werden: Unternehmen tragen dann in besonders wirkungsvoller Weise zur staatlichen Co-Governance und damit zu ihren eigenen Funktionsvoraussetzungen bei, wenn sie nicht nur ökonomischen Vorteilskalkülen folgen, sondern aus Gründen der gesellschaftlich relevanten Risikoreduktion sowie in Hinsicht auf grenz- und marktüberschreitende Netzwerkprozesse agieren, die ihre eigenen Existenzbedingungen gefährden können. Es sind primär gesellschaftliche Veränderungen der Zunahme nicht-marktlicher Interaktionen und sozialökologischer Krisenpotentiale, die dazu führen, dass privatwirtschaftliche Unternehmen sich an staatlichen Aufgaben der Erfüllungs-, Gewährleistungs- und Infrastrukturverantwortung beteiligen. Für Unternehmen ist es deshalb langfristig vorteilhafter, politische Mitverantwortung nicht nur aus marktwirtschaftlichen Nutzengründen, sondern mit dem Ziel der Vermeidung gesellschaftlicher Krisenprozesse zu übernehmen. Abb. 3: Unterschiede zwischen Ordnungs- und Systemverantwortung Ordnungsverantwortung Individualistisches Paradigma korporativen Handelns

Systemisches Paradigma korporativen Handelns

Ökonomische Normativität

Ethische Normativität

Theoretisches Moralverständnis

Empirisches Moralverständnis

Diskursiver Kognitivismus

Situativer Realismus

Rationales Entscheidungsverhalten

Verzerrtes Entscheidungsverhalten

Aufklärungsverantwortung

Designverantwortung

Regelsteuerung

Kontextsteuerung

Legitimation durch Kooperationsinteressen

Legitimation durch Gemeinwohlinteressen

Externalisierung von Markt-, Regel-, Diskursgrenzen

Internalisierung von Markt-, Regel-, Diskursgrenzen

Beseitigung von wettbewerblichen Nachteilen

Reduzierung von gesellschaftlichen Risiken

Marktwirtschaftliche Wertschöpfung

Gesellschaftliche Wertschöpfung

Kostenorientierung

Schadensorientierung

Regulierender Staat

Gestaltender Staat

Wirtschaftliche Governance

Politische Governance

Verantwortung als Investition

Verantwortung als Transformation

Quelle: Eigene Darstellung

96

Systemverantwortung

Oosterhout (2005, S. 678).

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VI. Fazit: Zuständigkeit, Legitimität und Fähigkeit von politischen Unternehmen Es hat sich gezeigt, dass Unternehmen nicht nur die Handlungsverantwortung für die Folgen ihrer geschäftlichen Operationen und die Ordnungsverantwortung für die Mitgestaltung und Umsetzung von Rahmenregeln tragen, sondern darüber hinaus eine spezifische Systemverantwortung für die Aufrechterhaltung der Funktionsbedingungen des Gesellschaftssystems, das ihnen ihre operativen Tätigkeiten ermöglicht. Die politische Rolle von Unternehmen besteht darin, die Systembedingungen mit zu gestalten, die Voraussetzung für die Übernahme korporativer Ordnungs- und Handlungsverantwortung sind. Aufgrund der nachlassenden Steuerungskraft des Nationalstaates fällt privatwirtschaftlichen Unternehmen die Mitverantwortung zu, marktliche und politische Zielsetzungen so zu integrieren, dass eine gesellschaftlich vorteilhafte Wertschöpfung gewährleistet ist. Deshalb bemisst sich die eingangs angesprochene Zuständigkeit, Legitimität und Fähigkeit von Unternehmen zur Übernahme politischer Mitverantwortung nicht nur an der ordnungsethischen Herstellung marktwirtschaftlich relevanter Wettbewerbsbedingungen, sondern vor allem an der systemethischen Einbeziehung von gesellschaftlich relevanten Risiko- und Netzwerkprozessen und der Rückführung von Verantwortungszuschreibungen auf die korporative Eigenlogik von Organisationen. Unternehmen sind dann zuständige Akteure, wenn ihnen ihre Operationen als autonome Handlungssysteme zugerechnet werden können, wozu eine Analyse ihrer organisatorischen und intentionalen Verfassung erforderlich ist, die „Responsivität als Systemeigenschaft"97 einschließt. Wenn Unternehmen über die Verfassung eines responsiven Handlungssystems verfügen, können ihnen ihre operativen Folgen auch ohne direktes Verschulden zugerechnet werden, insoweit nachweisbar ist, dass sie einen „Systemcharakter" ausgebildet haben, der zur Verhinderung betriebstypischer Risiken unangemessen war.98 Aus Sicht der Systemverantwortung ist es gerechtfertigt, von Unternehmen eine Änderung ihrer eigenen systemischen Verfassung zu erwarten, wenn diese nachweislich zu Gemeinwohlschäden und der Belastung öffentlicher Güter führt.99 Unternehmen besitzen dann die Legitimation, staatliche Co-Governance auszuüben, wenn sie im Rahmen rechtlicher Ordnungen und auf der Grundlage demokratischer Verfahren als politische Agenten mit der Umsetzung gesellschaftlicher Aufgaben mandatiert werden. Die Legitimation und Mandatierung privater Regulationsregime ergibt sich nicht alleine durch interessengeleitete Abstimmungsdiskurse über Marktregeln und Wettbewerbsbedingungen, sondern setzt komplexe Prozeduren der institutionellen Verantwortungsteilung, der Einbeziehung von Stakeholdern und der Bezugnahme auf anerkannte soziale Normen voraus.100

97 98 99

100

Ortmann (2010, S. 253). Kyora (2001, S. 213). Peter French spricht in diesem Zusammenhang vom „Principle of Responsive Adjustment" (1991, S. 138 f.), das in Kraft tritt, wenn Verantwortungsträger ihr Verhalten nicht in der Weise verändern, dass nachweisliche Schädigungen verhindert werden. Wolf (2005, S. 60).

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Schließlich haben Unternehmen genau genommen erst dann die Fähigkeit, sich als staatliche Co-Akteure an Prozessen der öffentlichen Regelfindung und Regelumsetzung zu beteiligen, wenn sie über genuin politische Handlungskompetenzen verfugen und die Effektivität privater Selbstregulierungen gewährleistet ist. Während sich Effektivitätsanforderungen auf die Zuverlässigkeit, Nachhaltigkeit und Zielgenauigkeit von wirtschaftlichen Selbstverpflichtungen und Engagementaktivitäten beziehen, 101 machen die politischen Handlungskompetenzen es erforderlich, dass auf der Ebene des Managements und der Unternehmensleitung eine stärkere Professionalisierung öffentlicher Führung umgesetzt und Strategien des Responsible Leadership in Unternehmen implementiert werden. 102 Durch die Erweiterung der Ordnungsverantwortung um die Systemverantwortung lässt sich die politische Rolle von Unternehmen vollständiger und damit realitätsangemessener erfassen. Die drei Hauptdimensionen der Systemverantwortung - die Einbeziehung von Ungewissheitsprozessen, das Design der Organisationskultur und die politische Kontextsteuerung - ermöglichen eine Heuristik der Unternehmensverantwortung, die über den ordonomic approach hinausreicht, da von einer um gesellschaftliche Letztkriterien erweiterten Regelsetzung und Regelverfolgung ausgegangen wird. In Zeiten nachlassender Steuerungskraft des Nationalstaates, der Einbettung von Firmen in soziale Netzwerke und der Herausbildung nicht-marktlicher Kollaborationen tragen Unternehmen nicht nur die politische Mitverantwortung für wettbewerbliche Rahmenordnungen, sondern auch für gesellschaftliche Systembedingungen. Sie sind nicht nur Co-Akteure des regulierenden Staates, sondern Co-Performer des gestaltenden Staates. 103 Aus Sicht des systemic approach ist es deshalb für Unternehmen langfristig vorteilhafter, politische Mitverantwortung nicht nur aus Gründen der Investition in zukünftige Kooperationsbedingungen, sondern auch aus Gründen der nachhaltigen Transformation gesellschaftlich relevanter Systemprozesse zu übernehmen.

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101 102 103

Vgl. Embacher und Lang (2008, S. 357 ff.). Vgl. Pless und Maak (2008); Voegtlin, Patzer und Scherer (2010). Zum gestaltenden Staat siehe WBGU (2011, S. 215 ff.).

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232

Ludger Heidbrink

Zusammenfassung Die politische Rolle von privatwirtschaftlichen Unternehmen hat sich in den zurück liegenden Jahrzehnten verändert. Von Unternehmen werden zunehmend öffentliche Leistungen erwartet, die bislang im Hoheitsgebiet der Nationalstaaten gelegen haben. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Konsequenzen die Verantwortungsverteilung zwischen staatlichem und privatwirtschaftlichem Sektor hat. Die verstärkte Zuschreibung politischer Aufgaben und ihre Übernahme setzen nicht nur voraus, dass Unternehmen den Status verantwortlicher Akteure und die Fähigkeit zur Erbringung öffentlicher Leistungen besitzen. Die Verschiebungen im öffentlich-privaten Verantwortungsgefuge werfen auch Fragen nach der Legitimität und Reichweite der politischen Aufgabenerfullung durch Unternehmen auf. Die These des Beitrags lautet, dass Unternehmen nicht nur eine Ordnungsverantwortung für die Mitgestaltung von Rahmenregeln tragen, sondern auch eine Systemverantwortung für die Aufrechterhaltung der Funktionsbedingungen des Gesellschaftssystems, das ihnen ihre operativen Tätigkeiten ermöglicht.

Summary: Companies as political actors. Locating regulatory responsibility and systemsresponsibility The political role of private business companies has changed during the last decades. Companies are more and more expected to offer public workmanship that belonged to national state territory so far. This article reflects the question which consequences the distribution of responsibilities between national and private business sector has. The prolonged transfer of political tasks not only requires companies that are responsible actors and have the capability to generate public activities. The shifting of publicprivate responsibility arrangements incurs questions regarding legitimacy and the range of political task fulfillment of companies. The statement of this article is that companies not only have an regulatory responsibility in actively participate in formulating rules, but also have a systemsresponsibility for the maintenance of the functional conditions of the social system, which enables them their operative activities.

ORDO • Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Ingo Pies

Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? - Eine ordonomische Replik auf den Beitrag von Ludger Heidbrink Ludger Heidbrink hat einen substanz- und kenntnisreichen Aufsatz vorgelegt, in dem er seine Überlegungen zum Konzept einer Systemverantwortung von Unternehmen vorstellt. Als Darstellungsmittel wählt er eine kontrastierende Gegenüberstellung zum ordonomischen Konzept der Ordnungsverantwortung von Unternehmen. Heidbrinks Argumentation mündet in zwei Thesen. Die erste ist inhaltlicher, die zweite methodischer Natur. Inhaltlich erhebt Heidbrink den Anspruch, seine Vorstellung einer Systemverantwortung sei das allgemeinere und leistungsfähigere Konzept, weil es das Konzept der Ordnungsverantwortung als echte Teilmenge in sich enthalte und sodann in wichtigen Anwendungsbereichen über dieses hinausgehe. Begleitet wird dies durch die methodische - und mit insgesamt sechs Einwänden belegte - These, die Systemtheorie sei als die allgemeinere und leistungsfähigere Theorie der gerade im Hinblick auf zahlreiche Grundlagenfragen defizitären Ordnungsökonomik überlegen. Heidbrinks Aufsatz verdient eine sehr viel ausführlichere Auseinandersetzung, als ich sie mit dieser - im Umfang rigide beschränkten - Replik leisten kann. Hier ist also nicht mehr möglich, als einige wenige Punkte von zentraler Bedeutung anzusprechen und solche Fragen zu markieren, die die Weichen stellen können für eine zukünftig noch zu fuhrende Diskussion über dieses für die Theorie und Praxis der Ordnungspolitik so außerordentlich wichtige Thema. ((1)) Beginnen will ich mit drei Punkten, über die weitgehend Einigkeit besteht: • In den letzten Jahrzehnten - und forciert seit 1990 - hat es eine politische Entwicklung gegeben, die missverstanden würde, wollte man sie einfach auf die Formel „mehr Markt, weniger Staat" bringen. In Wirklichkeit steuern moderne Staaten nicht weniger, sondern anders, weil sie zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Unternehmen zunehmend einladen, sich an der Regelsetzung trilateral zu beteiligen oder diese sogar (unter staatlicher Rechtsaufsicht) bilateral zu übernehmen. Die Ordonomik belegt dies mit dem Begriff „New Govemance".1

Betrachtet man dieses Phänomen aus der Perspektive einer Privatrechtsgesellschaft, so wird das auf den ersten Blick vielleicht spektakulär Neue der „New-Governance"-Prozesse deutlich heruntergedimmt: Richtet man den Fokus nicht vom Staat aus, sondern vom Unternehmen aus auf „NewGovernance"-Prozesse, so wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das im wirtschaftlichen Alltagsgeschäft erfolgende Rechtssetzungsverhalten der Unternehmen, das dort oft im Modus einer unilateralen Regelgestaltung erfolgt, eine Ergänzung erfahrt durch - naturgemäß stärker politisierte - ¿/laterale oder sogar /n'laterale Prozesse der Regelgestaltung, wenn Unternehmen sich auf eine Zusammenarbeit mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren einlassen, um gemeinsam mit ihnen an der Gestaltung institutioneller Rahmenbedingungen zu arbeiten.

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Ingo Pies



In „New-Govemance"-Prozessen übernehmen Unternehmen eine neue gesellschaftliche Rolle. Sie betätigen sich nicht länger nur als wirtschaftliche Akteure, sondern auch als politische Akteure, als „Corporate Citizens". Damit wachsen ihnen neue Formen gesellschaftlicher Verantwortung zu. Die Ordonomik belegt dies mit dem Begriff „Ordnungsverantwortung"2.



Die Zuschreibung dieser neuen gesellschaftlichen Verantwortung an Unternehmen - sowie ihre Wahrnehmung durch Unternehmen - wirft die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von „New-Governance"-Prozessen auf. Diese Frage wird sich letztlich nur im Modus gesellschaftlicher Lernprozesse beantworten lassen, die freilich einer kritischen Reflexion, aber auch einer konstruktiven Anleitung bedürfen, wenn sie denn gelingen sollen. Für die einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen heißt das, dass sie sich um Theorieangebote zu bemühen haben, mit denen die Nachfrage nach einer „adäquaten Heuristik der Unternehmensverantwortung"3gedeckt werden kann. Diese Nachfrage resultiert schon allein daraus, dass gesellschaftliche Führungskräfte in Zukunft weitaus stärker als bisher üblich bereits durch eine akademische (Aus-)Bildung und Kompetenzvermittlung auf ihre Mitwirkung an „New-Governance"-Prozessen vorbereitet werden müssen.

((2)) Ich wende mich nun der ersten These von Ludger Heidbrink zu. Sie besagt, dass das Konzept der Systemverantwortung einen größeren Anwendungsbereich abdeckt als das Konzept der Ordnungsverantwortung. Heidbrink fuhrt drei Problemkreise an, für die er geltend macht, dass sie sich mit dem ordonomischen Konzept nicht angemessen erfassen lassen. Seine These lautet (S. 222): „Das Risiko des Diskurs-, Markt- und Regelversagens erfordert die Ergänzung der Ordnungsverantwortung um eine Systemverantwortung". Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Heidbrink ein etwaiges Diskursversagen auf das Fehlen „kognitiver Kooperationsbedingungen" (S. 222) zurückführt, ein etwaiges Marktversagen auf externe Effekte (vgl. S. 223) und ein etwaiges Regelversagen auf mangelnde Sanktionen (vgl. S. 222). Aus ordonomischer Sicht lassen sich die beiden letzten Kategorien zusammenfassen, weil sie unterschiedliche Facetten eines sozialstrukturellen Problems darstellen, während die erste Kategorie ein semantisches Problem erfasst. Für das semantische Problem sieht das ordonomische Konzept vor, dass Unternehmen eine Aufklärungsverantwortung übernehmen. Hierfür steht der Begriff der „Discourse Responsibility" (vgl. Abb. 2 bei Heidbrink, S. 217). Für das sozialstrukturelle Problem sieht das ordonomische Konzept vor, dass Unternehmen eine Steuerungsverantwortung übernehmen. Hierfür steht der Begriff der „Governance Responsibility" (vgl. Abb. 2 bei Heidbrink, S. 217). Meine Replik auf die erste These lautet, dass ich beim gegenwärtigen Stand der Diskussion den Unterschied, den Heidbrink geltend macht, nicht zu erkennen vermag. Für mich ist bislang nicht nachvollziehbar, worin die reklamierte Differenz zwischen dem Anwendungsbereich der Systemverantwortung und dem der Ordnungsverantwortung bestehen könnte. Dies gilt insbesondere auch für die Aufzählung von Beispielen 2 3

Der Begriff geht auf Markus Beckmann zurück. Vgl. hierzu Pies (2009, Fußnote 17, S. 12 f.). Heidbrink {2012, S. 207).

Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? - eine ordonomische Replik

• 235

{Heidbrink, S. 222 ff.), die ich allesamt ohne Ausnahme als Beispiele für die Übernahme von Ordnungsverantwortung auffassen würde. Manche Formulierung (S. 221 et passim) legt den Eindruck nahe, dass Ludger Heidbrink seinen Ausführungen ein Verständnis zugrunde legt, demzufolge das Konzept der Ordnungsverantwortung auf den unternehmerischen Nahbereich wirtschaftlicher Kooperationsbedingungen begrenzt ist, während die Systemverantwortung darüber hinaus geht und auch den Fernbereich der Gesellschaftsordnung erfasst. Ich halte dies für ein Missverständnis: Der Wahrnehmung von Ordnungsverantwortung sind m.E. zwar Grenzen gesetzt, aber sicherlich keine bereichsontologischen Grenzen, sondern Grenzen der Anreizkompatibilität, die freilich ihrerseits (im Sinne einer Ordnungspolitik zweiter Ordnung) einer gesellschaftlichen Gestaltung zugänglich sind. ((3)) Deshalb will ich nun versuchen, dieses Missverständnis auszuräumen, indem ich kurz skizziere, wie die Ordonomik das Konzept der Ordnungsverantwortung denkt. Dabei kommt es mir darauf an, die Analogien zur traditionellen Ordnungspolitik vor Augen zu führen. 4 Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in ihrer Rolle als wirtschaftliche Akteure lässt sich in fünf Punkten wie folgt gedanklich entwickeln:

4



Dass Unternehmen als eigeninteressierte Akteure durch wirtschaftliche Wertschöpfung zum Gemeinwohl beitragen können, ist keineswegs selbstverständlich, sondern ganz im Gegenteil kontra-intuitiv und institutionell voraussetzungsvoll.



Trotzdem kann es gelingen, die auf Gewinnerzielung programmierten Unternehmen dafür zu interessieren, sich um die Bedürfnisse ihrer Kooperationspartner zu kümmern, weil sie deren Kooperation für eine gelingende Wertschöpfung benötigen und diese wiederum benötigt wird, um Gewinne zu erwirtschaften.



Freilich darf man die Unternehmen dafür nicht sich selbst überlassen. Denn ihr Interesse an Gewinnerzielung kann sich funktional oder dysfunktional auswirken, je nachdem, ob es ihnen beispielsweise möglich ist, Kartelle zu bilden. Insofern ist Leistungswettbewerb eine wichtige Systemvoraussetzung für gelingende Wertschöpfung.



Wettbewerb allein ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Denn auch der Wettbewerb kann sich funktional oder dysfunktional auswirken, je nachdem, wie gut beispielsweise die Eigentumsrechte definiert sind. Insofern bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen, die für eine gemeinwohlverträgliche Ausrichtung des wettbewerblich kanalisierten Eigeninteresses der Unternehmen sorgen.



Die Einrichtung und Ausgestaltung solcher Rahmenbedingungen ist die zentrale Aufgabe einer Ordnungspolitik erster Ordnung, die für eine geeignete wirtschaftliche Verfassung zu sorgen hat. Von ihr hängt es ab, inwiefern es gelingt, Wettbewerbsprozesse funktional auszurichten und mit ihrer Hilfe die Unternehmen dazu anzuhalten, sich trotz ihres Eigeninteresses - oder vielmehr: gerade aufgrund ihres institutionell und wettbewerblich kanalisierten Eigeninteresses als Wertschöpfungsagenten im gesellschaftlichen Auftrag produktiv zu betäti-

Vgl. hierzu Pies (2011), mit weiterer Literatur.

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Ingo Pies

gen: Die Ordnungspolitik erster Ordnung konstituiert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen Wettbewerbsprozesse und die durch sie kanalisierten wirtschaftlichen Spielzüge der Unternehmen. Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in ihrer Rolle als politische Akteure lässt sich ganz analog in fünf Punkten konzipieren:

5



Dass Unternehmen als eigeninteressierte Akteure durch politische Beiträge zum Gemeinwohl beitragen können, ist keineswegs selbstverständlich, sondern ganz im Gegenteil kontra-intuitiv und institutionell voraussetzungsvoll.



Trotzdem kann es gelingen, die auf Gewinnerzielung programmierten Unternehmen dafür zu interessieren, sich als Corporate Citizens um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu kümmern, von denen die Funktionsweise der Marktwirtschaft abhängt, auf die sie angewiesen sind, um Gewinne zu erwirtschaften.



Freilich darf man die Unternehmen dafür nicht sich selbst überlassen. Denn ihr Interesse an Gewinnerzielung kann sich funktional oder dysfunktional auswirken, je nachdem, ob es ihnen beispielsweise möglich ist, sich auf politischem Wege mit wirtschaftlichen Privilegien zu versorgen (Lobbyismus, Rentseeking). Insofern ist politischer Leistungswettbewerb - unter Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Organisationen und unter Aufsicht kritischer Medien - eine wichtige Systemvoraussetzung für gelingende Unternehmensbeiträge zu „NewGovernance"-Prozessen.

"

Ein zwischen verschiedenen Personen und Organisationen - inklusive Unternehmen - ausgetragener Wettbewerb um politische Einflussnahme auf Prozesse gesellschaftlicher (Selbst-)Aufklärung und (Selbst-)Steuerung ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Denn auch der politische Wettbewerb kann sich funktional oder dysfunktional auswirken, je nachdem, wie gut beispielsweise die Haftungsrechte der beteiligten Akteure und die für sie geltenden Transparenzvorschriften definiert sind. Insofern bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen, die für eine gemeinwohlverträgliche Ausrichtung des wettbewerblich kanalisierten Eigeninteresses - auch, aber nicht nur der Unternehmen, sondern - aller an „New-Governance"-Prozessen beteiligten Personen und Organisationen sorgen.5

Diese Terminologie bedarf zweier klärender Hinweise im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Organisationen: Erstens kann beispielsweise eine Menschenrechtsorganisation nach ordonomischem Verständnis so verfasst sein, dass sie neben ihrem Interesse an der Aufrechterhaltung der eigenen Organisation auch ein genuines Eigeninteresse am Schutz der Menschenrechte hat und aufgrund ihrer Organisationsverfassung zahlreiche institutionelle Vorkehrungen trifft, die sicherstellen (sollen), dass sie aufrichtig als integrer Akteur auftreten kann und als solcher auch wahrgenommen (und wertgeschätzt) wird. Hier wird also mit einem offenen Vorteilsbegriff gearbeitet, wenn von Eigeninteresse die Rede ist. Zweitens gibt es zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, deren Gemeinwohlorientierung fraglich ist, sobald nicht nur auf ihre Selbstwahrnehmung, sondern auch auf ihre Fremdwahrnehmung durch andere gesellschaftliche Akteure abgestellt wird. Hier muss man - um es mit einem Begriff von John Rawls auszudrücken - von einem Faktum des Pluralismus ausgehen. Anders gesagt: Vereinigungen des politischen Extremismus und des religiösen Fundamentalismus gehören zur Zivilgesellschaft ebenso konstitutiv hinzu wie die organisatorische Vertretung esoterischer Lebensauffassungen und höchst partikularistischer Weltanschauungen.

Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? - eine ordonomische Replik



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Die Einrichtung und Ausgestaltung solcher Rahmenbedingungen ist die zentrale Aufgabe einer „Ordnungspolitik zweiter Ordnung", die für eine geeignete politische Verfassung zu sorgen hat. Von ihr hängt es ab, inwiefern es gelingt, politische Wettbewerbsprozesse funktional auszurichten und mit ihrer Hilfe die Unternehmen dazu anzuhalten, trotz ihres Eigeninteresses - oder vielmehr: gerade aufgrund ihres institutionell und wettbewerblich kanalisierten Eigeninteresses als Corporate Citizens (gemeinsam mit anderen Akteuren) an „NewGovernance"-Prozessen konstruktiv mitzuwirken: Die „Ordnungspolitik zweiter Ordnung" konstituiert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die politischen Wettbewerbsprozesse und das durch sie kanalisierte Regelsetzungsverhalten in und durch Unternehmen (sowie anderen Organisationen).

Mir kommt es hier vor allem auf folgende Analogien an: Genau so, wie die Fähigkeit der Unternehmen zur produktiven Übernahme wirtschaftlicher Wertschöpfungsverantwortung ordnungsbedingt ist, so ist auch ihre Fähigkeit zur konstruktiven Übernahme politischer Ordnungsverantwortung ordnungsbedingt. Und genau so, wie wir uns in Lernprozessen befinden, die Ordnungsbedingtheit der wirtschaftlichen Wertschöpfungsverantwortung von Unternehmen gesellschaftlich zu kultivieren, so befinden wir uns auch in Lernprozessen, die Ordnungsbedingtheit der politischen Ordnungsverantwortung von Unternehmen (und anderen Organisationen) gesellschaftlich zu kultivieren. Aus ordonomischer Sicht ist die Wissenschaft gut beraten, sich selbst in diesem Prozess (welt-)gesellschaftlicher Selbstorganisation zu verorten und ihre Beiträge so auszurichten, dass sie diesen Prozess kritisch begleiten und konstruktiv befördern. Ihrem Selbstverständnis nach leistet die Ordonomik einen solchen Beitrag, indem sie mit dem Konzept der Ordnungsverantwortung ein Theorieangebot unterbreitet, das darauf abstellt, die in die DNA des marktwirtschaftlichen Unternehmens eingeschriebene WinWin-Logik wirtschaftlicher Wertschöpfung in die Sphäre des Politischen zu transferieren. Von zentraler Bedeutung für diesen Transfer - für seine Reichweite und Leistungsfähigkeit - ist die Rational-Choice-Analyse sozialer Dilemmata. Gestützt auf diese Analyse, lädt die Ordonomik dazu ein, das gesellschaftliche Problemlösungspotential von „New-Governance"-Prozessen „possibilistisch" zu erschließen: Sie macht auf die Möglichkeit aufmerksam, dass Unternehmen durch individuelle Bindungen oder entsprechende Bindungsservices zur Überwindung einseitiger Dilemmastrukturen bzw. durch kollektive Bindungen oder entsprechende Bindungsservices zur Überwindung mehrseitiger Dilemmastrukturen beitragen und folglich mittels institutioneller „Commitments" das in der Situation eines sozialen Dilemmas liegende Win-Win-Potential freisetzen. Ludger Heidbrink hat diese argumentative Stoßrichtung der Ordonomik völlig richtig erkannt, traut ihr aber nicht viel zu (S. 221 et passim). Ich führe das darauf zurück, dass hier unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wie tragfahig und leistungsstark die Theoriestrategie ist, die politische Verantwortung der Unternehmen als Corporate Citizens von der Überwindung sozialer Dilemmata her zu denken. Hier besteht also Diskussionsbedarf.

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Ingo Pies

((4)) Ich wende mich nun der zweiten These von Ludger Heidbrink zu. Sie besagt, es sei empfehlenswert, nicht nur von der Ordnungsverantwortung zur leistungsfähigeren Systemverantwortung, sondern auch von der Ordnungstheorie zur leistungsfähigeren Systemtheorie überzugehen. Heidbrink (S. 218-221) belegt dies mit sechs Einwänden gegen die Ordonomik als Ordnungstheorie. Für jeden Einwand gibt es einen zentralen Begriff. Die sechs Begriffe lauten: 1. Methodologischer Individualismus 2. Reduktionistisches Moralverständnis I: Unterschätzung intrinsischer Moral 3. Reduktionistisches Moralverständnis II: Überschätzung der Klugheitsethik 4. Diskursiver Kognitivismus 5. Defizit demokratischer Legitimation 6. Staatsfixierung Ich glaube, dass sich alle sechs Einwände ausräumen lassen, zumal sie mir z.T. auf Missverständnissen zu beruhen scheinen. In jedem Fall aber verdienen alle sechs Punkte eine gründliche und ausführliche Auseinandersetzung. Aus Platzgründen kann ich hier jedoch nur kurz auf die letzten drei Einwände eingehen. Aus meiner Sicht lässt sich die Ordonomik einen kognitivistischen Fehlschluss nicht zu Schulden kommen. Vielmehr geht sie sogar explizit davon aus, dass es keinen unmittelbaren Übergang vom Denken zum Handeln geben muss. Dieser Hiatus zwischen Denken und Handeln ist für das Selbstverständnis der Ordonomik von so zentraler Bedeutung, dass man hier gleichsam den Dreh- und Angelpunkt ihrer gesamten Theoriearchitektur vor sich hat.6 Gerade im sozialen Dilemma gilt: Regelinteressen sind (noch) keine Handlungsinteressen. Verhaltenswirksam werden gemeinsame Regelinteressen erst dann, wenn die dilemmatische Ausgangssituation durch eine institutionelle (Re-)Formierung materieller oder immaterieller Anreize transformiert worden ist. Hinsichtlich ihres Verständnisses demokratischer Legitimation argumentiert die Ordonomik aus der Perspektive eines Gesellschaftsvertrags. Ihr Legitimationskriterium ist der hypothetische Konsens einer Zustimmung aller Beteiligten und Betroffenen zur (Re-)Formierung institutioneller Arrangements. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich diesem Kriterium verpflichtet weiß, rekonstruiert die Ordonomik die Evolution der modernen Gesellschaft als das Ergebnis von Lernprozessen im Umgang mit sozialen Dilemmata und deren Win-Win-Potentialen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der letzte Einwand begründet zurückweisen. Die Ordonomik analysiert nicht staatstheoretisch, sondern gesellschaftstheoretisch, und sie argumentiert nicht staatspolitisch, sondern gesellschaftspolitisch. Daraus folgen drei Implikationen: (a) Aus der ordonomischen Perspektive eines Gesellschaftsvertrags werden Markt und Staat rein instrumenteil betrachtet. Ihnen kommt kein Eigenwert zu. Sie müssen sich durch Zweckmäßigkeitsargumente rechtfertigen, die auf ihre Fähigkeit rekurrieren, gesellschaftliche Probleme zu lösen, (b) Markt und Staat sind primär nicht als substitutiv, sondern als komplementär zu denken, weil sie ihre jeweilige Stärke darin haben, unterschiedliche gesellschaftliche Probleme lösen zu können. Formelhaft zuge-

6

Vgl. hierzu ausfuhrlich Pies (2012).

Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? - eine ordonomische Replik

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spitzt, hat der Staat einen komparativen Vorteil bei kollektiv verbindlichen Regelsetzungen, mit denen sich mehrseitige Dilemmastrukturen managen lassen, während der Markt den komparativen Vorteil aufweist, die Unternehmen durch Wettbewerb immer wieder aufs Neue zu innovativen Selbstbindungen zu veranlassen, die spezifische Investitionen - vor allem im Hinblick auf Forschung und Entwicklung - ermöglichen und damit die wirtschaftliche Dynamik vorantreiben, (c) Aus ordonomischer Sicht lassen sich „New-Governance"-Prozesse als eine differenzierte Form der arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen Staat und Markt beschreiben. Einerseits gibt es Fälle wie die Transparenzinitiative EITI, bei denen Unternehmen - motiviert durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb - einem Staat helfen, sich gegenüber seinen eigenen Bürgern besser zu binden und Vertrauen aufzubauen, um ein einseitiges (Verfassungs-)Dilemma besser in den Griff zu bekommen. Andererseits gibt es Fälle wie z.B. Branchenvereinbarungen, bei denen der demokratische Staat die Unternehmen dazu anhält, sich selbst eine kollektive Bindung aufzuerlegen, um ein mehrseitiges (Wettbewerbs-)Dilemma in den Griff zu bekommen - auch wenn sich solche Formen einer „Private Governance" oft im Schatten einer staatlichen Regulierung(sandrohung) im Sinne von „Public Governance" abspielen und insofern als regulierte Selbstregulierung - ganz im Sinne einer Ordnungspolitik zweiter Ordnung - interpretiert werden können. Fazit: Aus ordonomischer Sicht werden sämtliche Formen der Governance - nicht als staatliche, sondern - als (welt-)gesellschaftliche Selbstorganisation gedacht. ((5)) Abschließend möchte ich noch auf drei Punkte hinweisen. Sie markieren Hindernisse, die einer interdisziplinären Verständigung leicht im Wege stehen können.

7



Niklas Luhmanns Systemtheorie ist auf die Fragestellung referentialisiert, was denn das Moderne der modernen Gesellschaft ausmacht. Diese Frage und Luhmanns Antworten formulieren eine Diagnose der Moderne, von der nicht nur die Ordonomik im Allgemeinen, sondern insbesondere auch das ordonomische Konzept der Ordnungsverantwortung wichtige Inspirationen bezieht.7 Aus ordonomischer Sicht ist aber auch die von ihr verwendete Rational-Choice-Analyse eine Systemtheorie, weil sie die Forschungsperspektive auf die nichtintendierten Folgen intentionalen Handelns richtet und die hierbei emergierenden Institutionen - ihre Formierung und Re-Formierung - als gesellschaftliches Management sozialer Dilemmastrukturen rekonstruiert. Formelhaft zugespitzt: Die Ordonomik führt das Systemischwerden der modernen Gesellschaft mittels Rational-Choice-Analyse zurück auf den wettbewerbsinduzierten Hiatus zwischen Motiv und Ergebnis, wie er für immer mehr Handlungen - nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik, der Wissenschaft usw. - typisch ist.



Der Begriff des „Dilemmas" wird in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich verwendet. Die Ordonomik benutzt ihn als terminus technicus, um einen ganz bestimmten Situationstyp zu bezeichnen. Dessen Kennzeichen besteht darin, dass ein der Situation inhärentes Win-Win-Potential wechselseitiger Besserstellung anreizbedingt nicht ausgeschöpft werden kann. Die theoretische Perspektive, die hier eingenommen wird, ist die einer Interaktions-Theorie und Institutionen-Analyse. In der Praktischen Philosophie hingegen bezeichnet man als

Vgl. hierzu grundlegend Beckmann (2010).

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Ingo Pies

Dilemma oft Entscheidungssituationen, die das Handlungssubjekt vor eine schwierige Wahl stellen. Thematisiert werden hier Trade-offs im Sinne von „tragic choices", die eine Win-Lose-Logik aufweisen. Die theoretische Perspektive, die dann eingenommen wird, ist typischerweise die einer Aktions-Theorie und Entscheidungs-Analyse. "

Ludger Heidbrink wählt für sein Konzept eine ganz bestimmte Perspektive. Er denkt die Systemverantwortung ausgehend vom Desiderat gesellschaftlicher Zuschreibungen von Verantwortung an Unternehmen. Die Ordonomik wählt eine andere Perspektive. Sie denkt die politische Ordnungsverantwortung von Unternehmen in Analogie zu ihrer wirtschaftlichen Wertschöpfungsverantwortung und bestimmt dann die Möglichkeiten und Grenzen der Ordnungsverantwortung anhand des Kriteriums, was aus Sicht der Unternehmen und ihrer Win-WinOrientierung anreizkompatibel ist - oder mittels einer Ordnungspolitik zweiter Ordnung anreizkompatibel gemacht werden könnte. Beide Perspektiven sind legitim und fruchtbar, aber nicht ohne Weiteres deckungsgleich. Hierüber eine interdisziplinäre Verständigung anzustreben, wäre einen Versuch wert.

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Andreas Suchanek

Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen1 Inhalt I. II. III. IV. V. VI.

Einleitung Prämissen der weiteren Argumentation Individual-vs. ordnungsethische Perspektive Wertschöpfung als gesellschaftliche Aufgabe von Unternehmen Kooperation und Vertrauenswürdigkeit Heuristische Implikationen: Zwei Imperative der Unternehmensverantwortung VII. Relevante Inkonsistenzen VIII. Schlussbemerkung

241 243 245 248 248

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Corporate Responsibility: The Avoidance of Relevant Inconsistencies.... 260

I. Einleitung Seit dem ersten Band widmet sich das ORDO-Jahrbuch der Frage „Wie muss die Wirtschafts- und Sozialordnung beschaffen sein, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann?"2 Die grundsätzliche Antwort, die seitdem die Bände durchzieht, lautet, dass es eine Wettbewerbsordnung sein muss, die individuelle Freiheit unter geeigneten institutionellen Rahmenbedingungen zur Geltung kommen lässt. Dabei gilt: „Freiheit und Verantwortung sind untrennbar." (Hayek 2005, S. 93) Dieser Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung hat in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem mit Bezug auf die Rolle von Unternehmen an Bedeutung gewonnen. Globalisierung und Digitalisierung haben in kurzer Zeit zu erheblichen Veränderungen von Freiheitsspielräumen gefuhrt, ohne dass ein dazu passender Ordnungsrahmen immer schon mitgewachsen wäre. Insofern ist es kein Zufall, dass zur Frage der Unternehmensverantwortung - oft unter dem Begriff Corporate Social Responsibility (CSR) - mittlerweile sowohl eine, wenn auch in unterschiedlicher Weise, institutionali-

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Ich danke zwei Gutachtern für ihre konstruktiven Hinweise. So der Beginn des Vorworts zum ersten Band von F. W. Meyer und H.O. Lenel (1948, S. VII).

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sierte Praxis als auch eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur, die sich in eigenen Handbüchern niederschlägt, 3 existiert. Gleichwohl scheint es nach wie vor schwierig, ein gemeinsames Grundverständnis dessen, was die Verantwortung von Unternehmen ausmacht, zu identifizieren, was sich etwa an der Einfuhrung immer neuer Begrifflichkeiten zeigt. 4 Die Forschung lässt, so ein Survey von A. Lockett, J. Moon und W. Visser, auch nach ca. 20 Jahren intensiver Arbeit nicht erkennen, dass sich so etwas wie eine herrschende Meinung bzw. ein dominierender Ansatz herauskristallisiert; es sei „a field without a paradigm" {Lockett et al. 2006, S. 133; vgl. auch De Bakker et al. 2005). Diese Schwierigkeit resultiert nicht zuletzt daraus, dass der Bereich der (möglichen) Verantwortlichkeit sehr umfangreich ist. So legt die EU-Kommission in ihrem neuesten Strategiepapier eine „moderne Definition" zu Grunde, dergemäß CSR „die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft" ist. Weiter heißt es, es sollen „soziale, ökologische, ethische, Menschenrechts- und Verbraucherbelange in enger Zusammenarbeit mit den Stakeholdern in die Betriebsfuhrung und in ihre Kernstrategie integriert werden" (EU-Kommission 2011, S. 7). Für Unternehmen ergibt sich daraus ein Problem der Operationalisierung, da es beliebig viele Aktivitäten gibt, die mit CSR in Verbindung gebracht werden können; zugleich sind oft keine klaren Maßstäbe vorhanden, wann welche „Belange" als angemessen erfüllt angesehen werden können. Für die Praxis, in der sich in gewisser Weise diese Diffusität widerspiegelt in Form der Heterogenität, wie CSR institutionalisiert wird, resultieren daraus erhebliche Herausforderungen. Insbesondere größere Unternehmen sollen glaubwürdig kommunizieren, dass sie den Anforderungen von CSR genügen, doch sind eben diese Anforderungen alles andere als klar. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend ein theoretisch begründeter Vorschlag gemacht, wie sich Unternehmensverantwortung in einer Weise präzisieren lässt, die sowohl Anschlussfahigkeit an theoretisch einschlägige Ansätze, Modelle und Konzepte gewährleistet als auch auf praktische Anwendbarkeit in Form von zwei Imperativen als Orientierung vermittelnden Heuristiken 5 angelegt ist - so begrenzt letzteres auch immer nur sein kann. Dieser Vorschlag wird in folgenden Schritten entwickelt: Zunächst werden einige Prämissen genannt, die die Grundlage der nachfolgenden Ausfuhrungen bilden und zugleich eine gewisse Einordnung in die Literatur vornehmen (II.). In diesem Kontext 3

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Siehe exemplarisch Creme et al. (2008), Smith und Lenssen (2009), Schneider und Schmidpeter (2012). Exemplarisch seien genannt: Corporate citizenship (Matten und Crane 2005), corporate social responsiveness (Frederick 1994), corporate social Performance (Wood 2010), corporate social irresponsibility (Lange und Washburn 2012), Company stakeholder responsibility (Freeman und Velamuri 2006). Es sei angemerkt, dass diese Imperative ihre heuristische Wirkung immer nur in Abhängigkeit von den jeweiligen Hintergrundtheorien (mind sets, mental models) der Anwender entfalten können. Insofern erübrigt sich in gewissem Sinne die Frage danach, ob sie als kategorisch oder hypothetisch angesehen werden. Aus Sicht der Theorie, in der sie hier eingebettet sind, sind sie insofern als hypothetisch anzusehen, da diese wie alle Theorien hier als in der Zeit veränderbar angesehen werden; allerdings ist es treffender, sie mit der von J. Buchanan stammenden Begrifflichkeit als „relatively absolute absolutes" (Buchanan 1989) zu bezeichnen.

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wird die hier zugrunde gelegte individualethische Perspektive begründet differenziert von einer ordnungsethischen Konzeptualisierung von CSR (III.)- Daran anschließend wird zunächst nachhaltige Wertschöpfung als die gesellschaftliche Aufgabe von Unternehmen (IV.) und Vertrauenswürdigkeit als grundlegende Eigenschaft zur Erfüllung dieser Aufgabe (V.) herausgestellt. Daraus lassen sich zwei grundlegende Imperative der Unternehmensverantwortung herleiten (VI.). Im nächsten Schritt wird das Konzept der relevanten Inkonsistenzen eingeführt (VII.). Einige knappe Bemerkungen beschließen den Text (VIII.).

II. Prämissen der weiteren Argumentation Es wird im Folgenden nicht darum gehen, einen Überblick über die höchst ausdifferenzierte und heterogene Diskussionslandschaft zum Themenfeld CSR zu geben. Stattdessen seien Prämissen genannt, die, wenngleich nicht uneingeschränkt, als weithin akzeptiert gelten können und auf denen die weiteren Überlegungen aufbauen, d.h. sie werden nicht selbst noch einmal ausfuhrlicher begründet oder diskutiert. (1) Unternehmensverantwortung bezieht sich auf den Gebrauch unternehmerischer Freiheiten. Insofern ist es kein Zufall, dass „Freiwilligkeit" immer wieder als wesentliche Dimension genannt wird. 6 Allerdings ist die häufig zu findende Interpretation von Freiwilligkeit teilweise irreführend, die diese jenseits rechtlich vorgeschriebener Verhaltensweisen ansiedelt 7 bzw. dazu in einen Gegensatz bringt, was zu einer unfruchtbaren Gegenüberstellung von Regulierung und Freiwilligkeit fuhrt. Demgegenüber wird Verantwortung hier als Haltung (Einstellung, Disposition) interpretiert, die den Gebrauch der eigenen Freiheit - im Rahmen der gegebenen Handlungsspielräume anleitet und die aus der hier zugrunde gelegten Sichtweise auch als Wahrung der eigenen Vertrauenswürdigkeit interpretiert werden kann. 8 (2) Unternehmensverantwortung steht in engem des Unternehmens mit seinen Stakeholdern,9 Dies gewissermaßen fort: Es geht um die Weise, wie mit pen umgegangen wird bzw. wie ein Unternehmen 6

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Zusammenhang mit dem Umgang setzt die zuvor genannte Prämisse den verschiedenen Anspruchsgrupim Rahmen des eigenen Freiheits-

Vgl. etwa Dahlsrud (2008), der „voluntariness" als eine von fünf immer wieder genannten Dimensionen von 37 untersuchten CSR-Definitionen konstatiert. Exemplarisch seien McWilliams und Siegel zitiert, die CSR definieren als „actions that appear to further some social good, beyond the interests of the firm and that which is required by law" (2001, S. 117). Diese Interpretation lässt verständlich werden, warum es so schwierig ist, Untemehmensverantwortung messbar zu machen. Mit Bezug auf Unternehmen lässt sich „Haltung" theoretisch erfassen etwa anhand der Konzepte „Unternehmenskultur", „Marke" bzw. „brand" oder „Reputation". Es sei hier indes nicht weiter auf dieses Themenfeld eingegangen, da, wie im Weiteren deutlich werden soll, der Fokus des Artikels ein anderer ist. Mit dieser Prämisse ist der Anschluss zu den verschiedenen Stakeholdertheorien, die in der CSRDiskussion eine prominente Rolle spielen (s. dazu etwa Freeman et al. (2010; m.w.L.), gegeben. Jedoch sei daraufhingewiesen, dass ein erheblicher Teil der Stakeholder-Ansätze aus Sicht der hier vorgestellten Perspektive defizitär ist, da bei ihnen einerseits die gesellschaftliche Verankerung von Unternehmen nicht deutlich wird, andererseits die Maßstäbe für legitime bzw. nicht legitime Ansprüche nicht genügend geklärt werden, um Grenzen der Verantwortung zu klären und damit Überforderungen der Unternehmen zu vermeiden; s. hierzu ausfuhrlich Lin-Hi (2009, insbes. S. 21 f.).

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gebrauchs den vielfaltigen und heterogenen Interessen seiner Stakeholder Rechnung trägt. (3) Unternehmensverantwortung kann nicht auf gesellschaftliches Engagement („ corporate philanthropy ") im Sinne von sozialen oder ökologisch ausgerichteten Projekten reduziert werden. Diese weit verbreitete Reduktion (s. exemplarisch Kotler und Lee 2005), die geleitet ist vom Gedanken, CSR als zusätzliche Aktivitäten des Unternehmens zu verstehen,10 führt dazu, das „normale" Kerngeschäft aus der Betrachtung auszuschließen, obwohl gerade in diesem Bereich die Frage nach dem verantwortlichen Gebrauch unternehmerischer Freiheiten zentral ist.11 (4) Unternehmensverantwortung kann nicht auf das Postulat der Gewinnerzielung reduziert werden. Diese Reduktion ist insbesondere von Milton Friedman (1970) vorgeschlagen worden (vgl. auch Sundaram und Inkpen 2004; Vermaelen 2009). Obwohl eine solche Position einige gute Argumente ins Feld fuhren kann, ist sie doch einseitig; von einer solchen Reduktion gehen heuristische Wirkungen aus, die unverantwortlichem Handeln den Boden bereiten können.12 Pointiert formuliert: Es gibt unverantwortliche Formen der Gewinnerzielung, doch werden diese Formen in solchen Ansätzen tendenziell unterschätzt, da solche Probleme als durch die staatlich durchgesetzte Rahmenordnung sowie den Marktwettbewerb als gelöst betrachtet werden.13 (5) Die Umsetzung von Unternehmensverantwortung darf nicht systematisch unvereinbar mit Gewinnerzielung sein.14 Diese Annahme ergibt sich zum einen daraus, dass für Unternehmen, die unter Bedingungen des Marktwettbewerbs handeln, die regelmäßige Erzielung von Gewinnen eine conditio sine qua non ist;15 dabei ist zu beachten, dass der Marktwettbewerb selbst normative Qualität hat {Homann und Blome-Drees 1992; Homann 2007). Ein weiterer Grund für diese Prämisse liegt darin, dass in den meisten Unternehmen nur auf diese Weise Anschlussfahigkeit an interne Prozesse hergestellt werden kann. Eine weitere Prämisse, die indes der ausführlicheren Erörterung bedarf, ist die insbesondere an die zuvor genannte Prämisse (1) anschließende individualethische Perspektive, die im Weiteren eingenommen wird.

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Dabei dominiert mittlerweile eine strategische Sichtweise solcher „philanthropischer" Aktivitäten. Zu einer kritischen Einschätzung s. etwa Lin-Hi (2009, 23 ff.). Kritisch hierzu siehe Suchanek und Lin-Hi (2008), Lin-Hi (2009, S. 28 f.). Für eine kritische Auseinandersetzung mit Friedman siehe Suchanek (2004). Auch wird gelegentlich, so auch von Friedman im Schlusssatz seines bekannten Aufsatzes (Friedman 1970, S. 126) als selbstverständlich unterstellt, dass Führungskräfte verantwortlich agieren. Doch ist genau diese Annahme nicht selbstverständlich, nicht zuletzt deshalb, weil oft keineswegs klar ist, was Verantwortlichkeit konkret bedeutet. Dies wird oft mit dem Begriff „business case" charakterisiert; zu dieser Diskussion s. etwa Kurucz et al. (2008), Carroll und Shabana (2010); Schreck (2012, m.w.L.). Dass der „business case" bzw. die Gewinnorientierung hier nicht in einem engen (kurzfristigen) Verständnis interpretiert werden soll, wird aus der im Text diskutierten zweiten Prämisse deutlich. Es sei indes hinzugefügt, dass das nicht gleichbedeutend ist mit Gewmnmaximierung.

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III. Individual- vs. ordnungsethische Perspektive Die nachfolgend entwickelten Überlegungen zur Frage der Unternehmensverantwortung richten sich der Sache nach an Repräsentanten des Unternehmens, die in dessen Namen handeln und insofern die Verantwortung des Unternehmens umsetzen (sollen). Daher kann man von einer individualethischen Perspektive sprechen.16 Eine solche Perspektive kann sich indes der Kritik ausgesetzt sehen, dass sie hinter eine wesentliche Einsicht des wirtschaftsethischen Diskurses zurückfallt, insofern sie den Einzelnen systematisch zu überfordern droht, unter Wettbewerbsbedingungen im Namen von Verantwortung Handlungen einzufordern, die Nachteile bringen können. Die zentrale Aussage einer solchen Position lässt sich auf den Satz bringen: Individualethik ist in Ordnungsethik einzubetten. Paradigmatisch17 stützt sich diese Sichtweise auf folgendes Argument: In Situationen vom Typ eines zweiseitigen Gefangenendilemmas kann der Einzelne allein nicht die gewünschte kooperative Lösung erreichen, dafür bedarf es zwingend einer institutionellen Abstimmung mit den Interaktionspartnern; eine einseitige kooperative Strategie und das heißt hier: verantwortliches Handeln - läuft stets das Risiko, so die Theorie, ausgebeutet zu werden.18 Dieses Argument ist für den Kontext von Unternehmensverantwortung deshalb so zentral, da Unternehmen gesellschaftlich erwünschtermaßen unter Wettbewerb agieren müssen19 mit der Folge: „Unter Wettbewerbsbedingungen avanciert die institutionelle Rahmenordnung zum systematischen Ort der Moral." (Homann und Pies 2000, S. 336; vgl. auch Homann und Blome-Drees 1992, S. 35). Individualethische Überlegungen zu verantwortlichem Handeln kann zwar der Status einer „Klugheitsheuristik" (Beckmann 2010, S. 235 ff.) zugebilligt werden, doch systematisch gesehen erforderten die Strukturen unternehmerischen Agierens eine Umstellung auf „Ordnungsverantwortung"20 (ebd.). Grund hierfür ist der Umstand, dass in Handlungssituationen, die durch die Logik des Gefangenendilemmas charakterisiert seien - und das sind aufgrund des Wettbewerbs grundsätzlich alle unternehmerischen Situationen der einzelne Akteur keine hinreichende Kontrolle über die Ergebnisse seines Handelns habe, weshalb eine Umstellung der Konzeptualisierung von Unternehmensverantwortung auf Regeln zu erfolgen habe (ebd.). 16

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Zugleich - und hier kommt die konsenstheoretische Fundierung (Suchanek 2007) zum Tragen - richtet sich die Theorie indirekt auch an alle Beobachter dieser Entscheider, indem sie Kriterien benennt, nach denen - aus Sicht der Theorie - das Handeln der Unternehmensrepräsentanten als verantwortlich, d.h. als zustimmungsfähig, betrachtet werden kann. So gesehen ist es der Versuch, die Position des „unparteiischen Betrachters" (Smith 2010, pass.) zu formulieren. Diese Präzisierung ist wichtig, um den Status der Argumentation mit dem Gefangenendilemma sinnvoll zu interpretieren. Es ist ein „Schema" (Suchanek 1994), d.h. eine theoretische Grundstruktur, in die dann weitere Differenzierungen eingebaut werden können. Grundlegend hierzu die Arbeiten von K. Homann (s. etwa Homann 2002; Homann und Blome-Drees 1992) sowie in weiterentwickelter Form der Ansatz der Ordonomik von I. Pies (Pies 2009; Pies et al. 2009; Pies et al. 2010) Systematisch grundlegend hierzu Homann (1990); vgl. auch Pies (2000, S. 62): „Institutionalisierter Marktwettbewerb ist ein Anreizinstrument, durch das sich die Marktteilnehmer wechselseitige Kooperationsvorteile verschaffen." (i.O. hervorgehoben) So der Titel von Beckmann (2010).

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Gestützt werden diese Überlegungen durch den Umstand, dass zahlreiche Problemfelder, die im Kontext von Unternehmensverantwortung auftreten,21 von einer Natur sind, dass sie individuelle Kosten verursachen, jedoch das gewünschte Ergebnis, etwa Bekämpfung der Korruption, höhere Sozial- oder Ökostandards etc., nicht erreicht wird, sofern die Wettbewerber nicht mitziehen - und aufgrund des dilemmatischen Charakters der Situation ist damit nicht zu rechnen. Stattdessen sind geeignete Regeln des Wettbewerbs erforderlich: Die institutionelle Rahmenordnung ist so auszugestalten, dass die Wahrnehmung individueller Freiheit - im Kontext von Unternehmen: die Verfolgung der Gewinninteressen - anreizkompatibel ist mit der Realisierung gesellschaftlicher Kooperationsgewinne, die dann als solche gar nicht mal im direkten Handlungsinteresse liegen braucht - und in der Regel auch nicht liegt.22 (Unternehmens-)Verantwortung kommt deshalb, so der Kern der ordnungsethischen Argumentation, im Wesentlichen auf der Ebene der „Spielregeln" zum Tragen, nicht der Ebene der „Spielzüge".23 Es steht außer Zweifel, dass diese Argumentation Erkenntnisse von beträchtlicher Tragweite bereithält. Allerdings lässt sich auch eine Frage aufwerfen, für die noch keine befriedigende Antwort erkennbar ist: Warum sollte eine Führungskraft Ordnungsverantwortung übernehmen? Die theorieimmanente Antwort, dass es angesichts des Gefangenendilemmas nicht-realisierte Kooperationsgewinne gibt, kann nur bedingt überzeugen. Denn „Spielregeln gestalten sich nicht von selbst" (Schramm 1997), die Herstellung der Bedingungen zur Realisierung dieser Kooperationsgewinne ist nicht kostenlos, die Veränderung der Anreize bringt in der Regel erhebliche Kosten mit sich.24 Damit aber entsteht ein Second-Order-Dilemma im Hinblick auf die Etablierung von Organisationsstrukturen oder Prozessen, um die Regeln zur Lösung des First-OrderDilemma zu implementieren. Und es ist fraglich, ob Repräsentanten des Unternehmens sich dieser Aufgabe in der angestrebten Form annehmen; so dürfte es keineswegs immer anreizkompatibel sein, sich für eine solche Lösung einzusetzen, die der Sache nach ein Kollektivgut ist und bei der eine Messung des Nutzens für das eigene Unternehmen sehr schwierig ist (Sammeck 2012, S. 55 ff.).

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Exemplarisch lassen sich hier die durch die 10 Prinzipien des UN Global Compact angesprochenen Themenfelder anführen (www.unglobalcompact.org). Dies gehört seit A. Smiths „Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker" (2005) zum Grundbestand ökonomischen Wissens. Eher nicht zu diesem Grundbestand gehört indes Smiths Einsicht, dass der „unparteiische Beobachter" als interne Instanz des Handelnden mit der,.Angemessenheit" (propriety) des eigenen Handelns einen Maßstab hat, der gewissermaßen die Konsensfahigkeit des eigenen Tuns mitbetrachtet - auch wenn dies nur ein Anreiz unter mehreren ist. Im Rahmen der Ordonomik wird von Basisspiel und Metaspiel gesprochen. Zudem spielt eine dritte Ebene, das Meta-Meta-Spiel ebenfalls eine zentrale Rolle. Gemeint ist damit der Diskurs über Regeln, dem deshalb systematische Bedeutung zukommt, da die Kategorien dieses Diskurses, die „Semantik", möglicherweise nicht passend ist, um Probleme der Sozialstruktur angemessen zu erfassen (Pies 2012, pass.). Ahnlich, aber mit einigen systematisch anderen Akzentuierungen, die den hier vorgestellten Überlegungen entsprechen, von Broock (2012), der als dritte Ebene die des „Spielverständnisses" darstellt. Sammeck (2012, S. 66 ff.) etwa verweist auf Transformations- und Transaktionskosten: Transformationskosten fallen im Unternehmen an als Folge einer kollektiven Selbstbindung. Transaktionskosten sind aufzuwenden, um Überwachungs- und Sanktionsinstrumente zu entwickeln, die die Selbstbindung glaubwürdig werden lassen.

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Zudem unterschätzt diese ordnungsethische Perspektive die Bedeutung diskretionärer Handlungsspielräume auf der Ebene der „Spielzüge", auf der die alltäglichen Herausforderungen verantwortlichen Handelns auftreten. Gerade weil die „Ordnung", die in ordnungsethischen Ansätzen angestrebt wird, eine freiheitliche Ordnung ist und sein soll, stellt sich die Frage, wie man diese Freiheit im Alltag nutzt. Hierbei wäre es eine Überforderung des institutionellen Rahmens, die enorme Vielzahl möglicher Konfliktfelder im unternehmerischen Alltag ordnungspolitisch in den Griff bekommen zu wollen.25 Gleichermaßen ist es illusorisch - und unter Umständen von problematischer heuristischer Wirkung26 - , durch gezielte Anreizsteuerung die Anreizkompatibilität auf Spielzugebene gewährleisten zu wollen. Genau hier ist die Verantwortung des Unternehmens bzw. seiner Repräsentanten gefragt. Diese Verantwortung ist indes - darin liegt ein wesentlicher Beitrag der ordnungsethischen Perspektive - nicht unbedingt einzufordern in dem Sinne, dass ggf. Opfer zugunsten des Gemeinwohls zu erbringen seien, sondern als eine Investition, die der eigenen und zugleich allgemeinen Besserstellung dient?1 Diese Perspektive schließt ein Engagement auf Regelebene nicht aus, sofern es sich als sinnvolle Investition erweist. Doch ist dies nur ein Teil der Verantwortung, die es wahrzunehmen gilt. In der Regel stellt sich die Aufgabe verantwortlichen Handelns im Alltag auf der Ebene der „Spielzüge", sei es bei der Behandlung von Mitarbeitern, in Zielvereinbarungsgesprächen, der Gestaltung von Werbekampagnen, der Befolgung von Regeln, der Unternehmenskommunikation usw. Diese gewissermaßen alltägliche Wahrnehmung (oder Nicht-Wahrnehmung) von Verantwortung sollte ordnungsethisch informiert sein; denn für die Abschätzung geeigneter Investitionsstrategien zur eigenen und zugleich allgemeinen Besserstellung ist es wichtig abschätzen zu können, welche Vor- und Nachteile die intendierten Strategien vermutlich mit sich bringen und ob es sinnvoll ist, evtl. auch einmal eine Veränderung der institutionellen Voraussetzungen des eigenen Handelns anzustreben. Insofern gilt: Ordnungsethik ist in die Individualethik einzubetten.28 Individualethik meint in diesem Kontext eine Theorie verantwortlichen unternehmerischen Handelns unter den jeweils gegebenen Situationsbedingungen. Wie diese Verantwortung näher zu bestimmen ist, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

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Transaktionskostentheoretisch kann man formulieren, dass verantwortliches Handeln zu Kosteneinsparungen mit Bezug auf die institutionelle Rahmenordnung fuhrt (vgl. auch Suchanek 2011). Zu Problemen der Anreizsteuerung siehe Suchanek und Lin-Hi (2011). Die Nähe dieser Formulierung zur Kantschen Autonomieformel (Kant 1984, S. 84) ist gewollt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass in dieser Formulierung das für die Implementation grundlegende Kriterium der Anreizkompatibilität als enthalten zu denken ist. Systematisch hierzu neuerdings: von Broock (2012). Einen interessanten Beitrag zum Verhältnis von Ordnungs- bzw. Institutionen- und Individualethik offerieren Pies und Hielscher (2012), die vier Konstellationen unterscheiden: Wenn situative Anreize und ethische Begründungen positiv oder negativ zusammenfallen, kommt die Individualethik zum Zuge; wenn hingegen beides auseinanderfallt, bedarf es der Institutionenethik, da es erforderlich ist, durch institutionelle Reformen Anreizkompatibilität moralischen Handelns zu ermöglichen. Allerdings lassen diese Überlegungen nicht deutlich werden, welche heuristischen Empfehlungen für Entscheidungsträger in Unternehmen daraus resultieren.

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IV. Wertschöpfung als gesellschaftliche Aufgabe von Unternehmen Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass die vorliegenden Ausführungen auf einem konsenstheoretischen Ansatz basieren. Das bedeutet, dass individuelle Freiheit als gesellschaftlich konstituiert angesehen wird. 29 So verstanden lässt sich Verantwortungswahrnehmung rekonstruieren als Orientierung an der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit des eigenen Freiheitsgebrauchs. Diese Zustimmungsfähigkeit ist grundsätzlich dann gegeben, wenn die von dem Freiheitsgebrauch des individuellen Akteurs Betroffenen entweder selbst Vorteile davon haben oder zumindest nicht dadurch geschädigt werden. Das lässt sich auch auf den Gebrauch unternehmerischer Freiheiten übertragen. Auch hier gilt, dass bei dem Gebrauch dieser Freiheit die legitimen Interessen Betroffener angemessen zu berücksichtigen sind, da dies gewissermaßen die Geschäftsgrundlage ist, auf der die Gesellschaft Unternehmen überhaupt gestattet zu existieren; man spricht auch von der „license to operate" (siehe etwa Graafland 2002, S. 297 f.).Diese „license to operate" wird Unternehmen von der Gesellschaft durch die Schaffung entsprechender rechtlicher Grundlagen gewährt, da Unternehmen durch ihre Doppelstruktur als institutionelles Arrangement und als korporativer Akteur in der Lage sind, die Möglichkeiten der Realisierung gesellschaftlicher Kooperationsgewinne beträchtlich zu steigern (Homann und Suchanek 2005, Kap. 5). Anders formuliert: Die gesellschaftliche Aufgabe von Unternehmen, die diesen das Kriterium zum Erhalt ihrer „license to operate" vorgibt, besteht in gesellschaftlicher Wertschöpfung (vgl. Kurucz et al. 2008; Pies et al. 2010, S. 268) ohne Schädigung der legitimen Interessen Dritter. 30 Unternehmensverantwortung ist damit herzuleiten von der Frage, ob Unternehmen dieser Aufgabe in angemessener Form nachkommen.

V. Kooperation und Vertrauenswürdigkeit Unternehmerische Wertschöpfung erfordert zwingend die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit zahlreichen Kooperationspartnern: 31 Kapitalgebern, Mitarbeitern, Kunden, Zulieferern sowie weiteren Stakeholdergruppen, einschließlich jener, deren Beitrag im Wesentlichen darin besteht, die Reputation nicht zu schädigen oder alltägliche Arbeitsprozesse nicht zu stören.32 Da diese Kooperationspartner in aller Regel nicht zur Zusammenarbeit gezwungen werden können, steht jedes Unternehmen vor der Herausforderung, diese zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Dies geschieht durch das Angebot von (Gegen-)Leistungen im Tausch gegen den Beitrag des jeweiligen Kooperationspartners. Letztere werden ihrerseits auf das Angebot eingehen, wenn es (a) hinreichend attraktiv für sie ist - dies ist 29 30

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Zu dieser Prämisse siehe etwa Buchanan (1984); Homann (1988). Dieser Zusatz ist systematisch wichtig, da er die Zustimmungsfahigkeit durch die Gesellschaftsmitglieder, die keine direkten Interaktionspartner des Unternehmens sind, gewährleistet (genauer: gewährleisten soll). Dieser Punkt wird später unter dem Begriff der Rechtschaffenheit wieder aufgegriffen. Darin liegt die Prominenz der Stakeholdertheorien begründet; siehe dazu etwa Freeman et al. (2010). Gemeint sind hier Medien und Nicht-Regierungs-Organisationen.

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eine Frage der relativen Preise bzw. relevanter Alternativen - , und sie (b) hinreichendes Vertrauen haben, dass sie diese Gegenleistung auch in der vereinbarten bzw. versprochenen Form erhalten.33 In vielen Fällen wird dieses Vertrauen zu einem erheblichen Teil abgesichert sein durch institutionelle Strukturen: rechtliche Vorgaben oder vertragliche Bestimmungen.34 Auch sind bei manchen Tausch- bzw. Kooperationsvorgängen, die on the spot durchgeführt werden, unmittelbare Verifikationen des Erhalts der Gegenleistung möglich, doch bei den meisten Kooperations- bzw. Tauschprozessen erfolgen Teile oder Prüfungen der Leistung erst nach der eingegangenen Kooperation. Insofern wird das Vertrauen der Kooperationspartner bzw. die eigene Vertrauenswürdigkeit zu einer fundamentalen Voraussetzung erfolgreicher Kooperation und damit zugleich nachhaltiger Wertschöpfung. Unternehmen als Vertrauensnehmer stehen somit vor der Herausforderung, bei ihren Kooperationspartnern, den Vertrauensgebern, entsprechende Vertrauenserwartungen aufzubauen. Diese Art von Erwartungen des Vertrauensgebers bezieht sich darauf, dass der Vertrauensnehmer seine berechtigten Interessen anerkennt und etwaige Möglichkeiten des Freiheitsgebrauchs zu Lasten des Vertrauensgebers nicht nutzt, also nichtopportunistisch handelt.35 Schematisch lassen sich die Grundannahmen, die zur Bildung von Vertrauenserwartungen und den dazu gehörigen Urteilen führen,36 wie folgt darstellen:37

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Für die weiteren Überlegungen wird das in der Praxis relevante Problem ausgeklammert, inwieweit die Vertrauensgeber ihrerseits opportunistisch agieren können. Je nach Stakeholdergruppe (Kunden, Investoren, Mitarbeiter, Wettbewerber) stellt sich dieses Problem in unterschiedlicher Form und wird zu einem erheblichen Teil institutionell vorstrukturiert. Gleichwohl bleiben auch hier in der Regel diskretionäre Handlungsspielräume, so dass die Unternehmen nicht nur Vertrauensnehmer, sondern auch -geber sind. Die Verantwortungsfrage stellt sich mit anderen Worten nicht nur auf Seiten der Unternehmen. Dies verdeutlicht die Bedeutung des investiven Charakters der Wahrnehmung von Verantwortung (vgl. hierzu von Broock 2012). Allerdings sind solche Absicherungen immer mit Transaktionskosten verbunden, was zur bekannten These führt, dass Vertrauen eben diese Transaktionskosten senken hilft und insofern Kooperationsgewinne ermöglicht; siehe etwa Dyer und Chu (2003); Bromiley und Harris (2006). In der Literatur wird dementsprechend oft auf „Verletzlichkeit" als zentrales Definitionsmerkmal von Vertrauen verwiesen, z.B.: „Trustis a psychological state comprising the intention to accept vulnerability based upon positive expectations of the intentions or behavior of another." (Rousseau et al., 1998, S. 395; vgl. auch Bigley und Pearce, 1998, S. 406 ff.). Vgl. hierzu auch Dasgupta: „That the basis of cooperation is mutual trust is a banality, the deeper point is that trust in tum is based on beliefs." (2009, S. 3301) Zu dem zugrunde liegenden praktischen Syllogismus vgl. Suchanek (2007, pass.).

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Abb. 1: Vertrauenserwartungen

Sowohl die Erwartungen (ex ante) als auch die Urteile (ex post) basieren auf zwei unterschiedlichen Arten von Prämissen: Einerseits normativen Prämissen, die einen Bezug haben zur Intention des Vertrauensnehmers bzw. den von ihm (aus Sicht des Vertrauensgebers) zu beachtenden Normen und Werten, andererseits Prämissen, die die Überzeugungen des Vertrauensnehmers im Hinblick auf die Situation38 des Vertrauensnehmers und die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume sowie vermutlichen Handlungen selbst bilden; entsprechend dieser Überzeugungen können die Erwartungen höher oder weniger hoch sein. Werden dem Vertrauensgeber beispielsweise bestimmte (empirische) Umstände der Situation des Vertrauensnehmers bekannt, die dessen Handlungsmöglichkeiten erheblich einschränken, wird sich der Vertrauensgeber (in der Regel) in seinen Erwartungen entsprechend anpassen.39 Die Erosion von Vertrauen resultiert folgerichtig aus der Nicht-Erfüllung von Erwartungen an das Handeln des Unternehmens, die unter den gegebenen empirischen Bedingungen als (zumutbar) erfüllbar angesehen werden. Für den Vertrauensnehmer ergeben sich daraus Implikationen im Hinblick auf den Aufbau bzw. Erhalt von Vertrauenswürdigkeit. Generell gilt: „Wer sich Vertrauen erwerben will, muss f...] in der Lage sein, fremde Erwartungen in die eigene Selbstdarstellung einzubauen." (Luhmann 2009, S. 80 f.) Wie beschrieben beziehen sich diese Erwartungen des Vertrauensgebers darauf, nicht durch opportunistisches Handeln geschädigt zu werden.

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Es sei daraufhingewiesen, dass dazu insbesondere auch Einschätzungen zum Akteur und seiner Reputation selbst zu zählen sind: Bei einem Discounter hat man andere Erwartungen als bei einem Markenanbieter aus dem Premiumsegment. Doch auch allgemeine Überzeugungen, etwa hinsichtlich der Wirkungszusammenhänge einer Marktwirtschaft, die einem verständlich werden lassen können (oder auch nicht), warum Unternehmen in bestimmten Situationen wie agieren, spielen hier eine Rolle. Dieser Aspekt wird sich später als folgenreich erweisen, da Vertrauensverlust auch aufgrund überzogener Erwartungen zustande kommen kann und es dann für den Vertrauensgeber eher eine Frage geeigneter Kommunikation als Handlungen ist, wenn er sich das Vertrauen bewahren will. Die Bedeutung dieses Problems ergibt sich nicht zuletzt aus dem „fundamental attribution error" bzw. „cognitive bias" (vgl. Gilbert und Malone 1995), d.h. der Zurechnung auf Personen statt auf situative Umstände bzw. Strukturen.

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Basierend auf diesen Überlegungen lässt sich die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensnehmers genauer bestimmen in Form der nachfolgend diskutierten Eigenschaften (1) Kompetenz, (2) Nicht-Opportunismus und (3) Rechtschaffenheit (vgl. Suchanek 2012): 1) Kompetenz betrifft die Fähigkeiten des Vertrauensnehmers, die vertraglich vereinbarte bzw. versprochene Leistung erbringen zu können. 40 In der Literatur wird hier auch das Konzept „Zutrauen" verwendet (vgl. hierzu etwa Gilbert 2007, S. 69). 2) Die zentrale Dimension von Vertrauenswürdigkeit, die direkt bezogen ist auf den Kern der Vertrauenserwartung, nicht geschädigt zu werden durch opportunistisches Agieren des Vertrauensnehmers, ist Nicht-Opportunismus als Bereitschaft und Fähigkeit des Vertrauensnehmers, situativen Anreizen zu widerstehen, sich Vorteile zu Lasten des Vertrauensgebers zu verschaffen. 41 Diese Eigenschaft wird oft auch als „Wohlwollen" („benevolence") charakterisiert. 42 Zu beachten ist allerdings, dass im hier verstandenen Sinne Nicht-Opportunismus nicht gleichbedeutend ist mit Altruismus, ökonomisch formuliert: damit, dass das Wohlergehen des anderen ein Argument der eigenen Nutzenfünktion ist. Es geht vielmehr darum, dass der Vertrauensnehmer die Interessen des Vertrauensgebers in angemessener Weise bei seinen Handlungen berücksichtigt aus wohlverstandenem Eigeninteresse. 43 Dieses Eigeninteresse ergibt sich unmittelbar aus der zuvor angeführten Prämisse, dass die Kooperationsbereitschaft des Vertrauensgebers, d.h. seine Bereitschaft zur riskanten Vorleistung, nur dann angenommen werden kann, wenn er die (Vertrauens-)£nvar/w«g hat, dadurch nicht benachteiligt oder geschädigt zu werden. 3) Die zuvor genannte Eigenschaft bezieht sich auf die direkte Interaktion mit dem Vertrauensgeber. Eine weitere Eigenschaft von Vertrauenswürdigkeit, die darüber hinausgeht, ist Rechtschaffenheit im Sinne der Bereitschaft und Fähigkeit des Vertrauensnehmers, sich an geltendes Recht zu halten. 44 Zu beachten ist hier, dass es nicht primär darum geht, ob jederzeit der sprichwörtliche Buchstabe des Gesetzes befolgt wurde, sondern ob der Vertrauensnehmer die rechtlichen Vorgaben ihrem Sinn nach befolgt, so dass der Vertrauensnehmer nicht befürchten muss, dass bestehende Gesetzeslücken jederzeit gegen ihn ausgelegt werden könnten oder Normen bzw. Verträge nicht eingehal-

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Vgl. dazu auch Mayer et al., die von „ability"(1995, S. 717 f.) sprechen. Beispiele hierfür sind etwa fehlende Sicherheitsprüfungen aus Kostengründen, Verzögerung der Zahlungen an Lieferanten, Auslieferung von Produkten geringerer Qualität als angekündigt, NichtEinhaltung von Versprechen, die gegenüber Mitarbeitern abgegeben wurden usw. Vgl. etwa Mayer et al. (1995, S. 718 f.) Es ist grundsätzlich auch möglich, dass dies aus Altruismus geschieht. Jedoch ist es bei korporativen Akteuren in der Regel sinnvoll, „Eigeninteresse" im Sinne der Fokussierung auf die Zielsetzung der Organisation zu unterstellen. Für Unternehmen gilt dann in aller Regel, dass für sie als funktional definiertes institutionelles Arrangement Wohlwollen kein genuines Ziel darstellen kann. In jedem Fall sollte eine Theorie der Untemehmensverantwortung nicht durch die Unterstellung von Wohlwollen eine zentrale Herausforderung der Umsetzung wegdefinieren. Diese in Codes of Conduct oft angeführte Norm wird nicht selten unterschätzt im Hinblick auf die Anforderungen, die sich dadurch für global agierende Unternehmen stellen und die heute unter dem Begriff Compliance verhandelt werden; siehe z.B. Wieland et al. (2010).

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ten werden, sofern damit gerechnet werden kann, dass aufgrund von Vollzugsdefiziten keine Sanktionen zu befurchten sind.45 Die drei genannten Eigenschaften und ihre genauere Bestimmung sind insofern von Interesse, als sich daraus Möglichkeiten für Unternehmen ergeben, präziser zu verstehen, wie sie in ihre Vertrauenswürdigkeit investieren können - und so ihrer Verantwortung nachkommen.46

VI. Heuristische Implikationen: Zwei Imperative der Unternehmensverantwortung Aus den bisherigen Überlegungen, insbes. den zuvor genannten Eigenschaften des Nicht-Opportunismus und der Rechtschaffenheit, lassen sich zwei allgemeine Imperative der Unternehmensverantwortung - im Sinne einer Investition in die eigene Vertrauenswürdigkeit - ableiten: (1) Geltende Gesetze, Normen und Verträge sind einzuhalten! Dieser Imperativ ergibt sich aus der Eigenschaft der Rechtschaffenheit als Grundlage der Vertrauenswürdigkeit. Wie zuvor schon angedeutet, liegt hierin eine beträchtliche Herausforderung, die sich etwa in der raschen Ausweitung der Compliance-Abteilungen global agierender Unternehmen manifestiert. Offengelassen wird hier, inwieweit eine Verantwortung zur Weiterentwicklung eines defizitären Ordnungsrahmens, wie es von der in Abschnitt III. diskutierten Ordnungsethik gefordert wird, besteht. Grundsätzlich gilt: Sofern sich eine solche Weiterentwicklung als anreizkompatible Investition in die eigene und zugleich allgemeine Besserstellung erweist, lässt sie sich als solche plausibilisieren; es sollte indes nicht unterschätzt werden, wie voraussetzungsreich eine solche Konstellation ist. Der hier gewählte Fokus liegt primär darauf, zunächst dem Kriterium des Erhalts der eigenen Vertrauenswürdigkeit durch glaubwürdiges Signalisieren der eigenen Rechtschaffenheit - und das heißt zunächst: Einhalten geltenden Rechts - gerecht zu werden. Der zweite Imperativ lautet: (2) Versprechen sind zu halten! Dieser Imperativ spiegelt die Vertrauenseigenschaft des Nicht-Opportunismus. Diese zunächst evtl. trivial klingende Forderung gewinnt ihren Gehalt aus der Tatsache, dass im Alltag sehr viel mehr Versprechen abgegeben werden, als einem in der Regel bewusst ist. Aussagen in Werbung, Stellenanzeigen, Pressemitteilungen, Zielvereinbarungsgesprächen etc. enthalten oft explizite oder implizite Versprechen, an denen sich Vertrauensgeber orientieren. Diese Versprechen können allgemeiner oder konkreter Natur sein. Letztere sind in der Regel unschwer zu identifizieren als Aussagen über jene Leistungen, die Unternehmen als Gegenleistung zum Wertschöpfungsbeitrag zu erbrin45 46

An dieser Stelle kommen ordnungsethische Überlegungen mit ins Spiel. Für die weiteren Überlegungen wird aus Gründen der Vereinfachung die erste der genannten Eigenschaften, Kompetenz, unter die beiden anderen subsumiert, was insofern plausibilisiert werden kann, da die Nicht-Erfüllung von Kompetenzerwartungen entweder als Opportunismus oder als gesetzesbzw. vertragsverletzend gedeutet werden kann.

Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen

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gen in Aussicht stellen. Versprechen allgemeiner Art sind etwa Aussagen zu Werten, die das Unternehmen kommuniziert und somit als Leitlinien des eigenen Handelns „verspricht". Diese Werte spiegeln in gewissem Sinne die allgemeinen normativen Prämissen, die das Unternehmen bei Vertrauensgebern als relevant unterstellt, d.h. Unternehmen versuchen auf diese Weise nach innen wie nach außen eine Haltung der Vertrauenswürdigkeit zu signalisieren.47 Beide Imperative sind zu verstehen als normative Orientierungen bzw. Heuristiken zur Wahrnehmung von Verantwortung. Sie richten sich einerseits an Repräsentanten der Unternehmen. Dabei beanspruchen sie, anreizkompatibel zu sein, indem sie auf das wohlverstandene Eigeninteresse abstellen, um durch Erhalt der eigenen Vertrauenswürdigkeit dauerhaft die Kooperationsbereitschaft jener Interaktionspartner, die für nachhaltige Wertschöpfung erforderlich ist, zu erhalten. Andererseits formulieren sie Maßstäbe für die Zustimmungsfähigkeit des Unternehmenshandelns, also für die Wahrnehmung (durch Beobachter) von Verantwortung im anderen Sinne. Wie die nachfolgenden Überlegungen verdeutlichen sollen, sind beide Imperative nicht in dem Sinne zu interpretieren, dass ihre Einhaltung jederzeit und überall im strengen Sinne eingefordert wird - das wäre vor allem im Hinblick auf die enorme Vielfalt von Versprechen, die jeden Tag in Unternehmen gegeben werden, lebensfremd; und das Konzept der relevanten Inkonsistenzen versucht genau dem Rechnung zu tragen. Vielmehr dienen sie als Orientierung im Hinblick auf ihre Funktion, die Bedingungen gesellschaftlich erwünschter Wertschöpfung zu verbessern durch Erhalt des dafür fundamentalen Vermögenswerts der eigenen Vertrauenswürdigkeit; und es hängt, wie immer, vom „Spielverständnis" (von Broock 2012) des Adressaten ab, als wie verbindlich diese Imperative interpretiert werden.

VII. Relevante Inkonsistenzen Vertrauenswürdigkeit, so die These, beruht grundsätzlich auf der Befolgung der beiden zuvor genannten Imperative, da ein entsprechendes Handeln in der Regel zu einer Bestätigung der Vertrauenserwartungen führen wird. Allerdings ist dies nicht zwingend der Fall, da die Vertrauenserwartungen subjektiver Natur sind und auch - vergegenwärtigt man sich die enorme Vielzahl heterogener Stakeholder eines Unternehmens - sehr divers ausfallen können. Zudem sind Vertrauensgeber oft nicht gut informiert über die konkreten Handlungsbedingungen von Unternehmen, so dass auch damit zu rechnen ist, dass zu hohe Erwartungen - mit der wahrscheinlichen Folge von Enttäuschungen - gestellt werden können. Insofern gibt es zahlreiche Umstände, unter denen es zu Inkonsistenzen zwischen den Erwartungen des Vertrauensgebers einerseits und den (wahrgenommenen) Handlungen des Unternehmens andererseits kommen kann. Dementsprechend wird man im Alltag eine Vielzahl solcher Inkonsistenzen beobachten können: Nicht alle Gesetze und Verträge werden genau befolgt, nicht alle Versprechen werden gehalten. Allerdings ist dies nicht selten den Handlungsbedingungen des Vertrauensnehmers geschuldet, die,

47

Vgl. dazu Suchanek und von Broock (2008).

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Andreas Suchanek

sofern sie dem Vertrauensgeber bekannt sind, gewissermaßen rechtfertigend wirken können;48 eine andere Möglichkeit ist, dass die Inkonsistenz als solche zu unbedeutend ist, um irgendwelche Folgen zu haben. Anders formuliert wäre es eine (naive) Überforderung des Unternehmens, seine Verantwortlichkeit dahingehend zu bestimmen, dass jegliche Inkonsistenz zu vermeiden ist. Stattdessen wird hier dafür plädiert, Unternehmensverantwortung an der Vermeidung relevanter Inkonsistenzen festzumachen. Diese sind definiert als solche Inkonsistenzen zwischen Vertrauenserwartungen und wahrgenommenen Handlungen des Unternehmens, die zur Unterminierung des Vertrauens — und damit der Kooperationsbereitschaft -fiihren. Aus Sicht des Unternehmens bzw. Vertrauensnehmers lassen sich mit Blick auf die Operationalisierung von CSR diese Inkonsistenzen grundsätzlich auch als signifikante Abweichungen der beiden zuvor genannten Imperative interpretieren.49 Beispiele für relevante Inkonsistenzen können sein: •

die Nicht-Erfüllung von Versprechen bezüglich der Eigenschaften von Produkten oder Dienstleistungen,



die Missachtung berechtigter Ansprüche von Mitarbeitern auf monetäre oder nicht-monetäre Leistungen,



Verschleierung von Fakten bis hin zu Bilanzmanipulation,



Unterlaufen oder Vernachlässigen von sozialen, ökologischen, Sicherheitsoder Qualitätsstandards,



Ausnutzung von Informationsasymmetrien zu Lasten Dritter usw.

Die Folgen relevanter Inkonsistenzen sind verringerte Wertschöpfung, etwa aufgrund der Abwanderung der Kunden oder Investoren, innerer oder tatsächlicher Kündigung der Mitarbeiter, verzögerten Genehmigungen von Verwaltungen oder Aufrufen zu Boykotten durch Nicht-Regierungsorganisationen. Aufgrund der Subjektivität der Vertrauenserwartungen existiert letztlich kein objektiver Maßstab für die Relevanz von Inkonsistenzen.50 Mehr noch: Die Relevanzfrage ergibt sich für beide Seiten. Wenn einzelne Stakeholder ihr Vertrauen enttäuscht sehen, werden sie möglicherweise die gerade genannten Konsequenzen ziehen; das ist indes noch nicht zwingend relevant für die Unternehmen; d.h. was als relevante Inkonsistenz angesehen wird, kann (und wird oft) zwischen Vertrauensgeber und Vertrauensnehmer

48

49

50

Wenn beispielsweise Güter oder Dienstleistungen nicht in der zuvor vereinbarten Qualität oder zur vereinbarten Zeit bereitgestellt werden, das Unternehmen dafür aber nachvollziehbare Gründe angeben kann, die womöglich außerhalb seines Einflussbereichs lagen, kann (und wird) das oft vom Vertrauensgeber akzeptiert werden. Da dies indes nicht selten eine Situation ist, bei der es auch zu Moralhazard-Phänomenen kommen kann, zeigt sich nicht nur einmal mehr die Bedeutung des Phänomens Vertrauen, sondern auch dessen holistischer Charakter, der dessen theoretische Erfassung so schwierig macht. Dabei ist zu beachten, dass einzelne Vorkommnisse in der Regel interpretiert werden als ein Aspekt im Rahmen eines allgemeineren (Vertrauens- bzw. Misstrauens-)Urteils. Das bedeutet etwa, dass das gleiche Vorkommnis, verursacht durch zwei verschiedene Akteure, unterschiedlich beurteilt werden wird in Abhängigkeit von ihrem Ruf. Moralische Urteile - mit Adam Smith (2010) könnte man auch von moralischen bzw. ethischen Gefühlen („moral sentiments") sprechen - können indes interpretiert werden als Prämissen, von denen der Einzelne unterstellt, dass sie als allgemeiner Maßstab Gültigkeit haben (sollten).

Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen

• 255

differieren. 51 Allein schon darin, der Unterschiedlichkeit der individuellen Maßstäbe für unternehmerisches Handeln, liegen Konfliktpotenziale bzw. Hindernisse für erfolgreiche Kooperation. Um die Bedingungskonstellationen relevanter Inkonsistenzen deutlicher zu machen, sei die folgende Grafik betrachtet: Abb. 2: Relevante Inkonsistenzen Stakeholder / Vertrauensgeber

Unternehmen / Vertrauensnehmer

Annahmen über Handlungsspielräume von Unternehmen

Handlungsbedingungen der Unternehmen

Entscheidungen / Handlungen und deren Kommunikation

Die linke Seite, die die Herleitung von Erwartungen oder Urteilen von Vertrauensgebern darstellt, war bereits zuvor erörtert worden. Auf der rechten Seite werden die Prämissen der Entscheidungen bzw. Handlungen von Unternehmen in analoger Weise beschrieben als Resultat von normativen Zielvorstellungen einerseits und empirischen Einschränkungen, Mitteln und den sich daraus ergebenden Handlungsalternativen andererseits. Idealerweise entsprächen die normativen Prämissen der Vertrauensgeber sowie ihre Annahmen bzw. Kenntnisse über die Handlungsspielräume des Unternehmens als Vertrauensnehmer hinreichend den Zielen und Werten dieses Unternehmens sowie seinen tatsächlichen Handlungsspielräumen; anders formuliert: beide Seiten hätten gemeinsame Maßstäbe hinsichtlich der Umsetzung der in Abschnitt VI. genannten Imperative. Da von solcher Gemeinsamkeit nicht ausgegangen werden kann, lässt sich eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten von Inkonsistenzen feststellen (vgl. dazu von Broock 2012, S. 176 ff.): einerseits faktische Inkonsistenzen, die sich durch eine Enttäuschung berechtigter Vertrauenserwartungen ergeben. Sie entstehen typischerweise als Vernachlässigung oder Fehleinschätzung ethischer Risiken (vgl. dazu etwa Fürst 2005), wie sie beispielsweise im Fall von Nokias Entscheidung, den Standort Bochum nach Rumänien zu verlagern, auftraten (vgl. Lin-Hi 2009, S. 1 ff.).

51

Anders formuliert: Legitimation ist eine Ressource, die aber auch ihren Preis hat, so dass es keineswegs als anreizkompatibel unterstellt werden kann, alles zum Erhalt der Legitimation zu tun (vgl. hierzu Sammeck 2012).

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Andreas Suchanek

Andererseits können vermeintliche Inkonsistenzen vorliegen, die aus unberechtigten Erwartungen der Vertrauensgeber entstehen können und die typischerweise aus mangelndem Wissen über die Handlungsspielräume der Unternehmen - einschließlich deren normativen Implikationen52 - und den sich daraus ergebenden Konsequenzen resultieren. Exemplarisch sei die Erwartung genannt, dass ein Pharmaunternehmen primär und unabhängig von den damit verbundenen Kosten daran orientiert sein muss, Produkte und Dienstleistungen für Kranke bereitzustellen. Als entsprechender moralischer Wert fungiert Solidarität, die sich nach Meinung von Stakeholdern darin ausdrücken kann, dass man bereit ist, auf eigene Vorteile (Gewinne) zu verzichten, wenn es um die Gesundheit, oder gar das Überleben, anderer Menschen geht. Unangemessen sind solche Erwartungen dann, wenn sie systematisch zu Kosten bzw. Wettbewerbsnachteilen für Unternehmen führen; Unternehmen, die so agierten, würden am Markt nicht überleben können (vgl. hierzu Suchanek und Lin-Hi 2007).

VIII. Schlussbemerkung Die Aufgabe der Unternehmensethik stellt sich im Kontext der hier angestellten Überlegungen wie folgt dar: Letztlich geht es darum, ein (hinreichend) gemeinsames „Spielverständnis" zwischen Unternehmen(srepräsentanten) und Stakeholdern zu fördern, um einerseits den Vertrauensnehmern als Verantwortungsträger verständlich zu machen, welche „Investitionen" sie im wohlverstandenen Eigeninteresse in die eigene Vertrauenswürdigkeit unternehmen sollten und andererseits den Vertrauensgebern zu verdeutlichen, dass die Verantwortung Grenzen hat.53 Dafür ist es auch erforderlich, Erkenntnisse aus einzelwissenschaftlichen Disziplinen integrieren zu können, die die Bedingungskonstellationen, unter denen solche Investitionen anreizkompatibel sind, verständlich werden lassen.54 Hierbei geht es auch (aber nicht nur) um die Frage, wie unternehmensinterne sowie allgemeine „Spielregeln" die Situationen so mitgestalten, dass nachhaltige Wertschöpfung zum gegenseitigen Vorteil - und ohne Schädigung der berechtigten Interessen Dritter - gefordert, und das heißt: relevanten Inkonsistenzen nach Maßgabe der Möglichkeiten vorgebeugt wird. Unternehmensverantwortung, so lässt sich resümieren, ist eine Investition in die Bedingungen - hier: Vertrauen - zum gegenseitigen Vorteil, die als solche nicht nur von den Entscheidungsträgern in den Unternehmen getätigt, sondern auch von den Betroffenen als solche wahrgenommen werden sollte.

52

53

54

Damit wird auf die moralische Qualität der Marktwirtschaft angespielt, die Unternehmen unter Wettbewerbsdruck setzt. Gerade unter Bedingungen eines globalen Wettbewerbs, der in vielen Bereichen noch Regeldefizite aufweist bzw. eine Fülle von Situationsstrukturen aufweist, die einerseits dazu verfuhren können, opportunistisch Gewinne zu machen, die andererseits so komplex sind, dass überzogene Erwartungen an Unternehmen gestellt werden, ist die Entwicklung geeigneter Konzepte zu einer zentralen Herausforderung geworden; vgl. hierzu grundlegend Lin-Hi (2009). Exemplarisch für den Bereich des Personalmanagements bzw. der Führungsethik s. Suchanek (201 lb).

Untemehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen

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Andreas Suchanek

Als Konsequenz ergibt sich, dass Unternehmensverantwortung systematisch gesehen vorrangig darauf auszurichten ist, solche für die eigenen Kooperationsbeziehungen relevanten Inkonsistenzen und ihre möglichen Bedingungskonstellationen zu identifizieren und - soweit möglich - im Vorfeld Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Vermeidung dienen.

Summary: Corporate Responsibility: The Avoidance of Relevant Inconsistencies Markets are based on individual freedom and, as a consequence, on a responsible exercise of this freedom. This holds also true for corporate actors and their (corporate) responsibility.This contribution develops a conception of corporate responsibility which is effectively addressed to corporate representatives and offers them two imperatives of ethical corporate behavior as heuristics. These heuristics offer focal points for the acceptance and fulfillment of corporate responsibility. The imperatives are derived from an understanding of corporate responsibility which recognizes the maintenance of trustworthiness and thereby, the reputation for being a reliable cooperation partner, as the foundation for sustainable value creation. Behaviors - and communication - which undermine the corporation's trustworthiness are thereby irresponsible. Based on this understanding of corporate responsibility, the concept of relevant inconsistencies is utilized to provide further clarity on the issues at hand. The concept refers to inconsistencies between the expectations held by cooperation partners (stakeholders)based on their role as trust-givers and (perceived) behaviors of the trusttaker (the corporation) which (can) lead to the trustful nature of the relationship being undermined. The qualification as 'relevant' is important in reference to the fact that many inconsistencies may arise in daily business which do not have grave consequences. As a result, a systematic approach to corporate responsibility requires corporations to concentrate on identifying - and insofar as possible, implementing mechanisms to avoid - relevant inconsistencies in cooperative relationships. This includes the identification and amendment of structural conditions which may lead to relevant inconsistencies materializing.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Bernd Noll1

Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung eine historisch-genetische Annäherung Inhalt I. Vorbemerkungen

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II. Historisch-genetische Einbettung des Problems

263

1. Ökonomik, Armut und Arbeitslosigkeit in vorindustrieller Zeit

263

2. Durchsetzung eines liberalen Institutionensystems und die Entstehung des Industriekapitalismus

265

3. Zentrifugalkräfte und Instabilitäten im Zeitalter von Tertiarisierung und Globalisierung

267

4. Legitimation von Unternehmertum und Unternehmen

269

5. Entfaltung wirtschaftsethischer Kategorien und ihre Bedeutung für das Arbeitsverhältnis

272

III. Corporate Social Responsibility, Corporate Citizenship und Verantwortung von Unternehmen für beschäftigungspolitische Fragestellungen

276

IV. Institutionenethischer Ansatz

281

1. Bedeutung der Rahmenordnung fur die Beschäftigungssituation

281

2. Unternehmensethische Perspektive

285

V. Fazit

287

Literatur

288

Zusammenfassung

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Summary: Corporate Responsibility and Employment: An Historical-Genetic Approach

291

I. Vorbemerkungen (1) Es gibt Themen, bei denen liegen mit Effizienzkriterien argumentierende Fachökonomen und eher an Verteilungsgerechtigkeit orientierte Laien in ihrer Bewertung besonders weit auseinander. Ein solches Thema ist die Arbeitsplatzverlagerung und der -abbau von Unternehmen:

Der Autor dankt zwei anonymen Gutachtern und den Teilnehmern des diesjährigen Ordo-Symposiums am 24. und 25.5. in Wittenberg für wertvolle Hinweise und Anregungen.

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Bernd Noll



Viele liberale Ökonomen betonen die wohlfahrtsschaffenden und freiheitsfördernden Effekte, die mit der Ausweitung der Märkte im Zeitalter der Globalisierung verbunden sind. Marktwirtschaftliche Prozesse unter stabilen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen sorgen für Dynamik, eröffnen Positivsummenspiele. Eine unvermeidliche Begleiterscheinung sind der damit verbundene Strukturwandel und der Standortwettbewerb der immobilen um mobile Produktionsfaktoren, der auch zu Abbau oder Verlagerung von Arbeitsplätzen fuhren kann. Dieser Anpassungsdruck wird indes weniger als Bedrohung denn als Beitrag zu effizienter Ressourcenallokation auf den Märkten und als „heilsamer Zwang" für die Politik angesehen, eine prinzipienfeste und diskriminierungsfreie Ordnungspolitik zu betreiben.



Die Bevölkerung betrachtet hingegen Arbeitsplätze eher als knappe Güter, die es gerecht zu verteilen gelte.2 Meinungsumfragen in westlichen Ländern zeigen daher, dass große Teile der Bevölkerung eher Status-quo-orientiert sind und Präferenzen für weniger Dynamik und mehr Arbeitsplatzsicherheit haben. Die Schließung von Zweigwerken oder ganzer Unternehmen zwecks Verlagerung der Produktion wird als großer Nachteil marktwirtschaftlicher Systeme angesehen.3 Die als „Auswucherung wahrgenommene Ausdehnung der Märkte"4 und die damit verknüpften Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen werden als systembedingte Überforderung für den Einzelnen wahrgenommen. Franz Müntefering hat dem Unbehagen seinerzeit beredt und publikumswirksam Ausdruck verliehen, als er meinte, Unternehmer, die am Standort groß und reich geworden sind und dann ihre Arbeitnehmer im Stich lassen, handeln unmoralisch.5

(2) Für Unternehmen ergibt sich aus den hier angedeuteten widerstreitenden Anforderungen ein Dilemma, zumindest scheinen die Grenzen zwischen der Legitimität gewinnorientierten Verhaltens und moralischer Verantwortung für diese wichtige Problematik als nicht zureichend geklärt: Soll und muss ein Unternehmen den aus Wettbewerbsprozessen resultierenden Impulsen oder bisweilen gar Sachzwängen, also einer „Marktlogik" folgen und Arbeitsplätze abbauen oder verlagern? Umgekehrt: Kann oder muss es aus gesellschaftlichen Diskursen resultierenden Erwartungen Rechnung tragen und ökonomische Strukturwandlungsprozesse im Sinne betroffener StakeholderGruppen oder der Gesellschaft begrenzen, d.h. Arbeitsplatzabbau oder -Verlagerung zu verhindern suchen? Mit den folgenden Überlegungen soll die wirtschafts- und unternehmensethische Debatte um den Themenkomplex „Standortbindung, Standortverantwortung und Standortvertrauen" bewusst grundsätzlich angegangen werden, soll heißen, verschiedene Zugriffe werden gewählt, um das offensichtliche Konfliktfeld von verschiedenen Seiten auszuloten: •

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Ein historisch-genetischer Zugriff dient als Ausgangspunkt. Mit ihm gelingt die Einbettung bzw. Verortung des Problemfeldes, denn Institutionen erfahren ihre Prägung in der Zeit, ihre konkrete Ausformung und charakteristischen Wand-

So auch Faber und Petersen (2008, S. 411). Zur Empirie Enste u.a. (2009, S. 72). Hüther und Enste (2011, S. 227). Müntefering (2005); dazu Noll (2009, S. 15; 2010, S. 305).

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lungen geschehen im Zeitablauf, sozusagen in der Geschichte. Eine solche Herangehensweise hilft insbesondere, den für westliche Gesellschaften so charakteristischen wie produktiven Dualismus von ethischer Partikularität und Universalität, von Tugend- und Institutionenethik verständlich zu machen und angemessen einzuordnen. Worum geht es? Im institutionellen Entwicklungsprozess haben sich für den Einzelnen gestufte Verantwortlichkeiten gegenüber Familie, Sippe, Nachbarn oder Kommune im Vergleich zur Gesellschaft, Nation und Weltgesellschaft herausgebildet. Das legt - historisch gewachsen - unterschiedliche Moralen und Verpflichtungsgrade hinsichtlich Fürsorge, Versorgung und Beschäftigung anderer nahe. Zugleich basieren moderne Organisationen und Institutionen wie multinational agierende Großunternehmen, Markt und Demokratie (primär) auf universalistischen Prinzipien, und damit auch die Zuteilung von Einkommen und Beschäftigung. Wie sind aus diesem Dualismus resultierende Konflikte beim Themenfeld Arbeit und Beschäftigung sozialverträglich zu lösen? •

Das Konzept der Corporate Social Responsibility knüpft an StakeholderAnsätzen an, setzt auf freiwillige Verantwortungsübernahme von Unternehmen und möchte das Gewinnmaximierungsziel durch „multiple Zielsetzungen" begrenzt oder relativiert sehen. 6 Es wird herausgearbeitet, warum dieser Zugriff keinen angemessenen konzeptionellen Rahmen bietet, um Kriterien für legitime Verantwortungszuschreibungen in Beschäftigungsfragen zu entwickeln.



Mit einem auf dem historisch-genetischen Ansatz aufbauenden institutionenethischen Zugriff gilt es vielmehr zu klären, in welchem Maße neben der Eigenverantwortung des Individuums staatliche Ordnungspolitik Verantwortung für die Beschäftigungssituation in einem Land tragen muss und ob und in welchem Umfange daneben Unternehmen einstehen können, sollen oder müssen. 7 Es geht also darum, das Spannungsfeld von Ordnungs-, Unternehmensethik und Individualethik auszuloten.

II. Historisch-genetische Einbettung des Problems Die folgenden Überlegungen sind der Rekonstruktion des traditionellen und neuzeitlichen Denkens gewidmet, um mithilfe der Kontrastierung Kontinuitäten, v.a. aber auch geistesgeschichtliche Brüche deutlich zu machen.

1. Ökonomik, Armut und Arbeitslosigkeit in vorindustrieller Zeit (1) Die ökonomische wie wirtschaftsethische Debatte nimmt ihren Ausgangspunkt beim Oikos. Oikos könnte man mit „Haus" oder „Haushalt" übersetzen. Otto Brunner hat eindrucksvoll herausgearbeitet, dass das „ganze Haus", der Oikos, das vorherrschendes Sozialgebilde aller bäuerlichen und bäuerlich-adligen Kulturen von der Neo-

6

Scherer und Patzer (2011, S. 321 f.). Instruktiv zur Entwicklung dieses Ansatzes Pies (2009, S. 5 ff.).

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lithischen bis zur Industriellen Revolution gewesen ist.8 Kennzeichnend für das „ganze Haus" sind die Selbstversorgung sowie die Einheit von Haushalt und Betrieb. Die Trennung von Produktion und Konsum war faktisch noch nicht vollzogen. Das ganze Haus war demgemäß Anknüpfungspunkt aller theoretischen, empirischen und v.a. normativen Reflexion in vorindustrieller Zeit. Die Oikonomik entwickelte Regeln und Vorschriften für die rechte Führung des gesamten Hauses, sie befasste sich mit der Gesamtheit der Aufgaben und Beziehungen „im Hause". Es ging also nicht nur um die nach unserem heutigen Verständnis „wirtschaftlichen" Aspekte der Haushaltsführung, sondern um Regeln und Prinzipien für den Hausherren bei Führung seiner „Wirtschaft" in umfassendem Sinne.9 Oikonomik ist Führungslehre für den freien Bauern wie für den Verwalter oder Besitzer eines Fürstenhofs, aber auch für den Meister des in der Neuzeit allmählich entstehenden Handwerksbetriebs. (2) Zwei Merkmale waren prägend und sollen deshalb hervorgehoben werden: •

Da die Marktverflechtung in vorindustrieller Zeit eher gering war, wurde nicht „vom Markt her" wie heute gedacht. Die Zielsetzung des Wirtschaftens bestimmte sich vielmehr aus der Deckung eines bestimmten, aber begrenzten Bedarfs des Oikos. Die Oikonomia konnte daher nur als Bedarfswirtschaft des gesamten Hauses, als Selbstversorgungseinheit verstanden werden. Eine darüber hinausgehende Akkumulation von Gütern war vormodernem Denken eher fremd. 10



Die Hauswirtschaft wird durch den Hausherrn gelenkt, Oikonomik ist Herrschaftsausübung. 11 Es bestehen herrschaftliche, nicht vertragliche Bindungen. Walter Eucken sprach treffend von einer „einfachen zentralgeleiteten Wirtschaft" 12 . Die Hauswirtschaft selbst ist wiederum eingebettet in eine hierarchische politische Ordnung. Das Herrschaftsprinzip galt im vorneuzeitlichen Denken nicht nur für die Lebenswelt des Menschen, sondern für den gesamten Kosmos. Dementsprechend lässt sich die wirkmächtige Vorstellung eines durchgängig hierarchisch gegliederten und harmonischen Kosmos erkennen. 13

(3) Armut war in vorindustrieller Zeit ständiger Begleiter des Menschen, wie die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte dokumentieren. Sie resultierte aus permanentem Mangel an Arbeitsgelegenheiten. Allerdings waren Armut und Arbeit völlig anders normativ konnotiert als heute: •

8 9 10

11 12 13

Dem Erwerbsstreben wie allem irdischen Besitz stand man skeptisch gegenüber. Armut galt in traditionellen Gesellschaften nicht als sozialer Makel. Im Gegenteil, Armut war gottgefälliger als Reichtum. Daher wurde die verbreitete Armut

Brunner S. 107). Brunner (1968, S. 104 ff.). Waibl (1984, S. 45). Wie sehr die vorkapitalistische Welt die Regeln einer Bedarfsdeckungswirtschaft faktisch gelebt hat, ist allerdings umstritten. Schon die Spätscholastiker des 15. und 16. Jahrhunderts waren da eher skeptisch. Vgl. dazu Schüller (2010, S. 74 f.) und Weber (2005/1905, S. 10 f.) Bürgin (1993, S. 13). Eucken (1965, S. 79 ff. und passim). Noll (201 lb, S. 489) mit weiteren Nachweisen.

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im Mittelalter nicht als ökonomisches Problem angesehen, dem mit privater Initiative oder staatlichen Maßnahmen abzuhelfen sei.14 •

Zum anderen bestimmten sich „Reichtum" und „materieller Besitz" in ständischen anders als in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften nicht nach individuell zurechenbarer Leistung und Fähigkeiten, sondern nach Herkunft und Tradition. Arbeit war im eigentlichen Wortsinne „notwendig". Doch wollte der Mensch bereit und offen für seine sittliche und religiöse Bestimmung sein, musste Erwerbstätigkeit und -streben aus Sicht der Werteordnung der tonangebenden obrigkeitlichen Kirche eher begrenzt werden.15



Sozialbeziehungen hatten einen stark persönlichen Charakter und waren auf den Nahbereich von Familie und Nachbarschaft konzentriert. Dies erklärt die Bereitschaft, sich in herrschaftliche Strukturen einzufügen. So oblag es primär der eigenen Familie resp. Sippe, sich um Beschäftigung, Armut, Krankheit oder Gebrechlichkeit zu kümmern. Auf dem Bauernhof hatten daher aufgrund der Sozialpflichtigkeit des Herrn grundsätzlich alle Menschen, Familienmitglieder ebenso wie das Gesinde, ihr Auskommen, dementsprechend galt auch derjenige mit geringer Produktivität als inkludiert.16



Reiche wie Arme erfüllten in der gottgewollten, traditionell-ständischen Gesellschaft eine wichtige Funktion; man benötigte sich gegenseitig: So wie der Arme auf Akte der Mild- und Wohltätigkeit (= Caritas) wohlhabender Bevölkerungsschichten angewiesen war, waren den Reichen umgekehrt nur dann caritative Akte zur Erlangung des Seelenheils möglich, wenn es Arme gab, gegenüber denen man Barmherzigkeit und Mildtätigkeit walten lassen konnte.17

2. Durchsetzung eines liberalen Institutionensystems und die Entstehung des Industriekapitalismus (1) In der Frühen Neuzeit entwickelte sich eine neue Grundhaltung des Menschen, die man mit Max Weber als einen „Geist des Kapitalismus" bezeichnen kann, ein „rationales Wirtschaftsethos" setzte sich durch.18 Dieses Ethos war wesentlicher Faktor für eine Vielzahl institutioneller liberaler Reformen. Das Zusammenspiel neuer Werthaltungen und institutioneller Wandlungsprozesse war entscheidende Voraussetzung für das anhaltende Wirtschaftswachstum seit dem Frühkapitalismus. Wirtschaftliches Wachstum, für die Zeitgenossen zuvor nicht wahrnehmbar, wurde im 19. Jahrhundert zum Normalzustand westlicher Gesellschaften.19 Aus institutionenökonomischer Perspektive lässt sich die „Industrielle Revolution" indes nicht als eigenständiges Phäno-

14 15 16 17 18 19

Pierenkemper (2005, S. 15 f.); Waibl(\9M, S. 48 f.). ffai'W (1984, S. 51). Goldschmidt (2011, S. 6). Noll (2010, S. 149 m. w. N.); Ebert (2010, S. 116). Zusammenfassend Noll (2010, S. 162); Weber (2005, S. 20 und passim). Pierenkemper (2005, S. 152 ff.).

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men, sondern eher als „Oberflächenerscheinung institutioneller Innovationen" interpre• • 20 tieren. (2) Fragt man nach dem Kern dieses Umwälzungsprozesses, so liegt er in der Umwertung von Eigennutz, Arbeitsethos und Wettbewerb.

20 21

22 23

24



Eigennutzstreben begegnete im traditionellen Denken erheblichen Vorbehalten und Widerständen, seine Akzeptanz als legitime gesellschaftliche Verhaltensdisposition benötigte Jahrhunderte.21 Diese Entwicklung war notwendige Folge der normativen Hinwendung zum Individuum, da alle moderne Ethik auf Sicherung und Entfaltung des Menschen zu einem freien, selbstbestimmten Wesen zielt. Damit sind verbindliche Vorgaben auf gesellschaftliche Zwecke eng begrenzt. Hinzu kommt ein empirischer Tatbestand, auf den insbesondere Adam Smith hingewiesen hat: Mit den neuzeitlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zeigte sich, dass „der Mensch ständig und in hohem Maße auf Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen" 22 ist. Dem Einzelnen ist es nicht mehr möglich, Versorgungs- und Tauschaktivitäten innerhalb des Nahbereichs abzuwickeln. Eine neue Spielregel musste gegenüber mehr oder weniger unbekannten Dritten hinzutreten. Sie lautet: „Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst." Aus diesem Kontext erhellt sich die viel zitierte Aussage von Smith: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil."23 Damit wird die Differenz zwischen Gemeinschaft und (anonymer) Gesellschaft erstmals theoretisch reflektiert und verarbeitet.



Auch in der Einstellung zur Arbeit gab es einen wichtigen Umbruch: War Arbeit in der Antike bis ins Mittelalter verachtet oder notwendiges Übel, gewinnt sie seit der Neuzeit eine neue Wertigkeit. In der Frühen Neuzeit von Puritanismus und Calvinismus religiös als Mitwirkung am Schöpfungsauftrag gedeutet, gilt sie heute in den westlichen Gesellschaften als zentraler Bestandteil eines guten, gelingenden Lebens. Erwerbsarbeit wird zum „Wert an sich", denn sie ermöglicht es, die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erfahren, zu erleben und einen nützlichen Beitrag für den eigenen Lebensunterhalt wie für die Gesellschaft zu erbringen.24 So wird sie neben Reichtum und Bildungsabschluss zum zentralen Baustein der Stratifikationsordnung.

Wischermann und Nieberding (2004, S. 25 und passim). Es wäre allerdings falsch zu behaupten, der „Erwerbstrieb" sei mit Durchsetzung des kapitalistischen Systems verbunden. Er ist vielmehr in allen Epochen und Kulturen vorzufinden; Weber (2005/1905, S. 10 f.). Smith (1978, S. 16). Smith (1978, S. 17 und S. 106); eine sehr moderne Wettbewerbsauffassung entwickelten zuvor schon die Scholastiker; hervorzuheben ist hier die Schule von Salamanca. Dazu Schäller (2010, S. 7 9 ) . Vgl. Faber und Petersen (2008, S. 409 f.). Zur historische Aufarbeitung Noll (2010, S. 139 ff. und passim).

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Der Vertrag wird das grundlegende und legitime Instrument zur Gestaltung von Kooperationsbeziehungen in Marktgesellschaften. Der britische Jurist Henry Maine (1822-1888) hat den Weg in die neuzeitliche Ordnung prägnant in die Formel gepackt: „From status to contract."25 Der Vertrag ist nicht nur rechtstechnisches Instrument zur Interessenverfolgung, sondern besitzt ethischen Eigenwert. Im Vertragsabschluss realisiert sich die Privatautonomie der sich „auf gleicher Augenhöhe" begegnenden Akteure. Er bewirkt in wettbewerblichen Kontexten einen freiwilligen Austausch, eine herrschaftsfreie Koordination. Vertragsfreiheit bedarf allerdings der Grenzsetzung, damit der Eigennutz nicht zur Wucherung gelangt. Der Wettbewerb ist neben der staatlichen Rahmenordnung wichtige Vorkehrung, um Eigennutzstreben zu domestizieren. Er veranlasst Wirtschaftsakteure, die Interessen der Marktpartner zu berücksichtigen und ihren Anliegen zu entsprechen. Der Einzelne wird gleichsam zum Altruisten wider Willen und bei Verfolgung seiner eigennützigen Zwecke „in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat [...] ja gerade dadurch, dass er sein eigenes Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, dies zu tun."26 Diese mit der Metapher der „unsichtbaren Hand" zum Ausdruck gebrachte Überlegung Smiths markiert eine der wichtigsten sozialtheoretischen Überlegungen zum Verständnis moderner Gesellschaften. So wird die anonyme Tauschbeziehung historisch gesehen Mittel gesellschaftlicher Emanzipation wie Wohlstandssteigerung.

(3) Gerade das neue Wirtschaftssystem nährte bei Vertretern des klassischen Liberalismus die Hoffnung, die verbreitete vorindustrielle Armut zum Verschwinden bringen zu können.27 Die Entfaltung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Systeme, außenwirtschaftliche Öffnung und staatliche Ordnungspolitik brachte trotz mancher berechtigter Kritik auf lange Frist gesehen in breiten Teilen der Bevölkerung für Freiheit und Wohlstand. Das Marktsystem erwies sich als Positivsummenspiel, gerade auch für ehedem benachteiligte Schichten. Dafür sorgte - dem Leitbild einer „Sozialen Marktwirtschaft" folgend - ergänzend ein umfassendes Netz sozialstaatlicher Absicherung. Armut und Arbeitslosigkeit bedeuten daher in westlichen Gesellschaften mit ausgebautem Sicherungssystem inzwischen etwas völlig anderes als in vorindustrieller Zeit oder in anderen Weltregionen ohne Industrialisierung.

3. Zentrifugalkräfte und Instabilitäten im Zeitalter von Tertiarisierung und Globalisierung Doch mit der vorerst letzten Etappe auf dem Weg der Evolution marktwirtschaftlicher Systeme, der kräftigen Bedeutungszunahme der Dienstleistungsbranchen (= Tertiarisierung) sowie der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, zeigt die in den 60er 25 26 27

Zitiert nach Wesel (2006, S. 66). Smith (\91&, S. 371). Vgl. dazu von Hayek{\91\, S. 144 f.); Pierenkemper (2005, S. 15 ff.); Aßländer (2005, S. 404).

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und 70er Jahren entstandene Vorstellung einer formierten, allseits abgesicherten „Mittelstands-" und „arbeitnehmerzentrierten" Industriegesellschaft, in der eine kleine Gruppe von Arbeitgebern einer übergroßen Mehrheit von Arbeitnehmern dauerhaft Erwerbstätigkeit, Einkommen und soziale Absicherung garantieren konnte, Risse.28 Alte Sicherheiten kamen abhanden, Herausforderungen und Risiken für den Einzelnen und die gesellschaftlichen Zentrifugalkräfte nahmen zu: (1) Ein neuer Entwicklungsschritt hin zu globaler Arbeitsteilung zeigte sich in der konsequenten Internationalisierung der Produktion zwischen und innerhalb von Unternehmen. Der verschärfte Wettbewerb veranlasst Unternehmen, Wertschöpfungsketten neu zu ordnen, zu zerlegen, auszugliedern oder Teile ihrer Produktionsprozesse ins Ausland zu verlagern. Waren bis dato meist nur Güter über Grenzen mobil, so wurden es fortan immer stärker auch Arbeitsplätze. In der Weltarbeitsteilung entwickeln sich neue Spezialisierungsmuster. Das bedeutete für geringqualifizierte Arbeitskräfte in hochentwickelten Ländern neue Unsicherheiten, da Freihandel dort v. a. den Import arbeitsintensiver Produkte oder Produktkomponenten aus ärmeren Ländern induziert. Dementsprechend geht die Nachfrage nach geringqualifizierter Arbeit in reicheren Ländern eher zurück, treten doch durch den grenzüberschreitenden Güteraustausch und die Mobilität der Unternehmen Arbeitskräfte in allen beteiligten Ländern gleichsam in Konkurrenz zueinander. Umgekehrt gewinnt die Produktion anspruchsvoller individueller Dienstleistungen und komplexer, technisch anspruchsvoller Produkte in frühindustrialisierten Ländern an Bedeutung. Doch fordert der globale Wettbewerb auf Güter- und Produktionsfaktormärkten von allen Erwerbstätigen - ob Unternehmern, Selbständigen oder qualifizierten Arbeitnehmern - ein neues Maß an Mobilität, Flexibilität und Engagement. Das dokumentiert sich u.a. in einer abnehmenden Stabilität von Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen, einem Bedeutungsverlust des „Normalarbeitsverhältnisses" und vermehrter Selbständigkeit. (2) Auch von Arbeitnehmern werden zunehmend Verhaltensmuster und Einstellungen wie die Fähigkeit zur Selbstorganisation erwartet, die im Zeitalter der Massenproduktion nur dem Unternehmer „zugemutet" wurden.29 Während vor 100 Jahren von Arbeitskräften noch primär Konformität und Disziplin verlangt wurden, sind es heute Eigenschaften wie Verantwortungsbereitschaft, Kreativität und Eigeninitiative. (3) Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Bindekräfte nehmen durch diese Prozesse tendenziell ab, insbesondere auch dadurch, dass die Mobilen und Leistungsfähigen vermehrt Exit-Optionen wahrnehmen können. Den neuen Freiheitsversprechen ist ein individualisierender Grundzug inhärent, der als Wendung gegen die Gemeinschaft gedeutet werden und zum Bedeutungsverlust des Subsidiaritätsprinzips führen kann.30 Das Gefühl von Verantwortlichkeit für den Nächsten, die Nachbarschaft oder nächste Gemeinschaften verblasst. Das gilt für Arbeitnehmer, Konsumenten wie Unternehmen, Qualifizierte wie Geringqualifizierte, Junge wie Alte gleichermaßen. Damit eröffnet sich ein Spannungsfeld von wirtschafts- und sozialethischen Imperativen, das an dieser Stelle zunächst nur angedeutet werden kann. 28 29

30

Vgl. ausführlicher Noll (2010, S. 226 ff.); Kommission fiir Zukunftsfragen (1997, S. 35 ff.). Die Rede ist vom „Lebensuntemehmer" oder „Arbeitskraftunternehmer", dazu Heidbrink S. 156 f.). Sennett (1998, S. 28); Noll (2010, S. 306 f.; S. 337) mit weiteren Nachweisen.

(2008,

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4. Legitimation von Unternehmertum und Unternehmen (1) Der Unternehmer gewinnt als Denk-, Moral- und Rechtskategorie erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an Bedeutung. In einer traditionellen Gesellschaftsordnung, in der es das standesgemäße Einkommen zu erwirtschaften galt und das Erwerbsstreben verpönt war, war für Unternehmertumwenig Raum.31 Unternehmungen waren daher meist Gelegenheitsgesellschaften, wurden also bspw. zum Abschluss eines Geschäfts wie einer Handelsreise nach Übersee gegründet.32 Das änderte sich mit der Entwicklung hin zum Industriekapitalismus. Unternehmer waren nun, von einer Geschäftsidee inspiriert, vermehrt bereit, Produktionsprozesse zu organisieren sowie die zunächst noch bescheidenen Investitionen aus einbehaltenen Gewinnen und innerfamiliären Krediten zu finanzieren sowie dabei auftretende Wagnisse einzugehen.33 Die Unternehmerfunktion ist in elementarer Weise mit Einkommensunsicherheiten verknüpft. Das hat bereits der Physiokrat Richard Cantillon (1680-1734) erkannt, als er darauf hinwies, dass „Unternehmer gewissermaßen einen unsicheren Lohn haben und alle anderen einen sicheren, solange sie ihn beziehen."34 Unternehmer, ob sie zur Führung ihres Unternehmens Kapital brauchen oder ob sie Unternehmer primär zur Verwertung ihrer eigenen Arbeit sind, leben nach ihm in steter Unsicherheit. Doch nur durch ihre Vermittlung kommt Arbeitsteilung und Tausch in der Gesellschaft zustande. Diese Mittler- und Transformationsfunktion ist mit unaufhebbaren Unsicherheiten auf Beschaffungs- wie Absatzmärkten behaftet. Sie enthält stets ein zukunftsoffenes, spekulatives Element. Der Gewinn entsteht damit nicht zwingend für unermüdlichen harten Arbeitseinsatz oder besonderes Engagement bei der Leistungserstellung, sondern prämiert Ergebnisse, also erfolgsträchtiges unternehmerisches Gespür oder geniale Einfalle, ist daher im Kern Entlohnung für erfolgreiches spekulatives Tätigwerden.35 (2) Auch Arbeitnehmer sind unternehmerisch aktiv. Jedenfalls sind sie es insoweit, als sie sich mit ihren Potentialen, Stärken und Schwächen beim Einsatz ihrer Arbeitskraft zum Einkommenserwerb auseinandersetzen müssen. Sie sind Unternehmer ihrer Arbeitskraft. Wenn ihnen nun Unternehmer (i.e.S.) das Angebot machen, so entsteht damit die Institution des „Arbeitsmarktes".36 Während Unternehmer mit diesen Beschäftigungsangeboten zu erkennen geben, dass sie glauben, über überlegene Verwertungsmöglichkeiten des Arbeitsvermögens anderer zu verfugen, präferieren umgekehrt Arbeitnehmer diese Vermarktungsweise durch andere gegenüber der eigenständigen Verwertung ihres Arbeitsvermögens.37 Unternehmer übernehmen auf diesem Wege die Einkommensunsicherheiten ihrer Arbeitnehmer, die nunmehr eine vorab zugesagte Vergütung beziehen. So existieren zwei Formen von Ansprüchen an im Unternehmen erzielte Überschüsse, Festbetragsansprüche in Form von Löhnen, Zinsen, etc. und Restbetragsansprüche in Form von Gewinnen.38 Arbeitnehmer sind danach nicht wie im 31 32 33 34 35 36 37 38

Schneider (2001, S. 509 f.). Wischermann und Nieberding (S. 79 und S. 84). Noll (2010, S. 161). Zitiert nach Schneider (1995, S. 35). Noll u. a. (2011, S. 22 f.; S. 126m. w.N.). Zur Legitimität freier Arbeitsmärkte vgl. Noll (2002, S. 254); instruktiv dazu Schüller (2006, S. 28). Ausführlich dazu Schüller (2006, S. 28 und S. 34 ff.). Schneider (1995, S. 33 und S. 111).

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marxistischen Sinne „willenlos fremden Zwecken dienstbar". Sie sind vielmehr selbst der „größte Interessent der kapitalistischen Wirtschaft" 39 . Arbeitsverträge können selbstredend zwar unbefristet eingegangen werden, aber nur mit beiderseitigen Kündigungsmöglichkeiten. Muss ein Unternehmen sich selbst im Schnittfeld ändernder Konsumenteninteressen und neuer Herausforderungen von Wettbewerbern und auf den Beschaffungsmärkten behaupten, so könnte es als Arbeitgeber eine langfristige Beschäftigungszusage - wenn überhaupt - dann allenfalls gegenüber solchen Akteuren geben, die sich ihrer völligen Kontrolle unterwerfen würden. 40 Kündigungsmöglichkeiten liegen mithin im Interesse beider Vertragspartner, da auch Arbeitnehmer sich u.U. interessanteren oder besser bezahlten beruflichen Herausforderungen zuwenden wollen.41 (3) Unternehmertum kommt über die Gestaltung der Produktionsprozesse somit die Aufgabe zu, Beschäftigungs-, Einsatz- und Einkommensmöglichkeiten für Arbeitskräfte und Kapitalanleger zu schaffen. Franz Böhm hat zu Recht auf die ordnungsethisch wie gesellschaftspolitisch bedeutsame Tatsache hingewiesen, dass es keiner anderen geschichtlich realisierten Ordnung zuvor gelungen ist, den vermögenden Teil der Gesellschaft in solchem Ausmaß zu veranlassen, sich am Produktionsprozess zu beteiligen, große Teile des Reichtums produktiv zu investieren, Risiken auszusetzen und damit Wohlstand und Beschäftigung nicht nur für sich, sondern auch für andere Menschen zu schaffen. 42 (4) Diese historische Rekonstruktion eröffnet eine kontrakttheoretische Sicht auf Unternehmen, und zwar sowohl was die Außen- wie die Binnenperspektive anbelangt. Unternehmen sind in liberalen Gesellschaften Ausdruck privatautonomen Handelns und können als Netz von Verträgen interpretiert werden. Arbeitsverträge sind integraler Teil solcher Arrangements, sie entstehen freiwillig durch Konsens, sind kein Instrument der Subordination.43 Sie geben Arbeitnehmern Gelegenheit, ihre Interessen und Zielsetzungen zu artikulieren.44 Zwar werden Interaktionen innerhalb der Unternehmen häufig über hierarchische Anordnungen, über Anweisung des Vorgesetzten und Gehorsamspflicht des Arbeitnehmers abgewickelt, doch das Selbstverfügungsrecht des Menschen schließt die Freiheit ein, über die eigene Arbeitskraft disponieren zu können, also auch die Befugnis, sich freiwillig der (begrenzten) Weisungsgewalt anderer zu unterstellen. Das Verhältnis von Unternehmern und Arbeitskräften wird also nicht als Gewalt- oder

39 40 41

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43 44

Schumpeter (1911), zitiert nach Schnaas (2011, S. 48). Dazu von Hayek (1978/1967, S. 303). Vgl. dazu Marcoux (1978, sec. 2), zur unternehmensethischen Debatte in den USA, ob ein unbefristeter Arbeitsvertrag nur aus triftigem Grund (= just cause employment terms) oder auch grundlos (atwill employment terms) beendet werden kann. „(T)he at-will doctrine remains the basic rule.", schreibt er. Böhm (1980, S. 145); ähnlich von Hayek (1971, S. 404). Wirtschaftshistorisch ist dieser Sachverhalt insofern wichtig, als fehlender Besitz eine umso deutlichere Marktzugangsbarriere zu Unternehmertum darstellte, je weiter der Industrialisierungsprozess vorangeschritten war; Nachweise bei Noll u.a. (2011, S. 57). Noll (2002, S. 88); Göbel (2003, S. 187). Die von Marx im Frühkapitalismus entwickelte These, beim Abschluss eines Arbeitsvertrags hätten die Vertragspartner strukturell unterschiedliche Voraussetzungen, vgl. Aßländer (2005, S. 419), ist so allgemeingültig nicht richtig. Entscheidend ist vielmehr, ob eine der Wettbewerbsordnung angemessene Arbeitsmarktverfassung mit hoher Beschäftigung besteht. Dazu Noll (2010, S. 254 ff.).

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Unterwerfungsverhältnis interpretiert, denn der Machtunterworfene willigt in das Lohndienstverhältnis einschließlich des zu erzielenden Entgeltes ein. 45 (5) Die ursprüngliche Identität von Unternehmern und Unternehmen tritt im Zuge institutioneller Entfaltung und wirtschaftlicher Entwicklung auseinander. So ermöglicht das Gesellschaftsrecht die freie Wahl verschiedener Rechtsformen für ein Unternehmen, wobei Aktiengesellschaften mit ihren korporativen Strukturen besonders erfolgreich und gesamtwirtschaftlich bedeutsam geworden sind. Sie haben zwar privatrechtlichen Charakter, die - auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen den Anteilseignern (= Shareholdern) aufbauend - eine Vielzahl weiterer Verträge mit anderen Anspruchsgruppen (= Stakeholdern) wie Arbeitnehmern, Kreditgebern, Lieferanten, Kunden, etc. schließen. Als Großunternehmen firmierende Aktiengesellschaften beziehen ihre Legitimation somit wie alle Unternehmen daraus, dass sie als Vertragsgeflecht in einer von Markt und Wettbewerb geprägten Wirtschaft sowohl für die Anteilseigner wie für alle anderen Interaktionspartner (Arbeitnehmer, Lieferanten, etc.) Vorteile erbringen. 46 Doch entstehen zumindest in dreierlei Hinsicht ordnungsethische Anfragen, die die wirtschaftsethische Debatte bis heute befeuert haben und noch immer nicht zureichend beantwortet worden sind, vielleicht auch gar nicht zureichend beantwortbar sind:

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Während bei Personalgesellschaften Verantwortlichkeiten von Unternehmern und Unternehmen im Normalfall in eins fallen, ist das für Kapitalgesellschaften anders. Sie werden in Gestalt der Firma zu eigenständigen Wesen, zum korporativen Akteur. Dafür sorgen die besonderen Ausstattungsmerkmale der Aktiengesellschaft, nämlich ihre Rechtsfähigkeit (Juristische Person"), die Beschränkung der Haftung der Kapitaleigner auf das eingebrachte Kapital und ihr prinzipiell auf Unsterblichkeit angelegter Status. 47 Gesellschaftspolitisch wie ordnungsethisch prekär sind solche korporativen Akteure, da nun neben Individuen (= natürliche Personen) durch vertragliche Abmachungen eine rechtlich zulässige, künstlich geschaffene Kategorie juristischer Personen mit eigenständigen Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeiten tritt. Dies ermöglicht eine auf Dauer angelegte Macht- und Kapitalzusammenballung, um sich von natürlichen Personen und Anspruchsgruppen in erheblichem Maße zu emanzipieren und schwer kanalisierbaren Einfluss auf Individuen, Gruppen und Gesellschaft zu nehmen. 48



Aktiengesellschaften werfen zudem insofern Legitimationsprobleme auf, weil sie auf Beschaffungs- und Absatzmärkten unerwünschte, vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierte Machtpositionen erlangen können. Sie resultieren aus Marktzugangsschranken zu Kreditmärkten und damit Barrieren bei Gründung von Unternehmen, weil hinreichende Kreditsicherheiten für Neugründung von Unternehmen nur der bieten kann, der bereits im Besitz von Sachkapital ist.49 Auch Vermachtungsgefahren der Arbeitsmärkte durch große Arbeitgeber in einer Stadt oder Region sind heikel. Sie werden durch Bildung von Marktgegen-

Waibl (1984, S. 63 f.); Noll (2002, S. 139). Noll (2002, S. 88); ähnlich Beckmann (2011, S. 16). Hinzuweisen wäre noch auf das Rechtsinstitut des Konzerns als Instrument der Untemehmensverflechtung. Noll (2010, S. 209); dazu auch Creme u.a. (2009, S. 9). Vgl. Noll u. a. (2011, S. 57).

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macht über Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer in Gewerkschaften nur unzulänglich kuriert. •

Die Aufspaltung unternehmerischer Funktionen in Leitung (= Management) und Eigentum (= Aktionäre) ist effizient und für hochentwickelte Volkswirtschaften unabdingbar, zumal dies für die Unternehmensprinzipale eine Professionalisierung der Unternehmensleitung durch Bestellung von Agenten ermöglicht. Doch daraus resultiert insbesondere in Publikumsgesellschaften eine mit erheblicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht ausgestattete und wenig kontrollierte Gruppe leitender Manager. Diese Problematik der internen Corporate Governance resultiert daraus, dass der Geschäftsleitung teilweise eine unüberschaubare Vielzahl ohnmächtiger und/oder an den Geschäften weitgehend desinteressierter Kapitaleigner gegenüber steht. Dies bedingt für die Ausbildung angemessener Anreiz- und Kontrollstrukturen im Unternehmen Free-rider- und Agency-Probleme und damit Unternehmens- wie ordnungsethische Legitimationsdefizite, auf die hier nur hingewiesen werden kann. 50

(5) Mit der Durchsetzung von Aktiengesellschaften und Großunternehmen hat ein Bedeutungswandel zentraler wirtschaftsethischer Kategorien stattgefunden, namentlich gilt dies für das Eigentum an Produktiwermögen. Ein Aktienpaket zu besitzen ist etwas anderes als einen konkret wahrnehmbaren Betriebskomplex mit Maschinen und Grundstücken. Die Diversifizierung der Kapitalanlagen zwecks Risikostreuung in kleine Parten und hohe Fungibilität durch Etablierung organisierter Kapitalmärkte befördern diese Diskrepanz. Josef A. Schumpeter schreibt plastisch, dass damit „das Leben aus der Idee des Eigentums" entfernt wird. Es verflüchtigt sich, erzeugt bei seinem Eigentümer keine „moralische Treuepflicht" mehr, 51 wie das bspw. beim Handwerker oder Händler als Eigentümerunternehmer mit überschaubaren Geschäftsbeziehungen lange Zeit überwiegend der Fall gewesen sein dürfte und für viele mittelständische Unternehmen wohl auch heute noch gilt.

5. Entfaltung wirtschaftsethischer Kategorien und ihre Bedeutung für das Arbeitsverhältnis Die skizzierte Rekonstruktion auf Basis einer historisch-genetischen Herangehensweise fördert die wichtigsten wirtschaftsethischen Kategorien zutage. Es sind drei miteinander verknüpfte Gegensatzpaare, die für die folgenden Überlegungen festzuhalten sind: (1) Im Zentrum des moralphilosophischen Diskurses stand stets das gute und gelingende Leben, allerdings mit unterschiedlichen Akzentuierungen im Zeitablauf, gerade auch in Bezug auf die Bewertung von Arbeit. In der antiken wie mittelalterlichen Ethik dominierte in der Moralphilosophie die Frage, mit welchen Handlungen das Gute für den Menschen in der Gemeinschaft zu erreichen sei. Mit den neuzeitlichen Pluralisierungs- und Partikularisierungsprozessen rückte demgegenüber die sozialethische Frage

50 51

Grundlegend dazu Roe (2004, S. 3 ff.); Noll u.a. (2011, S. 85 ff. und passim). Schumpeter (1975, S. 230).

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in den Vordergrand, wie die aus dem Zusammenleben resultierenden divergierenden Interessenlagen befriedet und Konflikte gelöst werden können. Die eudämonistische Frage nach dem Guten verschwindet nicht, aber sie wurde in ihrer zentralen Rolle von der dringlicheren moralischen Gerechtigkeitsfrage verdrängt. Julian Nida-Rümelin weist zu Recht darauf hin, dass die „normative Revolution" darin bestand, „Regeln des respektvollen Umgangs" zu entwickeln, wenn wir uns auf das „Gute", das gelingende Leben nicht mehr einigen können. 52 Das Rechte rangiert so systematisch vor dem Guten. Damit betreiben moderne Gesellschaften insofern die „Entmoralisierung" des Lebensvollzugs, als sie einzelne Handlungsweisen und -muster grundsätzlich von etlichen kleingruppenethischen Imperativen freistellen. So hat das Gebot, das Produktionsergebnis solidarisch zu teilen, normalerweise nur für enge persönliche Beziehungen im Nahbereich Bedeutung. Diese Überlegungen gelten namentlich für den Abschluss von Verträgen. Es wird prinzipiell nicht gefragt, mit welchen Absichten diese von den Beteiligten abgeschlossen werden, wenn nur die jeweiligen Partner sich an die vorgegebene Rahmenordnung und die ausgehandelten Bedingungen halten. Das gilt dann selbstredend auch für Arbeitsverträge, die wie viele andere Verträge von den Kooperationspartnern ganz bewusst auf mehr oder weniger unbestimmte Zeit abgeschlossen werden. Diese grundsätzliche Vertragsfreiheit hat die Leistungsfähigkeit zwischenmenschlicher Kooperation enorm befördert, auch wenn bei solchen auf Vertrauen, Treue und enger Interaktion basierenden Verträgen bei nur formaler Einhaltung des rechtlichen Rahmens wechselseitige Enttäuschungen bisweilen programmiert, teilweise geradezu unvermeidlich sind. 53 Grundsätzlich sind die Enttäuschungspotentiale symmetrisch: •

Unternehmen mögen in Erwartung, ihre Mitarbeiter langfristig binden zu können, besondere Investitionen in deren Humankapital vornehmen. Doch die Mitarbeiter haben die Freiheit, das Vertragsverhältnis ohne Rücksicht auf Interessenlagen des Unternehmens jederzeit ohne Angabe triftiger Gründe unter Wahrung von Fristen zu beendigen.



Umgekehrt mögen Mitarbeiter auf langfristiges Fortbestehen ihrer Arbeitsverträge vertrauen und ihre Pläne darauf abstellen und spezifische Investitionen tätigen. Doch Unternehmen planen, entscheiden und disponieren häufig unabhängig von Plänen der Mitarbeiter, so dass bei geänderten unternehmerischen Zielsetzungen Zweigbetriebe geschlossen und Mitarbeiter entlassen werden.

(2) Im engen Konnex zu vorstehenden Überlegungen steht die Unterscheidung in Tugendethik und Institutionenethik. Sie thematisiert, dass die Grundlagen der Verhaltenssteuerung wesentlich umgestellt resp. erweitert wurden, und zwar von einer Steuerung über für alle verbindliche Werte in kleinen Gruppen auf eine Steuerung durch allgemeine Regeln in gesellschaftlichen Kontexten. Die Institutionenethik tritt der Tu-

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Nida-Rümelin (2001, S. 48); ähnlich Düwell u.a. (2002, S. 6 f.). Es kommt auf den Faktor- wie auf den Gütermärkten ständig zu Entwertungs- oder besser Neubewertungsprozessen von Vermögen, da die Pläne in einer dezentralen Wirtschaftsordnung nolens volens nie vollständig aufeinander abgestimmt sind; daraus einen inneren Widerspruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu konstruieren, wie B. Emunds (2010, S. 100 ff.) dies tut, verkennt die Funktionsprinzipien offener Wettbewerbssysteme.

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gendethik zur Seite, verdrängt diese teilweise.54 Moralische Anliegen stützen sich daher nicht mehr nur auf die Tugendhaftigkeit der Akteure, sondern primär auf die disziplinierende Wirkung des Wettbewerbs und auf das Institutionengefüge zur Beeinflussung des Marktgeschehens. Diese institutionellen Vorkehrungen sind auch für Arbeitsverhältnisse relevant, z.B. Rücksichtnahme auf das Eigentum anderer, Verschwiegenheitspflichten, Einhaltung von Versprechen und gegenseitige Treuepflichten. Die aus der Industrialisierungsepoche des 19. Jahrhunderts stammende Erfahrung, dass Arbeitskräfte dem Arbeitgeber bei formaler Vertragsfreiheit material unterlegen sein können, führte zu weiterer Regulierung. Entsprechend zielt die Arbeits- und Sozialordnung darauf ab, Handlungsfreiheiten auf dem Arbeitsmarkt zu begrenzen, um Gesundheit, Menschenwürde und die Entfaltungsfreiheit der Arbeitnehmer zu schützen. Indessen ist das ordnungsethische Dilemma augenscheinlich: Wer die vermeintlichen oder tatsächlichen sozialen Interessen und die Beschäftigungssicherung, den Bestandsschutz eines bestehenden Arbeitsverhältnisses „überzieht", z.B. mit weitgehenden Sozialplan-, Abfindungs- und Kündigungsschutzvorschriften, der erschwert zugleich die Wiedereinstellung einmal von Arbeitslosigkeit Betroffener und befördert ein „Drinnen-Draußen-Problem", da Arbeitgeber die möglichen Kosten einer Entlassung bei einer Neueinstellung antizipieren werden.55 (3) Eine wichtige Unterscheidung ist schließlich die nach partikularistischer und universalistischer Ethik. Sie korrespondiert mit den beiden ersten Unterscheidungen, öffnet aber den Blick für weitere Aspekte des hier zu verhandelnden Themas. Moralische Normen sind bekanntlich in einem komplexen evolutionären Prozess mit vielfaltiger Überformung entstanden.56

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Die Ursprünge moralischer Normen sind emotionaler und religiöser Natur, sie waren bzw. sind für den Nahbereich des Menschen angemessen. Moral hat sich immer und überall als Kleingruppenmoral, als Hordenmoral, entwickelt. Entsprechend gibt es nur wenige Normen, die von allen Gruppen geteilt werden. Dazu gehört der Vorzug des Vertrauten vor dem Fremden. Hierin steckt der Kern einer partikularistischen Ethik. Sie hat heute einen begrenzte(re)n, gleichwohl wichtigen Platz und zwar insoweit, als die bereits erwähnten Kreise abgestufter Verantwortlichkeiten gelten. So wie man einen prinzipiellen Verantwortungsvorrang des Einzelnen vor allen Gemeinschaften befürworten muss, um den Menschen in seiner Individualität und Würde ernst zu nehmen, wird man gemäß dem Subsidiaritätsprinzip Gemeinschaften wie der Familie einen Verantwortungsvorrang für eigene Angelegenheit gegenüber der Gesellschaft einräumen.



Sehr viel später gewannen die Vorstellungen der kommutativen resp. Verfahrensgerechtigkeit breite Relevanz, die nach der Gerechtigkeit der Spielregeln und der Fairness des Spielverlaufs fragen. Hierin steckt der Grundgedanke einer universalistischen Ethik, mit der die Differenz zwischen Binnen-

Vgl. dazu Pies (2000, S. 16). Epstein bringt es so auf den Punkt: „Harder to fire means harder to hire", zitiert nach Marcoux (2008); Soltwedel (1993, S. 171 ff. und S. 183 f.). Zusammenfassend Noll (201 lb, S. 498 f.; 201 la, S. 524 ff.) und Bouillon (2010, S. 147 ff.).

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und Außenmoral überwunden wird. Der Universalismus steckt zwar schon in der christlichen Glaubensvorstellung von der Gotteskindschaft aller Menschen und dem Ideal unbegrenzter und unbedingter Nächstenliebe. Doch Kraft gewann universalistisches Denken erst in der Neuzeit, als dieses u.a. von Immanuel Kant mit seinem „kategorischen Imperativ" auf eine vernunftmäßige Begründung gestellt wurde. Eine universalistische Ethik ist notwendig an Prinzipien orientiert. Sie erfordert die sorgsame und systematische Durchdringung von Geschehensabläufen sowie deren normative Einordnung, um allgemeingültige Regeln entwickeln zu können. Augenscheinlich korrespondiert dieser Gedanke mit der Idee der Institutionenethik. Ihr verdanken wir die Einsicht, dass grundlegende Freiheitsrechte wie die Handlungsfreiheit oder Freizügigkeit für alle und gegenüber allen Menschen gleichermaßen Geltung besitzen müssen. Der westliche Wertekanon ist durch einen fruchtbaren Dualismus partikularistischer und universalistischer Prinzipien geprägt. So wie es angemessen ist, innerhalb der Familie, dem Verein oder dem Familienbetrieb nach dem Gerechtigkeitsprinzip, der Bedürftigkeit oder Solidarität zu verfahren, ist es andererseits unabdingbar, sich an vernunftmäßig gesteuerten Regeln der formalen oder Verfahrensgerechtigkeit als Konsument beim Kauf seiner Güter, als Arbeitnehmer bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder als Unternehmer bei der Suche nach Arbeitskräften zu orientieren. Aber auch moderne Institutionen wie global verfasste Märkte funktionieren nicht, wenn man tradierte Tugenden wie Ehrlichkeit oder die Einhaltung von Verträgen nur im Nahbereich praktiziert. 57 (4) Dieser Dualismus birgt zwei mögliche Missverständnisse, die häufig miteinander verknüpft sind; sie liegen: •

zum einen bei der angemessenen Diagnose des zu verhandelnden Situationstyps, also darin, ob ein ethisches Dilemma in gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Kontexten zu verorten ist;



darauf aufbauend in der (häufig unklaren) Zuordnung der angemessenen Gerechtigkeitskriterien für einen gewissen Situationstypus

(5) Franz Müntefering neigt wie viele andere (primär) dem zweiten Missverständnis zu. Wie selbstverständlich werden universalistische Positionen bezogen, wenn es um Freizügigkeit oder die Freiheiten als Konsument, Kapitalanleger oder Arbeitnehmer geht. Doch verfallen viele gleichermaßen in partikularistische Positionen, wenn es um die Verortung von Pflichten und Zuschreibung von Verantwortlichkeiten anderer, z.B. eines Unternehmens oder Arbeitgebers geht. Nur so ist z.B. der „Identifiable victim effect" 58 erklärlich, der zu einem Bias in der Bewertung der Globalisierungsfolgen führt: Da gibt es erkennbare „Opfer" der Globalisierung, sie haben z.B. ihren Arbeitsplatz verloren, sie haben ein Gesicht und einen Namen, mit ihnen kann man sich identifizieren. Dem stehen anonyme Gewinner und wenig lokalisier- und quantifizierbare positive Folgen der Globalisierung gegenüber. Diese sind allenfalls teilweise erfassbar.

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Röpke (1958, S. 157 ff.); Wischermann und Nieberding (2004, S. 47 f.). Dazu Hüther und Enste (2011, S. 229 m. w. N.).

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Bei Bewertung solcher Situationen kommt es dann nicht zu rationalem Abwägen der verschiedenen Effekte, sondern man greift auf die lerngeschichtlich verfestigten, vertrauten Gerechtigkeitsnormen zurück, um sie - unpassend - auf Marktbeziehungen zu übertragen:59 •

Einerseits ist allen Akteuren bewusst, dass sich Unternehmen auf Absatz- und Beschaffungsmärkten in Kontexten bewegen, die einer universalistischen Logik folgen. Auch die Stakeholder des Unternehmens, ob Zulieferer, Konsumenten oder Kommunen, verhalten sich demgemäß. Kaum ein Konsument ist bereit, für ein Produkt einen nennenswert höheren Preis zu bezahlen, nur weil dessen Wertschöpfung vollständig in der Region oder in Deutschland erfolgt ist.



Doch ist die moralische Empörung andererseits groß, wenn ein Anbieter seine Produktionsstätten ins Ausland verlagert und im Inland Arbeitskräfte entlässt. Unternehmen werden so mit moralischen Forderungen aus der Logik der Kleingruppenethik konfrontiert.

(6) Diese Problemstellung ist gleichsam Prototyp für eine typische ethische Dilemma-Situation. Bemerkenswert ist, dass daraus recht unterschiedliche Schlussfolgerungen für die beschäftigungspolitische Verantwortung der Unternehmen gezogen werden.

III. Corporate Social Responsibility, Corporate Citizenship und Verantwortung von Unternehmen für beschäftigungspolitische Fragestellungen (1) Die Frage nach der Verantwortung des Unternehmens innerhalb und für das Gemeinwesen wird seit langer Zeit kontrovers beurteilt. Diese wirtschaftsethische Debatte wird zumeist in Verknüpfung mit einem (normativ gewendeten) Stakeholder-Ansatz unter dem Begriff Corporate Social Responsibility (CSR) geführt. Kern dieser Positionierung ist eine Unternehmensphilosophie, die sich über die reine Gewinnerzielung auch die Belange von unternehmerischem Handeln betroffener Anspruchsgruppen zu Eigen macht und auch Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft wie z.B. für soziale und ökologische Belange befürwortet. Das Konzept des Corporate Citizenship (CC) kam später hinzu. Unternehmen wird eine „bürgerschaftliche" Mitverantwortung im Sinne eines republikanischen Bürgerverständnisses zugewiesen. Ausgehend von einem rousseauistischen Demokratie- und Politikmodell wird die liberale Vorstellung als zu eng verworfen. Unternehmen müssten darüber hinaus auch „gute Bürger" („Corporate Citizen") sein, die aktiv am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen und gesellschaftliche Ziele wie das Erreichen sozialer Gerechtigkeit oder Umweltschutz unterstützen. Eine ausschließliche Orientierung des Unternehmens an den Eigentümerinteressen bei Einhaltung der rechtlichen und moralischen Regeln der Gesellschaft wird als unzulänglich markiert. CC-Ansätze nehmen

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Ähnlich Vanberg (2007, S. 43 ff.). Einen umfassende ideengeschichtliche Aufarbeitung liefern Carroll (2008, S. 19 ff.); Aßländer (2011, S. 139 ff.); eine kritische Position bezog schon frühzeitig von Hayek (1978/1967).

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Vorstellungen aus der politischen Philosophie und der Politikwissenschaft auf und transferieren sie in die wirtschaftsethische Debatte. Eine klare Abgrenzung zwischen beiden Konzepten lässt sich nicht trennscharf vornehmen und wird auch selten versucht. Die Konzeptualisierung dieser Ansätze wie Terminologie sind häufig unscharf. Hinzu kommt, dass man heute nicht von „dem" CSR- oder dem CC-Konzept sprechen kann, sondern eine Vielzahl von Ansätzen existieren, deren differenzierte Darstellung hier den Rahmen sprengen würde. (2) Beschränkt man sich auf die herrschende Auffassung, wie sie bspw. in der deutschsprachigen Literatur von P. Ulrich und seinen Schülern und in den USA von A. B. Carrroll verfochten wird, 63 dann wird man insbesondere drei Merkmale als charakteristisch identifizieren können:

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CSR basiert auf freiwilliger Verantwortungsübernahme, beruht also nicht auf einer Handlungsverpflichtung im rechtlichen Sinne. Es wird vielmehr ein über vertraglich eingegangene Verpflichtungen und rechtliche Vorgaben hinausgehendes Engagement gefordert. Gerechtfertigt wird dies damit, dass der Staat als regelsetzende Institution nicht mehr zureichend in der Lage sei, das Verhalten der Unternehmen in hinreichend gemeinwohlverträglicher Weise zu kanalisieren. Dieses Argument gewinnt nach Auffassung der CSR-Verfechter vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung an Gewicht, sorgt diese doch nach 64 verbreiteter Auffassung für einen Steuerungsverlust nationalen Rechts.



Die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen soll drei Dimensionen („Triple-Bottom-Line") im Blick haben, neben einer nachhaltigen ökonomischen Prosperität soziale und ökologische Belange.



Die CSR-Aktivitäten sind im Diskurs mit allen Stakeholdern zu entwickeln" Grundsätzlich kann dies in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft jedermann sein. Wer Stakeholder für ein Unternehmen ist, lässt sich naturgemäß kaum vorab und eindeutig bestimmen, vielmehr ist auch dies in einem Legitimitätsdiskurs, in dem die Ansprüche vorgebracht werden, zu klären. Leitidee für kommunikative Verständigungsprozesse über ethische Fragen ist also der Diskurs, in dem die Interessen, Bedürfnisse und Rechte aller und gegebenenfalls auch nicht unmittelbar betroffener Anspruchsgruppen angemessen zur Geltung kommen sollen.

Schräder (2011, S. 306); Matten und Crane (2003, S. 5 f.). Einen systematisierenden Überblick vermitteln Scherer und Patzer (2010, S. 324 ff.); Crane u.a. (2010, S. 7 ff.). Matten und Crane (2003, S. 5 f.). Aßländer (2011, S. 183); Scherer und Patzer (2010, S. 322 f.). Auffallend ist, dass die unternehmerische Verfolgung „sozialer" oder „ökologischer" Anliegen per se das Etikett „moralisch" verdient. Vgl. dazu kritisch Bouillon (2010, S. 187). Aßländer (2011, S. 172). In diesem Sinne bspw. Ulrich (1997/1998, Teil 1, S. 4). Vgl. z.B. Köhler-Emmert (2006, S. 76 f.); Ulrich (1997/1998, Teil 2, S. 4).

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(3) Grundlegend für dieses Verständnis ist demnach nicht der skizzierte kontrakttheoretische Ansatz, sondern eine konflikttheoretische Perspektive auf das Unternehmen. Man kann diesen Ansatz als Koalitionstheorie der Unternehmung bezeichnen.69 Unternehmen werden als Koalitionen von (internen und externen) Interessengruppen mit konfligierenden Interessen verstanden. Die zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen bestehenden Interessengegensätze und Konflikte gilt es auszutarieren, um den Bestand der Koalition zu stabilisieren. So werden Großunternehmen zu „gesellschaftlichen Veranstaltungen", zu „quasi öffentlichen Institutionen".70 Hinter diesen Vorstellungen wird eine korporatistische Integrationsidee deutlich, wonach die Vermittlung bei Konflikten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Diskurs zu erreichen sei. Wichtigstes Kennzeichen dieses Partizipationsmodells ist also die „Selbstregulierung durch Konsens". Der Konsens der beteiligten Gruppen wird zur entscheidenden Legitimationsquelle für unternehmerisches Handeln.71 Allerdings werden diese Überlegungen nicht systematisch aus den Besonderheiten der Großunternehmen als „korporative Akteure" abgeleitet, sie werden postuliert.72 Die für die Tragfähigkeit dieses Ansatzes außerordentlich wichtige Frage, warum eine aus privaten Interessen errichtete Unternehmung ab einer gewissen Größe oder mit einer bestimmten Rechtsform zu einer gleichsam gesellschaftlichen Veranstaltung „mutieren" kann oder soll, bleibt weithin im Dunkeln.73 Hier fehlt ein zentraler Baustein in der Begründungskette. Zwar sind Unternehmen als „korporative Akteure" sich selbst organisierende Systeme, die eigene Ziele formulieren können, die über die Zielsetzungen einzelner Mitglieder hinausreichen und auch davon abweichen können, doch tragen sie anders als natürliche Personen keinen Selbstzweck in sich. Unternehmen dienen zunächst einmal der Interessenverfolgung ihrer Gesellschafter, da diese das Unternehmen „zum Leben" erweckt haben, und ihrer Kontraktpartner. Es wird keine zureichende Begründung dafür geliefert, warum aus dem Tatbestand eines „korporativen Akteurs" eine Verdünnung der Eigentumsrechte zugunsten der Interessen anderer StakeholderGruppen oder der Öffentlichkeit zu folgern wäre. Ein Verweis auf Marktversagen wie z.B. die Existenz unerwünschter externer Effekte oder die Begrenzung von Marktmacht ist nicht überzeugend, da diese legitimen Problemfelder nur auf der Ordnungsebene verhandelt werden können.74 (4) Unternehmen müssen sich diesem Denkansatz gemäß einer komplexen Zielfünktion stellen. Das bedingt eine Abkehr von der „ethischen Richtigkeitsvermutung" des Gewinnprinzips, denn Gewinnerzielung wird eines neben vielen Zielen, die im Diskurs artikuliert werden können. Die Positionierungen gehen unterschiedlich weit. Bisweilen wird die Legitimität des Gewinnprinzips grundsätzlich zugunsten eines StakeholderDialogs in Frage gestellt, so wenn von Unternehmen gefordert wird, dass der „kategori-

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Schüller (1983, S. 172 ff.; 2006, S. 37); Jensen (2001, S. 9); Noll (2002, S. 89). Ulrich (1997/1998, Teil 1, S. 3 ff.); Schräder (2011, S. 306). Ausführlicher dazu Noll (2002, S. 89) sowie Noll u.a. (2011, S. 75 ra. w. N.). So meint schon Ulrich (2002, S. 128), dass es Sinn macht, das Konzept des Wirtschaftsbürgers auf Großunternehmen zu übertragen; warum es Sinn macht, schreibt er leider nicht. Exemplarisch dazu bspw. Ulrich (1997a, S. 409 f.). Jensen (2001, S. 11 f.).

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sehe Vorrang der begründeten Lebensdienlichkeit vor der betriebswirtschaftlichen Erfolgsträchtigkeit durchzuhalten ist."75 Dann ist die Gewinnerzielungsabsicht ein normativer Geltungsanspruch, der genau wie alle anderen Ansprüche seine Legitimität im Diskurs mit allen anderen Stakeholdern jeweils neu dokumentieren muss. 76 Vorsichtiger sind die Positionen, die das Gewinnprinzip nicht grundsätzlich in Frage stellen, aber durchaus situative Begrenzungen des Gewinnprinzips für notwendig erachten, um auf diese Weise ethischen Sollensforderungen zur Geltung verhelfen zu wollen. 77 (5) Welche Leitlinien lassen sich aus diesem Stakeholder-Ansatz für eine Beschäftigungsverantwortung gegenüber Arbeitnehmern folgern?

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Die Frage der Zielpriorisierung bei konfligierenden Interessenlagen bleibt ungeklärt, d.h., mit welchem Gewicht unterschiedliche Interessen wie die Aktionärsoder Arbeitnehmerinteressen oder die Interessen der Kommune in den Diskurs um eine Arbeitsplatzverlagerung eingehen sollen. Aus der Tatsache, dass Anteilseigner ausschließlich Residualansprüche geltend machen können, die erst nachrangig bedient werden dürfen, folgt nicht, dass ihre legitimen Ansprüche nachrangig wären oder ihr Schutz beliebig eingeschränkt werden könnte. Dies gilt umso mehr, als die alten marxistischen Kategorien von Kapital und Arbeit die Lebenslagen von Anteilseignern und Arbeitskräften kaum mehr sinnvoll beschreiben. Unklare Erfolgskriterien eröffnen aber den Top-Managern wenig konturierte und daher unerwünschte Handlungsspielräume. 78 Dem Ansatz fehlt für schwierige Entscheidungs- und Konfliktlösungen nicht nur der Kompass, auch muss das Management seine Treuepflichten gegenüber den Anteilseignern relativieren, um die Befriedigung von Stakeholder-Ansprüchen mit ihren divergierenden Interessen moderieren zu können. 79



Fragt man konkreter nach normativen Zumutbarkeiten beim Themenkomplex „Arbeitsplatzverlagerung/Arbeitsplatzabbau", dann wird man mit Ulrich die Stakeholder-Ansprüche der Arbeitskräfte als gewichtig einzuschätzen haben, da deren Erwerbsarbeit der Existenzsicherung dient und sie durch den Arbeitsplatzabbau unfreiwillig aus der Arbeitswelt „eliminiert" werden. 80 Insoweit könnte man im Erhalt von Arbeitsplätzen vor Ort eine überragende moralische Forderung sehen. Konsequent wird daher vom Kapitaleigner eine „moralische Selbstbegrenzung" in seinem Vorteilsstreben gefordert. Dies sei „umso eher zumutbar, je weniger er dadurch in seiner wirtschaftlichen Selbstbehauptung gefährdet

Ulrich (1997a, S. 432); an anderer Stelle (S. 401) heißt es, dass das „unternehmensethische ,Gewinnprinzip' [...] sich [...] rational nicht begründen (lässt)". Ähnlich Köhler-Emmert (2006, S. 94). Ulrich (1997/1998, Teil 2, S. 6). Aßtänder und Nutzinger (2010, S. 235). Noll u.a. (2011, S. 85); Jensen (2001, S. 10). Grundlegend dazu bereits von Hayek (1978/1967, S. 301); Jensen (2001, S. 10 f.) Ulrich (1997a, S. 221) diskutiert die Frage der Arbeitsplatzverlagerung allerdings nicht explizit. Offen bleibt die Frage auch bei Aßländer (2005, S. 417), wenn er meint, dass die gesellschaftliche Debatte um „die sozialen Verpflichtungen zur Schaffung oder zum Erhalt von Arbeitsplätzen" noch zu führen sei. Er scheint diese aber wohl zu bejahen, wenn er eine soziale Verpflichtung der Unternehmen sieht, auch denjenigen Berufschancen „zu eröffnen, die für den Prozess der betrieblichen Leistungserstellung nur mittelbar von Bedeutung sind."

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wird"81. Doch diese Präzisierungen erweisen sich bei näherem Hinsehen als Leerformeln, und die zu erwartenden Verhaltensänderungen eines solchen institutionellen Arrangements werden ausgeblendet. Überdies bleiben aus dem Wettbewerb erwachsende Dilemmata bewusst unbeachtet, wenn es heißt, dass sich solche Verantwortungsansprüche „nicht durch den Hinweis auf ,gegebene' Sachzwänge abweisen" lassen. Doch damit ist der „Sachzwang" nicht aus der Welt. Wenn die Unternehmensleitung sich vor die Alternative gestellt sieht: „Erhalt des Unternehmens und rechtzeitige Verlagerung der Arbeitsplätze oder Arbeitsplatzerhalt am Standort und erheblich erhöhtes Insolvenzrisiko?", dann ist zu fragen: „In welchem Maße sollen Shareholder Zugeständnisse machen müssen?" Wie will man im Diskurs zwischen Anspruchsgruppen „gerade noch einträgliche" Renditen bestimmen? Darf die Geschäftsleitung einfach aufgrund strategischer Voraussicht die Entscheidung treffen, Arbeitsplätze zu verlagern? Oder darf erst verlagert werden, wenn Verluste drohen oder bereits aufgelaufen sind? Eine Geschäftsleitung ist unabdingbar mit unvorhersehbaren und unkalkulierbaren wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen konfrontiert, genau deshalb sind grundsätzlich alle auf dem Gesellschaftsvertrag aufbauenden Vertragsbeziehungen „Beziehungen auf Zeit".

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Im Übrigen können diese Stakeholder-Gruppen ihre Interessen in Vertragsverhandlungen einbringen, die durch den Wettbewerb geschützt werden. Insofern ist es unrichtig zu behaupten, das Gewinninteresse habe im Shareholder-Ansatz einseitig Vorrang vor anderen Interessen. Umgekehrt gilt: Die von Vertretern des Stakeholder-Ansatzes erhobenen Forderungen könnten eine illegitime Überforderung der Kapitaleigner bedingen.82 Schutz von Eigentum und Vermögen ist grundsätzlich ein legitimes Anliegen, egal in welcher Form dieses Vermögen gebunden ist.



Schließlich verwickelt sich der Stakeholder-Ansatz in kaum auflösbare Widersprüche. Arbeitsplatzverlagerung widerspricht gewichtigen Stakeholder-Interessen, namentlich den gegenwärtigen Arbeitsplatzbesitzern und der Kommune, in der der Standort angesiedelt ist. Hier sind Einkommenserzielungsmöglichkeiten und Vertrauensbeziehungen erwachsen, die den Rückgriff auf Argumente einer partikularistischen Ethik nahelegen. Diese gewinnen zusätzlich an Gewicht bei hoher Arbeitslosigkeit. Doch auch bei günstiger Beschäftigungssituation wird ein Arbeitsplatzwechsel von betroffenen Arbeitnehmern je nach Alter, Ort und sozialem Umfeld häufig als Zumutung aufgefasst. Es entsteht daher ein Bias zugunsten der Status-quo-Orientierung, der von der Belegschaft dominiert wird und zur Engführung des praktischen Stakeholder-Dialogs fuhren muss. Die potentiellen Arbeitnehmer, Kommunen, etc., die von einer Verlagerung profitieren könnten, bleiben außerhalb des Focus'. Der Stakeholder-Dialog sorgt für vorrangige Berücksichtigung etablierter Interessen vor künftigen oder anderen nicht mit am Tisch sitzenden Interessen. Doch genau dann verfehlt dieser seinen

Ulrich (2002, S. 38). Emunds (2011, S. 97).

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selbstgesetzten Anspruch, allen von einer unternehmerischen Entscheidung betroffenen Anspruchsgruppen Sprache und Gewicht im Diskurs zu verleihen. (6) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dem hier diskutierten StakeholderAnsatz gravierende Schwächen inhärent sind. Die Rekonstruktion legitimer Verhaltenserwartungen der einzelnen Akteure oder Akteursgruppen fehlt. Er nimmt DilemmaSituationen, z.B. zwischen unternehmerischer Existenzsicherung und Arbeitsplatzerhalt, nicht ernst und überfordert damit Unternehmen hinsichtlich nicht erfüllbarer Erwartungen. Er gibt Anlass zu ständigen Grundsatzdiskussionen, verzichtet so ohne Not auf die entlastende Funktion allgemeiner Regeln. Schließlich fuhrt er bei komplexen Entscheidungen in kaum auflösbare Aporien. Er weist damit anders als der noch zur Diskussion stehende institutionenethische Ansatz gewichtige methodische Schwächen auf. Er rekonstruiert das Unternehmen aus einer konflikt- und nicht aus einer vertragstheoretischen Perspektive und kann keine befriedigenden Lösungsansätze aufzeigen, wie bei einer darauf aufbauenden multiplen Zielfunktion Konflikte entschieden werden. Komplexe Problemlagen wie der Abbau oder die Verlagerung von Arbeitsplätzen können aufgrund der Vielzahl betroffener aktueller und potentieller Anspruchsgruppen gar nicht entschieden werden.

IV. Institutionenethischer Ansatz Ausgangspunkt für den institutionenethischen Ansatz ist die erkenntnisleitende Überlegung, dass in offenen, komplexen Wirtschaftssystemen nicht nur die materielle Frage: „Wie soll ich handeln?" beantwortet werden muss, sondern auch zu klären ist, ob aus dem Sollen auch ein Wollen oder Können folgen wird. Kann oder will ein Individuum oder ein Unternehmen zu dem artikulierten ethischen Anliegen überhaupt beitragen oder begibt es sich damit in das Risiko der Selbstschädigung? Relevanz und Brisanz dieser Problemstellung ergeben sich in wettbewerbsgesteuerten Gesellschaften daraus, dass aufgrund unauflösbarer Dilemmata der Moralische schnell der Dumme ist. Daher ist die Implementationsproblematik in den Blick zu nehmen. 83 Es geht um die angemessene Verortung des ethischen Anliegens und damit um das Zusammenspiel von Individual-, Unternehmens- und Ordnungsethik. Dabei wird sich zeigen, dass die in Kapitel II entwickelte historisch-genetische Einbettung die institutionenethischen Überlegungen fundieren hilft.

1. Bedeutung der Rahmenordnung für die Beschäftigungssituation (1) Die primäre Verantwortung dafür, eine Erwerbstätigkeit für die eigenständige Existenzsicherung zu finden, kann nur beim Einzelnen liegen. Diese Verantwortung ist in einer auf Verträgen aufbauenden liberalen Gesellschaft unabdingbares Korrelat zur Freiheit. 84 Man könnte mit dem Philosophen Nicolai Hartmann formulieren, dass der Mensch diese Verantwortungszuschreibung beansprucht und „sich in seiner Menschen-

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Pointiert herausgearbeitet bei Arnold (2009, S. 253 ff.) und Homann und Pies (1991, S. 608). Vgl. oben unter 11.4.

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würde verletzt fühlt, wenn ihm die Zurechnung seiner Taten versagt wird"85. Wenn wir den Menschen als vernunftbegabtes, mit freiem Willen ausgestattetes und daher moralfähiges Wesen verstehen, dann müssen wir ihm sein Handeln oder Unterlassen und dessen Folgen zurechnen, auch wenn er diese Verantwortung häufig als Bürde interpretieren mag. Friedrich A. von Hayek hat sehr scharfsichtig erkannt, dass dem Menschen hier ein schwerer Disziplinierungsmechanismus auferlegt wird: „Die Notwendigkeit, selbst einen Bereich nützlicher Arbeit, einen geeigneten Beruf zu finden, ist die härteste Disziplin, die uns eine freie Gesellschaft auferlegt." Doch ist diese „Bürde" unabdingbar, denn an die Stelle der Verantwortung für das eigene Schicksal könnte nur der Druck persönlicher Befehle anderer treten, denen zu gehorchen wäre.86 (2) Einen Anspruch auf eine „angemessene" Arbeit oder gar auf einen „bestimmten Arbeitsplatz" kann es selbstredend nicht geben. Die bürgerliche-liberale Gesellschaft eröffnet für jeden Einzelnen Optionen auf ein eigenständiges und unabhängiges Leben, auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg. Ein Versprechen oder gar eine Garantie kann sie dafür aber nicht abgeben. Da - wie oben gezeigt - weder die konkreten Handlungspotentiale noch die daraus resultierenden Resultate in einem dezentral gesteuerten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem von jemanden bewusst herbeigeführt werden (können), können Unternehmer oder der Staat nicht direkt verantwortlich für Beschäftigung und Wohlstand sein. Es fehlt also am Gegenüber, gegen den sich ein solcher Anspruch richten könnte. Insofern unterscheiden sich Abwehrrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder Versammlungsfreiheit, signifikant von Teilhaberechten. Das Gegenüber, das eine solche Aufgabe erfüllen könnte, um beständig für Vollbeschäftigung zu sorgen, könnte allenfalls ein mit diktatorischen Mitteln ausgestatteter Staat sein. (3) Marktwirtschaftliche Systeme bergen mithin Risiken für ihre Bürger. Arbeitslosigkeit ist für viele ein solch gravierendes Defizit, sodass in einem Legitimitätsdiskurs ein „reines" Wettbewerbsregime kaum vorbehaltlos von allen Teilnehmern unterstützt würde. Doch nimmt man die in der entwicklungsgeschichtlichen Analyse herausgearbeiteten Prämissen eines normativen Individualismus und eine vertragstheoretische Rechtfertigung zur Erklärung sozialer Interaktionen ernst und überträgt sie auf ordnungsethische Fragestellungen, dann lässt sich konstatieren, dass eine offene, dynamische Wirtschaft zwar nicht in jedem Einzelfalle für jeden eine Besserstellung erbringt, dies aber im Durchschnitt für alle zu erwarten ist. Ein Wettbewerbsregime kann daher insofern Konsens beanspruchen, als auch allen anderen Ordnungsregimes - eher gravierendere - Mängel resp. „Zumutungen" innewohnen.87 Insofern wäre die (zeitweise)

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Hartmann (1962, S. 730 f). Vgl. 11.4. sowie von Hayek (1971, S. 99 (Zitat), S. 101). Eine Zentralverwaltungswirtschaft kann zwar für Vollbeschäftigung sorgen, dies ist aber nur durch autoritative Lenkung der Arbeitskräfte und bei einem geringen Produktivitätsstandard möglich, während ein System der Arbeiterselbstverwaltung umgekehrt dafür sorgt, dass selbstverwaltete Unternehmen im Vergleich zu kapitalistischen Unternehmen eher zu einer (zu) kapitalintensiven Produktionsweise neigen und damit tendenziell höhere Arbeitslosigkeit als in marktwirtschaftlichen Systemen entsteht. Genauer dazu Leipold (1988, S. 236 ff.; S. 179 ff.) und aus jüngerer wirtschaftshistorischer Sicht Schüller (2006, S. 29 ff.). Es ist schon erstaunlich, dass fuhrende Vertreter der Arbeiterbewegung auch heute noch dafür kämpfen wollen, „dass die Arbeit als Quelle allen Reichtums und aller Kultur geachtet wird" (Sommer und Gabriel 2011, S. 10).

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Arbeitskräftefreisetzung und Arbeitslosigkeit gleichsam der „Preis" für ein ansonsten insgesamt vorteilhaftes institutionelles Design. 88 (4) Zudem könnte der Konsens durch Entschädigungslösungen „erkauft" werden. Damit ist die ordnungsethische Dimension der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik angesprochen: •

Da es in einer von Strukturwandlungsprozessen geprägten Wirtschaft nicht darum gehen kann, einen angestammten Arbeitsplatz für immer zu bewahren, muss andererseits doch jeder angemessene Chancen auf Teilhabemöglichkeiten haben, die es ihm erlauben, ein selbstbestimmtes und -verantwortetes Leben zu führen. Das schließt insbesondere Chancen auf eine neue Erwerbstätigkeit mit ein, wenn man einmal arbeitslos geworden ist. Interpretiert man mit John Rawls die Gesellschaft als „Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils" 89 , dann ist die Zielsetzung eines hohen Beschäftigungsgrades unstrittig. Hohe Beschäftigung muss für demokratisch und marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaften ein zentrales politisches Anliegen sein. Nur sie kann hinreichende Entfaltungsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen gewährleisten. Insofern kommt dem Staat als Regelsetzer eine indirekte Verantwortung zu, um die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder mit intelligenten regulierungspolitischen Maßnahmen zu befördern. 90



Wenn auch alle Gesellschaftsmitglieder im Durchschnitt von einem Marktsystem profitieren, weil sie höhere Einkommen und größere Freiheitsspielräume genießen, dann besteht als Kehrseite gleichsam die Notwendigkeit der Kompensation der „Verlierer". Wettbewerb auf Märkten und eine soziale Absicherung arbeitslos gewordener Personen gehören zur Legitimierung einer Marktwirtschaft unabdingbar zusammen. 91 Das verweist auf eine staatlich initiierte Arbeitslosensicherung und ggfs. weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.

(5) Tragen darüber hinaus auch Unternehmen eine spezifische beschäftigungspolitische Verantwortung? •

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91

Man mag Unternehmen als wichtigen Ort sozialer Interaktion begreifen, in denen Menschen Selbsterfahrung und -entfaltung erfahren. Ihre dauerhafte Existenzberechtigung haben Unternehmen indes nur dann, wenn sie langfristig Gewinne erzielen, weil sie gute und preisgünstige Produkte nach den Wünschen der Nachfrager zu erstellen in der Lage sind. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bemisst sich zuallererst am Output. Daher kann es in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht gleichzeitig vorrangige Aufgabe von Unternehmen sein, Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Arbeitsplätze entstehen vielmehr als Reflex aus der Tatsache, dass es Unternehmen gelingt, kaufbereite Kunden zu finden. Sie sind Folge erfolgreichen unternehmenspolitischen Agie-

In diesem Sinne auch Noll (2010, S. 265) und Suchanek (2002, S. 146 f.). Rawls (1979, S. 20 und S. 105). Ähnlich Faber und Petersen (2008, S. 414 ff. und S. 420). Eine interessante ordnungsethische Frage in diesem Kontext wäre, ob jeder Arbeitsfähige, der Unterstützung durch die Gesellschaft benötigt, eine vom Staat angebotene Arbeit annehmen muss. Das ist Grundgedanke des in den USA praktizierten Workfare. eingehender dazu Noll (2010, S. 268 f.) mit weiteren Nachweisen.

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rens im Geflecht von Absatz- und Beschaffungsmärkten. Eine darüber hinausgehende unternehmerische Beschäftigungsverantwortung wäre nur möglich, wenn die Risiken für entstehende Verluste von der Gesellschaft übernommen würden. •

Das häufig gegen einen Arbeitsplatzabbau vorgetragene Argument, am bisherigen Standort seien Gewinne erzielt worden, so dass es an der Wettbewerbsfähigkeit nicht mangeln könne, kann in einer wirtschaftsethischen Debatte keinen Bestand haben. Gewinne sind keine kalkulierbaren Ex-ante-Größen, sondern Ergebnis abgelaufener Rechnungsperioden. Sie sind ein Ex-post-Indikator, der anzeigt, mit wie viel Erfolg man den Interessen der Marktpartner in der Vergangenheit entsprochen hat. Ein Unternehmen kann aber seiner Verantwortung für Shareholder wie Stakeholder nur dann nachkommen, wenn es Entscheidungen trifft, die zukunftsorientiert sind und Bestand und Ertragsaussichten langfristig absichern helfen.



Die vorgenannten Überlegungen lassen sich vor dem Hintergrund der Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens noch akzentuieren, wie in Kapitel II.3. deutlich wurde. Es kann von international agierenden Unternehmen nicht verlangt werden, an heimischen Standorten Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Es gibt mit Verweis auf eine universalistische Ethik keine Kommunal-, Regionaloder Nationalmoral, weder für Konsumenten, Urlauber oder Erwerbstätige. Dementsprechend findet sich auch keine überzeugende Begründung dafür, dass sich das Management vorrangig für deutsche Arbeitsplätze einsetzen müsste. Arbeitsplätze an heimischen Standorten sind nicht wertvoller als an anderer Stelle der Welt. Unternehmen können bei der Suche nach Vertragspartnern nicht in der Vorstellungswelt von Fo/fa'wirtschaften verharren. Daher gilt: So wie das Recht des Einzelnen auf Freizügigkeit, auf Arbeitsplatzwechsel oder auf Auswanderung eine große moralische Errungenschaft ist, gilt es den analogen moralischen Anspruch der Unternehmen auf Standortverlagerung zu schützen.

(6) Das Dilemma zwischen hoher heimischer Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit an den Beschaffungs- und Gütermärkten ist auf Unternehmensebene nicht lösbar. Daher entspricht es Klugheitserwägungen, als systematischen Ort für das Beschäftigungsziel die staatliche Rahmenordnung anzusehen. Dies ist Ausdruck zweckmäßiger Aufgabenteilung zwischen verschiedenen Verantwortungsträgern.92 Anderenfalls besteht die Gefahr eines moralistischen Fehlschlusses.93 Wenn an Unternehmen appellativ Forderungen herangetragen werden, die Akteure sollten des Beschäftigungsziels wegen ihr Verhalten ändern, obwohl sie das - im Wettbewerb stehend - nicht können, muss das Anliegen scheitern. Staatliche Wirtschaftspolitik und das Wirken der Tarifparteien, nicht aber das einzelne Unternehmen, sind für eine hohe Beschäftigung verantwortlich. Doch auch wenn die Rahmenordnung der systematische Ort ist, um Wettbewerbsneutralität auf Akteursebene herzustellen, ist es nicht zwingend der einzige Ort der Moral.

92 93

Dazu z. B. Homann und Pies (1991, S. 608); Noll (2002, S. 37); Arnold (2009, S. 259 f.). Pies (2011, S. 14).

Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung

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2. Unternehmensethische Perspektive In marktwirtschaftlichen Systemen ist die Generierung oder Maximierung der Gewinne legitime, nicht letzte Zielsetzung. Sie ist ganz im Sinne Cantillons gleichsam „Überlebensaufforderung" für im Wettbewerb stehende Unternehmen, und zwar unabhängig von ihren Eigentumsverhältnissen.94 Unternehmen müssen aus Selbstinteresse in ihre vorrangig nach innen gerichtete Unternehmenskultur und ihre vorrangig auf externe Stakeholder ausgerichtete Reputation investieren, um langfristig erfolgreich zu sein. Glaubwürdigkeit und Reputation stehen für Unternehmen gerade bei solch gravierenden Entscheidungen wie Arbeitsplatzabbau oder -Verlagerung auf dem Prüfstand. Hier gilt es, gegenüber den verschiedenen Stakeholder-Gruppen respektable Begründungen für ihr Handeln zu formulieren. Das erfordert zugleich eine sorgfaltige Analyse und Bewertung verschiedener Perspektiven. (1) Zunächst zur Mitarbeiterperspektive: Arbeit ist als Produktionsfaktor nicht vergleichbar mit beliebigen anderen Waren. Sie ist überhaupt keine Ware, denn der Mensch ist als Arbeitnehmer ein „Produktionsfaktor mit Würde"95. Beide Vertragspartner, Unternehmen96 wie Arbeitnehmer, tätigen spezifische Investitionen am konkreten Standort. Diese legen es beiderseits nahe, an einmal abgeschlossenen Arbeitsverhältnissen grundsätzlich erst einmal festzuhalten. Solche Verträge sind typischerweise unvollständige bzw. relationale Verträge. Eine vollständige Spezifizierung der Vertragsbedingungen ist nicht möglich.97 Neben formalen Arbeitsverträgen entstehen gleichsam „implizite Verträge", aus denen mit der Zeit wechselseitig stabilisierende Vertrauenserwartungen hinsichtlich Loyalität, Verfügbarkeit oder Leistungsbereitschaft erwachsen. Daraus entsteht auch die Bereitschaft, freiwillig Vorleistungen zu erbringen, selbst wenn diese vom Partner opportunistisch ausbeutbar wären. Diese Vertrauensbeziehungen werden durch Standortschließungen oder Arbeitsplatzabbau nicht nur bei den direkt betroffenen, sondern bei allen Mitarbeitern beeinträchtigt bzw. zerstört. Ein solcher Erwartungsbruch hat ökonomische Konsequenzen, denn nicht nur der formelle, sondern auch der implizite Arbeitsvertrag muss dem Reziprozitätsprinzip genügen.98 Daher sind die unternehmenskulturellen Auswirkungen von Standortschließungen oder -Verlagerungen sorgfaltig zu analysieren. Es liegt mithin im wohlverstandenen langfristigen Gewinninteresse, die Interessen der Arbeitskräfte bei solch tiefgreifenden unternehmenspolitischen Maßnahmen möglichst weitgehend zu berücksichtigen und negative Konsequenzen für Arbeitskräfte auf ein Minimum zu reduzieren. Angesichts dieser Überlegungen werden Unternehmensleitungen zunächst über die aktive Gestaltung, durch Suche neuer Produktfelder, Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen den unvermeidlichen Strukturanpassungen zu begegnen suchen, hingegen die Personal94

95 96

97 98

Unternehmen haben die Aufgabe, attraktive Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. Das ist ihr Sachziel. Gewinne als Formalziel sind Indikator dafür, ob sie diese Aufgabe angemessen wahrnehmen. Göte/(2003, S. 190). Sie investieren in die (unternehmenseigene) Infrastruktur vor Ort, bilden Mitarbeiter dort aus, etc. So flüchtig ist also „Kapital" nicht, wie häufig behauptet, sind doch die jeweiligen versunkenen Kosten zu beachten. Wischermann und Nieberding (2004, S. 24). Ähnlich Aßländer (2005, S. 420); vgl. auch Sennett (1998, S. 62 f.) zur Empirie.

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freisetzung als defensive und nachrangige Strategie nur wählen, wenn andere Handlungsoptionen als unzureichend eingeschätzt wurden." (2) Wie bereits gezeigt, werden die Interessen der Stakeholder nicht nur durch (freiwillig abgeschlossene) Verträge, sondern auch durch den Wettbewerb geschützt. Damit gewinnen sie faktisch Einfluss auf unternehmenspolitische Entscheidungen, selbst wenn sie nicht in Diskurse auf Unternehmensebene einbezogen werden. Kunden und Lieferanten setzen nicht nur auf Preise, Qualität der Produkte und -Sicherheit, sondern auch auf die Reputation, die man mit dem Unternehmen verbindet. So gilt bspw. inzwischen für viele Konsumenten, dass das Nähere ihnen als das Vertrautere und auch als das Vorziehenswürdige beim Kauf erscheint. Auf diese Weise wird die Belegschaft zudem durch die Beachtung anderer Stakeholder-Interessen reflexartig mit geschützt.100 (3) Schließlich wird man einen gesellschaftspolitischen Aspekt zur Begründung unternehmensethischen Engagements im Zusammenhang mit Arbeitsplatzabbau oder -Verlagerung formulieren können. Multinational agierende Unternehmen müssen aus Selbstinteresse zu moralischen Akteuren werden, wenn die (internationale) Rahmenordnung Lücken oder Defizite aufweist, z.B. wenn Arbeitsplätze in Regionen verlagert werden sollen, die unzureichenden Arbeitsschutz, Kinderarbeit o.ä. erwarten lassen. An einer universalistischen Ethik orientierte Gesellschaften akzeptieren es nicht, wenn Unternehmen den Wettbewerb institutioneller Regime nutzen und gleichsam Moralarbitrage betreiben. Sie finden sich durch Medien oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) an den Pranger gestellt, wenn sie von fragwürdigen Arbeitsbedingungen profitieren. Daher ergibt sich schon aus Selbstinteresse eine Ordnungsverantwortung für global agierende Unternehmen, um moralische Konflikte im konkreten Fall lösen zu helfen. Unternehmerische Verantwortung erschöpft sich dann nicht in der Aufgabe, Wertschöpfung mit verschiedenen Kooperationspartnern zu gestalten. (Mit-)Verantwortung besteht auch für die Bedingungen der Wertschöpfungsprozesse, sei es durch freiwillige Verhaltenskodizes zur Selbstbindung, sei es durch Beteiligung an Regelreformen.101 Sie verfügen in umweit-, arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen Problemen über Erfahrungen, die ihnen ein spezifisches Know-how und eine besondere Lösungskompetenz verleihen. Versteht man Corporate Social Responsibility in diesem engen und klar konturierten Sinne, so wird man dem aus Unternehmens- wie ordnungsethischer Perspektive nichts entgegensetzen können!102 Gleichwohl wird man nicht bestreiten können, dass Unternehmen manch unerwünschten Lobbyismus praktizieren, indem sie sich gesellschaftlich wünschenswerten Regeländerungen entgegenstellen oder für unerwünschte Regeländerungen einsetzen.103

99

100

101 102 103

Einschränkend muss berücksichtigt werden, dass diese Überlegungen sicher nicht unabhängig von der Branche, in der das Unternehmen arbeitet, oder der Qualifikation der freigesetzten Arbeitskräfte gelten. Mit dem Subsidiaritätsprinzip lässt sich begründen, dass jeder Mitverantwortung für das Funktionieren kleiner Gruppen hat. Daraus lassen sich spezifische Verantwortlichkeiten für mittelständische Unternehmen ableiten, als Arbeitgeber, Steuerzahler oder beim bürgerschaftlichen Engagement. Allerdings verliert (s.o. zu Fn. 29) die Idee der Subsidiarität an Überzeugungskraft. Beckmann (2011, S. 18 f.). Ähnlich Jensen (2001, S. 16 f.), der von einer „enlightened stakeholder theory" spricht. Dazu Barley (2007, S. 201 ff.); Bonardi et al. (2005, S. 404).

Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung

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V. Fazit Im Kern sorgt ein eng miteinander verquicktes Set von Annahmen ständig für schiefe öffentliche Moraldebatten. Die Diskussionen um Arbeitsplatzabbau und -Verlagerung stehen hier nur pars pro toto: (1) Am Ausgangspunkt steht das Ideal der kleinen Gruppe, der Gemeinschaft, dem sich die Bevölkerung wie auch viele Sozialwissenschaftler verpflichtet fühlen und das die wichtigsten Wertbezüge liefert. Dies legt die Personalisierung ethischer Themen nahe. So entsteht moralische Empörung über einzelne Personen, Berufsgruppen oder konkrete Phänomene - mag es die korrupte Haltung eines Managers, die Gier eines Bankers oder der Arbeitsplatzabbau eines Großkonzerns sein. Jeweils steht der überzogene Egoismus einzelner, nicht die legitimen Interessen der Menschen insgesamt im Vordergrund. Da die Interdependenzen der Daseinsbereiche und die daraus folgende Komplexität den Beobachter bei seiner Analyse „überfordern", erfolgt die Zuweisung von moralischer Verantwortung nach dem „Prinzip des ersten Augenscheins". Randbedingungen und Funktionsprinzipien eines komplexen Wirtschaftssystems werden bei dieser Sichtweise nicht thematisiert. Dass moderne Gesellschaften in einer arbeitsteiligen Welt ein sorgsam austariertes und ständig weiter zu entwickelndes Institutionensystem benötigen, bleibt weithin außer Betracht. (2) Dies führt zu manch fragwürdiger Positionierung. Die Funktion von Unternehmertum in der anonymen Großgesellschaft wird nicht aus der Genese des sich im historischen Prozess entfaltenden Marktsystems und den damit verbundenen Wandlungen des Institutionengefüges heraus verstanden und interpretiert. Es dominiert ein in der politischen Philosophie entwickelter konflikttheoretischer Ansatz, in dem überkommene Gemeinschaftsideale reaktiviert werden - der umfassende Diskurs zur Suche nach fairen Konsenslösungen, der gerechten Aufteilung knapper Arbeitsplätze oder des gemeinschaftlich erwirtschafteten Ergebnisses liegt daher nahe. So hängt dem Gewinn nach dieser Auffassung etwas wenig Verständliches, etwas Unanständiges, ein Modergeruch an. Ökonomik und Ethik werden in kontradiktorischer Weise zueinander in Stellung gebracht. Die Moral des Unternehmertums wird nur dann als „echt" angesehen, wenn sie mit Teilen verbunden ist und weh tut. 104 Erst dann, wenn über das Geldverdienen hinaus „etwas wirklich Wertvolles", etwas „ökologisch oder sozial Sinnvolles" gemacht würde, würde dies auch als „moralisch verdienstvoll" angesehen und entspräche dem Anliegen verantwortungsvoller Unternehmensführung. Der „Charme" dieses Argumentationsmusters liegt darin, dass darunter dann jeder etwas anderes versteht. Die unklaren Begrifflichkeiten und theoretischen Reflexionen prägen die gesamte CSR-Debatte nunmehr seit mehreren Jahrzehnten. Die unternehmerische Verantwortung wird hingegen nicht - wie es angemessen wäre - darin gesehen, gegen manche Widerstände „außerhalb der vertrauten Fahrrinne zu navigieren" 105 , um innovative und verbesserte Produkte für den Markt zu kreieren, um Menschen mit weniger Kreativität und Risikobereitschaft zu beschäftigen, ein guter Arbeitgeber zu sein und regelmäßig Löhne und Steuern zu bezahlen. Darin werden kei-

104 105

Göbel{2003, S. 189). Schumpeter (1975, S. 215); instruktiv dazu Kommission fiir Zukunftsfragen (1997, S. 37).

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ne nennenswerten, moralisch auszuzeichnenden Taten, sondern nur (scheinbare) Selbstverständlichkeiten gesehen. Ganz analog gilt der Arbeitsplatzabbau oder die -Verlagerung für viele per se als etwas Fragwürdiges, Unerwünschtes, weil dies das Gemeinschaftsgefiige störe, ohne dass dabei ins Kalkül gezogen wird, aus welchen Triebfedern sich unternehmerisches Verhalten und die damit verbundene wirtschaftliche Entwicklung von Gesellschaften seit dem Aufbruch aus der Subsistenzwirtschaft gespeist haben. Arbeitskräfte sparende Rationalisierungs- und Verlagerungsprozesse haben ohne Frage manche Härten und Missstände mit sich gebracht, aber nur dadurch sind die westlichen Gesellschaften zu dem Wohlstand und den Freiheitsspielräumen gelangt, die sie heute besitzen.

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Summary: Corporate Responsibility and Employment: An Historical-Genetic Approach Usually the announcement of large-scale enterprises to reduce or relocate jobs causes harsh public morality debates. Hence, it is the aim of this article to discuss the respective responsibilities of individuals, enterprises and/or the state and their relation to each other. Since a true understanding of the relevant ethical categories is only possible, if their historical genesis is known a historical-genetic approach is chosen. From this perspective it is analyzed how these historical considerations fit tomodern positions in business-ethics. It turns out that the Corporate Responsible and Corporate Citizen approaches are not compatible with these historical approach.In the end from a methodical individualistic point of view it remains unexplained, why and under which conditions a private corporation should become a „quasi-public institution"or a „Good Corporate Citizen".In contrast, the historical-genetic approach can back up institutional economics and ethics because its' main subject is how to implement and separate responsibilities between the engaged parties.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Dominik H. Enste und Michael Hüther

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum1 Inhalt I. Mitverantwortung als unternehmerische Kategorie in der Marktwirtschaft? .... 293 1. Verantwortung und Vertrauen

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2. Unternehmen zwischen „Profit seeking" und „Rentseeking"

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II. Mitverantwortung im öffentlichen Raum

298

1. Bürgerschaftliches Engagement als gelebte Mitverantwortung

298

2. Mitverantwortung und die Evolution der Werte

300

3. Mitverantwortung und Grenzsituationen des Lebens

302

4. Mitverantwortung und Kooperationserfahrung

303

III. Bürgerschaftliches Engagement und die Theorie öffentlicher Güter

304

IV. Unternehmenstyp, Unternehmenskultur und soziale Rollen

309

1. Eigentümergefuhrte versus managergeführte Unternehmen

309

2. Unternehmenskultur und Mitverantwortung

311

3. Soziale Rollen, Vorbilder und Vertrauen

314

V. Gelebte Mitverantwortung der Unternehmen: Befund und Perspektiven

316

1. Empirische Befunde zur Mitverantwortung der Unternehmen

316

2. Fazit und Perspektiven

319

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Corporate Citizenship and Civic Engagement of Companies in the Public Sphere

323

I. Mitverantwortung als unternehmerische Kategorie in der Marktwirtschaft? 1. Verantwortung und Vertrauen Gesellschaftliche Verantwortung respektive Mitverantwortung 2 erfasst die Bereitschaft und die Fähigkeit von Individuen, Gruppen oder Institutionen, sich für andere 1

2

Die Autoren danken zwei anonymen Gutachtern sowie den Teilnehmern des 2. ORDO-Symposium im Mai 2012 in Wittenberg für zahlreiche weiterführende Hinweise und Anregungen. Gesellschaftliche Verantwortung und Mitverantwortung werden im Weiteren synonym verwendet.

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einzusetzen, etwas für andere zu tun, sich in der Gesellschaft zu engagieren, ohne dass dies - anders als bei der Selbstverantwortung - auf eine spezifische und eindeutige Zuweisung von Verantwortung gründet. Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung ist grundsätzlich freiwillig, sie greift gerade über die gesetzlich oder anderweitig bindend definierten Pflichten hinaus, sie reflektiert eine Haltung gegenüber dem für jede Gesellschaft bedeutsamen und unerlässlichen „gemeinsamen Sinn für ein gemeinsames Interesse"3. Dies erfordert Entscheidungen und Handlungen, die den Notwendigkeiten anderer Personen sowie Gruppen oder den Funktionsbedingungen der Gesellschaft des Gemeinsamen - Rechnung tragen. Eine Form der gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme ist das bürgerschaftliche Engagement. Aus diesem Bedarf nach Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und ihrer prinzipiellen Freiwilligkeit leiten sich Forschungsfragen ab, die in diesem Beitrag diskutiert werden: Wie kann der Widerspruch aus Notwendigkeit und der gleichzeitig in einer freiheitlich demokratischen Ordnung gebotenen Freiwilligkeit des Bürgerengagements aufgelöst werden? Und in welchen Erfahrungsräumen unter welchen Bedingungen wird Mitverantwortung befördert und entwickelt? Kann eine Gesellschaft auf die Mitverantwortung des einzelnen im Alltag verzichten? Sind Gesellschaften ohne Sozialkapital, das die Kategorie Mitverantwortung ökonomisch wendet, vom Zerfall bedroht? Welche Bedeutung hat Vertrauen - in das System, in die Unternehmen, in die Mitbürger - für Verantwortungsübernahme? Welche Probleme entstehen, wenn vom einzelnen nur die vertragliche Haftung und Gewährleistung sowie die Einhaltung der Gesetze und Verfahren verlangt wird? Wie kann Kooperation unter den Bedingungen des Wettbewerbs und der Globalisierung gedeihen? Wie entstehen Werte? Welchen Beitrag leisten die Verlässlichkeit und die Faimess unserer Rechtsordnung sowie unserer Institutionen für die gesellschaftliche Kooperation? Diese Fragen stellen sich derzeit besonders akut, wenn die demoskopischen Zeichen der Zeit richtig gedeutet werden. Denn die elementare Voraussetzung für Mitverantwortung in der Gesellschaft liegt im Basisvertrauen, das der Einzelne in die Fairness und Angemessenheit des Verhaltens aller anderen sowie die dafür steuernden Regelwerke hat. Tatsächlich hat die Vertrauenskrise alle Bereiche der Gesellschaft erreicht, und selbst Beschäftigungsboom und niedrige Arbeitslosenquote können das Vertrauen in das Wirtschaftssystem in Deutschland nicht stärken (Abbildung 1). Zuletzt hat sich die Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft immerhin etwas stabilisiert, aber dem Kapitalismus wird dennoch misstraut. Dies kann im Extremfall bedeuten, dass unternehmerische Tätigkeiten von der Gesellschaft zunehmend kritisch gesehen und die „licence to operate", welche den Unternehmen von der Gesellschaft erteilt wird, entzogen werden könnte. Damit ist weniger die rechtliche, durch die Gewerbefreiheit in der Verfassung festgeschriebene Lizenz (Legalität) gemeint, als vielmehr die gesellschaftliche Akzeptanz von privatwirtschaftlichen Unternehmen (Legitimität). Jüngste Beispiele des Entzugs oder der Einschränkung der entsprechenden Lizenzen betreffen die Kernenergie und Gentechnik oder die Rekommunalisierung von Versorgungsunternehmen, so dass dies keineswegs eine rein hypothetische Entwicklung ist.

3

Hume

(1739/40).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

• 295

Abbildung 1: Sinkendes Vertrauen in die Wirtschaftsordnung

Laut dem aktuellen Edelman Trust Barometer 4 sank das Vertrauen der Deutschen in Unternehmen allgemein von 52 Prozent (2010) auf nur noch 34 Prozent (2011) und damit auf das Niveau nach der Lehman-Pleite (2008). Ebenso ist auf der individuellen Ebene die Glaubwürdigkeit von Wirtschaftsführern in Europa erodiert. Nur weniger als ein Fünftel der Deutschen hält Wirtschaftsfuhrer für glaubwürdig. Finanz- und Industrieanalysten stürzen innerhalb eines Jahres um 36 Prozentpunkte auf 20 Prozent ab, und selbst Akademiker insgesamt erleiden im gleichen Zeitraum einen Glaubwürdigkeitsverlust von 24 Prozentpunkten auf 53 Prozent. Schließlich halten nur 6 Prozent der Deutschen Politiker für Menschen, vor denen sie besondere Achtung haben.5 Weniger Prestige (4 Prozent) haben derzeit nur Banker, Bankangestellte und Fernsehmoderatoren. Insofern könnte das sinkende Vertrauen in die marktwirtschaftliche Ordnung und in Unternehmer selber ein erster, eigennütziger Anlass fiir die Unternehmen sein, sich sehr viel stärker mit den moralischen Risiken ihres Handelns auseinanderzusetzen. Dies erfordert zunächst unternehmensinterne, institutionelle Maßnahmen, um Fehlverhalten im Unternehmen zu vermeiden bzw. keine Anreize zu geben, die unmoralisches Handeln zum Beispiel bei der intransparenten Produktgestaltung fördern. Aber darüber hinaus gehört komplementär das bürgerschaftliche Engagement des Unternehmens im öffentlichen Raum zu einem stimmigen Unternehmensbild hinzu. Dabei wird in diesem Beitrag herausgearbeitet, dass solches Engagement Eigenschaften eines öffentlichen Gutes hat, so dass das einzelne Unternehmen eine Trittbrettfahrerposition einnehmen kann. Eine

4 5

Vgl. Edelman Trust Barometer (2012). Vgl. Allensbach Institut (2011).

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Dominik H. Enste und Michael Hüther

zentrale Frage ist somit, wie diese Dilemmasituation überwunden werden kann, um eine Unterversorgung zu vermeiden. 2. Unternehmen zwischen „Profit seeking" und „Rentseeking" Unternehmen erfahren sehr unterschiedliche Bewertungen. Sie werden in der breiten Öffentlichkeit, ebenso von der Politik, als Marktakteure mit Gewinnerzielungsabsicht eher kritisch gesehen, wenngleich deren Produkte und technische Innovationen gerne gekauft und wertgeschätzt werden. Gleichzeitig würdigt (und braucht) sie der Steuerstaat als wichtige Basis seiner Finanzierung und hat damit ein dauerhaftes Interesse an der ansonsten vielfach kritisierten Gewinnmaximierung (vor Steuern). Dabei ist die Hauptaufgabe der Unternehmen in der Marktwirtschaft, in einem arbeitsteiligen Prozess die Güter herzustellen, bei denen der Preismechanismus wirkt, somit das Ausschlussprinzip erfüllt ist, und die produktionstechnisch nicht mit externen Effekten verbunden sind. Unternehmen machen möglich, was der einzelne Konsument nicht realisieren kann und was arbeitsteilig im Verbund günstiger - mit geringeren Transaktionskosten - zu erstellen ist. Sie beantworten Bedürfhisse und am Markt geäußerte Bedarfe mit Lösungen, sie binden und gestalten räumliche Strukturen, sie wetten auf die Zukunft und übernehmen Risiken. All dies geschieht in der Marktwirtschaft unter der permanenten Enteignungsandrohung durch den Wettbewerb.6 Was dazu dient, die Unternehmen zu einem sorgsamen Einsatz des verfügbaren Sach-, Finanz-, Human- und Sozialkapitals anzuhalten, wird in Politik und Öffentlichkeit als Bedrohung gesehen. Unternehmen erscheinen erst als schutzwürdig, wenn sie vom Wettbewerb bedroht werden, und nicht bereits dann, wenn es darum geht, unternehmerischer Initiative Freiräume zu eröffnen. Wettbewerb und Fairness, die - unter den entsprechenden ordnungspolitischen und ordnungsethischen Rahmenbedingungen für den Ökonomen kompatibel sind, erscheinen Öffentlichkeit und Politik in der überwiegenden Mehrheit als Gegensatz. Diese Sicht führt dazu, dass unternehmerische Leistungen gesellschaftlich nicht selten anders bewertet werden, als dies im Wettbewerb tagtäglich durch freiwillige Kaufentscheidungen artikuliert wird. Gerade in der letzten Zeit erfahren Unternehmen eine erweiterte Verantwortungszuschreibung durch Gesellschaft und Politik, wie sie sich in einer postulierten „Pluralität von Gemeinwohlakteuren"7 dokumentiert. Die Feststellung, dass sich angesichts fortschreitender Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung, des demographischen Wandels sowie der Veränderungen sozialer Strukturen neue Fragen für die Gestaltbarkeit und Gestaltung der Gesellschaft stellen, fordert ohne Zweifel Unternehmer und Unternehmen auf andere Weise, sich der gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen. Dabei rücken sowohl Personengesellschaften als auch Kapitalgesellschaften, Eigentümerunternehmen und Manager in den Fokus geforderter Mitverantwortung.8

6 7 8

Vgl. Euchen (1952). Vgl. Schuppen (2011). In der vorliegenden sozialwissenschaftlichen Literatur werden Unternehmen ohne entsprechende Differenzierung als Akteure des bürgerschaftlichen Engagements betrachtet, vgl. Braun, BackhausMaul (2010).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

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Man kann für Kapitalgesellschaften analog dem Modell der Teilhabersteuer9 argumentieren, dass letztlich alles, was dort geschieht, auf die Teilhaber (insbesondere die Anteilseigner) zurückfallt. So wie die Teilhabersteuer eine direkte Besteuerung der Kapitalgesellschaft ablehnt und nur die Anteilseigner als steuerpflichtig betrachtet, so ließe sich dies auch für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung begründen. Allein der Blick auf die Prinzipal-Agenten-Strukturen in Kapitalgesellschaften macht jedoch deutlich, dass es originäre Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der beauftragten Unternehmensführung gibt. Ebenso ist das Unternehmen stets ein Raum, in dem Ressourceneinsatz und Ressourcenbindung kontrovers zwischen den Management, Shareholdern und Stakeholdern diskutiert und verhandelt werden. Daraus folgt: Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften, Eigentümerunternehmer und Manager können als Träger gesellschaftlicher Verantwortung angesprochen werden.10 Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass nur durch eine differenzierte Innensicht der Unternehmen deren Befähigung, deren Disposition und deren Bereitschaft zur Mitverantwortung in der Gesellschaft angemessen analysiert werden kann. Unternehmer und Unternehmen, Stakeholder und Shareholder sind gleichermaßen anzusprechen. Typischerweise werden für Unternehmen zwei Handlungsmuster fast dichotomisch gegenübergestellt: Das Gewinnstreben im Marktwettbewerb (profitseeking) und das Vorteilsstreben in zentral gesteuerten kollektiven Systemen (rentseeking). Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung (moralseeking) zahlt direkt weder auf die eine noch auf die andere Strategie ein, wenngleich es jeweils begünstigend wirken kann. Unternehmen werden zu Akteuren der Bürgergesellschaft (Zivilgesellschaft), nachdem sie traditionell Akteure des Marktes und auch des politischen Systems sind (Lobbyismus). Es gibt kaum Vorstellungen über konsistente Verhaltensfunktionen für Unternehmen im gesellschaftlichen Raum, und es wird wenig analysiert, wo ordnungspolitisch die normativen Anker für eine entsprechend erweiterte Funktionszuschreibung liegen könnten. Zum einen müssen die Grenzen der zusätzlichen Verantwortungsübernahme beachtet werden, um eine Ausbeutung der Unternehmen durch grenzenlose Anspruchshaltungen zu vermeiden. Zum anderen muss bei einer solchen Analyse berücksichtigt werden, dass Unternehmen ein solches bürgerschaftliches Engagement nicht für sogenanntes Green Washing oder als eine Art Ablasshandel oder Feigenblatt nutzen. Über das Kerngeschäft hinausgehendes Engagement kann nicht die Gewinnerzielung durch illegales oder illegitimes Agieren legitimieren. Mitverantwortung spielt in der neoklassischen Theorie traditionell keine Rolle, wenngleich Ordnungspolitiker, wie zum Beispiel Franz Böhm (1957), auf deren Bedeutung frühzeitig hingewiesen haben. Erst die tendenzielle Auflösung der neoklassischen Dichotomie zwischen dem Staat und seinen öffentlichen Gütern sowie dem Markt und seinen privaten Gütern eröffnet weitergehende Perspektiven." Die Übertragung bekannter Theorien beispielsweise zur privaten Bereitstellung öffentlicher Güter lässt gesellschaftliche Verantwortung durch Unternehmen analytisch erfassen, ohne zu erklären, wie es dazu kommt, zumal von ökonomischer Seite geltend gemacht wird: „the only

9 10 11

Vgl. Engels und Stützet ( 1968). Vgl. Fetzer (2004); French ( 1995); Werhane ( 1985). Vgl. Kitzmueller und Shimshack (2012, S. 55 ff.).

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responsibility of business is to maximize profits"12. Und auch wenn dies zu kurz greift, so bleibt doch offen, warum es zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen kommt, wenn dieses die viel versprochenen Kostenreduktionen durch eine solche Investition in Moralkapital und Reputation nicht erbringt, weil die Konsumenten als in einer Marktwirtschaft zentrale Instanz dieses nicht entsprechend durch höhere Zahlungsbereitschaft honorieren.13 Die Wirtschaftsethik hat zuletzt neben die Spielregeln und die Spielzüge das Spielverständnis als Steuerungskonzept unterhalb der expliziten Normen und Verfahren gesetzt.14 Unbestimmt bleibt fiir die Ökonomik, warum und wie es zur Mitverantwortung kommt. Verhaltensökonomische Studien können zwar erklären, dass Menschen sich nicht nur, vielleicht nicht einmal dominant eigennützig verhalten, doch eine systematische Erklärung von Mitverantwortung und den dafür bedeutsamen Bedingungen steht noch aus. Diese Debatte ist nur zu bewältigen, wenn man sich auf sehr grundsätzliche Fragen einlässt - die Frage nach der Bedeutung der Werte15 und deren Entstehung,16 die Frage nach der Wirkung positiver Kooperationserfahrung und Fairness,17 die Frage nach den Folgen erlebter Grenzsituationen des Lebens18 (Abschnitt II). Daran schließt sich der Versuch an, die Kategorie Mitverantwortung systemisch zu erfassen und dafür die Theorie öffentlicher Güter zu nutzen (Abschnitt III), um die besonderen Merkmale von Mitverantwortung als „Gut" zu charakterisieren. Schließlich geht es um die Frage, ob und inwieweit Unternehmen mit ihren unterschiedlichen Stakeholdern überhaupt Adressaten gesellschaftlicher Ansprüche sein können und sollten (Abschnitt IV).

II. Mitverantwortung im öffentlichen Raum 1. Bürgerschaftliches Engagement als gelebte Mitverantwortung „Kein Mensch bringt ein Engagement für sein Gemeinwesen von Geburt an mit. Jeder muss es in einem Prozeß lernen, den man politische Bildung' nennen mag"19. Es geht somit um die Ausprägung des Staatsbürgers. Verantwortungsübernahme im gesellschaftlichen Raum institutionalisiert sich als bürgerschaftliches Engagement. Dieses ist dadurch geprägt, dass der oder die einzelne sich weder auf seinen oder ihren privaten Bereich zurückzieht noch die Verantwortung für das Ganze ausschließlich auf die Institutionen des Staates überträgt. Damit wird der Blick über den engeren Bereich der Selbstverantwortung hinaus geweitet. Die moderne Gesellschaft ist trotz ihrer Heterogenität, ihrer Wandlungsintensität und ihrer starken internationalen Vernetzung offenkundig kein Handlungsraum, dem die Kategorie Mitverantwortung für das Gemeinsame - für das Gemeinwohl - fremd ist. Der Bestand von Gesellschaften ist für sich genom-

12 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Friedman (1970). Vgl. Kitzmueller und Shimshack (2012, S. 70 ff.). Vgl. Homann, Enste und Koppel (2009). Vgl. Wörter (2012). Vgl. Enste und Knelsen (2012). Vgl. Fetchenhauer et al. (2008). Vgl. Jaspers (1932). Höffe (2004, S. 82).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

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men ein erstaunlicher Befund, wenn man bedenkt, dass „deren Mitglieder mehrheitlich von der Überzeugung durchdrungen sind, ihre eigene Existenz sei letztlich um eine Dimension wirklicher als alles, was sie auf der Seite des Kollektivs umgibt" 20 . Die Ausbildung und Ausprägung eines Gemeinsinns folgt dabei den Notwendigkeiten, den Möglichkeiten und den Erfahrungen der Kooperation. Diese werden durch einen Anpassungsdruck befördert, der „dem Zerfall des unversammelbaren Kollektivs in ein Patchwork aus introvertierten Clans und Enklaven" 21 entgegenwirkt. Bürgerschaftliches Engagement auf der Ebene des Nationalstaats dokumentiert geradezu die Existenz eines „gemeinsamen Sinns für ein gemeinsames Interesse". Dieses Grundverständnis ist verknüpfbar mit dem von Hannah Arendt erarbeiteten Konzept des öffentlichen Raums, der in Abgrenzung zur Privatheit steht. 22 Arendt versucht damit die viel behandelte existentielle Ambivalenz des Menschen als zugleich selbstbezügliches wie soziales Wesen zu systematisieren. Die Privatheit erfasst jenen Bereich menschlicher Aktion, der beim Individuum, bei der Familie oder bei einer vergleichbar eng und klar konturierten Gruppe weitgehend unabhängig vom Umfeld und unabhängig von den Handlungen anderer, außerhalb der konkreten Privatheit stehende Personen gestaltbar ist oder zumindest keine explizite Bezugnahme darauf erfordert. Die Privatheit ist gekennzeichnet „durch affektive Bindungen, direkte Interaktion und spontane Solidarität" 23 . Der öffentliche Raum dagegen lebt von der bewussten oder unbewussten Kooperation verschiedener, voneinander getrennter Akteure, er ist getragen von der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns und gemeinsamer Verantwortung, er setzt ein Grundvertrauen in die Verantwortungsbereitschaft der Mitbürger voraus. Seine Funktion liegt einerseits in der Koordination, der Verhandlung und dem Ausgleich unterschiedlicher individueller Interessen, Präferenzen und Einschätzungen, andererseits in der grundlegenden Gestaltung von Regeln, Verfahren und Institutionen, die diese Prozesse effizient und fair ermöglichen. Gerade in der modernen Großgesellschaft bestehe die Gefahr, dass die Kraft des öffentlichen Raums schwindet „zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden" 24 . Bereits Hume25 spricht von der Gefahrdung grundlegender gesellschaftlicher Institutionen in der anonymen Gesellschaft, weil die Erinnerung an gemeinsame Erfahrung nicht mehr so leicht verbindet. Die Bereitschaft und die Neigung zur Mitwirkung an der Gestaltung des öffentlichen Raums mögen dann geringer werden, weil die Lebensperspektive vollständig auf die Privatheit verengt wird. Das erfordert den Staat, um den Raum freiwilliger Kooperation zu eröffnen und abzusichern. Die Bedeutung des öffentlichen Raums liegt in seiner Dauerhaftigkeit, er „muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen" 26 . Ein schwacher Staat, der orientierungslos und kraftlos ist, kann die elementaren Voraussetzungen für die Gestaltbarkeit des öffentlichen Raums - nämlich den

20 21 22 23 24 25 26

Sloterdijk{2011, S. 10). Sloterdijk(2011, S. 13). Vgl. Arendt ( 1967). Laux (2011, S. 5). Arendt (1961, S. 66). Vgl. Hume (1739/40). Arendt ( 1967, S. 68).

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friedlichen Austausch von Interessengegensätzen und die friedliche Lösung von Konflikten - nicht erfüllen und für Grenzsituationen des Lebens keinen Halt bieten. Der öffentliche Raum erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn er das Koordinationsversprechen für alle ihm konstruktiv zugewandten Akteure hält. Die Vorteilhaftigkeit freiwilliger Kooperation muss für die Mitglieder der Gesellschaft erfahrungsbegründet sein sowie eine eigene Logik auf Basis reziproker Verhältnisse und Aktionen besitzen. Selbstverantwortung und Mitverantwortung bilden die unverzichtbaren Scharniere zwischen souveräner Privatheit und der Funktionsfahigkeit des Öffentlichen. Die Selbstverantwortung ist notwendig, weil sie die Ausbeutung der anderen und des Kollektivs verhindert, die vertraglichen Verpflichtungen und Schuldrechtsverhältnisse akzeptiert. Erst durch die Mitverantwortung im öffentlichen Raum wird der Verantwortungsdiskurs angemessen geführt, weil damit sowohl seine institutionelle Ausgestaltung wie seine tägliche Bewirtschaftung möglich werden. Die Bedeutung der Verantwortung spiegelt die Bedeutung der Freiheit; das Handeln im öffentlichen Raum gewinnt seine Würde aus der Freiwilligkeit. 27 Daraus lässt sich folgende Definition bürgerschaftlichen Engagements ableiten {Engagementbericht 2012): (1) Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillige Mitverantwortung im und für den öffentlichen Raum. Es reflektiert und anerkennt die Bürgerpflichten gegenüber dem Gemeinwesen. Es wird von Individuen und Organisationen erbracht. (2) Bürgerschaftliches Engagement ist strukturbildend, setzt wichtige Impulse für das gesellschaftliche Miteinander und generiert so positive externe Effekte für die Gesellschaft. (3) Bürgerschaftliches Engagement kann sich in kontinuierlichen Leistungen, Innovationen und Problemlösungen ausdrücken, mit denen primär kein finanzieller Nutzen angestrebt wird. (4) Bürgerschaftliches Engagement kann sowohl auf neue Formen der Regelfindung als auch auf die Gestaltung des Miteinanders innerhalb der staatlichen Rahmenordnung gerichtet sein. Die Feststellung, dass es bürgerschaftliches Engagement gibt und - für eine funktionsfähige Gesellschaft - auf Dauer auch geben muss, erklärt noch nicht, aus welchen Orientierungen und Bedingungen heraus der Einzelne dazu freiwillig bereit ist. Damit stellt sich die Frage, wie es zur Bildung entsprechender Werte und Moralorientierungen kommt.

2. Mitverantwortung und die Evolution der Werte Das Einhalten von grundlegenden Werten und Prinzipien, wie zum Beispiel der Goldenen Regel der Gegenseitigkeit von Ansprüchen, und die Beachtung der demokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, sind die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben. 28 Abweichendes, deviantes Verhalten wird in der Regel bestraft. Das war historisch betrachtet in den verschiedensten Kulturkreisen der Fall. 27 28

Enquete-Kommission (2002, S. 32). Für einen kleinen Überblick vgl. Enste und Knelsen (2012).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

301

Nur so konnten sich jene Verhaltensregeln durchsetzen, die ein organisiertes Miteinander ermöglichen. Woher aber kommen diese Werte? Bedeutsam ist zunächst die extrinsische Motivation, also die von der Außenwelt bestimmten Faktoren (Belohnung und Bestrafung). Dazu zählen allgemein finanzielle Anreize wie zum Beispiel kleine Belohnungen im Kindesalter und später Gehaltserhöhungen, ebenso die viel diskutierten Prämien und Boni, die sich am Unternehmensgewinn orientieren. Andere nicht-finanzielle Faktoren sind das Übertragen von Verantwortung, die Anerkennung und das Lob für erwünschtes Verhalten. Nach Kohlbergs29 (nicht unumstrittener) kognitiver Moraltheorie gehört ein Verhalten, das nur durch diese externen Anreize gesteuert wird, zur präkonventionellen Stufe der Moralentwicklung. Darüber hinaus beeinflusst die Peergroup das Verhalten ebenfalls sehr stark (konventionelle Stufe). Ob jemand selber Schwarzarbeit ausfuhrt oder nicht, kann mit einer 77-prozentigen Wahrscheinlichkeit richtig vorhergesagt werden, wenn bekannt ist, wie das Verhalten der Nachbarn eingeschätzt wird. 30 Das Handeln der Kollegen wirkt ebenfalls motivierend - in die eine oder andere Richtung. Gleiches gilt für das Vorbild der Eliten in der Gesellschaft, die aufgrund ihrer besonderen Stellung und Macht zugleich eine besondere Verantwortung haben. Der über Peers und Eliten vermittelte Moralkonsens und die dort übliche Kooperationsbereitschaft sind besonders bedeutsam für die Gesellschaft, da der Mensch Halt in Institutionen, Normen und Regelsystemen sucht.31 Den frühen Ordnungsökonomen war dies durchaus bewusst, es wurde indes nur in einer generellen Weise artikuliert, ohne es in einen direkten Bezug zur Funktionsfähigkeit der Ordnungssysteme zu setzen. Wilhelm Röpke32 sprach beispielsweise von „säkularisierten Heiligen", deren Position in der modernen Massengesellschaft nicht länger unbesetzt bleiben dürfte. Während des Prozesses der Sozialisation - Höffe (2004) spricht vom Prozess der politischen Bildung - werden Werte verinnerlicht, und es entsteht ein Wertesystem, das uns (hoffentlich) die gesellschaftlich „richtigen" Verhaltensweisen ausfuhren lässt. Im Idealfall wird daraus eine intrinsische Motivation. Nach der kognitiven Stufentheorie der Moralentwicklung von Kohlberg werden auf der postkonventionellen Stufe individuelle und universell gültige Werte entwickelt, die handlungswirksam sind und befolgt werden. Wilhelm Röpke spricht davon, dass „die Menschen [...] auch unter Bedingungen aufwachsen (müssen), die solche Überzeugungen und Wertvorstellungen begünstigen", denn Markt und Staat erzeugten selbst nicht jene sittlichen Reserven, die das Geschäftsleben benötigt. 33 Warum aber haben sich Kooperationsverhalten und Fairaess im Gegensatz zur ausschließlichen Eigennutzorientierung und dem Versuch, andere systematisch auszubeuten, als Normalfall durchgesetzt? Evolutionspsychologische Überlegungen können Erklärungsansätze liefern: Da der Mensch den Tieren bezüglich seiner Schutz- und Überlebensinstinkte weit unterlegen ist, hätte er allein mit Hilfe der körperlichen Konstitu-

29 30 31 32 33

Vgl. Kohlberg (1969, 1996). Vgl. Enste (2010). Vgl. Homann (2002). Röpke (1958). Röpke (1956, S. 23 ff.).

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tion kaum Chancen gehabt, lange zu überleben.34 Das Überleben wurde durch intellektuelle, kognitive Fähigkeiten und die Entwicklung einer Kultur gesichert, die durch Normen, Werte und Ethik geprägt ist. Diese bestimmen, was „richtig" und „falsch" beziehungsweise „gut" oder „böse" ist. Sie geben Richtlinien für das Verhalten und dienen somit als Sicherheit und Entlastung bezüglich des Handelns in der Gruppe. Nur durch das Anerkennen gemeinsamer Leitbilder wurde ein Zusammenleben von immer größeren Gesellschaftsformen überhaupt möglich.35

3. Mitverantwortung und Grenzsituationen des Lebens Mitverantwortung ist aber nicht nur das Ergebnis aus der positiven und verlässlichen Erfahrung von Kooperation, aus dem Erleben der daraus folgenden Vorteile für alle Beteiligten, aus der intrinsischen oder erworbenen Motivation einzelner, die aus philanthropischen Gründen agieren. Gesellschaftliche Verantwortungsübernahme ist ebenso die Antwort auf die für den Menschen unvermeidbare Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Handelns. Die dadurch gegebenen Grenzsituationen des Lebens36 lassen sich durch den Betroffenen selbst nicht mehr substanziell gestalten, korrigieren, übergehen oder gar aufheben: „Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. [...] es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können"37. Solche Grenzsituationen - aufgrund eines Leidens, einer Krankheit, einer Schuld, eines schweren Schicksals, eines tiefgehenden eigenen Versagens oder aufgrund der Todesaussicht - führen den Menschen nicht nur auf den Kern seiner Existenz, sondern eröffnen zugleich den Blick über diese eigene Existenz hinaus und weiten ihn auf andere. Diese Grenzsituationen verweisen den einzelnen auf die Familie, die Nachbarschaft, die nahe Gemeinschaft, auf die Gesellschaft, generell auf das Angebot der Hilfe und der Unterstützung. Sie verweisen den einzelnen aber auch auf die elementaren Werte, die das Miteinander und damit den öffentlichen Raum erst gestaltbar machen.38 Auf bestimmte Grenzsituationen des Lebens antworten wir mit staatlichen Institutionen der sozialen Sicherung. Doch klar ist ebenso, dass die mit der Fürsorge, der Pflege, der Begleitung von Krankheit und speziell der Verletzlichkeit im hohen Alter verbundenen Aufgaben und Herausforderungen nie ohne ein starkes bürgerschaftliches Engagement im Ehrenamt, in Verbänden und Vereinen oder im nachbarschaftlichen Miteinander zu bewältigen wären. Die staatliche Sicherung und das freiwillige bürgerschaftliche Engagement greifen ineinander, um erst zusammen das Notwendige zu erreichen. Das in diesen Handlungsfeldern geleistete bürgerschaftliche Engagement folgt 34 35

36 37 38

Vgl. z.B. auch Gehlen (1940). Erkenntnisse verschiedener Disziplinen wie zum Beispiel der Anthropologie, Archäologie oder Ethnologie liefern wichtige Informationen bezüglich des Zusammenlebens der so genannten Urvölker. Vgl. Noll (2010) zu einem einordnenden Überblick zur Wirtschaftsethik. Vgl. Jaspers (1932). Jaspers (1953, S. 18). Vgl. Hüther (2012).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

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dabei keiner abgeleiteten Logik, die sich aus dem Verantwortungsbereich der sozialen Sicherung erklärt. Vielmehr geht es um die ganz besondere Zuwendung zum Einzelnen, die es ihm ermöglicht die Grenzsituation zu bewältigen, indem eine neue Haltung zum Leben gefunden wird. Hier müssen kollektive Lösungen versagen, so sehr sie auch unverzichtbar sind, um durch Verlässlichkeit für den einzelnen Vertrauen im Wandel und Vertrauen in den Wandel zu ermöglichen. 39 Die Grenzsituationen des Lebens eröffnen eine Perspektive auf Mitverantwortung, die diese nicht absolut dem Einzelnen gegenüber stellt, sondern in Abhängigkeit von der konkreten Lebensphase positioniert und dabei unterschiedliche Möglichkeiten der Mitverantwortlichkeit im Lebensverlauf adressiert.

4. Mitverantwortung und Kooperationserfahrung Freiheitliche Gesellschaftsordnungen prägen kooperatives und vertrauensvolles Verhalten, wenn die Freiheitsfähigkeit des einzelnen unausweichlich mit Selbstverantwortung und Haftung kombiniert wird. Denn dies bewirkt ebenso wie die sanktionsbewehrte Exekution der kollektiv definierten Normen, dass der Einzelne im gesellschaftlichen Miteinander die Vorteile der freiwilligen Kooperation erfährt und erlernt. Die Verlässlichkeit und die Fairness unserer Rechtsordnung sowie unserer Institutionen sind das glaubwürdige Testat für die gesellschaftliche Verpflichtung zur Kooperation. Diese These steht jener gegenüber, die mit größerer Selbstverständlichkeit öffentlich vorgetragen wird und den Staat als Erziehungsanstalt zur Mitverantwortlichkeit der Bürger sieht. Ein Staat, der seine Freiheitsverpflichtung und die Freiheitsberechtigung seiner Bürger ernst nimmt, ist insbesondere durch eine Bildungspolitik gefordert, die der Befähigung des Einzelnen zum mitverantwortlichen Agieren im öffentlichen Raum verlässlich das Fundament baut. Das impliziert nicht eine besondere Betonung von Moral und Ethik im Curriculum allgemeinbildender Schulen als vielmehr eine Einübung bürgerlicher Selbstverständlichkeiten wie der Vertragstreue, der Verlässlichkeit, der Haftung. Der Staat ist auch dort zu besonderer Obacht gefordert, wo er durch die Zuweisung von Ressourcen und die Gestaltung sozialer Sicherung vermeidbar die Anreize zur individuellen Haftung und Verantwortung mindert. Denn insofern man die freiwillige Kooperation über Märkte schwächt, wird zugleich die Möglichkeit eingeschränkt, durch die Kooperationserfahrung Mitverantwortung zu entwickeln und zu stärken. Anders gewendet: Das Gewinnstreben unter wettbewerblichen Bedingungen offener Märkte und verlässlich sanktionsbewehrter Regeln dient insbesondere bei wiederholter Interaktion der Herausbildung von Mitverantwortung allemal mehr als das Vorteilsstreben in staatlichen Systemen, sei es als Subventionsempfanger oder als Transferempfanger. Mitverantwortung entsteht gerade nicht durch die Schwächung der Selbstverantwortung über paternalistische staatliche Systeme. Das gilt auch dort, wo der Staat aus guten Gründen die begrenzte Rationalität der Individuen zu korrigieren versucht. Deshalb sind Eingriffe zu bevorzugen, die individuelle Entscheidungsspielräume belassen und damit die konkrete Verantwortung des Einzelnen nicht negieren. 39

Hüther (2010).

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Kooperation als Folge freiwilliger Entscheidung setzt ein Grundvertrauen in die Verantwortungsbereitschaft der Mitbürgerinnern und Mitbürger voraus. Die Gefahr der Ausbeutung dieses Vertrauens schwindet in dem Maße, wie die gegenseitige Erfahrung und Bindung durch jedwede Form des Austauschs und der wechselseitigen Beziehung gestärkt wird. Nur wer glaubt, er sei auf den gesellschaftlichen Kontext nicht angewiesen, er könne Nischen der Intransparenz über Ausbeutungsstrategien zu seinem Vorteil nachhaltig nutzen oder er sei ohne jede Chance der Partizipation in den gesellschaftlichen Zusammenhängen, der wird sich den Anstrengungen der Kooperation nicht unterziehen. Solche Möglichkeiten entstehen, wenn Regeln und Verfahren nicht neutral und nicht frei von Privilegien angewendet werden sowie soziale und politische Ungleichheiten im Status der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nachhaltig bestehen. Damit werden nicht nur jene Voraussetzungen einer kooperativen Gesellschaft adressiert, die durch Recht und Verfahren gesetzt werden, sondern ebenso die Vorleistungsverpflichtung des Staates, um den Einzelnen bzw. die Einzelne zur Freiheit und zur Verantwortung im umfassenden Sinne zu befähigen. Dies erfordert und legitimiert insbesondere eine entsprechend orientierte Bildungspolitik und Sozialpolitik.

III. Bürgerschaftliches Engagement und die Theorie öffentlicher Güter Mitverantwortung kann viele Erscheinungsformen annehmen. Dies entspricht der Vielfalt der Lebenssituationen, der Heterogenität der Lebensverläufe, der Betroffenheit durch den sozialen sowie ökonomischen Wandel und der Komplexität unserer Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement als eine institutionalisierte Form der Mitverantwortung wirkt über verschiedene Formate und inhaltliche Ausprägungen in unterschiedliche Kontexte hinein, die wiederum durch ein jeweils typisches Miteinander von privatem Sektor und Staat geprägt sind. Zur Systematisierung der verschiedenen Erscheinungsformen, aber auch der Koordination von Privatheit, Markt, Staat und Bürgergesellschaft kann die Theorie öffentlicher Güter herangezogen werden (Übersicht l). 40 Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, auf ordnungspolitisch konsistente Weise eine Systematik für privates Handeln (auch der Unternehmen) sowie staatliche Regelsetzung und Aufgabenerfullung zu entwickeln, die die Mitverantwortung einzubinden vermag. Damit wird ein Verständnismodell für diese Diskussion verfügbar gemacht, das als Folie vor die verschiedenen Formen und Ausprägungen der Mitverantwortung in der Form des bürgerschaftlichen Engagements gelegt werden kann. Sichtbar wird auf diese Weise, dass die Zuweisung der Mitverantwortung an den öffentlichen Raum systematisch mit Störungen in den Nutzungseigenschaften und den Produktionsbedingungen von Individualgütern verbunden ist. Zugleich wird transparent, welche Form staatlicher Intervention den Hintergrund oder die Begleitung des bürgerschaftlichen Engagements beschreibt. Das ermöglicht Hinweise auf Inkonsistenzprobleme, die Zweifel an der Nachhaltigkeit des Engagements begründen können oder bereits artikulierte Zweifel verständlich machen.

40

Kitzmueller und Shimshack (2012, S. 53 f.).

nein

Quelle: Engagementbericht (2012).

Ausprägungen bürgerschaftlichen Engagements

Ggf. CSR

Auto, Medikamente, Lebensmittel, Krankentransport

r

Ggf. CSR

ADAC, Sportvereine, Golfclub

Regulierungsbedarf

freiwillige Kooperation

c Leiturgie

Öffentlichrechtlicher Rundfunk, gesetzt. Altersvorsorge

Kollektivanspruch/ -rationalität

Regelfindung

Ressourcen, Umwelt

Regulierungsbedarf

Gemeinschaft

Leiturgie

Öffentliche Infrastruktur, Daseinsvorsorge, „socialoverheadcapital"

Marktversagen

Staat

1

nein

nein

'g S

Staat

Ja

ja



Beispiele

Markt

Organisation

ja

nein

nein

«

Regulierungsbedarf

nein

- Steuern

nein

ja

begrenzt

ja

nein

ja

möglich

nein

begrenzt

begrenzt

Gut

produkt

.2, .2, .2,

begrenzt

Öffentliches

öffentliches Zwischen-

.2,

Legitimation fur eine staatliche Intervention

ja

nein

a

e

- Gebühren resp. Beiträge

ja / nein

Allmendegut

c 'S

Leiturgie/ Regelfindung

Außenpolitik, Sicherheit, Rechtssystem, Grundlagenforschung

Marktversagen

Staat

nein

cu

- Marktpreis

Gut

Mautgut

c .2, ' 5 c

ja

meritorisches

Clubgut/

a

Allokation und Finanzierung

nein

- externe Effekte

«

- sinkende Durchschnittskosten

Produktionsbedingungen

Individualgut

cd

- Ausschluss möglich

- Rivalität im Konsum

Nutzungseigenschaften

Merkmale

Güterkategorie

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum • 305

Übersicht 1: Bürgerschaftliches Engagement und ökonomische Güterkategorien

306

Dominik H. Enste und Michael Hüther

Die Theorie der öffentlichen Güter ist deshalb hilfreich, weil bürgerschaftliches Engagement grundsätzlich mit externen Effekten verbunden ist und über die Privatheit hinausweist. Jeder Beitrag zur Gestaltung des öffentlichen Raums mag zwar sehr spezielle, sehr individuelle Motive haben, doch seine Wirkungen resultieren aus externen Effekten, d.h. nutzenstiftenden Wirkungen bei anderen oder für Gemeinsames respektive die Gemeinschaft. In der ökonomischen Theorie werden nicht nur die Randlösungen - öffentliches Gut und privates Gut - systematisch verortet, sondern ebenso vielfältige Zwischenformen, die sich aus unterschiedlicher Kombination der definierenden Faktoren ergeben. Rein private (Individualgut) und rein öffentliche Güter werden durch zwei Nutzungseigenschaften differenziert: Während erstere mit einer Rivalität der Nutzung einhergehen, so dass ein weiterer Nutzer die Nutzungsmöglichkeiten aller vorhandenen Nutzer beeinflusst, und bei ihnen der Ausschluss eines Nutzers über den Preismechanismus uneingeschränkt möglich ist, gilt beides beim öffentlichen Gut nicht. Die Nutzungsbedingungen finden ihre Ursachen in Produktionseigenschaften, steigenden Skalenerträgen sowie wirtschafitsraumweiten externen Effekten. Wird die Bereitstellung rein privater Güter über Märkte und den Preismechanismus gesteuert, so geschieht dies bei öffentlichen Gütern über den politischen Prozess und Steuern. Dennoch gibt es in beiden Bereichen einen Handlungsauftrag für den Staat; und zwar in Form der Marktregulierung bei privaten Gütern sowie der direkten oder beauftragten Leistungsbereitstellung bei öffentlichen Gütern. Zwischen diesen beiden Extremen lassen sich weitere Güterkategorien identifizieren, die in unterschiedlicher Weise die genannten Kriterien kombinieren. Entsprechend lassen sich öffentliche Zwischenprodukte (Rivalität in der Nutzung nicht ausgeschlossen), Allmendegüter (Ausschlussprinzip nicht gültig) und Clubgüter (Nutzungsgemeinschaft mit Ausschlussmöglichkeit) bestimmen. Aus einer etwas anderen Perspektive werden meritorische Güter definiert; diese sind eigentlich über den Markt bereitzustellen, doch gibt es einen kollektiven Gestaltungsanspruch - in der Regel mit Verweis auf eine höhere Rationalität des Kollektivs, die dazu führt, dass ein Zwangskonsum dekretiert wird. Ein klassisches Beispiel ist die allgemeine Schulpflicht, ebenso die gesetzliche Altersvorsorge und der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Während sich die Systematisierung der ökonomischen Güterkategorien aus Veränderungen in den Produktionsbedingungen oder Regulierungsfortschritten ergeben kann, resultiert dies bei meritorischen Gütern aus veränderten gesellschaftlichen Präferenzen und Wünschen. Bürgerschaftliches Engagement lässt sich diesen Güterkategorien zuordnen, und zwar sowohl in Form der direkten Leistungserstellung als auch durch die Formulierung von Regeln und Verfahren für Koordination im öffentlichen Raum. Deutlich wird damit, dass sich je nach Ausgestaltung und Wirkung hinter bürgerschaftlichem Engagement ordnungspolitisch sehr unterschiedliche Konzepte verbergen können. Im Lichte der gewählten Definition geht es um Freiwilligkeit, um Mitverantwortung im öffentlichen Raum, um Strukturbildung und externe Effekte als Impulse für das gesellschaftliche Miteinander sowie um Nutzung und Bildung von Sozialkapital; es kann sich auf die Bereitstellung von Leistungen, auf die Gestaltung des Miteinanders innerhalb der bestehenden Regeln und Verfahren sowie auf die Entwicklung neuer Regeln und Verfahren

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

307

beziehen. Daran gemessen kann sich bürgerschaftliches Engagement nur auf jene Güterkategorien beziehen, •

deren Herstellung mit externen Effekten verbunden ist und



bei denen entweder Rivalität im Konsum und Ausschließbarkeit nicht gegeben sind oder



bei denen ein kollektiv artikulierter (meritorischer) Rationalitätsanspruch gilt.

Öffentliche Güter, öffentliche Zwischenprodukte, Allmendegüter und meritorische Güter bilden das Raster für bürgerschaftliches Engagement, wobei bürgerschaftliches Engagement in fast allen Kategorien zu finden ist, und je nach Gutseigenschaften unterschiedliche Bedingungen für das Angebot und die Nachfrage bestehen. Dadurch werden zugleich dessen unterschiedliche normative Bedingungen und die Wirkungsräume deutlich. Bürgerschaftliches Engagement lässt sich einerseits aus ökonomischen Merkmalen der Güterbereitstellung ableiten und ist dann mit der normativen Basis der Wirtschaftsordnung kompatibel. Es lässt sich andererseits aus gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Präferenzen ableiten und steht dann direkt im Konnex mit dem politischen Diskurs. Damit ist eine grundsätzliche Unterscheidung möglich, und zwar in bürgerschaftliches Engagement, das einer traditionellen ökonomischen Logik zugeordnet werden kann, und in ein solches, das ausschließlich politischen und gesellschaftlichen Erwägungen folgt und keine zwingende ökonomische Legitimation erfahrt. Diese Feststellung ist insofern alles andere als banal, weil in der geübten Praxis unserer Gesellschaft die Vermittlung von bürgerschaftlichem Engagement und Ökonomie keineswegs als selbstverständlich, konfliktfrei und problemorientiert angesehen wird. Allein deshalb ist es ertragreich, nach der ökonomischen Logik für bürgerschaftliches Engagement als mögliche Form der Mitverantwortung zu fragen. Damit wird ein Desiderat der bisherigen wissenschaftlichen Diskurse ernst genommen. Die Tragfähigkeit dieses Ansatzes, der die bekannten Bereiche und Themen bürgerschaftlichen Engagements mit seinen ökonomisch definierten Formen kombiniert, soll durch die Übersicht 2 verdeutlicht werden. Das eröffiiet die Möglichkeit, den Zusammenhang spezifischer Bereiche des bürgerschaftlichen Engagements systematisch mit den Aufgaben des Staates zu verbinden. Damit wird eine Basis für die gebotene Koordination der pluralen Gemeinwohlträger gelegt. Im Weiteren wird dies an den Motiven und Bereichen bürgerschaftlichen Engagements von Unternehmen gespiegelt.

308 •

Dominik H. Enste und Michael Hüther

Übersicht 2: Themen bürgerschaftlichen Engagements \ F o r r n e n bürgerschaftliehen Engagers. ments Bereiche bürgerschaftlichen Engagements

meritorisches Gut

öffentliches Zwischenprodukt Leiturgie

Allmendegut

Regelfindung

n.

Soziale Ungleichheit

Integration / Migration

\ Schulfrüh-

Tafeln, Mikro-

stück

kredite

Privatschulen

Bildung (Hochschulen)

Stiftungslehrstühle, Stipendien

Gesundheits-

Kinder/Jugendhilfe

MSC / FSC Zertifizierung zum Schutz der Allmende

Leseforderung

Bildung (allgem. Schulen)

Sport und vorsorge

öffentliches Gut

Nudging, Gewohnheit

Kultur

Impfschutz

Gutscheine für Theater etc. Bürgerforen, Protest, ziviler Ungehorsam

Politische Partizipation

Wohnen

Renovierung durch Eltern

Genossenschaftsprinzip (www.habitat.or g)

Ethik Quelle: Engagementbericht (2012).

ISO 26000

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

309

IV. Unternehmenstyp, Unternehmenskultur und soziale Rollen 1. Eigentümergeführte versus managergeführte Unternehmen Unternehmen sind relevante Akteure für die Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft („Pluralität von Gemeinwohlakteuren"). Unternehmen sind in der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht selbstverständlich, denn der direkte Tausch und die Effizienz der Marktsteuerung werden zunächst ausgeschaltet.41 Unternehmen als hierarchische, in der Regel zentral gesteuerte Einheiten sind entstanden, weil die Nutzung des Marktmechanismus mit Transaktionskosten verbunden ist. Dazu zählen Informationssuchkosten, Kosten der Steuerung von Austauschprozessen und der Herstellung von Komplementarität. Unternehmen erfüllen zudem eine Intermediationsfunktion, wenn sie Transaktionen internalisieren und durchfuhren, welche die Verbraucher im direkten Tausch nicht oder nur mit sehr hohen Effizienzverlusten realisieren können, und wenn sie Risiken tragen, die der einzelne mangels Kapitalkraft nicht zu tragen vermag. Man kann Unternehmen so verstanden auch als „Rationalisierung gesellschaftlich relevanter Bedürfnisbefriedigung" (Engagementbericht 2012, TZ 334) sehen; Unternehmen legitimieren sich durch eine aus den Kaufentscheidungen nur implizit abzuleitende generelle gesellschaftliche Beauftragung. Sie werden auch als „Wertschöpfiingsagenten im gesellschaftlichen Auftrag" 42 bezeichnet. Unternehmen gewinnen eine institutionelle Dauerhaftigkeit, indem sie Verträge schließen und Risiken bündeln, denn der daraus folgende Transaktionskostenvorteil erfordert für seine Materialisierung eine bestimmte Wirkungszeit. So verbinden Unternehmen durch ihre Institutionalisierung Konsumenten über Regionen und Zeiten hinweg. Mit der Trennung der Produktionsentscheidungen von den Konsumentscheidungen separiert sich zugleich die Zielsetzung des Unternehmens von den bekundeten Interessen der Konsumenten: Gewinnmaximierung definiert ein eigenständiges Ziel des Unternehmens. Gewinnmaximierung ist als Ausdruck erfolgreicher Positionierung sowohl im Wettbewerb als Austauschprozess zwischen beiden Marktseiten als auch im Wettbewerb als Parallelprozess auf der Angebotsseite des Marktes zu verstehen. Je nach Investitionsperspektive und Struktur der Kapitaleigner kann es dabei durchaus zu einer Differenzierung der Ziele des Unternehmens und denen der Eigner kommen. Mit steigender Größe der Unternehmen und der damit verbundenen Kapitalkosten gewinnt die Streuung der Anteile an Bedeutung, was die Verankerung der Produktionsunternehmen im Kapitalmarkt befördert und die Entwicklung der Finanzmärkte vorantreibt. Dennoch sind eigentümergeführte Unternehmen und Familienunternehmen die häufigste Unternehmensform, mit unterschiedlicher Gewichtung in den verschiedenen Realtypen der Wirtschaftsordnung. 43 Familienunternehmen sind demnach in besonderer Weise je nach ihrer Bedeutung Ausdruck des jeweiligen Ordnungsmodells (Markt- versus Beziehungskapitalismus). Daran schließt sich in der Ökonomik eine Debatte an, die 41 42 43

Vgl. Coase (1937) und Williamson (1994). Pies und Hielscher (2008, S. 338). Rund drei Viertel aller Unternehmen in etablierten Industriestaaten sind in Familienbesitz; zu Beginn dieses Jahrhunderts werden in Frankreich knapp 34 Prozent der Marktkapitalisierung aller börsennotierten Firmen von nur fünfzehn Familien kontrolliert, in Deutschland sind es 25 Prozent, im Vereinigten Königreich hingegen nur 6,6 Prozent, vgl. James (2005, S. 10 f.).

310

Dominik H. Enste und Michael Hüther

den Zusammenhang von Unternehmensführung und marktwirtschaftlicher Effizienz thematisiert. Traditionell wurde das kontinentaleuropäische Modell im Vergleich zum angelsächsischen Managermodell als weniger effizient bewertet. „Die Frage, ob Familienunternehmen im Allgemeinen langfristig erfolgreicher sind, lässt sich nicht eindeutig beantworten, da man immer eine bestimmte Stichprobe von Firmen zum Vergleich heranzieht"44. Aber die gängige und einfache These, dass Familienunternehmen allmählich durch unpersönliche Formen der Unternehmensfuhrung abgelöst werden, lässt sich nicht bestätigen, da sie allein die Dynamik von Neugründungen ignoriert, die ganz überwiegend von Familien getragen werden. Zudem gibt es immer wieder Entwicklungen, die Rechtsformwechsel in beide Richtungen organisatorischer Verfassung bedeuten. Stabilisierend für den langfristigen Unternehmenserfolg sind Umweltsensibilität und Anpassungsfähigkeit, hohe Kohäsion und Identität zur Bildung einer Gemeinschaft sowie Toleranz und Dezentralisierung für ein ökologisches Bewusstsein, um konstruktive Beziehungen in der eigenen Organisation aufzubauen sowie mit anderen Organisationen.45 Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die begrenzte Sicht auf den kurzfristige Gewinn und die Anteilseigner nicht zu einem längerfristigen unternehmerischen Erfolg führt. Vereinfachend lassen sich dabei eigentümergeführte von managergeführten Unternehmen unterscheiden, bei denen der Anlage- und Entscheidungshorizont tendenziell unterschiedlich ist. Beim Blick auf bürgerschaftliches Engagement zeigen sich zunächst leichte Unterschiede zwischen managergeführten und eigentümergeführten Unternehmen (Tabelle 1). Tabelle 1: Bürgerschaftliches Engagement nach Führungsstruktur Bürgerschaftliches Engagement Ja

Nein

Eigentümergeführt

64,5

35,5

Managergeführt

62,1

37,9

Gesamt

63,8

36,2

Quelle: Engagementbericht (2012), N = 4.315 Unternehmen.

Ein Grund für diese Unterschiede könnte darin liegen, dass Manager eine andere Legitimationsnotwendigkeit für die Übernahme von Mitverantwortung haben als Eigentümer. Managern könnte, streng genommen, eine missbräuchliche Verwendung der finanziellen Mittel der Anteilseigner vorgeworfen werden, wenn das von ihnen geführte Unternehmen sich gesellschaftlich engagiert. Insbesondere dann, wenn Nutzen für andere Unternehmen entsteht, die sich nicht mitverantwortlich verhalten, besteht eine besondere Begründungspflicht für bürgerschaftliches Engagement und Maßnahmen der Corporate Social Responsibility (CSR). Im bürgerschaftlichen Engagement von Unternehmen kreuzen sich die Präferenzen der Stakeholder und der Shareholder, und je nach

44 45

James (2005, S. 16). Jansen (2008, S. 75) ; de Geus (1998, S. 23 ff.).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

311

Gewichtung von Gewinnorientierung und sozialer Orientierung ergeben sich daraus Konfliktpotenziale. 46 Initiativen zu CSR können im Unternehmen von verschiedenen Stakeholdern ausgehen: Eigentümer, Manager, Personalbereich, Kommunikationsabteilung oder der innerbetrieblichen Arbeitnehmervertretung. Interessenkonflikte sind vor allem zwischen den Kapitalgebern und dem Management nachgewiesen. 47 Dies resultiert aus der in managergeführten Unternehmen praktizierten Trennung von Kapitaleigentum und Verfügungsgewalt. Kapital wird von den Anteilseignern bereitgestellt, das Management im Unternehmen entscheidet über seinen Einsatz und bestimmt dadurch die Kapitalrendite. Damit sind Prinzipal-Agenten-Probleme angelegt. Die unvollständige Kontrollmöglichkeit des Managements durch die Investoren ermöglicht dem Agenten, also dem Manager, Moral-Hazard-Verhalten. Manager stehen deshalb unter stärkerer Beobachtung und Rechtfertigungsdruck, wenn das Unternehmen sich gesellschaftlich engagiert, als die Eigentümer, die dies zum Beispiel aus intrinsischer oder philanthropischer Motivation tun. Allerdings können Manager zur Begründung von gesellschaftlichem Engagement darauf verweisen, dass diese Ausgaben und damit Kosten, die keinen unmittelbaren Effekt auf den Unternehmensgewinn haben, sich als Investitionen in die Vertrauenskultur des Unternehmens erweisen können und dadurch für die tägliche Steuerung im Unternehmen geringere Kosten verursachen.

2. Unternehmenskultur und Mitverantwortung Die Überwindung von Prinzipal-Agenten-Problemen kann durch die Entwicklung einer Unternehmenskultur gelingen, die Identität ermöglicht und damit die Voraussetzung für eine hohe Bindungswirkung der Mitarbeiter an das Unternehmen schafft. Die Sorge dafür relativiert die öffentlich wahrgenommene Dominanz eines ShareholderKapitalismus. Unternehmenskultur wird in vertragstheoretischer Sicht als relationaler Vertrag verstanden. Solche Verträge sind langfristige Vereinbarungen, in denen vergangene, gegenwärtige und zukünftige persönliche Beziehungen zwischen den Personen eine Rolle spielen. Diese Verträge sind meist implizit, informell und nicht rechtsverbindlich, sie beinhalten die selbstverständlichen, aber nicht immer ausgesprochenen Regeln des Miteinanders, die jenseits fester, expliziter und kurzfristiger Vertragswerke wirksam sind. Selbstdurchsetzung und Selbstkontrolle ist hier von erheblicher Bedeutung. Die Entwicklung und Gestaltung einer Unternehmenskultur sind schwieriger geworden, weil die Komplexität der Organisationsstruktur und damit der Unternehmenssteuerung zunimmt sowie in der wandlungsintensiven gesellschaftlichen und ökonomischen Umwelt die Bindung der Beschäftigten an ihr Unternehmen heute sehr viel brüchiger ist als früher. Der allgemein beschleunigte Wandel, der die Menschen immer häufiger bestehende Bindungen und Verträge revidieren lässt, nicht zuletzt weil der Stellenwert der Unabhängigkeit deutlich zugenommen hat, mag ein Katalysator dieser Entwicklung sein. Da die Unternehmenskultur auf Handlungen der Beschäftigten beruht, die über 46 47

Vgl. Kitzmueller und Shimshack (2012, S. 58 ff.) Vgl. Jensen und Meckling (1976); Shleifer und Vishny (1997); Becht et al.(2002).

312

Dominik H. Enste und Michael Hüther

ihren eigenen Verantwortungs- und Arbeitsbereich hinauswirken und positive externe Effekte im Unternehmen generieren, ist schon grundsätzlich von Defiziten, also einer Unterversorgung, auszugehen. Zudem ist die Unternehmenskultur als unternehmensspezifisches Sozialkapital auf laufende Investitionen angewiesen, um nicht einer Abschreibungsgefahr zu unterliegen. Gerade unter den veränderten Bedingungen der Arbeitswelt sind verstärkte Anstrengungen erforderlich. Die traditionelle Bindung aufgrund der Dauer der Betriebszugehörigkeit muss durch eine Bindung aufgrund der Intensität der Zugehörigkeit ergänzt werden, indem z.B. für die Beschäftigten die kommunikative Teilhabe an der Unternehmensentwicklung selbstverständlich wird und die Führung auf Beteiligung durch Delegation von Verantwortung setzt. Die Unternehmenskultur wird im Kontext der Unternehmensethik erörtert, die danach fragt, inwieweit ein moralisches Handeln für das Gewinnstreben der Unternehmen genutzt werden kann. Es schließt sich die Frage der Wirtschaftsethik an, inwieweit das gewinnorientierte Verhalten der Unternehmen für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung mobilisiert werden kann.48 Damit stellt sich die Frage, welche betriebswirtschaftlichen Begründungen für eine aus dem Unternehmen nach außen gerichtete Handlungs- und Standortmoral es gibt. Ausgangspunkt könnte der Wettbewerb der Unternehmen sein, der sich immer weniger nur auf Produkte, Problemlösungen und Geschäftsmodelle bezieht, sondern immer stärker auf Identität, Organisation und Reputationsbildung setzen muss. Viele Unternehmen haben dies erkannt und positionieren sich strategisch sowohl bei der Problemlösungskompetenz als auch bei der Bindungs- und Vertrauenskompetenz. Spannend ist das Ergebnis, dass Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung nicht in erster Linie deshalb übernehmen, weil sie sich von Seiten der Konsumenten Vorteile oder Reputationsgewinne erhoffen, sondern dabei vielmehr die Mitarbeiter im Blick haben (Tabelle 2). Tabelle 2: Ziele gesellschaftlichen Engagements nach Führungsstruktur Ziele/ Gründe gesellschaftlichen Engagements Engagement ist Teil der gelebten Unternehmenskultur

Managergeführt 68,1

Eigentümergeführt 76,4

Verbesserung des Ansehens des Unternehmens in der Öffentlichkeit

63,0

66,6

Stärkung des Vertrauens der Gesellschaft in die Marktwirtschaft

36,2

44,0

Erhöhung der Attraktivität des Unternehmens-/ Betriebsstandorts

28,8

32,2

Erhöhung der Kundenbindung/-zufriedenheit, Gewinnung neuer Kunden

38,5

36,6

61,3

43,7

Erhöhung der Mitarbeitermotivation und Mitarbeiterbindung

48

Pies und Hielscher (2008, S. 338).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

• 313

Unterstützung der Mitarbeiterqualifikation und soziale Kompetenz von Mitarbeitern

53,3

42,6

Gewinnung neuer Mitarbeiter

19,0

17,8

Sicherung des Fachkräftenachwuchs

27,5

27,4

Steigerung des Markenwerts

23,6

23,4

*) Anteil der engagierten Unternehmen, die sich aus dem genannten Grund (sehr oder eher) gesellschaftlich engagieren - differenziert nach Führungsstruktur. Quelle: Engagementbericht (2012), Eigene Berechnungen, N = 2.548 Unternehmen.

Auffallig ist, dass eigentümergeführte Unternehmen den gesamtgesellschaftlichen Nutzen ihres gesellschaftlichen Engagements mehr betonen als managergefiihrte. Für letztere sind diese Ziele auch zentral, allerdings werden diese flankiert von den Zielen, insbesondere ihre Mitarbeiter zu motivieren, zu binden und zu qualifizieren. Markenwert und Erhöhung der Kundenbindung sowie der Kundenzufriedenheit und die Gewinnung neuer Kunden sind meist weniger wichtig. Verstärkt wird dieser Trend zu einer bewussten unternehmerischen Reflexion oder sogar Ansprache gesellschaftlicher Werte und Moralvorstellungen dadurch, dass Unternehmen nicht mehr sicher sein können, dass die Einhaltung von Rechtsvorschriften und Verfahrensregeln ihnen ethisch eine gesellschaftlich einwandfreie Position sichert. Informelle moralische Normen entfalten zunehmend eine eigene Kraft und konstituieren eine Referenz für die Bewertung unternehmerischen Handelns. Grauzonen des Handelns werden ausgeleuchtet, Unternehmen umfassend auf den Prüfstand gestellt. Doch weit darüber hinausgehen moralisch justierte Anforderungen an Unternehmen, Verantwortung im gesellschaftlichen Bereich zu übernehmen, beispielsweise durch eine nachhaltige Wirtschaftsweise oder die Beförderung von Nachhaltigkeit bei Geschäftspartnern. Dokumentiert wurde dieses Interesse an einer gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen mit der im November 2010 verabschiedeten ISO 26000. Dieser im Januar 2011 als DIN-Norm veröffentlichte Leitfaden wendet sich an alle Arten von Organisationen, er soll die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung befördern und die Sensibilität gegenüber moralischen Risiken stärken. Die Moralisierung von Märkten und die Wirkung moralischer Risiken für das Unternehmenshandeln sind zunehmend von geschäftspolitischer Bedeutung. Die einfache marktökonomische Definition von Unternehmen wird damit nicht falsch, sie erweist sich aber als unzureichend. Das, was eingangs mit Blick auf die Steuerungsfunktion der Konsumenten im Wettbewerb als Austauschprozess und der Anleger im Wettbewerb als Parallelprozess beschrieben wurde, ist in eine damit zwar angelegte, aber breiter und tiefer werdende Verankerung in den Wertvorstellungen und Präferenzen der Gesellschaft einzubinden. Dabei spielen allgemeine Normen und akzeptierte Verhaltensmuster eine wichtige Bedeutung. Unternehmen operieren auf der Grundlage einer gesellschaftlich definierten Betriebslizenz („licence to operate"), die moralisch hinterfragt werden kann. Unternehmen stehen damit grundsätzlich vor der Herausforderung, die ökonomische Effizienz mit der gesellschaftlichen Legitimität in Einklang zu bringen.

314

Dominik H. Enste und Michael Hüther

3. Soziale Rollen, Vorbilder und Vertrauen Bislang war die Rede ausschließlich von Unternehmen. Angesichts der organisationstheoretischen und institutionenökonomischen Überlegungen ist dies angemessen. Aber ohne einen Blick auf die individuelle Ebene wäre die Analyse unvollständig, dafür sprechen schon die vielen eindrucksvollen Geschichten über Eigentümerunternehmer, die als Mäzene und Philanthropen wichtige Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Die systematische Befassung mit der Mitverantwortung von Unternehmen darf deshalb die Individualebene nicht außer Acht lassen. Das fuhrt zu der Frage, ob und wie Mitverantwortung in das ökonomische Denken dieser Akteure Eingang finden kann. Diese Frage ist für die Marktökonomik zumindest heikel, deren methodologische Grundlagen mit der Figur des Homo oeconomicus eng verbunden sind. Der Idealtypus des Homo oeconomicus ist bei feststehenden und stabilen Präferenzen eigennutzorientiert und er handelt darauf bezogen rational, wenn er unter den gegebenen Bedingungen und bei vollständiger Information seinen eigenen Nutzen respektive Gewinn maximiert. Diese theoretische Figur ist vielfach angeklagt und kritisiert worden. Denn offenkundig erfasst der Homo oeconomicus die Realität nicht zureichend. Neben der Orientierung am Eigennutz lässt sich - im Sinne eines Homo reciprocans - eine grundsätzlich kooperative Disposition der Menschen diagnostizieren, wenn die Bedingung der Wechselseitigkeit der Kooperation vertrauenswürdig erfüllt ist.49 Blind ist der Homo oeconomicus für gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich nicht in der Beauftragung von Produktionsleistungen erschöpfen, sondern eine spezielle Wertestruktur zum Ausdruck bringen. Damit wird der Blick vom Homo oeconomicus auf seinen alten Bekannten Homo sociologicus erweitert, der die gesellschaftliche Einbindung des Individuums thematisiert. Der Homo sociologicus steht „am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft", er erfasst „den Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen"50 und berücksichtigt, dass der Einzelne unvermeidbar eine „soziale Position" bezieht, die sich in ein Feld „sozialer Beziehungen" einbettet und dadurch eine „soziale Rolle" definiert.51 In der sozialen Rolle bündeln sich Verhaltenserwartungen, die von der Gesellschaft mit einer gewissen Verbindlichkeit adressiert werden und die sich aus gemeinsamen Werten sowie Überzeugungen ableiten. Das Ausfüllen der sozialen Rolle, die begrenzte Freiräume individueller Ausgestaltung lässt, wird durch die Gesellschaft positiv wie negativ sanktioniert.52 Der gesellschaftliche Sanktionsanspruch resultiert aus der Einsicht, dass jede Gesellschaft zur Schaffung bindender Identität ein gewisses Maß an kurzfristig unverrückbaren Werten und an entsprechenden Normen jenseits der Gesetze benötigt. Tatsächlich lässt sich über Experimente belegen, dass kooperative Strategien funktionieren, wenn plausibel erwartet werden kann, dass die eigene Kooperation durch die Kooperation anderer beantwortet wird.53 Die Trust-Forschung zeigt dabei, dass Menschen anderen Menschen systematisch zu wenig vertrauen. In zahlreichen Studien der Verhaltensökonomik und im Rahmen von spieltheoretischen Experimenten wurde

49 50 51 52 53

Falk (2003); Fetchenhauer (2012, S. 399 ff.). Dahrendorf (1977, S. 20). Dahrendorf (1977, S. 30 ff.). Dahrendorf (1977, S. 36). Vgl. Falk (2003).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

315

nachgewiesen, dass Menschen sich vertrauenswürdiger und kooperativer verhalten, als dies von anderen vermutet wird. 54 Die Versuchspersonen verhalten sich selber in 80 bis 90 Prozent der Fälle kooperativ und vertrauenswürdig, während dies von anderen nur in 50 Prozent der Fälle erwartet wird. Diese Diskrepanz fuhrt somit dazu, so das Fazit von Fetchenhauer et al. (2008), dass wir systematisch zu wenig vertrauen. Mehr Vertrauen hängt dabei auch „vom institutionellen Umfeld" ab, und zwar unter anderem davon, ob die Möglichkeit zu Sanktionen besteht. Grundsätzlich kooperative Individuen sind zugleich ausbeutungsavers, so dass die Bestrafungsoption ein kooperatives Ergebnis wahrscheinlicher macht. Dies geht so weit, dass Menschen zum altruistischen Bestrafen bereit sind, das heißt eigene Ressourcen einsetzen, um unkooperatives Verhalten zu bestrafen. Ziel ist dabei, übergeordnete Fairnessregeln zu verteidigen, auch wenn diese quasi ein öffentliches Gut darstellen. Daraus leitet sich ab, dass kluge Regeln und Verfahren einerseits privilegienfrei und andererseits mit offenen Sanktionen kombiniert sein sollten, die eine Rückkehr in den öffentlichen Raum, eine zweite Chance nicht verbauen. Das Begreifen des Rollenverständnisses und die Spiegelung der mit der Rolle verbundenen Erwartungen, die Verinnerlichung von Werten und Normen sowie das kooperative und mitverantwortliche Handeln gelingen am leichtesten durch das Lernen am Modell - Vorbilder prägen dabei das Verhalten. Dabei haben die Eliten aufgrund ihrer besonderen Stellung in der Gesellschaft und ihrer Macht zugleich eine besondere Verantwortung - für sich selber, für das unmittelbare Umfeld (zum Beispiel im Unternehmen), aber ebenso für die Gesellschaft. Die einleitend erwähnte Vertrauenskrise hat aber nahezu alle öffentlichen Personen erreicht. „Traue niemandem außer dir selbst" lautet das Fazit der Edelman Trust-Barometer. 55 Wie kann Mitverantwortung dennoch gelernt werden? Hoffnung macht, dass bei Fragen nach den wichtigsten Werten derzeit alles, was mit „Ehrlichkeit" zu tun hat, ganz oben auf der Liste steht. Wenn also die Vorbilder fehlen, kann die Orientierung an den Werten selber vielleicht die Mitverantwortung stärken. Möglicherweise drückt sich ja der zunehmende Reifegrad freiheitlicher Gesellschaften auch darin aus, dass es dieser Vorbilder nicht mehr in dem früher unterstellten Maße bedarf. 56 Die andere Qualität der Öffentlichkeit, das hohe Maß an Transparenz und die Schnelligkeit der Reaktion in weiten Kreisen der modernen Informationsgesellschaft, mögen dafür erklärend sein. Mehr als eine These ist dies aber derzeit nicht. Vielleicht ist ja der unerwartet große Zuspruch zum Bundesfreiwilligendienst ein Indiz für diesen sozialen Wandel. Die Entwicklung des Wertes „Ehrlichkeit" von 1982 bis 2010 weist ebenfalls in diese Richtung, ebenso die hohe Würdigung der Verlässlichkeit und der Hilfsbereitschaft (Abbildung 3).

54 55 56

Vgl. z.B. Fetchenhauer et al. (2008). Vgl. Edelman Trust Barometer (2012). Vgl. Röpke ( 1958).

316"

Dominik H. Enste und Michael Hüther

Abbildung 3: Erziehungsziele im Zeitablauf Besonders wichtige Erziehungsziele 1982

1996

2000

2010

1. Selbstvertrauen

1. Selbstvertrauen

1. Ehrlichkeit

1. Ehrlichkeit

2. Selbstständigkeit

2. Selbstständigkeit

2. Selbstständigkeit

2. Verlässlichkeit

3. Lebensfreude

3. Ehrlichkeit

3. Selbstvertrauen

3. Hilfsbereitschaft

4. Ehrlichkeit

4. Lebensfreude

4. Lebensfreude

4. Selbstvertrauen

5. Aufgeschlossenheit

5. Kontaktfähigkeit

5. Aufgeschlossenheit

5. Selbstständigkeit

6. Kontaktfähigkeit

6. Aufgeschlossenheit

6. Kontaktfähigkeit

6. Anstand

7. Fröhlichkeit

7. Pflichterfüllung

7. Fröhlichkeit

7. Verantwortung

8. Toleranz

8. Fleiß

8. Fleiß

8. Fleiß

9. Kritikfähigkeit

9. Höflichkeit

9. Höflichkeit

9. Gerechtigkeit

Quelle: Stiftung für Zukunftsfragen (2010), Eigene Darstellung.

V. Gelebte Mitverantwortung der Unternehmen: Befund und Perspektiven Die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements als gelebte Mitverantwortung und seine Unvereinbarkeit mit Zwang und Pflicht fuhren zu der Frage, welche Bedeutung seinen Motiven und seinen Wirkungen im öffentlichen Diskurs zukommen kann. Während die Marktsteuerung selbstverständlich nicht nach den Motiven fragt, sondern die Rechtmäßigkeit und Legitimität aus dem Einhalten der Regeln und Verfahren ableitet, wird das kollektive Handeln in staatlichen Strukturen per se nach den Motiven beurteilt und erfahrt dadurch seine Akzeptanz. Gesellschaftliche Mitverantwortung - institutionalisiert in bürgerschaftlichem Engagement - zielt nach der vorgenommenen Güterkategorisierang auf positive externe Effekte (in der Form von öffentlichen und quasi öffentlichen Gütern sowie von meritorischen Gütern). Die Analyse des bürgerschaftlichen Engagements muss das dahinter stehende Motiv berücksichtigen. Denn ein Missbrauch bürgerschaftlichen Engagements zur Kompensation von moralisch fragwürdigem Agieren an anderer Stelle oder als Ablass für ein zweifelhaftes, aber rechtlich zulässiges Geschäftsmodell kann seine Legitimation in Zweifel ziehen.

1. Empirische Befunde zur Mitverantwortung der Unternehmen Eine repräsentative, 4.400 Unternehmen umfassende Befragung für den Ersten Engagementbericht der Bundesregierung, liefert eine bisher einmalige Datengrundlage.57 Die Motive bürgerschaftlich engagierter Unternehmen werden von dem Grundgedanken

57

Vgl. Engagementbericht (2012).

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

317

getragen, Mitverantwortung für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für öffentliche Aufgaben und für den Ausgleich von Defiziten in der Gesellschaft übernehmen zu wollen. Immerhin knapp die Hälfte der Unternehmen (47,9 Prozent) ist bereit, gesellschaftliche Verantwortung selbst dann zu übernehmen, wenn eine Dilemmasituation vorliegt, wenn also infolge bedeutsamer externer Effekte andere Unternehmen vom eigenen Engagement profitieren, ohne selber aktiv zu werden und sich somit als Trittbrettfahrer verhalten (Tabelle 3). Tabelle 3: Motive für Mitverantwortung Motive für Mitverantwortung Anteile der engagierten Unternehmen in Prozent (Gesamt) Unser Unternehmen engagiert sich,

Trifft

Trifft (eher)

(eher) zu

nicht zu

...weil wir den Zusammenhalt in der Gesellschaft sichern möchten.

69,9

30,1

...weil wir zu Aufgaben beitragen möchten, die von öffentlichem Interesse sind.

68,1

31,9

.. .weil dies in unserem Unternehmen Tradition hat.

57,6

42,4

...weil wir Defizite bei Aufgaben für die Gesellschaft/Gemeinschaft ausgleichen möchten.

57,2

42,8

...weil wir dies im Rahmen der allgemeinen Debatte von bürgerschaftlichem Engagement für notwendig erachten.

55,5

44,5

.. .weil dies eine Reaktion auf Anfragen aus dem Umfeld ist.

45,3

54,7

.. .weil dies aktiv von den Mitarbeitern initiiert wird.

38,2

61,8

...weil dies die Möglichkeit bietet, Einfluss auf Entscheidungen in bestimmten öffentlichen Bereichen zu nehmen.

24,6

75,4

...weil wir dies im Bündnis mit anderen, z.B. in regionalen Initiativen, Unternehmensnetzwerken, Plattformen oder Foren, entwickelt haben.

24,1

75,9

...weil dies eine Reaktion auf politische Initiativen ist.

12,5

87,5

...unabhängig davon, ob andere Unternehmen davon profitieren können, ohne sich selbst zu engagieren.

47,9

52,1

Quelle: Engagementbericht (2012), N = 2.548 Unternehmen.

318

Dominik H. Enste und Michael Hüther

Fast 64 Prozent der deutschen Unternehmen engagieren sich, bei Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern liegt die Engagementquote sogar bei 96 Prozent (Engagementbericht 2012). Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen hat eine lange Tradition und wirkt in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen. Unternehmen engagieren sich für Bildung, Sport, Soziales, für Gesundheit oder Kunst und Kultur, für die Umwelt oder für die Einhaltung der Menschenrechte. Stark ausgeprägt ist das unternehmerische Engagement vor allem in den Bereichen Erziehung, Kindergarten und Schule (75 Prozent), Sport und Freizeit (68 Prozent) sowie Soziales und Integration (54 Prozent) (Abbildung 4). Unternehmen engagieren sich insofern in all jenen Bereichen, die in Übersicht 2 im Lichte der Theorie öffentlicher Güter systematisiert wurden und jeweils mit direkten oder im Falle von meritorischen Gütern unterstellten externen Effekten verbunden sind. Schwerpunktmäßig zielt das unternehmerische Engagement auf das unmittelbare räumliche Umfeld. Abbildung 4: Bereiche bürgerlichen Engagements

Erziehung, Kindergarten, Schule Sport und Freizeit Soziales/Integration Kunst und Kultur Hochschulen, Forschung, Weiterbildung Gesundheit Umwelt/Katastrophenhilfe Internationales und Entwicklungshilfe Menschenrechte 0

10

20

30

40

50

60

70

80

Quelle: Engagementbericht (2012), N = 2.594 Unternehmen, Anteil der engagierten Unternehmen nach Bereichen.

Mindestens 11,2 Milliarden Euro lassen sich Unternehmen, vorsichtigen Schätzungen zufolge, ihr freiwilliges, über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehendes, gesellschaftliches Engagement kosten (Engagementbericht 2012). Dabei sind finanzielle Zuwendungen mit 8,5 Milliarden Euro die wichtigste Form des Engagements. Rund die Hälfte der Unternehmen engagiert sich mit Sachspenden (1,5 Milliarden Euro). Die Kosten der unentgeltlichen Überlassung betrieblicher Infrastruktur belaufen sich auf 900 Millionen Euro. Noch wenig verbreitet ist die Freistellung von eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für bürgerschaftliches Engagement. Umgerechnet entspricht der Zeiteinsatz deutschlandweit nur einem Wert von rund 22 Millionen Euro. Knapp 90 Prozent der sich engagierenden Unternehmen agieren auf lokaler Ebene. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren wie Vereinen und Freiwilligenorganisationen fin-

Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

• 319

det zu fast 60 Prozent lokal statt. 37 Prozent der Unternehmen kooperieren mit lokalen Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- oder Kultureinrichtungen. Deutlich seltener wird mit anderen Akteuren wie Arbeitgeber- und Unternehmensverbänden (19 Prozent), Kirchen und religiösen Einrichtungen (16 Prozent), Wohlfahrtsverbänden (15 Prozent), der öffentlichen Verwaltung (14 Prozent), Stiftungen (12 Prozent) sowie mit anderen Unternehmen (11,1 Prozent) zusammengearbeitet.

2. Fazit und Perspektiven Auf Grundlage dieser ersten Befunde und der vorangestellten theoretischen Ableitungen lässt sich eine gesellschaftliche Mitverantwortung von Unternehmen im Sinne eines „moralseeking" begründen und zeigen. Ausgangpunkt der Analyse war die Beobachtung, dass die Kategorie Mitverantwortung im und für den öffentlichen Raum an Relevanz gewonnen hat. Der Auftrag der Bundesregierung für einen Engagementbericht, analog zum Armuts- und Reichtumsbericht, zum Familienbericht etc. veranschaulicht exemplarisch das gestiegene Interesse am bürgerschaftlichen Engagement, an Corporate Social Responsibilty und Corporate Citizenship. 58 Ziel dieses Beitrags ist es, diese bislang vornehmlich aus soziologischer Perspektive betrachteten Aktivitäten jenseits von Markt und Staat aus wirtschaftstheoretischer Perspektive zu analysieren. Dabei wurden die entsprechenden Annahmen (u.a. Menschenbild) und Ansätze (u.a. Marktversagensgründe, Güterkategorien) aus der Institutionenökonomik als Raster für die Analyse gewählt. Wirtschaftsethische Positionierungen sind dabei einbezogen geworden, ohne jedoch im Einzelnen auf unterschiedliche Theoriestränge einzugehen oder die internationale Corporate-Citizenship-Debatte nachzuzeichnen. Nachdem nachgezeichnet wurde, warum Mitverantwortung angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen u.a. zur Bildung von Vertrauen und zur Stärkung des Sozialkapitals wichtiger geworden ist, wurden ausgewählte Gründe zur Entwicklung von Vertrauen, Werten und Mitverantwortung skizziert, um jenseits von marktlicher Steuerung oder spontaner Ordnung deren Entstehung begründen zu können. Die Einordnung in die Theorie der öffentlichen Güter ermöglicht eine systematische Analyse von denkbaren Dilemmasituationen (Trittbrettfahrerverhalten), von externen Effekten und der Diskussion von möglichen staatlichen Interventionen. Dabei wurde deutlich, dass Mitverantwortung sich keineswegs nur auf öffentliche Güter beziehen muss, sondern vielfach auch bei privaten Gütern (meritorische Güter) und Club- oder Allmendegütem zu beobachten ist. Aber besonders relevant sind Angebote mit positiven externen Effekten, denn dort droht aufgrund der Dilemmasituation eher eine Unterversorgung, weil Dritte (u.U. Wettbewerber) ohne eigenen Beitrag profitieren können. Das Engagement der Unternehmen für die Gesellschaft steht in diesem Beitrag exemplarisch für eine bedeutsame Gruppe, die Mitverantwortung im öffentlichen Raum übernehmen kann und - unserer Ansicht nach - muss. Mit der Unterscheidung zwischen eigentümer- und managergeführten Unternehmen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass je nach Unternehmenstyp andere Entscheidungslogiken gelten (u.a. PrinzipalAgenten-Problem). Ein durch bürgerschaftliches Engagement nach außen hin dokumen58

Vgl. Engagementbericht

(2012).

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Dominik H. Enste und Michael Hüther

tiertes mitverantwortliches Handeln kann die unternehmensintern wirkende Unternehmenskultur stärken und so Prinzipal-Agenten-Probleme vermeiden helfen. Denn Unternehmen sind gefordert, konsistent ein internes und externes Reputationsmanagement zu betreiben und sind nicht zuletzt deshalb bürgerschaftlich aktiv. Die bewusste Entwicklung der Unternehmenskultur ist zentral für das Management von moralischen Risiken, die sich aus Verhalten und Einstellungen der Manager und Mitarbeiter ergeben können. Nur so entsteht jenes Vertrauen, das die Verantwortungsübernahme befördert und die Reputation der Unternehmen nach innen und außen stärkt. Schließlich lieferte die Analyse theoretische Gründe und empirische Befunde dafür, dass Unternehmen Problemlösungsagenten mit dem Ziel gesellschaftlicher Wertschöpfung sind, sie deshalb gesellschaftlich engagiert sein sollten und dies auch sind. Dafür erweist sich Mitverantwortung als Erfahrungsgut, das durch Evolution, tätige Kooperation sowie individuelle Grenzsituationen begründet werden kann. Allein die Existenz bürgerschaftlichen Engagements der Unternehmen unter den Bedingungen der Freiwilligkeit und der Ausbeutungspotentiale spricht für die Notwendigkeit, aber auch für die grundsätzliche Bereitschaft, Mitverantwortung zu übernehmen. Unternehmen tragen eine Ordnungsmitverantwortung. Damit erweitert sich ihre Perspektive von den Spielzügen im Markt auf die Mitwirkung bei der Entwicklung der Spielregeln für den Markt und die Deutung des Spielverständnisses. Damit wird über die einzelwirtschaftliche Logik hinausgegangen, was Trittbrettfahrerverhalten ermöglicht und damit soziale Dilemmata konstruiert. Der Verlässlichkeit und der Fairness der Rechtsordnung und der Institutionen generell kommt dabei große Bedeutung zu. Unter entsprechenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen engagieren sich die Unternehmen eben trotz Ausbeutungsmöglichkeiten in erheblichem Umfang für die Gesellschaft.

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Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

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Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum

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Summary: Corporate Citizenship and Civic Engagement of Companies in the Public Sphere The article analyzes the civic engagement of companies from an economic and institutional perspective. Theoretical findings are supported by the main results of acomprehensive and representative questionnaire of companies. The authors show, why and how companies voluntarily act socially responsible although potential disadvantages within a competitive setting might arise (free rider problem). Why companies should be engaged in corporate citizenship, is theoretically explained by and derived from the evolution of values, the experience of risky situations and the repeated experience of cooperation. Furthermore, the type of company (run by owners or managers)and the company's culture considerably influence corporate citizenship. The existing types of civic engagement are depicted by their categorization based on the theory of public goods. In addition, for the first time civic engagement has been added systematically to institutional economic analysis. Empirical research shows that in 2011 companies spent more than 11 billion euros on civic engagement. They take responsibility although other players might benefit from this without doing anything themselves (positive externalities). The theoretical and empirical results illustrate that companies exist merely to solve problems with the aim of social value creation, that they should contribute to corporate citizenship and that they actually act responsible to a large extent.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneiderx

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive Inhalt I. Problemstellung: Ein Recht sucht seinen Inhalt II. Recht auf Wasser als soziales Grundrecht

326 329

III. Dimensionen eines Rechts auf Wasser

332

IV. Die Bedeutung der Dimension „Zugang"

337

1. Eine kontrakttheoretische Perspektive des Zugangs

337

2. Zugang als gelingender „Vertrag" und das Problem der Refinanzierung

339

3. Zugang und die Nutzungsinteressen Dritter

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V. Rolle der Zugangshürde „Preis"

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1. Recht auf „entgeltfreies" Wasser?

347

2. Recht auf bezahlbares Wasser

350

3. Der Kerngehalt eines Rechts auf Wasser in Deutschland

351

VI. Recht auf Wasser und Privatisierung der Versorgung - ein Spannungsfeld?.... 354 VII. Schlussbemerkungen

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The right to water - an institutional economics perspective

362

„1 think many of us start with leftist ideals and then only support the most obvious ways to promote them, in effect to declare poverty illegal, to declare slums illegal, imagining that once you declare them illegal they will disappear." William Baumof

Prof. Dr. Erik Gawel ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Institutionenökonomische Umweltforschung der Universität Leipzig, stellvertretender Leiter des Departments Ökonomie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ, Leipzig, und Direktor des Instituts für Infrastruktur und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig. Dipl.-Volksw. Wolfgang Bretschneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Infrastruktur und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig und Gastwissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ, Leipzig. Die Autoren danken einem anonymen Gutachter für wertvolle Hinweise. William Baumol, in: Guarino et al. (2003).

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

I. Problemstellung: Ein Recht sucht seinen Inhalt Um die Trinkwasserversorgung einer weiter wachsenden Weltbevölkerung künftig sicherzustellen, wird in der globalen Öffentlichkeit zunehmend ein „Recht auf Wasser" postuliert. Eine der jüngsten Initiativen ist das „Movement Article 31". Diese Bewegung fordert, den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einen 31. Artikel hinzuzufügen, in dem es heißen möge: „Everyone has the right to clean and accessible water, adequate for the health and well-being of the individual and family, and no-one should be deprived of such access or quality of water due to individual economic circumstance."3

In der Wissenschaft findet diese Debatte naturgemäß in der juristischen Literatur besondere Beachtung.4 Wirtschaftswissenschaftliche Befassungen sind hingegen Mangelware; in der ökonomischen Zunft werden eher einzelne Bausteine der Wasserversorgung erörtert, die für ein Recht auf Wasser von Bedeutung sind (z.B. Preise und Tarife, Regulierung und Liberalisierung). Nimmt man die Afar-ße/-Ptoa-Deklaration der UN „World Conference on Water Resources" im Jahre 1977 als Ausgangspunkt, dann ist das Recht auf Wasser aber bereits seit über drei Jahrzehnten auf der internationalen rechtspolitischen Agenda präsent. Während zwischenzeitlich auf der Ebene internationaler Deklarationen eine gewisse Etablierung eingetreten ist, lassen konkrete (nationale) Umsetzungsperspektiven auf sich warten. Weithin unklar ist nämlich weiterhin, welche besondere Verfügungsrechteposition wem genau in Bezug auf Wasser eingeräumt wird. Es fehlt mithin an der nötigen Mindestkonturierung und damit zugleich an der Chance auf eine konkrete Rechtsdurchsetzung. Eine institutionenökonomische Analyse kann dazu beitragen, die normative Reichweite einer solchen Rechtsposition ebenso aufzuklären wie deren Stellung im Konzert zum Teil widerstreitender Anliegen einer ökologisch-nachhaltigen Wasserwirtschaftskonzeption, wie sie etwa der deutsche Gesetzgeber in § 1 des Wasserhaushaltsgesetzes formuliert.5 Ausgangspunkt der Bemühungen um ein Recht auf Wasser ist zumeist die Feststellung, dass Wasser und Wasserdienste Güter mit besonderer Charakteristik darstellen, die den üblichen Verfahren der Güterbereitstellung daher zu entziehen seien. So formuliert die EG-Wasserrahmenlichtlinie bereits im ersten Erwägungsgrund: „Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss", nicht ohne bemerkenswerterweise im weiteren Verlauf in bisher nicht gekanntem Ausmaß auf eine ökonomische Bewirtschaftungsperspektive zu setzen, um die Ziele des Gewässerschutzes zu erreichen (wirtschaftliche Analyse, Kostendeckungsgrundsatz, Einbeziehung von Umwelt- und Ressourcenkosten). Zweifellos ist Wasser „existenziell"6, der Schutz der Wasserressourcen „lebensnotwendig"7 und daher eine der wichtigsten Gemeinwohlaufgaben. Allerdings stellt sich

3 4

5

6 7

Quelle: http://article31.org. Vgl. Laskowski (2010 und 2011); Engbruch (2008, S. 188 ff.); Rudolf (2007a und 2007b); Riedel und Rothen (2006). Danach sind die Gewässer „durch eine nachhaltige Gewässerbewirtschaftung" „als Bestandteil des Naturhaushalts, als Lebensgrundlage des Menschen, als Lebensraum für Tiere und Pflanzen sowie als nutzbares Gut zu schützen". Laskowski (2011, S. 2). BVerfGE 58, 300, 344; 10, 89, 113.

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

327

die Frage, worin diese Besonderheiten für einzelne der durchaus vielfaltigen Wasserindienstnahmen konkret bestehen und inwieweit dadurch jeweils bestimmte Ausnahmen im Güterverfugungsregime (welche?) zu rechtfertigen sind. Ein Menschenrecht auf Wasser jedenfalls postuliert für bestimmte Nutzungen eine Prärogative, die mit der ritualisierten Anrufung des „Existenziellen" von „Wasser" jedenfalls noch unzureichend legitimiert erscheint. Insbesondere die Nicht-Substituierbarkeit für viele essenzielle Wassernutzungen wird angeführt, um darzulegen, dass sich eine gesellschaftliche Handhabung als „gewöhnliche Ware" verbiete. Relevant sind aber noch zwei weitere Eigenschaften: Erstens ist Wasser multifunktional; es wird mithin nicht nur für Trinkwasser-Zwecke eingesetzt, die unter ein Recht auf Wasser fallen könnten. Es gibt vielmehr eine unübersehbare Bandbreite von Einsatzmöglichkeiten (von landwirtschaftlicher bis industrieller Nutzung, von Rohstoff- bis Assimilationsdiensten), und in bei weitem nicht jeder Verwendung ist Wasser unersetzlich. Zweitens changiert Wasser in seiner gesellschaftlichen Verwendung zwischen der Erscheinungsform als Gewässer und als infrastrukturgebundene Netzdienstleistung. Im ersten Fall zeigt es die Besonderheiten öffentlicher Güter, im zweiten Fall ist es - im ökonomischen Sinne - zunächst ein privates Gut, 8 das unter Ressourcenzehrung hergestellt werden muss (Trinkwasserbereitstellung). Insbesondere Wasserdienste im Bereich der leitungsgebundenen Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung sind mithin knappe private (Netzwerk-)Güter. Ihre Bereitstellung benötigt volkswirtschaftliche Ressourcen, die auch an anderer Stelle gesellschaftliche Werte schaffen könnten und uns deshalb etwas „kosten". Wasserdienstleistungen berühren zudem in vielfaltiger Weise ökologische Fragen des Wasserhaushaltes. Probleme der Wasserbereitstellung können daher nicht ausschließlich unter sozialen Versorgungsgesichtspunkten betrachtet werden. Ökologisch verträgliche und zugleich verschwendungsfreie (effiziente) Ressourcennutzung sowie eine auskömmliche Finanzierung der Dienstleister sind ebenfalls wichtige Anliegen einer „ökologisch-nachhaltigen Wasserwirtschaft", wie der deutsche Gesetzgeber in § 1 WHG nunmehr das normative Leitbild formuliert. In dieser Sichtweise auf ein Recht auf Wasser rücken die resultierenden Zielkonflikte und Alternativkosten der Wasserversorgung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Eine solche Perspektive kann dazu beitragen, den genauen Gehalt und damit auch die Reichweite eines Rechts auf Wasser zu spezifizieren: Auf welche Verfügungsmöglichkeiten über Wasserressourcen ist die Rechtsposition exakt gerichtet und zu welchen Konditionen soll diese Verfügung den Rechteinhabern jeweils eingeräumt werden? Und: Was „kostet" eine so konditionierte Rechteeinräumung an Zielverletzungen bei anderen legitimen Zielen der Wasserwirtschaft? Üblicherweise werden in diesem Zusammenhang vier Ober-Ziele der Wasser(preis)politik unterschieden (vgl. Abb. I): 9 Die Forderungen nach einem Recht auf Wasser können den sozialen Anliegen zugeordnet werden (rechts

9

Bei Wasserdienstleistungen ist eine Preisexklusion möglich und wirtschaftlich durchführbar, und es besteht Rivalität um eine Gutseinheit im Konsum (ein Liter Wasser kann i. d. R. nicht mehrfach für verschiedene Personen oder Zwecke genutzt werden, Kaskadennutzung einmal außer Betracht gelassen). Vgl. OECD (20\0, S. 17 ff.).

328

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

unten in der Abbildung). Strukturell konkurrierende Ziele sind dagegen die Nutzungseffizienz, die ökologische Nachhaltigkeit und die Refinanzierung,10 Vor dem Hintergrund eines derart pluralen Versorgungs-Zielfächers kann eine ökonomische Analyse zu den normativen Fragen (Reichweite, zumutbare Hürden) beitragen, ohne diese abschließend klären zu können - indem nämlich der Raum vermessen wird, in dem sich die übrigen, konkurrierenden Anliegen bewegen und indem Verbindungslinien zwischen den einzelnen Zielen aufgezeigt werden. Der nachfolgende Beitrag möchte hierzu eine systematische Grundlage entwickeln, welche die Spezifikation eines Rechts auf Wasser sowie die Abschätzung der diesbezüglichen normativen Reichweite erleichtern soll. Abbildung 1: Vier Ziele der Wasserpolitik und zugehörige Stakeholder

Die weiteren Überlegungen sind in sieben Abschnitte gegliedert: Zunächst wird im Abschnitt II die juristische Diskussion um Gehalt und Reichweite sog. sozialer Grundrechte aufgegriffen, zu denen auch das Recht auf Wasser gehört. Bei sozialen Grundrechten der Versorgung stellen sich typischerweise die hier relevanten Spezifikationsund Reichweitenprobleme. In Abschnitt III werden die Forderungen nach einem Recht auf Wasser auf der Ebene internationaler Erklärungen auf ihren Spezifikationsgehalt hin ausgewertet und drei elementare Dimensionen hergeleitet; dabei steht der „Zugang" zu Wasser im Mittelpunkt. Im Abschnitt IV wird dieser Begriff näher analysiert mit dem Ziel einer Konkretisierung der Verfügungsrechteposition, die bislang kaum gelungen ist. Vor diesem Hintergrund werden in Abschnitt V die Probleme von Zugangshürden durch Preise analysiert (Interpretation des Rechts auf Wasser als Anspruch auf „kostenloses" Trinkwasser - V.l, Konsequenzen einer engeren „Erschwinglichkeits"10

Folgende englische Begriffe werden in OECD (2010, S 17 ff.) verwandt: Social concerns (soziale Anliegen), economic efficiency (Nutzungseffizienz/ ecological sustainability (ökologische Nachhaltigkeit),financial sustainability (Refinanzierung).

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

329

Interpretation - V.2 - und Implikationen für die deutsche Wasserwirtschaft - V.3). Im Abschnitt VI wird die hiermit verschränkte Diskussion um eine „Kommerzialisierung" und Privatisierung der Wasserversorgung betrachtet, bevor mit Abschnitt VII einige Folgerungen zusammengetragen werden.

II. Recht auf Wasser als soziales Grundrecht Die Debatte um ein Menschenrecht auf Wasser ist als völkerrechtspolitischer Prozess auf internationaler Ebene recht weit gediehen; nach verbreiteter Einschätzung steht nunmehr verstärkt die Umsetzung und Konkretisierung auf nationalstaatlicher Ebene an." Teile der Debatte lassen vermuten, dass es in erster Linie darum ginge, dieses Recht zu „vergrundrechtlichen" oder aber eine andere Möglichkeit der Justiziabilisierung auf Verfassungsebene zu finden.12 Als Brücke etwa in den deutschen Grundrechtskatalog wird dabei - neben der allgemeinen Verpflichtung zur Völkerrechtsfreundlichkeit (Art. 25 GG) - das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit angesehen (Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).13 Vor diesem Hintergrund ist genauer zu betrachten, was ein Recht auf Wasser als Grundrecht bedeuten könnte. Dies fuhrt zurück zur Debatte um sog. soziale Grundrechte der Versorgung. Mit dem Begriff der sozialen Grundrechte wird eine Abgrenzung von den klassischen Freiheitsgrundrechten vorgenommen, die als liberale Abwehrrechte gegen staatliches Handeln ausgestaltet sind.14 Hierzu zählen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte auf Religions-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit (Art. 4, 5 und 8 GG). Soziale Grundrechte, die ein versorgendes Tätigwerden des Staates einfordern, kennt das Grundgesetz hingegen nicht.15 Die Rechte etwa auf Gesundheitsversorgung, Bildung oder eine Wohnung betreffen Verfügungsmöglichkeiten über Güter, die ihrem Wesen nach auf einem Markt erworben werden können. Hierzu kann auch ein Recht auf Wasser gerechnet werden. Dabei handelt es sich jeweils nicht um beliebige Güter, sondern - so das stärkste Argument für soziale Grundrechte - um sog. „Lebensgüter".16 Aus ökonomischer Sicht streitet jedoch nicht die existenzielle Relevanz eines Gutes für staatliche Garantiestellungen, sondern erst besondere Eigenschaften in der Güterbereitstellung; so wird etwa das lebenswichtige Gut „Brot" ohne weiteres dem (kommerzialisierten) Markt mit akzeptablem gesellschaftlichem Ergebnis überlassen. Verhindert aber ein „Marktversagen" - etwa im Falle 11

12 13 14

15

16

Dies war jedenfalls auch der Tenor des Fachgesprächs „Zwischen Anerkennung und Umsetzung. Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung" am 22. März 2011 im Deutschen Bundestag. Rudolf (2007b, S. 43); Laskowski (2010, S. 895). Vgl. Laskowski (2010: 895). Aufgrund dieser Trennung erst ergibt sich die Pointe für die These einiger Autoren, dass diese beiden Arten von Grundrechten, also „[sjoziale Grundrechte und Freiheitsrechte [...] nicht scharf voneinander abzugrenzen" sind (Ramm 1981, S. 23). In diesem Sinne auch der Untertitel von Frank et al. (2001): „Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte". Eine Ausnahme bildet Art. 6 Abs. 4 GG. Darin ist der Anspruch der Mutter „auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft" und damit ein explizites soziales Grundrecht festgehalten (vgl. Borowski 2007, S. 344 und Lübbe- Wolff 2005, S. 1). Böckenförde (1981, S: 10).

330

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

sog. öffentlicher Güter - , dass die Güterversorgung auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Angebotes gesamtwirtschaftlich leistungsfähig („optimal") geleistet werden kann, so empfehlen sich staatliche Eingriffe, soweit diese nicht womöglich noch schlechtere Ergebnisse zeitigen („Staatsversagen"). An derartigen Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Marktdispenses herrscht wahrlich kein Mangel, wie insbesondere die finanzwissenschaftliche Literatur zum Marktversagen belegt.17 Mit Blick auf die netzgestützte Wasserversorgung etwa gilt, dass die Produktionsbedingungen dieses Gutes zu einem sog. natürlichen Monopol führen. Dies liegt in der besonderen Kostenstruktur der Wasserversorgungsnetze begründet (hoher Fixkostenanteil, fallende Durchschnittskosten). Damit kommen der Gesellschaft die Vorteile eines wettbewerblich strukturierten Angebots abhanden; Regulierung hat an ihre Stelle zu treten. Es erscheint daher lohnend, genau zu begründen, worin die Marktverfehlung jeweils besteht und inwieweit staatliche Ersatzhandlungen tatsächlich zu besseren gesellschaftlichen Ergebnissen führen können. Die im Schrifttum verbreitete exklusive und apriorische Gleichsetzung öffentlicher Trägerschaft mit Gemeinwohlausrichtung18 leistet dies jedenfalls nicht (dazu unten 6.). Die rechtswissenschaftliche Diskussion um soziale Grundrechte thematisiert insbesondere, ob diese als genuine, subjektive Grundrechte bestehen sollten oder aber als bloßes Staatsziel bzw. Verfassungsauftrag. Im letzteren Fall wirkte die Verfassungsnorm als objektives Recht gegenüber dem Gesetzgeber. Das Anliegen der sozialen Grundrechte würde dann der Politik und damit dem (einfachen) Gesetzesrecht überantwortet werden. Soweit der Staat zur Erfüllung dieser Ansprüche unter Rückgriff auf tradierte staatliche Handlungsformen zunehmend überfordert erscheint, katalysieren soziale Grundrechtsansprüche zudem die Transformation zum „Gewährleistungsstaat".19 Zwischen diesen beiden idealtypischen Interpretationen hinsichtlich der Rechtsnatur sozialer Grundrechte eröffnet sich ein weites Spektrum an Interpretationen.20 Dabei spricht sich im Schrifttum nur eine Minderheit für das Verständnis als subjektives Recht aus.21 Herrschende Meinung dürfte ein Verständnis als objektives Recht • 22 sein. Aus der Diskussion um soziale Grundrechte lassen sich wichtige Aspekte für die Konturierung der Verfügungsrechteposition von Grundrechtsträgern ableiten, die auch für ein Recht auf Wasser bedeutsam sind:

17 18 19

20

21 22

Vgl. hierzu statt vieler Brümmerhof (2007, S. 56 ff.) und Gawel (2009, S: 707ff.). So etwa Laskowski (2011, S. 13). Zu dieser sich stürmisch entwickelnden Debatte im Anschluss an Eifert (1998) insbesondere Hoffmcmn-Riem (2000); Knauff (2003 und 2009); Schuppert (2005); Franzius (2006 und 2010); Cornils (2006); Wieland (2009). In der Diskussion verwendete dogmatische Einordnungen sind u. a. Programmsätze, Staatszielbestimmungen, Einrichtungsgarantien, Richtlinien, Ermessensrichtlinien, Gesetzgebungsaufträge, Verfassungsaufträge, Leitprinzipien (vgl. Borowski 2007, S. 347; Schneider 2004, S: 728 f. oder die ausfuhrliche Diskussion bei Lücke 1982, S. 26 ff.). Dabei spricht Schneider davon, dass hinsichtlich der Frage der Rechtsnatur sozialer Grundrechte „heillose Verwirrung" herrsche (vgl. Schneider 2004, S. 728). Etwa Arango (2001). Vgl. Lücke (1982, S. 18).

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

331

(1) Das Gut, das jemandem zugesprochen werden soll, muss zuallererst nach Art und Umfang spezifiziert werden. Der bloßen Feststellung, dass es ein soziales Grundrecht auf eine Wohnung oder Wasser gebe, ermangelt es stets noch an Konkretion. Dies verunmöglicht systematisch die Justiziabilität. Der negative Charakter der klassischen Abwehrrechte bietet diesbezüglich mehr Klarheit,23 wobei freilich auch hier gewisse Konkretisierungen notwendig werden. 24 (2) Die mit den sozialen Grundrechten verbundenen (marktfähigen) Güter müssen produziert und finanziert werden. Es besteht eine unmittelbare Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates, also von der Lage der Volkswirtschaft und der öffentlichen Haushalte. Daher stehen die Rechte unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit. Auf diese Weise büßen soziale Grundrechte erheblich an Bindungskraft ein,25 soweit die Normreichweite stets mit den wirtschaftlichen „Möglichkeiten" variiere.26 Schließlich stellt sich mit einer öffentlichen Finanzlast die Frage, ob soziale Grundrechte allen Bürgern oder nur den Minderbemittelten zugutekommen sollten.27 Mit Blick auf die begrenzten öffentlichen Ressourcen wird zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass auch liberale Abwehrrechte finanzwirksam sein können 28 ; hier besteht jedoch ein qualitativer Unterschied: Soziale Grundrechte sind in ihrem Wesen finanzabhängig, liberale Abwehrrechte hingegen nur ggf. hinsichtlich der konkreten Umsetzungsbedingungen. Novak (1972, S: 24) formuliert in diesem Zusammenhang treffend, dass liberale Abwehrrechte „relativ absolut" seien, soziale Grundrechte hingegen „absolut relativ". (3) Ein dritter Bereich betrifft die institutionelle Frage, ob die Forderungsdurchsetzung bei der Judikative richtig platziert sei: Dies betrifft zum einen die „richterliche Durchsetzungsmacht" (vgl. Lübbe-Wolff 2005, S. 8 ff.): Bei liberalen Abwehrrechten trifft das BVerfG in der Regel kassatorische Entscheidungen. Bei sozialen Grundrechten wären dagegen positive Gestaltungsaufforderungen an andere Staatsorgane zu richten. Darin liegt ein viel größeres Missachtungspotenzial. Und es betrifft zum anderen die „richterliche Kompetenz" (ebenda, S. 5 f.): In einem gewaltengeteilten Staat werden Gerichte nur auf einen Antrag hin tätig, der Zugriff erfolgt also punktuell. Die Einschaltung von Institutionen, die soziale Grundrechtsansprüche durchsetzen sollen, fuhrt tendenziell zu einer Aufhebung des Prinzips der Gewaltenteilung. 29 Hier wird die Sorge um eine Erosion der demokratischen Selbstverständigung in rechtspolitischen Fragen manifest. 30

23 24 25 26

27 28 29 30

Vgl. Lange (1981, S. 51). Vgl. Müller (1981, S. 63, Fn. 11). Vgl. Borowski (2007, S. 364). Vgl. Isensee (1980, S. 381 f.). Dieser Topos erfahrt in der kritischen Betrachtung der Marktbedingungen des postmodemen „Gewährleistungsstaates" neuerdings wieder verstärkt Beachtung; dazu insbesondere Cornils (2006); Knauff(2009). Vgl. Böckenförde 1981, S. 11). Vgl. Borowski (2007, S. 365). Vgl. Stern (1994, S. 1487 m. w. Nachw.). Vgl. dazu auch Böckenförde (1981: 11), Müller (1981, S. 65); und mit Blick auf die Spezifizierung des sozialen Minimums Heinig (2008, S. 334).

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

(4) Ein weiterer Vorbehalt gegen in der Verfassung kodifizierte soziale Grundrechte ist die Gefahr, falsche Hoffnungen und uneinlösbare Erwartungen zu wecken.31 Dabei geht es um die Effektivität der Verfassung, also darum, das Normierte auch umzusetzen. Mit sozialen Grundrechten im Wesentlichen Uneinlösbares zu versprechen, wird auch als Schwachpunkt der Weimarer Reichsverfassung gesehen.32 Die Diskussion um soziale Grundrechte macht deutlich, dass und warum die nationalstaatlich-verfassungsrechtliche Ebene sich dem Ansinnen einer verstärkten Justiziabilisierung eines Rechts auf Wasser kaum öffnet, ja nachgerade eine Immunreaktion zeigt. Zudem kann man kaum erwarten, dass durch eine bloße grundrechtliche Verankerung und anschließende richterrechtliche Auslegungsbemühungen konkrete Probleme der Wasserversorgung gelöst werden könnten. Die Vergrundrechtlichung in der südafrikanischen Verfassung bietet dafür einen eindrücklichen Beleg.33 Daher ist es für die Debatte um das Recht auf Wasser angezeigt, die Aufmerksamkeit stärker auf die Fragen des einfachen Gesetzesrechts zu lenken.34 Dies ist die Arena, in der notwendige Konkretisierungen gefunden werden, tatsächliche Finanzierungsmöglichkeiten berücksichtigt und die Anliegen des Rechts auf Wasser im Widerstreit der übrigen legitimen Ressourcennutzungsansprüche eingefordert werden müssen. Diese rechtspolitischen Mühen „der Ebene" entraten freilich der angestrebten grundrechtsdogmatischen Nobilitierung einzelner Wassernutzungsansprüche, versprechen dafür aber einen konkretisierten Interessenausgleich unter Nachhaltigkeitsbedingungen der Wasserwirtschaft, der etwa als Regulierungsdiskurs längst in vollem Gange ist.35 In den folgenden Abschnitten wird versucht, für diesen Weg der Spezifizierung einen Orientierungsrahmen zu liefern. Dazu wird in Abschnitt 3 zunächst an den Inhalten internationaler Forderungen eines Rechts auf Wasser angesetzt und davon ausgehend für die notwendige Konkretisierung ein analytischer Rahmen entwickelt (Abschnitt 4).

III. Dimensionen eines Rechts auf Wasser Wie lässt sich der mögliche Gehalt eines Rechts auf Wasser substantiieren? Hierzu bieten sich zunächst drei besonders prominente Quellen an: Als wichtiger Ausgangspunkt der globalen Diskussion gilt die UN-Wasserkonferenz im argentinischen Mar del

31 32 33

34

35

Vgl. zu diesem Argument etwa Borowski (2007, S. 359) und Müller (1981, S. 64). Vgl. statt vieler Brohm (1994, S. 214 f.). Südafrika hat tatsächlich ein in der Verfassung von 1996 kodifiziertes Grundrecht auf Wasser. Dort heißt es in Art. 27 Abs. 1: „Everyone has the right to have access to [...] sufficient food and water." Hier kann man beobachten, dass die Frage nach der Umsetzung der Grundrechtsnorm im Mittelpunkt steht (vgl. zu Herausforderungen der Umsetzung Gowlland-Gualtieri 2007). Damit ist das Problem faktisch auf einfachgesetzlicher Ebene angekommen. - Langford diagnostiziert nach Analyse der Versorgungssituationen in Ländern mit grundrechtlichem Anspruch: „Obviously, the inclusion of access to water in a Constitution does not inevitably lead to its fulfillment." (Langford 2006, S. 118) In diesem Sinne für soziale Grundrechte im Allgemeinen Tomandl (1967, S. 46) und Brunner (1971, S. 37). Für höhere Rechtsebenen bleibt die - sehr wichtige - Funktion, auf die Gesetzgeber Druck auszuüben - inklusive des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes bei Pflichtverletzung durch ein Staatsorgan. Die Normschärfe ist dabei stets abzugleichen mit dem Risiko, eine strukturell normwidrige Realität hinnehmen zu müssen und das Recht damit ggf. zu schwächen.

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

333

Plata 1977 („World Conference on Water Resources"). Im Abschlussdokument heißt es: „All peoples [...] have the right to access to drinking water in quantities and a quality equal to their basic needs."

In den folgenden Jahren galt diese Erklärung als „stille Konvention" eines Rechts auf Wasser.36 Es wurde auch explizit das Ziel formuliert, bis zum Jahre 2000 den Zugang zu Wasser für alle Menschen zu garantieren. Beachtliche Investitionsprogramme wurden aufgelegt, um dies zu erreichen.37 Die Frucht dieser Anstrengungen war offenbar eher enttäuschend.38 Daher erscheint es im Rückblick beinahe folgerichtig, dass im weiteren Verlauf der Debatte, rund 15 Jahre später, eine Erklärung prominent wurde, die den „ökonomischen Aspekt" des Wassers berücksichtigt. Im Dublin Statement 1992 heißt es dazu: „Water has an economic value in all its competing uses and should be recognized as an economic good. Within this principle, it is vital to recognize first the basic right of all human beings to have access to clean water and sanitation at an affordable price."

Bahnbrechend an dieser Erklärung war, dass sie erstmals den relativierenden Aspekt der Nutzungskonkurrenz in den Blick nimmt: Auf diese Weise liegt die Herausforderung gerade in der Lösung des Interessenkonflikts verschiedener legitimer Nutzungsansprüche an knappe Ressourcen; dies ist ein vollkommen anderer Blick auf eine nachhaltige Wasserwirtschaft als die (menschenrechtliche) Auszeichnung einzelner Nutzungsformen mit womöglich unbedingter Durchsetzungskraft. Damit wird zugleich das wasserpolitische Ziel der Nutzungseffizienz integriert. Ein letzter Höhepunkt der Diskussion auf globaler Ebene war im Jahre 2002 der sog. General Comment No. 15 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte?9 Er gilt derzeit wohl als die mit der stärksten Autorität ausgestattete Norm für ein Recht auf Wasser, in der es im entscheidenden zweiten Abschnitt heißt: „The human right to water entitles everyone to sufficient, safe, acceptable, physically accessible and affordable water for personal and domestic uses. An adequate amount of safe water is necessary to prevent death from dehydration, to reduce the risk of water-related disease and to provide for consumption, cooking, personal and domestic hygienic requirements."

Der General Comment No. 15 genießt nicht zuletzt wegen seiner verhältnismäßig präzisen Forderungen Anerkennung. Denn insgesamt leiden internationale Konventionen zum Recht auf Wasser erheblich an mangelnder Konkretion. Insofern ist es auch nicht leicht, ihnen aus wissenschaftlicher Perspektive eine abgrenzbare Bedeutung zu entnehmen. Nachfolgend wird der Versuch unternommen, den diversen Erklärungen seit Mar Del Plata 1977 - unter ihnen die drei bereits genannten - ihre jeweiligen Sinnelemente zu extrahieren und diese zu drei „Dimensionen" einer Rechtsposition zu verdichten. Als Grundlage dienen dabei die Auflistungen internationaler Konventionen des Internatio-

36 37

38 39

Vgl. Kluge und Scheele (2008, S. 15). Bei einem Zeitplan, bereits bis 1990 den Zugang aller Menschen zur Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung sicherzustellen, hätten täglich 650.000 Menschen an das System angeschlossen werden müssen (vgl. Laskowski 2010, S. 65). Vgl. ebenda. Zur Entstehungsgeschichte des General Comment No. 15 vgl. Riedel (2006).

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

nal Environmental Law Research Centre40\ zudem die Aufstellungen von Scanion et al. (2004, S. 38 ff.) und Kiefer et al. (2008, S. 41 ff.) 4 1 Die ausgewerteten Dokumente sind in Tabelle 1 aufgeführt. Bei dieser Analyse ergeben sich zunächst acht inhaltliche Aspekte: Qualität (quality), Menge (quantity), Zugang (access), Bezahlbarkeit (affordability), Sanitärversorgung (sanitation), Saubere Gewässer/Umwelt, Nutzungseffizienz und Refinanzierung. Hält man zunächst fest, in welchem Dokument welcher Aspekt zur Sprache kommt, ergibt sich das in Tabelle 2 gezeigte Bild.42 Tabelle 1:

Chronologie internationaler Erklärungen zu einem Recht auf Wasser (Auswahl)

Lfd. J a h r Nr.

Dokument

Abk.

1.

1977

United Nations Water Conference, Mar del Plata, Resolutions

MDP

2.

1990

New Delhi Statement, Global Consultation on Safe Water and Sanitation

NDS

3.

1992

Dublin Statement on Water and Sustainable Development

DSW

4.

1992

Chapter 18 (Freshwater) Agenda 21

A21

5.

1997

World Water Forum - Marrakech Declaration

WWM

6.

1999

Protocol on Water and Health to the 1992 Convention on the Protection and Use of Transboundary Watercourses and International Lakes

PWH

7.

2000

World Water Forum II - Ministerial Declaration on Water Security in the 21st Century

WWII

8.

2001

Bonn International Conference on Freshwater Ministerial Declaration

BCM

9.

2002

Johannesburg World Summit on Sustainable Development Report (including Plan of Implementation)

JDR

10.

2002

General Comment No. 15 of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights

G15

40 41

42

Im Internet abrufbar unter: http://www.ielrc.org/water/doc_int.php. Bei der Auswahl der Konventionen wurden vor allem zwei Kriterien angelegt: Erstens soll das Thema Wasser unter Versorgungsgesichtspunkten prominent betrachtet werden. So wurden Erklärungen weggelassen, die sich auf Wasser als Gewässer beziehen. Zweitens sollten die Erklärungen von internationaler Relevanz sein. Ob ein Aspekt in einzelnen Konventionen angesprochen wird, ist vielfach nicht eindeutig. Für unsere Zwecke wurde geprüft, ob der jeweilige Aspekt eine gewisse (Mindest-)Bedeutung im betreffenden Dokument hat. Ferner wurde der Bezug zum Versorgungsrecht betrachtet: Bei der Refinanzierung reichte es nicht, dass ein Finanzierungsbedarf festgestellt wurde; vielmehr kam es darauf an, dass das Verhältnis zum (Träger des) Recht(s) auf Wasser in den Blick genommen wurde.

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Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

11.

2003

Joint Statement to the III World Water Forum by the Special Rapporteur on adequate housing, the Special Rapporteur on the right to food and the Special Rapporteur on the right to the highest attainable standard of physical and mental health under the Commission on Human Rights

JSt

12.

2003

World Water Forum III - Ministerial Declaration

WWIII

13.

2004

International Law Association Berlin Conference. Water Resources Law (2004), Fourth Report

ILA

14.

2006

World Water Forum IV - Ministerial Declaration

WWIV

15.

2009

World Water Forum V - Istanbul Ministerial Statement

WWV

16.

2010

United Nations General Assembly Resolution on the Right to Water and Sanitation

GAR

Tabelle 2:

Häufigkeiten von Aspekten eines Rechts auf Wasser in internationalen Dokumenten Verfiigungsmodus („wie?")

Dimension Aspekte

Zugang

1

MDP

2

NDS DSW A21 WWM PWH WWII

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

BCM JDR G15 JSt

14 15

WWIII ILA WWIV WWV

16

GAR

Affordability

Gutsleistungen („was?") Menge

Qualität

Sanitärdienste

NDS DSW

MDP A21

MDP

MDP

A21 WWII BCM JDR G15

PWH WWII BCM G15 JSt

NDS DSW A21

NDS DSW A21 WWM PWH WWII

JSt ILA WWIV

ILA

WWM PWH WWII BCM JDR G15 JSt WWIII ILA

WWIII WWIV

WWIV WWV GAR

WWV GAR

GAR

BCM JDR G15 JSt

Interessenausgleich („was noch?") RefiSaubere Nutzungsnankonkurrenz/ Gewässer/ zierung Effizienz Umwelt DSW NDS NDS DSW A21 BCM A21 WWM PWH WWII BCM JDR G15 WWIII ILA WWV

WWM PWH

JDR WWIII WWV

WWII BCM JDR G15 WWIII WWV

Diese acht Aspekte lassen sich weiter drei grundlegenden inhaltlichen „Dimensionen" zuordnen: Die erste Dimension ist der Interessenausgleich, der die rechts in Tabelle 2 stehenden Aspekte „saubere Gewässer", „Nutzungskonkurrenz" und „Refinanzierung" umgreift: Dabei handelt es sich um die in Abschnitt 1 erwähnten, ein Recht auf Wasser strukturell begrenzenden Anliegen der Wasserpolitik. 43 Sie verkörpern ebenfalls

43

Dieser Ansatz findet sich am stärksten im JDR (Johannesburg Summit on Sustainable Development) wieder.

Plan of Implementation

of the WorkI

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

legitime Ansprüche an knappe Wasserressourcen mit grundlegender Bedeutung für die menschliche Existenz in Würde (Landwirtschaft, Energiebereitstellung, Industrieproduktion, Schutz des Wasserhaushalts). Ferner muss beachtet werden, dass die Erfüllung dieser Anliegen langfristig positive Rückkopplungen auf die Trinkwasserverfügbarkeit zeitigen: Nur wo die Refinanzierung von Wasserdienstleistungen dauerhaft gesichert ist, ein intakter Naturhaushalt ein ausreichendes Wasserdargebot vorhält und mit knappen Ressourcen verschwendungsfrei gewirtschaftet wird, kann ein Recht auf Wasser nachhaltig gesichert werden. Beliebige (kurzfristige) Priorisierungen einer Nutzungsform gefährden hingegen die nachhaltige Zielerfüllung. Daher ist etwa im internationalen Maßstab eine auskömmliche Refinanzierung von Wasserdienstleistungen gerade im wohlverstandenen langfristigen Interesse der unterversorgten Armen.44 Ein entsprechender Interessenabgleich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist auch in Art. 9 der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) kodifiziert: Hier werden der Statuierung von Effizienz- und Refinanzierungszielen durch das Vollkostendeckungsprinzip (Abs. 1 UAbs. 1 und 2) zugleich relativierende und öffnende Regelungen beigestellt, die dazu ermächtigen, „den sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Kostendeckung sowie die geographischen und klimatischen Gegebenheiten der betreffenden Region [...] Rechnung [zu] tragen" (Abs. 1 UAbs. 3), bzw. es erlauben, bestimmte Wassernutzungen von der Kostendeckung bei alternativ gesicherter Zielerreichung auszunehmen (Abs. 4). Es erscheint daher essenziell, auch und gerade diese scheinbar konkurrierenden Anliegen und ihre langfristigen Rückkopplungseffekte auf die Trinkwasserversorgung im Blick zu behalten, wenn ein Recht auf Wasser konkretisiert werden soll. In einer zweiten Dimension wird das „Was" des dem Individuum zugesprochenen Anspruchs bestimmt (Gutsleistungen). Hierunter fallen mit Blick auf die Trinkwasserversorgung die Aspekte Qualität und Menge. Zentral erscheint hier der Qualitätsaspekt, wie auch aus der Häufigkeit der Nennungen deutlich wird, denn ist eine bestimmte Qualität nicht gegeben, so handelt es sich schon begrifflich nicht mehr um Trinkwasser. Ein weiterer Aspekt hier ist die komplementäre Sanitärversorgung, welche für die weitere Betrachtung jedoch ausgeklammert wird. In einer dritten Dimension schließlich wird das „Wie" des Anspruchs thematisiert (Verßgungsmodus). So jedenfalls lässt sich wohl der am häufigsten genutzte Begriff des „Zugangs" (access) einordnen. Versteht man diesen genauer als Zugangsbedingungen, so wird sichtbar, dass es dazu nur selten nähere Bestimmungen gibt. Besonders hier sind Spezifizierungen dringlich. Angedeutet ist eine Interpretation von „Zugang" bereits im General Comment No. 15, der die Teilkategorien physical accessability, economic accessability, non-discrimination und information accessability unterscheidet. Die economic accessability ist in vielen Dokumenten separat als affordability (Erschwinglichkeit, Bezahlbarkeit) angesprochen, ist aber der Sache nach ganz richtig ein Teilaspekt des „Zugangs", genauer: der Zugangsbedingungen. Die Dimension des (Güter-)Zugangs ist aus ökonomischer Sicht von zentraler Bedeutung und wird daher im folgenden Abschnitt 4 in den Mittelpunkt gerückt. Mit seiner Hilfe lässt sich ein Orientierungsrahmen entwerfen, der eine Konkretisierung der 44

Vgl. OECD (2010).

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

337

Rechtsposition im Lichte der konkurrierenden Ziele ermöglicht. Darin werden sich auch die Aspekte des „Was" wiederfinden.

IV. Die Bedeutung der Dimension „Zugang" 1. Eine kontrakttheoretische Perspektive des Zugangs Nachfolgend wird versucht, die zuvor aus den Deklarationen extrahierten Aspekte analytisch zu verorten. Hierbei kommt dem Zugangsbegriff eine Schlüsselrolle zu. Während bei den Aspekten der Qualität, der Menge oder der Sanitärversorgung das Gut oder die Leistung definiert wird, auf die der Haushalt einen Rechtsanspruch besitzen soll, so definiert der Begriff des Zugangs die Bedingungen, zu denen der Haushalt diese Leistung erhalten soll (also ein „Wie"). Zunächst könnte man sich die zentrale Forderung nach „Zugang" als eindimensionales Problem vorstellen (Abb. 2). Dabei werden zwei idealtypische Extremfalle einer Interpretation von Zugang unterschieden: Zugang kann im ersten Extremfall bedeuten, dass Trinkwasserressourcen lediglich global verfügbar (available) sein sollen (links in Abb. 2).45 Dies ist eine Forderung, die keinerlei konkrete Anforderungen an eine Trinkwasserinfrastruktur stellt. Es ist lediglich ein kategorialer Zugang gegeben. Zugang kann im anderen Extremfall jedoch auch bedeuten, dass es unbegrenzt hochwertiges Trinkwasser entgeltlos und durchgehend frei Haus gibt (rechts in Abb. 2): Hier steht eine umfassende, hochwertige und z.B. vollständig steuerfinanzierte Trinkwasserinfrastruktur bis zum jeweiligen Gebrauchsort zur Verfügung. Eine konkretisierte Zugangsforderung mag nun auf einem bestimmten Punkt in diesem kontinuierlichen Spektrum liegen. Je weiter rechts (links) sie liegt, umso größer (kleiner) ist der normative Forderungsanspruch. Mit Abbildung 2 wird sichtbar, dass es beim Problem des Zugangs tatsächlich um ein Problem von „Hürden" geht: Die Hürde, die dem Haushalt zugemutet wird oder zugemutet werden soll, kann sehr hoch sein (links in der Abbildung); sie kann andererseits aber auch ausgesprochen niedrig sein (rechts). Dazwischen gibt es graduell unterschiedliche Ausmaße dieser Hürde. Aus der Perspektive eines Rechts auf Wasser muss nun bestimmt werden, welche Art und welche Intensität der jeweiligen Hürden dem Träger des Rechts zumutbar sind.

45

Der Begriff der availability wird in der Diskussion um ein Recht auf Wasser vielfach auch als eine konsumfertige Verfügbarkeit verstanden. Dies impliziert bereits eine Wasserinfrastruktur. Hier hingegen wird dieser Begriff - wie er im Englischen eben auch noch verwandt wird - im Sinne des Wasserdargebots genutzt. Dabei ist Wasser lediglich als natürliche Ressource, mithin als nutzbares Dargebot verfügbar.

338

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

Abbildung 2: Zugang als eindimensionales Problem zwischen bloßer Verfügbarkeit und entgeltfreier Vollversorgung

Aus ökonomischer Sicht sind Hürden im Güterzugang jedoch nicht nur „misslich" oder „diskriminierend", sie haben vielmehr eine gesellschaftliche Funktion. Exklusion ist damit ambivalent, jedenfalls auch produktiv. Dies wird deutlicher, wenn man sich das Hürdenproblem anhand von Geldpreisen vergegenwärtigt, der in entwickelten Volkswirtschaften wohl wichtigsten Zugangshürde bei der Ressourcennutzung: Hier sind - und damit wird die eindimensionale Betrachtung verlassen - zwei Funktionen von Interesse, die jeweils in der Wasserpolitik zentrale Probleme aufgreifen, die grundsätzlich von jeder Art der Wasserwirtschaft gleich welcher Ausprägung „gelöst" werden müssen: 1. Insoweit mit Hürden Geldpreise gemeint sind, fuhren sie zur Refinanzierung der Trinkwasserversorgung; es wird mithin ein Finanzierungspreis gezahlt. Die Wasserdienstleistungen zur Befriedigung elementarer Trinkwasserbedürfnisse müssen in jedem Falle „irgendwie" finanziert werden. Dies wird näher in Abschnitt 4.1 betrachtet. 2. Hürden bzw. Preise halten zugleich potenzielle Nutzer zu einem wohldefinierten Teil von der Wassernutzung ab; es wird mithin ein Exklusionspreis gezahlt. Angesichts der Knappheit der natürlichen Ressource Wasser und der zugehörigen Dienste muss eine Wasserwirtschaft ohnehin in „irgendeiner Form" rationieren, da nicht alle Ansprüche gleichermaßen bedient werden können. Hier kommen die Anliegen der Nutzungseffizienz und der ökologischen Nachhaltigkeit zur Geltung. Wer diese Rationierung nicht mit Geldpreisen erledigen möchte, muss darlegen, wie sie stattdessen erfolgen soll; die komparative Leistungsfähigkeit konkurrierender Allokationsverfahren zur Bewältigung von Knappheiten kann dann auf den gesellschaftlichen Prüfstand gestellt werden. Darauf wird in Abschnitt 4.2 einzugehen sein.

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

339

Abbildung 2 macht uns zunächst deutlich, dass die wasserpolitischen Ziele „Effizienz", „ökologische Nachhaltigkeit" und „Refinanzierung" umso stärker in Bedrängnis geraten, je geringer die Zugangshürden für die Ermöglichung sozialer Anliegen ausfallen. Wegen der langfristigen Rückkopplungseffekte erodieren dadurch strukturell auch die Grundlagen für eine Nachhaltigkeit der Bedienung sozialer Anliegen.

2. Zugang als gelingender „Vertrag" und das Problem der Refinanzierung In diesem Unterabschnitt kommt das Verhältnis des Trägers des Rechts auf Wasser zum Wasserversorger, mithin zur „Marktgegenseite", in den Blick. Betrachtet man das Problem des Zugangs institutionenökonomisch, so wird Zugang nicht technisch verstanden, sondern als gelingende „Vertragsbeziehung" zwischen dem nutzungsbedürftigen Haushalt und einem Versorger (dies kann ein privater oder ein öffentlicher Versorger oder ein Hybrid sein). 46 Ökonomische Kontrakttheorien verstehen unter „Verträgen" ganz allgemein Vereinbarungssysteme, die ökonomische Austauschbeziehungen regeln; „Verträge" in diesem Sinne sind eher als „Beziehungen" und damit als „Institutionen" anzusprechen. 47 Mit Blick auf unsere Fragestellung besteht demnach ein Problem, wenn diese Verbindung zwischen Nutzer und Versorger nicht bzw. nur zu „unzumutbaren" Konditionen zustande kommt. 48 Bislang war von der „Vertragsebene" der supranationalen Menschenrechte, der nationalen Ebene der Grundrechte und der des einfachen Gesetzesrechts die Rede - allesamt Sozialverträge. Sie werden paradigmatisch zwischen allen Gesellschaftsmitgliedern geschlossen. Mit der Ebene des Individualvertrags wird nunmehr eine vierte Vertragsebene betrachtet: Auch sie ist Quelle von Rechten und Ansprüchen sowie von Pflichten und Versprechen. Hier handelt es sich um „Verträge", die paradigmatisch zwischen zwei Individuen geschlossen werden, die gemeinsame und konfligierende Interessen haben. Allerdings werden diese Individualverträge - darauf kommt es bei der Diskussion um das Recht auf Wasser an - durch die Sozialverträge normiert und restringiert. 49 Ein Vertragspartner (der private Haushalt) ist nämlich zugleich auch Träger des besonderen Rechts auf Wasser. Versteht man den privaten „Vertrag" als Grundlage für eine Transaktion, dann rückt der Austausch von Leistung und Gegenleistung ins Blickfeld: Der Versorger erbringt die Leistung, der Nutzer die Gegenleistung. Hier kommt die oben genannte Unterscheidung der sozialvertraglichen „Was"- und der „Wie"-Forderungen ins Spiel: Die „Was"-Forderungen beziehen sich auf die Leistung durch den Versorger. Hier geht es in erster Linie um eine bestimmte (Mindest-) Qualität des Trinkwassers und um eine bestimmte (Mindest-)Menge. Die

46

47

48

49

Unter „Zugang zu Wasser" wird sehr häufig eine rein technische Fragestellung verstanden, wobei es allein um die benötigte Zeit zu einer Wasserstelle geht;vgl. statt vieler Howard und Barlram (2003). Vgl. statt vieler Richter und Furubotn (2003) und Erlei et al. (2007). Der zivilrechtliche Vertragsbegriff erweist sich demgegenüber naturgemäß als erheblich enger. In diesem Sinne lässt sich auch die Diagnose des World Development Report 2004 verstehen: „There is no question that this relationship is broken for hundreds of millions of poor people" (World Bank 2004, S. 9). Zu der Frage, inwieweit die Norm nicht extern eingeführt werden muss, sondern rational wahltheoretisch aus den Interessen der Vertragsparteien abgeleitet werden kann, Bretschneider (2013).

340

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„Wie"-Forderungen zielen auf die Gegenleistung, auf die Bedingungen, unter denen der Haushalt die Leistung, also „Zugang" zur Ressource, erhält. „Individualverträge" - paradigmatisch auf einem „Markt" geschlossen - haben nun zwei ökonomisch entscheidende Eigenschaften, die beide produktiv sind, jedoch in einem Spannungsverhältnis zum Recht auf Wasser stehen. Die erste Eigenschaft ist, dass die Beteiligten „Nein" sagen und sich gegen den Vertragsschluss entscheiden können. Die potenziellen Vertragsbedingungen wären dann schlicht nicht so, dass man sich auf den Vertrag einlassen will; der Preis oder die Kosten sind zu hoch im Verhältnis zu dem, was man erhält. In diesem Fall kommt der Vertrag nicht zustande, er „gelingt" nicht. Ökonomisch gibt es zunächst einmal keine Vorzugswürdigkeit des gelingenden Vertrages. Es sollen gar nicht alle Bedürfnisse bedient werden. Es kommt vielmehr darauf an, dass nur solche bedient werden, die, gemessen an der Ressourcenknappheit, „groß genug" sind. Dies dürfte grundsätzlich auch bei essenziellen Gütern wie Wasser gelten, denn verschwenderisches Verfugen über knappe Wasserressourcen verhindert andere werthaltige Nutzungen und schränkt die Wohlfahrt ein. Die zweite Eigenschaft ist, dass man nach „Vertragsschluss" an diesen gebunden ist. Den Anspruch aus dem Vertrag erhält man nur, indem man sich zu etwas verpflichtet. Tut man dies nicht, so drohen Sanktionen. Ökonomisch produktiv ist dies, weil Verträge kaum noch zustande kämen, wenn die Vertragsverletzung kostenlos wäre. Ein Vertrag ist dementsprechend - zunächst wertneutral gesprochen - mit „Zumutungen" verbunden. Mit Blick auf die Wasserversorgung gibt es für die Beteiligten also zwei Risiken, wobei das (Menschen-)Recht (sie!) auf Wasser nur auf die Seite des Nutzers blickt:

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Das erste Risiko besteht darin, dass der andere, der Versorger, zu den Bedingungen, auf die man sich selbst einließe, „Nein" sagt und der Vertrag nicht zustande kommt.50 Hier scheitert ein ausreichender „Zugang" zum Wasser mangels Angebot von Wasserdienstleistungen - in globalem Maßstab ein ernstes Problem: So lässt sich erklären, warum es nicht überall auf der Welt staatliche oder kommerzielle Wasserversorger gibt: Die Versorger entscheiden sich schlicht dagegen, an den Orten zu sein, wo sie nicht sind.51



Das zweite Risiko besteht in - nun wertend gesprochen - „unerträglichen" Zumutungen innerhalb eines zustande kommenden oder gekommenen Vertrages. Verzichte an anderer Stelle mögen „zu groß" sein. Und dennoch lebt man mit ihnen, wenn man auf das Gut angewiesen ist. Für langfristige Vertragsbeziehungen - wie sie bei Versorgungsgütern typisch sind - denke man an Preiserhöhungen im laufenden Kontrakt.52

Dieses Risiko ist in monopolistischen Strukturen viel größer, was aber im Bereich der Wasserversorgung eine Rolle spielt. Damit ist noch nichts über die Vorzugswürdigkeit staatlicher oder privater Versorgung impliziert. Wasserversorgung kann vielfach besser über lokale Allmendebewirtschaftung gelöst werden. Zu langfristigen Vertragsbeziehungen und Regulierung vgl. Goldberg (1976).

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341

Die sozialvertragliche Norm des Rechts auf Wasser bestimmt nun aus dieser vertragstheoretischen Perspektive, dass (Interessen-)Konflikte zwischen den beiden Parteien - da es sich um ein „besonderes" Gut handelt - nicht qua Vertragsverweigerung kompensiert werden sollen. Das richtet den Blick auf die Bedingungen und Zumutungen, und wie diese sich zwischen den Parteien verteilen. Zur Veranschaulichung sind die Zusammenhänge in Abbildung 3 dargestellt. Ausgangspunkt ist die Transaktion zwischen Versorger und Nutzer von Leistung und Gegenleistung (Entgelt). Diese einfache Beziehung ist um zwei Aspekte erweitert, die bei der Wasserversorgung eine Rolle spielen: Zum einen werden öffentliche Transfermittel eingesetzt, um die Kosten für eine Versorgungsleistung, die als notwendig angesehen wird, zu decken. So kann politisch u. U. eine ansonsten nicht gelingende (Vertrags*)Verbindung von Versorger und Nutzer ermöglicht werden. Zum anderen - und das spielt bei der Wasserversorgung gerade in Entwicklungsländern eine wichtige Rolle - müssen Haushalte Zeit und Mühe aufwenden, um an eine Wasserquelle zu kommen. Die ökonomische Theorie spricht hier von (komplementärer) Haushaltsproduktion. 53 Insoweit der Haushalt selbst produziert, findet keine Arbeitsteilung und keine Transaktion statt. Daher gibt es in diesem Bereich keinen entgegengesetzten Pfeil. Abbildung 3: Transaktion von Haushalt und Versorger, sowie Kompensation durch Transfers und Haushaltsproduktion

Damit existieren nunmehr drei „Stakeholder"-Gruppen, die bei Interessenkonflikten zwischen Versorger und Nutzer potenziell Zumutungen ausgesetzt sind: der Nutzer als Träger des Rechts auf Wasser, der Wasserversorger und der Transferzahler bzw. die „Steuer-Allgemeinheit". Die Nutzer haben ein Entgelt (pagatorische Kosten) und ggf. Zeit zu investieren (Haushaltsproduktion, nicht-pagatorische Kosten). Dies sind die Zumutungen bzw. Bedingungen, denen der Haushalt ausgesetzt ist. Die Zumutungen bzw. Bedingungen des Versorgers bestehen in den Kosten für die Leistung, die er zu 53

Prominentester Vertreter zur Theorie der Haushaltsproduktion ist Gary S. Becker (1965).

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erbringen hat. Die Transferzahler kommen ins Spiel, soweit die Kosten der Versorger nicht durch Entgelte gedeckt sind. 54 Damit wird sichtbar, dass folgende drei Punkte bei Forderungen eines Rechts auf Wasser normativ definiert sein müssten. Es muss, erstens, die Leistung definiert werden, die der Versorger erbringen soll, das o. g. „Was", mithin die Versorgungstiefe.55 Diese Grenze wird in Entwicklungsländern weiter links, in Industrieländern weiter rechts liegen. Es sind, zweitens, die zumutbaren Bedingungen des Trägers des Rechts auf Wasser für diese Leistung zu definieren, zusammengesetzt aus pagatorischen (Entgelt) und nicht-pagatorischen Kosten (Haushaltsproduktion). Schließlich ist drittens abzugleichen, inwieweit es zur Deckung der Kosten des Versorgers öffentlichen Transferbedarf zu Lasten der Allgemeinheit gibt. Diese drei Punkte hängen unmittelbar - wie kommunizierende Röhren - miteinander zusammen: Eine Ausweitung der Versorgungstiefe (Bewegung der Senkrechte nach rechts) etwa entlastet die Haushaltsproduktion des Nutzers (Verkürzung des rechten Pfeiles), muss dann aber durch ein Entgelt und/oder Transferzahlungen finanziert werden (Verlängerung der Pfeile links von der Senkrechten). Ausgehend von dieser „vertragsorientierten" Betrachtung werden im Folgenden einige technische Details der Versorgung erörtert. Von den drei nötigen normativen Definitionen von Versorgungstiefe, zumutbaren Bedingungen und Transferbedarf werden hier die Zumutungen der Transferzahler außen vor gelassen. Im Mittelpunkt stehen damit die Leistungspflichten des Wasserversorgers (Anbieters) und die „Zumutungen" des Nutzers (Nachfragers) gemäß Abbildung 4.56 Die Pflichten des Versorgers sind aufgeteilt in betriebsbezogene und vertragsbezogene Pflichten. Die „Zumutungen", denen der Nutzer ausgesetzt ist, setzen sich zusammen aus den erwarteten Pflichten und Gegenleistungen innerhalb des Versorgungsvertrags einerseits und den „Zumutungen" durch Haushaltsproduktion andererseits. Ein Recht auf Wasser betont die Pflichten des Versorgers, welche das Recht der Nutzer ausfüllen. Und es zeigt sich andererseits „nachsichtig" bei den Pflichten des Nutzers, welche in das Recht des Versorgers münden. Mit der „Vertragsperspektive" wird aber deutlich, dass eine Balance im Blick zu behalten ist, weil ein Ungleichgewicht stets auf eine Transferkompensation angewiesen ist. Diese braucht stets längere Wege, eröffnet zusätzliche politische Arenen und gereicht dem Anliegen des Rechts auf Wasser nicht unbedingt zum Vorteil. Für eine Konkretisierung geht es darum, solche Pflichten und Zumutungen ausfindig zu machen, die ein Recht auf Wasser einfordert (Pflichten des Versorgers) bzw. erträgt (Zumutungen des Haushalts). Hier wird gewissermaßen ein Möglichkeitenraum für denkbare Zugriffe eines Rechts auf Wasser aufgespannt.

54

55

56

Die Betrachtung der komparativen Leistungsfähigkeit von Nutzer- versus Steuerfinanzierung mit Blick auf die Wasserversorgung muss hier ausgeklammert bleiben - dazu aus finanzwissenschaftlicher Sicht allgemein Gawel (2013). Hier ist auch vom service level die Rede (vgl. Howard und Bartram 2003), der als Begriff auch Eingang in die Lehrliteratur zur öffentlichen Betriebswirtschaftslehre gefunden hat (vgl. Heuermann und Tomenendal 2011, S. 116f.). Die Literatur zur Sozialwirtschaft kennt außerdem den Begriff der Ergebnisziele. Diese sollen eindeutig (spezifisch), messbar, akzeptabel, erreichbar und zeitlich terminiert sein (vgl. Horcher 2008, S. 295). Eine Darstellung mit ähnlicher Idee, aber anderen Inhalten findet sich bei Dubreuil (2006, S. 11).

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

343

Bei Betrachtung der betriebsbezogenen Pflichten des Versorgers kann man zwischen Ergebnis- und Prozesskategorien unterscheiden: Das Recht auf Wasser denkt gleichsam in Ergebniskategorien, die zur Umsetzung in Prozesse übersetzt werden müssen. Ein erster Aspekt ist die räumliche Nähe der Wasserentnahmestelle zum Nutzer. Dies ist der Aspekt, der sehr häufig unter „Zugang" thematisiert wird, gerade mit Blick auf Entwicklungsländer.57 Wenn Hausanschlüsse die Norm sind, dann stellt sich die Frage, inwieweit jeder Haushalt ein Recht darauf haben soll. Dies betrifft Haushalte mit hohen Anschlusskosten, insbesondere entlegene Siedlungen. Gerade bei dieser Frage sind „Zumutungen" gegenüber dem Versorger zu thematisieren. Unstrittig ist die Frage einer standardisierten Qualität („sicher und akzeptabel"). Das Gut Trinkwasser verliert seine Identität, wenn sie nicht gegeben ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die sog. Versorgungssicherheit, also die Verfügbarkeit im Netz (z. B. rund um die Uhr oder zu verlässlichen Bezugszeiten).58 Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang außerdem ein bestimmter Wasserdruck. Für die Umsetzung sind sodann die Prozesse der Wasserversorgung in den Blick zu nehmen. Die technische Wasserwirtschaft kennt hier die Prozessstufen der Wassergewinnung, -aufbereitung, -speicherung, und -Verteilung.59 Die Gewinnung betrifft die Schnittstelle vom Wasser in Gewässern und dem Wasser in der Infrastruktur. Die Aufbereitung ist der auf die Wasserqualität abzielende Prozess. Die Wasserspeicherung ist notwendig, um temporäre Mengendifferenzen von Angebot und Nachfrage auszugleichen. Die weit kostenträchtigste Prozessstufe ist freilich die Verteilung des Trinkwassers. Schließlich spielt mit Blick auf die Praxis auch die Service-Leistung des Versorgungsunternehmens im Schadensfall eine Rolle. Bei den „vertragsbezogenen" Pflichten ist zunächst eine Kontrahierungspflicht mit dem Haushalt denkbar. Auch eine Informationspflicht über die Möglichkeiten der Wasserversorgung spielt in Entwicklungsländern eine nicht unerhebliche Rolle. Mit der Pflicht zur Offenlegung der Kosten ist man bereits in der Diskussion um die Regulierung natürlicher Monopole.60 Aus der Sicht des Rechts auf Wasser sollten die EntgeltZahlungen der Nutzer (höchstens) an der Kostendeckung orientiert sein, um gesellschaftlich unproduktive Zugangshürden (gewinnstrebige Entgelte) zu vermeiden. Auf der Seite des Nutzers wurde bereits die (substituierende) Funktion von pagatorischen und nicht-pagatorischen Kosten (Haushaltsproduktion) genannt. Die letztgenannten - der General Comment No. 15 spricht hier vom „physischen Zugang" - betreffen also Zeit und Mühe der Wasserbesorgung. Nicht unerheblich für einige Regionen ist die

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59 60

Das wird dann mit Bezug auf die Zeitaufwendungen (Haushaltsproduktion) des Nutzers betrachtet. Dieses Zusammenspiel beschreibt im Wesentlichen das recht verbreitete technische Zugangsverständnis (vgl. etwa Howard und Bartram 2003). Im General Comment No. 15 ist dieser Aspekt als physical accessability umschrieben. Kluge und Scheele (2008, S. 17) sprechen hier von Versorgungssicherheit, Rudolf von Regelmäßigkeit der Wasserversorgung (vgl. Rudolf2007b, S. 31). In der englischsprachigen Literatur ist auch von reliability die Rede (vgl. Howard und Bartram 2003: „Executive Summary"). Diese Verfügbarkeit kann wiederum Auswirkungen auf die Wasserqualität haben, wenn diskontinuierlich geliefertes Wasser unter schwierigen Bedingungen zwischengelagert werden muss. Vgl. dazu Holländer et al. (2009, S. 7 ff.) und Gujer (2002, S. 105 ff.). Zur Verbindung von Regulierungstheorie und Recht auf Wasser vgl. Bretschneider (2013).

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

Frage der persönlichen Sicherheit auf dem Weg zum Trinkwasser. Der physische Zugang soll „ohne Gefahr für Leib und Leben gewährt" sein (Rosemann 2003, S. 2). Die Frage der pagatorischen Kosten mündet bei der Recht-auf-Wasser-Diskussion im Wesentlichen in die Frage nach der affordability (Bezahlbarkeit).61 An dieser Stelle kann man technisch zwischen einem Entgelt für den Anschluss und einem Entgelt abhängig von der verbrauchten Wassermenge unterscheiden. Eine weitere „Zumutung" stellen denkbare Sanktionen bei Zahlungsrückständen dar (dazu Abschnitt V.3). Bleibt schließlich die „Pflicht" des Haushalts zur Nutzung des durch den Versorger bereitgestellten Wassers. Der Grund könnte in der langfristigen Vertragsbindung62 oder in Aspekten erforderlicher hydraulischer Mindestbelastungen von Netzsystemen liegen. Aus dem hier entwickelten System an wechselseitigen Pflichten und Zumutungen lässt sich die konkret angestrebte „Versorgungstiefe" eines Rechts auf Wasser spezifizieren. Bei dieser Abwägung sollten noch die Interessen anderer Betroffener berücksichtigt werden (dazu IV.3).

3. Zugang und die Nutzungsinteressen Dritter In der „Vertragsperspektive" des vorangegangenen Abschnitts IV.2 kamen die „Stakeholder"-Gruppen Wasserdienstleister und ,.¿Steuer-Allgemeinheit" sowie die ihnen potenziell aufzuerlegenden Zumutungen zur Sprache. Sie repräsentieren das wasserpolitische Ziel der Refinanzierung. Es verbleiben die weiteren Ziele der Nutzungseffizienz und der ökologischen Nachhaltigkeit mit den betroffenen Gruppen der Nutzungskonkurrenten bzw. der (ökologisch betroffenen) Allgemeinheit. Die Auswirkungen auf diese Gruppen rücken in den Fokus, wenn man den Wasserversorger und die notwendigen Wasserdienstleistungen ausblendet und den Zugriff auf die Wasserressource, das Wasserdargebot, betrachtet. Damit wird der Blick frei für die Konkurrenzbeziehungen der einzelnen Ressourcennutzer und deren ökologische Auswirkungen: Der Träger eines Rechts auf Wasser konkurriert mit anderen gegenwärtigen und künftigen Nutzungsinteressenten und bürdet der Allgemeinheit ökologische Einschränkungen auf.63 Im vorangegangenen Unterabschnitt wurde die Beziehung des Trägers des Rechts auf Wasser zur Marktgegenseite (Versorger) betrachtet. Nunmehr wird sein Verhältnis zur Marktnebenseite und zur Allgemeinheit (ökologische Auswirkungen des Wasserzugriffs) im Lichte der Knappheit betrachtet. Wegen der Ressourcen-Knappheit ist das Anliegen der Nutzungseffizienz von Belang: Es gibt mehr Nutzungsinteresse an der Ressource, als von ihr verfügbar ist: Die Ressource ist ökonomisch knapp. Auf dieses Problem muss unausweichlich mit Rationierung geantwortet werden. Doch wie? Beim Wasser unterscheidet man üblicherweise zwischen den Nutzergruppen Industrieproduktion, Landwirtschaft und private Haushal61 62 63

Vgl. Gawel und Bretschneider (2011). Vgl. das „Right to Serve" in Goldberg (1976). Diese Nutzungskonkurrenzen beziehen sich naturgemäß auch auf länderübergreifende Nutzungskonflikte - siehe dazu etwa Earle et al. (2010), Dinar et al. (2007), Zeitoun und Warner (2006) und Blatter und Ingram (2001); speziell im Kontext eines Rechts auf Wasser McCaffrey (1992). Auch wenn in Deutschland ein ausreichendes globales Wasserdargebot besteht, lassen sich auch hier vielfaltige nationale Nutzungskonkurrenzen ausmachen - dazu näher Gawel und Fälsch (2011).

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te, die um die knappe Ressource konkurrieren. Das Recht auf Wasser zielt freilich nur auf die Gruppe der privaten Haushalte. Dabei besteht die Nutzungskonkurrenz selbstverständlich nicht nur zwischen den Gruppen, sondern auch zwischen den Einheiten innerhalb der Gruppen. In Abbildung 4 ist dargestellt, wie Nutzungseffizienz durch einen Ressourcenmarkt hergestellt wird. Er sorgt dafür, dass sog. high-valueNutzungen 64 zum Zuge kommen. Dabei geht es um zwei repräsentative Nutzungsinteressenten, den A und den B. In dem Koordinatensystem ist auf der Abszisse die verfugbare und aufzuteilende Menge der Ressource Wasser abgetragen. Auf den sind Ordinalen die Grenzkosten (K') der Nutzungsvermeidung von A (links) und von B (rechts) abgetragen, die sich als Graph über unterschiedliche Aufteilungen der Ressource wiederfinden. Es handelt sich hierbei also um Opportunitätsgrenzkosten; um einen entgangenen Nutzen. Insofern handelt es sich gleichermaßen um Grenznutzen an der Ressource Wasser. Die optimale Allokation ergibt sich, wo diese Grenzkosten der unterschiedlichen Nutzer gleich sind, mithin wo sich die Graphen K'A° und K'B schneiden. In Abbildung 4 liegt die optimale Aufteilung bei Vo; dort ergibt sich der höchste Gesamtnutzen. Der Abszissenabschnitt links von Vo wird durch A, der rechts davon durch B genutzt. Ein solcher Grenzkostenausgleich wird - und das ist entscheidend mit Blick auf das soziale Anliegen - durch Preise vermittelt: Auf einem Ressourcenmarkt werden (einheitliche) Preise gezahlt. Es ergibt sich im Marktgleichgewicht ein Preis po65, der einerseits die Funktion hat, das verfügbare Angebot vollständig aufzuteilen (Markträumung), und dies andererseits in der Weise, dass nur die besonders dringlichen Nutzungen zum Zuge kommen. Die Zuteilung der Wasserressourcen über den Preis und damit über Zahlungsbereitschaften beachtet aber nicht das Problem unterschiedlicher „Zahlungsfähigkeiten" der Nutzer, so dass ein Gerechtigkeitsproblem verbleibt: Es ist vorstellbar, dass die Grenzkostenfunktion des A, K'A° durch „Armut", also „ein zu geringes Budget", zu weit links liegt, und damit - unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten - einen zu geringen Anteil an der Ressource erhält. Zahlungsbereitschaft setzt auch Zahlungsfähigkeit voraus. In diesem Sinne gibt es einen Unterschied zwischen den anzustrebenden high-value uses und gewissen merit uses. Letztere will das Recht auf Wasser schützen und aus der „Marktrationalität" herausheben. Der A - er sei ein privater Haushalt und damit Träger des Rechts auf Wasser - wird privilegiert, gemessen an seiner Zahlungsbereitschaft und der gegebenen Wasserknappheit. Andererseits bestehen Nutzungsinteressen des B, etwa die Nutzungskonkurrenten Industrie und Landwirtschaft, die zwar nicht vom Recht auf Wasser geschützt werden 64 65

Vgl. oben Abbildung 1. Bei einem freien, d. h. nicht knappen Gut liegt naturgemäß ein Allokationspreis in Höhe von Null vor. In der Grafik von Abbildung 5 würden sich die beiden Grenzkostenkurven schlicht nicht schneiden, da sie weit genug auseinander liegen. Das ist dann der Fall, wenn das Ressourcenangebot groß genug ist (Kastenbreite ist „groß genug") bzw. wenn die Grenzkostenkurven von rechts und links nicht sehr tief in die Ressource „hineinragen". Die Verknappung eines vormals freien Gutes kann man sich also gut vorstellen, als ein Zusammen- und Ineinanderschieben der beiden Grenzkostenkurven, sei es aus Nachfragesteigerung, sei es aus Angebotsverknappung. Mit diesem Phänomen der zunehmenden Verknappung haben wir es beim Wasser - auf globalem wie regionalem Level - zu tun (vgl. OECD 2010, S. 18).

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

(sollen), die aber keineswegs illegitim oder unberechtigt sind, sondern auf ihre Weise ebenfalls zur Befriedigung existenzieller Bedürfnisse beitragen (Agrar- und Industrieproduktion, Energie). Um sie geht es beim Anliegen der Nutzungseffizienz. Und auch hier wird der Rückkopplungseffekt zum Recht auf Wasser und dem sozialen Anliegen deutlich: Will man ein funktionierendes Wasserversorgungssystem, braucht man solvente Privathaushalte oder/und einen solventen Sozialstaat, also eine leistungsfähige Wirtschaft. Nicht zuletzt deshalb sind auch industrielle und landwirtschaftliche Wassernutzungen berechtigt, abgesehen von ihren eigenen Grundrechtspositionen (Art. 1, 12 GG). Abbildung 4: Ressourcenmarkt und Dargebot

Dem Anliegen der ökologischen Nachhaltigkeit liegt die gleiche Funktionslogik zu Grunde: Als Stakeholder wurde die (ökologisch betroffene) Allgemeinheit ausgemacht. Analytisch kommen hier auch die künftigen Nutzungsinteressenten in den Blick. Nutzer B hat in einer späteren Zeitperiode Interesse an der Nutzung von Wasser und ist daher daran interessiert, dass Nutzer A in der Gegenwartsperiode die Ressource nicht übernutzt.66

V. Rolle der Zugangshürde „Preis" Bei den Zugangsbedingungen zu Wasserdiensten spielt ein gefordertes Entgelt eine besondere Rolle. Die dadurch bewirkte Exklusion ist ambivalent: Sie ist gesellschaftlich produktiv, da sie einerseits Mittel aufbringt zur Produktion der Dienste und andererseits

66

Weiterreichende Interpretationen „starker" Nachhaltigkeit, die weniger auf künftige Interessen als vielmehr auf naturwissenschaftliche Grenzen der Tragekapazität abstellen, bleiben hier aus Platzgründen ausgeklammert.

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

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Verschwendung (sogar effizient) vorbeugt, indem sie nur dringliche Bedarfe zur Befriedigung zulässt. Anderseits etabliert sie so gerade einen Zugangshebel, der nicht sicherstellen kann, dass auch bei Kaufkraftmangel die existenzsichernde Versorgung zugewendet werden kann. Was lässt sich aus diesem Spannungsverhältnis für die Reichweite eines Rechts auf Wasser entnehmen? Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst das Gedankenexperiment „entgeltfreies Wasser" betrachtet (Abschnitt V.l). Die mildere Forderung nach „Bezahlbarkeit" durchaus vorhandener Preisforderungen (Abschnitt V.2) schließt sich an. In Abschnitt V.3 werden dann die identifizierbaren Kernforderungen eines Rechts auf Wasser (Bannung der sozialen Exklusionswirkung von Entgelten, Lieferpflicht) mit Blick auf die deutsche Situation untersucht.

1. Recht auf „entgeltfreies" Wasser? Um die Wirkungen des Rechts auf Wasser auf die anderen Ziele der Wasser(preis)politik zu illustrieren, sei im Folgenden zunächst eine Zugangsinterpretation als Recht auf „entgeltfreies" Wasser betrachtet.67 Wasserdienste können zwar „entgeltfrei" gestellt werden, sind aber niemals gesellschaftlich „kostenlos". Ein Recht auf „entgeltfreies" Wasser räumte aber eine preislich schrankenlose Güterverfügung ein. Dies bedeutete einerseits einen Finanzierungspreis, andererseits einen Exklusionspreis in Höhe von jeweils Null. Bei einem Finanzierungspreis in Höhe von Null werden die gesamten Kosten des Wasserversorgers durch Transfermittel gedeckt. In Abbildung 3 würde sich der Pfeil der Transfers über die gesamte Strecke der entsprechenden Leistung des Versorgers erstrecken. Die gesamte Wasserdienstleistung wäre steuerfinanziert. Ein Entgelt, den zweiten Finanzierungsbestandteil gäbe es nicht. Eine offene Frage ist dann, wie weit die Leistung des Wasserdienstleisters, die Versorgungstiefe unter diesen Umständen reicht. Wenn man auch hier noch einen Maximalimperativ heranzöge, so müsste auch die Versorgungstiefe maximal sein. In Abbildung 3 reichte der Pfeil der Leistung bis ganz nach rechts. Dann wäre auch die Zumutung durch Haushaltsproduktion gleichsam auf Null gesetzt. Das aber würde den Transferbedarf entsprechend erhöhen. Er ist ja dann unmittelbar an die Versorgungstiefe gekoppelt. Genauso allerdings, wie die Recht-aufWasser-Norm der Versorgungstiefe die notwendigen Transferzahlungen bestimmt, wirken sich umgekehrt auch die (knappen) Transfermittel auf die Versorgungstiefe aus: Engpässe in den öffentlichen Haushalten „ziehen" die Versorgungstiefe gleichsam zusammen. In Fällen bestehender Infrastruktursysteme wirkt sich spürbare Begrenztheit öffentlicher Mittel auf die Wasserqualität aus, weil an notwendigen Wartungsarbeiten am Netz gespart wird.68 Ein zusätzlicher Nachteil der „Steuerlösung" ist, dass die Kosten der Bereitstellung nicht unter den Nutzern, sondern unter allen Bürgern aufgeteilt werden. In Ländern wie Deutschland, in denen nahezu alle Haushalte über einen Netzanschluss verfügen, bleiben die allokativen Mängel auf den Austausch des Äquivalenzprinzips durch das steuerliche Leistungsfahigkeitsprinzip beschränkt. Dort aber, wo ganze Regionen oder Stadtteile keinen Netzanschuss haben, werden zudem im Zweifel 67 68

In Abbildung 2 wäre dies die rechte Seite des Kontinuums. Dies spielt gerade in Transformationsländem eine Rolle, w o dann oftmals parallele Märkte für Flaschenwasser entstehen.

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

die relativ reichen Nutzer mit Netzanschluss durch die relativ armen Teile der Bevölkerung in ihrer Wassernutzung (mit)finanziert. Was sind andererseits die Folgen eines Exklusionspreises in Höhe von Null? Ist das Gut Wasser knapp, dann liegt tatsächlich ein Knappheitspreis größer Null vor (vgl. oben Abbildung 4). Ein Recht auf entgeltfreies Wasser hebelt diesen Allokationsmodus für bestimmte Nutzergruppen aus. Der A sei der Träger des Rechts auf entgeltfreies Wasser; er habe ein unbedingtes Nutzungsrecht, er ist allokativ privilegiert. Ihm wird also - das ist die ökonomische Übersetzung - eine Nutzung bis zur Sättigungsmenge zugestanden (vgl. Abbildung 5). Eine andere, beim Recht auf Wasser naheliegende Variante ist es, sich an einer normativ objektivierten Bedarfsmenge (z.B. gemäß WHO) zu orientieren, die naturgemäß unter der Sättigungsmenge liegt („20 Liter pro Tag und Person"). Dann würde die entgeltfrei zur Verfügung gestellte Wassermenge nach oben hin gedeckelt. Legt man die Sättigungsmenge zugrunde, wie in Abbildung 5 dargestellt, dann konsumiert der Haushalt den linken Abszissenabschnitt bis zu der Stelle, an der seine Grenzkostenkurve die Abszisse schneidet. Der verbleibende Rest der Ressource wird unter den Interessenten mit lediglich „bedingten" Nutzungsrechten auf dem Wassermarkt aufgeteilt. Zur Illustration sind zwei nicht-privilegierte Nutzungsinteressenten B und C aufgenommen. Durch die Verringerung des für die Marktallokation verbleibenden Angebots sind ihre Grenzkostenkurven stark ineinander geschoben. Das bewirkt eine Preiserhöhung, die Folge der Ressourcenverknappung ist. Effizient ist diese Zuteilung knapper Wasserressourcen nicht, da die Lasten minimiert werden könnten, wenn alle Nutzer zu identischen Grenzkosten verbrauchen würden. Sie erscheint aber auch keineswegs gerecht, da nur B und C Ressourcenverantwortung übernehmen müssen und sogar zusätzliche Einschränkungen zur Bedienung der Übernachfrage des A hinnehmen müssen. A nutzt Wasser auch in einem Ausmaß, bei dem die individuelle Nützlichkeit unter den gesellschaftlichen Kosten seiner Inanspruchnahme liegt, was gerade bei einer vulnerablen, hochrelevanten Gemeinressource kaum vertretbar erscheint. Dieser Effekt wird bei einer Bedarfs-Deckelung durch eine festgelegte Bedarfsmenge natürlich verringert und der Allokationsmarkt bedingter Nutzungsrechte entsprechend entlastet. Bei diesen Überlegungen zu Abbildung 5 ist nun vorausgesetzt, dass die Ressourcenmenge größer ist als die Sättigungsmengen der privilegierten privaten Haushalte. Was aber passiert, wenn die Ressourcenmenge kleiner ist als die Sättigungsmenge der privilegierten Nutzer? In diesem Fall kommt es zu einem Wassermangel bzw. einem Nachfrageüberschuss (vgl. Abbildung 6). Darin sind zwei Haushalte (A und B) dargestellt, die beide einen Anspruch auf entgeltfreies Wasser haben. Die Summe ihrer Sättigungsmengen ist nun allerdings größer als das Ressourcenangebot. Grafisch ist das daran zu erkennen, dass sich die Grenzkostenkurven K' A und K' B schneiden. Bei einer preisgesteuerten Marktallokation würde sich am Schnittpunkt - wie oben betrachtet das Gleichgewicht ergeben, zu entsprechendem Preis und der entsprechenden Menge. Bei kostenloser Abgabe hingegen ist die Lage anders, eine Aufteilung ist nicht anhand der in einen Preis umgemünzten Grenzkosten möglich. Fest steht, dass die Menge links der Strecke M durch A und die rechts der Strecke M durch B genutzt wird.

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Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

Abbildung 5: Wassermarkt bei Forderung nach entgeltfreiem Wasser als bedingungslosem Vorrecht

K'B

KV

'K'c

\ ^

_

P

_ .

Sättigungsmenge des Inhabers unbedingter Nutzungsrechte

.

J

V Ressourcenmenge für den Markt bedingter Nutzungsrechte

Abbildung 6: Wassermarkt bei entgeltfreiem Wasser und Wassermangel

Mindestnutzung A

Mindestnutzung B

350

Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

Unklar dagegen ist die Allokation des umstrittenen mittleren Teils der Abszisse, die Strecke (Menge) M. Sie ist ja zweimal zu denken. Zum einen ist M die Menge, die fehlt, um die Summe der Sättigungsmengen von A und B zu bedienen. In diesem Umfang M besteht dann also ein Mangel bzw. ein Nachfrageüberschuss, wenn wir uns das normierte kostenlose Wasser als Höchstpreis in Höhe von Null vorstellen. Wäre die Abszisse um die Strecke M länger, würden die Sättigungsmengen beider Nachfrager bedient werden können. Und M ist zum zweiten die Menge, die eben vorhanden ist und deren Nutzungszuordnung zu A oder zu B der Norm der Kostenlosigkeit wegen unklar ist. Die ökonomische Theorie kennt die suboptimalen Alternativen zur Preisallokation: Güterverfügungen könnten danach organisiert werden, wer „zuerst kommt" („Windhundallokation"): Wer innerhalb einer Versorgungsperiode zu spät kommt, steht vor einem leeren Ressourcenreservoir. Weitere denkbare Allokationsverfahren sind zudem die bürokratische Zuteilung oder das „Recht des Stärkeren", insbesondere bei grenzüberschreitenden Ressourcenkonflikten (Dinar et al. 2007; Blatter und Ingram 2001). Wir halten fest: Eine in Bezug auf den Preis schrankenlose Güterverfügung stellt einzelne Nutzer von der Ressourcenverantwortung frei und führt zu verschwenderischem Umgang mit knappen und ökologisch vulnerablen Ressourcen, der bei nichtprivilegierten, aber ebenfalls legitimierten Nutzern zu zusätzlichen Knappheitsfolgen führt. Die Freistellung von Ressourcenverantwortung verschärft mithin Knappheitsprobleme und führt zu einer nicht gerechtfertigten Lastenverschiebung. Die Freistellung von Ressourcenschonungsanreizen erscheint aber gerade bei vulnerablen und existenziellen Ressourcen in besonderem Maße kontraindiziert.

2. Recht auf bezahlbares Wasser Eine Maximalinterpretation des Rechts auf Wasser als Anspruch auf entgeltfreie Wasserversorgung ist eine wichtige Referenz für die Debatte, jedoch keine realistische Option für flächendeckenden Einsatz und wird kaum ernsthaft gefordert. 69 Eine Forderung, die in den letzten Jahren dagegen viel Anziehungskraft hatte, ist die nach der affordability, der Bezahlbarkeit von Wasser. Damit sinkt zunächst einmal der Forderungsanspruch und man bewegt sich in Abbildung 2 von ganz rechts ein Stück nach links. Die Bedingungslosigkeit der Forderung wird damit aufgegeben und schwächt die Probleme ab, die bei entgeltfreiem Wasser so offensichtlich und stark ausgeprägt sind. Wirtschaftstheoretisch ist Bezahlbarkeit als Kategorie nicht umstandslos greifbar. 70 Als relatives Konzept, das die Preisforderung an den jeweiligen KaufkraftMöglichkeiten des Zahlenden messen möchte, verbleibt es in einem letztlich offenen Einschätzungsbereich. Bei der Ermittlung von Bezahlbarkeit relevant ist zudem die Unterscheidung, ob ein Haushalt eine bestimmte Menge mangels Kaufkraft nicht konsumieren und zahlen kann oder mangels Präferenzen nicht konsumieren und zahlen will. 69

70

Jedoch scheint die Forderung einen ultima ratfo-Charakter zu haben - im Zweifel soll es entgeltfrei sein. So ist etwa davon die Rede, dass die Versorgung „in Extremfallen" umsonst gewährleistet sein müsse (vgl. Winkler 2011, S. 18). Rudolf (2007b, S. 36) wiederum fordert „kostenloses Wasser" im Sinne eines Exklusionsverbots bei Nichtbegleichung der Wasserrechnung. Dazu unten Abschnitt V.3. Vgl. im Überblick Gawel und Bretschneider (2011); mit einer Anwendung für Trinkwasser in der Mongolei Gawel, Sigel und Bretschneider (2012).

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

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Verbreitet ist ein affordability-lwtikaior, der das Verhältnis von Wasser-Ausgaben und Einkommen misst. Mit ihm jedoch ist diese Unterscheidung gerade nicht zu treffen: Er indiziert „Bezahlbarkeit" auch dann, wenn massive Einschränkungen der Versorgung zu niedrigen Ausgaben zwingen, und er schlägt zugleich falschen Alarm, wenn hohe Wasserpräferenzen zu einem prominenten Anteil an den Konsumausgaben fuhren. Bei aller analytischen Unklarheit kann man der Orientierung an affordability jedenfalls eine Tendenz weg von einer Interpretation des Rechts auf Wasser als bedingungslosen Ressourcenanspruch begreifen. Damit werden die eufunktionalen Wirkungen der Preise grundsätzlich anerkannt und das Problem auf den verbleibenden sozialen Gerechtigkeitskonflikt fokussiert (dazu nachfolgend). Mit der Einsetzung wie auch immer gearteter „social tariffs" geht natürlich eine graduelle Abschwächung der allokativen Preisfunktionen einher. Dies ist gleichbedeutend mit einer Abnahme pretialer Anreize, und zwar sowohl für den Nutzer als auch für den Versorger.

3. Der Kerngehalt eines Rechts auf Wasser in Deutschland In einer internationalen Perspektive wirft das Recht auf Wasser elementare Fragen der Zugangssicherheit, der mengenmäßigen Verfügbarkeit und der Qualität von Trinkwasser auf, um die physische Existenz von Menschenleben weltweit zu sichern. Auch hier erscheint freilich die genaue Reichweite des Anspruchs offen und abwägungsbedürftig. Soweit ersichtlich, wird hierzu im juristischen Schrifttum im Rahmen einer Abschichtung auf einen justiziablen materiellen Kerngehalt des Rechts auf Wasser abgestellt, der jedenfalls einen unbedingten lebenssichernden Mindestversorgungsanspruch begründe. 71 Dieser Mindestanspruch wird vor dem Hintergrund der versorgungsstaatlichen Bedingungen in Deutschland im Wesentlichen in der Abwehr von Exklusionen „marktrationaler" Preisbildung bei Bedürftigen durch Entgeltgestaltungen einerseits (a) und Liefersanktionen bei Nicht-Zahlung andererseits (b) gesehen. 72 a)

Exklusion durch

Entgeltgestaltung

Zunächst wird besorgt, eine „kommerzielle ,marktrationale' Preisgestaltung" schaffe „eine monetäre Zugangsbarriere für die allgemeine Grundversorgung mit Wasser" (Laskowski 2011, S. 14). Ein Wasserentgelt dürfe aber dem Anspruch auf Zugang Einzelner zu einer angemessenen Grundversorgung nicht entgegenstehen. Eine solche „kommerzielle Preisgestaltung" existiert aber in Deutschland gar nicht. Vielmehr finden wir bei der Wasserversorgung ein vollständig politisch bestimmtes Angebot vor - mit überdies verrechtlichten Preisbildungsregeln für öffentlich- wie privatrechtliche Versorgungsverhältnisse, insbesondere durch das Kommunalabgabenrecht. Auch privatrechtliche Entgelte für Daseinsvorsorgeleistungen unterliegen den grundlegenden Prinzipien öffentlicher Finanzgebarung. 73 Ferner darf nicht übersehen werden, dass der Kostendeckungsgrundsatz in Art. 9 EG-WRRL oder das verfassungs71

72 73

Vgl. zur Diskussion um eine unbedingte Wassermindestmenge insbesondere Howard und Bartram (2003). So wohl Laskowski (2011, S. 14). So die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum sog. Verwaltungsprivatrecht, siehe etwa BGHZ 91, 84, 96.

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

rechtliche Äquivalenzprinzip der Gebührengestaltung gerade wesentliche Elemente dieser „marktrationalen" Preisbildung verkörpern: Sie gewähren Ressourcenzugang gerade nur im Tauschwege und gegen Hingabe eines Preises. Zwar trifft es zu, dass über Preise vermittelte Exklusionen einer „marktrationalen" Logik folgen, es handelt sich aber bei den genannten Rechtsgrundsätzen (Art. 9 WRRL, gebührenrechtliches Äquivalenzprinzip) um die nämliche Ressourcenzugangslogik des wertäquivalenten Tauschs. Preise mit Exklusionspotenzial existieren mithin gerade auch ohne Kommerzialisierung (z.B. als Benutzungsgebühren); und bei der hierdurch bewirkten Exklusion streiten das Äquivalenz- mit dem Leistungsfahigkeitsprinzip als distributive Lastausteilungsregel, nicht aber die „Marktrationalität" mit dem Gemeinwohl. Soweit ersichtlich, wird aber das Äquivalenzprinzip der Entgeltabgaben nicht in Frage gestellt, obwohl dieses gerade - anders als das Leistungsfähigkeitsprinzip - entgeltliche Zugangshürden errichtet. Die Besorgnis unangemessener Zugangshürden durch überhöhte Preise müsste sich im Übrigen systematisch auch gegen einen zur bequemen Vollkostendeckung selbst angemeldeter Bedarfe befugten, öffentlichen Monopolversorger richten. Das kontrafaktische Vertrauen der juristischen Zunft in die praktische Wirkmacht des rechtlich bindenden Kostenüberschreitungsverbots bricht sich hier mit der ökonomischen Erwartung, dass unter diesen Bedingungen faktisch eher mit Entgelten unter Einschluss von Monopolrenten zu rechnen ist.74 Der Versuch, derartige Renten durch eine kartellrechtliche Preiskontrolle gezielt abzuschmelzen und damit sowohl der Wirtschaftlichkeit als auch dem sozialen Anliegen der Bezahlbarkeit Nachdruck zu verleihen (Monopolkommission 2010 und 2012), wird aber gerade unter Hinweis auf Gemeinwohlbelange der Wasserwirtschaft vielfach kritisch aufgenommen.75 Das Gemeinwohl wird hier gleichzeitig gegen Preissenkungsdruck (Sicherung von Nachhaltigkeit!) und gegen Preiserhöhungen (aus Gewinnstreben!) in Stellung gebracht. Tatsächlich muss man erkennen, dass hier in einer einzigen Variable, dem Preis, widerstreitende Gemeinwohlbelange versöhnt werden müssen die Bezahlbarkeit, die betriebswirtschaftliche Effizienz der Produktion, die volkswirtschaftliche Ressourceneffizienz und die ökologische Nachhaltigkeit. Mit Blick auf die in Deutschland geltenden Entgeltermittlungsregeln und die faktischen Entgelthöhen erscheint die Besorgnis der Exklusion durch Preise kaum relevant jedenfalls nicht wegen drohender Kommerzialisierung der Preisbildung. Zu eventuell verbleibenden Problemen der Bezahlbarkeit im Einzelfall sei nachfolgend die zweite Besorgnis einer Exklusion durch Liefersanktionen betrachtet. b)

Exklusion durch

Liefersanktion

Eine weitere preisvermittelte Zugangshürde stellen denkbare Sanktionen bei Zahlungsrückständen dar - wie sie in Deutschland beispielsweise in § 33 der „Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser" (AVBWasserV) vorgesehen sind. Rudolf (2007b, S. 36) etwa meint, es solle privaten wie öffentlichen Was74

75

Zur Debatte um die mangelnde Begrenzungswirkung von Kostenpreisen und möglicher Preisregulierungen für die deutsche Wasserwirtschaft statt vieler Meran (2012); Monopolkommission (2012); Gawel (2012). Etwa Reinhardt (2008) und Laskowski (2011).

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serversorgungsunternehmen versagt sein, „mittellose Menschen von der Wasserversorgung bei Nichtbegleichung der Wasserrechnung ganz abzuschneiden"76. Wie aber kann ein Nicht-Zahlen-Können von einem Nicht-Zahlen-Wollen unterschieden werden?77 Kann man diese Unterscheidung nicht treffen, so mündet die Forderung nach einer zahlungsabstrakten Lieferpflicht in ein „Bedarfsprinzip im Ermessen des Nutzers": Dieser entscheidet, wann und inwieweit die Güterzuteilung fallweise nach dem Bedarfsprinzip (anstelle des Tauschprinzips) ausgerichtet wird. Es ist aber nicht einzusehen, warum weniger bemittelte Haushalte aus der Verantwortung für einen nachhaltigen Umgang mit knappen und besonders vulnerablen Ressourcen gänzlich entlassen werden sollten.78 Kaufkraft wird hier aus sozialen Gründen güterspezifisch geschont - und zwar aus Nachhaltigkeitssicht an durchaus problematischer Stelle. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass bei Lohnersatzleistungen ein Grundbedarf ermittelt wird, der diese Wasserversorgungskosten mit einschließt; auch eine generelle Zahlungsunfähigkeit kann so kaum behauptet werden. Schließlich stellt sich die Frage, was anstelle eines „GanzAbschneidens" überhaupt als Sanktion noch möglich wäre. Unter diesen Auspizien gerät das Wasserentgelt faktisch zur (freiwilligen) Spende an den Versorger zu Lasten der Allgemeinheit. Reicht ein Budget für die Erfüllung aller Konsumwünsche nicht aus, lässt sich unter Berufung auf ein so verstandenes Recht auf Wasser die Kaufkraft gezielt dort durch Zahlungszurückhaltung „schonen", wo eine Leistung auch ohne Gegenleistung fallig wird; das Recht auf Wasser wird so zum Recht auf „Freifahren". Es spricht aber vieles dafür, die Auskömmlichkeit individueller Kaufkraftverfügung im Bedürftigkeitsfalle über die Höhe des zugewiesenen Grundbudgets, nicht aber über güterspezifische Sonderregelungen ins Werk zu setzen, welche die Fähigkeit von Preisen zur Knappheitsanzeige und zur individuellen Wahrnehmung von Ressourcenverantwortung über vulnerable Gemeinschaftsgüter herabsetzen. Probleme mangelnder Zahlungsfähigkeit sind daher besser - und ohne Grundrechtsbeeinträchtigung - über die Sozialpolitik anstelle der güterspezifischen Versorgungspolitik zu lösen; die verbleibenden „Zugangs-Probleme" des Wassers können über eine im Übrigen funktionierende Qualitäts- und Preisregulierung angemessen aufgefangen werden.

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Hervorh. d. Verf. Ebenso Laskowski (2011, S. 14). Im Ergebnis wohl auch OVG Bremen, Beschl. v. 25.4.2007 - S2 B 157/07 (Wasserversorgungsschulden nach § 22 Abs. 5 SGB II): „Es erscheine [...] notwendig, den Zugang der Familie zur Wasserversorgung aufrecht zu erhalten, um deren Mindestbedarf an Sauberkeit und Hygiene nicht zu gefährden." In der AVBWasserV kann ein „Abschneiden" nicht durch ein Darlegen von „Könnens"-Gründen verhindert werden. Darauf lässt sich die Verordnung nicht ein. Darlegen kann man nur, dass die Folgen des Abschneidens unverhältnismäßig gegenüber der Schwere der Zuwiderhandlung sind und man demnächst der Verpflichtung nachkomme - vgl. § 33 Abs. 2 AVBWasserV. Insofern zu weitgehend OVG Bremen, Beschl. v. 25.4.2007 - S2 B 157/07 (Wasserversorgungsschulden nach § 22 Abs. 5 SGB II).

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VI. Recht auf Wasser und Privatisierung der Versorgung - ein Spannungsfeld? Eine Privatisierung und „Kommerzialisierung" der Wasserversorgung fuhrt bei vielen Autoren hinsichtlich der menschenrechtlich gebotenen Zugangssicherung zu Besorgnis. Das Prinzip „Recht auf Wasser" wird dabei einer Privatisierung z. T. richtiggehend als Alternative gegenübergestellt: „Seit Beginn der 1990er Jahre stehen sich in der sehr emotional geführten Debatte strukturtypisch das Menschenrecht auf Wasser [...] und Wasser als Ware gegenüber" (Kluge und Scheele 2008, S. 15). Hier stellt sich erneut die Frage, inwieweit und warum genau die Zuteilung knapper Wasserressourcen dem üblichen marktlichen Allokationsprocedere enthoben sein soll. Sind es problematische Folgen der Bepreisung der Ressource, der Vollkostendeckung einschließlich Umwelt* und Ressourcenkosten oder vielmehr eine marktliche Preisbildung mit privaten Versorgern, die Gewinnmotive verfolgen? Es erscheint hilfreich, folgende Unterscheidungen zu treffen: 1. Preise existieren auch ohne „Kommerzialisierung". Sie sind dann schlicht Ausdruck des Äquivalenzprinzips der Güterversorgung, wie es selbstverständlich auch von öffentlich-rechtlichen Versorgungsträgern über Benutzungsgebühren oder privatrechtliche Entgelte zugrunde gelegt wird. Diese Preise kommen als Gegenleistung für eine individuell zugewendete Leistung zustande und berücksichtigen gerade nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Nutzers. Nach Art. 9 EG-WRRL sind diese Entgelte grundsätzlich dem Prinzip der Kostendeckung einschließlich von Umwelt- und Ressourcenkosten verpflichtet. Ob die finale Preishöhe - unter Berücksichtigung aller funktionalen Kostendeckungsmomente - dennoch im Ergebnis relativ kaufkraftschonend ausfällt, indem etwa wirtschaftlich produziert oder unangemessene Eigenkapitalrenditen verhindert werden, ist keine apriorische Frage der Rechtsnatur des Versorgers: Ein träges öffentlich-rechtliches Gebietsmonopol mit bequemer Deckungsgarantie geltend gemachter Kosten kann die Kaufkraft wenig leistungsfähiger Nutzer stärker anspannen als ein unter Wettbewerbsdruck gesetzter und kartellrechtlich überwachter Privatakteur. Hier gibt es kein sozialpolitisches Prä, sondern nur die Mühen eines umfassenden Vergleichs institutioneller Rahmenbedingungen der Versorgung. 2. Das Gewinnerzielungsmotiv Privater ist ebenfalls kein verlässlicher Indikator für Gemeinwohlverletzungen. Kritische Stimmen zur Privatisierung bemühen aber weithin einen Zusammenhang zwischen dem Motiv der Akteure und der Ergebnisgüte hinsichtlich der (Wasser-)Versorgung und befürchten einen privatisierungsbedingten Steuerungsverlust des als gemeinwohlorientiert wahrgenommenen Staates. Die Sorge geht dahin, einen sozial sensiblen Bereich der Wasserversorgung fahrlässig dem „profit motive" 79 , der Profitorientierung 80 privater Akteure zu überantworten. Die Privatisierung führe demnach zu einer „Lockerung der Gemeinwohlbindung" (Laskowski 2011, S. 13). Öffentliche Versorger hingegen, so die kontrafaktische Annahme, stehen aufgrund rechtlicher Bindungen motivational (stärker) dem Gemeinwohl gegenüber in der Pflicht. In Deutschland sind sie institutionell der „Daseinsvorsorge" verpflichtet. Mit Blick auf

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Vgl. Roaf (2006, S. 41). Vgl. Laskowski (2011, S. 9).

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das Versorgungsergebnis wird dann entsprechend gefolgert, bei einem öffentlichen Versorger sei die Grundversorgung der Bevölkerung tendenziell gewährleistet, während sie bei einem privaten Versorger dagegen tendenziell gefährdet erscheine. Aus ökonomischer Perspektive ist an dieser Stelle die entscheidende Einsicht, dass Ergebnisse eben nicht allein auf bestimmte Motive zurückzufuhren sind. Sie sind vielmehr Folge des Zusammenspiels von Motiven und Handlungsbedingungen (Institutionen). Die Pointe der Smi'iAschen Moralphilosophie ist es ja, dass es keiner moralischen Motive bedarf, um individuelles Handeln zu einem gemeinwohlverträglichen Ergebnis zu fügen, wenn die richtigen Institutionen bestehen:81 Dann nämlich vermag die „unsichtbare Hand" eigennütziges Streben zu einem prosozialen Ganzen zu formen. Eine Privatisierung lässt sich daher hinsichtlich ihrer Wirkung prinzipiell nicht als solche, sondern nur im Zusammenspiel mit den parallel eingesetzten Regulierungs-Institutionen beurteilen; denn sie sind in einem so wettbewerbs-defizienten Markt wie dem für Trinkwasser in jedem Fall notwendig. Privatisierung lässt sich daher grundsätzlich nicht ohne flankierende Preis- und Qualitätsregulierung denken. Hierzu zählen etwa die Entgeltermittlungsregeln, die Qualitätsregulierung, Vorschriften über die Netzhege u. a. m. Für die Wasserwirtschaft bedeutet das gerade auch, dass die Tarifierung nicht allein dem Markt und den „Privaten" überlassen wird, sondern vielmehr Objekt einer geeigneten Preisregulierung sein muss. Die Frage, ob eine Privatisierung wünschenswert ist oder nicht, lässt sich kaum durch eine apriorische Beurteilung der Vorzugswürdigkeit von „Privatisierung" oder „Verstaatlichung" klären, sondern beschreibt eine komplexe institutionelle Optimierungsaufgabe. Private Akteure spielen darin eine Rolle, ebenso wie eine angemessene Form der Regulierung der Versorger. Ein solches Management von Institutionen bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat, der stets mit Marktversagen auf der einen, aber auch Staats- und Regulierungsversagen auf der anderen Seite rechnen muss. Die Frage eines angemessenen Zugangs zu Wasserdiensten sollte daher in einer erweiterten Perspektive eines geeigneten institutionellen Designs von Versorgungsaufträgen diskutiert werden. Öffentlich-rechtliche Trägerschaft dürfte kaum zur vorschnellen Entwarnung beim Verfolg von Gemeinwohlinteressen berechtigen, sondern eröffnet auch nur institutionelle Chancen darauf. Gerade die Debatte um eine kartellrechtliche Wasserpreiskontrolle82 und die in Zweifel gezogene Sonderstellung der Wasserwirtschaft als wettbewerblicher Ausnahmebereich83 belegen doch, dass (unnötige) Belastungen durch aufgeblähte Preise als Gemeinwohlbelang möglicherweise unter Wettbewerbsbedingungen eher gewährleistet werden können als unter den Bedingungen eines vom (öffentlichen) Versorger selbst definierten Kostenbedarfs. Soweit Gemeinwohlinteressen des Gewässer- und Ressourcenschutzes hier gegen eine zu enge „betriebswirtschaftliche" Benchmarking-Perspektive der Preiskontrolle streiten, begegnet uns hier

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In den berühmten Worten von Smith: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil." (Smith 1776/1993) Vgl. Reinhardt (2008), Oelmarm (2005), Markert (2009), Monopolkommission (2010 und 2012). Der programmatische Titel des achtzehnten Hauptgutachtens der Monopolkommission (2010) lautet: „Mehr Wettbewerb, wenig Ausnahmen".

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nur erneut der Zielkonflikt zwischen einerseits sozialer und monopolrentenfreier, d. h. eher niedriger, andererseits aber nachhaltiger und volkswirtschaftlich effizienter, d. h. eher höherer Preisgestaltung. Bei der Auflösung dieses Konflikts können Organisationsund Regulierungsformen als strategische Gestaltungsvariablen dienen, die zwischen verschiedenen Gemeinwohlinteressen (Wirtschaftlichkeit, Erschwinglichkeit, Nachhaltigkeit) vermitteln.

VII. Schlussbemerkungen Ein Recht auf Wasser gewährt fraglos keinen Anspruch auf schrankenlose Güterverfügungen; abwägende Grenzziehungen zur näheren Bestimmung seines Gehaltes sind daher dem Recht inhärent. Daher ist zu klären, welche Zumutungen für den Rechteinhaber beim Ressourcenzugang noch vertretbar erscheinen. Soweit diese Zumutungen durch Entgelthürden begründet werden, bleiben deren gesellschaftlich produktive Leistungen (Verschwendungsfreiheit, Ressourcenschonung, Verantwortung im Umgang mit Vulnerabilität und Knappheit) im Rahmen der Abwägung zu beachten. Das Recht auf Wasser könnte vor diesem Hintergrund als staatliche Garantie für eine bestimmte „Versorgungstiefe" bei der Wasserversorgung privater Konsumenten (in deren Eigenschaft als exklusive Rechtsträger) verstanden werden. Diese „Versorgungstiefe" lässt sich in verschiedene „Zugangs-Elemente" von Versorgungssicherheit über Entgelthöhe bis hin zur Qualität zerlegen. Der durch ein Recht auf Wasser herausgeforderte, aber in seinen Handlungsoptionen erweiterte „Gewährleistungsstaat" muss dann entweder geeignete Rahmenbedingungen schaffen, dieses spezifizierte Versorgungsund Zugangsziel durch private Versorger zu ermöglichen oder aber (bzw. bei verbleibenden Defiziten) eigene staatliche Bereitstellungsleistungen (durch Transfers oder Eigenvornahme) erbringen. Damit werden die elementaren, in jedweder Wasserwirtschaft zu lösenden Grundprobleme der Güterversorgung, nämlich die Finanzierung und die Rationierung knapper Ressourcen(dienstleistungen) durch Privilegierung einzelner Nutzergruppen als Rechtsträger gezielt überformt: Das genaue Ausmaß dieser Privilegierung ist bislang freilich unbestimmt und bezieht sich einerseits auf Grundanforderungen der Verfügbarkeit nicht gesundheitsschädlichen Trinkwassers, andererseits auf die Bedingungen, zu denen eine Verfügbarmachung zu leisten ist. Die Privilegierung deutet damit „unbedingte", aber in ihrer Reichweite gerade unklare Ressourcenansprüche seitens privater Konsumenten an. Das Nebeneinander von Unbedingtheit und Unbestimmtheit mutet freilich unbefriedigend an: Die Spezifikation der Ressourcenansprüche (die Bestimmung der konkreten Versorgungstiefe) wird unausweichlich im Lichte der Zumutungen zu erfolgen haben, die die Güterverfügung der privilegierten Gruppe anderen auferlegen wird (durch Transferzahlungen, durch Wassermangel oder Preissteigerungen). Die angestrebte menschenrechtliche Nobilitierung des privatindividuellen Wasseranspruchs kann daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Anspruch gerade nicht als schrankenlose Güterverfügung vorstellbar ist, sondern der grenzziehenden Spezifikation bedarf. Dies gilt auch für die Abgrenzung eines Kernbereichs elementarer Existenzsicherung durch Wassernutzung. Spätestens die rechtspolitische Substantiierung eines Rechts auf Wasser auf einfachgesetzlicher Ebene kommt an diesen abwägenden Klärungen nicht vorbei. Will man das Menschemechl auf nationaler Ebene um-

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setzen, kommt es letztlich weniger auf eine verfassungsrechtliche Implementation, sondern vielmehr auf eine Substantiierung und Konkretion des zu schützenden Anspruchs an, ohne den selbst die Verfassungsprosa kraftlos bleibt - auch wenn die Auseinandersetzungen um rechtspolitische Detailfragen auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts weit weniger glanzvoll anmuten als unter Berufung auf überpositive Ansprüche geadelte Versprechungen. Als Ansatzpunkt zur Konkretisierung wurden in diesem Beitrag eine Reihe von internationalen Dokumenten und Vereinbarungen zu einem Recht auf Wasser betrachtet. Hier steht die Kategorie des Zugangs ganz offenbar im Mittelpunkt und ist doch vollkommen unterbestimmt. Der Gedanke der Forderung ist ja stets „Zugang zu etwas". Diese Forderungen sehen sich - deswegen werden sie vorgebracht - einer Realität gegenüber, in welcher vielmehr Hürden bestimmend sind, die den Zugang erschweren oder verhindern. Aus ökonomischer Perspektive haben Zugangshürden, insbesondere Preise, freilich wichtige Funktionen: Als Finanzierungspreis sorgt ein Entgelt in der Trinkwasserversorgung dafür, dass transferfreie Wasserdienstleistungen überhaupt ermöglicht werden. Dies hilft, die Rechteeinräumung von öffentlichen Mittelgebern und ihrer politischen Prioritätensetzung unabhängig zu machen. Das Recht auf Wasser hat hier die Zumutungen im Blick, denen der Träger des Rechts ausgesetzt ist. Neben den pagatorischen Kosten kommen gerade für Entwicklungsländer auch die nichtpagatorischen Kosten (Haushaltsproduktion) in den Blick. Aus institutionenökonomischer Perspektive kommt es auf einen „Versorgungsvertrag" an, der erstens zustande kommt, also „gelingt", und der zweitens für alle Beteiligten zumutbar ist; für den Träger des Rechts auf Wasser, aber eben auch - damit er zustande kommt - für den Versorger und die Transferzahler. Die Vertragsbedingungen dieser drei Stakeholder sind durch Normen zu einem Recht auf Wasser im Prinzip kommunizierender Röhren zu definieren. Als Exklusionspreis sorgt ein Entgelt für eine effiziente (und tausch- sowie verantwortungsgerechte) Rationierung knapper Wasserressourcen auf die unterschiedlichen Nutzungsinteressenten. Zu ihnen gehören die Träger des Rechts auf Wasser, aber auch andere gegenwärtige und zukünftige Nutzungsinteressenten. Eine marktliche Allokation und Rationierung der Ressource gleicht unterschiedliche Nutzungen nach dem Effizienzkriterium ab. Das Recht auf Wasser will hierbei Nutzungen schützen, die normativ wertvoll sind, aber mangels privater Kaufkraft ggf. zu kurz kommen. Das streitet jedoch nicht für die Abschaffung des Effizienzkriteriums und der dadurch vermittelten Ressourcenverantwortung, sondern allenfalls für die Lockerung der Kaufkraftrestriktion. Das verbleibende Gerechtigkeitsproblem mangelnder Zahlungsfähigkeit Einzelner sollte daher - gänzlich ohne Grundrechtsbeeinträchtigung - über die Sozialpolitik anstelle der güterspezifischen Versorgungspolitik gelöst werden. Schließlich wird deutlich, dass die Fragen der Privatisierung und Kommerzialisierung der Wasserversorgung mit dem Anliegen eines Rechts auf Wasser nur mittelbar zusammenhängen: Preise mit Exklusionspotenzial existieren auch ohne Kommerzialisierung (z.B. als Benutzungsgebühren); hier ringt das Äquivalenz- mit dem Leistungsfahigkeitsprinzip als Lastausteilungsregel, nicht aber die „Marktrationalität" mit dem Gemeinwohl. Und eine öffentliche Trägerschaft garantiert keineswegs apriorisch bessere Gemeinwohlergebnisse als ein institutionelles Setting unter Einbeziehung ge-

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winnstrebiger Privater: Es ist vielmehr Aufgabe eines komplexen Institutionen- und Regulierungsdesigns, die für essenziell gehaltenen Anforderungen an eine Wasserwirtschaft unter Beachtung durchaus widerstreitender Gemeinwohlbelange umzusetzen. Ein Recht auf Wasser dürfte daher kaum als verfassungsrechtliche Privatisierungsbremse taugen, sondern allenfalls das institutionelle Design der Wasserwirtschaft insgesamt anleiten. Die Frage der Einschaltung privater Akteure in die Versorgung ist damit Bestandteil eines übergreifenden Gestaltungs- und Regulierungsproblems der Wasserwirtschaft, kaum aber apriorisch als gemeinwohlunverträgliche Beeinträchtigung von Ressourcenzugangsansprüchen anzusehen. Öffentliche Träger sind zwar motivational auf das Gemeinwohl verpflichtet, bieten jedoch keine grundsätzliche Gewähr jederzeit „besserer" Versorgungsleistungen. Die besondere Bedeutung und herausgehobene Verletzlichkeit der natürlichen Ressource Wasser streitet wohl gerade eher für ein ökonomisch effizientes, Nachhaltigkeit sicherndes und Ressourcenverantwortung betonendes Bewirtschaftungsregime denn für eine unbedingte und schrankenlose Verfugungsbefugnis selbst bedürftiger Nutzer. Die EG-Wasserrahmenrichtlinie geht diesen Weg, indem in Art. 9 zunächst vollkostendeckende Preise für die Nutzung von Wasserdienstleistungen zum - freilich Abwägungen offenen - Referenzmaßstab erhoben werden und damit gerade diesen konkurrierenden Belangen (Ressourcenverantwortung, Effizienz, Verursachergerechtigkeit) erstmalig prominenter Raum gegeben wird. Die konkurrierenden Anliegen der Nutzungseffizienz, der ökologischen Nachhaltigkeit und der Refinanzierung sind nicht nur legitim und in ihrer Funktion jeweils ebenfalls existenzsichernd, sie bedienen auf lange Sicht über vielfaltige Rückkopplungen gerade maßgeblich die Nachhaltigkeit von Versorgungssicherheit für ein Recht auf Wasser: Nur wo die Refinanzierung von Wasserdienstleistungen dauerhaft gesichert ist, ein intakter Naturhaushalt ein ausreichendes Wasserdargebot vorhält und mit knappen Ressourcen verschwendungsfrei gewirtschaftet wird, kann ein Recht auf Wasser nachhaltig gesichert werden. Diese Zusammenhänge werden in der einschlägigen Debatte bislang unzulänglich verarbeitet. Wasser ist lebenswichtig und kann in bestimmten Basisfunktionen nicht substituiert werden. Gerade deswegen sollten Nutzungen generell nicht von Ressourcenverantwortung freigestellt werden. Im Gegenteil sichert die Beachtung von wohldefinierten Zugangshürden (etwa in Gestalt vollkostendeckender Preise) langfristig eine nachhaltige Versorgung. Sozialpolitische Defizite eines solchen Preisregimes sollten sozial-, nicht aber preispolitisch aufgefangen werden. Die Freistellung von jedweden Zumutungen im Ressourcenzugang ist mithin nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Daher ist eine gesellschaftliche Verständigung über die jeweilige Reichweite von Ressourcenansprüchen im Rahmen einer angemessenen Wassergrundversorgung erforderlich. Dem stehen gegenwärtig aber im deutschen Recht weder die herrschenden Preisermittlungsregeln, die faktische Entgelthöhe noch § 33 AVBWasserV entgegen.

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Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider

Zusammenfassung Internationale Debatten um globale Herausforderangen bei der Wasserversorgung werden seit längerem von der Forderung nach einem Recht auf Wasser beherrscht. Die wissenschaftliche Diskussion wird vorwiegend in den Rechtswissenschaften gefuhrt; ökonomische Beiträge befassen sich eher mit Aspekten des Rechts auf Wasser (Wasserpreise, Regulierung, Privatisierung). Auf der Ebene internationaler Deklarationen ist bereits eine gewisse Etablierung festzustellen; bislang unzureichend ist aber die nationale Umsetzung: Gehalt und Grenzen eines Rechts auf Wasser sind weithin unklar. Der vorliegende Beitrag versucht eine institutionenökonomische Konturierung des Inhalts der dadurch eingeräumten Verfiigungsrechteposition und zeigt Grundlinien einer unvermeidlichen Grenzenbestimmung auf. Ausgehend von einem Verständnis grundsätzlich konkurrierender Ziele der Wasser(preis)politik (Effizienz, Nachhaltigkeit, Refinanzierung und soziale Anliegen) werden zunächst die internationalen Erklärungen auf verschiedene Dimensionen eines Rechts auf Wasser hin ausgewertet. Sodann wird eine kontrakttheoretische Erklärung der dabei herausragenden Dimension des Rechts auf „Zugang zu Wasser" gegeben. Ferner wird die konstruktive Rolle von Wasserpreisen als Zugangshürde thematisiert: Preise übernehmen sowohl als Finanzierungs- als auch als Exklusionspreis wichtige gesellschaftliche Funktionen. Auf diese Weise gelingt eine rationale Begrenzung einer Wasserrechtsposition, die nicht als unbedingtes Recht, sondern in Abwägung mit konkurrierenden Belangen ausgestaltet werden muss. Ein Blick auf die konkreten Exklusions-Verhältnisse in Deutschland (Preis und Liefersanktionen bei Nichtzahlung) sowie die Beziehung des Rechts auf Wasser zur Regulierungs- und Privatisierungsdebatte in der internationalen Wasserwirtschaft runden die Analyse ab.

Summary: The right to water - an institutional economics perspective The right to water (rtw) is a major concern in current discussions about global challenges. Several NGOs, as well as international organisations, are involved in this political issue. On a scholarly level the discourse is accompanied primarily by jurisprudence reasoning the dogmatic question of social rights. Although already well established in the context of international declarations, the discussion on rtw is, in general, still awaiting a (national) implementation perspective. Hence, the question arises as to what exactly the concrete, litigable content of a rtw might be and how inevitable limits to this right might be set and justified. This article offers an institutional economics perspective on this problem of concretion. If the concern of a right to water is to be reduced in practice, it would be helpful to take overall objectives of potable water allocation seriously that might be at odds with the social concern of sufficient water supply. These competing objectives are economic efficiency, ecologic sustainability, and financial sustainability. The coordination of competing interests and requirements, including feedback effects in the long-ran, may contribute to a more precise shaping of a rtw, which is still rather vague and therefore effete in practice. Thus, a rtw can hardly ever be an unconditional right.

Recht auf Wasser - eine institutionenökonomische Perspektive

363

Starting from an analysis of international declarations' calls for a rtw the category of 'access' can be considered the most crucial one. From an institutional economics viewpoint access can be defined as a 'succeeding contract' between consumer and supplier. This 'contract' has to comply with rtw conditions that may be set by simple acts of parliament, especially regarding various aspects of the service level. From such a perspective it becomes obvious that limitations of access are potentially functional and even desirable as other objectives of water allocation are only attainable in such a manner. This holds true particularly for limitations on access (i. e. exclusion effects) of water pricing which fulfills a number of essential functions in the allocation of potable water. Furthermore, it is analysed whether or not a rtw in Germany already might be infringed upon by pricing rules or suspension of deliveries in case of refusal of payment. Finally, the common proposition is critically reflected whether privatisation of water supply is in general at odds with the requirements of a rtw.

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Florian Drevs und Tristan Nguyen

Adverse Selektion light - Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen Inhalt I. II. 1. 2. 3. 4. III. 1. 2. IV.

Einleitung Der Modellrahmen Problem der ex-anten asymmetrischen Informationsverteilung Versicherung bei Kenntnis der Risikotypen Versicherung bei Unkenntnis der Risikotypen (vereinendes Gleichgewicht).... Versicherung bei Unkenntnis der Risikotypen (trennendes Gleichgewicht) Flat-Rate-Bias und Versicherungsnachfrage Studiendesign und Datengrundlage Ergebnisse Schlussfolgerungen

365 367 367 368 369 372 373 373 374 376

Literatur

378

Anhang

380

Zusammenfassung

381

Summary: Adverse Selection Light - How can flat-rate bias influence insurance demand

382

I. Einleitung Gesetzliche Krankenversicherungen können seit 2007 in Deutschland ihren Versicherten Tarife mit einer Kostenbeteiligung anbieten. Bei diesen optional zu den Tarifen mit voller Kostendeckung wählbaren Tarifen wird der Versicherte im Leistungsfall finanziell an den Kosten beteiligt, die ansonsten die Krankenkasse zahlen müsste. Im Gegenzug profitiert der Versicherte von Beitragsrückerstattungen. Die gesetzliche Grundlage für diese sogenannten Wahltarife wurde durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen und ist im § 53 des Fünften Sozialgesetzbuch kodifiziert worden. Mit der Gesetzesänderung sollten die Wahlfreiheit der Versicherten und der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen in Deutschland gestärkt werden. Was aus ordnungspolitischer Sicht grundsätzlich als sinnvoll zu erachten ist (vgl. Sauerland 2004). Für das Jahr 2010 zeigen die Ergebnisse des Gesundheitsmonitors, dass nur 1 % der gesetzlich Versicherten bisher in diese Wahltarife gewechselt sind (Böcken et al. 2010). Laut der Monatsstatistik der gesetzlichen Krankenversicherung über Mitglieder, Versicherte und Kranke des BMGS waren im Februar 2012 insgesamt 536.356 Versicherte in einem

366

Florian Drevs und Tristan Nguyen

Wahltarif mit Kostenbeteiligung versichert, was einem Anteil von 0,77 % der gesetzlich Versicherten in Deutschland entspricht. Die niedrige Anzahl Versicherter in den Wahltarifen gibt Anlass zu der Vermutung, dass scheinbar auch gute Risiken unter den gesetzlich Versicherten lieber im Tarif mit voller Kostendeckung verbleiben, obwohl sie sich in einem Bonustarif besser stellen würden. Diese Beobachtung wird durch Ergebnisse weiterer Studien untermauert. Es zeigt sich, dass Versicherte Tarife mit weitgehender Kostendeckung Kostenbeteiligungstarifen mehrheitlich vorziehen {Ullrich 2002). Stehen verschiedene Kostenbeteiligungstarife zur Auswahl, werden Tarife mit niedriger Kostenbeteiligung präferiert (Kerssens und Groenewegen 2005; Pashigian et al. 1966). Entgegen der Aussagen der Erwartungsnutzentheorie trifft dies auch für Versicherte zu, für die ein Kostenbeteiligungstarif bzw. ein Tarif mit einer höheren Kostenbeteiligung finanziell aufgrund ihres niedrigen Schadensrisikos vorteilhafter wäre (Marquis und Holmer 1996; Samuelson und Zeckhauser 1988; Schoemaker und Kunreuther 1979). Auch im Rahmen von Discrete-Choice-Experimenten zeigt sich wiederholt eine niedrige Akzeptanz von Kostenbeteiligungen bei Krankenversicherungstarifen, welche durch hohe Anreizkomponenten in Form geringerer Versicherungsbeiträge kompensiert werden müssten (Becker und Zweifel 2006; Kerssens und Groenewegen 2005). Als Erklärung dieses Phänomens könnte der sogenannte Flat-Rate-Bias eine Rolle spielen (Lambrecht und Sklera 2006; Train et al. 1987). Dieser wurde bereits beim Konsumentenverhalten im Zusammenhang der Wahl von Handytarifen und Internettarifen nachgewiesen (Lambrecht und Sklera 2006) und kann verhaltenswissenschaftlich erklären, warum Konsumenten, obwohl finanziell nicht vorteilhaft, sich für Leistungsangebote entscheiden, bei denen der Preis unabhängig von der Nutzungshäufigkeit ist. Als Erklärungsfaktoren für diesen Bias bei Konsumenten konnte der Versicherungs(Kahneman und Tversky 1979; Kridel et al. 1993), Taxameter- (Prelec und Loewenstein 1998) und Überschätzungseffekt (Nunes 2000) identifiziert werden. Der Flat-Rate-Bias könnte auch bei der Wahl von Krankenversicherungen eine Rolle spielen und so die mangelnde Attraktivität der Bonustarife in der gesetzlichen Krankenversicherung erklären. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Relevanz des Flat-Rate-Bias bei der versicherungsmathematischen Kalkulation von Tarifen in der gesetzlichen Krankenversicherung herauszuarbeiten. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut. Zunächst wird eine modelltheoretische Analyse des sog. trennenden Gleichgewichts (separating contracts), bei der eine Trennung der guten und schlechten Risiken durch das Angebot von zwei verschiedenen Versicherungstarifen gelingt, vorgenommen. Dies stellt die Grundlage bestehender versicherungsmathematischer Überlegungen dar, wie Versicherungstarife optimal gestaltet werden können. Daran schließt sich die Darstellung einer empirischen Studie an, in der untersucht wird, welchen Einfluss der Flat-Rate-Bias auf die Versicherungsnachfrage hat. Im Anschluss werden Implikationen für Krankenversicherer gegeben, wie man den Flat-Rate-Bias bei der Gestaltung von Krankenversicherungstarifen berücksichtigen sollte.

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

367

II. Der Modellrahmen 1. Problem der ex-anten asymmetrischen Informationsverteilung Adverse Selektion kann mit „negativer Risikoselektion" übersetzt werden und kennzeichnet die Situation, in der bei einer asymmetrischen Informationsverteilung zwar der Versicherungsnehmer über seine eigene Schadenwahrscheinlichkeit informiert ist, der Versicherer die Schadenwahrscheinlichkeit des Versicherungsnehmers jedoch nicht kennt. Die Unkenntnis der wahren Risikoklasse der Versicherungsnehmer fuhrt dazu, dass der Versicherer gezwungen ist, eine von der Schadenklasse unabhängige Prämie zu verlangen. Dies hat zur Folge, dass gute Risiken nach und nach abwandern, da Versicherungsschutz für diese Individuen zu teuer ist. Die verbleibenden schlechteren Risiken verursachen im Durchschnitt höhere Schäden, die den Versicherer dazu veranlassen, die Prämien zu erhöhen. Dieser Prozess der negativen Auslese kann dazu fuhren, dass die guten und besseren Risiken auf Versicherungsschutz verzichten. Im Versicherungsbestand bleiben nur noch die schlechtesten Risiken, so dass der Versicherer abermals gezwungen ist, die Prämien zu erhöhen. Am Schluss kann der Versicherungsschutz so teuer sein, dass selbst die schlechtesten Risiken den Versicherungsbestand verlassen. Es kommt zu einem Zusammenbruch des Versicherungsmarktes (Marktversagen). Im Folgenden wird analog zum Modell von Pauly (1974) sowie Rothschild und Stiglitz (1976) vereinfachend unterstellt, dass es nur zwei mögliche Schadenwahrscheinlichkeit gibt: Individuen mit einer hohen Schadenwahrscheinlichkeit ph (schlechte Risiken) und Individuen mit einer niedrigen Schadenwahrscheinlichkeit p" (gute Risiken). Es gilt ph > p". Beide Individuentypen maximieren den eigenen Erwartungsnutzen max. E(£/(v)) = (1 - / / ) U(v,) + p> U(v2)

m i t j = {h, «}.

Durch totales Differenzieren der Erwartungsnutzenfunktion erhält man d E ( i / ( v » = (1 - / ) U'(vi)

dv, + p/ U{v2)

dv2

Entlang der Indifferenzkurve ändert sich der Erwartungsnutzen nicht, so dass dE(t/(v)) = 0. Es gilt somit: (1 - / / ) U'(v,)

dv, + ¡J U\v2)

dv,

1- p

dv,

p'

J

J

U'(v.)

TFr{ U (v 2 )

dv2 = 0

bzw. . .



.

m i t , = {£,«}.

Daraus folgt, dass die Steigung der Indifferenzkurven der guten Risiken in jedem Punkt steiler ist als die der schlechten Risiken. 1

1

Vgl. Rothschild und Stiglitz (1976, S. 635) sowie Schulenburg (2005, S. 300).

368

Florian Drevs und Tristan Nguyen

2. Versicherung bei Kenntnis der Risikotypen Bei Kenntnis der Risikotypen kann der Versicherer erkennen, zu welcher Risikoklasse ein Individuum gehört. Der Versicherer ist imstande, je nach Risikoklasse des Versicherten eine risikoadäquate Prämie zu verlangen. Die beiden Risikotypen maximieren ihre Erwartungsnutzenfunktion durch Auswahl eines geeigneten Deckungsgrades a max. E(t/(v)) = (1 -p1) U(va-ii aL)+p> U(va -L-ii

aL + aL)

j= {h, n).

Die notwendige Bedingung für ein Nutzenmaximum lautet: - (1 -p/) U'(v/) ii L+p/ U'(vj) (L-ri L) = 0

bzw.

p/ U'(vJ) (1 - ii) L = (1 - p/) U'(v/) ii L

bzw.

U'(y2J) _ (1 -pj)nj U'iv/) pj( \-7C])

mit j = {h, n).

Unter der Annahme der fairen Prämie sowie der Kenntnis der Risikotypen würde der Versicherer den Prämiensatz v! gleich der jeweiligen Schadenwahrscheinlichkeit p/ setzen. Somit folgt aus der obigen Beziehung: U i y

0 =1 U'iv,')

bzw.

v{ = v/

mit

U'(v/) = U'(v/), d.h. j={h,n}.

Dieses Ergebnis bedeutet, dass alle Individuen, ob gute oder schlechte Risiken, voll versichert sind. Graphisch bedeutet dieses Ergebnis, dass für beide Risikotypen das Nutzenoptimum auf der Sicherheitslinie liegt. Wir haben oben festgestellt, dass die Indifferenzkurven der guten Risiken in jedem Punkt steiler als die der schlechten Risiken sind (vgl. Abbildung 1).

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

• 369

Abbildung 1: Versicherungsoptimum bei Kenntnis der Risikotypen

Auch die Steigung der Versicherungsgeraden (-

m i t j = {h, «}) P' für die guten Risiken g" ist höher als die der schlechten Risiken gh, da der Versicherer bei Kenntnis der Risikoklasse nur bereit ist, schlechte Risiken gegen höhere Prämien zu versichern. Im Punkt B haben wir das Versicherungsoptimum für die schlechten Risiken. Das Versicherungsoptimum der guten Risiken liegt im Punkt C. Aus der Abbildung 1 ist ersichtlich, dass die Individuen der schlechten Risikoklasse bei gleicher Anfangsausstattung im Marktgleichgewicht ein niedrigeres Nutzenniveau erreichen als die Individuen der guten Risikoklasse.

3. Versicherung bei Unkenntnis der Risikotypen (vereinendes Gleichgewicht) Bei asymmetrischer Informationsverteilung kennt zwar der Versicherungsnehmer seine Schadenwahrscheinlichkeit. Dem Versicherer bleibt die Schadenwahrscheinlichkeit jedoch verborgen. In diesem Fall kann der Versicherer die guten Risiken von den schlechten Risiken nicht trennen, so dass er seine Versicherungstarife nicht nach Risikoklassen differenzieren kann. Daraus ergibt sich ein einheitlicher Tarif für beide Risikotypen. Bei diesem Prämiensatz werden sich die schlechten Risiken überversichern, weil der Prämiensatz unter ihrer Schadenwahrscheinlichkeit liegt, und die guten Risiken unterversichern, da der einheitliche Tarif für die guten Risiken keine faire Prämie mehr ist.

370 •

Florian Drevs und Tristan Nguyen

Abbildung 2: Versicherungslösung bei Unkenntnis der Risikotypen

Da der einheitliche Prämiensatz zwischen dem schlechten und dem guten Prämiensatz liegt, bewegt sich die Versicherungsgerade ge zwischen gh und g. Aus Abbildung 2 ist zu entnehmen, dass die schlechten Risiken aufgrund der einheitlichen Versicherungsprämie besser gestellt werden als bei Kenntnis der Risikoklassen (höhere Indifferenzkurve im Punkt D im Vergleich zum Punkt B). Bei den guten Risiken ist die Lage umgekehrt. Die guten Risiken müssen bei Unkenntnis der Risikoklassen zu viel für Versicherungsschutz zahlen, so dass sich die guten Risiken nur teilweise versichern. Im Punkt E erreichen die guten Risiken ein niedrigeres Nutzenniveau als im Punkt C bei Kenntnis der Risikotypen. Im Punkt D würden sich die schlechten Risiken überversichern, d.h. der Versicherte würde im Schadenfall eine Entschädigung erhalten, die höher ist als der erlittene Verlust, und sich damit bereichern. Dies wäre ein Verstoß gegen das Bereicherungsverbot in der Versicherungswirtschaft. Die Versicherungsnachfrage der schlechten Risiken muss deshalb rationiert werden auf den Umfang, den die guten Risiken von sich aus wählen (Punkt E) würden.

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

371

Abbildung 3: Stabilität des vereinenden Gleichgewichts

Es stellt sich nun die Frage, ob der Punkt E (vereinendes Gleichgewicht bzw. pooled equilibrium) ein stabiles Gleichgewicht darstellt. Rothschild und Stiglitz (1976) argumentieren, dass es kein vereinendes Gleichgewicht auf dem Versicherungsmarkt geben kann, da ein solches Gleichgewicht stets von einem Mitwettbewerber angegriffen werden kann.2 Ein konkurrierendes Unternehmen könnte z.B. einen Vertrag G im schraffierten Bereich anbieten. Bei diesem Vertrag G bekommen die guten Risiken weniger Versicherungsschutz (G liegt weiter weg von der Sicherheitslinie als E) zu niedrigeren Prämien (steilere Versicherungsgerade als ge). Im Punkt G stellen sich die guten Risiken besser, da hier eine höhere Indifferenzkurve erreicht wird. G wird folglich von den guten Risiken gegenüber E bevorzugt. Die schlechten Risiken bleiben weiterhin im Punkt E, da sie hier ein höheres Nutzenniveau erreichen als im Punkt G. Es gelingt somit dem Konkurrenten, die guten Risiken zu sich zu ziehen und so im Erwartungswert sogar einen Gewinn zu erzielen3, während die schlechten Risiken beim betrachteten Versicherungsunternehmen verbleiben. Aus dessen Sicht passiert eine negative Auslese (adverse selection). Damit verschiebt sich die Zusammensetzung des Versichertenbestands in Richtung schlechter Risiken, und Mischverträge entlang der Versicherungsgerade ge machen im Erwartungswert Verlust und werden kurz- oder langfristig aus dem Markt zurückgezogen.

2 3

Vgl. Rothschild und Stiglitz (1976, S. 634 f.) sowie Kim und Schlesinger (2005, S. 68). Der Gewinn fiir den Versicherer resultiert aus der Tatsache, dass der Punkt G unterhalb der Versicherungsgerade g" liegt.

372

Florian Drevs und Tristan Nguyen

4. Versicherung bei Unkenntnis der Risikotypen (trennendes Gleichgewicht) Das Versicherungsunternehmen kann versuchen, aus dem Umfang der Versicherungsnachfrage des Versicherungsnehmers Rückschlüsse auf seine Risikoklasse zu ziehen. Erfahrungsgemäß wollen sich die schlechten Risiken eher einen umfangreicheren Versicherungsschutz kaufen. Das Versicherungsunternehmen bietet mit der Vertragskombination (B, H) trennende Versicherungsverträge (separating contracts) an:4 • Bei Vollversicherung (Punkt B) wird nun die Prämie gemäß der Versicherungsgerade gh verlangt. • Bei teilweisem Versicherungsschutz (Punkt H) wird die Prämie gemäß der Versicherungsgerade g" berechnet. Abbildung 4: Trennendes Gleichgewicht bei Unkenntnis der Risikotypen

Der Umfang des teilweisen Versicherungsschutzes (Punkt H) muss so bemessen sein, dass die beiden Verträge B (Vollversicherung und hohe Prämie) und H (teilweiser Versicherungsschutz und niedrige Prämie) für die schlechten Risiken auf der gleichen Indifferenzkurve liegen. Die schlechten Risiken würden sich für die Vollversicherung (Vertrag B) entscheiden, sobald der Versicherungsschutz etwas geringer ist als im Punkt H. Mit dieser Vertragskonstruktion würde den Versicherern gelingen, die schlechten Risiken von den guten Risiken zu separieren {separating contracts). Aus Abbildung 4 ist ersichtlich, dass sich die guten Risiken bei allen Deckungsgraden zwischen H und C besser stellen würden als mit dem Vertrag H. Jedoch darf das Versicherungsunternehmen keine höheren Deckungsgrade als im Punkt H anbieten, da diese dann von den schlechten Risiken abgeschlossen würden. Im Punkt H liegt somit der trennende Deckungsgrad. 4

Rothschild und Stiglitz argumentieren, dass das trennende Gleichgewicht in der dargestellten Form das einzig mögliche Marktgleichgewicht bei asymmetrischer Informationsverteilung bzgl. der Risikotypen darstellt. Vgl. Rothschild und Stiglitz (1976, S. 636 f.).

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

373

III. Flat-Rate-Bias und Versicherungsnachfrage Aus den obigen versicherungsmathematischen Überlegungen ist erkennbar, dass es dem Versicherungsunternehmen mit den trennenden Verträgen B und H gelingen kann, die guten Risiken von den schlechten Risiken zu trennen und damit die Versicherungstarife risikogerechter zu kalkulieren. Dies war auch die Idee, die hinter dem GKVWettbewerbsstärkungsgesetz im Jahr 2007 steckte. Bislang hat jedoch lediglich 1 % der gesetzlich Versicherten einen Kostenbeteiligungstarif (= Tarif H in Abbildung 4) anstelle eines Tarifs mit voller Kostendeckung (= Tarif B in Abbildung 4) gewählt. Diese Beobachtung könnte auf den sogenannten Flat-Rate-Bias bei der Versicherungsnachfrage zurückzuführen sein. Auf Basis einer empirischen Studie unter deutschen Versicherten zeigen wir nun, dass bei den guten Risiken eine Art Vollkaskomentalität herrscht und damit ein Flat-Rate-Bias bei der Wahl von Krankenversicherungstarifen besteht. Diese Versicherten wählen einen Tarif mit voller Kostendeckung anstelle eines Bonustarifs, obwohl dieser aufgrund der geringen Häufigkeit einer Leistungsinanspruchnahme finanziell unvorteilhaft ist.

1. Studiendesign und Datengrundlage Um die Existenz eines Flat-Rate-Bias im Nachfrageverhalten der Versicherten nachzuweisen, wurde eine empirische Untersuchung durchgeführt. Mittels Quotenverfahren wurden insgesamt 200 deutsche gesetzlich Versicherte, repräsentativ für die Deutsche Bevölkerung im Alter zwischen 24 und 55 Jahren, nach den Quotenmerkmalen Alter, Geschlecht für eine persönliche Befragung ausgewählt. Es wurde sich auf diese Altersgruppe fokussiert, da diese aufgrund ihres Gesundheitsstatus die relevante Zielgruppe für Wahltarife einer Krankenversicherung darstellt. Dies kann von Studien, die eine gesundheitsökonomische Evaluation von Wahltarifen im GKV-System vorgenommen haben, abgeleitet werden (Hemken 2011; Pütz und Hagist 2006). Um die Auswirkungen des Flatrate-Bias auf die Versicherungsnachfrage zu untersuchen, sollten sich die Befragten in eine hypothetische Entscheidungssituation hineinversetzen, was methodisch auch als Szenariotechnik bezeichnet wird (Smith et al. 1999). Als gesetzlich Versicherter wurde man in dem Szenario vor die Entscheidung gestellt, für das kommende Jahr entweder einen Tarif mit voller Kostendeckung oder einen Wahltarif beim gleichen Versicherungsunternehmen mit identischen Leistungsumfang zu wählen. Als Entscheidungsgrundlage dienten die Beschreibung der relevanten Tarifmerkmale sowie ein Abrechnungsbeispiel, in dem für den Fall der Inanspruchnahme von drei Leistungen beschrieben ist, welche versichertenseitigen finanziellen Konsequenzen sich dadurch ergeben würden. Die in der Studie verwendeten Tarifkonditionen und Abrechungsmodalitäten finden sich im Anhang. Um zu überprüfen, ob die Befragten die Tarifmodalitäten eines Wahltarifs richtig verstanden haben, sollten die Studienteilnehmer zunächst aufgrund ihrer Angaben zu ihren erwarteten Leistungsausgaben im kommenden Jahr angeben, ob sich bei Wahl des beschriebenen Wahltarifs für sie persönlich ein Verlust oder ein Gewinn ergeben und in welcher Höhe dieser ausfallen würde. Dadurch wurde gewährleistet, dass die Befragten die Berechnungslogik angewendet und nachvollzogen haben. Aufgrund der Tarifmoda-

374

Florian Drevs und Tristan Nguyen

litäten des beschriebenen Bonustarifs ergibt sich bei der Inanspruchnahme von weniger (mehr) als acht kostenbeteiligungspflichtigen Leistungen eine Beitragsrückerstattung (Nachzahlung). Damit lohnt sich die Wahl eines Bonustarifs anstelle eines Tarifs mit voller Kostendeckung für einen Versicherten, der jährlich nicht mehr als sieben kostenbeteiligungspflichtige Leistungen in Anspruch nimmt. 79 % der Befragten gaben ein richtiges Ergebnis zum möglichen Gewinn bzw. Verlust an. Bei den weiteren Auswertungen wurden nur Befragte (N=168), welche die Tarifbedingungen richtig verstanden haben, einbezogen. 5 Nach der Beschreibung der Entscheidungssituation und der Kontrollfragen sollten die in der Studie befragten Versicherten angeben, ob sie sich für das kommende Jahr für den Tarif mit voller Kostendeckung oder den Wahltarif entscheiden würden unter der Berücksichtigung des eigenen Schadenrisikos. Um das Schadensrisiko zu erfassen, sollten die Befragten die durchschnittliche Anzahl Leistungen angeben, die sie über ihre Krankenversicherung in Anspruch nehmen würden und zu einer Kostenbeteiligung im Wahltarif führen würde (vgl. Schellhorn 2001/2002; Werblow 2002). Auf 7er-RatingSkalen (1 = „Stimme gar nicht zu" bis 7 = „Stimme voll und ganz zu" bzw. 1 = „sehr schlecht" bis 7 = „sehr gut") wurde der Flat-Rate-Bias über vier Fragebogenitems abgefragt. Aus diesen Items wurde bei der weiteren Datenanalyse ein Index gebildet. Die interne Konsistenz der Skala zeigt einen Wert größer 0,7 (Cronbachs Alpha: 0,845). Das wahrgenommene finanzielle Risiko bei Wahl des Bonustarifs wurde als Proxy für das Einkommen auf einer Skala von 1 = „sehr niedrig" bis 7 = „sehr hoch" erhoben, da es bei der Abfrage des Einkommens typischerweise zu einer hohen Anzahl Antwortverweigerer kommt. Die verwendeten Fragebogen-Items finden sich im Anhang. Abschließend sollten die Befragten ihr Alter und Geschlecht angeben. Das Durchschnittsalter im Sample beträgt 41 Jahre, 50 % der Befragten sind weiblich. Im Durchschnitt nehmen die an der Studie beteiligten Befragten 4,65 (SA: 3,34) Leistungen pro Abrechnungsjahr in Anspruch, die zu einer Kostenbeteiligung im Bonustarif führen würden.

2. Ergebnisse Bei der rein deskriptiven Betrachtung zeigt sich, dass sich 39 % der Befragten für den in im Entscheidungsszenario beschriebenen Wahltarif entschieden haben. Betrachtet man das Tarifwahlverhalten der befragten Versicherten unter Berücksichtigung der individuellen durchschnittlichen Inanspruchnahme kostenbeteiligungspflichtiger Leistungen, so wird bereits anhand der rein deskriptiven Betrachtung sichtbar, dass gute Risiken, obwohl finanziell nicht vorteilhaft, den Tarif mit voller Kostendeckung anstelle des Bonustarifs wählen würden (siehe Tabelle 1). Zwar sinkt der Anteil Versicherter mit einem Tarif mit voller Kostendeckung mit abnehmender Leistungshäufigkeit, jedoch wählen mit 47 % der Versicherten fast die Hälfte der Befragten mit einer guten Risikostruktur (0-2 Leistungen) den Tarif mit voller Kostendeckung.

5

Der Ausschluss dieser Befragten macht vor dem Hintergrund Sinn, dass in der Realität aufgrund weitgehender Aufklärungspflichten der Versicherungsuntemehmen davon ausgegangen werden kann, dass alle Versicherten über die Abrechnungsmodalitäten informiert sind.

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

• 375

Tabelle 1: Anteil der Befragten im Tarif mit voller Kostendeckung Leistungen pro Jahr 6

Wahl des Tarifs mit voller Kostendeckung

Anzahl Befragter

0-2 Leistungen

47%

24

2-4 Leistungen

49%

20

4-6 Leistungen

56%

18

6-8 Leistungen

83%

19

8-10 Leistungen

100 %

12

Mehr als 10 Leistungen

100%

7

Insgesamt

61 %

100

Zur Untersuchung des Einflusses des Flat-Rate-Bias auf die Versicherungsnachfrage wurde eine logistische Regression durchgeführt (siehe Tabelle 2), bei dem der FlatRate-Bias als auch die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Leistungen als unabhängige Variablen neben den sozio-demographischen Variablen Alter und Geschlecht in das Modell eingehen. Die durchschnittliche Leistungsinanspruchnahme wurde in das Modell mit einbezogen, da sich die finanzielle Vorteilhafitigkeit der Nachfrage nach einem Wahltarif vor allem aus der individuellen Schadenswahrscheinlichkeit des Versicherten ergibt. Als Proxy für das Einkommen der Versicherten wurde das finanzielle Risiko als unabhängige Variable in das Modell aufgenommen. Die Versicherungsnachfrage wurde über eine binäre Variable im Modell nachgebildet. Die Absicht zur Wahl des Tarifs mit voller Kostendeckung (y = 0) und die Absicht, sich für den Wahltarif zu entscheiden (y = 1), stellen die Ausprägung dieser abhängigen Variable dar. Die Erklärungskraft der logistischen Regression ist substanziell (x2(5;0,99) =56,440, p < 0,001, -2Log-Likelihood = 74,404, Nagelkerkes R 2 = 0,599, korrekte Klassifikation = 77,9 %). Der Anteil richtig klassifizierter Entscheidungen liegt über dem Maximum-Chance Kriterium (MCC) und dem Proportional-Chance Kriterium (PCC).

6

Selbst berichtete durchschnittliche Anzahl kostenbeteiligungspflichtiger Leistungen, die der Befragte pro Abrechnungsjahr in Anspruch nimmt.

376 •

Florian Drevs und Tristan Nguyen

Tabelle 2: Logistische Regression zur Wahrscheinlichkeit für den Wahltarif Koeffizient 7

Odds ratio

Konstante

6,137(1,756)***

462,709

Flat-Rate-Bias

-1,033 (0.241) ***

0,356

Häufigkeit der Leistungsinanspruchnahme

-0,239 (0.115)**

0,788

Wahrgenommenes finanzielles Risiko

-,126(1.756)

0,881

Alter

,018(0,034)

1,1018

Geschlecht (1 = männlich, 0 = weiblich)

-,002 (0,598)

0,998

Log-likelihood

74,404

Cox and Snell's R-Squared

0,448

Nagelkerke's R-Squared

0,599

Correct Classification

77,9 %

MCC

60,5 %

PCC

72,75 %

Es zeigt sich, dass entsprechend der modelltheoretischen Vorüberlegungen mit steigender Schadenswahrscheinlichkeit die Wahrscheinlichkeit zur Wahl eines Tarifs mit voller Kostendeckung steigt. Dies deckt sich auch mit früheren Studien, nach denen die Höhe der Leistungsausgaben der Vorperiode einen negativen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, einen Tarif mit Kostenbeteiligung zu wählen {Werblow und Felder 2003). Der Flat-Rate-Bias eines Versicherten hat, wie postuliert und unabhängig vom Risikotyp, einen signifikant negativen Einfluss auf die Versicherungsnachfrage nach einem Wahltarif.

IV. Schlussfolgerungen Der Gesetzgeber hat den gesetzlichen Krankenversicherungen das Angebot von Tarifen mit Kostenbeteiligung mit dem Ziel ermöglicht, mehr privatwirtschaftliche Instrumente im Wettbewerb im GKV-System zuzulassen. Unter Berücksichtigung der modelltheoretischen Überlegungen müsste sich bei versicherungsmathematisch richtiger Kalkulation dieser neuen Wahltarife ein trennendes Gleichgewicht auf dem Markt für gesetzliche Krankenversicherungen ergeben. Dies würde sich dadurch auszeichnen, dass sich gute Risiken unter den gesetzlichen Versicherten in die Wahltarife selektieren würden, schlechte Risiken im Tarif mit voller Kostendeckung verbleiben würden. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass in einer hypothetischen Entscheidungssituation eine deutlich höhere Anzahl Befragter sich für einen Wahltarif als für einen Tarif mit voller Kostendeckung entscheidet als in der Realität. Zum Zeitpunkt der Studie waren nur 0,77 % der gesetzlich Versicherten in Wahltarifen versichert. Die hohen Akzeptanzwerte stehen im Einklang mit bereits bestehenden SurveyStudien zu Wahltarifen in der GKV, in denen eine ähnlich hohe Akzeptanz der Wahlta7

* p < . 1 0 ; **p < .05; ***p < .00. Standardabweichungen sind in Klammem.

Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

377

rife unter deutschen Versicherten (z. B. Ullrich et al. 1994; Zok 2003; VFA 2003) nachgewiesen werden kann. Die Art der Befragung in den genannten Studien muss jedoch kritisch bewertet werden. Anders als bei der eigenen Studie wurden mehrheitlich nur reine Akzeptanzwerte bei den Versicherten erhoben, ohne detaillierte Tarifkonditionen für die Versicherten darzustellen. Mit zunehmender Konkretisierung der Tarifbedingungen in den Wahltarifen sinkt jedoch die Akzeptanz dieser Tarife, wie folgender Studienvergleich zeigt. Im Rahmen der Studie von VFA (2003) hatten die Versicherten beispielweise einen Tarif zu bewerten, bei dem die Beitragssenkung und Höhe der Kostenbeteiligung nicht genauer konkretisiert wurde. Es ergab sich eine Zustimmungsquote von 53 %. Dagegen fiel die Akzeptanz gegenüber dem TarifVorschlag von Brinkmann und Schnee (2003) bei der Befragung im Rahmen des Gesundheitsmonitors 2003 mit 30 % deutlich niedriger aus. Dieser Tarif zeichnete sich dadurch aus, dass dem Versicherten eine unspezifizierte Beitragssenkung in Aussicht gestellt wurde, dafür aber eine Kostenpauschale von 15 € pro Arztbesuch anfallen würde. Zok (2003) begründet dieses Phänomen damit, dass die Versicherten zwar einer höheren Wahlfreiheit grundsätzlich positiv gegenüberstehen, jedoch bei der Wahrnehmung eines persönlichen finanziellen Risikos von den Tarifoptionen eher abgeschreckt werden. Zum anderen versäumen es die Studien, die Versicherten vor eine Wahlentscheidung zu stellen. In der Realität vergleichen Versicherte die finanzielle Vorteilhafitigkeit der Bonustarife im Vergleich zu den herkömmlichen Tarifen mit voller Kostendeckung (Braun und Muermann 2004). Daher wurden die Versicherten in der vorliegenden Untersuchung vor die Wahl zwischen einem Tarif mit voller Kostendeckung und einem Wahltarif mit Kostenbeteiligung gestellt. Dabei haben sich über das gesamte Sample hinweg 39 % der Befragten für den Wahltarif entschieden. Dieser im Vergleich zu der tatsächlich zu beobachtenden Versicherungsnachfrage in den gesetzlichen Krankenversicherungen deutlich höhere Wert kann dadurch erklärt werden, dass es sich zum einen um eine hypothetische Entscheidungssituation ohne finanzielle Konsequenzen für den Versicherten gehandelt hat. Zum anderen besteht das befragte Versichertensample aus Befragten mit vergleichsweise guter Risikostruktur. Diese Zielgruppe wurde bewusst gewählt, um die Präferenzen von Versicherten zu erfassen, für die ein Wahltarif finanziell überhaupt vorteilhaft sein könnte. Mit zunehmender Häufigkeit der Inanspruchnahme von kostenbeteiligungspflichtigen Leistungen sinkt erwartungsgemäß die Wahrscheinlichkeit einen Wahltarif zu wählen, was auch die Ergebnisse der eigenen Untersuchung bestätigen. Der zentrale Erkenntnisgewinn der Studie besteht jedoch darin, dass unter Versicherten bei der Wahl zwischen einem Tarif mit voller Kostendeckung und einem Tarif mit Kostenbeteiligung ein Flat-Rate-Bias existiert, der unabhängig von zusätzlichen anderen Einflussfaktoren, die Wahrscheinlichkeit einen Tarif mit voller Kostendeckung zu wählen erhöht. Ein großer Teil Versicherter mit guter Risikostruktur wählt danach einen Tarif mit voller Kostendeckung anstelle eines Bonustarifs, obwohl diese Überversicherung aufgrund des geringen Schadensrisikos finanziell unvorteilhaft ist. Der Flat-RateBias könnte somit erklären, warum zum Zeitpunkt der Studie nur 0,77 % der gesetzlich Versicherten in Deutschland in einem Wahltarif mit Kostenbeteiligung versichert ist.

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Florian Drevs und Tristan Nguyen

Folgende Implikationen für Versicherungsunternehmen können auf Basis der Ergebnisse gegeben werden: Die Tarife bei gesetzlichen Krankenversicherungen werden bisher versicherungsmathematisch ohne Berücksichtigung des Flat-Rate-Bias kalkuliert, da in diesen Tarifen sowohl die schlechten als auch die guten Risiken versichert sind. Die vorliegenden Forschungsergebnisse implizieren, dass bei der Berücksichtigung des FlatRate-Bias aus aktuarieller Sicht im Tarif mit voller Kostendeckung höhere Beiträge fällig werden müssen bzw. der Bonustarif attraktiver gestaltet werden müsste, um die guten Risiken von den schlechten Risiken zu trennen. Der gesundheitspolitisch gewünschte Effekt von mehr Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung durch das Angebot von Wahltarifen mit Kostenbeteiligung kann nur unter diesen Umständen seine Wirkung entfalten. Daher sollten gesetzliche Krankenversicherungen den FlatRate-Bias in der Kalkulation der Tarife stärker berücksichtigen.

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Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen

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Florian Drevs und Tristan Nguyen

Anhang Darstellung der Abrechnungsmodalitäten eines typischen Wahltarifs mit Kostenbeteiligung im Vergleich zum Tarif mit voller Kostendeckung. Beispiel eines Wahltarifs mit Kostenbeteiligung (Jährliche Beitragszahlung unverändert) Anzahl durch den Versicherten in Anspruch genommener Leistungen mit Kostenbeteiligung/Jahr

Jährlicher Rückerstattungsbetrag/ Nachzahlungsbetrag für den Versicherten

Jährliche Ersparnis bzw. Mehrkosten des Wahltarifs gegenüber einem Tarif mit voller Kostendeckung

Jährliche finanziell äquivalente Ersparnis bzw. Mehrkosten für den Versicherten

0

240 €

240 €

1

210 €

210 €

2

1806

180 €

3

150 €

150 €

4

120 €

120 €

5

90 €

90 €

6

60 €

60 €

7

30 6

30 €

8

oe

0€

9

-30 €

-30 €

10

- 60 €

- 60 €

11

- 90 €

- 90 €

12

-120 €

-120 6

13 und mehr

-120 6 (Kostendeckelung)

-120 € (Kostendeckelung)

Weitergehende Erläuterungen zu den Tarifmodalitäten: Bei einem Wahltarif mit Kostenbeteiligung wird im Vergleich zu einem Tarif mit voller Kostendeckung eine zusätzliche Kostenbeteiligung fallig, welche als eine konstante Kostenpauschale ausgestaltet ist und pro Arztbesuch, Krankenhaustag und Rezept wirksam wird. Vorsorgeuntersuchungen sind davon ausgeschlossen. Der von der Versicherung abgedeckte Leistungsumfang, die Vertragsdauer und die Serviceleistungen sind deckungsgleich. Gestaltungsspielräume bestehen für den Versicherer bei der Höhe der Kostenbeteiligungskomponente und der Anreizkomponente. Im beispielhaften Wahltarif wird dem Versicherten eine Beitragsrückerstattung in Höhe von 240 € am Ende des Abrechnungsjahres ausgezahlt. Der Versicherte zahlt den regulären Beitragssatz. Die Kostenbeteiligung in Höhe von 30 € pro Leistungsfall wird mit der anfänglichen Beitragsrückerstattungshöhe verrechnet, so dass sich bei weniger (mehr) als 8 Leistungsfällen eine Beitragsrückerstattung (Nachzahlung) ergibt. Am Ende des Abrechnungsjahres wird die sich ergebende Beitragsrückerstattung dem Versi-

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• 381

cherten ausgezahlt, die Nachzahlung ist am Ende der Periode an die Versicherung zu zahlen und ist gedeckelt auf maximal 120 €/Jahr. Damit ergeben sich in Abhängigkeit von der Anzahl in Anspruch genommener kostenbeteiligungspflichtiger Leistungen für den Versicherten eine Ersparnis bzw. Mehrkosten gegenüber dem Tarif mit voller Kostendeckung. Fragebogenitems der Studie Variable

Frageitem Der Tarif mit voller Kostendeckung ist viel besser, da ich bei diesem Tarif nicht darüber nachdenken muss, ob ich eine medizinische Leistung in Anspruch nehme oder nicht (Bequemlichkeitseffekt).

Flat-Rate-Bias Vgl. Lambrecht und Sklera 2006)

In einem Tarif mit voller Kostendeckung würde ich mich bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sehr viel freier und unbefangener als im Wahltarif fühlen (Taxametereffekt). Ich wäre mit dem Tarif mit voller Kostendeckung sehr zufrieden, selbst wenn dieser für mich teurer wäre als der Wahltarif, weil meine Kosten dann nie höher sind als der monatliche Versicherungsbeitrag (Versicherungseffekt). Für die Sicherheit, dass im Tarif mit voller Kostendeckung neben dem monatlichen Beitrag keine weiteren Kosten anfallen, zahle ich gerne mehr (Versicherungseffekt).

Wahrgenommenes finanzielles Risiko

Wie hoch schätzen Sie das finanzielle Risiko des Bonustarifs ein?

Zusammenfassung Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz können die gesetzlichen Krankenversicherungen seit 2007 Tarife mit einer Kostenbeteiligung anbieten. Bei diesen optional zu den Tarifen mit voller Kostendeckung wählbaren Tarifen wird der Versicherte im Leistungsfall finanziell an den Kosten beteiligt. Im Gegenzug profitiert der Versicherte von Beitragsrückerstattungen. Ein wichtiges Ergebnis aus der versicherungswissenschaftlichen Theorie besagt, dass es den Versicherern durch die Wahl eines sog. Trennungsgrads gelingt, die guten und die schlechten Risiken voneinander zu trennen und damit das Problem der adversen Selektion zu lösen. Bislang hat jedoch lediglich 1 % der gesetzlich Versicherten in Deutschland einen Kostenbeteiligungstarif anstelle eines Tarifs mit voller Kostendeckung gewählt. Diese Beobachtung könnte auf den sog. Flat-Rate-Bias bei der Versicherungsnachfrage zurückzufuhren sein. Auf Basis einer empirischen Studie unter deutschen Versicherten zeigen wir, dass bei den guten Risiken eine Art Vollkaskomentalität herrscht und damit ein Flat-Rate-Bias bei der Wahl von Krankenversicherungstarifen besteht. Bei der Berücksichtigung des Flat-Rate-Bias müssten aus aktuarieller Sicht im Tarif mit voller Kostendeckung höhere Beiträge fallig werden bzw. der Bonustarif attraktiver gestaltet werden, um die guten Risiken von den schlechten Risiken zu trennen.

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Florian Drevs und Tristan Nguyen

Summary: Adverse Selection Light - How can flat-rate bias influence insurance demand With the GKV-Wettbewerbsstarkungsgesetz in 2007, German public health insurance can offer insurance tariffs with a cost sharing. The insured at these cost sharing tariffs participates at the costs in the insurance case. In return, the insured profits from contribution refunds. An important result from the insurance theory says that the insurers manage to separate the good and the bad risks from each other and to solve the problem of the adverse selection by the choice of so-called separating contracts. However till now merely 1 % of the insured in Germany has chosen a cost sharing tariff instead of a tariff with full insurance. This observation could be led back on the so-called flat rate bias in insurance demand. Based on an empirical study under German insured we show that due to the flat rate bias the good risks still choose a tariff with a full insurance even though this rate is theoretically not optimal for them. Taking this into consideration, insurance companies must require higher premiums for full insurance and give more incentives for cost sharing tariffs in order to separate the good risks from the bad risks.

Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Erich Weede

Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik1 Inhalt I. II. III. IV.

Einleitung Merkmale menschlichen Denkens und wissenschaftlicher Forschung Wissenschaft und Politik Ökologie als Religionsersatz

385 386 392 398

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Truth and Certainty; Stabilizing the Climate and Politics

401

I. Einleitung Viele Menschen haben Angst davor, dass menschliches Handeln durch Kohlendioxidemissionen und vielleicht auch andere Treibhausgase zu einer Erwärmung der Erdatmosphäre führen könnte, dass die Veränderung des Klimas die Wirtschaftskraft vieler Gesellschaften und die menschliche Lebensweise beeinträchtigen könnten (World Bank 2009). Weil Klimaveränderungen und die denkbare menschliche Verantwortung dafür ein naturwissenschaftliches Problem darstellen, muss ich als Sozialwissenschaftler zunächst einmal meine mangelnde Urteilskompetenz eingestehen. Aber offensichtlich sind nicht alle Naturwissenschaftler der Meinung, dass wir aus Gründen des Klimaschutzes unser Leben ändern müssen. Der Physiker Lüdecke (2008, S. 5) betont vor allem die Grenzen des menschlichen Wissens über das Klima: „Niemand bezweifelt ernsthaft, dass Klimawandel stattfindet, CO2 ein Treibhausgas ist und anthropogenes CO2 einen Einfluss auf Klimawerte ausübt. Die Frage ist nur, ob dieser Einfluss maßgeblich und gefährlich ist. [...] Die Ursachen von Klimawandel sind unsicher und weitgehend unbekannt." Noch deutlicher werden Fred Singer (2008) und seine Kollegen in ihrem Buch: „Die Natur, nicht menschliche Aktivität, bestimmt das Klima", Olson (2010) in seinem „Handbuch der Klimalügen" oder Spencer (2010) in seinem Buch „The Great Global Warming Blunder". Varenholt und Lüning (2012) gestehen zwar eine Erwärmungswirkung von CO2 zu, betonen aber die Effekte der Sonne und ozeanischer Zyklen, die die Erwärmungswirkung von CO2 in den kommenden Jahrzehnten neutralisieren und damit der Menschheit Zeit bei der Senkung der C02-Emmissionen geben, die sie auf lange Sicht durchaus auch für notwendig erachten.

'

Eine Kurzfassung dieses Manuskripts hatte ich am 23. Juni 2012 bei den Hayek-Tagen in Bayreuth vorgetragen.

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Erich Weede

Weil nach der dominanten Auffassung der Klimaforscher2 die nördlichen Industriegesellschaften Hauptverursacher des Problems, die eher südlichen Entwicklungsländer aber Hauptleidtragende des Problems sein könnten, wird eine Problembewältigung nicht ohne sozialwissenschaftlichen Sachverstand möglich sein. Wenn Verursacher und Leidtragende eines Problems auseinanderfallen, dann ergeben sich offensichtlich Interessenkonflikte unter den Menschen und Staaten.3 Damit sind wir bei der Zuständigkeit der Sozialwissenschaften. Weil das Problem des Klimawandels sowohl natur- als auch sozialwissenschaftliche Fragen aufwirft, halte ich es für sinnvoll, zunächst einmal die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlicher Aussagen überhaupt zu stellen4 und zu fragen, worauf sich Politik bei wissenschaftlicher Beratung einlässt, auch wie man die Qualität wissenschaftlicher Beratung durch die Politik verbessern kann.

II. Merkmale menschlichen Denkens und wissenschaftlicher Forschung Manche Laien glauben, dass Wissenschaftlichkeit so etwas wie Gewissheit über den Besitz der Wahrheit garantiert. Mit Popper (1969a) halte ich das für einen Irrtum. Verifikation oder endgültige Beweise sind in den empirischen Wissenschaften unmöglich egal ob man dabei an Klimaforschung und Physik oder auch an Ökonomik und Psychologie denkt. Wissenschaftler können bestenfalls Theorien und Hypothesen aufstellen und diese überprüfen. Als „bewährt" oder „zur Zeit gültig" gelten dann Hypothesen oder Theorien, die bisher der Falsifikation entgangen sind. Das schließt in keiner Weise aus, dass dieselben Theorien in naher Zukunft falsifiziert werden. Außerdem ist durchaus denkbar, dass einander widersprechende Theorien gleichermaßen mit den Daten kompatibel sind. So beanspruchen nicht nur die Vertreter der dominanten Auffassung die Kompatibilität ihrer Theorie mit relevanten Daten, sondern auch der Klimaskeptiker

2

3

Mit dem Ausdruck „dominant" meine ich nur, dass diese Auffassung die öffentliche Diskussion beherrscht. Ob die dominante Auffassung auch die der Mehrheit der Fachleute ist, ist schon umstritten (iOlson 2010, S. 13-15). Wie in jeder Wissenschaft, kann man sicher auch hier über die Abgrenzung des Kreises der Sachkundigen streiten. Die europäische und insbesondere deutsche Vorreiterrolle beim sog. Klimaschutz bleibt auch dann merkwürdig, wenn man keine Zweifel an der Richtigkeit der Aussagen der dominierenden Klimapessimisten hat. Möglicherweise könnte Europa zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern des Klimawandels bzw. der Erwärmung gehören (Frondel 2011, S. 156). Außerdem kann die europäische Vorreiterrolle gleichzeitig teuer und unwirksam sein und die Anstrengungen anderer reduzieren. Das Kyoto-Protokoll hat erstens den schnell wachsenden und Kohlendoxid emittierenden Schwellenländern keine Verpflichtungen auferlegt, hat zweitens die Industrieländer als Gesamtheit nicht an einer Steigerung ihrer Emissionen gehindert und hätte drittens, im Falle der Einhaltung der vereinbarten Ziele (bei Unterstellung der Richtigkeit der dominanten Klimamodelle), auch kaum einen Effekt ge-

habt (Michaels 2011, S. 49 und 56). 4

Zwar gibt es Sozialwissenschaftler, die die methodologische Eigenständigkeit ihres Fachs bzw. ihrer Fächergruppe in Abgrenzung von den Naturwissenschaften behaupten, aber ich gehöre nicht dazu. Als kritischer Rationalist orientiere ich mich an Popper (1969a) oder Lakatos (1974) und erkenne die methodologische Vorbildfunktion der Naturwissenschaften für die Sozialwissenschaften ausdrücklich an. Bei Naturwissenschaft denke ich natürlich nicht primär an die noch verhältnismäßig junge Klimaforschung, sondern eher daran, dass in weiten Teilen der Naturwissenschaft das Experimentieren es erlaubt, einen höheren Grad der Gewissheit (aber nie perfekte Gewissheit) zu erreichen als in den Sozialwissenschaften.

Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik

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Spencer (2010). Aber selbst wenn es zu einer Zeit nur eine Theorie gibt, die mit den Daten kompatibel ist, sollte man vor allem dann, wenn keine Vielzahl konkurrierender Theorien ebenfalls gründlich untersucht und danach verworfen worden ist, daraus keine Gewissheitsansprüche für die eigene und bisher bewährte Theorie ableiten. Phantasielosigkeit ist keine Wahrheitsgarantie. Damit enden die grundsätzlichen Probleme der Wissenschaft noch lange nicht. Falsifikation kann nur dann unproblematisch und endgültig sein, wenn sie sich fehlerfreier Daten bedient. Fehlerfreie Daten sind zwar der Traum jedes Wissenschaftlers, aber im Alltag arbeiten wir meist mit Daten, von denen wir schon wissen, dass sie fehlerhaft und ungenau sind, und wünschen uns, dass die Messfehler nur zufällig sind und unsere Ergebnisse nicht allzu sehr verzerren. Bei der Klimaforschung sind städtische Wärmeinseln ein Beispiel für Datenprobleme. In Städten ist es meist wärmer als im Umland. Im Laufe der Zeit haben sich städtische Ballungsräume vergrößert, so dass Wetterstationen, die mal auf freiem Feld standen, sich später im städtischen Raum oder in Flugplatznähe befinden. Außerdem sind viele Messstationen vor allem in nördlichen Breiten, in Höhenlagen oder im ländlichen Raum in den letzten Jahrzehnten geschlossen worden (Varenholt und Lüning 2012, S. 152-153). Das sind alles potenzielle Fehlerquellen, die allerdings Satellitendaten nicht betreffen. Die dominante Richtung der Klimawissenschaft scheint allerdings eher am Verschweigen dieser Fehlerquellen als an der wissenschaftlichen Diskussion darüber in ihren Fachzeitschriften interessiert zu sein (McKitrick 2011b). Nur so kann man verstehen, dass Fachzeitschriften sich manchmal weigern, den Begutachtungsprozess auch nur in Gang zu setzen.5 In Anbetracht von Datenproblemen ist voreilige Falsifikation eigentlich wahrer Theorien also denkbar - genau wie voreiliges Akzeptieren von Theorien aufgrund weniger Tests. Eine weitere Komplikation besteht darin, dass wir nicht zuletzt aus der Geschichte der Naturwissenschaften ableiten können, dass alle Theorien unter Falsifikation oder Anomalien leiden. Für die Anhänger der dominanten und politisch korrekten Klimaforschung dürfte das Sinken von Temperaturen in Teilen des Pazifischen und Indischen Ozeans oder die zunehmende Eisbildung in der Antarktis eine solche Anomalie sein {Michaels 2011, S. 64-65; Varenholt und Lüning 2012, S. 161). Eine andere Anomalie ist die Diskrepanz zwischen stark ansteigenden Temperaturen in 1 bis 16 km Höhe über den Tropen in den Klimamodellen und der beobachteten Realität (McKitrick 2011, S. 72). Wir haben also nicht die leichte Wahl zwischen noch nicht falsifizierten (vulgo „bewährten") und schon falsifizierten Theorien, sondern die Wahl zwischen Theorien, die an unterschiedlichen Stellen mit der beobachtbaren Wirklichkeit in Konflikt geraten. Mit dem kritischen Rationalisten Albert (1977, S. 37) möchte ich also die Gleichsetzung von „Wissenschaftlichkeit" und „Gewissheit über den Besitz der Wahrheit" zurückweisen: „Die Rechtfertigung durch Rückgang auf ein sicheres Fundament beruht immer auf einer Illusion, allerdings auf einer solchen, die einem tief verwurzelten Bedürfnis entspringt: dem Bedürfnis nach Gewissheit, das man vom Erkenntnisdrang, dem 5

Das ist mir persönlich nur ein einziges Mal passiert, allerdings auch bei einem politisch inkorrekten Thema, nämlich dem erfolgreichen Versuch Unterschiede im Wirtschaftswachstum von Nationen u.a. auch durch Intelligenzunterschiede von Bevölkerungen zu erklären - ohne zum heißen Eisen der Vererbung von Intelligenz auch nur Stellung zu nehmen. Aussagen dazu benötigte meine Studie nicht. Sie konnte und wollte auch nichts zur Diskussion über die Erblichkeit der Intelligenz beitragen.

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Streben nach Wahrheit durchaus unterscheiden kann. Die beiden Dispositionen scheinen in ihren Konsequenzen letzten Endes unvereinbar zu sein." Mit Popper und Albert (1991, S. 43) möchte ich also jeden Unfehlbarkeitsanspruch in jeder Wissenschaft grundsätzlich zurückweisen. Unglücklicherweise neigen Menschen allerdings dazu, oft schnelle statt auf kritischer Analyse beruhende Urteile zu fällen. Nach dem Psychologen und Nobelpreisträger für Wirtschaft Kahneman (2011) kann man zwei Systeme - man könnte auch sagen: Arten - des menschlichen Denkens unterscheiden. Das erste System ist automatisch, assoziativ, intuitiv und schnell, das zweite ist bedächtiger, gründlicher, mühsamer und langsamer. Weil gründliches Denken mühsam ist, verzichten Menschen gern darauf. Wir fühlen uns wohler, wenn wir es nicht tun müssen. Bei Gruppen von Menschen und damit Gesellschaften kann es noch schlimmer werden. Einerseits kann die Tatsache, dass unabhängig von einander denkende Menschen verschiedene Fehler machen, dazu führen, dass bei vernünftiger Verarbeitung der Einzelbefunde6 ein fast allen Einzelurteilen überlegenes Gruppenurteil zustande kommt, weshalb Hofstätter (1971, S. 42) Gruppen als „potenziell allwissend" bezeichnet. Andererseits führt Übereinstimmung leicht zur subjektiven Gewissheit und zur Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Am schönsten wird das in älteren Experimenten zum autokinetischen Effekt {Hofstätter 1971, S. 58-59) illustriert. Die Versuchspersonen werden dabei in einen völlig verdunkelten Raum gesetzt, in dem ein kleiner und schwacher Lichtpunkt für eine kurze Zeit gezeigt wird. Weil die menschlichen Augenachsen nicht ganz still stehen können, entsteht auch bei objektiv feststehenden Lichtpunkten subjektiv der Eindruck, dass der Lichtpunkt sich bewege. In Einzelversuchen nehmen Versuchspersonen deshalb Bewegungen in alle möglichen Richtungen wahr. Im Gruppenversuch einigt man sich auch ohne Druck seitens des Versuchsleiters schnell auf eine bestimmte Bewegungsrichtung des objektiv unbeweglichen Lichtpunktes. Wir Menschen neigen zum Konsens, auch wo er falsch ist, und mögen diejenigen nicht, die ihn infrage stellen. Für die Wissenschaft ist dieses Konsensbedürfnis keine Stütze, sondern eine Gefahr, gegen die man ankämpfen muss. Auch die Übertragung politischer Entscheidungsverfahren, einschließlich der Demokratie, auf die Wissenschaft macht keinen Sinn (Varenholt und Lüning 2012, S. 286). Nicht nur in der Klimaforschung, aber auch dort passiert es immer mal wieder, dass Außenseiterprognosen ins Schwarze treffen und die dominante Forschungsrichtung sich geirrt hat. Außenseiter haben zuerst mit dem Ende der Erwärmung und einer leichten Abkühlung am Beginn des 21. Jahrhunderts gerechnet (Varenholt und Lüning 2012, vor allem S. 291 und 302). Wissenschaftler sind gegen das allgemein-menschliche Streben nach Gewissheit nicht immun. Auch mangelnde Sorgfalt ist in der Wissenschaft nicht unbekannt. Ein Gutachter berichtet von seiner Tätigkeit für das „Intergovernmental Panel on Climate Change" (IPCC), wo er auf einem ca. tausend Seiten langen Entwurf 293 Fehler und Mängel entdeckt hat (Varenholt und Lüning 2012, S. 8). Mangelnde Sorgfalt und Fehler sind sicher kein Alleinstellungsmerkmal des IPCC, aber dieses Gremium ist dagegen offensichtlich auch nicht gefeit. Merkwürdig ist jedenfalls, dass Fehler des IPCC tendenziell das Ausmaß, die Geschwindigkeit oder die Folgen des Klimawandels

6

Die vernünftige Verarbeitung der Einzelbefunde besteht im Wesentlichen darin, die Chance des Fehlerausgleichs (bei voneinander unabhängigen Fehlern) zu nutzen.

Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik

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übertreiben. Michaels (2011, S. 62-66) nennt das angebliche Abschmelzen der Himalaja-Gletscher, das Übersehen von Eisbildung in der Antarktis, die angeblich zunehmenden Stürme, die Überflutungsgefahr in den Niederlanden oder den Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge in Afrika als Beispiele. Die Zufallswahrscheinlichkeit dafür, dass man sich fünfmal in dieselbe Richtung irrt, ist nur 0,03. Beim IPCC gibt es noch eine Reihe zusätzlicher Gründe zur Sorge. Den bedeutsamsten Grund für meine Skepsis möchte ich dem Werk des Wissenschaftshistorikers Kuhn entnehmen. Im Gegensatz zu Popper oder Albert ist Kuhn kein Falsifikationist oder Fallibilist. Er zweifelt daran, dass die Wissenschaft, worunter er die Naturwissenschaft versteht, kontinuierlich voranschreitet. Für Kuhn (1976, S. 181) bieten am ehesten noch Institutionen und bestimmte Merkmale der wissenschaftlichen Gemeinschaft Anlass zur Hoffnung auf Erkenntnisfortschritt, für ihn „bietet das Wesen solcher Gemeinschaften fast eine Garantie dafür, dass sowohl die Anzahl der von der Wissenschaft gelösten Probleme wie auch die Exaktheit der einzelnen Problemlösungen immer weiter wachsen werden. Jedenfalls ist es das Wesen der Gemeinschaft, das, wenn überhaupt irgendetwas, eine solche Garantie bietet." Das Wesen der wissenschaftlichen Gemeinschaften charakterisiert Kuhn (1976, S. 175, 179-180) vor allem durch drei Merkmale bzw. Regeln: 1. „Trotzdem gibt es keine anderen Berufsgemeinschaften, in welchen die kreativen Arbeiten des einzelnen so ausschließlich an andere Mitglieder der Gruppe gerichtet ist und von diesen bewertet wird." 2. „Noch wichtiger ist, dass die Absonderung der wissenschaftlichen Gemeinschaft von der Gesellschaft es dem einzelnen Wissenschaftler erlaubt, seine Aufmerksamkeit auf Probleme zu konzentrieren, von denen er begründet annehmen darf, dass er sie lösen kann." Dieser Punkt ist deshalb so wichtig, weil damit die vermutete Lösbarkeit von Problemen die absolute Priorität vor der sozialen Dringlichkeit erhält. Die weitgehende Isolation der Wissenschaft von gesellschaftlichen und politischen Forderungen ist dabei als institutionelle Voraussetzung des Erkenntnisfortschritts gedacht. 3. „Eine der stärksten, wenn auch noch ungeschriebenen Regeln des wissenschaftlichen Lebens ist das Verbot von Appellen an Staatsoberhäupter oder die ganze Bevölkerung in Angelegenheiten der Wissenschaft." Wenn Kuhn mit seiner Analyse der institutionellen Voraussetzungen des Erkenntnisfortschritts recht hat, dann untergräbt die Politisierung der Forschung systematisch deren Erfolgsaussichten, dann war schon die Gründung des „Intergovernmental Panel on Climate Change" (IPCC) durch die Vereinten Nationen im November 1988 ein Fehler.7 Deshalb hat der Meteorologe Hans von Storch (2011, S. 32) die Klimawissenschaft vor „der Falle der eigenen Wichtigkeit" gewarnt und „die Einbettung von Wissenschaft in einen gesellschaftlichen Kontext" als „Gefängnis" bezeichnet. Deshalb ist Hai Lewis (2010) nach 67-jähriger Mitgliedschaft aus Protest gegen die Korruption der Wissenschaft durch das Geld und die Oberflächlich-

7

Nicht nur die Vertreter der dominanten oder IPCC-Auffassung, sondern auch Klimaskeptiker wie Spencer (2010) wenden sich inzwischen an die Öffentlichkeit. Ein schönes Beispiel für das unglückliche Zusammenspiel von politisch korrekter Klimawissenschaft und Politik liefert die Interpretation des Direktors des Umweltprogramms der Vereinten Nationen zur Landeinwärtsverlegung von Küstendörfern im pazifischen Vanuatu-Archipel. Für Töpfer war das Folge steigender Temperaturen und eines steigenden Meeresspiegels, tatsächlich lag es eher an Plattenverschiebungen (Varenholt und Liining 2012, S. 200-201).

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keit erzeugende Verquickung von Politik und Wissenschaft aus der „American Physical Society" ausgetreten. Auch von Kuhns (1976) Unterscheidung zwischen paradigmatischer und revolutionärer Wissenschaft kann man etwas lernen. In paradigmatischen Phasen herrscht ein gewisser Konsens, in revolutionären Phasen nicht. Dass Konsens keine Wahrheitsgarantie ist, kann man auch mit der Geschichte der Klimaforschung selbst illustrieren. In den 1970er Jahren überwog die Sorge vor einer neuen Eiszeit (Varenholt und Lüning 2012, S. 278 ff.) Gerade wenn man die Richtigkeit der heute dominierenden Auffassung unterstellt, war das eine abwegige und voreilige Vorstellung. Auch heute können Klimaforscher sich noch irren, zumal es durchaus Wissenschaftler gibt, die sich damals geirrt haben und heute zur dominanten Richtung gehören. Dass für die britischen Inseln und das Jahr 2020 sibirisches Klima vorhergesagt wurde (Michaels 2011, S. 1), hört sich heute recht unglaubwürdig an. Wenn Kuhns Vorstellung richtig ist, dass paradigmatische Phasen der Wissenschaft, in denen ein gewisser theoretischer und methodologischer Minimalkonsens vorliegt, und revolutionäre Phasen, in denen genau dieser Konsens überwunden wird, einander in der Wissenschaft ablösen können, dann muss man sich fragen, ob nicht die Gefahr besteht, dass über das Instrument des „peer review" die etablierten Wissenschaftler ein Machtinstrument in den Händen halten, das den wissenschaftlichen Fortschritt verlangsamen bzw. wissenschaftliche Revolutionen verzögern kann. Selbst Wissenschaftler können oder müssen gegenüber dem Erkenntnisfortschritt eine ambivalente Einstellung haben. Die Gründe dafür hat Homann (1988) sehr schön formuliert: „Die Handlungsmöglichkeiten des Menschen sind ganz wesentlich von seinem Wissen bestimmt, und Erkenntnisfortschritt verändert, erweitert diese Handlungsmöglichkeiten. Gewinnt nun irgendein Forscher neue Erkenntnisse, stellt er eine neue Theorie auf, dann verändert sich der Möglichkeitsraum auch derer, die aussteigen' möchten [...] denn durch Zuwachs an Erkenntnissen werden auch ihre bisherigen Kenntnisse und damit bisherigen Handlungsmöglichkeiten abgewertet'. Forschung ist jetzt übertrage ich J. A. Schumpeters bekannten Begriff zur Kennzeichnung des Kapitalismus auf die Wissenschaft - ein ständiger Prozess der schöpferischen Zerstörung', aus dem es kein ,Aussteigen' im Sinne eines Unbeteiligtseins gibt."

Die Illusion der Gewissheit durch Konsens vermittelt da einen trügerischen Schutz vor Überraschungen. In einem ganz anderen Zusammenhang hat auch Hayek (1961/2002, S. 63) die Einsicht in die Begrenztheit des menschlichen Wissens mit einem Plädoyer für individuelle Freiheit und damit implizit mit einem Recht auf Dissens verbunden: „Der Zweck der Freiheit ist daher, Gelegenheit für etwas seiner Natur nach Unvorhersehbares zu bieten: weil wir nicht wissen, welchen Gebrauch der Einzelne von seiner Freiheit machen wird, ist es so wichtig, dass sie allen gewährt wird, und sie ist um so wichtiger, je unvorhersehbarer der Gebrauch ist, den der Einzelne von ihr machen wird."

Das gilt nicht nur auf dem Markt, sondern auch in der Klimaforschung. Ob man traditionelle Produkte und Herstellungstechniken oder dominante Vorstellungen zur klimatischen Entwicklung infrage stellt, auf die Freiheit derer, die sich von anderen unterscheiden, kommt es an, wenn Fortschritt möglich sein soll.

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In der Wissenschaftssoziologie geht es häufig um die Frage, wie welche sozialen Normen den Erkenntnisfortschritt stützen können. Nach Merton (1973, 13. Kapitel) kommt es auf vier Normen an: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit (disinterestedness) und organisierten Skeptizismus. Universalismus verbietet vor allem, dass man von den Merkmalen der Anhänger einer Theorie auf die Gültigkeit der Theorie schließt. Früher gingen solche Fehlschlüsse oft von der Rassen- oder Klassenzugehörigkeit eines Theoretikers aus. Heutzutage halte ich den Rückgriff auf den fachlichen Hintergrund oder gar die Zugehörigkeit von Theoretikern zu bestimmten wissenschaftlichen Schulen für den wichtigeren Grund, die Norm des Universalismus zu missachten. Mit dem unglücklich gewählten Etikett „Kommunismus" meint Merton im Wesentlichen den Veröffentlichungszwang. Uneigennützigkeit ist sicher eine Eigenschaft, die Menschen schwer fällt. Konkret meint Merton damit vor allem den Verzicht auf Betrug und die Verfälschung von Forschungsresultaten. Aber auch der Verzicht von Herausgebern und Gutachtern wissenschaftlicher Zeitschriften darauf, Forschungsergebnisse zu unterdrücken, die ihren eigenen Auffassungen widersprechen, gehört dazu. Die Normen des Publikationszwangs und des organisierten Skeptizismus müssen Menschen dazu zwingen, so zu handeln, als ob sie uneigennützig und nur an der Wahrheit interessiert wären. Der Veröffentlichungszwang und die Offenheit für Kritik beziehen sich natürlich nicht nur auf die Schlussfolgerungen der eigenen Forschung, sondern auch auf die Datenbasis. Diese Nonnen sind schon eine Zumutung, denn man möchte zunächst einmal in Ruhe die Daten auswerten, bevor Andere von der eigenen Anstrengung bei der Erstellung von Datensätzen profitieren. Aber weil fehlerhafte Datenauswertung nur bei Zugänglichkeit der Daten entdeckt werden kann, ist es wichtig, Daten mit Rivalen zu teilen. Dadurch werden Beobachtungen und Erkenntnisse zu öffentlichen Gütern. Die Rivalität des Konsums verschwindet. Leider belegen die E-Mails der englischen „Climatic Research Unit" {Michaels 2011, S. 53), dass manche zur dominanten Richtung gehörende Forscher lieber Datensätze vernichten als sie wissenschaftlichen Konkurrenten zugänglich zu machen. Mit Fehlern in Publikationen oder aufgedeckten Datenfälschungen durch Konkurrenten kann man ja seinen Ruf ruinieren. Organisierter Skeptizismus funktioniert offensichtlich am besten bei einer Vielfalt von Theorien und Paradigmen, beim Verzicht darauf, Grenzen zwischen Fächern zu Grenzen der Kritik zu machen (was auch gegen die Norm des Universalismus verstoße), bei einer klaren Trennung zwischen zustimmungsbedürftigen Machthabern und Wissenschaftlern. Die Funktion der sozialen Normen in der Wissenschaft besteht letztlich darin, „außerwissenschaftliche Wertungen aus Wahrheitsfragen auszuschalten" (.Popper 1969b, S. 114-115). Selbst der weit verbreitete Versuch der Objektivierung des „peer review", indem man eine positive Bewertung eines eingereichten Aufsatzes durch eine Vielzahl von Gutachtern verlangt, ist nicht unproblematisch. Auch den Herausgebern wissenschaftlicher Zeitschriften fällt die Einhaltung der A/erfowschen Normen, vor allem der Uneigennützigkeit und des organisierten Skeptizismus, nicht immer leicht. Anders kann ich mir nicht erklären, dass drei klimawissenschaftliche Fachzeitschriften sich geweigert haben, einen Aufsatz mit Kritik an einem wichtigen, oft zur Stützung der dominanten Auffassung verwendeten Datensatz auch nur der Begutachtung zuzuführen (McKitrick

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2011b). Als gutachtender und begutachteter Sozialwissenschaftler hatte ich außerdem mehrfach den Eindruck, dass gerade auch krasse Unterschiede in der Beurteilung einer wissenschaftlichen Arbeit, beispielsweise einmal „hervorragend" und einmal „abwegig", ein Grund sein könnte, einen Beitrag zu veröffentlichen und einer breiten Öffentlichkeit vorzulegen, statt auf Grund von einmütigem, aber lauem Wohlwollen gepflegte Langeweile zu verbreiten. Auf eine solche Begutachtungspraxis bin ich in meinem wissenschaftlichen Leben allerdings nie gestoßen - weder als Gutachter noch als Einsender von begutachteten Aufsätzen. Weil sich die Wissenschaftsphilosophen vorwiegend mit den Naturwissenschaften und deren Geschichte beschäftigt haben, möchte ich hinzufügen, dass Skepsis statt Glaubensgewissheit oder Unterwerfung unter Autoritäten auch in den Sozialwissenschaften Voraussetzung für Erkenntnisfortschritt ist. Wie man etwa an der Anzahl der Nobelpreise ablesen kann, ist die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Universität Chicago eine besonders erfolgreiche Fakultät. Das kann man darauf zurückfuhren, dass der Geist dieser Fakultät von Forschern geprägt wurde, die radikale Infragestellung des wissenschaftlichen Status quo für ihre Aufgabe hielten {Nelson 2010, S. 183). Wie Spencer (2010, S. 120-121) beunruhigt mich deshalb: „The IPCC was never tasked to find alternative explanations for global warming. [...] The IPCC leadership has purposely avoided what is a fundamental tenet of scientific investigation: testing alternative hypotheses." Genau diese Vernachlässigung alternativer Erklärungsansätze werfen auch Varenholt und Lüning (2012) dem IPPC vor. In mir vertrauteren Wissenschaftsbereichen wie der Ökonometrie nennt man diese Vernachlässigung von anderen Determinanten eines Explanandums Spezifikationsfehler. Solche Fehler können zu ungerechtfertigter Akzeptanz oder zu ungerechtfertigter Zurückweisung von Hypothesen oder Theorien führen. Falls Varenholt und Lüning (2012, S. 32) mit ihrer Schätzung, dass die Sonne und ozeanische Oszillationen für mindestens den halben Erwärmungseffekt vom 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts verantwortlich sind, auch nur annähernd recht haben, müssen diese Effekte in Klimamodellen unbedingt berücksichtigt werden. 8

III. Wissenschaft und Politik Während Wissenschaft von Kritik und Zweifel lebt - vom Wissen, dass es Gewissheit über den Besitz der Wahrheit nicht gibt und geben kann verlangt die Politik eher die Unterdrückung von Zweifeln. Den Wissenschaftler muss es deshalb äußerst beunruhigen, dass das IPCC zuerst Zusammenfassungen für Politiker schreibt und erst danach die Fachberichte {Lüdecke 2008, S. 28). Es muss auch beunruhigen, dass durch die Zusammenarbeit von Politikern und der dominanten Strömung der Klimaforschung viel mehr Geld für die Erforschung denkbarer menschlicher als ebenfalls denkbarer natürlicher Determinanten der Erwärmung Ende des 20. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt worden ist {Spencer 2010, S. 157). Das mag gute Standespolitik für die dominante Richtung der Klimaforscher sein, aber eine positive Funktion für den Erkenntnisfortschritt kann diese ungewöhnliche Prozedur nicht haben. Wie auch immer erzeugte Ein8

Varenholt und Lüning (2012, S. 37) beklagen, dass die IPCC-Schätzungen den Einfluss der Sonne im Klimabericht von 2007 gegenüber dem von 2001 halbiert haben.

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stimmigkeit der Wissenschaft oder des sichtbaren Teils davon kann zwar politische Entscheidungen legitimieren, aber nur um den Preis der Gefährdung des Erkenntnisfortschritts. Je mehr natürliche Determinanten der Erwärmung nur von Außenseitern mit Hausmitteln erforscht werden, desto mehr bekommt der Konsens der Forscher einen üblen Beigeschmack. Nach Varenholt und Lüning (2012, S. 250) hat der klimapolitische Konsens schon einmal ein Forschungsprojekt des Europäischen Kernforschungszentrums in Genf verzögert, dessen Resultate den anthropogenen Beitrag zum Klimawandel relativieren könnten. In stark politisierten Forschungsbereichen müssen deshalb besondere Vorkehrungen getroffen werden, um Vielfalt sicherzustellen und voreiligen Konsens zu verhindern, etwa durch Bildung eines Teams B neben dem „Intergovernmental Panel on Climate Change". 9 Dessen Aufgabe könnte darin bestehen, die Arbeit des IPCC einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen, durchaus mit dem Ziel der Falsifikation der dort vertretenen Theorien. Oder mit dem Ziel zu zeigen, dass die Klimaerwärmung natürliche Ursachen hat. Das ist der Ansatz von Spencer (2010, S. 153), der nicht nur im Gegensatz zum IPCC glaubt, einen negativen (statt eines positiven) Feedback der CC^-Effekte belegen zu können, sondern außerdem mit den „Pacific Decadal Oscillations" und der Wolkenbildung eine alternative Erklärung für die Erwärmung am Ende des 20. Jahrhunderts anbietet, gleichzeitig - wieder im Gegensatz zum IPCC - auch eine leichte Abkühlung von den 1940er bis zu den 1970er Jahren erklären kann, und für die kommenden Jahrzehnte entweder eine Abkühlung oder höchstens gleichbleibende Temperaturen erwarten lässt. In gewisser Weise ist das „Nongovernmental International Panel on Climate Change" (NIPCC) so ein Team B (Singer 2008). Ich befurchte allerdings, dass das IPCC wesentlich mehr Ressourcen zur Verfugung hat als die private Konkurrenz, vor allem auch, dass das IPCC jüngeren Wissenschaftlern eher verlockende Karrierechancen bieten kann als die Konkurrenz. Möglicherweise benötigt man auch ein Team C, dass sich primär der Frage widmet, ob Anpassung an den Klimawandel (falls er kommt) oder der Versuch seiner Verhinderung preiswerter ist bzw. ob und welche Anpassungsstrategien denkbar seien. Nach Goklany (2008 und 2011) werden die Menschen auf absehbare Zeit besser leben, wenn das Wirtschaftswachstum nicht im Interesse des Klimaschutzes verlangsamt wird, sondern unerwünschte Nebenwirkungen - wie z.B. eine zunehmende Verbreitung der Malaria - direkt bekämpft werden. Szenarien mit katastrophalen Folgen des Klimawandels für die Menschheit im Allgemeinen und vor allem die Entwicklungsländer leiden unter drei Denkfehlern (Goklany 2011): Sie unterstellen gleichzeitig eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung der noch armen Länder als Emissionstreiber, aber übersehen, dass schnell reicher werdende arme Länder auch eine zunehmende Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel aufbauen. Zweitens ist es unrealistisch, ein Ende des technologischen Fortschritts zu unterstellen und damit eine konstante statt zunehmender Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel. Drittens übersehen die Befürworter von politischen Maßnahmen gegen den Klimawandel die Kostenseite ihrer Politik. Goklany (2011, S. 182) schätzt, dass Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen den Hunger verschärft und 9

In den 1970er und 1980er Jahren hatte ein Team B die Aufgabe, den gängigen strategischen Konsens in den USA über die sowjetische Bedrohung und Politik infrage zu stellen. An diesem Vorbild orientiert schlägt Hoffman (2010) vor, auch im „Krieg gegen den Terror" ein Team B zu bilden.

192.000 Menschen das Leben gekostet haben könnten. Diese Zahl liegt über der Schätzung der Weltgesundheitsorganisation für die gleichzeitigen Opfer des bisherigen Klimawandels. Nach Varenholt und Lüning (2012) sorgen die Veränderungen der Sonnenaktivität und ozeanische Zyklen dafür, dass wir beim Übergang zu Energien, die mit weniger CCVEmmissionen verbunden sind, einige Jahrzehnte Zeit haben. Entscheidend wäre es, den im Dunstkreis des IPCC einflussreichen Klimaforschern die Möglichkeit zu nehmen, implizite oder stillschweigende Kartelle der gegenseitigen Begünstigung bei Gutachten (peer review bei Forschungsanträgen und Publikationen) zu nehmen. Das Problem besteht natürlich nicht nur bei Klimaforschern, sondern immer und überall in der Wissenschaft.10 Gerade deshalb darf man den Klimaforschern keine Immunität gegenüber dieser allgemein-menschlichen Neigung unterstellen. Wenn die Politik die Konsensbildung in einem Wissenschaftsbereich fördert, dann ist das eine gefahrliche Strategie, die mich beunruhigt. Weil nicht auszuschließen ist, dass die IPCC-Klimaforscher recht haben, halte ich mehr finanzielle Mittel für die Klimaforschung für richtig. Allerdings wäre eine unparteiischere Förderung von Hauptströmung und Außenseitern wünschenswert (vgl. Varenholt und Lüning 2012, S. 17). Aber Gewissheit darüber, dass die Klimapessimisten um das IPCC recht haben, gibt es nicht. In internen E-Mails britischer Forscher konnte man folgendes lesen: „The fact is that we can't account for the lack of warming at the moment and it is a travesty that we can't... the data are surely wrong. Our observing system is inadequate (CATO Policy Report (1) 2010, S. 12)." Natürlich ist es denkbar, dass Widersprüche zwischen Theorie und Daten nicht auf falsche Theorien, sondern auf fehlerhafte Daten zurückzuführen sind. Aber wenn Wissenschaftler bei solchen Widersprüchen grundsätzlich so vorgingen, dann würde es unmöglich aus Erfahrung zu lernen, dann könnten falsche Theorien nie durch Erfahrung widerlegt werden, sondern könnten endlos überleben. Schlimmer noch als die (möglicherweise richtige, aber prinzipiell gefahrliche) Erklärung von Widersprüchen zwischen Theorie und Daten durch Datenkritik ist es, wenn man mit falschen Daten Panikmache erzeugt - wie mit dem angeblichen Abschmelzen der Himalajagletscher in nur 25 Jahren (von Rauchhaupt 2010, S. 29; Varenholt und Lüning 2012, S. 31). Menschlich verständlich ist es, wenn Wissenschaftler ihre Daten nicht Anderen zur Verfügung stellen wollten, wie die britische ,Climate Research Unit' oder Michael Mann, der Erfinder des Hockey-Schlägers, d.h. einer inzwischen falsifizierten Temperaturdarstellung, die sowohl die mittelalterliche Wärmeperiode als auch die kleine Eiszeit in der frühen Neuzeit leugnet, und damit der These von der Alleinverantwortung des Menschen bzw. seiner C02-Emmissionen für den bis ca. 2000 anhaltenden Temperaturanstieg eine gewisse Plausibilität verlieh (Michaels 2011, S. 52-53; Varenholt und Lüning 2012, S. 9 und 122-127). Wir alle wären gern Monopolisten. Aber verdächtig ist es schon, wenn man damit Angst vor Kritik an der eigenen Datenerhebung oder Datenauswertung verrät.

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Vgl. etwa Schramm (2010, S. 42) zu diesem Problem im Zusammenhang mit Innovationen, die für das Wirtschaftswachstum relevant sind. Zur Klimaforschung beklagt der CATO Policy Report (2010, S. 13) „the attempt to undermine the credibility of skeptics by chiding them for not publishing in peerreviewed journals - while working behind the scenes to prevent skeptics from being able to publish in those journals."

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So ganz ausgeräumt scheinen die Bedenken bei vielen Fragen noch nicht zu sein: weder beim ungebrochenen Erwärmungstrend, noch bei der zeitlichen Abfolge von Anreicherung der Atmosphäre mit Treibhausgasen und Erderwärmung, noch beim zu erwartenden Ausmaß der Erwärmung bei weiter wie bisher steigenden Emissionen (Engel 2009; Lüdecke 2008; Olson 2010; Spencer 2010; Varenholt und Lüning 2012, vor allem S. 130-131). Unter den Kritikern der dominanten Auffassung gibt es sogar Stimmen, die statt einer Erwärmung eine neue kleine Eiszeit erwarten (Olson 2010, S. 54) oder trotz zunehmender CC>2-Emmissionen zumindest zunehmend kalte Winter in Europa (Varenholt und Lüning 2012, S. 12) erwarten. Katastrophenszenarien scheinen vor allem auf zwei Prämissen aufzubauen. Einmal wird die Verwendung von Computersimulationen für tinproblematisch gehalten,11 obwohl diese mit der Abbildung der Klimageschichte Schwierigkeiten haben, obwohl solche Simulationen eigentlich überall (auch in der Ökonomik oder internationalen Politik) mit gewaltigen Validierungsproblemen zu kämpfen haben. Das Ende der Erwärmungsphase mit dem ablaufenden 20. Jahrhundert und den Beginn einer Abkühlung am Anfang des 21. Jahrhunderts haben die Modelle und Simulationen des IPCC nicht vorhergesehen (Varenholt und Lüning 2012, S. 291, 324). Außerdem setzen Katastrophenszenarien Rückkoppelungseffekte steigender C02Emissionen voraus, die ad hoc, unverstanden und unzureichend belegt sind (Lüdecke 2008, S. 52-53). Nach Spencer (2010, 5. Kapitel) ist es sogar so, dass das IPCC das Vorzeichen der Feedbackeffekte falsch einschätzt, mit positiven statt mit negativen Feedbacks arbeitet. Trotzdem würde ich als Laie nicht ausschließen wollen, dass immer noch Klimapessimisten recht behalten könnten. Weil ebenfalls nicht auszuschließen ist, dass die gegenwärtig dominante Forschungsrichtung sich später einmal als Irrtum erweist, dass „C02-Vermeidung" - wie Lüdecke (2008, S. 88) schreibt - „sinnlos und überflüssig" ist, sollte ein großer Teil der öffentlichen Mittel an heterodoxe, dem IPCC skeptisch gegenüberstehende Wissenschaftler gehen. Nicht nur in der naturwissenschaftlichen Klimaforschung, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der - falls die dominante Meinung der Klimapessimisten recht haben sollte - aus dem Klimawandel folgenden Interessenkonflikte und Problembewältigungsstrategien besteht die Gefahr von verfrühtem Konsens. Durchaus auf den Befürchtungen des IPCC aufbauend, kommt der Ökonom Sinn (2009, S. 12) zu einem vernichtenden Urteil über die Effizienz der deutschen Umweltpolitik; er befürchtet sogar: "Die grüne Politik hat die Erderwärmung beschleunigt." 12 Bisher standen Schuldfragen und die Zuweisung von Verschmutzungsrechten im Mittelpunkt der Verhandlungen. Sicher hat der Handel mit Verschmutzungsrechten gegenüber einfachen Verboten oder Festschreibungen von Emissionsmaxima gewisse Vorteile. Dennoch hat Collier (2010, S. 183) angemerkt: „The big international conferences - Kyoto and Co1

'

12

Eine interessante und grundsätzliche Kritik an Computersimulationen stammt von einem renommierten Computerwissenschaftler (Gelernter 2010). Wie irreführend die frühen Computersimulationen des „Club of Rome" zum Thema „The Limits to Growth" waren, hat Lomborg (2012) zusammengefasst. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch der Economist (2009, S. 4 und 26): „The policies adopted to avoid dangerous climate change have been partly misconceived and largely inadequate. [...] Too little effort is going into carbon pricing and too much money into subsidies. The system is getting fat with pork; and the more pork there is, the smaller the chance that the world can cut its emissions without causing serious damage to its economy." Für Biokraftstoff ist eine Studie der Europäischen Kommission zu einem ähnlich negativen Ergebnis gekommen (FAZ 2012).

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penhagen - give rise to haggling between national governments over who should pay what to whom. Instead, we need to start from the principle of efficient response - a commonly agreed upon shadow price for carbon, and work from that." Ein global einheitlicher Schattenpreis für Kohlendioxidemissionen würde es vermeiden, dass Emittenden ihre Aktivitäten einfach aus einer in eine andere Jurisdiktion verlegen, was für das Weltklima keine positiven Effekte hätte. Eine Emissionssteuer und damit ein Preis für CCVEmissionen hätte weitere Vorteile. Die Politik würde von der Aufgabe der Detailregulierung entlastet. In den Worten von McKitrick (2011a, S. 42): „Marktmechanismen sollten anstelle von regulatorischen Mechanismen zum Einsatz kommen, nicht ergänzend dazu. Nach der Festlegung eines Emissionspreises [...] durch die Politik sollte von weiteren überflüssigen technischen Regulierungen und Verhaltenskontrollen zur Überwachung der Einhaltung der bestehenden politischen Maßnahmen Abstand genommen werden. Wird Kraftwerken beispielsweise der Erwerb von Emissionszertifikaten vorgeschrieben, so reicht diese Maßnahme aus, ihre Emissionen zu regulieren. Darüber hinaus weitere Vorschriften zu erlassen, in denen Haushalten vorgeschrieben wird, welche Glühbirnen oder Haushaltsgeräte sie verwenden dürfen, oder Kraftwerksbetreibern vorzuschreiben, dass sie einen bestimmten Anteil ihrer Energie über den Ankauf von Windenergie abdecken müssen, ist redundant. Das einzige, was dadurch erreicht wird, sind höhere Kosten."

Ganz ähnlich wie McKitrick argumentiert Frondel (2011, S. 126-127), der allerdings nicht die von McKitrick bevorzugte Emissionssteuer, sondern die in der Europäischen Union schon eingeführten Handel mit Emissionszertifikaten zum Ausgangspunkt nimmt. Wenn es dieses Instrument gibt, dann sind zusätzliche Maßnahmen, wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz im Allgemeinen und die Förderung der in Deutschland besonders unwirtschaftlichen Photovoltaik nicht Klimaschutzmaßnahmen, sondern nur Emissionsverlagerungs- und Kostenerhöhungsmaßnahmen. Die mit Regulierungsüberlagerung verbundene Intransparenz hat allerdings die Eigenschaft, dass die Politik dann leichter Sonderinteressen bedienen kann. Das ist ja generell eine weit verbreitete politische Strategie (Olson 1968, 1985; Weede 2012). Nur wer den Wert wirtschaftlicher Freiheit unterschätzt, die Planbarkeit der Wirtschaft aber überschätzt (Mises 1920; Hayek 1945, 1971; Weede 2012), wird die Entlastung der Politik von Detailregulierung als Einschränkung von deren Gestaltungsfreiheit empfinden.13 Die Emissionssteuer sollte nicht ein für alle Mal festgelegt sein, sondern mit zunehmender Erwärmung steigen. Damit bekämen die Unternehmen ein finanzielles Interesse an möglichst genauen Prognosen über die klimatische Entwicklung. Denn die Rentabilität von Emissionsvermeidung resultiert ja aus der Abgabenhöhe und beim von McKitrick (2011a) vorgeschlagenen Procedere aus der klimatischen Entwicklung. Das würde der unseligen Verflechtung von Politik und Klimawissenschaft entgegen wirken, weil neue Nachfrager nach wahren Prognosen und ein Markt dafür entstehen würden. McKitrick (201 la, S. 86) verbindet damit folgende Hoffnungen:

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Obwohl der .American Clean Air and Security Act" vom Senat (im Gegensatz zum Repräsentantenhaus) nicht akzeptiert wurde, weist Michaels (2011, S. 47) daraufhin, dass es dort nicht nur um das öffentliche Gut Klimaschutz, sondern auch eine Vielzahl von Partikularinteressen und deren Bedienung ging. Intransparenz ist generell ein Mittel, um die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik zu erweitem.

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„Ein derartiger Markt existiert zur Zeit nicht, da verschiedene Parteien einen Nutzen darin zu sehen scheinen, die Prognosen bezüglich der globalen Erwärmung je nach der Politik, die sie beeinflussen wollen, bzw. je nach Aufmerksamkeit, die sie für ihre Arbeit erhalten möchten, über- bzw. unterzubewerten. [...] Dieser Markt wird schlechte Klimamodelle auf diese Weise aussondern und den Weg für genauere Klimamodelle frei machen."

Wie in der Wirtschaft ist auch in der Wissenschaft der Wettbewerb dem Monopol vorzuziehen. Fruchtloser Streit um Schuldfragen ist überflüssig. Mit Collier (2010, S. 197) meine ich: „Nobody need feel guilty about past carbon emissions." Das gilt sogar dann, wenn die dominante oder IPCC-Meinung richtig sein sollte. Hätte es nie eine industrielle Revolution gegeben, dann wäre die ganze Menschheit heute noch arm. Hätte die ganze Welt gleichzeitig die industrielle Revolution erlebt, dann wäre - die Richtigkeit der IPCC-Meinung über Kohlendioxid und andere Treibhausgase vorausgesetzt - die Klimakatastrophe wohl zu schnell für Gegenmaßnahmen gekommen. So gesehen hat die Menschheit Glück damit gehabt, dass die industrielle Revolution zunächst nur im Westen stattfand. Aber dieser Durchbruch nutzt über die Vorteile der Rückständigkeit auch den noch armen Ländern, die deshalb schneller als die ersten Industrieländer die Massenarmut überwinden und die Sterblichkeit verringern können (Weede 2006 und 201 lb). Die Problematik der Nähe der dominanten Richtung der Klimawissenschaft zur Politik deutet sich auch in der Arbeit des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung an (Varenholt und Lüning 2012, S. 326ff.). Dieser Beirat befürwortet eine radikale Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Industriegesellschaften. Weder bei Naturwissenschaftlern, noch bei Geisteswissenschaftlern kann man sicher sein, dass ihnen die Kosten historischer Versuche radikalen sozialen Wandels bewusst sind. Grob geschätzt laufen diese in den ehemals kommunistischen Ländern auf die Größenordnung von hundert Millionen Menschenleben hinaus (Dikötter 2010; Rummel 1994). Obwohl diejenigen, die sich um das Klima sorgen, keinen „roten", sondern einen „grünen" Umbau der Gesellschaft postulieren, sollte man eine dumpfe Ahnung der potenziellen Folgen eines radikalen gesellschaftlichen Wandels haben. Der Versuch, auf der Basis von IPCC-Empfehlungen Politik zu betreiben, kann auch zur Beschneidung parlamentarischer Rechte führen - sogar in den USA, wo die Skepsis gegenüber dem IPCC weiter als in Europa verbreitet ist, wo die „Environmental Protection Agency" dennoch am Parlament vorbei teure Auflagen durchsetzen kann (Pilon und Turgeon 2011). Klimaschützer neigen auch zu einem sorglosen Umgang mit dem Freihandel. Dabei denke ich nicht an irgendwelche einflusslosen Grünen in kleinen Ländern, sondern an die Sponsoren des „American Clean Energy and Security Act", der 2009 immerhin das Repräsentantenhaus, wenn auch nicht den Senat passiert hat. Dort waren Hindernisse für Importe von Produkten vorgesehen, die in Entwicklungsländern weniger umweltfreundlich als den amerikanischen Vorschriften entsprechend hergestellt waren. Die Kompatibilität der Maßnahmen mit den Verpflichtungen der Mitglieder der „World Trade Organization" ist fragwürdig (James 2011). Außerdem wird dabei übersehen, was Freihandel und Globalisierung zugunsten der Menschen in den Entwicklungsländern und zur Kriegsverhütung beigetragen haben (Weede 2011a und 2011b). Bei der Erzeugung von internationalen Spannungen durch Klimapolitik sind die Europäer, gerade weil sie Klimapolitik ernsthafter als die Amerikaner betreiben, schon weiter, wie der

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Streit zwischen der Europäischen Union auf der einen und China, Indien und den USA auf der anderen Seite um die Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel Anfang 2012 illustriert.

IV. Ökologie als Religionsersatz Das Bemühen um Erkenntnis und die Suche nach Wahrheit wird auch dadurch gefährdet, dass die Ökologie für viele Menschen zum Religionsersatz wird. Die alte Frage, ob die Menschen in Übereinstimmung mit den göttlichen Geboten leben, wird dann durch die neue Frage, ob wir nachhaltig leben ersetzt (.Nelson 2010, S. 86). Das ist natürlich auch eine wissenschaftliche Frage. Aber der quasi-religiöse Charakter vieler Grüner zeigt sich vielleicht am deutlichsten an der mangelnden Bereitschaft zur Diskussion der Frage, ob Klimaschutz vielleicht die Kernenergie notwendig macht. Eine Sünde durch eine andere zu ersetzen, das ist für Theologen keine attraktive Strategie. Für ungläubige Rationalisten bzw. Ökonomen dagegen ist die Wahl eines kleineren Übels dagegen kein grundsätzliches Problem. 14 Natürlich kann man denselben Vorwurf des Abgleitens in Religion durchaus auch manchen Ökonomen machen {Nelson 2010). Aber Ökonomik und Ökologie unterscheiden sich in der Akzeptanz durch die Bevölkerung. Grundsätzliche Auffassungen der Fachvertreter der Ökonomik zum Freihandel oder Knappheitspreisen, zu Minimallöhnen oder Kündigungsschutz werden noch nicht einmal in den USA von der Masse der Laien geteilt (Caplan 2007), obwohl in den USA die Akzeptanzprobleme von Kapitalismus oder Marktwirtschaft wesentlich geringer sind als bei uns in Deutschland. Kapitalismus- und Ökonomiekritik kann immer weit verbreitete Ressentiments als Legitimationsreserve zur Infragestellung anzapfen. Schon die Verwendung des Begriffs „Marktfiindamentalismus" als Schimpfwort deutet an, dass unkritische Akzeptanz nicht die Gefahr ist, mit der das orthodoxe ökonomische Denken in unserer Zeit konfrontiert ist. Im Gegensatz dazu scheint Umweltschutz „um jeden Preis" weniger Akzeptanzprobleme zu haben und mit einem (den Preis) Nichtwissen-Wollen bzw. einem Frage- und Denkverbot kombiniert zu sein - jedenfalls solange, bis wir den Preis eines vielleicht übertriebenen oder ineffizienten Umweltschutzes am eigenen Leibe erleben.15 Glaubensgewissheit ist in der Wissenschaft eben keine „frohe Botschaft", sondern der Anfang vom Ende der Wissenschaft - auch wenn Politiker und das Volk das anders empfinden.

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Sinn (2009) will deshalb die Nutzung der Atomenergie nicht ausschließen. Nichts würde unsere Umweltaktivisten und Klimaschützer mehr verunsichern - wenn sie bereit wären, es zur Kenntnis zu nehmen - als der Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und Umweltschutz. Nach Burkhart und de Soysa (2010) trägt wirtschaftliche Freiheit signifikant zur Verbesserung des Umweltschutzes bei, auch zur Verringerung von CCVEmissionen.

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Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik

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der Wissenschaft kann nie der voreilige Konsens und die Unterdrückung von Zweifeln sein, sondern muss der organisierte Skeptizismus und das Aufdecken von Inkompatibilitäten unter politischen Zielsetzungen bleiben - auch wenn dadurch das Regieren erschwert wird.

Summary: Truth and Certainty; Stabilizing the Climate and Politics The currently dominant view in climate research is that mankind is endangered by climate change. As there are some different and less disquieting voices in climate research, as - even assuming the validity of the dominant view - the currently advocated means to mitigate climate change might be very costly or inefficient or incompatible with other values like human freedom, the role of wide agreement or consent in human th nking in general and in science in particular is discussed. The idea that the consent of experts can ever establish certainty about possession of the truth is rejected. Human knowledge always remains conjectural and subject to later revision. Too much closeness between the practitioners of science and politics is a threat instead of a promise. To counter this threat some social norms have to be observed and the institutional prerequisites for protecting the autonomy of science have to be established. Not only in markets, but in the sciences, too, competition is a discovery procedure. The task of science should never be an early consensus and the suppression of criticism and doubts. Instead it must remain organized scepticism and finding incompatibilities between widely accepted policy goals - even if doing so makes governance more difficult.

ORTO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Lars P. Feld

Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion Inhalt I. Einleitung II. Röpkes Vorstellungen zur europäischen Einigung

403 405

1. Röpkes außenhandelstheoretische und-politische Analysen

406

2. Röpkes Schriften zur europäischen Einigung

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3. Röpkes währungspolitische Positionen

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I II. Das ordnungspolitische Konstrukt der Europäischen Währungsunion IV. Ordnungspolitische Lösungsansätze für die Europäische Währungsunion

410 413

1. Die Europäische Zentralbank im Dilemma

413

2. „Mehr Europa" als Lösung?

416

3. Zurück zur nationalen Verantwortung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik? . 421 V. Schlussbemerkung

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Europe in Today's World: Wilhelm Röpke and the Future of the European Monetary Union

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I. Einleitung Vor fünfzig Jahren hielt Wilhelm Röpke einen Vortrag mit dem Titel „Europa in der Welt von heute" vor dem Handels- und Industrieverein in Thun. Darin befasste sich Röpke mit der Stellung Europas in der Welt, einer Welt des Kaltes Krieges, der Bedrohung durch Despotismus, nicht einmal 20 Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Röpke definierte Europa als ,JVame eines gemeinsamen Kultur-, Wert- und Gefühlssystems", das „einen sehr differenzierten, in vielen Facetten leuchtenden und mannigfach abgestuften Inhalt umschließt. Jedes Monolithische, starr Schablonenhafte ist ihm fremd, und keine Feststellung ist hier zugleich wahrer wie unbestrittener als die, daß es das Wesen Europas ausmacht, eine Einheit in der Vielfalt zu sein, weshalb dann alles Zentristische Verrat und Vergewaltigung Europas ist, auch im wirtschaftlichen Bereiche." (Röpke 1962 [2000], S. 12). Europa sei das Mutterhaus einer erdumspannenden Kultur geworden, weil es seiner Tradition am nächsten stehe. Der daraus erwachsenden Verantwortung komme man nicht nach, indem man Asche auf sein Haupt streue, sondern indem „wir uns auf die Überlieferung unserer Kultur besinnen und mit uner-

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schütterlicher Überzeugung zu ihr stehen" {Röpke 1962 [2000], S. 20). Diese Verantwortung weise uns in die Richtung „des Selbstvertrauens, des Mutes, der Treue zu uns selber und zu unserem Wesen, das geistig-moralischer Art ist und von uns nicht an die Götzen unserer Zeit verraten werden darf." {Röpke 1962 [2000], S. 20). Diese Mahnungen haben nichts an Aktualität verloren. Sie erinnern uns daran, dass der europäische Einigungsprozess seine Grenzen hat, die Klausel der „ever closer uniónin der Präambel des Vertrages [über die Arbeitsweise der Union] (AEUV) zweifelhaft und die Idee eines Europäischen Bundesstaats verwegen ist, dass sie Sprengkraft enthält und somit paradoxerweise das Potential in sich trägt, die europäischen Nationen auseinanderdriften zu lassen.1 Allenthalben wird aus Berlin und Paris anderes proklamiert: die Wirtschaftsregierung für Europa, der Sparkommissar für Griechenland, der Europäische Finanzminister, weit reichende Durchgriffsrechte Brüssels in die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten. Die Antwort auf die europäische Schuldenkrise scheint für die Staatenlenker jedenfalls „mehr Europa" zu lauten, was immer darunter zu verstehen ist. Dem Bürger nicht nur in Griechenland, auch in Deutschland mag es angesichts solcher technokratischer Vorstellungen grausen. Wenngleich diese Interpretationen nicht falsch sind, so werden sie dennoch Wilhelm Röpkes europapolitischen Vorstellungen nicht gerecht. In Röpkes Veröffentlichungen zu Europa, in denen er sich mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), mit Euratom und mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) befasst, finden sich viele der heute noch in der Diskussion anzutreffenden Argumente. Es sind aber nicht nur die skeptischen Töne, die dominieren, wie es die zuvor angeführten Zitate und Interpretationen nahe legen. Röpke hatte eine sehr differenzierte Position zur europäischen Einigung. Er sah sich selbst als entschiedenen Europäer (Röpke 1957, S. 162). Dennoch sei es für einen Nationalökonomen schwer, ein guter Europäer zu sein und gleichzeitig im Ruf eines solchen zu stehen, weil so manches Unterfangen im Namen Europas aus ökonomischer Sicht kritisiert werden müsse {Röpke 1957, S. 162; 1960, S. 92): „Auch für den europäischen Patriotismus - in dem ich mich für meine Person von niemandem übertreffen lassen möchte, am wenigsten von den patentierten Europäern - gilt eben, daß die wirtschaftliche Vernunft uns zwingt, manche Vorstellungen zu korrigieren, zu denen uns der bloße Enthusiasmus verleiten möchte. Gewiß ist, wenn Europa wirklich zu einer Einheit werden soll, der Enthusiasmus unentbehrlich, weil noch niemals ohne ihn eine große politische Idee verwirklicht worden ist. Aber auch für Europa gilt das berühmte Wort Edith Cavells, daß Patriotismus nicht genug ist. " (Röpke 1957, S. 162).

Die Zeit, in der Wilhelm Röpke sich zur europäischen Einigung äußerte, war durch den Kalten Krieg und den Wiederaufbau der vom Zweiten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogenen Staaten gekennzeichnet. Die damaligen Weichenstellungen waren historisch betrachtet - durchaus auch im Urteil Röpkes - wesentlich für das friedliche Zusammenleben der europäischen Staatengemeinschaft. Sie stellten sich als ein bedeutender Faktor

Man könnte versucht sein, den Hinweis auf das Selbstvertrauen und auf die Treue zum Wesen Europas, die nicht an die Götzen unserer Zeit verraten werden dürften, gegen die vermeintliche Dominanz der (angelsächsisch geprägten) Finanzmärkte und des Bankensystems in Stellung zu bringen. Sie sind aber wohl eher im Kontext des Kalten Krieges zu verstehen, der Wilhelm Röpke seine ganze publizistische Kraft abverlangte.

Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der EWU

405

für die Überwindung der Spaltung Europas und der Welt in Ost und West heraus. Der europäische Einigungsprozess hat erheblich zum Wohlstand Europas beigetragen. Angesichts der Schuldenkrise in der Europäischen Union stehen wir heute vielleicht vor ähnlich bedeutsamen Weichenstellungen. Die Anstrengungen zur Befreiung Europas aus der Schuldenfalle gehen seit 2010 mit neuen Institutionen und neuen Rahmenbec ingungen einher, die große Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten der EU haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der Argumente, die von Wilhelm Röpke wortgewaltig in die Diskussion eingebracht wurden. Jn meiner Wilhelm-Röpke-Vorlesung soll Röpkes Werk zur europäischen Integration krilisch beleuchtet und in den heutigen Kontext gestellt werden. Dazu werden in Abschnitt 2 zunächst seine Vorstellungen zur europäischen Einigung zusammengefasst. Bei aller Anerkennung seines schon damals tiefen Verständnisses wirtschaftlicher und politischer Integration ist kaum zu erwarten, dass Röpke alle Vor- und Nachteile der europäischen Einigung, wie sie sich heute darstellen, erkannt hat. Er befasste sich beispielsweise kaum mit den zurzeit im Vordergrund stehenden Währungsfragen, was durchaus verständlich ist, wenn man seine Akzeptanz des Goldstandards ins Bild nimmt. Das ordnungspolitische Konstrukt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist Gegenstand des dritten Abschnittes.

Im vierten Abschnitt

leite ich Lö-

sungsansätze für die gegenwärtige Schuldenkrise ab und diskutiere, was diese für die politische Einigung in Europa bedeuten. Ein Schlusswort folgt in Abschnitt 5.

II. Röpkes Vorstellungen zur europäischen Einigung Das Verständnis für Röpkes Analyse des europäischen Einigungsprozesses erschließt sich vornehmlich aus drei Perspektiven.2 Röpke trat erstens entschieden für Freihandel, für den Abbau von Handelsschranken und gegen Protektionismus ein. Er war zweitens ein vehementer Gegner des Kollektivismus jeglicher politischer Couleur. Und er war drittens ein begeisterter Anhänger eines Föderalismus mit weitgehenden Kompetenzen regionaler und lokaler Gebietskörperschaften, wie sie die Kantone und Kommunen in der Schweiz genießen. Überhaupt war die Schweiz, in der er von 1937 bis zu seinem Tocl im Jahr 1966 lebte, für Röpke ein Vorbild für den europäischen Einigungsprozess.

2

l'etersen und fVohlgemuth (2010) leiten insgesamt sechs europapolitische Grundprinzipien Röpkes ab: 1. cas Europa vor 1914 mit seiner Interdependenz und Interkommunikation der Märkte, der Multilateralität, cem Goldstandard als internationalem Währungssystem, der Vermeidung von Prohibitivzöllen und dem freien Kapital- und Personenverkehr als Ideal; 2. die nationale Ordnungspolitik als Voraussetzung wahrer Integration; 3. die Konvertibilität der Währungen; 4. die Warnung vor einem Europa der Planwirtschaft; 5. die Warnung vor Ökonomismus; 6. die Warnung vor Isolationismus. Diese Prinzipien sind zum Teil nicht eigenständig. So gehören die Prinzipien (1), (3) und (6) zusammen und entsprechen der eben angesprochenen ersten Perspektive. Die Prinzipien (2), (4) und (5) korrespondieren ebenfalls miteinander und mit der hier eingenommenen zweiten Perspektive. Der Aspekt der Dezentralität wird von l'etersen und Wohlgemuth (2010) jedoch nicht als eigenständiges Prinzip hervorgehoben, auch wenn er f ir die nationale Ordnungspolitik eine Rolle spielt sowie in den gaullistischen Äußerungen Röpkes aufscheint (Petersen und Wohlgemuth 2010, S. 231 ff.).

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1. Röpkes außenhandelstheoretische und -politische Analysen Schon in frühen Werken machte sich Röpke für den Abbau von Handelsschranken stark. Noch als Privatdozent der Universität Marburg veröffentlichte er „Die internationale Handelspolitik nach dem Kriege" {Röpke 1923), in der er den nach dem Ersten Weltkrieg fortbestehenden Protektionismus deutlich kritisierte. Nur Not und Armut könnten die Gleichgültigkeit gegenüber dem Freihandelsgedanken brechen: ,ßenn wie die Schutzzollpolitik ein Luxus ist, den sich nur ein reiches Volk und eine reiche Welt leisten können, [...] so ist die Freihandelspolitik die Handelspolitik einer Nation und einer Völkergemeinschaft, die entweder durch die Einsicht oder durch die Armut dazu getrieben wird, das Funktionsvermögen der Wirtschaft aufs höchste zu steigern." (Röpke 1923, S. 68). Nur zwei Jahre später klang Röpke (1925) im Vorwort zu seiner Schrift „Geld und Außenhandel" etwas optimistischer, wenn er feststellte, dass der Freihandelsgedanke nicht mehr so unpopulär sei, wie er zuvor gedacht habe (S. IV). Über die traditionellen Argumente der Handelstheorie hinaus diskutierte Röpke Währungs- und Handelspolitik hier als Hauptfaktoren der volkswirtschaftlichen Integration. Sowohl im Goldstandard als auch im Falle eines stabilen Papierstandards käme der Passivität der Handels- und Zahlungsbilanz eines Landes keine wesentlich andere Bedeutung zu als derjenigen zwischen Berlin und Hamburg. Seien die Kaufleute in Berlin auf Dauer „im Debet" gegenüber den Hamburger Kaufleuten, so sei dies ein Fehler in den kaufmännischen Dispositionen, der im schlimmsten Fall zum Konkurs einzelner Kaufleute führe (Röpke 1925, S. 45).3 In der kleinen Schrift „Weltwirtschaft: Eine Notwendigkeit der deutschen Wirtschaft" wendete sich Röpke (1932) vehement gegen Protektionismus und Autarkiebestrebungen Deutschlands: ,J)ie Autarkisierung Deutschlands ist als kurzfristig wirkendes konjunkturpolitisches Mittel untauglich und verderblich, langfristig aber führt sie zu einer grenzenlosen Verarmung." (S. 22); und als Fanfare am Ende des Vortrags: ,JDer Weg zu einer helleren Zukunft geht nicht über Restriktion, sondern über Leistungssteigerung, nicht über Einengung, sondern über Ausweitung, nicht über Zwang, sondern über Freiheit, nicht über Bürokratisierung, sondern über die freie Entfaltung individueller Intelligenz und Energie, nicht über Wirtschaftskrieg und Autarkie, sondern über Wirtschaftsfrieden und Weltwirtschaft!" (Röpke, 1932, S. 25f.). Röpke sah sich in seiner Hoffnung auf eine Kehrtwende zur Weltwirtschaft getäuscht. Wie sehr der Protektionismus der Zwischenkriegszeit zum Zusammenbruch der Weltwirtschaft führte, beschäftigte ihn in international Economic Disintegration" (1942).4 Er zeichnete darin den Weg der Desintegration nach und stellte einen zunehmenden Kollektivismus sowie die militärischen Bestrebungen während und nach dem Ersten Weltkrieg als ihre wesentlichen Bestimmungsfaktoren heraus. Im vom Entsetzen über den Zweiten Weltkrieg angefügten Epilog erwähnte Röpke die Schweiz als Vorbild für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg: 3

4

Lehrbuchartig treten die Argumente aus diesen beiden frühen Schriften in „Weltwirtschaft und Aussenhandelspolitik" (Röpke 1931) wieder auf. Auf ähnliche Weise, jedoch in einer längerfristigen Perspektive nimmt er sich in „German Commercial Policy" (Röpke 1934) der Hinwendung Deutschlands zum Protektionismus an.

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, Lately, the political structure of Switzerland in its democratic, multi-national and federal character has attracted the attention of those who are looking for a model to be used in the political reconstruction of Europe after this war. Why should we not similarly regard the economic and social constitution of this country as a model at least as useful for the economic and social reconstruction of the West? " (Röpke 1942, S. 266, Hervorhebung im Original).

Damit wendete sich Röpke von der eher durch klassisch-liberales, teils neoklassisches Denken geprägten Analyse der Außenhandelspolitik einer ordnungsökonomischen Betrachtung zu und entwickelte die Rahmenbedingungen, die seines Erachtens eine stärkere Integration der Weltwirtschaft herbeiführen könnten. Ein wesentliches Leitbild für eine internationale Ordnung stellte die Beschränkung der Länder auf ihre relative Souveränität dar. Die relative Souveränität setze sich selbst diejenigen Schranken, die da* friedliche Zusammenleben der Völker und ihr freier Wirtschaftsverkehr erforderten, wahrend die absolute Souveränität diese Schranken ignoriere (Röpke 1954, S. 38). Mit Hilfe des internationalen Rechts, vom Völkerrecht bis zum internationalen Handelsrecht, sollte die politische Souveränität von privaten Verfugungsrechten getrennt werden. „ To diminish national sovereignty is most emphatically one of the urgent needs of our time. But the excess of sovereignty should be abolished instead of being transferred to a higher political and geographical unit. " (Röpke 1955b, S. 250).

Es gehe damit eigentlich um ein Programm der Dezentralisation der Macht (Röpke 1954, S. 39). Im Kollektivismus herrsche hingegen Zentralismus vor, eine weitgehende interne Souveränität der Behörden gegenüber den Bürgern. Der freie wirtschaftliche Austausch, den die Weltwirtschaft braucht, um Armut wirksam zu begegnen, kann daher im Totalitarismus, Kollektivismus, Sozialismus nicht erreicht werden. Eher biete der Föderalismus eine Chance für ein friedliches Zusammenleben und gedeihliches Wirtschaften {Röpke 1945). Ebenso erteilte Röpke (1954, 1955b, 1959b) der Idee eines Weltstaats eine klare Absage.

2. Röpkes Schriften zur europäischen Einigung Diese Entwicklung von Röpkes außenhandelspolitischem Denken schlug sich in seinen Schriften zur europäischen Einigung nieder. Er sah einerseits die Chancen der europäischen Wirtschaftsintegration als Etappe auf dem Weg zum weltwirtschaftlichen Freihandel, der ihm als Ziel vorschwebte. Die europäische Integration als regionales Präferenzsystem habe handelsschaffende Effekte. Sie wirke als Befreiung nach innen. Andererseits bestehe aber das Risiko einer radikaleren Diskriminierung, einer Abschließung nach außen {Röpke 1952). Mit der gemeinsamen Zollpolitik würden handelsumlenkende Effekte begründet: ,^4lles kommt nun darauf an, ob und unter welchen Umständen der Befreiungseffekt den Abschließungseffekt überwiegt." {Röpke 1952). Um sicherzustellen, dass der handelsschaffende Effekt überwiegt, sollten die Mitgliedsstaaten der Zollunion ihre Zölle universell senken. Dieses Grundproblem regionaler Präferenzräume wurde in anderen Schriften Röpkes variiert, wobei der Ton im Zeitablauf schärfer wurde. So warnte er vor der Spaltung Europas, wenn er den Ausschluss anderer europäischer Staaten, insbesondere des Vereinigten Königreichs, Spaniens und der Schweiz, durch hohe Zutrittsschranken in die EWG geißelte {Röpke 1961). Es sei daher nicht verwunderlich, dass kein einziges neues

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Land der EWG beigetreten sei. In diesen Variationen der Kritik schlug Röpkes Ablehnung kollektivistischer, planwirtschaftlicher Ansätze durch. Diese ist sehr deutlich in der Analyse der Montanunion {Röpke 1955a), vor allem aber in der Ablehnung der Gemeinsamen Agrarpolitik {Röpke 1961) zu erkennen. Letztlich zeigt sich ein allgemeines Misstrauen Röpkes aufgrund des Anschauungsmaterials, das die Länder in ihrer nationalen Politik boten: „Schuman-Plan, Gemeinsamer Markt, und die verwandten Projekte aller Art mussten deshalb das Misstrauen und die Kritik des Nationalökonomen herausfordern, weil oder insoweit sie ebensolche Versuche waren, der entscheidenden Frage auszuweichen: Wie soll ein ungehinderter Wirtschaftsverkehr zwischen Ländern möglich sein, die nicht durch ihre nationale Politik für Freiheit und Gleichgewicht der internationalen Zahlungen Sorge tragen, sondern ohne Rücksicht auf ihre Zahlungsbilanz Planwirtschaft, Wohlfahrtsstaat, Vollbeschäftigung um jeden Preis und alle anderen wohlbekannten Postulate der Nachkriegszeit zu Richtpunkten ihres Kurses machen? " (Röpke 1959a).

Was den Europäer Röpke auszeichnet, das ist der Blick auf das große Ganze. Die wirtschaftliche Einheit Europas könne nur ein Teilstück der allgemeinen sein {Röpke 1952). Die zentralistischen Nationen in Europa hätten das doppelte Problem, dass sie ,¿11 groß und amorph für die Entfaltung der nur in kleineren politischen Einheiten gedeihenden echten Gemeinschaft" seien und „zw klein und eng für die großen Aufgaben unserer Zeit, die nicht mehr im nationalen Rahmen gelöst werden können" {Röpke 1952, S. 228). Die Lösung dafür liegt auf der Hand: Föderalismus national und international. Gleichwohl könne auf absehbare Zeit nicht mit dem erforderlichen Grad an Gemeinschaftsgefühl gerechnet werden, der die Schaffung einer europäischen Nation im Sinne eines Bundesstaats erlaube {Röpke 1952, S. 230). Diejenigen Visionäre Europas seien noch am nächsten dran, die auf das Beispiel der Schweiz verwiesen, die zeige, wie Einheit in der Mannigfaltigkeit, die Freiheit der Glieder in der Ordnung des Ganzen möglich sei" {Röpke 1952, S. 232). Der Wunsch nach einer „Helvetisierung Europas" müsse jedoch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Schweiz ein Gebilde sei, das langsam und organisch gewachsen ist. Diese Form des Föderalismus wurzele in einer bestimmten Philosophie und sei keine bloße Verwaltungstechnik. Es ist ein Föderalismus, der von unten wächst, indem Gebietskörperschaften einer unteren Ebene allmählich Kompetenzen für diejenigen Politikbereiche auf eine höhere staatliche Ebene verlagern, die sie nicht mehr alleine lösen können. Dafür habe ich in Anlehnung an die Entstehung des Schweizer Kantons Graubünden den Begriff „Grison-Föderalismus" gewählt (Feld 2007). In diesem Sinne brauche Europa einen „Europäismus" als Kraft der Besinnung auf die europäischen Gemeinsamkeiten {Röpke 1959a, S. 238). Nach Einschätzung Röpkes muss der politischen Integration dabei das Primat gegenüber dem Wirtschaftlichen zukommen. Die Erfahrungen der Geschichte sprächen gegen das Primat des Wirtschaftlichen: Die wirtschaftliche Integration befördere die politische nicht, die Klammer der wirtschaftlichen Beziehungen sei nicht eng genug. Die Schweizer Eidgenossenschaft habe auch nicht mit einer Union der kantonalen Käsereien im Mittelalter begonnen, sondern mit einem Akt trotziger Selbstbehauptung gegen äußere Bedrohung der Freiheit und mit dem sich ausbreitenden Gemeinschaftsgeist, der dieser Lage entsprang" {Röpke 1952, S. 233).

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3. Röpkes währungspolitische Positionen Die Währungspolitik behandelte Röpke im europäischen Kontext eher stiefmütterlich. Dies ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass eine gemeinsame europäische Währung Mitte der 1960er Jahre nicht auf der Agenda war. Zudem stand das BrettonWoods-System fester Wechselkurse damals noch nicht wirklich in Frage. 5 Immer wieder kritisierte Röpke jedoch die Inflationspolitik europäischer Länder (Röpke 1958b) und forderte die Konvertibilität der Währungen, die erst zum Jahr 1959 realisiert wurde {Röpke 1959b). Hinsichtlich einer Währungsunion zeigte Röpke große Akzeptanz für den Goldstandard. Der Goldstandard gewährleiste Multilateralismus (Röpke 1957, S. 170). Wie eine stabile Papierwährung einzuschätzen ist, bleibt in Röpkes Schriften jedoch offen. Wie schon zu Beginn dieses Abschnitts bemerkt, sieht Röpke (1925 S. 45) in seinen frühen Schriften keinen Unterschied zwischen dem Goldstandard und einer, wie er sie nennt, stabilisierten Papiergeldwährung. Der Passivität der Handels- und Zahlungsbilanz eines Landes komme keine wesentlich andere Bedeutung zu als derjenigen zwischen Berlin und Hamburg. Bei dauerhaften Ungleichgewichten müssten die Unternehmer, die ihre Pas siva dauernd behalten, früher oder später aus dem Markt ausscheiden. Später unterscheidet Röpke (1955b) hingegen scharf zwischen der ökonomischen Wahrungsunion über einen Goldstandard und der politischen Währungsunion über Vereinbarungen zwischen Ländern, wie sie sich exemplarisch für die Lateinische Münzunion diskutieren lässt. Eine politische Währungsunion, welche die notwendige Koordination der Geld- und Kreditpolitik zum Gegenstand internationaler Verträge mache und dem Willen der Regierung zu deren Einhaltung unterwerfe, könne nicht funktionieren. Im Gegensatz dazu führe der Goldstandard aufgrund seines Mechanismus, der als PriceSpecie-Flow- oder Hume-Mechanismus bekannt ist, zu einer ökonomischen Disziplinierung. Hat ein Land einen Exportüberschuss, dann fließt ihm Gold von außen zu. Die inländische Kreditvergabe weitet sich aus und über die dadurch angefachte Nachfrage entsteht Inflation. In den Ländern mit chronischen Leistungsbilanzdefiziten führen Geld- (Gold-) und Kreditknappheit hingegen zu höheren Zinssätzen, sinkender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage sowie Preis- und Lohnsenkungen. Über Deflation wird die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes somit wieder hergestellt. Allerdings arbeitete Röpke sehr deutlich heraus, dass ein Gemeinsamer Markt in Europa es unmöglich macht, zugleich freien Handel, stabile Wechselkurse und Unterschiede in der monetären Disziplin zu erreichen. Eines davon müsse geopfert werden und Röpke (1958b, S. 50) spricht sich dafür aus, sich in Europa auf eine gemeinsame monetäre Disziplin zu einigen. Dabei solle man sich an der maximalen monetären Disziplin Deutschlands und der Schweiz orientieren. Röpke (1957 S. 166 f.) stellte fest, dess von einer internationalen Währungsordnung eine Disziplinierungswirkung ausgehen könne, wenn die wirtschaftlich soliden Länder durch ihr Vorbild auf eine verantwortungsvolle Lohnpolitik der Tarifvertragsparteien und eine solide Finanzpolitik der Regierungen und Abgeordneten in den anderen Ländern hinwirken könnten. Mit dem 5

Dies mag folgendes Zitat belegen (Röpke 1958a, S. 31): Jch glaube, daß die Schweiz ehereine Monarchie werden würde, als daß sie die Stabilität des Frankenkurses preisgäbe und zu frei schwankenden Wechselkursen überginge." Hier lag Röpke falsch.

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Bild masernkranker Kinder drückte er jedoch seine Skepsis dahingehend aus: Die Wahrscheinlichkeit sei gering, dass die gesunden Kinder ihre Gesundheit übertragen würden, wenn man sie mit den masernkranken Kindern zusammenstecke. Diese Skepsis soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Röpkes Schriften keine Antwort auf die heute so stark interessierende Frage bereithalten: Warum sollte die Disziplinierungswirkung nicht durch eine gemeinsame Währung erreicht werden können? Schafft es nur der Währungswettbewerb zwischen nationalen Währungen in Europa mit einer faktischen Leitwährung wie der DM im Europäischen Währungssystem (EWS) die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten der EU zu disziplinieren? Oder kann man nicht vielmehr von eindeutigen rechtlichen Weichenstellungen Disziplinierungseffekte erwarten?

III. Das ordnungspolitische Konstrukt der Europäischen Währungsunion6 Ob Wilhelm Röpke am heutigen Zustand Europas Freude hätte, mag also bezweifelt werden. Er blieb immer der nationalökonomische Skeptiker, der nicht zufrieden war, bis wirtschaftliche und politische Freiheit erreicht waren. Die Gemeinsame Agrarpolitik, Subventionen im Rahmen der Europäischen Struktur- und Regionalpolitik, Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Steuersystems fänden sicher einen scharfen Kritiker. Manche Befürchtung Röpkes trat gleichwohl nicht ein. Der Gemeinsame Markt konnte in der Europäischen Union vor allem seit der Einheitlichen Europäischen Akte weitgehend, mit Einschränkungen im Dienstleistungsbereich, verwirklicht werden. Freier Waren* und Dienstleistungsverkehr, Personenfreizügigkeit und freier Kapitalverkehr sind konstitutive Merkmale des Gemeinsamen Marktes. Nicht zuletzt zeigte sich die EU offen für Beitritte weiterer europäischer Staaten. Aus der EU der 6 wurde die EU der 27. Vor allem das Vereinigte Königreich machte sich nach seinem Beitritt stark für die Erweiterung der EU. Diese Hoffnung ist in Röpke (1960) angedeutet. Wie aber würde Wilhelm Röpke die Europäische Währungsunion einschätzen? Ein Gegner der Währungsunion könnte er sein, wenn er sie als politische Währungsunion interpretierte, die von völkerrechtlichen Verträgen und dem Willen der Mitgliedstaaten, diese einzuhalten, getragen werden muss. Ein Befürworter der Währungsunion könnte er sein, wenn die gemeinsame monetäre Disziplin, die man mit der Schaffung einer Europäischen Zentralbank (EZB) erreichen wollte, im Vordergrund steht. Genau diese steht zurzeit in Frage: Die Länder der Eurozone haben ein Schuldenproblem, sind zum Teil übermäßig verschuldet. Die EZB hat Staatsanleihen hoch verschuldeter EU-Länder aufgekauft und stellt mittlerweile dem Bankensystem Liquidität in nahezu unbegrenztem Umfang zur Verfügung. Diese Politik kann durchaus sinnvoll sein, wenn damit die Funktionsweise des Bankensystems sichergestellt werden muss. Sie birgt gleichwohl in der mittleren und längeren Frist Inflationspotential, wenn es nicht gelingt, diese Liquidität rechtzeitig aus dem Markt zu nehmen.

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Siehe zu diesem Abschnitt auch meine Impulsrede zur Sozialen Marktwirtschaft (Feld 2011).

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Vor diesem Hintergrund besteht die Versuchung, die Währungsunion als ordnungspolitisch verfehlt anzusehen. Gerade in Deutschland war und ist die Skepsis groß. 62 Professoren warnten 1992 in einem Aufruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor der Einfuhrung der Währungsunion: 7 Die Europäische Währungsunion sei kein optimaler Währungsraum. Wenn den Mitgliedsstaaten das Instrument der Abwertung nicht mehr zur Verfügung stehe, müssten andere Mechanismen, z.B. Preis- und Lohnflexibilität durch Anpassungen auf den Arbeitsmärkten oder Transferzahlungen im Sinne eines Finanzausgleichs, allfallige Spannungen ausgleichen. Die europäischen Arbeitsmärkte seien aber zu rigide, Preise und Löhne zu unflexibel, und die innereuropäische Solidarität sei nicht hinreichend ausgeprägt, um einen Finanzausgleich, der asymmetrische Schocks zwischen den Ländern abfangen könnte, zu begründen. Die potentiell entstehenden ökonomischen Spannungen könnten politische Zentrifugalkräfte in Europa bis hin zur Desintegration auslösen. Schriller und emotionaler wendeten sich 172 Wirtsehaftsprofessoren im Juli 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen eine gemeinsame Haftung für Bankschulden in Europa. 8 Hinter dem Konstrukt der Währungsunion steht gleichwohl kein Wunschdenken. Für ihre Väter war die Währungsunion nicht in erster Linie als Mechanismus zur Einsparung von Transaktionskosten, etwa der Kosten des Währungsumtauschs oder des Wegfalls des Wechselkursrisikos, anzusehen. Obwohl diese Kosten durchaus beachtlich sind und durch die gemeinsame Währung zudem ein tieferer Kapitalmarkt in Europa entstehen konnte, ist der große Vorteil der Währungsunion ein ordnungspolitischer. Eine gemeinsame Währung in Europa schafft „Geld, das man nicht selbst herstellen kann" (Sievert 1992). Der Maastricht Vertrag und in der Folge der Lissabon Vertrag legen die Europäische Zentralbank auf das Ziel der Preisstabilität fest. Zugleich wird ihr eine weitgehende Unabhängigkeit zugesichert. Die EZB ist in allen formalen Dimensionen die unabhängigste Notenbank der Welt. Durch eine Ausrichtung ihrer Geldpolitik an der Deutschen Bundesbank sollte deren stabilitätspolitisches Erbe auf die europäische Ebene gehoben werden. Die nationalen Notenbanken sind zudem in das Europäische System der Zentralbanken eingebunden und damit dem Druck nationaler Finanzu:id Arbeitsmarktpolitik etwas entrückt. Die nationalen Interessenkonflikte, die gerade in Europa nicht selten zu Lasten der Preisstabilität ausgetragen wurden, sollten in den Mitgliedsstaaten gelöst werden. Die Geldpolitik wäre dahingehend in Zukunft außen vor. Obwohl Hayek (1977) eine Entnationalisierung des Geldes auf anderem Wege herbeifuhren wollte, gewährleistet die Währungsunion schließlich eine solche Entnationalisierung, allerdings unter Beibehaltung des Geldschöpfungsmonopols der Notenbank, oline Währungswettbewerb. Eigentlich dürfte Röpke dagegen nichts gehabt haben, soweit die Geldpolitik der EZB an den alten Vorbildern monetärer Disziplin in Europa Röpke (1958b, S. 50) nannte Deutschland und die Schweiz - orientiert bleibt.

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Siehe dazu „Die EG-Währungsunion fuhrt zur Zerreißprobe", Manifest und Unterschriftenliste, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Juni 1992, S. 15 Siehe dazu „Der offene Brief der Ökonomen im Wortlaut", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 2012, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/protestaufruf-der-offene-brief-der-oekonomen-im-wortlaut -11810652.html (download am 12.8.2012).

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Der frühere, langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Olaf Sievert, brachte die ordnungspolitische Ratio der gemeinsamen europäischen Währung auf den Punkt: „Sie [Die Geschichte des Geldwesens, LPF] ist vor allem eine wechselvolle Geschichte der mißbräuchlichen Nutzung des Rechts, Geld zu schaffen. Handlungsmöglichkeiten und Vorteile gewinnen und nutzen, die einem nicht zustehen, indem man Geld ausgibt, das man nicht hat, aber herstellen kann, indem man Einkommen und Vermögen entstehen läßt, für die es eine reale Grundlage nicht gibt, die also, wenn überhaupt, nur auf Kosten von anderen gewonnen werden können, und - nicht zuletzt - indem man Schulden entwertet, die mit gutem Geld zu bezahlen man versprochen hat, kurz, Lug und Trug im Gewände staatlicher Hoheit, das hat über die Jahrhunderte die Attraktivität der einzelstaatlichen Souveränität über das Geldwesen ausgemacht. " (Sievert 1992).

Der Maastricht Vertrag schaffe eine internationale Geldordnung in Europa, die eine Objektivierung der Geldversorgung in einem Ausmaß sicherstelle, das seit dem Goldstandard nicht mehr bestand. Notabene gehört zum „Lug und Trug im Gewände staatlicher Hoheit" die Möglichkeit der Abwertung einer Währung. Sie ist das außenwirtschaftliche Pendant der binnenwirtschaftlichen Geldillusion, die darauf baut, mit etwas mehr Inflation etwas Arbeitslosigkeit abzubauen. Bewusst sollen die Mitgliedsstaaten in der Währungsunion nicht mehr auf das Instrument der Abwertung zurückgreifen können, um ihre Wettbewerbsfähigkeit kurzfristig zu beeinflussen. Eine Abwertung erhöht die Wettbewerbsfähigkeit nur kurzfristig, weil die realwirtschaftlichen Bedingungen eines Landes, die seine Wettbewerbsfähigkeit reduzierten, dadurch nicht verändert werden. Typischerweise handelt es sich um eine falsche Lohn- und Arbeitsmarktpolitik, welche die Lohnstückkosten steigen lässt und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigt. Die Abwertung kompensiert den Lohnkostennachteil temporär, fuhrt aber zumeist über steigende Importpreise und den dadurch auftretenden Inflationsdruck zu weiteren Lohnsteigerungen. Die Spirale von Abwertung - Inflation - übermäßigen Lohnerhöhungen dreht sich weiter. Gerade die südeuropäischen Länder hatten vor Eintritt in die Währungsunion damit leidvolle Erfahrungen gemacht. Zu dieser ordnungspolitischen Konzeption gehört zwingend, dass die Finanzpolitik und die sonstige Wirtschaftspolitik, insbesondere die Festlegung der Rahmenbedingungen für die Arbeitsmärkte der Mitgliedsstaaten, in der nationalen Autonomie und damit in der nationalen Verantwortlichkeit verbleiben. Es soll auf der europäischen Ebene weder für die Finanzpolitik noch für die Arbeitsmarktpolitik möglich sein, Druck auf die EZB zu machen, damit sie die Fehler in diesen Politikbereichen durch eine inflationäre Politik übertüncht. Erneut dazu Olaf Sievert (1992): „ Gutes Geld, Geld von verläßlich vorhersehbarem Wert, von außen vorgegeben für alle, diese fundamentale Ordnungsbedingung für ein System dezentralen Entscheidens nicht nur im privaten, sondern auch im staatlichen und im intermediären Bereich ist das wichtigste Bandfür einen Staatenbund. Und es wäre zugleich ein Band, von dem man sagen könnte: Es hält zwar nicht beliebige Belastungen aus, aber es wird halten, solange der grundlegende ordnungspolitische Konsens hält, der einen Staatenbund tragen muß."

Der Konstruktionsfehler der Währungsunion lag also nicht, wie manche behaupten, in der weitgehenden nationalen Autonomie in der Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Vielmehr ist die dezentrale Verantwortlichkeit der Nationalstaaten für ihre Finanz und Wirtschaftspolitik ein konstitutives Merkmal der Währungsunion, sozusagen einer der tragenden Pfeiler des neuen Währungsgebäudes, den einzureißen man sich nicht ohne bleibende Schäden erlauben kann.

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Gleichwohl wussten die Väter der Währungsunion, dass die in Stabilitätspolitik wenig geübten Mitgliedsstaaten gerne den sofortigen Vorteil niedriger Zinsen genießen würden und die mittelfristig notwendigen realwirtschafitlichen Anpassungen zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit aufschieben würden. Daher wurden die Maastricht Kriterien und in der Folge der Stabilitäts- und Wachstumspakt zur Korrektur finanzpolitischer Fehlentwicklungen neben die Vergemeinschaftung der Geldpolitik gestellt. Ähnliche Mechanismen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaften in Europa in den Blick genommen würde, fanden sich in den europäischen Verträgen nicht. Blauäugig dürften damals die wenigsten gewesen sein. Man wusste: Wenige Jahre des Einübens solider Finanz- und Wirtschaftspolitik machen noch keine Solidität und scnon gar keine Stabilitätskultur. Die Hoffnung bestand jedoch, dass wenigstens die Vorgaben für fiskalpolitische Disziplin Wirkung zeigten. Die Hoffnung trog bzw.: sie wurde betrogen - nicht zuletzt, sondern zuallererst von Deutschland. Der Konstruktionsfehler der Währungsunion war und ist an zwei anderen Stellen zu finden. Erstens war die Nicht-Beistandsklausel des Maastricht und des Lissabon Vertrages (Art. 125 AEUV) nicht glaubwürdig. Liest man heute den Art. 125 AEUV, dann wirkt er nackt im Vergleich zu Art. 126 AEUV, der das Verfahren bei übermäßigen Defiziten regelt. Den Finanzmarktteilnehmern wurde nicht signalisiert, dass sie bei einer übermäßigen Verschuldung eines Mitgliedsstaates in letzter Konsequenz mit dem Zahlvingsausfall rechnen mussten. Eine staatliche Insolvenzordnung wurde nicht erwogen. Zweitens wurde die Möglichkeit einer tiefen Finanz- und Bankenkrise, wie sie die Welt jüngst erschütterte, nicht hinreichend in Betracht gezogen. Die Interdependenzen zwischen der Banken- und Finanzmarktregulierung und der Schuldenpolitik der Mitgliedsstaaten wurden zu wenig gesehen. Drohen Ansteckungsgefahren bei einem Zahlungsaasfall eines Landes und sind die davon betroffenen Banken nicht mit genügend Eigenkapital ausgestattet, um dies zu verkraften, ist die Nicht-Beistandsklausel unglaubwürdig. Selbst eine Insolvenzordnung für Staaten würde dies nicht heilen (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 2010).

IV. Ordnungspolitische Lösungsansätze für die Europäische Währungsunion Aus dieser Perspektive betrachtet, kann die Europäische Währungsunion durchaus eine Währungsordnung begründen, gegen die Röpke kaum etwas hätte einwenden können. Soweit der europäische Papierstandard stabiles Geld schafft, nähert sich die Wäh•ungsunion der internationalen Ordnung des Goldstandards an. Zugleich besteht nationale Autonomie und Verantwortlichkeit in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die von Röpke gewünschte weitgehende Dezentralität der Macht ist somit bislang wirtschaftspolitisch sichergestellt. Die „Helvetisierung" Europas bleibt möglich.

1. Die Europäische Zentralbank im Dilemma Die Grundordnung der Europäischen Währungsunion ist gleichwohl in Gefahr. Sie steht in Frage, wenn es der EZB nicht gelingen sollte, stabiles Geld zu erhalten. Eine unabhängige Zentralbank ist auf ihre Glaubwürdigkeit und Reputation angewiesen. Sie

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hat sonst dem Ansinnen der Regierungen, sie durch Geldschöpfung und Inflationspolitik zu unterstützen und ihre Wiederwahlen zu sichern, nichts entgegenzusetzen. Die gegenwärtige Geldpolitik der EZB ist dahingehend eine Gratwanderung. Sie muss einerseits genügend Liquidität bereitstellen, um die Funktionsweise des Bankensystems sicherzustellen. Sie ist die einzige Institution in der EU, die derzeit eine erneute Bankenund Finanzkrise verhindern kann. Andererseits bringen die Staatsanleihekäufe der EZB ihre Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit in Gefahr. Die Liquiditätsbereitstellung der EZB im Dezember 2011 und Februar 2012 ermöglichte ihr hingegen, mit einer monetären Maßnahme die Stabilität des Banken- und Finanzsystems in Europa zu erhalten. Obwohl die Banken mit diesem Geld zu einem erheblichen Teil Staatsanleihen gekauft haben und damit die Verflechtung zwischen Staaten und Banken noch enger und, wie der spanische Fall zeigt, noch prekärer wurde, ist diese Politik aus ordnungspolitischer Sicht weniger bedenklich als der Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt. Letztlich hängt das Ausmaß der Gefahrdung der europäischen Währungsordnung aus dieser Quelle jedoch davon ab, ob es der EZB gelingt, nach der Bewältigung der Schuldenkrise die überschüssige Liquidität wieder aus dem Markt zu nehmen. Dass sie diese Liquidität rechtzeitig und im richtigen Ausmaß sterilisiert, mag man bezweifeln. Zwar ist die akute Inflationsgefahr angesichts niedriger Inflationsraten und einer sich abschwächenden Konjunktur im Euroraum gegenwärtig gering. Aber angesichts der hohen Liquiditätsbereitstellung und der unsicheren Lage in der Eurozone wird die EZB politisch größte Schwierigkeiten haben, eine Wende zur restriktiven Geldpolitik einzuleiten, wenn diese erforderlich ist. Ordnungspolitisch bedenklich ist es, wenn die EZB erneut oder wiederholt die Grenze zwischen Geld- und Finanzpolitik überschreitet. Das ist dann der Fall, wenn sie Staatsanleihen kauft. Mit dem Kauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, im Unterschied zu Käufen auf dem Primärmarkt, verletzt die EZB aller Voraussicht nach ihr Mandat im Sinne des Art. 123 AEUV nicht. Die EZB muss im Rahmen ihrer geldpolitischen Zielsetzungen zum Staatsanleihekauf auf dem Sekundärmarkt durchaus in der Lage sein. Dies ist Teil ihrer Offenmarktpolitik. Problematisch wird es, wenn sie diskriminierend Staatsanleihen derjenigen Länder aufkauft, die mit übermäßiger Verschuldung zu kämpfen haben, um die Refinanzierungskosten dieser Länder zu drücken. Dadurch wird die Grenze zur Fiskalpolitik überschritten. Ein ordnungspolitischer Sündenfall wäre eine Änderung des Mandats der EZB, die es ihr erlauben würde, als Lender of Last Resort für Staaten zu fungieren. Sie wäre dann in der Lage, unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, und würde die Mitgliedstaaten der EU refinanzieren können. Damit übernähme sie finanzpolitische Kompetenzen, die ihr im Rahmen ihrer Unabhängigkeit nicht zustehen. Einer Politik billigen Geldes wäre so Tür und Tor geöffnet. Die Europäische Währungsunion wäre keine Stabilitätsunion mehr. Dies hat für Deutschland die schwer wiegende verfassungspolitische Konsequenz, dass die Grundlage, auf der Deutschland bereit war, eine Europäische Währungsunion zu bilden, verloren ginge. Deutschland müsste den Austritt aus der Währungsunion ernsthaft in Erwägung ziehen. Ein Austritt Deutschlands, genauso wie jedes anderen Landes der Währungsunion, hätte jedoch enorme Konsequenzen für die Stabilität des Währungsgebietes und für die deutsche Wirtschaft. Die Lage im Sommer 2012 war dadurch gekennzeichnet, dass An-

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leger ihr Kapital nicht nur aus den hoch verschuldeten Mitgliedstaaten im Süden der EU, sondern aus der Währungsunion insgesamt abzogen, weil sie den Zusammenbruch der Währung befürchteten. Jeder Austritt aus der Währungsunion stärkt diese Erwartungen und führt zu weiteren Kapitalabflüssen. Es entsteht ein Ansteckungsprozess, der nicht direkt auf den Bankenkanal, also die vertraglichen Verflechtungen zwischen Banken eines Währungsraums zurückgeht, sondern auf die Furcht eines Systemzusammenbiuchs, der das gesamte Bankensystem mit großer Wucht träfe. Ein Austritt Deutschlands aus der Währungsunion käme einem solchen Schock gleich. Die Europäische Währungsunion würde damit ihren Rückhalt verlieren und wäre faktisch hinfallig. Dies hätte erhebliche negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Die Forderungen deutscher Unternehmen, deutscher Banken und des deutschen Staates gegenüber Europa, einschließlich der Forderungen Deutschlands, die sich über die Bilanz der EZB ergeben, betragen etwa 3,5 Billionen Euro. Bei einem Zusammenbruch der Währungsunion würden diese Forderungen Not leidend. Sie müssten nicht zwingend abgeschrieben werden, aber es würde ausreichen, dass sie so lange nicht bedient würden, bis die neuen Wechselkurse zwischen Euro, DM und allfalligen neuen Währungen anderer Staaten festgelegt wären. Viele deutsche Unternehmen würden diese Periode nicht überstehen. Die Folge wären Insolvenzen und ein kräftiger Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Darüber hinaus geriete die neue DM unter erheblichen Aufwertungsdruck, welcher der deutschen Exportwirtschaft dauerhaft Probleme bereiten würde. Aus der heutigen Sicht wäre dies für Deutschland zu teuer. Bisher ist nur die EZB in der Lage, den Zusammenbruch der Währungsunion durch den Kauf von Staatsanleihen zu verhindern. Sie tut dies angesichts ihres Mandats nur ungern. Wenn die EZB immer wieder Staatsanleihen hoch verschuldeter Länder aufkauft, begibt sie sich immer stärker in die Gefahr, ihr Mandat zu verletzen und zum Lender of Last Resort für Staaten zu werden. Im Grundsatz könnte sie diese Funktion durch eine offene Mandatsänderung erhalten und dann durch die Ankündigung der Absicht, unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, zur Beruhigung der Finanzmärkte beitragen. Diese Funktion könnte ihr jedoch ebenso allmählich zufallen, indem sie sukzessive, immer durch den drohenden Zusammenbruch der Währungsunion getrieben, aber dosiert, also nur an den täglichen Notwendigkeiten ausgerichtet, Staatsanleihen kauft. Am Ende eines solchen Prozesses muss die EZB möglicherweise ähnlich viele Staatsanleihen bilanzieren. Der ordnungspolitische Sündenfall wäre ebenfalls, wenn auch nicht offen und auf einen Schlag, sondern allmählich und unter dem Deckmantel der Sicherung der Integrität des Währungsgebietes und damit der Stabilität der Währungsunion in akuten Krisensituationen eingetreten. Ordnungspolitisch macht es am Ende kaum einen Unterschied. Allerdings hat diese Politik der sukzessiven Refinanzierung der Staaten noch nicht einmal den Vorteil, zur Beruhigung der Finanzmärkte beizutragen. Die EZB und die deutsche Politik stehen somit jeweils vor einem Dilemma. Die EZB sieht sich in der Schuldenkrise auf der einen Seite regelmäßig zum Staatsanleihekauf gezwungen, um den Zusammenbruch der Währungsunion zu verhindern. In einem eingeschränkten Maße kann sie das vorerst mit wohlwollendem Stillhalten Deutschlands tun, weil ein Ende des Euro erheblichen wirtschaftlichen Schaden in Deutschland anrichten würde. Auf der anderen Seite gerät die EZB damit immer mehr in die Rolle eines Lender of Last Resort für Staaten, eine Rolle, die nicht nur nicht ihrem Mandat ent-

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spricht. Vielmehr würde die Grundlage der Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion damit hinfallig. Deutschlands Dilemma besteht darin, zwischen dem wirtschaftlichen Schaden, den sein Austritt aus der Währungsunion oder ein Auseinanderbrechen der Europäischen Währungsunion anrichten würde, und dem Schaden, der durch eine Aufgabe der hoch stehenden ordnungspolitischen Forderung nach einer Trennung von Geld- und Fiskalpolitik entsteht, abzuwägen.

2. „Mehr Europa" als Lösung? Diese Dilemmata lassen sich nicht durch den schlichten Ruf nach „Mehr Europa" lösen. Die Strategie des „Mehr Europa" ist hoch interpretationsfahig und viele der darunter gefassten Lösungsstrategien sind unrealistisch, nicht problemadäquat oder schlicht gefährlich. Unrealistisch ist die Vorstellung, mit einer stärkeren, dauerhaft eingerichteten haushalts- oder wirtschaftspolitischen Kontrolle die Probleme der übermäßigen Verschuldung in den Griff zu bekommen. Unter diese Klasse von Vorschlägen fallen etwa die Wirtschaftsregierung für Europa, der Sparkommissar für Griechenland, der Europäische Finanzminister, oder weit reichende Durchgriffsrechte Brüssels in die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten. Solche Vorschläge werden zuweilen strategisch unterbreitet, wenn Forderungen nach einer größeren Haftungsübernahme Deutschlands abgewehrt werden sollen. Sie werden zudem lanciert, um weiter gehende Haftungsmodelle, wie etwa eine dauerhafte Vergemeinschaftung von Schulden über Eurobonds akzeptabler erscheinen zu lassen. Sie sind verständlich, wenn die Bundesregierung für eine Haftungsübernahme im Gegenzug Sicherheiten wünscht. Diese weit gehenden Vorschläge sind unrealistisch, weil Durchgriffsrechte in den genannten Formen in einem angesichts der Schuldenprobleme in Europa notwendigen Ausmaß nur in den hierarchielastigen Verwaltungstraditionen von Einheitsstaaten glaubhaft eingerichtet werden können. Die französische Verwaltungstradition entspricht dieser Vorstellung am ehesten. Europa wird aber nie ein Einheitsstaat sein. In Anlehnung an ein Wort, das Napoleon über die Schweiz gesagt haben soll, kann man behaupten: Europa wird föderalistisch sein oder es wird nicht sein (Feld 2003 und 2005). HansMagnus Enzensberger hat dies jüngst treffend formuliert: „Europa hat schon ganz andere Versuche überstanden, den Kontinent zu uniformieren. Allen gemeinsam war die Hybris, und keinem von ihnen war ein dauerhafter Erfolg beschieden. Auch der gewaltlosen Version eines solchen Projektes kann man keine günstige Prognose stellen. Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Uberdehnung und an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sind." (Enzensberger 2011, S. 61).

In Bundesstaaten ist der Durchgriff der Bundesebene auf die Haushalte der Gliedstaaten aber kaum möglich. Die amerikanischen Bundesstaaten, die kanadischen Provinzen und die Schweizer Kantone besitzen umfassende Haushaltsautonomie auf der Ausgaben- und Einnahmeseite. Sie können sich im Rahmen des von ihnen verantworteten Rechts verschulden, müssen für ihre Schulden jedoch voll einstehen. Es besteht kein Haftungsverbund. Die deutschen Länder besitzen auf der Einnahmeseite nur eine sehr eingeschränkte Haushaltsautonomie und befinden sich mit dem Bund in einem Haftungsverbund. Hier besteht, wie in der Schweiz, den USA und Kanada, Verwaltungsau-

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tojiomie der Länder (Feld und von Hagen 2007). Zumindest diese ist den klassischen Bundesstaaten wesentlich. Verwaltungsautonomie schränkt den Durchgriff auf die Haushalte von Gliedstaaten so sehr ein, dass Durchgriffsrechte ihre Effektivität verlieren. Selbst in Deutschland fuhrt die Länderkompetenz in der Steuerverwaltung trotz Vereinheitlichung der aufkommensstarken Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer zu Steuerwettbewerb durch laxeren Steuervollzug (Baretti et al. 2002): Es finden weniger intensive Betriebsprüfungen statt. Die Länder nutzen ihre Verwaltungsspielräume. Eine Ausnahme in der Gruppe der Bundesstaaten stellt Brasilien dar (Rodden 2003; Liu und Webb 2011). Brasiliens Finanzgeschichte war nach dem Ende der Militärdiktatur durch eine Reihe von Finanzkrisen gekennzeichnet, die in den achtziger und neunziger Jahren in der Regel in einen Bailout der Bundesstaaten durch die Bundesebene mündeten. Dieses Einstehen des Bundes für das Finanzgebaren der Bundesstaaten nährte vornehmlich die Erwartung, dass eine unsolide Finanzpolitik durch Finanzhilfen des B andes in der Zukunft wieder aufgefangen würde. Nach einer erneuten Finanzkrise und einem bevorstehenden Bankrott verschiedener Bundesstaaten Ende der neunziger Jahre, verabschiedete Brasilien nach vorgängigen intensiven Verhandlungen mit den Bundesstaaten ein Fiscal Responsibility Law, das dem Bund und den Bundesstaaten strikte Aasgaben- und Schuldenbremsen verordnet. Zu deren Durchsetzung gewährt es dem Band Eingriffsrechte in die Haushalte der Bundesstaaten. Das Gesetz ist sanktionsbewehrt: Die Verantwortlichen für finanzpolitisches Fehlverhalten in Politik und Verwaltung können persönlich durch Geld- oder Gefängnisstrafen zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem gehört zum brasilianischen Regelwerk ein System von Maßnahmen zur Sicherstellung der Transparenz der öffentlichen Finanzen bis hin zu Schulungen des Verwaltungspersonals. Das brasilianische Fiscal Responsibility Law war ausschlaggebend für eine Stabilisierung der öffentlichen Finanzen. Gleichwohl zeigt die bisherige Entwicklung, dass es kontinuierlich von interessierter Seite zu schwächen versucht wird. Die Bundesebene lagert Aufgaben außerhalb des Budgets aus, um sich der Restriktionen zu entledigen. Die scharfen Sanktionen des Gesetzes wurden bisher kaum angewendet. Schließlich ist der Preis für diese weit gehenden Durchgriffsrechte die Transformation hin zum Einheitsstaat. Die Kommunalaufsicht der Bundesländer über ihre Gemeinden in Deutschland wird h;iufig als Vorbild für Durchgriffsrechte beispielhaft angeführt. Abgesehen davon, dass dieses Modell angesichts der übermäßigen Nutzung von Kassenkrediten der Kommunen in manchen Ländern nur eingeschränkt funktioniert, ist dieser Vergleich nicht zulässig. Trotz der grundgesetzlich garantierten Autonomie sind die Kommunen Teil der Länder u id können damit keine eigene Staatlichkeit beanspruchen. Dadurch haben die Länder die Möglichkeit, in die Verwaltungsstrukturen der Kommunen aufsichtsrechtlich einzugreifen. Die grundgesetzliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung verhindert nicht, dass diese Aufsichts- und Eingriffsrechte der Länder eher dem französischen Verwaltungsmodell entsprechen. Gleichwohl bestehen in haushaltsautonomen Gliedstaaten wie denjenigen der Schweiz oder den USA Pflichten für die Mitglieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft. Das Verfassungsrecht in Bundesstaaten sieht häufig das Institut des Bundeszwangs oder der Bundestreue vor, mit denen ein Gliedstaat des Bundes im Notfall dis-

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zipliniert werden kann. Mit dieser Möglichkeit gehen die klassischen Bundesstaaten sehr sparsam um. Sie gilt als ultima ratio. Sie vertrauen stärker auf die Rechtstreue der Gliedstaaten und ihre Akzeptanz der Rechtsprechung des Supreme Court bzw. des Bundesgerichts. Diese Zurückhaltung ist bedingt durch die Erfahrung, die beide Bundesstaaten mit dem Bundeszwang im 19. Jahrhundert gemacht haben, als beide Staaten von Bürgerkriegen heimgesucht wurden. In Deutschland wird über die Tragweite der Bundestreue bei übermäßiger Verschuldung seit der Klage Berlins auf finanziellen Beistand des Bundes zur Bewältigung einer extremen Haushaltsnotlage diskutiert. Gemäß einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages (Sierck und Pohl 2006) ist es jedoch umstritten, ob verschwenderische Haushaltspolitik bereits als Bundespflichtverletzung im Sinne des Art. 37 Abs. 1 GG angesehen werden kann, die den Bundeszwang, also die Entsendung eines Sparkommissars, rechtfertigen könnte. Jedenfalls gilt Bundeszwang in Deutschland ebenfalls als ultima ratio. Dieser kurze Abriss zu den haushaltspolitischen Durchgriffsrechten in Bundesstaaten verdeutlicht, dass die Möglichkeiten zur Sicherstellung solider Haushaltspolitik durch eine höhere staatliche Ebene komplex und differenziert zu beurteilen sind. In der EU, die weit davon entfernt ist, ein Bundesstaat zu sein, sind die bisherigen Erfahrungen mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht dazu angetan, von einer effektiveren Kontrolle der nationalen Haushaltspolitik auszugehen. Ein wesentlicher Grund, warum Deutschland und Frankreich die Beschränkungen durch den Pakt im Jahr 2003 nicht akzeptieren wollten, war die Sicherstellung ihrer Haushaltsautonomie. Es ist unwahrscheinlich, dass die souveränen Mitgliedstaaten der EU effektive Durchgriffsrechte akzeptieren werden. Gelingt zwischen ihnen ein Formelkompromiss, etwa um eine weitergehende Haftung Deutschlands zu erhalten, steht die Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten in der Haushaltspolitik vor einer Durchsetzung solider Finanzpolitik. Wenn es Deutschland nicht gelingt, einen Sparkommissar von Berlin nach Berlin zu senden, wie soll dies von Brüssel nach Athen möglich sein? Kurzum: Man sollte sich von weit gehenden haushaltspolitischen Durchgriffsrechten, welche die Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten auf Dauer und erheblich einschränken, nicht allzu viel versprechen. Darüber hinaus ist eine so weit gehende Vergemeinschaftung der Haushaltspolitik in Europa nicht problemadäquat. Die gegenwärtige Krise ist zweifach begründet. Erstens ist es eine systemische Krise und zweitens stehen dahinter die Strukturprobleme der Mitgliedstaaten. Die Ursache für die systemische Krise liegt in der Konstruktion der Europäischen Währungsunion, gerade weil nationale Autonomie und Verantwortlichkeit in der Finanzpolitik bestehen. Dadurch sind die Mitgliedsstaaten in einer Währung verschuldet, die sie nicht selbst herstellen können. Die EZB ist, absichtlich, wie man den vorherigen Ausfuhrungen entnehmen kann, kein Lender of Last Resort für Staaten, sie darf die Mitgliedstaaten nicht direkt refinanzieren. Die Mitgliedstaaten sollen sich gemäß dem Beistandsverbot nicht gegenseitig finanziell helfen. In letzter Konsequenz impliziert dies, dass ein Mitgliedstaat insolvent gehen können muss, wenn er übermäßig verschuldet ist. Dieses implizite Insolvenzrisiko wurde durch die „freiwillige" Umschuldung Griechenlands explizit. Angesichts des Insolvenzrisikos haben sich gerade die risikoaversen Investoren auf den Finanzmärkten aus den Staatsanleihen hoch verschuldeter Mitgliedstaaten der Währungsunion zurückgezogen. Dies fuhrt zu steigenden Refinan-

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Zierungskosten und verstärkt die Befürchtung, dass diese Länder sich nicht mehr aus e: gener Kraft aus der problematischen Finanzlage befreien können. Da zudem keine gemeinsame Lösung für die Eurozone in Sicht ist, befürchten die Anleger in der Folge einen Zusammenbruch der Währungsunion und ziehen sich zunehmend ganz aus dem Earo zurück. Wären alle Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion mit einer niedrigen öffentlichen und privaten Verschuldung sowie mit hoher Wettbewerbsfähigkeit in die Finanz* und Wirtschaftskrise geraten, so hätte sich die Krise nicht systemisch entwickelt. Iii Griechenland, Italien, Irland, Portugal und Spanien ist die Staatsverschuldung (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) zu hoch. Zudem sind die Lohnstückkosten zu stark angestiegen. Die Gründe, die zu den Schwierigkeiten in den verschiedenen Ländern ge führt haben, sind dabei wenig bedeutsam. In Italien und Griechenland besteht schon seit längerem eine übermäßige Staatsverschuldung, wenn auch Italien seit einiger Zeit Primärüberschüsse vorweisen kann und eine geringe Privatverschuldung hat. In Portugal sind die private und die staatliche Verschuldung in bedenklichem Maße angestiegen. In Irland und Spanien hat die übermäßige private Verschuldung, vor allem das Platzen der heimischen Immobilienblase zu der schwierigen Situation beigetragen. In allen fünf Ländern sind die Arbeitskosten zu hoch. Was auch immer die Gründe für die schwierige Lage dieser Staaten sind: An einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und an Reformen der Arbeitsmarkt- und Produktmärkte führt kein Weg vorbei. Mittel- und langfristig müssen diese Länder die notwendigen Korrekturen vornehmen. Allerdings wird dadurch nicht zwingend die systemische Krise bewältigt, selbst wenn die Probleme nicht systemisch wären, wenn die Staaten der Währungsunion vor der Finanzkrise wirtschaftlich blendend dagestanden hä ten. Hat sich nämlich eine systemische Krise entwickelt, dann kehrt das Vertrauen der Anleger häufig erst langsam wieder. Beginnen diese Länder, die versprochenen Reformen umzusetzen, und nehmen die notwendigen Korrekturen vor, so ist noch lange nicht ausgemacht, dass Anleger bereit sind, ihnen zu Zinskonditionen Geld zu leihen, welche die Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen nicht gefährden. Eine Lösung der Euro-Krise muss also auf beiden Seiten ansetzen: Sie muss die Mitgliedstaaten weiterhin zu einer Konsolidierung der Staatsfinanzen und zu Strukturreformen auf den Arbeits- und Produktmärkten anhalten und sie muss Maßnahmen zur Be wältigung der systemischen Krise bereithalten. Eine Politik der Konsolidierung und der Strukturreformen kann in nationaler Verantwortung durchgeführt werden; sie muss es sogar, weil die erforderlichen Korrekturen weit reichende Eingriffe in bestehende Einkommens- und Vermögensverhältnisse bedeuten, die nur in nationaler, hoheitlicher Verantwortung umsetzbar sind. Keine europäische Instanz hat die Legitimität zur Umsefeung solcher Maßnahmen. Die Frage, ob ein „Mehr an Europa" notwendig ist, knüpft vielmehr an den Maßnahmen zur Bewältigung der systemischen Krise an. So könnte man versucht sein, für eine Mandatsänderung der EZB zu plädieren: Wenn das Insolvenzrisiko die Investitionen der Anleger in Staatsanleihen vieler Staaten der Währungsunion verhindert, dann lässt es sich durch ein Mandat der EZB als Lender of Last Resort für Staaten beheben. Die EZB könnte dann Staatsanleihen in großem Stil aufkaufen. Dies bedeutete ein „Mehr an Europa", weil die Staatsverschuldung über die EZB-Bilanz vergemeinschaftet

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würde. Die Mitgliedstaaten der Währungsunion haften für Verluste der EZB teilschuldnerisch. Weil dies die Konsolidierungsanstrengungen in den hoch verschuldeten Ländern erlahmen lässt und die EZB selbst keine Auflagen im Sinne eines Anpassungsprogramms festlegen kann, müsste man eine Instanz schaffen, die auf eine solide Finanzpolitik in Europa hinwirkt. Gleichwohl nähme man durch die Mandatsänderung eine entscheidende ordnungspolitische Weichenstellung für die Zukunft vor, die angesichts der sich daraus ergebenden Inflationsgefahren inakzeptabel ist. Zur kurzfristigen Beruhigung der Finanzmärkte würde ein ordnungspolitischer Sündenfall hingenommen. Eurobonds sind eine zweite Möglichkeit, um die systemische Krise zu bewältigen. Der Begriff der Eurobonds wird leider unscharf verwendet. Manche Kommentatoren verstehen darunter bereits Anleihen, welche die Europäische Investitionsbank oder die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), zukünftig der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) begeben, oder gar jegliche Form der Haftung auf europäischer Ebene. Es ist in der Regel nützlich, mit trennscharfen Definitionen vorzugehen. Hier wird unter Eurobonds eine gemeinsame europäische Staatsanleihe verstanden, für welche die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion gesamtschuldnerisch haften und die als dauerhaftes Refinanzierungsinstrument eingeführt wird. Obwohl jede einzelne Anleihe dieser Art befristet und in der Höhe begrenzt wäre, ist ein solches Instrument unbegrenzt, sofern es einmal auf EU-Ebene eingeführt ist. Dadurch würde eine dauerhafte Vergemeinschaftung der Staatsverschuldung möglich. Stünde das Instrument der Eurobonds heute zur Verfügung - was angesichts der schwierigen Rechtsfragen keine Selbstverständlichkeit ist so hätten die Investoren eine relativ sichere Anlage zur Verfügung. Die Einführung von Eurobonds wäre zudem ein deutliches Bekenntnis zum Fortbestand der Europäischen Währungsunion. Dies würde das Insolvenzrisiko für Investoren reduzieren und letztlich die akute Systemkrise überwinden helfen. Allerdings würde man sich durch dieses Instrument ebenfalls erhebliche ordnungspolitische Probleme einhandeln. Die hoch verschuldeten Mitgliedstaaten hätten wiederum einen Anreiz, in ihren Konsolidierungsbemühungen nachzulassen. Besteht das Problem übermäßiger Staatsverschuldung in Europa fort, so gelingt lediglich eine Verschiebung auf der Zeitachse: Die Europäer stünden später vor einem größeren Scherbenhaufen der Überschuldung. Daher setzen die Befürworter von Eurobonds auf „mehr Europa" durch haushaltspolitische Durchgriffsrechte. Sowohl die Mandatsänderung der EZB zum Lender of Last Resort für Staaten als auch die Einführung von Eurobonds sind nicht notwendig, um die Europäische Währungsverfassung langfristig auf eine solide Basis zu stellen. Die Möglichkeit der Staatsfinanzierung über die EZB schafft enormes Inflationspotential und falsche Anreize für die Mitgliedsstaaten, in der Konsolidierung nachzulassen. Eurobonds vergemeinschaften die Staatsverschuldung in Europa. Sie bestrafen so die soliden und belohnen die unsoliden Mitgliedstaaten. Es entstehen falsche Anreize zur unsoliden Finanzpolitik. Beide Lösungskonzepte benötigen daher „mehr Europa" im Sinne von haushaltspolitischen Durchgriffsrechten. Diese können jedoch auf Dauer die Anreizwirkungen des Marktes nicht ersetzen, wenn Europa nicht als Einheitsstaat nach französischem Muster, sondern mit hinreichend starker Haushalts- und Verwaltungsautonomie selbst in der visionären Vorstellung eines Bundesstaats Europa verfasst sein sollte. Die weit reichenden Vorstellungen eines „mehr Europa" sind schließlich gefährlich, weil sie zu sehr

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dem Einheitsstaatsdenken verhaftet sind. Sie bergen Sprengkraft, weil sich die heute souveränen Staaten Europas nicht auf Dauer die Gängelung durch die europäischen Partner gefallen lassen, selbst wenn ihre Souveränität im Bundesstaat Europa aufgehen sollte.

3. Zurück zur nationalen Verantwortung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik? Im Grundsatz ist das ordnungspolitische Konstrukt der Europäischen Währungsunion nicht völlig falsch. Mit ihm wird die Notwendigkeit der nationalen Souveränität in der Finanz- und Wirtschaftspolitik anerkannt, die sich aus der für die finanz-, arbeitsmarktoder sozialpolitischen Entscheidungen erforderlichen Legitimität ergibt. Die Vergemeinschaftung der Geldpolitik in Europa soll hingegen einerseits dem Ziel der Geldwortstabilität verpflichtet sein und darf daher keine Staatsfinanzierung durch die Notenpresse erlauben. Andererseits wirkt sie über die Anreize, die durch eine Ausdifferenzierung von Ausfallrisiken durch die Finanzmärkte bestehen, disziplinierend auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. In zweifacher Hinsicht wurde in Abschnitt 3 auf Konstruktionsfehler hingewiesen. Zum einen fehlt eine Insolvenzordnung für Staaten in Europa, zum anderen ist die Währungsunion noch immer nicht hinreichend für den Fall einer schweren Finanz- und Bankenkrise gewappnet. Zwar könnte die etablierte Möglichkeit einer Staateninsolvenz Anreize zu unsolider Finanzpolitik setzen. Bereits heute haben Staaten aber die Möglichkeit, ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachzukommen und damit Verträge zu brechen. Ihre Gläubiger wissen dies und können sich im Rahmen des Pariser oder Londoner Club Verfahrens darauf einstellen. Die Anreize für die Staaten ändern sich durch eine Insolvenzordnung für Staaten kaum. Diese würde vor allem die Unsicherheiten auf Seiten der Gläubiger reduzieren helfen. Das Insolvenzverfahren ließe sich so ausgestalten, dass sich eine bevorzugte Behandlung einzelner Gläubiger verhindern und Möglichkeiten strategischen Verhaltens reduzieren ließen. Um in der Zukunft besser auf eine Bankenkrise vorbereitet zu sein, benötigen die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion eine schärfere Bankenregulierung (Kronberger Kreis 2011). Die große Verflechtung des Bankensystems in Europa, die Ansteckungseffekte, die eine nationale Bankenkrise auf das gesamte europäische Finanzsystems hat, nicht zuletzt auch das Versagen der nationalen Bankenaufsicht in EULändern legen es nahe, der EU eine größere Rolle in der Banken- und Finanzmarktregulierung zuzuerkennen. In dieser Hinsicht ist „mehr Europa" sinnvoll. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011 und 2012) hat dazu Vorschläge unterbreitet und sich zum Thema Bankenunion in Europa geäußert. Verschiedene Elemente einer Bankenunion sind jedoch offen. Eine Bankenunion für Europa wird in vier Dimensionen diskutiert. Eine gemeinsame und im Vergleich zu Basel III schärfere Bankenregulierung, die gleichwohl den EUMitgliedstaaten die Möglichkeit offen lässt, nach oben abzuweichen, ist ein unerlässlicher erster Bestandteil. Diese europäische Bankenregulierung sollte zweitens durch eine einheitliche Regulierungsinstanz in Europa durchgesetzt werden. Hier stellt sich einer-

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seits die Frage, ob der European Banking Authority (EBA) oder der EZB weitere Befugnisse zukommen sollten. Gegen die EZB spricht, dass ein weitgehendes Mandat in der Bankenregulierung zu Zielkonflikten mit dem Ziel der Geldwertstabilität führen könnte. Für die EZB sprechen ihre hohe Fachkompetenz und die Notwendigkeit, dort die makroprudentielle Aufsicht anzusiedeln. Zudem ließen sich Zielkonflikte durch Vorkehrungen im Sinne von Chinese Walls abschwächen. Andererseits muss das Zusammenspiel der europäischen mit den nationalen Aufsichtsbehörden sinnvoll geregelt werden. In der mikroprudentiellen Bankenaufsicht sind schwierige hoheitliche Eingriffe notwendig, bei denen die nationalen Behörden nicht außen vor sein können. Die dritte Dimension der Bankenregulierung stellt die Schaffung eines europäischen Bankenrestrukturierungsregimes dar, das insbesondere die Entflechtung international eng verflochtener Banken ermöglichen muss. Dafür ist ein Bankenrestrukturierungsfonds notwendig, der von den Banken finanziell ausgestattet werden sollte, der aber zudem einen Fiscal Backstop benötigt. Eine systemische Krise des Bankensystems ist dadurch gekennzeichnet, dass der Versicherungsfall für alle Banken zugleich eintritt. Ein Bankenrestrukturierungsfonds könnte dann sehr schnell ausgeschöpft sein, so dass der Steuerzahler aushelfen müsste. Wie ein Fiscal Backstop ausgestaltet sein sollte, ist umstritten. Am sinnvollsten erscheint derzeit eine teilschuldnerische, begrenzte Haftung der beteiligten Mitgliedstaaten. Die vierte Dimension, eine europäische Einlagensicherung, ist hingegen völlig offen und wird angesichts der enormen politischen Widerstände nicht leicht, wenn überhaupt, realisierbar sein. Die europäische Bankenunion ist Zukunftsmusik, weil sie nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann, ohne das europäische Bankensystem aktuell zu überlasten und damit die rezessiven Tendenzen in der Eurozone zu verschärfen. Sie ist daher nicht als Maßnahme zur Bewältigung der akuten Krisenphänomene geeignet. Vielmehr ist ein Mechanismus gefragt, der den Übergang aus der Krise zur ordnungspolitischen Vision für die Europäische Währungsunion im Sinne eines „Maastricht plus Bankenunion" ermöglicht. Diese ordnungspolitische Vision schließt eine Politik, die auf ein Auseinanderbrechen der Währungsunion abzielt, aus. Sie wäre aus deutscher Sicht eine der teuersten Lösungen. Eine monetäre Lösung über die Europäische Zentralbank über einen massiven Kauf von Staatsanleihen wäre ein ordnungspolitischer Sündenfall. Allenfalls kommt der EZB eine sehr eingeschränkte Rolle zu, bis ein besserer Mechanismus zur Verfügung steht. Will man eine solche monetäre Lösung nicht, so bleibt nur eine fiskalische Lösung. Der Sachverständigenrat (2011 und 2012) hat mit seinem Schuldentilgungspakt einen solchen Vorschlag unterbreitet. Der Schuldentilgungspakt besteht aus drei Säulen: einem Schuldentilgungsfonds mit eingeschränkter, zeitlich befristeter Vergemeinschaftung eines Teils der Schulden in der EU, einem Fiskalpakt mit weit reichenden Sicherungsmechanismen und einer Insolvenzordnung für Staaten, nachdem sie ihre Verschuldung im Rahmen des Tilgungsfonds zurückgeführt haben. Der Schuldentilgungsfonds ist der problematische Teil dieses Vorschlags. Er funktioniert so, dass diejenigen Mitgliedstaaten der Währungsunion, die keine Programmländer sind und deren Staatsverschuldung über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, die über 60 Prozent hinausgehende Verschuldung über einen europäischen Tilgungsfonds refinanzieren dürfen. Der Fonds finanziert sich über gesamtschuldnerisch besi-

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eherte Anleihen. Länder außerhalb der Währungsunion und Länder mit einer Schuldenquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts benötigen diesen Fonds nicht. Programmländer sind bereits über andere Mechanismen refinanziert oder allenfalls von weiteren Umschuldungsverfahren bedroht. Daher kommen nur acht Länder für den Fords in Frage. Griechenland, Irland, Portugal und Zypern gehören nicht dazu. Das Volumen des Fonds beträgt etwa 2,6 Billionen Euro. Bis die Refinanzierung der über 60 Prozent hinausgehenden Verschuldung durch den Fonds durchgeführt ist, dürften sechs Jahre vergehen (Roll-in Phase). Die kurzfristige Verschuldung bis zwei Jahre Laufzeit bleibt außen vor. Danach benötigen die Länder etwa 20 Jahre, um die Beträge im Fonds zu tilgen.9 Damit diese Vergemeinschaftung die Anreize zur Konsolidierung nicht verschüttet, sieht der Sachverständigenratsvorschlag eine Reihe von Sicherungen vor, die durch die Marktdisziplin gestützt werden. Voraussetzung für den Zugang zum Fonds ist die Ratifizierung des Fiskalpakts mit nationalen Schuldenbremsen, die den Schweizer oder deutschen Standards entsprechen. Während der Roll-in Phase müssen sich die teilnehmenden Länder zu Anpassungsprogrammen mit Vorgaben für Konsolidierungsprogramme und Strukturreformen verpflichten. Länder, die diesen Vereinbarungen und den schon in der Roll-in Phase bestehenden Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, kann die weitere Teilnahme am Tilgungsfonds verwehrt werden. Für die Tilgung bleibt jedes einzelne Land weiter verantwortlich. Kommt es seinen Zahlungsverpflichtungen an den Fonds nicht nach, so ist dies als Zahlungsausfall für die gesamte Staatsverschuldung eines Landes aufzufassen. Zur Tilgung müssen die Länder eine Steuereinnahme im Sinne einer politischen Zweckbindung festlegen und die Beträge auf ein Sperrkonto einzahlen. Dies ließe sich etwa über einen Zuschlag zur Umsatzsteuer erreichen. Die Mitgliedsstaaten müssen zudem Sicherheiten in Form von Gold- oder Währungsreserven oder Pfandbriefen zur Verfügung stellen. Schuldentilgungsfonds und Fiskalpakt bewirken zwar eine Reduktion der Zinssätze für die hoch verschuldeten Länder in Europa in einem Maße, das die Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen sicherstellt. Weil dieser Vorschlag zudem ein eindeutiges Bekenntnis zur Währungsunion für die kommenden 25 Jahre impliziert, lässt sich das systemische Element dieser Krise lösen. Die Konsolidierungserfordernisse und die notwendigen Strukturreformen werden dadurch aber nicht gehemmt. Vielmehr gelingt es, die Marktkräfte mit diesem Regelwerk zu verzahnen. Erstens würden kurzfristige Staatsanleihen weiterhin durchgängig über den Markt refinanziert. Nach sechs Jahren kehren die teilnehmenden Mitgliedstaaten zudem wieder voll, also auch mit ihren langfristigen Staatsanleihen an den Markt zurück. In der Roll-in Phase besteht die Möglichkeit, den Zinsvorteil, den ein Land durch den Tilgungsfonds haben kann, nicht vollständig, sondern nur mit einem Abschlag weiterzugeben. Es besteht zudem die Möglichkeit, über eine Offenmarktpolitik des Tilgungsfonds disziplinierend zu wirken. Die Marktdisziplin ist somit durch diesen Vorschlag nicht außer Kraft gesetzt.

9

Zu den Details siehe Sachverständigenrat (2012).

zur Begutachtung

der gesamtwirtschaftlichen

Entwicklung

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Nach der Tilgung der Beträge im Tilgungsfonds greift nach dem Vorschlag des Sachverständigenrats eine Insolvenzordnung, die einfach an Schuldenquoten anknüpft. Ein Land mit einer Schuldenstandsquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollte demnach Liquiditätshilfen mit geringfügigen Auflagen erhalten, ein solches mit Schuldenquoten zwischen 60 und 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit umfangreichen Anpassungsprogrammen konfrontiert sein. Bei einer Schuldenquote über 90 Prozent sollte zwingend eine Beteiligung privater Gläubiger im Rahmen einer Umschuldung vorgesehen sein. Für diese Fälle müssen Liquiditätshilfen bereitstehen. Sie müssen kurzfristige Überbrückungshilfen bieten, damit eine solche Insolvenzordnung funktioniert. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) hätte hier seine eigentliche Rolle und ursprünglich war er von deutscher Seite so gedacht. Ein solcher Liquiditätsmechanismus ist ordnungspolitisch unbedenklich, auch im Sinne der Nicht-Beistandsklausel des AEUV, wenn er im Volumen eng begrenzt bleibt und tatsächlich nur zur Übergangsfinanzierung im Rahmen einer Insolvenzordnung eingesetzt wird.

V. Schlussbemerkung Wilhelm Röpke war ein Verfechter des Freihandelsgedankens und gegen jede Form des Kollektivismus. Er war ein überzeugter Europäer, dem in ferner Zukunft das Ordnungsmodell des Schweizer Föderalismus als Zielvorstellung für Europa vorschwebte. In Währungsfragen war er ein Anhänger des Goldstandard und war skeptisch gegenüber politischen Währungsunionen, in denen die Disziplinierungswirkung der Währungsunion über völkerrechtliche Verträge und die Bereitschaft der Länder, diese einzuhalten, sichergestellt werden muss. Der heutige Zustand des europäischen Einigungsprozesses dürfte in ihm sicherlich einen scharfen Kritiker finden. Zwar sind die vier Grundfreiheiten, freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und Freizügigkeit, in der EU weitgehend erreicht. Aber die EU ist immer noch in verschiedenen Politikbereichen, wie etwa der Agrarpolitik, interventionistisch geprägt. Die gegenwärtige Krise der Europäischen Währungsunion hätte Röpke darin bestärken müssen, dass politische Währungsunionen nicht funktionieren können. Gleichwohl besteht die Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion aus dieser Situation herausfinden, ohne die Währungsunion aufgeben zu müssen. Sie könnten die erhoffte Disziplinierungswirkung bei Geldwertstabilität erzielen. Für diese Vision ist es erforderlich, zu den Grundprinzipien des MaastrichtVertrages zurückzukehren und die bestehende Geldverfassung mit einer Insolvenzordnung für Staaten sowie Elementen einer Bankenunion zu ergänzen. Dazu gehört es, die EZB nicht nur weiterhin auf das vorrangige Ziel der Geldwertstabilität zu verpflichten also ihr Mandat nicht in Richtung eines Lender of Last Resort für Staaten zu verändern - , sondern zudem sicherzustellen, dass sie sich nicht zum erneuten Kauf von Staatsanleihen angehalten fühlt und dadurch allmählich in die Rolle des Staatsfinanzierers rückt. Zu dieser Geldverfassung gehört die nationale Autonomie und Verantwortlichkeit in der Finanz- und Wirtschaftspolitik.

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Den Weg aus der heutigen Krise in diese ordnungspolitische Zielvorstellung eröffnet der Schuldentilgungspakt des Sachverständigenrats. Er sieht eine teilweise und zeitlich b ¿fristete Vergemeinschaftung von Schulden in Europa und ein umfangreiches System von Sicherungen und Disziplinierungsmechanismen vor. Dieses Gesamtgefüge ermöglicht die Bewältigung der systemischen Krise, ohne Fehlanreize zu setzen. Dieser Pakt elabliert weder eine dauerhafte Vergemeinschaftung der gesamten Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten der Währungsunion, wie dies Eurobonds erlauben würden. Noch sind damit dauerhafte haushaltspolitische Durchgriffsrechte verbunden, die bei fortbestehender Verwaltungsautonomie der souveränen Mitgliedstaaten der EU unrealistisch und vermutlich zudem verfassungswidrig wären. Die drohende Verfassungswidrigkeit fuhrt in der deutschen Politik in unterschiedlicher Weise dazu, dass mit einer Europäischen Verfassung oder einer Ablösung des geltenden Grundgesetzes durch eine neue, in e h e r Volksabstimmung legitimierte Verfassung kokettiert wird. Wenn es so weit wäre, könnte man eine Volksabstimmung nur begrüßen (Feld 2003 und 2005). Aber es ist nicht so weit. Die gegenwärtige Krise lässt sich problemadäquat mit dem Schuldentilgungspakt des Sachverständigenrats und dem Weg in eine (vorsichtige) Bankenunion bewältigen. In Röpkes Exemplar von Jakob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (1921, S. 132) ist einzig ein Satz mehrfach unterstrichen: „Ohnehin sollten wir gegen das Mittelalter schon deshalb den Mund halten, weil jene Zeiten ihren Nachkommen keine Staatsschulden hinterlassen haben." Röpke wusste, das Staatsschulden eine Geißel der Menschheit sein können. Hinzufugen sollte man: Die Herrscher des Mittelalters halben sich ihrer Schulden nicht immer durch Sparsamkeit, sondern zuweilen dadurch eni ledigt, dass sie fallierten und ihre Gläubiger nicht selten mit in die Insolvenz zogen. 10 Die Staatsverschuldung und das Bankensystem brauchen daher einen Ordnungsrahmen, dei die Fehler des Mittelalters und der Gegenwart zu überwinden hilft.

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10

Ii h danke Carl-Christian von Weizsäcker, der mich auf die Notwendigkeit dieser Klarstellung aufmerksam gemacht hat.

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Lars P. Feld

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Zusammenfassung Wilhelm Röpke war ein Verfechter des Freihandelsgedankens und gegen jede Form des Kollektivismus, aber auch ein überzeugter Europäer, dem in ferner Zukunft das Ordnungsmodell des Schweizer Föderalismus als Zielvorstellung für Europa vorschwebte. In Währungsfragen war er skeptisch gegenüber Währungsunionen, in denen deren Disziplinierungswirkung über völkerrechtliche Verträge und die Bereitschaft der Länder, diese einzuhalten, sichergestellt werden muss. Vor dem Hintergrund von Röpkes Werk zur europäischen Integration werden in diesem Beitrag das ordnungspolitische Konstrukt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion analysiert und Lösungsansätze für die gegenwärtige Schuldenkrise abgeleitet.

Summary: Europe in Today's World: Wilhelm Röpke and the Future of the European Monetary Union Wilhelm Röpke was a proponent of free trade and against any form of collectivism, but also a convinced European citizen, who could envisage Europe to become a federation like Switzerland in the distant future. In monetary policy, he was skeptical against monetary unions the member states of which must be disciplined by international law and the willingness of countries to comply with it. Against the background of Röpke's works on european integration, this paper analyzes the economic constitution of the European Monetary Union and develops solutions for the current crisis in the Eurozone

OR] ) 0 • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Ernst-Joachim Mestmäcker

W ettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt* Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht Inhalt I. II. Iii. IV. V. VI. VII. VI II.

Fragestellungen Antinomien Interdependenzen Europäische Erfahrungen Binnenmarkt Menschenrechte Subjektive Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht Wettbewerbsrecht

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Freedom of Competition and Welfare

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I. Fragestellungen In den Wirtschaftswissenschaften definiert die Verbindung von vollkommener Konkurrenz mit dem aus ihr hervorgehendem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage d e vollendete Harmonie in der Nutzung knapper Ressourcen: Auf die sogenannte Paretc-Optimalität sind in der ökonomischen Wohlfahrtstheorie alle Handlungen des Homo o'jconomicus, seine Motive, ebenso wie die Konsequenzen seiner Handlungen bezogen. Der über Marktpreise gesteuerte Prozess fuhrt zu einem Ergebnis, das nicht mehr ohne ]\ achteile für irgendjemand geändert werden kann. Die Faszination dieses in Voraussetzingen und Wirkungen mathematisch berechenbaren Modells gehört trotz vielfaltiger Modifikationen zu den Grundlagen der modernen Wohlfahrtstheorie. Sie rechnet mit prinzipiell übereinstimmenden Rationalitäten aller Akteure: der Individuen, die sich von den eigenen Präferenzen leiten lassen, und der politischen und rechtlichen Instanzen,

Der Abhandlung liegt ein Vortrag zugrunde, den der Verfasser am 18.8.2011 im Rahmen der Jahrestagung der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main gehalten hat.

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deren Entscheidungen sich an der Gesamtwohlfahrt der Gesellschaft orientieren oder orientieren sollen. Es war von Anfang an der Anspruch der utilitaristischen Wohlfahrtstheorie, Rationalität und Konsequenzen individuellen wie kollektiven Handelns erklären und prognostizieren zu können. Diese Theorie setzt voraus, dass die Handlungen der Einzelnen, die von individuellen Präferenzen bestimmt werden, in ihren Konsequenzen anhand des Wohlfahrtsergebnisses beurteilt werden können. 1 Anhand von rational choice und consequentialism sollen alle Handlungen im Hinblick auf ihre Wohlfahrtswirkungen beurteilt werden. Mit den Rationalitäten, die für das individuelle Handeln maßgeblich sind, entscheidet man zugleich über die wesentlichen Eigenschaften einer Person. In ihrer Zusammenfassung werden individuelle Präferenzen summiert und die Besonderheiten der einzelnen Person vernachlässigt: „Auch in der postutilitaristischen Phase der Wohlfahrtsökonomie mit der Konzentration auf Pareto-Optimalität und Effizienz kommt Rechten keine Eigenbedeutung zu. Dies ist ein Kennzeichen aller Arten von Wohlfahrtstheorien." 2 Rational choice und Konsequentialismus erstrecken sich auf die Beurteilung aller in Betracht kommenden Variablen, einschließlich der anwendbaren Regeln und der sie anwendenden Institutionen. Amartya Sen hat die Konsequenzen zusammengefasst, die sich daraus für die ökonomische Analyse von subjektiven Rechten und Rechtsinstitutionen ergeben: Sie werden zu Rechengrößen. Wenn es eine Position gibt, die den Vertretern von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik gemeinsam ist, dann ist es die Einsicht, dass Ökonomie ohne Recht zum kapitalistischen Feudalismus und Recht ohne Ökonomie zu begrifflicher, vermeintlich neutraler Willkür führt. Die Aktualität des Verhältnisses der Wohlfahrtstheorie zur Wettbewerbsfreiheit, die als Gewerbefreiheit entstanden ist, folgt daraus, dass die Wettbewerbsfreiheit zu den subjektiven Rechten gehört, die marktwirtschaftliche Ordnungen voraussetzen und ermöglichen. Die theoretische Brisanz folgt aus Wettbewerbspolitiken, die unverfälschten Wettbewerb mit den Mitteln des Rechts auch gegen das Eigeninteresse der am Wettbewerb beteiligten Staaten und Unternehmen gewährleisten sollen. Es sind dies gegenwärtig weltweit hauptsächlich die europäische Wettbewerbspolitik auf der Grundlage der Wettbewerbsregeln des AEU-Vertrages und die Antitrustpolitik der USA auf der Grundlage des Sherman Act von 1890. Die Rechtsfragen, an denen sich der Theorienstreit entzündet, betreffen den Zweck der Normen und damit den Unrechtsgehalt des unternehmerischen Verhaltens: Soll das Recht primär die Voraussetzungen wirksamen Wettbewerbs gewährleisten? Dann ist der Anknüpfungspunkt die Wettbewerbsfreiheit; soll das Recht primär die wirtschaftliche Gesamtwohlfahrt oder die Konsumentenwohlfahrt gewährleisten, dann ist der Anknüpfungspunkt das gute oder schlechte wirtschaftliche Ergebnis. Theoretisch und praktisch zu bewältigen ist die nach Rechtsgrundsätzen und in rechtsformigen Verfahren zu begründende Verantwortung der Unternehmen, die an Wettbewerbsbeschränkungen teilnehmen. In Widerstreit geraten wirtschaftswissenschaftlich begründete ökonomische Gesetzmäßigkeiten und die rechtliche Verantwortung der Unternehmen, die durch Kausalzusammenhänge oder Zurechenbarkeiten zu begründen ist. Zu entscheiden ist etwa,

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Sen und Williams (1999, S. 4). Sen (1987/2005, S. 49).

Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt

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ob es bei einer Fusion darauf ankommen soll, ob das zusammengeschlossene marktbeherrschende Unternehmen eine Preispolitik betreiben wird, welche die Konsumenten im Vergleich zu Wettbewerbsbedingungen schädigt? Oder ist zu prüfen, ob das zusammengeschlossene Unternehmen infolge der geänderten Marktstruktur die Wettbewerbsfreiheit anderer Unternehmen beeinträchtigt? Entsprechende Fragen stellen sich bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit des Verhaltens beherrschender Unternehmen oder bei der Frage, ob Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen den Wettbewerb beschränken. Die einen fragen nach der Effizienz der Transaktionen, und ob sie im Ergebnis zur Wohlfahrt beitragen, die anderen nach der entstehenden Marktstruktur und den Auswirkungen auf den Wettbewerbsprozess, anhand dessen zu entscheiden ist, ob die gleiche Wettbewerbsfreiheit anderer Unternehmen beeinträchtigt wird. Im System des europäischen Unionsrechts betrifft diese Streitfrage nicht nur die Anwendung der Wettbewerbsregeln. Sie stellt sich systematisch in gleicher Weise bei der Anwendung derjenigen Vorschriften des Vertrages, die mit den staatsbezogenen Grundfreiheiten den Binnenmarkt konstituieren. Die darüber noch hinausgehende verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Dimension der Grundsatzfragen ist im Zeichen der Finanzkrise in das allgemeine Bewusstsein getreten.

II. Antinomien Die Komplexität unseres Themas zeigen Begriffe, die teilweise zu Schlagworten geworden sind und positive wie negative Antworten nahelegen und damit die zu bewältigenden Antinomien kennzeichnen. *

Ist die „unsichtbare Hand" der Inbegriff eines Wirtschaftssystems, das mit dem Wettbewerb durch rechtsfreie Räume gekennzeichnet ist?



Legitimiert und dirigiert das größte Glück der größten Zahl die übereinstimmenden Zwecke der Einzelnen, der Gesellschaft und ihrer Institutionen?



Kommt der Staat der bürgerlichen Gesellschaft über den Not- und Verstandesstaat nicht hinaus?



Subsumiert der naturwüchsige Konzentrationsprozess Staat und Recht unter sich?



Folgt die Freiheit der Einzelnen aus dem Schweigen der Gesetze oder aus allgemein geltenden Regeln?

Die Fragen lassen sich mit Hegel auch dahin zusammenfassen, ob die Weltgeschichte, die das Weltgericht ist,3 Spuren der Freiheit hinterlassen hat, die es gestatten, Wettbewerb und Wohlfahrt in einem rechtstheoretisch nachvollziehbaren und philosophisch begründbaren Zusammenhang zu diskutieren?4 Diese Fragen sind seit der Aufklärung immer auch die nach der Rationalität der zu verstehenden oder zu beurteilenden Handlungen.

3 4

Hegel (1955, § 340). Die Rechtstheorie fragt nach der Geltung von Normen, die auf einen legitimierten Gesetzgeber - oder eine Grundnonn - zurückzuführen sind. Die Rechtsphilosophie fragt nach der Begründbarkeit von zwingenden Rechtsregeln in einer Gesellschaft freier Menschen.

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Den Antinomien, auf die ich hingewiesen habe, liegen Reaktionen auf das Paradox der Freiheit zugrunde, die durch ihre Begrenzung gewährleistet werden soll. Die rechtlichen und wirtschaftlichen Prinzipien, die diesem Zweck dienen, müssen so beschaffen sein, dass sie nicht die Freiheiten zerstören, die sie ermöglichen sollen. Die Grundsatzftage hat die politischen Auseinandersetzungen über Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt begleitet. Zerstört das Kartellrecht die Vertragsfreiheit? Richtet sich das Missbrauchsverbot für beherrschende Unternehmen gegen die gerade von diesen Unternehmen erwarteten Beiträge zu wirtschaftlicher Effizienz und technischem Fortschritt? Richten sich die „negativen Grundfreiheiten" des Binnenmarktes gegen die soziale Verantwortung der Mitgliedstaaten? Eine vorläufige Antwort lautet, dass materielles Recht und Sanktionen so beschaffen sein müssen, dass die davon betroffenen Unternehmen nicht gehindert sind, von den auch für sie geltenden Freiheitsrechten in legitimer Weise Gebrauch zu machen. Weder Wettbewerbsfreiheit noch Wohlfahrt als Zweck von wettbewerbsrechtlichen Normen sind gegen die Gefahren fehlgeleiteter Eingriffe gefeit. Aber die Wohlfahrt hat ein besonderes Konfliktpotential, weil sie den Konflikt von subjektiven Handlungsfreiheiten und gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt unbeachtet lässt. Sind zurechenbare wettbewerbsrechtliche Schäden festgestellt, richten sich Sanktionen und Abhilfen unmittelbar oder mittelbar darauf, die betroffenen Unternehmen zu einem Verhalten im Dienste der Wohlfahrt zu verpflichten. In der EU betrifft der Gegensatz von Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt auch den Konflikt zwischen Wettbewerbs- und Industriepolitik. In der Agenda der EU-Kommission 20205 gehört zu den sogenannten Flagschiffinitiativen, die zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU beitragen sollen, die „Industriepolitik" für die Ära der Globalisierung. In ihr sollen verschiedene politische Instrumente miteinander verknüpft werden, zum Beispiel „intelligente Regulierung, modernisiertes öffentliches Auftragswesen, Wettbewerbsregeln und Normierung". In diesen Thesen kommt das instrumenteile Verständnis von Wettbewerb und Wettbewerbsregeln deutlich zum Ausdruck.

III. Interdependenzen Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt kennzeichnen Ausschnitte aus der übergreifenden Frage nach dem Verhältnis von Recht und Ökonomie. Dieses Verhältnis prägt die Struktur von Wirtschaftsordnungen. Nach Michel Foucault sind die deutschen Ordoliberalen die Einzigen, die den Wirtschaftsprozess in liberalen Systemen nicht sich selbst überlassen. Ihre Idee sei es, die Wirtschaftsprozesse an Rechtsregeln zu binden, die ihrerseits den Wettbewerb gewährleisten sollen.6 Die Autoren, auf die sich Foucault beruft, sind Walter Eucken, Franz Böhm und Friedrich A. von Hayek. Walter Eucken hat den Zusammenhang von Recht und Ökonomie in wettbewerblichen Marktwirtschaften als Interdependenz von Rechtsordnung und Wirtschaftssystem formuliert.7 Anhand dieses zu konkretisierenden Zusammenhanges soll das in den Wirtschaftswissenschaften überwiegende instrumentale Verständnis des Rechts überwunden werden. Niklas Luh-

5 6 7

Brüssel, 3.3.2010 KOM (2010) endg. Foucault (2006, S. 225-259). Eucken (2004, S. 332 ff. und öfter).

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mann hat das Prinzip als strukturelle Koppelung von Recht und Ökonomie in seine Systemtheorie aufgenommen. 8 Es ist die strukturelle Entsprechung von wettbewerblicher Marktwirtschaft und Privatrechtssystem, die es ermöglicht, „das Planen und Handeln freier, autonomer Menschen aufeinander abzustimmen und insoweit mittelbar zu lenken und zu beeinflussen." 9 Diese Zusammenhänge werden im europäischen Recht konkret durch ein System subjektiver Rechte als Grundlage des Binnenmarktes und des Systems unverfälschten Wettbewerbs. Angesichts der gegenwärtigen Krise ist auf die immer mitzudenkende Voraussetzung dezentraler, freier Wirtschaftsordnungen hinzuweisen: die Stabilität der Währung. Sie kann allein durch subjektive Rechte und den demokratischen Prozess nicht gewährleistet werden. Das erklärt die zentrale Rolle unabhängiger Institutionen: in der Tradition der Bundesrepublik der unabhängigen Notenbank und des Bundesverfassungsgerichts; in der EU, der europäischen Zentralbank (EZB Artikel 130 AEUV) und des EuGH (Artikel 19 EUV). Die hier behandelten Konflikte von Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt prägen in abgewandelter Form auch die Stellung dieser Institutionen in ihrem Verhältnis zum politischen Prozess.

IV. Europäische Erfahrungen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie finden ihre Fragen und ihre Gegenstände durch gesellschaftliche Erfahrungen. Das gilt entgegen einer vor allem im amerikanischen Sprachraum verbreiteten Meinung auch für die als deontologisch gekennzeichneten Philosophien, hauptsächlich für die Rechtstheorie von Immanuel Kant. Wenn Kant über die Möglichkeit eines ewigen Friedens philosophiert, 10 dann ist der Ausgangspunkt seiner Analyse das Rechtsprinzip, das nicht nur für die Einzelnen, sondern auch für die Staaten Geltung beansprucht. Aber die Aussicht, dass sich diese ihrer Zeit weit vorauseilende These als realistisch erweisen könnte, entnimmt Kant der „Natur des Menschen" und der gesellschaftlichen und historischen Erfahrung. Für diese Erfahrung beruft er sich auf der staatlichen Ebene auf die Gewerbefreiheit und international auf den Handelsverkehr zwischen verschiedenen Völkern (S. 364). Gegenwärtig sind es hauptsächlich die europäischen Erfahrungen, welche die rechtliche Aktualität und globale Bedeutung dieser Fragestellung erweisen. Nicht zuletzt bestätigt die Entstehung der europäischen Integration den von Kant hauptsächlich in Anspruch genommenen großen Lehrmeister: Krieg. In Europa verweisen Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt einmal auf die Zusammenhänge von Staat und Gesellschaft und zugleich auf den Wettbewerb als Instrument der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung. Im Sprachgebrauch werden der Unternehmensbezug von Wettbewerb und der Staatsbezug von Wohlfahrt weitgehend als selbstverständlich vorausgesetzt. Der systematischen Einheit der Fragestellung entsprechen jedoch keine übereinstimmenden historischen Entwicklungen. Wettbewerb und Wettbewerbsfreiheit waren zunächst Teil der vom Staat oder Zünften freigegebenen oder geduldeten allgemeinen Handlungsfreiheit. Als Gewerbefreiheit wurde sie zum subjekti8

9 10

Luhmann (1993, bes. S. 440 ff.). Näher dazu Mestmäcker (2008, S. 185 und 189 ff.).

Böhm (1980, S. 105 und 115). /lüm? (1912/1968, S. 343-386).

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ven Recht, das gegen Eingriffe des Staates geschützt war. Das daraus abgeleitete Ordnungsprinzip, an das auch die Unternehmen als Inhaber wirtschaftlicher Freiheitsrechte gebunden sind, gehört späteren und unter sich verschiedenen Epochen an. Adressaten von Rechtsnormen, die Wettbewerbsbeschränkungen verbieten, wurden die Unternehmen zuerst in den USA durch die Antitrustgesetze. In Deutschland waren es die bereits zitierten Ordoliberalen, welche Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit nicht nur als gegen staatliche Eingriffe geschützte Rechtspositionen, sondern als ein durch Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu gewährleistendes Ordnungsprinzip begründeten. Europäisiert wurde das Wettbewerbsprinzip durch die europäischen Verträge, zuerst durch den EGKS-Vertrag von 1952, dann durch den Vertrag von Rom von 1958. Seither ist die Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Kommission der EU und die europäischen und mitgliedstaatlichen Gerichte prägend für die Entwicklung des Wettbewerbsrechts. Ihre weltweite globale Bedeutung folgt hauptsächlich daraus, dass sie nach dem Territorialitätsprinzip auf die im Binnenmarkt tätigen ausländischen Unternehmen, einschließlich der amerikanischen Unternehmen anwendbar sind. Die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln auf amerikanische Großunternehmen erklärt, warum die amerikanische Diskussion über die Zwecke von Antitrust nach Europa exportiert wurde. Die gegenwärtige europäische Diskussion wurde durch den stärker wirtschaftlichen Ansatz („more economic approach") der EU-Kommission ausgelöst.11 Das Ziel dieser Politik, die vor etwa 10 Jahren eingeleitet wurde, bestand darin, einen als juristisch und formal kritisierten Ansatz durch einen stärker ökonomischen Ansatz zu reformieren. Dieser Wandel hat Konsequenzen für Kartellverbot, Fusionskontrolle und Missbrauch beherrschender Stellungen. Die zu diskutierende Wirkung der Politik hat darin bestanden, den in den USA von der Chicago School begründeten wohlfahrtstheoretisehen Ansatz in der Interpretation der Antitrustgesetze in abgewandelter Form für Europa zu übernehmen. Es geht um die These, dass der einzig legitime Zweck der Antitrustgesetze die Förderung der Wohlfahrt sei. Meinungsverschiedenheiten bestehen in den USA allenfalls darüber, ob die Gesamtwohlfahrt oder die Konsumentenwohlfahrt zugrunde zu legen sei, und welche Wirkungszusammenhänge im Hinblick auf die produktive, allokative oder dynamische Effizienz zu berücksichtigen seien. In dieser Diskussion werden individuelle Rechte, die in der frühen Rechtsprechung des Supreme Court noch im Mittelpunkt standen, im amerikanischen Schrifttum nur noch in Anführungszeichen zitiert. Das Selbstverständnis der Ökonomie als einer exakten, den Naturwissenschaften ähnlichen Wissenschaft schließt Recht und Moral als vorwissenschaftlich aus. „Philosophische Fragen" definieren in dieser Diskussion das wesensgemäß Unerhebliche.

V. Binnenmarkt Das Gewicht, das den wettbewerbsrechtlichen Fragen in der aktuellen Diskussion zugewachsen ist, erschöpft nicht die europarechtlich erheblichen Zusammenhänge. Einzubeziehen sind die staatsbezogenen Grundfreiheiten des Binnenmarktes: die Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Freizügigkeit und Kapitalsverkehrsfreiheit. Sie ' 1 Überblick in Immenga und Mestmäcker (2012, Einleitung B-D).

Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt

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haben in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte Grundrechtscharakter. Die Grundfreiheiten europäisieren die Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit. Sie binden Mitgliedstaaten und Union. Ihre überragende praktische Bedeutung folgt daraus, dass sie unmittelbar anwendbar sind, das heißt, dass sie als subjektive Rechte auf Teilnahme am grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr gegen die Mitgliedstaaten und vor deren Gerichten durchsetzbar sind. Die Grundfreiheiten fundieren ferner das Vergaberecht, das den Staat und seine Organisationen in ihrer Beschafftingstätigkeit an den Wettbewerb bindet. 12 Mit dieser Wirkung der Grundfreiheiten hatte bei den Verhandlungen über den Vertrag von Rom niemand gerechnet. Im traditionellen Völkerrecht waren vertragsrechtliche Rechte und Pflichten staatsbezogen. Im Falle ihrer Verletzung blieb dem verpflichteten Staat ein weiter Spielraum, wie und ob er einen Vertragsverstoß beenden wollte. Die europäische Rechtsprechung hat es mit Recht abgelehnt, den stärker wirtschaftlichen Ansatz auf die Ausübung der Grundfreiheiten anzuwenden. Der wichtigste Grund besteht darin, dass die Grundfreiheiten die Anwendbarkeit nationaler Gesetze ausschließen können. Die abstrakte und generelle Anwendbarkeit der Gesetze auf zukünftige Konflikte schließt es von vornherein aus, ihre positiven oder negativen Wohlfahrtswirkungen durch einen Vergleich mit und ohne Verbot zu ermitteln. Für die Auslegung der Wettbewerbsregeln ist der systematische Zusammenhang von Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln grundlegend. In den Fällen, in denen sich Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen oder das Verhalten beherrschender Unternehmen gegen die Öffnung der Märkte richten, scheidet nach der Rechtsprechung eine Korrektur durch den stärker wirtschaftlichen Ansatz von vornherein aus. Erst diese Zusammenhänge erschließen die Dimension unserer Fragestellung: Sie ist eine rechtstheoretische Fragestellung im Rahmen der eigenständigen Rechtsordnung der Union und deren Integration in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten, sie ist eine philosophische Fragestellung im Hinblick auf die Begründetheit subjektiver Rechte, welche Handlungsfreiheiten im grenzüberschreitenden Wettbewerb gewährleisten und Hoheitsbefugnisse begrenzen.

VI. Menschenrechte Die Menschenrechte, welche die Französische Revolution begründet haben und die zukünftige Gesellschaft ordnen sollten, sind zum Inbegriff subjektiver Rechte geworden. Dem prinzipiellen Streit über ihre Legitimation und Grenzen konnten sie sich gleichwohl nicht entziehen. Schon zur Zeit ihrer Entstehung wurden sie von Jeremy Bentham13 und Edmund Burke14 aus ganz verschiedenen Gründen als rechtstheoretisch widersprüchlich und politisch unverantwortlich gebrandmarkt. In der ideengeschichtlichen Tradition überwiegen die von den Menschenrechten inspirierten holistischen Interpretationen von Recht, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Kritik von Jeremy Bentham richtete sich aber nicht nur gegen Menschenrechte, sondern gegen subjektive Rechte als 12 13 14

Überblick in Mestmäcker und Schweitzer (2004, § 2 IV). Jeremy Bentham (1973). Näher dazu Mestmäcker (1984b). Edmund Burke (1803, S. 27 ff.).

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solche. In seiner Theorie treffen die wichtigsten Gründe zusammen, aus denen subjektive Rechte abgelehnt, in Frage gestellt oder unbeachtet gelassen werden: „Der Endzweck aller Normen als utilitaristische Maximierung des Gesamtwohls; die positivistische Rechtstheorie, die alles Recht auf den Gesetzgeber zurückfuhrt, so dass individuelle Rechte nur Reflex des objektiven Rechts sind; die imperative Theorie des Rechts, wonach alles Recht auf Befehl und Gehorsam zurückzufuhren ist."15 Benthams Theorie war zugleich eine Wirtschaftstheorie, die über James und John Stuart Mill die Entwicklung der ökonomischen Wohlfahrtstheorien nachhaltig beeinflusst hat.16 Die Schwierigkeiten, die Ökonomen mit der Wettbewerbsfreiheit als subjektivem Recht auch gegenwärtig noch haben, werden in dieser Tradition erklärlich, weil es subjektive Rechte nicht zu geben scheint, sie jedenfalls aber für theoretisch irrelevant oder gar für in sich widersprüchlich gehalten werden. Der Begriff, der die Geister und die Schulen scheidet, ist der des Rechtssubjekts und der darauf bezogenen Rechte und Handlungsfreiheiten. Ich lasse die Wirtschaftsordnungen beiseite, die das wirtschaftlich erhebliche Handeln dem Staat vorbehalten und nur ihn und seine Organisationen als Subjekt des wirtschaftlich erheblichen und rechtlich verbindlichen Handelns anerkennen. Der planwirtschaftliche Sozialismus hat damit die radikalsten Konsequenzen aus der Kapitalismuskritik von Karl Marx gezogen. Aber Marx war auch ein theoretisch gründlicher Kritiker und als solcher hat er unabhängig vom „real existierenden Sozialismus" gewirkt. Er ist neben Jeremy Bentham der einflussreichste Kritiker von Menschenrechten und wirtschaftlich erheblichen, subjektiven Freiheitsrechten. In seiner Kritik an der Erklärung der Menschenrechte unterscheidet Marx die wirtschaftlichen von den politischen Menschenrechten. Nur die politischen Menschenrechte seien emanzipativ: „Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich (à son gré) ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden".17

Der Mensch, heißt es erläuternd, werde nicht vom Eigentum befreit; er erhalte vielmehr die Freiheit des Eigentums. Er werde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhalte vielmehr die Gewerbefreiheit (ebenda, S. 369). Der These, dass die wirtschaftlich erheblichen Freiheitsrechte keine Grundlage für ein politisches Gemeinwesen und keine Grundlage für politische Freiheiten sein könnten, kommt in ideengeschichtlichen Zusammenhängen grundsätzliche Bedeutung zu. Sie hat wesentlich zur Diskreditierung wirtschaftlicher Freiheitsrechte beigetragen. Es gehört zum Erkenntnisprogramm von Jürgen Habermas, dass die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht nicht zur Emanzipation, sondern zum Genuss der unpolitischen Privatheit beitragen. Vertragsfreiheit und Eigentumsrecht, die mit dem Wettbewerb zur gleichen Freiheit in der Privatrechtsgesellschaft gehören {Franz Böhm), werden von ihm 15 16

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Mestmäcker (2008, S. 1197 und 1208). John Stuart Mill (1985). Zu Utilitarismus und Moral S. 21, zum vermeintlichen Utilitarismus des unbeteiligten Zuschauers S. 30, zur Gerechtigkeit als Gesamtinteresse der Menschheit S. 91. Marx (1958, S. 347 und 365).

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als „Gebrauchswert der Bürgerfreiheiten" im Genuss privater Autonomie interpretiert und diskreditiert. Deshalb soll für die Freiheit von Personen, die als rationale Entscheider von ihren Wirtschaftsfreiheiten Gebrauch machen, ein „normativ ermäßigtes Personenkonzept gelten."18 Es ist nur konsequent, dass Habermas in der wirtschaftlichen Integration Europas einen nicht korrigierbaren Geburtsfehler sieht. Wettbewerb und Wohlfahrt sind beide gleich unzulängliche Ziele oder Instrumente europäischer Integration. Einen ganz anderen Gebrauch macht Foucault von dem Marxschen Erbe. Foucault ist deshalb besonders anregend, weil er in seiner Kritik in der Nachfolge von Marx diejenigen Autoren in den Mittelpunkt stellt, die repräsentativ sind für eine Rechts- und Wirtschaftsordnung, in der Recht und Freiheit keine Gegensätze bilden, sondern sich gegenseitig bedingen: Immanuel Kant, David Hume und Adam Smith. Gouvernementale Politik ist in guter französischer Tradition der Prüfstein für die Möglichkeit von Politik überhaupt. Ihre wichtigste Herausforderung und eines ihrer Elemente ist die Ökonomie. Die zentrale These lautet, es sei dem Recht noch nie gelungen, die Ökonomie nach Rechtsgrundsätzen zu ordnen, auch den deutschen Ordoliberalen nicht. Die europäische Integration wird von ihm nur am Rande und zwar im Zusammenhang mit der Landwirtschaftspolitik erwähnt. Das zentrale Argument für die Unmöglichkeit des ordoliberalen Projekts sieht er einmal darin, dass die an Markt und Wettbewerb orientierte Ordnungspolitik in eine Art von Planwirtschaft umschlage. Wichtiger ist jedoch die These, dass die ökonomische Theorie, begründet von Adam Smith und David Hume und fortgeführt von der modernen amerikanischen Ökonomie, mit wahrer Staatlichkeit und mit dem Recht unvereinbar sei. Foucault unterscheidet sorgfaltig zwischen der prognostizierten historischen Entwicklung in Europa, die aus dem Wettbewerbsprinzip folge und den rechtstheoretischen Konsequenzen dieser Entwicklung. Foucault skizziert das Organisationsprinzip der Konkurrenz als ein System der wechselseitigen Bereicherung. Entweder werde ganz Europa reich oder ganz Europa arm sein. Es gebe keinen Kuchen mehr aufzuteilen.19 Dieses Spiel sei im Gegensatz zum Merkantilismus kein Nullsummenspiel mehr. Es lasse sich nicht mehr anhalten, um das Gleichgewicht herzustellen. Die Öffnung eines globalen Marktes vermeide zwar die konfligierenden Wirkungen eines endlichen Marktes, aber das Spiel finde in Europa statt, und der Einsatz sei die Welt.20 Im Zeichen der Finanzkrise lesen wir diese Geschichtsspekulationen mit neuer Aufmerksamkeit. Aber unverändert erheblich bleibt die Frage nach der Domestizierbarkeit eines auch global wirkenden Wettbewerbs. Das ist die Frage nach der Möglichkeit und Wirksamkeit des Rechts. Foucault bereitet seine Rechtskritik mit einer Interpretation von Kants Traktat über den ewigen Frieden vor.21 Weil Kant im internationalen Handel einen Beleg für die mögliche Friedenswirkung des Rechts auch zwischen Staaten sieht, ordnet Foucault ihn den Ökonomisten zu. Im Mittelpunkt seiner Kritik steht jedoch der homo oeconomicus. Dieser sei die einzige kleine Insel möglicher Rationalität innerhalb eines Wirtschaftsprozesses, dessen unkontrollierter Charakter der Rationalität des atomistischen Verhal18

" 20 21

Habermas (1998, S. 142, Sperrung im Original). Foucault (2006, S. 85). Foucault (2006, S. 87). Foucault (2006, S. 88 ff.).

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tens des homo oeconomicus nicht widerstreite, sondern sie begründe (S. 347). Foucault sieht die Revolution des englischen Empirismus darin, dass zum ersten Mal ein Subjekt erscheine, das allein durch seine nicht weiter rückfiihrbaren Entscheidungen charakterisiert sei. Der homo oeconomicus ist demnach der Mensch, der seinem Interesse gehorcht (S. 371). Er sei Subjekt oder Objekt des laissez faire und als solcher, aber nur als solcher, sei er regierbar (S. 372). Dieses Subjekt ist das Interessensubjekt, das dem Rechtssubjekt gegenüber gestellt und von ihm kategorial unterschieden wird. Das Interessensubjekt hat einen nicht überwindbaren Vorrang vor dem Rechtssubjekt, es kann nicht überlagert werden (S. 379). Die These, dass das Interessensubjekt mit dem Rechtssubjekt unvereinbar sei, stützt Foucault auf die ökonomischen Bezüge in den Rechtstheorien von David Hume (S. 376) und Immanuel Kant (S. 88). Aber es ist die unsichtbare Hand von Adam Smith, von der sich Foucault in seiner Kritik der liberalen Ökonomie hauptsächlich leiten lässt. Dafür stützt er sich auf das folgende Zitat: „Solange der Einzelne nicht die Gesetze verletzt, lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann." (S. 386). Dies sei das Prinzip des laissez faire. Die Ökonomie entwende damit dem Souverän, der seine Souveränität im Staat ausübe, die Wirtschaftsprozesse (S. 387). Damit der Kollektivgewinn sicher sei, damit das größte Wohl der größten Zahl erreicht werde, sei es unerlässlich, dass jeder Akteur gegenüber der Gesamtheit blind sei (S. 388/89). Diese Zitate sind repräsentativ für rechtliche und wirtschaftliche Fehldeutungen, welchen die Theorie von Adam Smith in der Ideengeschichte immer wieder ausgesetzt war. Es soll bewiesen werden, dass freiheitliche, rational geordnete und dezentrale Wirtschaftssysteme letztlich unmöglich sind. Die Freiheit, das Eigeninteresse zu verfolgen, steht bei Adam Smith jedoch unter dem Vorbehalt der Geltung der Gesetze. Dieser Vorbehalt wird von Foucault zwar zitiert, aber wie von vielen vor ihm in seiner grundlegenden Bedeutung außer Acht gelassen. Die Fehldeutung erklärt sich aus der Annahme, dass sich Recht und Gesetz bei Adam Smith immer gegen staatliche Eingriffe in die „natürlichen Freiheiten" richten. Das konstitutive Element marktwirtschaftlicher Ordnungen, Privatrechtsordnung und Wettbewerb, bleiben jedoch außer Betracht. Ähnlich irreführend und unbegründet ist die Identifikation der unsichtbaren Hand mit dem größten Wohl der größten Zahl, also mit dem Utilitarismus. Diese Fehldeutung ist wahrscheinlich die am weitesten verbreitete in der Ökonomie und in der Rechtstheorie. Adam Smith hat jedoch den Gegensatz seiner Rechts- und Wirtschaftstheorie zum Utilitarismus ausfuhrlich begründet.22 Wie verbreitet die Gleichstellung der Theorien von Adam Smith und David Hume mit dem Utilitarismus gleichwohl ist, zeigt John Rawls in seinem Werk „A Theory of Justice" (1973). Er ist zwar einer der einflussreichsten Kritiker des Utilitarismus und er trifft einen Kern mit der Feststellung, der Utilitarismus vernachlässige die Verschiedenheit individueller Personen.23. Umso überraschender ist es, dass Rawls den impartial spectator von Adam Smith als utilitaristischen Beobachter interpretiert.24 Rawls Kritik am Utilitarismus stimmt mit eben dieser Kritik von Adam

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Smith (1974, S. 179 f.). Dazu auch Mestmäcker (1984, S. 126). John Rawls {1973, S. 187). John Rawls (1973, S. 186),

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Smith und David Hume weitgehend überein. Gemeinsam richten sie sich gegen die prinzipielle Übereinstimmung der Rationalität der Individuen und der kollektiven Akteure und deren Fähigkeit, das höchste Glück der größten Zahl zu kennen und zu verwirklichen. Es ist die behauptete Übereinstimmung von instrumenteller Vernunft (means Utility) mit den Wohlfahrtszwecken (end Utility), die Hayek im Anschluss an David Hume als constructivist fallacy zurückgewiesen hat. 25 Diese Annahme fuhrt dazu, jede Regel und jede Institution auf ihren Wohlfahrtszweck zu reduzieren. In der Wettbewerbstheorie und im Wettbewerbsrecht kommt sie darin zum Ausdruck, dass Effizienzen und ihr Bezug zu gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen die wichtigsten Beurteilungskriterien sein sollen. Die Rechtstheorien von David Hume und Adam Smith stehen dazu in einem prinzipiellen Gegensatz. David Hume überwindet den theoretischen Gegensatz von Eigeninteresse und Rechtsregeln durch die „künstliche Tugend der Gerechtigkeit". Der unvermeidliche Gegensatz der Selbstliebe des Einen zur Selbstliebe des Anderen bewirke, dass die subjektiven interessengeleiteten Leidenschaften genötigt seien, sich so aneinander anzupassen, dass daraus ein System für das Verhalten und den Umgang mit Anderen entstehe. Wörtlich heißt es sodann: „Dieses System umfasst das Interesse jedes Einzelnen und liegt deshalb zugleich im öffentlichen Interesse; gleichwohl gehört dieser Zweck nicht zu den Absichten derjenigen, die es hervorbringen (invent)." 26 Der englische Rechtsphilosoph Haakonssen meint, dies sei die wahrscheinlich kühnste These in der Geschichte der Rechtsphilosophie. 27 In ihr wird fasslich, dass die unsichtbare Hand der Ökonomie zugleich die sichtbare Hand des Rechts ist.28 Mit der Veröffentlichung der Vorlesungen von Adam Smith über Jurisprudence29 wird es möglich, seine Rechtstheorie zusammenzufassen. 30 Die wichtigsten Elemente der Rechtstheorie von Adam Smith sind: •

Ein System subjektiver Rechte; 31



Der impartial spectator als unparteiischer Beobachter, der für die Abgrenzung dieser Rechte und damit für die Entscheidung über berechtigte oder unberechtigte Erwartungen zuständig ist;



Die ökonomische Begründung der zivilisatorischen Errungenschaften im System der Arbeitsteilung, das aus den „natürlichen Freiheiten" hervorgeht.

Der impartial spectator repräsentiert in seinen verschiedenen Funktionen die Moral und Rechtstheorie von Adam Smith, insbesondere in ihrer Anwendung auf die Ökonomie. Der impartial spectator ist die moralische Instanz für das Handeln der Einzelnen: Wir sehen uns als Beobachter unseres eigenen Verhaltens, um festzustellen, wie es mit den Augen anderer Leute zu beurteilen wäre. 32 Im Recht wirkt der impartial spectator 25 26 27 28 29 30 31 32

von Hayek (1976, S. 17, FN 14). Zu David Hume siehe (Hume 1986/1964, S. 237 f.). David Hume (1964, S. 296). Knud Haakonssen (1981/1999, S. 20). Dazu Mestmäcker (1984, S. 104 ff.). Smith (1978, Rz. 12-26 und öfter). Grundlegend und umfassend dazu jetzt Petersen (2012). Zum Einfluss auf Kant und Hegel, S. 32 ff. Siehe Smith (1974, S. 179 f.).; grundlegend dazu Knud Haakonssen ((1989, S. 99-134). Smith (1974, S. 112).

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als Richter, der die Norm und die Interessenlage der beteiligten Personen interpretiert. Der Bereich der Politik ergibt sich aus den Grenzen des geltenden Rechts. In der Politik ist der impartial spectator auf nationaler wie auf internationaler Ebene die kritische Instanz, welche die Beachtung von Rechtsgrundsätzen einfordert. Daraus folgt für die Gesetzgebung die Orientierung am „Bewegungsgesetz der Gesellschaft", das sich aus den natürlichen Freiheiten auf wettbewerblichen Märkten ergibt. Der kritische Anspruch reicht jedoch weiter: Auf nationaler Ebene richtet er sich gegen die Sklaverei, auf internationaler Ebene gegen die Willkür der europäischen Mächte in ihren Kolonien. Die Rechtstheorie von Adam Smith, gegründet auf die Theorie subjektiver Rechte, erweist sich als eine Grundlage für seine spätere Theorie des Marktes und der Arbeitsteilung.33 Amartya Sen legt seinem 2009 erschienen Werk „The Idea of Justice" die durch den impartial spectator repräsentierte Rechts- und Moraltheorie von Adam Smith zugrunde.34 Damit verbunden ist die Absage an Wohlfahrtstheorien, die anhand gesamtwirtschaftlicher Ergebnisse Handlungsfreiheiten und ökonomische Maximierungen zugleich gewährleisten sollen.35 In Teilen der gegenwärtigen deutschen Rechtsphilosophie hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass die unsichtbare Hand ein Produkt des deistischen Glaubens von Adam Smith sei.36

VII. Subjektive Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht In der positivistischen und utilitaristischen Rechtstheorie gibt es in der Tradition von Thomas Hobbes und Jeremy Bentham keine subjektiven Rechte: keine Rechte gegenüber dem Staat und keine Rechte im Verhältnis der Bürger zueinander, außer als Reflex der Gesetzgebung. Kant hat die Möglichkeit und die kategorische Notwendigkeit von subjektiven Rechten in Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes begründet.37 Die Kantische Rechtstheorie gibt einen Wegweiser für die zentrale Rolle, die subjektiven Rechten in Rechts- und Verfassungsordnungen zukommt, in der die Autonomie der Einzelnen ein hohes Gut ist und dazu beiträgt, staatliche wie gesellschaftliche Macht zu begrenzen. Die Glückseligkeit (pleasure and pain) tauge nicht als Maßstab der Gesetzgebung. Dem stehe das Prinzip entgegen: „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) - glücklich zu sein." Das gilt für den Staat ebenso wie für die Mitmenschen oder für eine Mehrheit von ihnen. Hier ist nicht auf die Natur des Gesellschaftsvertrages einzugehen, den Kant im Gegensatz zu

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Knud Haakonssen (1996, S. 147). Amartya Sen (2009, S. 44-46). Die Kritik von Amartya Sen an der Rechtstheorie von John Rawls in „Justice as Fairness" richtet sich gegen die in der „Original Position" zugrunde gelegte Begrenzung auf Systeme des geltenden Rechts. Sen nennt diese Position „a closed model" (S. 124). Demgegenüber ist daraufhinzuweisen, dass auch Adam Smith die Grenzen von Recht und Politik in ihrem Verhältnis zueinander berücksichtigt. So Brandt (2010, S. 209); teilweise anders aber S. 168. Kersting (2009, S. 145 und 146) fugt dem Gottesglauben die vermeintliche Habsucht („das pleonektische Streben der Menschen") als Erklärung für die natürliche Ordnung der Dinge hinzu. Für einen unserer wichtigsten Kant-Interpreten scheint dessen Nähe zu Adam Smith undenkbar zu sein. Zu „Kantian Themes in Smith" siehe Knud Haakonssen (\996, S. 148 ff.). Sorgfältig differenzierend zu Adam Smith aber Fulda (2003, S. 201 und 219). Über den Gemeinspruch „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", in: Kant (1912/1971, S. 276, 30 f.).

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Hobbes nicht als Unterwerfung, sondern als Grundlage des Rechtsprinzips interpretiert. Die unverlierbaren Rechte, die der Mensch nicht einmal aufgeben kann, selbst wenn er es wollte, begründen die Selbständigkeit der Bürger im Verhältnis zum Staat und im Verhältnis der Bürger zueinander. Es ist das allgemeine Freiheitsgesetz, das Wirkung und Gegenwirkung der Willkür der Einzelnen so regelt und aufeinander abstimmt, dass sie mit der Rechtsgleichheit vereinbar ist. Trotz ihrer transzendentalen Fassung ist diese Theorie, wie der Titel der hier zugrunde gelegten Abhandlung zeigt, in hohem Grade praktisch und auf gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen. Die These wird durch die verschiedenen Zusammenhänge bestätigt, in denen Kant auf die Natur der Menschen in Gesellschaft Bezug nimmt. Das gilt für die Anthropologie ebenso wie für seine geschichtsphilosophischen oder geschichtlichen Reflektionen. Man mag diesen Gedanken jeglichen theoretischen Anspruch, jede Erklärungskraft oder deskriptive Prognose absprechen. 38 Unstreitig sollte sein, dass zu den Freiheitsrechten auch wirtschaftliche Freiheitsrechte gehören, die in ihrer Realität zur Marktwirtschaft beitragen. 39 Und die europäische Integration gehört zu den Erfahrungen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Gleichgewicht der Mächte in Europa nicht mehr, wie Swifts Haus bei Kant, zusammenbricht, wenn sich ein Sperling darauf setzt (ebd. S. 312). In der kontinentalen rechtsstaatlichen Tradition, die das Europarecht prägt, haben subjektive Rechte in der positiven Rechtsordnung hauptsächlich zwei Funktionen: Sie begrenzen als Grundrechte die Hoheitsbefugnisse des Staates und sie sind im Privatrecht als subjektive Rechte auf der Grundlage der Vertragsfreiheit das Medium, das die Wettbewerbsgesellschaft möglich macht. Die Tradition der staatsgerichteten Grundrechte wird von der europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtscharta der Union fortgeführt. Auch Hoheitsakte der Union sind auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht gerichtlich überprüfbar. In dieser Tradition abzuwägen sind das öffentliche Interesse, das der Hoheitsträger repräsentiert, und das individuelle Interesse des Klägers. Eine andere Interessenlage kennzeichnet die Grundfreiheiten in der EU. Hier sind es nicht der Staat oder die Union, welche das öffentliche Interesse gegenüber privaten Klägern wahren, sondern es sind die Kläger, die mit ihrem subjektiven Recht auf Teilnahme am Binnenmarkt das Interesse der Union gegen die Mitgliedstaaten durchsetzen. In der Wettbewerbsgesellschaft normieren subjektive Rechte nicht den rechtlichen Status ihrer Inhaber, sondern sie setzen ihn instand, von seiner Autonomie zu eigenen Zwecken Gebrauch zu machen. Tut er dies zu wirtschaftlichen Zwecken und unter Beachtung der gleichen Rechte Dritter, so entsteht Wettbewerb. Im Wettbewerb werden Rechts- und Vermögensverhältnisse an veränderte wirtschaftliche Situationen angepasst. Gegen die Beschränkung dieses Wettbewerbs durch die Unternehmen und die Staaten als Unternehmen richten sich die Wettbewerbsregeln in ihrer Anwendung durch Behörden ebenso wie in ihrer Anwendung auf der Ebene des Privatrechts durch Schadensersatzklagen.

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So Kersting (2004, S. 167). So Brandt (2010, S. 147, Fn. 194); spricht zur „ungefähren Orientierung" davon, dass Kant die Staatsgesellschaft in der Form der liberalen Marktwirtschaft konzipiere.

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Mit den Grundfreiheiten des Binnenmarktes gewinnen der grenzüberschreitende Wettbewerb und die internationale Arbeitsteilung eine neue Dimension. Zunächst europäisieren die Grundfreiheiten wirtschaftliche Handlungsfreiheiten im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr. Sie untersagen den Mitgliedstaaten, den Wettbewerb im Außenwirtschaftsverkehr in ihrem je eigenen öffentlichen Interesse zu beschränken. Diese Beschränkungen richten sich gegen den Zugang zu den nationalen Märkten durch Importrestriktionen. Exporte können durch Subventionen oder Exportkartelle gefördert oder durch Exportverbote begrenzt werden. Der Interventionsverzicht ist für die beteiligten Staaten rechtlich und wirtschaftlich verantwortbar, weil er Teil der allseitigen Interventionsverzichte der Mitgliedstaaten im Binnenmarkt ist. Die im internationalen Wirtschaftsverkehr üblichen hoheitlichen Retorsionen zum Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen sind in der Union ausgeschlossen. Die entsprechenden Wirkungen gehen vom Verbot wettbewerbsverfalschender Beihilfen aus. Die nationale Wohlfahrt als sich selbst rechtfertigende Maxime des souveränen Staates ist durch das Unionsrecht teilweise überholt. Das gilt trotz notwendiger radikaler Korrekturen auch im Zeichen der Finanzkrise. Die nur negativen Grundfreiheiten haben ferner mit Grundrechten gemeinsam, dass sie sich gegen bestimmte Mittel der Beschränkung des unionsinternen Wirtschaftsverkehrs richten. Nichts hindert die Mitgliedstaaten, sozialstaatliche Zwecke auf andere Weise als durch Eingriffe in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr zu verfolgen. Ein stärker wirtschaftlicher Ansatz kommt im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entgegen einer im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum vertretenen Meinung nicht in Betracht (S.o.S. 9).

VIII. Wettbewerbsrecht Nachhaltige Wirkungen gehen von wohlfahrtstheoretisch angeleiteten Interpretationen von Rechtsnormen vor allem im Wettbewerbsrecht aus. Das gilt für das Antitrustrecht in den USA und für die europäischen Wettbewerbsregeln. Für beide Rechtsordnungen hat die Wirkung eines stärker ökonomischen Ansatzes darin bestanden, dass man über das Ziel hinaus geschossen ist, wenn das Ziel darin bestanden haben sollte, zu einer besseren und wirksameren Anwendung der antitrustrechtlichen oder wettbewerbsrechtlichen Normen beizutragen. 40 (a) USA Die von Robert H. Bork dargestellten Paradoxien im Antitrustrecht bestätigen jedoch ihrerseits Paradoxien von welfare economics in ihrer Anwendung auf Rechtsverhältnisse.41 Bork stellt sich die Aufgabe, die Antitrustgesetze für Gesetzgeber, Rechtsprechung, Behörden und Unternehmen anhand von einfachen, auch für NichtÖkonomen einsichtigen Kriterien zu begründen, verständlich zu machen und zu entwickeln. Der Ausgangspunkt lautet: „Die Konsumentenwohlfahrt ist am größten, wenn die ökonomischen Ressourcen so genutzt werden, dass Verbraucher ihre Bedürfnisse so vollständig befriedi40 41

Pitofsky(2008). Bork (1978/1993). Umfassend und kritisch dazu schon Schmidt und Rittaler (1986).

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gen können, wie es unter Berücksichtigung technologischer Grenzen möglich ist. Konsumentenwohlfahrt in diesem Sinne ist nur ein anderer Begriff für den Reichtum der Nation." 42 Den Leitfaden für dieses Programm findet Bork im preistheoretischen Modell der vollkommenen Konkurrenz, das in seiner einfachen Form zugrunde gelegt wird. Das Modell ähnele einer Gleichung, die erkennen lasse, wie sich Chemikalien verbinden, es enthalte keine Aussage über die psychologische Disposition der Chemikalien und behaupte nicht, dass es keine Faktoren geben könne, welche die Reaktion behinderten. 43 Die so definierten „limiting conditions" sollen ausreichen, um die Tendenzen zu erkennen, die wirksam seien, obwohl die dem preistheoretischen Modell zugrundeliegenden Annahmen nicht verwirklicht seien. 44 Diese Gewissheit folgert Bork hauptsächlich aus dem Gewinnstreben der Unternehmen. Je nachhaltiger es den Unternehmen einer Industrie gelinge, ihren Gewinn zu maximieren, desto wirksamer näherten sie sich der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt, wenn nicht die Möglichkeit gegeben sei, auch die Produktion einzuschränken. 45 Auf dieser Grundlage untersucht Bork das Zusammenwirken von allokativer und produktiver Effizienz. Das anhand des WilliamsonModells modellierte Zusammenwirken dieser Effizienzen sei der Leitfaden für jede ordentliche Anwendung von Antitrustgesetzen. Der Vergleich der Wohlfahrtsgewinne und -Verluste zeige an, ob ein Zusammenschluss oder eine Verhaltensweise die Wohlfahrt erhöhe oder nicht und welche Nachteile oder Vorteile bei den Verbrauchern entstünden. Das Paradox des wohlfahrtstheoretischen Ansatzes folgt daraus, dass die modellierten wohlfahrtstheoretischen Wirkungszusammenhänge auch nach Meinung von Bork nicht verifiziert werden können, also auch im Antitrustverfahren nicht beweisbar sind. Das gelte insbesondere für die produktive Effizienz. Übrig bleibt die Prüfung, ob ein Zusammenschluss die Möglichkeit begründet, die Produktion einzuschränken, und das Motiv der Gewinnmaximierung. Die Effizienz folgt aus dem Motiv der Gewinnmaximierung. George Stigler hat dieses Kriterium generalisiert: Man könne annehmen, dass Unternehmen sich so verhalten, als ob sie die im Modell enthaltenen Wirkungszusammenhänge kennen würden. Ergänzend weist Stigler auf die Funktion nahezu vollkommener Kapitalmärkte hin. Der Wettbewerb auf diesen Märkten sei besonders wirksam, weil Kapital oder der Zugang zu Krediten die besten substituierbaren und optimal teilbaren und beweglichen Ressourcen seien. 46 Die Thesen von Bork und Stigler waren Teil eines Zeitgeistes, der Staatsversagen für die Regel und Marktversagen für die seltene Ausnahme hielt. Für das Antitrustrecht folgerte Bork, dass es in Zweifelsfallen nicht angewendet werden sollte, weil private Wettbewerbsbeschränkungen weniger schädlich seien als falsch angewendete Rechtsregeln, und von ganz eindeutigen Fällen abgesehen, müsse der Vorrang der Freiheit vor rechtlichem Zwang gelten. 47 In dieser Analyse ist für den historischen Ausgangspunkt des amerikanischen Antitrustrechts - die Kontrolle wirtschaftlicher Macht als auch politischer Macht - kein Raum mehr.

42 43 44 45 46 47

Ebd. S. 90. Ebd. S. 95. Ebd. S. 95. Ebd. S. 97. Zitiert bei Bork (1993, S. 147 f.). Ebd. S. 133.

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Die Liste der Tatbestandsgruppen, die „Chicago" dem antitrustrechtlichen Vergessen überantworten wollte, ist lang. Am nachhaltigsten hat die Theorie von Bork dadurch gewirkt, dass die US-Regierung auf die behördliche Anwendung der Antitrustgesetze weitgehend verzichtete. Die Kritiker von „Chicago" stellen jedoch überwiegend nicht den wohlfahrtstheoretischen Ansatz in Frage, sondern verweisen auf die Notwendigkeit, „Chicago" durch Analyse von Einzelfallen zu korrigieren (o. Fn. 40). (b) Wettbewerbsregeln Eine an der Wettbewerbsfreiheit orientierte Auslegung der Wettbewerbsregeln soll durch das Verbot wettbewerbswidriger Verhaltensweisen die Voraussetzungen wirksamen Wettbewerbs erhalten. Ein an Effizienz und Verbraucherwohlfahrt orientiertes Wettbewerbsrecht soll wettbewerbswidriges Verhalten anhand seiner Ergebnisse beurteilen und korrigieren. Daraus folgen potentiell weitreichende Gegensätze im Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge. Eine an Wohlfahrtsergebnissen orientierte Rechtsanwendung unterstellt, dass ein negatives Ergebnis durch das zu beurteilende Verhalten verursacht wurde. Soll die Sanktion an den Verstoß anknüpfen und eine Wiederholung ausschließen, so wären die negativ beurteilten Ergebnisse durch positive Verhaltensgebote zu korrigieren. Preisregulierungen wären bei der an die Preise anknüpfenden Beurteilung der Wettbewerbsergebnisse die Konsequenz. Eine solche Möglichkeit sieht das Unionsrecht jedoch nur bei Preismissbräuchen beherrschender Unternehmen nach Artikel 102 AEUV vor. Und selbst dort wird sie wegen der bekannten unvermeidlichen Mängel von Preiskontrollen möglichst vermieden. Bei einer an die Wettbewerbsfreiheit anknüpfenden Auslegung von Verbotsnormen ist es dagegen möglich, Marktstrukturen und wettbewerbswidriges Verhalten im Hinblick auf Zweck und Wirkungen differenziert zu erfassen. Der dargestellten Reduktion von Rechtspositionen auf wohlfahrtstheoretische Rechengrößen entspricht im geltenden Recht die Inanspruchnahme wohlfahrtstheoretischer Rationalität. Sie orientiert sich vorrangig an Effizienz und Verbraucherwohlfahrt und vernachlässigt die ökonomische Eigenständigkeit der verschiedenen Tatbestände der Wettbewerbsregeln. Ein repräsentatives Beispiel ist die Auslegung des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen in Artikel 101 AEUV. Der im Folgenden darzustellende Konflikt zwischen der Auslegung des Verbots in der Rechtsprechung des EuGH und der ihr widersprechenden Leitlinienpraxis der Kommission folgt nicht aus einer formalistischen im Gegensatz zu einer ökonomischen Auslegung der Vorschrift. Er folgt vielmehr aus einer gegensätzlichen Interpretation der ökonomisch relevanten Zwecke. In der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der Wettbewerbsregeln kommt der Struktur des Marktes, dem Schutz des Wettbewerbs als solchem und dem ungehinderten Zugang zu nationalen Märkten maßgebliche Bedeutung zu.48 Die systematische Einheit von Grundfreiheiten und Binnenmarkt prägt auch die Auslegung von Artikel 101 AEUV. Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und ihre Nichtigkeit im Falle eines Verstoßes sind nach der Rechtsprechung für die Erfüllung der Aufgaben

48

Zuletzt EuGH 17.2.2011, Rs. C 52/09 (noch nicht in Sammlung) Tz. 24, -TeliaSoneraSverige.

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der Gemeinschaft und für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich.49 Der EuGH hat daraus gefolgert, dass ein Einzelner berechtigt ist, sich auf dieses Verbot zu berufen (Rn. 24) und Schadensersatz zu verlangen, falls ihm infolge des Verstoßes ein Schaden entstanden ist (Rn. 25). Die Klagebefugnis steht unter bestimmten Voraussetzungen sogar demjenigen zu, der Partei einer solchen Vereinbarung war (Rn. 29-35). Die Rechtsprechung bestätigt einmal die zentrale Rolle, die subjektiven Rechten für Auslegung und Anwendung der Wettbewerbsregeln zukommt. Die auch ökonomische Funktion des Verbots kommt im sogenannten Selbständigkeitspostulat zum Ausdruck. Es steht jeder Koordination der Wirtschaftsteilnehmer entgegen, „die eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt."50 Die Rechtsprechung trägt damit dem Wettbewerb als Entdeckungsverfahren Rechnung. Sie bestätigt die Notwendigkeit und die Möglichkeit, den ökonomischen Gehalt wettbewerbsrechtlicher Normen unabhängig von wohlfahrtstheoretischen Kriterien zur Geltung zu bringen. Die Kommission will ihren stärker wirtschaftlichen Ansatz, insbesondere mit Hilfe ihrer Leitlinienpraxis durchsetzen. Das fuhrt zu einer Auslegung von Artikel 101 AEUV, der mit dem Wortlaut der Vorschrift und ihrer verbindlichen Auslegung durch den EuGH unvereinbar ist.51 In den Leitlinien ersetzt die Kommission die markt- und wettbewerbswirksame „spürbare" Wirkung der Vereinbarung durch das Kollusionsergebnis. Ein Kollusionsergebnis soll vorliegen, wenn eine Vereinbarung spürbare negative Auswirkungen auf mindestens einen wettbewerbswirksamen Parameter hat, zum Beispiel Preis, Produktionsmenge, Produktionsqualität, Innovation. Die zentrale Bedeutung für ein negatives Ergebnis weist die Kommission jedoch der Marktmacht und ihrem Missbrauch zu. In Parallele zum Missbrauchsverbot in Artikel 102 AEUV wird ein geringerer Grad von Marktmacht und deren Missbrauch in die Auslegung von Artikel 101 AEUV übertragen. Die Marktmacht wird definiert als die Fähigkeit, die Preise über einen gewissen Zeitraum hinweg gewinnbringend oberhalb des Wettbewerbsniveaus oder die Produktionsmenge, Produktqualität, Produktvielfalt bzw. Innovation für einen gewissen Zeitraum gewinnbringend unterhalb des Wettbewerbsniveaus zu halten. Eine Konsequenz besteht darin, dass die Kostenstrukturen der Unternehmen und ihre Rendite erheblich werden. Zu berücksichtigen sei auch, ob die Parteien einzeln oder gemeinsam durch die Vereinbarung in der Lage seien, ihre Marktmacht zu erhalten oder zu stärken oder ihre Marktmacht auszunutzen. Die Erhaltung oder Stärkung von Marktmacht könne in einer wettbewerbswidrigen Marktverschließung bestehen, ferner in der Erhöhung der Kosten von Wettbewerbern, so dass deren Fähigkeit begrenzt werde, mit den Vertragsparteien wirksam in Wettbewerb zu treten. Diese Kriterien weisen keinen Zusammenhang mehr mit der einzig relevanten Prüfung auf, ob Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen die wettbewerbliche Handlungsfreiheit der Beteiligten unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigten. Der stärker ökonomische Ansatz fuhrt in diesem Fall dazu, dass eine eindeutige und leicht handhabbare Verbotsnorm durch einen Missbrauchstatbe-

49 50 51

EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Slg. 2001 I 6314 Rn. 20/21 - Courage & Crehan. EuGH 20.11.2008, Rs. C-209/07, Slg. 2008 I 8624 Rn. 34 - Beeflndustry Development Society. Europäische Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 14.1.2011 C-11/1. Zur Kritik Immenga und Mestmäcker (2012, Einleitung F).

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stand ersetzt wird, der die Schwierigkeiten der Anwendung des Missbrauchsverbots auf einzelunternehmerisches Verhalten auf die Beurteilung kooperativer Wettbewerbsbeschränkungen überträgt. Ich fasse meine Antworten auf die eingangs genannten Antinomien zusammen: Adam Smith konstituiert mit der unsichtbaren Hand und dem impartial spectator die rechtlichen und ökonomischen Grundlagen einer dezentral geordneten, freiheitlichen Gesellschaft. Das größte Glück der größten Zahl, das von Jeremy Bentham fur Recht und Ökonomie postuliert wurde, hat zur Vernachlässigung der ökonomischen Relevanz von Rechtsverhältnissen in der modernen Wohlfahrtsökonomie beigetragen. Die bürgerliche Gesellschaft kann über den Not- und Verstandesstaat bei Hegel hinauskommen, indem sie dem System der Bedürfhisse ein System subjektiver Rechte gegenüberstellt, das die Wettbewerbsfreiheit einschließt. Die europäische Integration zeigt, dass der imperialistische Kapitalismus entgegen Marx auch im internationalen Kontext zivilisiert werden kann. Diese Leistung ist auf den Kapitalmärkten noch zu erbringen. Die Freiheit folgt entgegen Thomas Hobbes nicht aus dem Schweigen der Gesetze, sondern aus einer Rechtsordnung, welche die Freiheit der Einzelnen unter der Voraussetzung der gleichen Freiheit aller Anderen unter allgemeinen Regeln gewährleistet und durch Auslegung und Gesetzgebung weiter entwickelt.

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Zusammenfassung Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt haben übereinstimmende wirtschaftliche Grundlagen. Die wirtschaftswissenschaftliche Analyse der Sachverhalte, die durch Wettbewerb und seine Wohlfahrtswirkungen gekennzeichnet sind, verweist theoriegeschichtlich auf das Modell der vollkommenen Konkurrenz. Das Verhältnis von Recht und Ökonomie wurde in der Europäischen Union (EU) zu einer höchst praktischen, beide Wissenschaften bewegenden Frage. Repräsentativ für diese Grundsatzfrage sind Rechtsnormen und Politiken, die sich gegen staatliche und unternehmerische Wettbewerbsverfalschungen und Wettbewerbsbeschränkungen richten. Mit dem nur scheinbar übereinstimmenden Ursprung von Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt in der europäischen Aufklärung haben sich jedoch von Anfang an gegensätzliche Vorstellungen über die gewünschte oder erwartete gesellschaftliche Ordnung verbunden. Die Schlüsselrolle, die dem Wettbewerb als Gegenstand der Ökonomie als Wissenschaft und in der Geschichte der Industrialisierung zukommt, rechtfertigt es, seinem Verhältnis zum Recht anhand der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Bezüge nachzugehen. In dieser Begrenzung und im Licht von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie soll im Folgenden das Verhältnis von Recht und Ökonomie erörtert werden.

Summary: Freedom of Competition and Welfare Freedom of competition and economic welfare have identical economic foundations. These concepts diverged, however, as they became subject of the disciplines of economics and law, of systems of philosophy or of narratives of probable or inevitable historical developments. This paper looks at some of the more influential philosophical ideas in terms of their persistent direct or indirect influence on our present understanding of competition and welfare. Particularly notable are perceived or received antinomic interpretations of competition as a condition of economic welfare, as an individual right, an instrument of economic organisation or as purpose of rales against restrictions of competition. As far as the competition law relevance is concerned the crucial issue is the uncertain causal relation of competitive or anticompetitive conduct and its welfare effects. The theoretical and practical difficulties in verifying welfare effects are overcome by treating competition as a process of coordinating decentral economic planning and freedom of competition as a governing principle of a private law society.

Buchbesprechungen

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Inhalt Michael Barth Jahrbuch Qualitätsmedizin Besprechung des von Ralf Kuhlen, Oda Rink und Josef Zacher herausgegebenen gleichnamigen Bandes

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Hanno Beck Wie verkauft man Wirtschaftsbücher? Zehn einfache Regeln Anmerkungen zum Buch „Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft" von Dani Rodrik

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Ralf Dewenter Marktmacht Zum gleichnamigen von Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler herausgegebenen Tagungsband

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Detmar Doering Das Ende des Laissez-Faire Anmerkungen zu einer wiederveröffentlichten Streitschrift von John Maynard Keynes

464

Peter Engelhard Nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise Anmerkungen zum gleichnamigen, von Helmedag und Kromphardt herausgegebenen Sammelband

467

Manfred Hilzenbecher Angewandte Gesundheitsökonomie. Praxisbuch fur Angehörige nicht-ärztlicher Berufe in der stationären und ambulanten Versorgung Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Thorsten Bücker

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475

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Nikolaus Knoepffler Wirtschaftsethische Perspektiven IX. Wirtschaftsethik in einer globalisierten Welt Besprechung des von Wolfgang Buchholz herausgegebenen gleichnamigen Bandes. 488 Bodo Knoll Ausgewogene Analyse statt alternativloser Politik Warum uns keiner vor dem Absturz der Staatsfinanzen rettet

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Buchbesprechungen - Inhalt

Nicole Kuhn Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen Eine Typologisierung von Patienten, Ärzten und Krankenversicherungen

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Wilhelm Meyer Marx reloaded Anmerkungen zu dem Buch von Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus

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Rigmar Osterkamp Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Heinz Lampert und Albrecht Bossert

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Helge Peukert Reform der Finanzmarktregulierung Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Peter Oberender

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Georg Riiter Unternehmensethik Zu dem Buch von Elisabeth Göbel mit dem gleichen Titel

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Friedrich Schneider Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik: Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender

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Klaus Vollert Die Wirtschaftstrends der Zukunft Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Hermann Simon

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Anne C. Wunderlich Patient im Visier - Die neue Strategie der Pharmakonzerne

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

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Jahrbuch Qualitätsmedizin 2010 Besprechung des von Ralf Kuhlen, Oda Rink und Josef Zacher herausgegebenen gleichnamigen Bandes* Ökonomische Überlegungen im Kontext der Gesundheitsversorgung haben heute vielfaltige Anwendungen gefunden. Nicht nur die begrenzten Mittel im Gesundheitswesen, sondern auch die Besonderheiten im Arzt-Patientenverhältnis und deren Verhältnis wiederum zu den Leistungsträgern (u.a. Breyer, Zweifel und Kifmann 2005) führten in jüngerer Vergangenheit zu einer Vielzahl an Initiativen, die sich sowohl in deren betrachteten Gegenständen der Gesundheitsversorgung als auch in deren Betrachtungs- und methodischen Herangehensweise unterscheiden. Eine dieser Initiativen, die auch den inhaltlichen Hauptgegenstand des zu besprechenden Buches bildet, stellt die „Initiative Qualitätsmedizin" (IQM) dar, wobei sich das erwähnte Werk nicht nur auf die Ziele, Methoden und Ergebnisse der IQf* beschränkt, sondern darüber hinaus im Rahmen von weiterfuhrenden Einzelbeiträgen das Ziel verfolgt, genannte Initiative im Kontext von Methoden und Verfahren der Qualitätssicherung zu verankern, um dadurch einerseits dem Leser die erwähnten Grundlagen eines Qualitätsmanagement zu vermitteln, andererseits / ß ^ selbst einzuordnen. Den Einstieg in die Thematik findet das Buch mit Regina Klakow-Francks Geleitwort (S. IX-X), die die Qualitätssicherung als „ureigenes Anliegen der ärztlichen Profession" bezeichnet und IQ?4 mit Hilfe ihrer beiden charakteristischen, aufeinander bauenden Merkmale, dem indikatorgestützten Benchmark- und dem Peer-Review-Verfahren, den Leser in die Thematik einführt. Den ersten Themenblock (IQM - Ziele, Methoden, Ergebnisse) eröffnen Francesco De Meo und Ralf Kuhlen (S. 3-7) mit ihrer Verortung der Qualität in der Krankenversorgung als Frage der Kultur sowie deren Erläuterung anhand von vier Erkenntnissen aus der Praxis - Qualität ist eine gemeinsame Aufgabe, Qualität braucht eine aktive Fehlerkultur, Qualität braucht Kontrolle im fairen Benchmark und Qualität braucht kollegiale Unterstützung. In der Frage der Messung von Qualität betonen genannten Autoren die notwendige Besinnung auf das „praktisch für die Patienten Machbare [...], statt an - intellektuell sicher spannenden - wissenschaftlichen Türmen zu bauen" (S. 4), fordern jedoch ebenso eine valide Datenbasis und einen Grundkonsens über die Aussagekraft von Qualitätsindikatoren - in diesem Zusammenhang ist eine Kultur des offenen Austausches zwischen Wissenschaft und Praxis wohl in gleicher Weise einzufordern. Das folgende Kapitel (S. 9-11) gibt einen kurzen Abriss der Entstehungsgeschichte und der Credos von IQM. Abschließend wird die Weiterentwicklung der IQ1*-Indikatoren unter Einbeziehung externer Partner, wie (wissenschaftliche) Fachgesellschaften, besprochen - obiger Forderung wird damit genüge getan. Kapitel drei (S. 13-16) hat die kritische Betrachtung der Qualitätsmessung, insbesondere die Gefahr einer interessensgeleiteten Einflussnahme, zum Gegenstand. Nach kurzer Vorstellung unterschiedlicher Methoden der Qualitätsmessung im Gesundheitsbereich bespricht Peter C. Scriba die besonderen Reize der Qualitätsmessung im Rahmen der IQ^ - die Anerkennung von Routinedaten als wichtige Basis für das Qualitätsmanagement, die Transparenz durch Veröffentlichung der Ergebnisse, das aktive Qualitätsmanagement durch das Peer-Review-Verfahren sowie die trägerunabhängige Konstituierung des IQM -Verfahrens.

Ralf Kuhlen, Oda Rink und Josef Zacher (Hg.), Jahrbuch Qualitätsmedizin 2011, Verlag MWV, Berlin 2011, 160 Seiten.

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Die Verortung des im Rahmen der IQ?4 verwendeten Kennzahlensatzes, die Vorstellung der Indikatoren sowie die Besprechung der, diesen Kennzahlen notwendigerweise vorausgehenden, Festlegung von Zielen ist Gegenstand des vierten Kapitels (S. 17-31). Daran schließen sich die Ausführungen von Frank G. Murphy und Christoph Scheu (S. 33-38) zur Bedeutung der internen und externen Transparenz sowie zur Notwendigkeit des entschlossenen Entgegentretens einer oft gegeißelten „Ökonomisierung der Medizin" (S. 36) zur fruchtbaren Nutzung ihrer Methoden. Nach erwähnten grundlegenden Einführungen in IQM präsentieren Josef Zacher und Ekkehard Schuler (S. 39-58) die Ergebnisse für einzelne Indikatoren aus dem Jahre 2009. Zweierlei wird an dieser Stelle deutlich. Erstens, dass die Ergebnisse auf Basis der Kennzahlen einer, wie hier in einer vorbildlichen Art und Weise geschehen, fachgerechten und auch „methoden-/ selbstkritischen" Interpretation bedürfen. Zweitens, dass sich I Q " und dessen Indikatoren in einem Stadium der Entwicklung befinden. Kritisches Umgehen mit den Grenzen und Schwächen der Methodik und des Instrumentariums erfordert auch von Seiten der Mitwirkenden an IQM eben jene Kultur, die sie selbst als Grundlage eines erfolgreichen Qualitätsmanagements sehen - dem, so scheint es, werden sie gerecht. Der erste Abschnitt wird beschlossen durch die Beschreibung der zweiten Säule der IQ0 - das Peer-Review-Verfahren, dessen Gegenstände, Organisation und prozessualer Verlauf beschrieben werden (S. 59-70). Nach der umfassenden Beschreibung der Initiative Qualitätsmedizin erfolgt ihre Verortung im Kontext der Methoden und Verfahren zur Qualitätssicherung. Dabei nehmen Axel Ekkernkamp und Angelika Jakolow-Standke (S. 73-78) eine vergleichende Betrachtung von IQM und dem EFQM-Modell für Excellence sowie den Zertifizierungsverfahren nach DIN EN ISO 9001, Joint Commission und der Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen vor. Mit der Frage der Zuständigkeit und Verantwortung spricht Andreas H. H. Reiter mit seinem Beitrag zur Rolle des Qualitätsmanagement-Beauftragen (S. 79-86) einen sensiblen und gleichzeitig zentralen Bereich im Kontext jeglicher Form von Qualitätsmanagement an. Die Diskussion des Mehrwerts von Standards, Standard Operation Procedure und Behandlungspfaden für eine Qualitätsverbesserung im Sinne einer Steigerung der Effektivität und/oder Effizienz fuhrt Jörg Martin (S. 87-95), wobei der Autor wie seine Vorgänger explizit auf ein oftmals kontrovers diskutiertes Thema Bezug nimmt - jenes der „vielbeschworenen Therapiefreiheit" (S. 94). Axel R. Heller und Detlev Michael Albrecht unterstreichen mit ihrem Beitrag zur Patientensicherheit (S. 97-118) einmal mehr die Notwendigkeit und den großen möglichen Mehrwert durch Einführung eines Qualitätsmanagements - 60 % aller unerwünschten Ereignisse werden als vermeidbar eingestuft. Die Autoren charakterisieren das Krankenhaus als HochrisikoOrganisation und erläutern das Problem der Kumulation von Einzelrisiken, besonders bedeutsam bei Prozessketten in solcher Länge, wie sie sich in der Behandlung von Patienten darstellen. Darüber hinaus erörtern die Autoren Modelle und Faktoren für eine zukünftige Steigerung der Patientensicherheit, wie etwa Pay for Performance, Case Management, Six Sigma, Wissensmanagement etc. - letztlich ein Aufruf zur „kulturellen Veränderung in den Krankenhäusern unter vielerlei Aspekten" (S. 116). Kapitel fünf, sechs, sieben und acht widmen sich alle einem zentralen Thema des Qualitätsmanagements - der Erfassung der Kundenansprüche, wobei der Ausdruck des Kunden nicht nur den Patienten umfasst, sondern interne wie auch externe Stakeholder der Gesundheitseinrichtung Krankenhaus. Dabei gibt Kapitel fünf (S. 119-124) eine allgemeine Einführung in die Methodik der Befragung. Diesem, nach Anspruchsgruppen gegliedert, folgend setzt sich Angelika Jakolow-Standke (S. 125-139) mit der Patientenbefragung, Maria Eberlein-Gonska (S. 131137) mit der Mitarbeiterbefragung und Svenja Ehlers (S. 139-144) mit der Einweiserbefragung auseinander. Einem speziellen Bereich des Qualitätsmanagements, dem des Risikomanagements, widmet sich Kapitel neun (S. 145-157). Auch hier fordern die Autoren eine gelebte Fehlerkultur - „weg von einer reaktiven Kultur der Schuldzuweisung (Culture of Blame) hin zu einem systemanalytischen proaktiven Ansatz im Umgang mit Fehlern" (S. 146). Dabei dienen auch hier hochrisi-

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kosensible Organisationen und deren Umgang mit Fehlern als Vorbild. Am Beispiel der Charité werden Risikomanagement und Sicherheitskultur erläutert und die gemachten Erfahrungen mit dem Leser geteilt. Das besprochene Buch findet seinen Abschluss mit der Erläuterung eines wichtigen Instruments in der Qualitätssicherung (S. 159-163) - den Mortalitäts- und Morbiditätskonferenzen. Abschließend bleibt zu sagen, dass die Forderung nach einem kulturellen Umbruch innerhalb der angesprochenen Organisationen zur Schaffung der notwendigen Voraussetzung von positiven Veränderungsprozessen in den Beiträgen mehr als deutlich wird. Weniger deutlich wird die Problematik, die sich im Rahmen der Definitionsfrage von Qualität - zumal diese eine normative Festlegung darstellt - und in ihrer Konsequenz, die damit einhergehende Forderung eines fortwährenden kritischen Diskurses, ergibt. Eine dahingehende vertiefende Auseinandersetzung wäre wünschenswert. Dass sich die Autoren des vorliegenden Bandes dessen bewusst sind und dies in ihrer Arbeit berücksichtigen, zeigen die Einzelbeiträge, welche ihren Ausgangspunkt mitunter in unterschiedlichen Qualitätsdefinitionen finden. Diese befruchtende Breite im Sinne der Beachtung unterschiedlicher Anspruchsgruppen wird im Werk durch einen zweiten zentralen Bestandteil der kritischen Betrachtung von Qualitätsmanagement ergänzt - die methodische Vorgehensweise - wobei es sich in diesem Kontext Peter C. Scriba (S. 16) ohne weitere Worte anzuschließen gilt: „Die Erkenntnistheorie lehrt uns, die Methodenabhängigkeit von Ergebnissen anzuerkennen. Das macht den wissenschaftlichen Vergleich von Resultaten unterschiedlicher Ansätze und vielfältiger Player auch für die Zukunft wünschenswert. Wettbewerb ist notwendig!" Steht der vorliegende Band ganz im Zeichen der IÇ?*, so versäumen es die Herausgeber wie auch die Autoren der Einzelbeiträge nicht, in einer ,methoden-/selbstkritischen' Art und Weise (!) dem Leser eine weit über eine einfache Beschreibung der Initiative hinausgehende Einführung in die Thematik des Qualitätsmanagements im Bereich medizinischer Leistungen in verständlicher und auch formal überaus ansprechender Form zu vermitteln.

Literatur Breyer, Friedrich, Peter S. Zweifel und Mathias Kifmann (2005), Gesundheitsökonomik, 5. Auflage, Berlin.

Hanno Beck

Wie verkauft man Wirtschaftsbücher? Zehn einfache Regeln Anmerkungen zum Buch „Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft" von Dani Rodrik* Bei allem Respekt - was den meisten Wissenschaftlern fehlt, ist Verkaufstalent. Da schreibt man Monate an wichtigen Artikeln für renommierte Journals, müht sich mit fundamentalen Problemen für Bücher, Sammelbände und Working Papers - und doch ist der Lohn dieser Mühen zumeist recht bescheiden. Das muss nicht so sein, auch Wissenschaftler, und auch Ökonomen, können Bücher schreiben, die Beachtung finden, die sich verkaufen - man muss nur einige einfache Regeln befolgen. Dani Rodrik, Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Harvard University, hat das begriffen, sein Buch „Das Globalisierungsparadox" ist ein Lehrstück für alle, die nicht nur Bücher schreiben, sondern auch verkaufen wollen. Dabei braucht man unter dem Strich nur zehn einfache Regeln, die Rodrik in seinem Buch vorturnt. Dani Rodrik, Das Globalisierungsparadox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, Verlag C. H. Beck, München 2011, 415 Seiten.

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Regel Nummer eins: Wähle einen anziehenden Titel. Gerade das Wort „Globalisierung" eignet sich prächtig zum Buzzword (es kommt auf fast acht Millionen Einträge bei Google), das man am besten mit anderen Begriffen kombiniert, das macht es spannender, geheimnisvoller. Da gab es schon die Globalisierungsfalle (Martin und Schumann 1998), wir haben schon im Schatten der Globalisierung gestanden (Stiglitz 2004), die Grenzen und Schattenseiten der Globalisierung stehen dutzendweise in den Regalen der Buchhandlungen, und jetzt ist eben noch das Globalisierungsparadox dazugekommen. Für den Nachahmungstäter bliebe beispielsweise noch die Globalisierungspyramide übrig - vielleicht sollte man sich rasch den Titel sichern? Allerdings ist ein anziehender Titel nicht alles, man muss dem Leser auch klar machen - Regel Nummer zwei - , dass dieses Thema bedrohlich, existentiell, ist, und das tut man am besten mit der entsprechenden Wortwahl - hyper, mega, ultra muss es mindestens sein, weswegen Rodrik auch nicht von Globalisierung, sondern von „Hyperglobalisierung" spricht, was auch immer er damit meint - eine brauchbare Definition fehlt. Dass es schon Zeiten gab, in denen die weltwirtschaftliche Integration ähnlich intensiv wie heute war (vgl. dazu bspw. Bordo, Taylor und Williamson 2003), würde bei einer solchen Wortwahl nur stören. Hauptsache, man wirbelt Staub auf, dann verkauft sich das auch besser. Somit macht Rodrik bereits beim Titel seines Buches klar, dass er verkaufen will. Das ist grundsätzlich nichts ehrenrühriges, es bleibt nur die Frage, wie weit man dazu bereit ist, Argumente zu überspitzen. Das bringt uns zu weiteren Regeln im Wirtschaftsbücherverkaufsgeschäft, die Rodrik in seinem Buch befolgt - ein Streifzug durch das Buch macht das deutlich. Die ersten zwei Kapitel des Buches beschäftigen sich mit der Geschichte der Globalisierung. Rodrik beginnt mit den lizensierten Handelskompanien im England des 17. Jahrhunderts, die sich vom Staat Handelsmonopole und de facto die Herrschaft über ganze Landstriche zusichern lassen, über die berühmtem com laws hin zum Goldstandard. Dabei wirft er fröhlichundifferenziert alles in einen Topf, was irgendwie böse klingt: Kolonialisierung, Imperialismus, Sklavenhandel - das alles wird im Kontext der Globalisierung munter und bemerkenswert undifferenziert diskutiert statt gegeneinander abgegrenzt. Ein Beispiel dazu: Will Rodrik das Argument, dass Freihandel im Amerika des 19. Jahrhunderts die Sklaverei gestärkt hätte (S. 57), wirklich als Argument gegen Freihandel verstanden wissen? Damit befolgt Rodrik Regel Nummer drei des Buchgeschäfts: Sei undifferenziert. Genauso, wie Globalisierungsgegner heutzutage alle Übel der Welt auf eine Vokabel - Globalisierung - zurückfuhren, erzeugt Rodrik bei seinen Lesern mit diesem pauschalem Ritt durch die Geschichte weitere negative Assoziationen zu diesem Begriff, bedient damit die Wünsche des Publikums und bestätigt verkaufszahlenfördernd ihre Vorurteile (da haben wir Regel Nummer vier: Bediene Vorurteile). Im dritten Kapitel befolgt Rodrik eine weitere Grundregel - Nummer fünf - des Buchverkaufsgeschäfts: Decke eine Verschwörung auf. In diesem Fall ist es laut Rodrik die Verschwörung der Ökonomen; „Was Ökonomen Ihnen verschweigen werden" nennt er dann auch eines der Unterkapitel; Tenor: Ökonomen wissen, dass Freihandel nicht die beste aller Lösungen ist, aber das erzählen sie der Öffentlichkeit nicht. Dieser Tenor zieht sich auch quer durch das Buch: Rodrik wirft Ökonomen beständig vor, dass sie Freihandel als ein Mantra begreifen, dass sie inhaltsleer nur der Formel, der Idee anhängen, ohne sich für deren Inhalt zu interessieren. Damit befolgt Rodrik eine weitere Regel des Verkaufs - wir sind bei Nummer sechs: Verunglimpfe Deine Gegner ad personam, nicht ad rem. In der Tat finden sich im Buch einige Angriffe gegen Verfechter des Freihandels, die das Bild suggerieren, dass es sich bei ihnen um rückständige Betonköpfe handelt, die im sturen Glauben an ihrer Doktrin festhalten - nicht Einsicht und Wissen, sondern Glauben macht Rodrik als Ursache dafür aus, dass viele Ökonomen nicht seiner Meinung sind. So kann man sich auch gegen Argumente immunisieren. Das deckt sich schön mit Regel Nummer drei: Sei undifferenziert. Das vierte Kapitel enthält einen fragmentarischen, sehr subjektiv geprägten Überblick über das Regime von Bretton Woods und des Gatt; das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den internationalen Kapitalmärkten, die Rodrik - auch hier hat er seine verkaufsfördernde Lektion gelernt - natürlich als „globales Kapital" personalisiert, denn anonyme Finanzströme, die aus dem

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Zusammenspiel von Millionen von Menschen entstehen, eigenen sich nicht als Sündenbock, den man an den Pranger stellen kann. Also flugs eine fiktive Person - das Kapital - daraus gemacht, und schon entsteht ein verkaufsförderndes Feindbild. Damit hätten wir Regel Nummer sieben: Kreiere ein Feindbild, aber bitte ein hinreichend unbestimmtes Feindbild - echte Personen könnten sich ja zur Wehr setzen. Eine anonyme Feindesinstanz, auf die man fröhlich eindreschen kann, ohne Gegenwehr zu erwarten, befreit ungemein. Das siebte Kapitel widmet sich der Rolle der Entwicklungsländer in der Globalisierung, insbesondere beschreibt Rodrik hier die Rolle Chinas derart lobend, dass der unbedarfte Leser rasch die Unfreiheit, Repression und den totalitären Machtanspruch einer kommunistischen Elite vergisst - etwas mehr Distanz zu dem Subjekt dieses Kapitels hätte selbiges weniger zynisch gemacht. Bezeichnend dabei beispielsweise Rodriks Würdigung der chinesischen Strategie, ausländische Technologie zu stehlen und zu kopieren - Rodrik verniedlicht das als „halbherzige Durchsetzung von Urheber-, Markenschutz- und Patentrechten"(S. 205). So nett kann es klingen, wenn man Diebstahl rechtfertigt. Ähnlich leichtfertig und unkritisch verniedlicht Rodrik die chinesische Politik der gezielten Unterbewertung der eigenen Währung (S. 206). Den chinesischen Politik-Mix nennt er „geschickt und unorthodox" (S. 207), die damit verbundenen Probleme - Unfreiheit, Diktatur, beggar-thy-neighbourhood-policy, Diebstahl geistigen Eigentums - würdigt er nicht; vermutlich muss man das in seiner Weltsicht als Kollateralschaden in Kauf nehmen (oder es ist Regel Nummer drei geschuldet: Sei undifferenziert). Im achten Kapitel legt Rodrik einen Gang zu und bereitet den Boden für seine Vorschläge, indem er die Importsubstitutionspolitik Südamerikas als leuchtendes Beispiel einer gelungenen Globalisierungs-Strategie feiert - dass diese Politik durchaus gemischte Ergebnisse vorzuweisen und keine nachhaltigen Erfolge geliefert hat (vgl. exemplarisch dafür Baldwin 2000), wischt er mit wenigen Sätzen nonchalant zur Seite, schließlich gilt immer noch Regel Nummer drei. Im neunten Kapitel entwirft Rodrik eine neue Inkonsistenz-Triade, bestehend aus Nationalstaat, Hyperglobalisierung und politischer Demokratie und postuliert, dass man stets nur zwei dieser drei Ziele erreichen kann (S. 260 ff.) - entweder man erhält den Nationalstaat und globalisiert, dann müsse man in Kauf nehmen, dass globalisierte Märkte die politischen Prozesse kontrollieren und die Demokratie einschränken, oder aber man erhalte den Nationalstaat und die Demokratie und verschließe sich der Globalisierung, oder aber man globalisiere und erhalte den Primat der Politik, verzichte aber auf den Nationalstaat zugunsten einer Globalregierung. Diese Triade beruht auf der - umstrittenen - Annahme, dass eine Zunahme der weltwirtschaftlichen Verflechtung eines Landes dessen politische Freiheitsgrade signifikant reduziert. Das muss nicht immer zu den empirischen Befunden passen, so hat sich die Bundesrepublik seit ihrer Gründung mehr und mehr in die internationale Arbeitsteilung integriert, ohne dass man dabei eine signifikante Reduktion der Staatsquote oder einen Rückgang des Sozialbudgets hätte beobachten können. Unter dem Strich bietet diese ermüdende „Globalisierung macht den Staat machtlos"-Debatte wenig neues, vor allem keine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Immer an Regel Nummer drei denken. Selbige sachliche Auseinandersetzung kommt Rodrik im weiteren Verlauf des Buches immer mehr abhanden - falls er sich überhaupt darum bemüht. Im zehnten Kapitel erörtert er die Möglichkeit und Machbarkeit einer Globalregierung, um dann im elften Kapitel seine Vision eines neuen Kapitalismus darzulegen - „Kapitalismus 3.0" nennt er das. Wie viele Neuversionen des Kapitalismus sich die armen Leser solcher Bücher in den nächsten Jahren wohl noch werden antun müssen, sei dahin gestellt, wer nach einem griffigen Slogan sucht (siehe Regel Nummer zwei und Nummer drei) - „Marktwirtschaft 2.0" gibt es leider ebenso schon wie „Kapitalismus reloaded" und „Neoliberalismus 2.0"; vielleicht wäre „Neomarktwirtschaftsliberalismus 3.0 reloaded" noch eine Idee. „Soziale Marktwirtschaft" - die ja als ergänzungs- und erweiterungsfähige Konzeption angelegt ist und die meisten Probleme der Globalisierung in ihrem Konzept berücksichtigt - wäre wohl zu unspektakulär.

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Die Forderungen, die Rodrik unter dem Slogan „Kapitalismus 3.0" präsentiert, sind - wie zumeist bei dieser Art von Büchern - harmlos, schwammig und dem Armageddon-Szenario, das er auf den Seiten zuvor beschwört, merkwürdig unangemessen. So fordert er unter anderem, Märkte in politische Ordnungssysteme einzubetten (S. 305; als hätten Ordo-Liberale jemals etwas anderes gefordert), dass Länder das Recht haben, ihre eigenen sozialen Institutionen zu verteidigen (S. 309), aber nicht das Recht, diese Institutionen anderen Ländern aufzuzwingen (S. 312; sieht das jemand anders?) und er fordert „eine Globalisierung mit Augenmaß" (S. 323), ohne dabei zu klären, in welcher Einheit man „Augenmaß" misst. Unter dem Strich passen Rodriks Forderungen so gar nicht zu den starken Worten, die er in den 300 Seiten zuvor entwirft, und sie fallen auch gemessen an den Ausführungen zuvor recht oberflächlich, knapp und allgemein aus. Dem Teufel, der im Detail seiner Forderungen steckt, geht Rodrik gewissenhaft aus dem Weg - nach 300 Seiten eher undifferenzierter Zustandsbeschreibung bleiben seine Vorschläge damit hinreichend blass und amorph, um ihn nicht dazu zu zwingen, Farbe zu bekennen und Position zu beziehen. Das wäre dann Regel Nummer acht: Bloß nicht Farbe bekennen. Angesichts der Analyse des Buches könnte Rodrik deutlich klarere Positionen beziehen, er könnte mehr Industriepolitik fordern (gerne etwas erfolgreicher als solche Mahnmale wie die Concorde), eine neue Importsubstitutionspolitik, er könnte eine stärkere Abschottung von Nationalstaaten gegenüber ausländischen Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften fordern, aber offenbar verlässt ihn da der Mut, denn solche Positionen sind theoretisch, politisch und empirisch angreifbar. Und wer will sich schon auf eine ernsthafte, seriöse Debatte einlassen? Damit verkauft man keine Bücher, wir wollen das als Regel Nummer neun verbuchen. Es bereitet bisweilen Mühe, Rodriks Kernaussagen aus dem Gewirr von historischen Beispielen, halbfertigen ökonomischen Analysen und Angriffen herauszufiltern, vielleicht auch, weil er die Dinge nicht auf den Punkt bringt, möglicherweise aber auch, weil seine Aussagen dann im Kontrast zu seinem düsteren Weltbild recht banal klingen würden: Märkte brauchen Institutionen, der Staat muss die sozialen Folgen der Globalisierung abfedern - mit solchen Allgemeinplätzen verkauft man kein Buch. Stattdessen preist er die eigenen Ideen mit anekdotischer Evidenz und wischt Gegenargumente rasch und lässig vom Tisch, so dass dem unkritischen Leser wenig übrig bleibt als zuzustimmen. So krachledern wie das Buch daherkommt, so zahm klingt das Fazit, wenn man es in weniger verkaufsträchtige Sätze verpackt: Globalisierung, so Rodrik, bringt auch Nachteile mit sich - Umweltzerstörung, Strukturwandel, Anpassungsschwierigkeiten die einen staatlichen Eingriff erfordern. Nur wenige Menschen, erst recht nicht Ordoliberale, werden diesem Diktum widersprechen. „Märkte entwickeln sich am besten und erfüllen ihre Aufgabe, Wohlstand zu generieren, am effektivsten, wenn sie auf dem Fundament stabiler staatlicher Institutionen ruhen", schreibt Rodrik (S. 42). Oder ordoliberal formuliert: Ein Markt ohne Rahmen, Regeln und Institutionen ist nicht vorstellbar (vgl. bspw. Vanberg 2011). Der Unterschied zwischen Rodrik und den deutschen Ordoliberalen besteht so gesehen vor allem darin, dass letztere sich nicht so geschickt verkaufen wie Rodrik. So gut Ökonomen Märkte verstehen, so schlecht scheinen sie sich selbiger zu bedienen, wenn es darum geht, ihre Ideen zu vermarkten - im Gegensatz zu den Autoren der meisten Wirtschaftsbestseller, die zumeist keine ausgebildeten Ökonomen sind, aber dennoch eigennutzmaximierend und verkaufsfordernd mit ihren Traktaten den Wunsch der Leser nach einer einfachen, leicht verständlichen Welt bedienen (Beck 2011). Viele Ökonomen hingegen - so viel Selbstkritik sollte möglich sein - haben nicht versucht, Bücher zu verkaufen, indem sie in einfachen, gerade gesetzten Worten Probleme erläutern und auf den Punkt bringen, sondern sich in Fachjournals auf der Suche nach akademischer Reputation und Fördermitteln vergraben und das Resultat dieser nachvollziehbaren Entwicklung sind dann Bücher, welche die Bedürfnisse der Bürger und damit eine Marktlücke bedienen - Bücher wie das von Rodrik.

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Warum sind solche Bücher - von deren Zuschnitt es zugegebenermaßen noch viel ärgerlichere gibt als das von Rodrik - nur möglich? Könnte es sein, dass Ökonomen vergessen haben, diejenigen abzuholen, für deren Wohl sie forschen sollen? Vielleicht wäre es schon ein Anfang, Regel Nummer zehn, die vermutlich wichtigste Regel im Buchverkaufsgeschäft zu befolgen: Sei verständlich, sei unterhaltsam - hole Deine Leser dort ab, wo sie stehen. Wer diese Regel beherzigt, kann, sollte auf die anderen neun Regeln verzichten. Auch so kann man Bücher verkaufen.

Literatur Beck, Hanno (2011), Wirtschaftswissen aus der Talkshow, in: Financial Times Deutschland vom 12.05.2011. Baldwin, Richard E. (2000), Trade and Growth: Still Disagreement about the Relationships, OECD Economics Department Working Papers, No. 264, OECD Publishing. Martin, Hans-Peter und Harald Schumann (1998), Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, Reinbek. Stiglitz, Joseph und Thorsten Schmidt (2004), Die Schatten der Globalisierung, München. Bordo, Michael D., Alan M. Taylor und Jeffrey G. Williamson (Hg.) (2003), Globalization in Historical Perspective, Chicago. Vanberg, Viktor (2001), The Freiburg School: Walter Eucken and Ordoliberalism; Freiburg Discussion Papers on Constitutional Economics, 4/11.

Ralf

Dewenter

Marktmacht Zum gleichnamigen von Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler herausgegebenen Tagungsband* Die Entstehung oder Verstärkung von Marktmacht ist der grundlegende Begriff der modernen Wettbewerbstheorie und ebenso der angewandten Wettbewerbspolitik. Marktmacht spielt sowohl bei der Beurteilung von Unternehmenszusammenschlüssen eine wesentliche Rolle als auch bei der Bewertung von möglichem missbräuchlichen Verhalten. Selbst Hardcore-Kartelle haben trotz des generellen Kartellverbots nur dann negative Wohlfahrtswirkungen, wenn die Kartellmitglieder eine entsprechende Marktmacht aufweisen, die es erlaubt, die überhöhten Preise auch durchzusetzen. Marktmacht spielt aber ebenso bei der ökonomischen Regulierung eine wesentliche Rolle. Ein regulatorischer Eingriff macht nur für solche Bereiche Sinn, die dauerhaft von Marktmacht gekennzeichnet sind, also ein resistentes Monopol darstellen. Ein weiterer Bereich, der wesentlich mit dem Begriff Marktmacht in Zusammenhang steht, ist der des Innovationswettbewerbs. Auch wenn Innovationen nicht immer eine herausragende Rolle in der angewandten Wettbewerbspolitik spielen, sind sie jedoch grundlegende Voraussetzung für dynamische Effizienz. Der vorliegende Tagungsband nimmt sich aller dieser Fragen mehr oder weniger stark an. Neben einer Einleitung von Hans Jürgen Ramser liegen zwölf Beiträge vor, die sich dem Thema Marktmacht aus verschiedenen Richtungen nähern. Jeder Beitrag wird durch ein entsprechendes Korreferat komplettiert. Zwei von diesen Beiträgen beschäftigen sich dabei mit dem

Hans J. Ramser und Manfred Stadler, Marktmacht: Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Ottobeuren, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2010, 285 Seiten.

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Thema Innovationen und damit also mit den wettbewerbstheoretischen Grundlagen. Die folgenden sechs Beiträge behandeln die klassischen wettbewerbspolitischen Felder: Kartelle, Fusionen und Missbrauch. Letzteres ist dabei leider nur durch ein einziges Referat vertreten. Die restlichen vier Beiträge beschäftigen sich mit regulierungsökonomischen Fragestellungen, hier insbesondere mit Investitionsentscheidungen. Im ersten Beitrag untersucht Manfred Stadler den Einfluss der Marktstruktur auf F&EInvestitionen in einem modelltheoretischen Ansatz. Es zeigt sich im Ergebnis ein umgekehrt Uförmiger Verlauf der Beziehung zwischen F&E-Ausgaben und der Zahl der Firmen. Uwe Cantner und Werner Güth diskutieren das Modell in ihrem Korreferat und nennen einige empirische Evidenzen, die die Ergebnisse aus dem Modell stützen. Dirk Czamitzki und Kornelius Kraft beschäftigen sich im anschließenden Beitrag ebenfalls mit einer innovationsökonomischen Fragestellung. Anhand des Mannheimer Innovationspanels untersuchen sie die Lizenzausgaben von Unternehmen. Es stellt sich heraus, dass in Übereinstimmung mit der Theorie, Incumbents mehr in Lizenzen investieren als potenzielle Newcomer. Norbert Schulz weist in seinem Korreferat auf mögliche Erweiterung der Analyse anhand verfügbarer Daten hin. In ihrem Beitrag zu endogenen Fusionen untersuchen Manfred Stadler und Leslie Neubecker den Einfluss der Kostendifferenzen von Unternehmen auf deren Fusionstätigkeit. Im Ergebnis zeigt sich, dass nur bei sehr geringen Effizienzunterschieden Merger nicht zustande kommen, da hier keine Effizienzvorteile genutzt werden können. Das Korreferat von Peter Welzel diskutiert den Beitrag und weist auf kritische Punkte hin. Einen Überblick über legale und illegale Kartelle liefern Justus Haucap, Ulrich Heimeshoff und Luis Manuel Schulz. Sie analysieren außerdem die Determinanten der Höhe der Kartellstrafen sowie Unterschiede in der Dauer von legalen und illegalen Kartellen. Lieselotte Locher betont in ihrem Korreferat die Relevanz insbesondere im Hinblick auf die geringe empirische Evidenz zu deutschen Kartellen und regt einige interessante Erweiterungen an. Der folgende Beitrag von Ulrich Schwalbe beschäftigt sich ebenfalls mit der Kollusionsproblematik, zielt jedoch auf die Frage der Kronzeugenregelung als Instrument zur Kartellbekämpfung ab. Schwalbe nennt den Stand der theoretischen Forschung und gleicht diesen mit der entsprechenden empirischen und experimentellen Evidenz ab. Abschließend identifiziert er weiteren Forschungsbedarf, z.B. im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung oder die Frage der Informationsverteilung zwischen den Kartellmitgliedern. Werner Neus erweitert in seinem Korreferat die Analyse um Unsicherheit, kommt aber zu gleichen Ergebnissen. Mit der Frage der Marktabgrenzung beschäftigt sich Carl Christian von Weizsäcker. Er kritisiert zunächst den rein nachfrageorientierten Ansatz und betont die praktische Relevanz von angebotsorientierten Methoden wie der Angebotsumstellungsflexibilität. Anschließend nennt er einige Bereiche, in denen der hypothetische Monopolisten-Test seiner Meinung nach nicht anwendbar ist. Konrad Stahl pflichtet von Weizsäcker bezüglich der Umstellungsflexibilität zu, weist jedoch die Kritik am SSNIP-Test zurück. Der leider einzige Beitrag, der sich mit missbräuchlichem Verhalten beschäftigt, ist das Referat von Wernhard Möschel. Möschel kritisiert darin den „More Economic Approach" und seine Anwendung in der Missbrauchsaufsicht. Weiterhin wagt er die Prognose, dass dieses Konzept sich bei den Gerichten auch in Zukunft nicht durchsetzen wird. Karl Heinrich Oppenländer widerspricht Möschel vehement. Der „More Economic Approach" sei eine komplett neue Politikausrichtung und durchaus innovativ. Oppenländer sieht nach einer gewissen Eingewöhnungszeit ebenso eine stärkere Adaption durch die europäischen Gerichte voraus. Lars-Hendrick Roller widmet sich in seinem Beitrag dann der EU Fusionskontrolle und beschäftigt sich mit der Frage, warum es bis dato zu einer relativ geringen Zahl an Effizienzeinreden gekommen ist. Als Ursache sieht Roller den fehlenden Anreiz für Unternehmen, Effizienzvorteile in Fusionsfällen vorzubringen. Das Korreferat von Klaus Jaeger betrachtet das Referat kritisch und betont die schlechte Prognostizierbarkeit von sowohl statischen als auch dynami-

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sehen Effizienzvorteilen, die eine Fusion möglicherweise bringen könnte. Auch bezweifelt Jaeger generell die praktische Relevanz der Effizienzeinrede. Im anschließend folgenden ersten Beitrag zu Regulierungsfragen untersucht Roland Strausz die optimale Modellierung regulatorischer Risiken. Im Resultat zeigt sich, dass die Implikationen seines Modells direkt von der gewählten Form der Nachfragestruktur abhängen und je nach Modellierung komplett entgegengesetzte Ergebnisse produzieren. Weitere Einsichten kann demnach nur eine genauere empirische Analyse bringen. Carlos Alös-Ferrer diskutiert das Modell und regt mögliche Erweiterungen an. Veronika Grimm und Gregor Zöttl betrachten zwar ebenfalls eine regulierungsökonomische Frage, analysieren jedoch die Investitionsentscheidungen in liberalisierten Elektrizitätsmärkten. Es zeigt sich, dass Marktmacht zu geringen Investitionsanreizen im Vergleich zu einer Situation vollkommenen Wettbewerbs führt. Die Autoren schlagen vor, das Problem mittels Price Cap und Kapazitätsmärkten zu lösen. Das Korreferat von Volker Heck fasst die Ergebnisse zusammen und nimmt anschließend eine Bewertung vor. Ebenfalls mit Infrastrukturinvestitionen - jedoch in Telekommunikationsmärkten - beschäftigt sich der Beitrag von Iris Henseler-Unger. Darin kommt die Autorin zu einer positiven Bewertung der bisherigen Regulierungspraxis, was vor allem an geringen Endkundenpreisen festzumachen sei. Henseler-Unger sieht einen regen Infrastrukturwettbewerb und empfiehlt eine eher leichte Regulierung, um damit Investitionsanreize zu schaffen. Lisa Bruttel tritt diesen Aussagen in ihrem Korreferat kritisch entgegen. Zwar bestätigt sie die an Endkundenmärkten erfolgreiche Regulierung, bezweifelt jedoch, dass das von Henseler-Unger vorgeschlagene Regulierungskonzept zu dem von der Bundesregierung in Aussicht gestellten Breitbandausbau kommt. Auch der letzte Beitrag des Tagungsbandes beschäftigt sich mit einer regulierungsökonomischen Fragestellung. Im Gegensatz zu den drei vorherigen geht es dabei jedoch nicht um Investitionsanreize, sondern vielmehr um den Erfolg einer durchgeführten Reform der Preisregulierung im dänischen Pharmasektor. Ulrich Kaiser, Susan J. Mendez und Thomas Rande untersuchen dabei anhand einer empirischen Analyse, inwiefern sich die Änderung des Zuzahlungsregimes für Medikamente in Dänemark auf die durchschnittliche Preishöhe ausgewirkt hat und kommen zu dem Ergebnis, dass durchaus eine Preissenkung zu beobachten ist. Felix Hüffler interpretiert die Ergebnisse und weist auf mögliche Erweiterungen hin. Insgesamt stellt der vorliegende Tagungsband einen wichtigen und interessanten Beitrag zum Thema Marktmacht dar. Es werden die relevanten Bereiche der wettbewerbstheoretischen Grundlagen sowie der Wettbewerbspolitik und der Regulierungsökonomik angesprochen. Hierbei zielen die Autoren sowohl auf Fragen der Innovationsökonomik, auf die aktuell rege diskutierte Problematik der Investitionsentscheidungen in regulierten Märkten und auf klassische Fragen der Wettbewerbspolitik wie etwa der Kartellproblematik oder der Missbrauchsaufsicht. Letztere, die Beurteilung möglichen missbräuchlichen Verhaltens, kommt aus meiner Sicht dabei jedoch deutlich zu kurz. Gerade der mögliche Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung bedarf in vielen Fällen einer genaueren ökonomischen Analyse. Die Beurteilung von bestimmtem Verhalten, wie die Einfuhrung von Rabattverträgen, die beabsichtigte Verdrängung von Wettbewerbern oder auch die Anwendung von Kopplungsverträgen verlangt dabei nach einer deutlich stärkeren Anwendung des „More Economic Approachs" als andere potenzielle Wettbewerbsbeschränkungen. Ähnliches gilt für die Analyse der immer mehr in den Vordergrund tretenden Unternehmensformen der zweiseitigen Märkte. Wie mittlerweile einige Publikationen zeigen, ist die klassische Industrieökonomik gar nicht oder nur schwer auf sogenannte zwei- oder mehrseitige Plattformen wie z.B. Medien- oder Kreditkartenunternehmen anwendbar. Eine adäquate wettbewerbspolitische Beurteilung bedarf dann einer genauen ökonomischen Analyse. Alle diese Fragen wurden im vorliegenden Band aber leider gar nicht behandelt.

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Doerirtg

Das Ende des Laissez-Faire Anmerkungen zu einer wiederveröffentlichten Streitschrift von John Maynard Keynes* Das Buch schlug wie eine Bombe ein. Als John Maynard Keynes 1926 seine auf Vorträgen in Oxford und Berlin basierende Streitschrift „The End of Laissez-Faire" veröffentlichte, kam schon im gleichen Jahr eine deutsche Übersetzung auf den Markt. Vor allem im heimatlichen England schreibt man der Schrift zu, dass sie den wirtschaftspolitischen Konsens dramatisch zu Ungunsten des Wirtschaftsliberalismus veränderte. Die Herausgeber der nun vorliegenden vollständigen Wiederveröffentlichung des deutschen Textes, Peter Kalmbach und Jürgen Kromphardt, halten ihn im einleitenden Vorwort für „die einzige von Keynes vorgelegte systematische Analyse über das erforderliche Ausmaß der staatlichen Aktivität in wirtschaftlichen Angelegenheiten" (Keynes 1926/2011, S. 6). Dieser Anspruch mag denn doch ein wenig zu hoch gegriffen sein. Man sollte sich zum Verständnis von Keynes Schrift nicht nur vor Augen führen, dass sie noch deutlich vor der berühmteren „General Theory" von 1936 erschien, weshalb die dort entwickelte Vorstellung eines makroökonomischen Konjunkturmanagements durch den Staat hier zum Beispiel noch nicht entwickelt ist. Vielmehr gilt es auch zu beachten, dass es sich eben nicht um eine systematische wissenschaftliche Abhandlung handelt, sondern um einen Vortrag, der sehr dezidiert einen meinungsbildenden Anspruch gegenüber dem Publikum erhebt. Das ist völlig legitim, muss aber bei der Deutung berücksichtigt werden. So ist es zunächst einmal die rhetorische Qualität der Schrift, die wahrscheinlich jeden Leser geradezu besticht und die auch in gedruckter Form erahnen lässt, wie faszinierend Keynes damals auf seine Zuhörer gewirkt haben muss. Sehr überspitzt formuliert könnte man „The End of Laissez-Faire" als eine äußerst erfolgreiche neue rhetorische Strategie beschreiben, die eine ältere überkommene rhetorische Strategie für lange Zeit ersetzen sollte. Die von ihm kritisierte und verworfene liberale Wirtschaftsphilosophie des staatlichen Nichteingriffs in Marktabläufe, ist für Keynes 1926 schlichtweg so obsolet geworden, dass sich eine systematische Argumentation dagegen erübrigte. Floskeln wie „entsprungen aus veralteten Kontroversen und fortgeführt durch längst aufgeflogene Sophismen" (S. 20) oder - pompöser noch! - „die Stimmen, die einst am vernehmlichsten und deutlichsten die Menschheit politisch belehrt haben, hören wir heute nur noch undeutlich" (S.17) durchziehen das ganze Werk. Sie dienen vor allem einem Zweck: Dem Nachweis, dass liberale Wirtschaftsideen - die er übrigens recht konsequent als „konservativ" bezeichnet, wohl um seinen Ruf als „neuer" Liberaler zu festigen - heute nur noch ein kulturelles Relikt seien, die von einigen Verfechtern so verfochten werden wie ein vergangener religiöser Aberglaube oder ein bloßes kulturelles Vorurteil. Geschickt leitet Keynes daher seine Kritik mit einem längeren geisteshistorischen Exkurs ein. Die Genese des Begriffs „Laissez Faire" wird auf den Kaufmann Legendre zurückgeführt, der sich im 17. Jahrhundert gegen den Merkantilismus Colberts wehrte, und vor allem auf den fast vergessenen Marquis d'Argenson, der Mitte des 18. Jahrhunderts die Idee erstmals schriftlich propagierte. Keynes ist aufrichtig oder geschickt genug, nicht zu bestreiten, dass der Rückzug des protektionistischen Staates den wirtschaftlichen Aufschwung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichte, wenngleich er den Vorteil dieses Rückzugs als lediglich zeitgebunden im Kontext für sinnvoll erklärt. Die korrupte Politik des absolutistischen Zeitalters habe einen politischen Zugriff staatlicher Macht tatsächlich als kontraproduktiv erscheinen lassen. Merkantilismus John Maynard Keynes, Das Ende des Laissez-Faire: Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2011, 52 Seiten.

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hätte, so könnte man daraus schließen, langfristig prima funktioniert, hätte es bessere Merkantilisten gegeben. Das klingt in dieser rhetorischen Kürze ein wenig so wie die Aussagen mancher heutiger DDR-Apologeten, die meinen, die Planwirtschaft hätte funktioniert, wenn man nur noch sorgfaltiger geplant hätte. Auch konzediert Keynes, dass die großen liberalen Klassiker unter den Ökonomen, etwa Adam Smith, sich nie einer naiven Verwendung des Begriffs „Laissez Faire" hingegeben hätten. Man kann dies als ein Zeichen argumentativer Integrität deuten, der es darum geht, ohne Unterstellungen auszukommen, aber andererseits ist es doch gerade so, dass diese Konzessionen an den politischen Gegner auch hervorragend in die rhetorische Strategie Keynes' passen. Keynes geht es letztlich nicht darum, ausgefeilte Theorien vergangener Ökonomen zu analysieren, sondern darum, eine bestimmte Doktrin - eben die des Laissez Faire - als pseudowissenschaftliches und pseudoreligiöses Vorurteil zu diskreditieren - ein Anliegen, bei dem die Zitation eines Adam Smith eher stören würde. So kommen denn als Verteidiger des Laissez Faire hauptsächlich unbedeutendere Autoren zu Wort, wie z.B. Bischof Whatley oder die Romanautorin Harriet Martineau. Keynes geht es also nicht um eine technisch ökonomische, sondern um eine ideologische Auseinandersetzung. Die Ideologie des Laissez Faire hätte ihren Siegeszug antreten können, weil sie die beiden bedeutenden Strömungen der Zeit, den Egalitarismus im Sinne Rousseaus und Benthams und den konservativen Individualismus eines Hume oder Burke, vereinen konnte. Später habe der Darwinismus ihr Leben verlängert. Von alledem sei nun - im Jahre 1926 - nur noch ein „orthodoxer Glaube" (S. 41) übrig, der tatsächlich über keine sachlichen Argumente mehr verfüge. Was ist nun im Lichte dieser Verwerfung des Laissez Faire das eigentliche positive Gegenbild, das Keynes als praktische Alternative empfiehlt? Das verrät bereits der Untertitel der Schrift „Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft". Keynes glaubt an den unternehmerisch tätigen Staat. Er tut dies allerdings nicht im Sinne eines planwirtschaftlichen Sozialismus, den er ebenfalls als gefährliche Ideologie verwirft, die der des Laissez Faire weitaus ähnlicher sei als man gemeinhin denke. Vielmehr liegt für Keynes die Zukunft in der „Entwicklung und der Anerkennung halbautonomer Körperschaften im Rahmen des Staates" (S. 43). Ferner lege die Entstehung großer Aktiengesellschaften und die zunehmende Monopolisierung der Wirtschaft (deren Ursachen er nicht erklärt, sondern wohl ohne weitere Hinterfragung als Folge eines Marktversagens deutet) schon fast automatisch eine Tendenz bei Unternehmen nahe, „sich selbst zu sozialisieren" (S. 44). Man muss nicht die Berechtigung staatlichen Unternehmertums in eng begrenzten Fällen grundsätzlich in Frage stellen, um sich dann doch die Frage zu stellen, ob dies als so verallgemeinerte Remedur wirklich so zukunftsweisend ist, wie es die Autoren des einleitenden Vorworts behaupten: „Im Kern geht es dabei darum, ob sich aus der Trennung von Eigentum und Leitung, wie das für die Kapitalgesellschaft typisch ist, ein neuer und qualitativ anderer Kapitalismus entwickelt" (S. 10). Gänzlich neu und originell sind die Vorschläge indes nicht, denn sie passen genau in die zur damaligen Zeit im Vormarsch begriffene Tendenz hin zum Korporativstaat, der im Faschismus dann schließlich der zentrale Baustein der Wirtschaftsideologie wurde. Es muss immerhin Keynes zur Ehre konstatiert werden, dass er seine korporatistischen Vorstellungen in ein durchweg demokratisches Staatsverständnis einbettet, ja sogar hierin einen Beitrag zu einer Art Wirtschaftsdemokratie sieht. Die ökonomischen Grundprobleme korporatistischer Systeme bleiben allerdings auch in dieser demokratischen Form bestehen. Ein heutiger Leser muss sich fragen: War nicht gerade die Trennung von Management und Besitzunternehmertum im Laufe der Finanzkrise eines der Hauptprobleme? Wäre nicht die Wiederherstellung von Wettbewerb ein besserer Weg, gegen den Monopolismus vorzugehen, als diesen noch mit politischer Macht zu durchdringen? Wäre nicht „crony-capitalism", der Filz von Wirtschaft und Politik, der das „too big to fail" zum Kernproblem werden lässt, die Folge?

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Braucht man nicht nur einmal in den Morast der halb-privaten und halbautonomen Kommunalbetriebe in unserem Land zu blicken, um sich von einer Idee abzuwenden, die ja Keynes selbst fast scherzhaft als „gewissermaßen eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Formen selbständiger Autonomien" bezeichnet? Erinnert das nicht auch ein wenig an den „Marktsozialismus", den man in Titos „Jugoslawischen Modell" fand? Als großer Gegenwurf zur Marktwirtschaft taugte dies wohl schon damals wenig. Heute müsste im Lichte gemachter Erfahrungen die Skepsis noch größer sein. Die Probleme des Wirtschaftssystems werden hier wohl zur Lösung verklärt. An dieser Stelle lohnt es sich, ein wenig auf die theoretische Fundierung einzugehen, die Keynes sich gibt bzw. nicht gibt. Die Autoren des Vorworts erwähnen dabei als besonders bemerkenswert die Einbeziehung des „Informationsaspekts" (S. 8) als wirtschaftliche Komplikation, die bei Keynes realiter allerdings nur in dem einem Nebensatz „wenn Unkenntnis vorherrscht" (S. 36) vorkommt. Nun haben seriöse Marktökonomen seit Adam Smith gerade dieses Problem der Wissensbeschränktheit und der schwierigen Koordination der Gesamtheit ökonomischer Tätigkeit als das Kernargument zu Gunsten einer liberalen Wirtschaftsordnung gemacht. Gerade dieses Problem der mikroökonomischen Koordination ist es, das Keynes - übrigens auch später in der „General Theory" - gar nicht adressiert. Wie diese Koordination in einer Welt voller staatlicher halbautonomer Körperschaften und monopolistischer Großfirmen, die staatlich domestiziert sind, und in denen nur Manager und keine Eigner tätig sind, funktionieren soll, bleibt besorgniserregend offen. Sie scheint in diesem Kontext nur mit den Mitteln der zentralen Planwirtschaft denkbar, die Keynes selbst zu Recht für impraktikabel hält. Es gab wohl für Keynes gute Gründe, hierüber mehr oder weniger zu schweigen. Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass Keynes das Thema des „Egoismus" in seiner Kritik des Laissez Faire ständig überbetont, während die Koordinationsfunktion als das eigentliche konstituierende Element der Marktwirtschaft fast völlig ausgeblendet wird. Für Keynes ist das Kriterium der „Marktkonformität" weitgehend erschöpft, wenn noch wenigstens ein wenig von „Stimulus der gelderwerbenden und geldliebenden Instinkte der Individuen als der Haupttriebfeder der Wirtschaftsmaschine" (S. 50) vorhanden ist - so als ob dieser Stimulus nicht strikt definierter Voraussetzungen in Form einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik bedürfe, um sich positiv zu entfalten. Eine solche Argumentationsverengung passt natürlich in die rhetorische Strategie, die mit dem Thema „Egoismus" schlechterdings wesentlich suggestiver und herabsetzender gegenüber der Marktwirtschaft operieren kann als mit einer Diskussion über Grenznutzen und Kalkulation - eine Strategie, die sich auch heute noch großer Popularität erfreut, wenn man etwa an die massenmediale Reduzierung der Ursachen der Finanzkrise auf die „Gier der Manager" denkt. Mit einer Diskussion des Koordinationsproblems wäre indes die Argumentation leicht ins Wanken gekommen. Dieser Mangel in der Argumentation Keynes'' verhindert aber auch, dass Ansätze zur Lösung der realen wirtschaftlichen Probleme, die er aufzählt mit den Methoden der modernen Ordnungspolitik, wie sie sich zu dieser Zeit bereits herauszubilden begann, angegangen werden. Man denke hier etwa an die Gefahrdung der Vertragsfreiheit durch Monopole und Trusts (S. 36). Eine Setzung von Rahmenbedingungen, die den Marktmechanismus nutzt und schützt, kommt in dem prozessinterventionistischen Weltbild Keynes' nicht vor. Im Gegensatz zu den Ordoliberalen neigt Keynes dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aber, so muss wiederholt werden, „The End of Laissez-Faire" ist eben kein wirtschaftstheoretisches Handbuch. Keynes war von der Notwendigkeit einer allgemeinen ideologischen und kulturellen Bewusstseinsveränderung in der Gesellschaft überzeugt, die er für einen Schritt in Richtung Vernunft hielt. Auf diese allgemeine rhetorische Eben gehoben, wird schlechterdings ein Gegenmythos zum Laissez Faire geschaffen, der zu einer ausgesprochen nichtargumentativen Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft verführt. Dinge werden dann nur noch im Rahmen der neuen vorgegebenen Ideologie interpretiert. Ein Beispiel liefert der Umgang mit einem Kritiker der Schrift durch die Autoren des neuen Vorworts. In seiner schon 1927 erschienen Rezension hatte Ludwig von Mises die These vertreten, dass die meisten Pro-

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bleme des Kapitalismus, die Keynes aufzähle, daher rührten, dass schon längst kein Laissez Faire, sondern fast überall der Interventionismus herrsche. Dies wird - ganz im Stile der Schrift selbst - von den Autoren als eine unter liberalen Autoren „beliebte Argumentationsfigur" abgetan: „Und spätestens zwei Jahre nachdem v. Mises das geschrieben hatte, waren seine Überzeugungen widerlegt: Die Große Depression konnte nicht als Folge eines allseitigen Antiliberalismus begriffen werden" (S. 12). Indes ist die naive ¿ey«eiianische Ursachenerklärung der Großen Depression, die auf einer Theorie natürlicher Ungleichgewichte und Unterkonsumption in freien Märkten beruht, mittlerweile nicht ohne guten Grund unter Beschuss geraten. Sind nicht staatliches Schuldenmanagement und eine Politik des „leichten Geldes" ausgesprochen legitime Erklärungsmuster? Und wie steht es mit dem Verfall des Freihandels in der Zwischenkriegszeit? War er nicht eine der Ursachen für Monopolbildungen? Derartige Einwände als bloße ,Argumentationsfigur" abzutun, wird dem Gewicht der Debatte nicht gerecht. Es ist erstaunlich, wie festgefahren manches Weltbild ist, dass überkommenen Deutungsmuster auf diese Weise immer wieder wiederholt werden. Darin liegt wohl denn auch die Gefahr der rhetorischen Strategie, die Keynes in „The End of Laissez-Faire" einschlägt: Die Anti-Orthodoxie kann schnell selbst zur Orthodoxie werden. Ihr sollte dann die Kritik zuteil werden, die Keynes beim Laissez Faire selbst einfordert.

Literatur Keynes, John Maynard (1926/2011), Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, 2. unveränderte Auflage. Mit einem Vorwort von Peter Kalmbach und Jürgen Kromphardt, Berlin. Mises, Ludwig von (1927), Buchrezension von Keynes, J.M., Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 82, S. 190-191.

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Nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise Anmerkungen zum gleichnamigen, von Helmedag und Kromphardt herausgegebenen Sammelband* Die Herausgeber machen mit diesem Sammelband eine Reihe von Referaten zugängig, die im Februar 2010 bei der sechsten wissenschaftlichen Tagung der Keynes-Gesellschaft gehalten wurden. Sie unterteilen die einzelnen Beiträge in zwei Kapitel: I. Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise und II. Handlungsbedarf nach der Krise. Gustav Horn und Till van Treeck untersuchen im ersten Kapitel zunächst die Ursachen der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise. Dies sind ihrer Auffassung nach drei ineinander verschränkte makroökonomische Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte: Wachsende Ungleichheit der Einkommen, wachsende Ungleichgewichte im Außenhandel und Unterregulierung der Finanzmärkte. In den Vereinigten Staaten haben die Bezieher verhältnismäßig geringer Einkommen immer größere Schulden aufgenommen, um ihren Lebensstandard halten zu können. In vielen Ländern der Europäischen Union, vor allem im Süden, haben sich die privaten Haushalte ebenfalls stark verschuldet, um ihren Lebensstandard zu verbessern. In Deutschland ist es anders, hier wird in den unteren Einkommensklassen mehr gespart, statt Schulden aufzuFritz Helmedag und Jürgen Kromphardt, Nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, Verlag Metropolis, Marburg 2011, 216 Seiten.

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häufen. Deutschland hat auf Dauer Leistungsbilanzüberschüsse aufgebaut, denen ebenso auf Dauer angelegte Defizite in den anderen Ländern gegenüberstehen. Horn und van Treeck halten eine solche Verknüpfung von makroökonomischen Ungleichgewichten für risikoreich. Sie setzen sich für eine stärkere Regulierung des Finanzsystems ein. Der private Konsum soll sich wieder stärker aus laufendem Einkommen speisen - und zwar dergestalt, dass die zwischenstaatlichen Ungleichgewichte, übermäßige Kreditfinanzierung des Konsums und übermäßiges Sparen verschwinden. „Auf längere Sicht wird der Staat eine viel aktivere Rolle spielen müssen bei der Bekämpfung der ökonomischen Ungleichheit, der Überwindung der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte sowie der Re-Regulierung der Finanzmärkte und Förderung der langfristig ausgerichteten realen Investitionstätigkeit." (S. 33) Reinhold Moser ergänzt Horn und van Treeck mit umfangreichen saldenmechanischen Überlegungen. Seiner Meinung nach funktioniert der Ausgleich der Kapitalmärkte nicht, da der Zins in der Realität nicht allein von der Zeitpräferenzrate abhänge, sondern auch von anderen Motiven. Vor allem die Alterssicherung in kapitalgedeckten Rentensystemen wirke sich störend auf die orthodoxe neoklassische Zinsmechanik aus. Moser hält dauerhafte Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen für riskant, weil realwirtschaftliche Strukturen schlagartig entwertet werden, wenn sich die Handels- und Zahlungsströme einmal umkehren. Seines Erachtens kann solchen Risiken vorgebeugt werden, wenn die Lohnentwicklung innerhalb der Europäischen Währungsunion zwischen den Mitgliedsstaaten abgestimmt und produktivitätsorientiert ist. Die Steuerpolitik sollte so gestaltet sein, dass sie den Konsum in breiten Schichten der Bevölkerung fordert. Moser spricht sich mit Blick in die ferne Zukunft abschließend für eine Negativzinspolitik aus, die er an die Freigeldlehre Silvio Gesells anlehnt. Katja Rietzler und Rudolf Zwiener greifen die makroökonomischen Fragen der Rentenversicherung detaillierter auf. Die Demographie verteuert nach ihrer Analyse die Altersvorsorge in jedem Fall, ganz gleich ob die Rede von umlagefinanzierten oder mit Kapital gedeckten Rentensystemen ist. Mit Kapital gedeckte Rentensysteme sind nach Rietzler und Zwiener allerdings weniger krisensicher als umlagefinanzierte, beziehungsweise können sie makroökonomische Krisen sogar verschärfen, weil das Sparen der Haushalte die gesamtwirtschaftliche Konsumnachfrage beschränkt. Fabian Lindner setzt sich gründlich mit den kurz- und längerfristigen Entwicklungen des Häusermarktes in den Vereinigten Staaten auseinander. Seiner Auffassung nach gibt es für den zurückliegenden Boom der Häuserpreise und dessen Zusammenbruch zwei zusammenwirkende Gründe: die lockere Geldpolitik der amerikanischen Notenbank und die Deregulierung der Kreditvergabe. Lindners Beitrag schließt das Kapitel des Sammelbandes über die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Helge Peukert greift im Maßnahmenteil sodann Thorstein Vehlens und John Maynard Keynes' Kritik am Kapitalmarkt auf. Der Kapitalmarkt kehrt nach Vehlen „barbarische" Verhaltensweisen im Menschen hervor. Keynes bezweifelte die ökonomische Rationalität des Kapitalmarktgeschehens. Peukert leitet aus dieser Sicht einen ganzen Katalog von Regulierungsmaßnahmen ab, die er für weltweite Finanzgeschäfte verwirklicht wissen möchte, darunter die Zerschlagung von Großbanken, Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, eine allgemeine Finanztransaktionssteuer, Kontrolle des Derivatehandels und Mindestreservepflichten für „hedge funds". Jörg Bibow setzt sich kritisch mit den generellen Wohlfahrtswirkungen internationaler Finanzmarktintegration auseinander. Er hält positive Wohlfahrtswirkungen für nicht nachgewiesen. Vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern kann der freie Kapitalverkehr sogar nachteilig wirken, sofern er keine Direktinvestitionen befördert. Denn unkontrollierte Zuflüsse spekulativen Kapitals schaden dort der Realwirtschaft, weil sie den Wechselkurs künstlich steigen lassen. Bibow hält die regionale europäische Finanzmarktintegration grundsätzlich für sinnvoll. Diese erfordert aber eine einheitliche europäische Wirtschaftspolitik. Er setzt sich für maßvolle Kapitalverkehrskontrollen im weltweiten Maßstab ein, deren Eingriffstiefe unterhalb eines umfassenden Systems der Devisenkontrolle liegen kann. Kapitalverkehrskontrollen sind seiner

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Meinung nach durch eine Weltwährungsordnung zu ergänzen, die ein symmetrisches Anpassungsverhalten der einzelnen Länder gewährleistet und die „merkantile Handelsstrategien" verhindert. Leander L. Hollweg greift den Gedanken einer solchen Weltwährungsordnung auf und lehnt sich dabei an Vorstellungen an, die Keynes anläßlich der Konferenz in Bretton Woods von 1944 äußerte. Hollweg schlägt vor, dauerhafte Überschüsse und Defizite der Leistungsbilanzen durch Pflichtausgleichszahlungen der Überschuss- und Defizitländer zu beseitigen. Die internationale Währungsordnung würde merkantilen Strategien einzelner Länder; die darauf abzielen, die eigene Wohlfahrt durch andauernde Überschüsse auf Kosten anderer zu verbessern, einen Riegel vorschieben. Denn Hollweg hält solche Strategien für unproduktiv. Produktiv seien hingegen Investitionen in Humanvermögen, in die die Ausgleichszahlungen vorwiegend geleitet werden sollen. Jürgen Kromphardt und Camille Logeay befassen sich schließlich mit der Frage, ob der nächste Aufschwung der Wirtschaft Inflationsgefahren bergen wird. Sie schätzen für verschiedene europäische Länder langfristige Phillips-Kurven. Die geschätzten Kurven verlaufen flach fallend, in keinem Fall vertikal. Kromphardt und Logeay ermitteln weiterhin, dass die inflationsstabile Arbeitslosenrate (NAIRU) empirisch sinkender Arbeitslosigkeit folgt. Der Einfluss der Arbeitslosenquote auf die Inflationsrate ist demnach in den letzten Jahrzehnten erheblich geringer geworden. Es wird im kommenden Aufschwung deshalb keine beschleunigte Inflation erwartet. Der Sammelband von Helmedag und Kromphardt gibt einen nützlichen und lehrreichen Überblick, wie deutsche Keynesianer die Ursachen und die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise einschätzen. Die verschiedenen Autoren argumentieren in ihren Beiträgen in der Regel nachvollziehbar und schreiben gut lesbar. Sie verzichten auf modische Formalisierungen. Es wäre an der einen oder anderen Stelle des Buches wünschenswert gewesen, die Ausführungen noch zu vertiefen und zu differenzieren. Die Argumente gewönnen dadurch noch mehr Klarheit. Insbesondere die Frage, welche positiven und negativen Wohlfahrtswirkungen die Liberalisierung und die Integration der Finanzmärkte tatsächlich haben, erscheint zu summarisch abgehandelt. Einige Details harren auch der genaueren Erklärung, zum Beispiel warum die Zeitpräferenztheorie des Zinses nicht auch das Motiv der Altersvorsorge einschließen soll. Welche Rolle sollen exotische Theorieansätze wie Gesells Freigeldlehre in der aktuellen oder zukünftigen Lage tatsächlich spielen? Vermutlich keine allzu große. Peukert wirft in seinem Beitrag interessante erkenntnistheoretische und anthropologische Gesichtspunkte auf, zum Beispiel den Stellenwert echter Unwissenheit für ökonomische Entscheidungskalküle oder die Wiederkehr „barbarischer" Verhaltensweisen im liberalisierten Finanzmarkt. Hier stellen sich Fragen der Forschung, die über Peukerts anekdotische Evidenz und den dogmengeschichtlichen Verweis auf Keynes und Vehlen hinausweisen. Die erkenntnistheoretische Diskussion ist in den Wirtschaftswissenschaften nach Keynes weiter fortgeschritten und hat sich differenziert, etwa durch die die fachlichen Beiträge der NeoÖsterreicher oder der radikalen Subjektivisten (Kirzner 1986; Birner und van Zijp 1994; O'Driscoll und Rizzo 1996) oder - in postkeynesianischer Manier - G.L.S. Shackles (1988). Die Anthropologie der Finanzmärkte kann mittlerweile ebenfalls auf einen umfangreichen Forschungsstand zurückgreifen (Lindh de Montoya 2002), der über anekdotische Evidenz hinausgeht, wie sie jüngst in der Presse von Fall zu Fall zu finden war (zum Beispiel Smith 2012). Die Autoren dieses Bandes argumentieren in erster Linie prozesstheoretisch. Die keynesianische Lehre ist eine Prozesstheorie. Der ordnungstheoretische Bezug schwingt aber implizit stets mit, und tatsächlich ist er stark, beispielsweise bei der Frage nach der zukünftigen WeltHandels- und Währungsordnung. Die tatsächlichen Wohlfahrtswirkungen der sogenannten Globalisierung scheinen aus ordnungstheoretischer Sicht nicht in erster Linie eine Frage von Deregulierung und Liberalisierung zu sein, sondern eine Frage, wie die Institutionen einer fairen internationalen Markt-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft beschaffen sind. Es sollte eine stabile Ordnung von weltweiten Regeln sein, die nicht nur das formale Recht, sondern auch moralische

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Normen und Verhaltensweisen umfasst (Röpke 1979, S. 105 ff.). In Helmedags und Kromphardts Sammelband wird vor diesem Hintergrund immer wieder auf die Probleme hingewiesen, die durch eine „merkantile" oder - um einen Begriff der neunziger Jahre zu wählen - „strategische Handelspolitik" entstehen: Im Streben nach permanenten Leistungsbilanzüberschüssen könnte tatsächlich eine Mentalität des weltweiten „who's bashing whom" (D 'Andrea Tyson 1992) mitschwingen, deren ökonomische Apologien Krugman als unwissenschaftlich und anmaßend kritisierte (Krugman 1997). Horn und van Treeck geben die Leitgedanken des Sammelbandes vor. Sie gelangen aus einer prozesstheoretischen und empirischen Argumentation heraus zu den am weitesten reichenden Ordnungsfragen, nämlich neben dem gerade angerissenen Thema der Welthandels- und -zahlungsordnung auch zu grundsätzlichen Erwägungen über die Verteilungsordnung sowie zur institutionellen Bindung des Finanzmarktes an die Normen und Erfordernisse der Realwirtschaft und der Zivilgesellschaft - also zur Regulierung von Märkten. Horm und van Treecks Schluss, der Staat müsse in Zukunft wieder eine größere Rolle für den Wirtschaftsprozess spielen, ist aus ihrer Argumentation heraus folgerichtig. Er wird institutionell aber nicht ausgearbeitet. Die ordnungspolitische Dimension wird mit einem Verweis auf Krugman nur angerissen. Denn Krugman (2009) stellt die Liberalisierung und Deregulierung von Märkten als politisch bewusst motivierte und vorgenommene Umgestaltung der Verteilungsordnung dar. Mit der Umgestaltung der ökonomischen Verteilungsordnung, wie sie Krugman beschreibt, ist im weiteren Sinne nichts anderes gemeint, als das Zerbrechen des „sozialdemokratische Konsens" der Nachkriegszeit in den siebziger Jahren {Dahrendorf 1994). Ökonomen bewerten dieses geschichtliche Ereignis je nach Herkunft oder Standpunkt in einer bestimmten Lehrmeinung unterschiedlich, und sie kommen auch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, welche Konsequenzen daraus für die heutige Lage der Wirtschaft zu ziehen sind. Damit ist eine allgemeine Überlegung nahe liegend, die den Sammelband von Helmedag und Kromphardt betrifft, aber nicht nur ihn. Keynesianisch inspirierte Ökonomen tendieren dazu, die Ergebnisse von Liberalisierung und Deregulierung kritisch zu bewerten, was nicht wundernimmt. Denn der Keynesianismus ist ja schließlich eine der allgemeinen Konsequenzen gewesen, die die Sozialwissenschaften aus dem Scheitern „paläoliberaler" {Rüstow 1961) Wirtschaftspolitik in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zog. Der „sozialdemokratische Konsens" der Nachkriegszeit war in den westlichen Industrienationen Weitenteils ein keynesianischer {Engelhard 2011, S. 5). Anders meinende Ökonomen, namentlich neoklassisch-liberal oder neoösterreichisch inspirierte, kommen dennoch oft zu ganz anderen Ergebnissen, wenn sie das Leitbild von Deregulierung und Liberalisierung bewerten, das in den achtziger Jahren wieder die Wirtschaftspolitik zu bestimmen begann. Hollweg weist im vorliegenden Band feinsinnig daraufhin, dass empirische Prozesstheorie hier keinen eindeutigen Beweis liefern kann, was „gut" und was „schlecht" ist (S. 175). Dennoch werden ökonomische Lehrmeinungen und daraus abgeleitete wirtschaftspolitische Rezepte oft mit dem Anspruch objektiver Richtigkeit vertreten. Die dialoglose Widersprüchlichkeit, in der die Volkswirtschaftslehre dann verharrt, unterstützt die heute geforderte praktische Krisenpolitik kaum. Es sei an einen Ausspruch Eugen Böhlers, erinnert, den Hoppmann überlieferte und nach dem man auf ein ungeheures Schlachtfeld von Modellruinen blicken kann, auf denen in erhabener Einsamkeit jeweils ein Nationalökonom sitzt {Hoppmann 1974, S. 12). Pies hat jüngst den Ansatz der „Ordonomik" entwickelt, der dialoglose Widersprüchlichkeiten aufgreift und aufzulösen versucht {Pies 2009; Pies, Beckmann und Hielscher 2009). Handlungsanreize und Regeln bestimmen, wie das konkrete Wirtschaftsleben abläuft. „Wie aber einigt man sich auf Regeln? Die allgemeine Zustimmungsfähigkeit einer Lösung erfordert, zuvor ein gemeinsames Verständnis des zugrunde liegenden Problems erarbeitet zu haben" {Pies, Beckmann und Hielscher 2009, S. 1). Pies' Ordnungslehre will die unterschiedlichen Denkrahmen oder „mind sets" gesellschaftlicher Kommunikation erkennen und so weiterentwickeln, dass Probleme gemeinsam wahrgenommen werden und gesellschaftliche Verständigung möglich wird. Dazu ist es notwendig, den „trade-off' unterschied-

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licher Werturteile und Interessen offenzulegen. Wirtschaftspolitischer Fortschritt liegt, um Pies' Diktion beizubehalten, in einer „orthogonalen Positionierung" außerhalb eines gegebenen „trade-offs". Tuchtfeldt entwarf ein Dreieckdiagramm, das idealtypische politische Ideensysteme (Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus) mit jeweils zugehörigen idealtypischen Verfassungsentwürfen (Minimalstaat, Ständestaat, Rätestaat) und idealtypischen gesellschaftlichwirtschaftlichen Steuermechanismen (individuell-marktlich, staatlich-dezentral, kollektivzentralistisch) verbindet (Tuchtfeldt 1979). Innerhalb von Tuchtfeldts Dreiecksdiagramm lassen sich auch Verbindungen von realen politischen Ideensystemen (zum Beispiel liberaler Konservatismus, sozialer Liberalismus oder demokratischer Sozialismus), wie sie im demokratischen Gemeinwesen vorkommen, mit jeweiligen Leitbildern der Wirtschaftspolitik verknüpfen. Dies beschreibt die Sphäre, in der bestimmte Lehrmeinungen der Wirtschaftspolitik mit bestimmten politischen Zielen korrespondieren. Darin spannen sich auch die semantischen „trade-offs" in Pies' Sinne auf. Ein solcher „trade-off' ließe sich beispielsweise zwischen Zielen wie „Dynamik von Veränderung" versus „Stabilität ökonomischer Strukturen" konstruieren. Die keynesianische Lehre neigt dazu, das Ziel der Stabilität in den Vordergrund zu stellen. Sie zielt auf eine Verstetigung des Wirtschaftsablaufs und dessen Bindung an politische Vorgaben, sprich Regulierung der Märkte. Im Ziel der Verstetigung spiegelt sich das Bedürfnis des Menschen nach Bestand und Beständigkeit in seinen Lebensumständen. „For povert breedith naght but hevynesse. Alias, wher ist his worldes stablenesse?" fragte der Dichter Thomas Hoccleve im 15. Jahrhundert (Hoccleve 1999). Sennet führt aus, dass allgemeiner Mangel an Bestand im Menschen Ungewissheit und Angst weckt und eine sozial pathologische Beliebigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse nach sich zieht (Sennet 1999). Die Freiheit des Unternehmerhandelns ist den liberalen Ökonomen anderer Schulen, der neoklassischen oder auch neoösterreichischen, dennoch wichtiger. Der Typus des begabten und radikal verändernden Unternehmers, der Schumpeter vorschwebte, ist zwar ein soziologisch seltener, für den Strukturwandel und die Verbreitung von Neuerungen aber wichtiger (Heuß 1965). Selbst wenn man den moderateren Typus des arbitrierenden (Kirzner 1978) oder optimierenden Unternehmers (Robbins 1962) in den Vordergrund stellt - es muss immer die freie Marktgesellschaft sein, die die geeignete Bühne für solche Rollen abgibt und in der auch die ungehemmte Spekulation eine sinnvolle Wirkung entfaltet (Lachmann 1994). Die ordonomischen „trade-offs" lassen sich in der Wirklichkeit allerdings nicht auf eindimensionale Ausprägungen reduzieren. Zum Beispiel machen Verfechter ökonomischer Stabilität und Sicherheit einen Anspruch auf Freiheit in anderen Lebenssphären geltend - Freiheit von Not und widrigen Wechsellagen der Lebensführung. So gelangt man zu Berlins Unterscheidung in positive und negative Freiheit (Berlin 1969). Oder: Soll der Staat dem Wirtschaftsprozess insgesamt eine übergreifende, sozial gewünschte Entwicklungsrichtung vorgeben, wie es sich unter anderem im Keynesianismus Karl Schillers als Leitgedanke findet (Engelhard 2010, S. 92), oder sind soziale und moralische Interessen der Gesellschaft doch eher dem „Marktrand" zuzuordnen, wie es der ordoliberalen Position Rüstows entspräche (Maier-Rigaud und MaierRigaud 2009, S. 83)? Bei jeder wirtschaftspolitischen Streitfrage sind also verschiedene Werte, Ziele und Interessen ineinander verschränkt. Ob der einfache „trade-off als Instrument der ordonomischen Analyse hier ausreicht, bleibt offen. Vermutlich stellt sich die Suche nach neuen, allgemein akzeptierten Regeln für das Wirtschaftsleben eher als Kontraktkurve im Sinne Edgeworths (1881) dar. Darauf kommt es zunächst aber nicht in erster Linie an. Wichtig ist die Chance, die der ordonomische Gedanke birgt - nämlich die wirtschaftspolitische Debatte aus der am Ende kommunikationslosen Konfrontation unterschiedlicher Lehrmeinungen heraus- und in einen Diskurs über gesellschaftspolitische Werte hineinzuführen. Neue Regeln werden dann politisch legitimiert und nicht durch die vermeintliche objektive Richtigkeit der ökonomischen Lehre, auf denen sie fußen.

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Eine Gesellschaft entscheidet sich in der ordonomischen Welt also nach einem Streit um politische Werte und, zum Beispiel, nach einer Einigung auf ein bestimmtes Maß an wirtschaftlicher Freiheit oder Sicherheit für eine keynesianische oder neoklassische Wirtschaftspolitik. Sie entscheidet sich nicht für Keynesianismus oder Neoklassik, weil eine der beiden Lehren objektiv richtig ist. Die ordonomische Verfahrensweise scheint der Art, wie moderne Wirtschaftsgesellschaften politisch funktionieren, ihrer „gouvernementalite" (Miller und Rose 1994), angemessener zu sein als die Suche nach Legitimation im Dogmenstreit. Wer sich mit einer Wirtschaftspolitik auseinandersetzen möchte, die auf mehr ökonomische Stabilität, mehr soziale Stabilität und eine größere Rolle des Staates im Wirtschaftsleben abzielt, für den ist der Sammelband von Helmedag und Kromphardt eine gute und wichtige Lektüre. Eine genauere ordnungstheoretische beziehungsweise „ordonomische" sowie politische Einordnung der Meinungen und Lehren, die darin vertreten werden, wäre eine interessante Erweiterung der Gesamtdiskussion um „Nachhaltige Wege aus der Finanz- und Wirtschaftskrise".

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Manfred

Hilzenbecher

Angewandte Gesundheitsökonomie. Praxisbuch für Angehörige nichtärztlicher Berufe in der stationären und ambulanten Versorgung Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Thorsten Bücker* Schon der Titel des Buches von Thorsten Bücker verwirrt, schließlich sollte jegliche ökonomische Betrachtung der Gesundheit oder des Gesundheitswesens einen Bezug zur Realität haben, also „angewandt" sein. Dies gilt umso mehr als der Verfasser ankündigt, mit seinem Werk ein „Praxisbuch" zu präsentieren. Auch die Spezifität des hier angesprochenen Adressatenkreises will nicht so recht einleuchten, denn warum sollten sich gesundheitsökonomische Probleme in der stationären und ambulanten Versorgung für Angehörige nicht-ärztlicher Berufe anders darstellen als für Angehörige ärztlicher Berufe. Nach mühsam beendeter Lektüre des vorliegenden Buches hat die Verwirrung des Lesers eher zu- als abgenommen. Die Untersuchung von Gesundheit und Gesundheitswesen mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden wird gemeinhin als „Gesundheitsökonomik" bezeichnet (Breyer et al. 2004, S. 12). Gesundheitsökonomische Lehrbücher wenden sich in der Regel an Studierende und Praktiker im Gesundheitswesen (so etwa Hajen et al. 2011, S. 15). Diesen gängigen Sichtweisen vermag Bücker offenbar nur bedingt folgen zu wollen. Er will vielmehr „aus der Perspektive der Mikroebene im Rahmen der Therapiewissenschaft die Gesundheitsökonomie anwenden". Sein Ziel ist es, „sowohl Kosten als auch Nutzen nicht-ärztlicher Leistungen in der Pflege, Ergo- und Physiotherapie und Logopädie (Spektrum der Therapiewissenschaft) zu erkennen, zu erfassen, zu bewerten und letztendlich evidenzbasiert in der beruflichen Praxis umzusetzen". Dabei konstatiert er für die Therapiewissenschaft ein Defizit an gesundheitsökonomischen Studien „zur ressourcenallokativen Effizienz im operativen Einsatz, zur gesundheitsökonomischen Evaluation beim Mitteleinsatz oder diagnostischer Screeningverfahren". Diese Lücke soll durch einige „aktuelle Studien" aus dem Studiengang Therapiewissenschaft der Hochschule Fresenius in Idstein, an der Bücker als Lehrbeauftragter tätig ist, zumindest ansatzweise geschlossen werden (S. 9).

Thorsten Bücker, Angewandte Gesundheitsökonomie: Praxisbuch für Angehörige nicht-ärztlicher Berufe in der stationären und ambulanten Versorgung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2011, 166 Seiten.

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Bevor er sich dieser Aufgabe zuwendet, fuhrt der Autor den Leser in den beiden ersten Kapiteln aber noch rasch in die gegenwärtigen Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheitswesens ein und konfrontiert ihn mit der Erkenntnis von angeblich vorliegenden unterschiedlichen Menschenbildern in der Pflege, die „sich der gesamten Lebenssituation eines Patienten zuwendet", und in der Medizin, die heute „funktionalistisch und organspezifisch" ausgerichtet sei (S. 21). Im dritten Kapitel wird der sogenannte „Servqual-Ansatz" als „Methode der Zufriedenheitsforschung zur Messung der Dienstleistungsqualität in der Pflege" vorgestellt und empfohlen, ein Einsatz „in der Altenpflege und Psychiatrie sollte kritisch hinterfragt werden" (S. 55). Dem schließt sich eine Beschreibung der „Prozessanalyse mit Service-Blueprinting und Prozesskostenrechnung" an. Diese werden überwiegend positiv eingestuft, da sie die Prozesse im Krankenhaus transparent machen und so Möglichkeiten der Optimierung eröffnen (S. 77). Im vierten Kapitel wird anhand von zwei Fallbeispielen gezeigt, wie sich eine gesundheitsökonomische Evaluation bei nicht-ärztlichen Maßnahmen in der Pflege und der Heil- und Hilfsmittelerbringung durchfuhren lässt. Zum einen kommt eine „Kosten-Nutzen-Analyse zur Neugründung einer logopädischen Praxis" zu dem Ergebnis, dass eine solche Einrichtung „ein durchaus lohnendes wirtschaftliches Unternehmen darstellen" kann (S. 111). Zum anderen wird in einem „Kosten-Wirksamkeits-Vergleich in der Logopädie" eine „finanzielle Überlegenheit der Gruppentherapie im Vergleich zur Einzeltherapie bei vergleichbarer Wirksamkeit" festgestellt (S. 121). Das fünfte Kapitel hat die „Gesundheitsökonomische Evaluation diagnostischer ScreeningTests" im nicht-ärztlichen Leistungsbereich zum Inhalt. Dazu zieht Bücker die Ergebnisse seiner eigenen „unveröffentlichten Diplomarbeit" heran, um die „Screeningverfahren zur Sturzrisikodiagnostik in der Pflege im Krankenhaus" beurteilen zu können (S. 136). Hier konstatiert er „einige Forschungslücken", da in der relevanten Literatur „bislang keine inhaltsvaliden Instrumente zur Erfassung des Sturzrisikos für den Krankenhausbereich vorliegen" (S. 148). Diese Einschätzung sieht er durch die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von Experten nach der „Delphi-Methode" bestätigt (S. 161). Der „Ausblick" in Kapitel 6 des Buches von Bücker erschöpft sich auf nur eine Seite und schließt mit der Erwartung, dass „Mitglieder nicht-ärztlicher Therapieberufe mit wissenschaftlichem Hintergrund" bei Anwendung gesundheitsökonomischer Methoden befähigt werden, „ihre eigene Dienstleistung [...] optimal zu entwickeln und zu steuern" (S. 164). Jedes Kapitel des vorliegenden Buches wird durch eine beachtliche Literaturliste bereichert, die aber den zumeist geringen inhaltlichen Gehalt des Textes nicht zu kompensieren vermag. Unerfreulich ist, dass oftmals recht willkürlich Quellenmaterial zusammengestellt oder auch veraltete ökonomische Standardliteratur herangezogen wird. So wird etwa die „Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre" von Wöhe stets in der 21. Auflage von 2002 zitiert, obwohl im Jahr 2010 bereits die 24. Auflage erschienen ist. Zur Darstellung der GKVGesundheitsausgaben (S. 26) wird ein „Focus"-Artikel aus dem Jahr 2007 herangezogen, wo doch diese Informationen problemlos in den einschlägigen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts zur Verfügung stehen. Definitorische Erläuterungen zur „Delphi-Befragung" (S. 151) stützen sich gar auf eine an der Hochschule St. Gallen abgelegte Dissertation aus dem Jahr 1976. Einige Passagen regen auch zum Schmunzeln an. So wird in der Studie zu einer PraxisNeugründung geheimnisvoll von einer Stadt namens „L. in Baden-Württemberg" gesprochen, die „ca. 14 km von der nächsten, größeren Stadt B." entfernt liegt (S. 98 f.). Im Literaturanhang wird dem Leser dann aber doch eröffnet, dass es sich hierbei um die Gemeinden Laichingen und Blaubeuren handelt (S. 111). Recht kurios wirkt auch die Darstellung der Ergebnisse der Delphi-Befragung. Hier errechnet Bücker für die erste Befragungsrunde eine Rücklaufquote von exakt „72,73 %" (S. 154) und meint damit, dass 8 von 11 angeschriebenen Experten, die auch noch namentlich benannt werden (S. 153), geantwortet haben. Durch diesen „hohen Rücklauf'

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fühlt er sich zu der Schlussfolgerung ermutigt, „ausreichende Datenlagen gewonnen" zu haben (S. 160). Wichtig ist für ihn in diesem Zusammenhang die Feststellung: „Den einzuschätzenden Experten entstand kein körperlicher, sozialer oder emotionaler Schaden" (S. 154). Insgesamt erweckt das Buch von Bücker den Eindruck, dass es sich hier um eine wenig strukturierte Aneinanderreihung eigener Vorlesungsskripte handelt. Dem Renommee der vom Autor vertretenen „Therapiewissenschaft" dürfte das Werk keinen großen Dienst erwiesen haben.

Literatur Breyer, Friedrich, Peter Zweifel und Mathias Kifmann (2004), Gesundheitsökonomik, 5. Auflage, Berlin u.a. Hajen, Leonhard, Holger Paetow und Harald Schumacher (2011), Gesundheitsökonomie: Strukturen Methoden - Praxis, 6. Auflage, Stuttgart.

Michael Horvath und Kilian

Frei

Eine humane Ökonomie? Julian Nida-Rümelins Neuinterpretation antiker Tugendethik* Drei Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Analyse ihrer Ursachen genauso vielfältig wie das Spektrum der unterbreiteten Lösungsvorschläge. Die einen betonen das Fehlverhalten privater Akteure und geißeln Gier, Profitsucht und Risikobereitschaft von Managern und Spekulanten, von Hedge Fonds und Investmentbanken. Andere wiederum sehen den Ausgangspunkt in Staatsversagen, wie es sich etwa in Form allzu expansiver Geldpolitik, in Fehlanreizen staatlicher Kreditprogramme oder zu laxer Bankenaufsicht manifestiere. Häufig ist von systeminhärenten Fehlsteuerungen die Rede, wenn die seit Ende der Siebziger Jahre erfolgte Liberalisierung und Deregulierung von Güter- und Finanzmärkten als Keim der Krise angesehen wird. Bisweilen rücken aber auch neoliberaler Zeitgeist, fortschreitende Ökonomisierung ganzer Gesellschaften und das ungezügelte Spiel freier Märkte ins Visier. Seltener findet sich die Vermutung, dass die Wissenschaft der Ökonomik es selbst gewesen sein könnte, die aufgrund verkürzender Axiome, mangelnder Reflexion, blinder Modellgläubigkeit oder wahlweise auch ideologischer Verblendung die Krise heraufbeschwor: Hatte sich mit dem Siegeszug neoliberaler Wirtschafitsdogmatik doch immer stärker ein Bild wirtschaftlichen Handelns in den Vordergrund geschoben, das einzig auf den materiellen Eigeninteressen der beteiligten Akteure zu ruhen schien und das Ökonomische regelmäßig jenseits des Moralischen verortete. Nida-Rümelin kombiniert in seinem Ende 2011 erschienenen Buch „Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie" all diese Befunde mit dem Ziel, eine Synthese antiken ethischen und modernen ökonomischen Denkens zu erarbeiten. Dabei geht es ihm nicht um vorschnelle, oberflächliche oder pauschale Vorwürfe an die Ökonomik, wie sie ihr dieser Tage häufig aus Feuilletons und Geisteswissenschaften entgegenschallen. Er bezweckt vielmehr eine tiefergehende und wohlfundierte Kritik, ja eine Neujustierung der gegenwärtigen Wirtschaftswissenschaft - gilt es doch, diese wieder stärker an den ethischen Diskurs rückzubinden und das rationalistisch verkürzte Menschenbild des homo oeconomicus in ein ganzheitlicheres zu überfuhren. Nida-Rümelin, der in München Philosophie lehrt und sein Buch dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen widmet, greift hierzu auf fundamentale Einsichten zurück, die bis an die Grundfesten ökonomischer Theorie reichen. Sie erlauben es ihm, den Wissensstand beider Julian Nida-Rümelin, Die Optimierungsfalle: Philosophie einer humanen Ökonomie, Verlag Irsiana, München 2011, 312 Seiten.

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Disziplinen, der Philosophie wie der Ökonomik, souverän in den Blick zu nehmen und neue Wege aus der gegenwärtigen Krise des Wirtschaftssystems, der Gesellschaft, aber auch der akademischen Wirtschaftswissenschaft aufzuzeigen. Hierzu wendet er sich in gut lesbarer Sprache und mit wenigen Fußnoten an ein allgemeines Publikum. Schließlich soll seine Botschaft einer „humanen Ökonomie" die breite Öffentlichkeit und möglichst auch die Entscheider in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erreichen. Seine umfassende Fragestellung sucht Nida-Rümelin auf rund 300 Textseiten in drei gleichgewichteten Teilen zu erörtern: Während der erste Teil einen ökonomischen Problemaufriss darstellt, rückt der zweite die Ethik in den Mittelpunkt, ehe der abschließende dritte Teil eine „vernünftige Praxis" von Ökonomie und Ethik zu entfalten sucht. I.

Kritik der orthodoxen Ökonomik

Teil I („Ökonomische Rationalität") widmet sich der Wurzel ökonomischen Denkens, der Rationalitätskonzeption. Leitmotiv der ökonomischen Entscheidungstheorie sei es, diejenige Alternative zu wählen, die den größten Nutzen stifte. Die Grenzen der Anwendbarkeit dieses theoretischen Konstrukts liegen mit Blick auf die Lebenspraxis auf der Hand und werden anhand meist kurzweiliger und intuitiv nachvollziehbarer Beispiele geschildert. Dabei streitet Nida-Rümelin weder einer auf formalanalytischen Methoden basierenden Entscheidungstheorie noch dem Ansatz des methodologischen Individualismus generell die Sinnhaftigkeit ab. Er kritisiert jedoch die oft rein konsequentialistische Rationalitätskonzeption in der Ökonomik. Insbesondere lehnt er die „zeitgenössische Ideologie des homo oeconomicus" (S. 40) und die häufig (wenn auch nicht immer) mit dieser Gedankenfigur verbundene Annahme der ausschließlich egoistischen Eigennutzorientierung des Menschen ab. Freilich ist die Kernaussage der gewählten Beispiele, dass das eng gefasste Konstrukt des homo oeconomicus nicht dazu geeignet sei, das menschliche Verhalten in allen Lebenslagen zu erklären, weder originell noch kontrovers. Schließlich wird die Existenz altruistischer Motive im Handeln vieler Menschen selbst von „neoliberal" gesinnten Ökonomen nicht in Abrede gestellt. Der informierte Leser fragt sich hingegen, weshalb Nida-Rümelin die berechtigten Zweifel am Postulat der ausschließlich egoistischen Eigennutzorientierung des Individuums auf das wesentlich allgemeinere Konzept des Optimierungskalküls überträgt. Diese Verquickung ist umso weniger nachvollziehbar, als der Ökonomik an anderer Stelle vorgeworfen wird, einen ganz ähnlichen Fehler zu begehen: nämlich die inhaltliche Annahme der Eigennutzorientierung mit Axiomen zu vermengen, die der ökonomischen Nutzentheorie zugrunde liegen. Indem er der ökonomischen Orthodoxie im Abschnitt „Kohärentistische Konzeption ökonomischer Rationalität" eine solche unzulässige Vermengung entgegenhält, bescheinigt er ihr sogar „logisch und philosophisch unhaltbar" (S. 109) zu sein. In der Tat gehen zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Modelle von Agenten aus, die in ihrer Zielfunktion allein ihr eigenes Wohlergehen maximieren. Allerdings handelt es sich um eine zusätzliche Modellannahme, welche altruistisch-empathisches Handeln in der Nutzenfunktion gerade explizit ausschließt - auch wenn dies mitunter nur unzureichend diskutiert und offengelegt werden mag. Schließlich sollten Märkte und Systeme aus ökonomischer Sicht auch dann funktionieren, wenn alle Agenten sich als reine Eigennutzoptimierer verhielten, so als ob sie reine homines oeconomici wären oder, in den Worten Kants, der Staat nur aus einem „Volk von Teufeln" bestünde. Doch resultiert eine solche Annahme der reinen Eigennutzoptimierung, worauf Nida-Rümelin mit gutem Recht hinweist, keinesfalls direkt aus den der mathematischen Darstellung von Entscheidungsproblemen zugrunde liegenden Axiomen, die eine Präferenzordnung nur logisch, aber nicht inhaltlich einschränken. Und natürlich ist innerhalb einer solchen Modellierung auch ein Agent denkbar, dem altruistisches und empathisches Handeln Nutzen stiftet, der also durch ein Verhalten im Sinne seiner Präferenzordnung, hier eben durch altruistisch-empathisches Handeln, sein Wohlergehen steigert. Daher schließt selbst die gängige Mo-

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dellierung Altruismus als Handlungsmaxime keineswegs aus und bleibt mit derlei Zielfunktionen durchaus kompatibel. Freilich würde Nida-Rümelin einer solchen Denkfigur des „Altruismus als Egoismus" - ob zu Recht oder zu Unrecht, bliebe zu diskutieren - wohl umgehend den Vorwurf des ökonomistischen Konsequentialismus machen, selbst wenn modelltheoretisch ein kalkulierender von einem empathischen Altruismus nicht zu unterschieden werden brauchte und beide vom Ergebnis her betrachtet keinen Widerspruch darstellten. Erfreulicherweise bleibt Nida-Rümelin am nunmehr erreichten Punkt seiner konsequentialistischen Kritik nicht stehen, sondern unterbreitet einen „kohärentistischen" Gegenentwurf: Statt die Annahme egoistischer Optimierung ständig zu überzeichnen, solle ökonomische Rationalität wieder in ihrer weiter gefassten, offenen Form konzeptionalisiert werden - als eine Rationalität menschlicher Praxis, die versucht, Kohärenz zwischen lebensweltlichen und ökonomischen Handlungsbegründungen herzustellen, als eine Rationalität, die sich nicht weiterhin in einem inhumanen Menschenbild isoliert. In einem nächsten Schritt greift Nida-Rümelin das Motiv des Kooperationsdilemmas auf, einer Situation, in der alle Beteiligten einen individuellen Anreiz haben, sich je unkooperativ zu verhalten, obschon es im Interesse aller besser wäre zu kooperieren (zur Bedeutung von Kooperationsdilemmata im wirtschaftsethischen Kontext vgl. Homann 2002). Die Überwindung solcher Dilemmastrukturen ist dabei für die Entwicklung des materiellen wie kulturellen Wohlstands einer Gesellschaft von essentieller Bedeutung. Nida-Rümelin veranschaulicht dies bewusst an einem basalen Beispiel jenseits ökonomischer Zusammenhänge und beschreibt die Kommunikation zwischen Individuen und die damit verbundenen Handlungsoptionen äußerst treffend als ein solches Gefangenendilemma. Einerseits können Akteure, isoliert betrachtet, einen Anreiz haben, nicht wahrhaftig zu sein, andererseits könnte Kommunikation ohne elementare Verhaltensregeln wie Wahrhaftigkeit nicht gelingen. Die Überwindung von Dilemmata durch die Schaffung von Regeln, seien sie formeller (etwa in Form von Gesetzen) oder informeller Natur (etwa in Form von moralischer Erziehung), ist in der Tat eine zivilisatorische Leistung, die erfolgreiches Handeln oder Wirtschaften überhaupt erst möglich macht. Es nimmt daher nicht wunder, dass ganze Forschungsstränge der modernen Ökonomik sich mit verwandten Fragestellungen auseinandersetzen - etwa die evolutionäre Ökonomik (vgl. etwa Nelson und Winter 2002) oder die neue Institutionenökonomik (vgl. hierzu einführend Williamson 2000). Nida-Rümelins Generalverdacht, die ökonomische Wissenschaft würde sich rein auf Eigeninteressen maximierende und allein kurzfristig optimierende Individuen konzentrieren, greift daher zu kurz. Auf der anderen Seite schaffen gerade Regeln, Institutionen und andere Sozialtechnologien, die oft genug Ergebnis rein rational eigennützigen Handelns sind, Anreize zu kooperativem Verhalten - ganz im Sinne der Hayekschen Theorien sozio-kultureller Evolution, spontaner Ordnung und Gruppenselektion (vgl. von Hayek 1973-79). Die Existenz und Befolgung von Regeln und Gesetzen in praktisch allen menschlichen Organisationsformen spricht für eine prinzipiell gegebene, wenn auch begrenzte intrinsische Kooperationsbereitschaft. Dessen ungeachtet ist Nida-Rümelins Skepsis gegenüber einem rein auf extrinsischen Anreizen und Kontrollen basierenden Lösungsansatz, der in eine staatliche Totalsteuerung menschlichen Verhaltens münden würde, wohl begründet: Intrinsisch motiviertes kooperatives Verhalten kann niemals vollständig durch extrinsisch motiviertes substituiert werden. Vielmehr müssen sich Werte, Tugenden, Moral auf der einen Seite mit Regeln, Sanktionen, Anreizen auf der anderen Seite komplementär ergänzen. Eine Moral ohne Gesetze wäre naiv, Gesetze ohne Moral inhuman. Die zweckdienliche Ordnung für eine Gesellschaft entsteht erst im Wechselspiel, auch wenn es in der Praxis ungemein schwer ist, die richtige Balance zu finden. Im Abschnitt „Kooperation und Konkurrenz" fasst Nida-Rümelin in bester Lehrbuchmanier das Kernargument effizienter Märkte sowie die gängigen Gründe für Marktversagen zusammen. Weniger stringent ist sein Versuch, ein prinzipielles Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Kooperation zu skizzieren. Sein Ruf nach einer „kulturell eingebetteten Konkurrenz" (S. 104 ff.) verhallt ob seiner vagen Formulierung. Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen Kon-

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kurrenz zu gesellschaftlich ineffizienten Ergebnissen führt, erläutert er nicht; dies bleibt den Ökonomen vorbehalten. II.

Eine tugendethische Perspektivierung der Ökonomik

Nach dieser kenntnisreichen und einsichtsvollen ökonomischen Grundlegung wendet sich Teil II („Ethik") der philosophisch-ethischen Betrachtung zu und sucht eine Tugendethik, wie sie in der Antike entwickelt wurde, unter modernen Bedingungen neu zu denken. Einer ersten Analyseebene eines bloß ökonomischen Effizienzdenkens und Optimierungskalküls, womöglich einer verkürzten Rationalitätskonzeption entsprungen, wäre eine zweite, ethische zur Seite zu stellen - gilt es doch Konfliktlinien zwischen beiden explizit zu machen, um nicht nur dem empirisch beobachtbaren, tatsächlichen Verhalten von Menschen gerecht zu werden, sondern auch Möglichkeiten und Grenzen einer aktualisierten Tugendethik zu erforschen (zur Renaissance tugendethischen Denkens vgl. die Debatte um Maclntyre 1981; in einem ökonomischen Zusammenhang vgl. insbesondere McCloskey 2006 und Sen 1987). Tugenden, so Nida-Rümelin, äußern sich im Verhalten der Person, in den Gründen, die ihr Handeln leiten. Als unverzichtbare Tugenden einer solchen Konzeption von „humaner Ökonomie" werden aufgezählt: Verlässlichkeit, Urteilskraft, Entscheidungsstärke, Besonnenheit, Autarkie und Empathie, Loyalität und Respekt, Gerechtigkeit und Charakter, die Kardinaltugenden, Achtsamkeit und persönliche Integrität. Diese ebenso willkürliche wie folgerichtige Aufzählung erläutert Nida-Rümelin anhand überzeugender Gedankenskizzen und anschaulicher Beispiele, etwa wenn er sich der „Urteilskraft" auf Kapitalmärkten zuwendet. Gerade hier zeigt sich eben nicht nur die viel beschworene Schwarmintelligenz, sondern auch die „Schwarmidiotie" mit ihren weit reichenden, nicht selten verheerenden Auswirkungen. Ob man in der Tatsache, dass die Mehrzahl der Ökonomen nicht vor der Fragilität des modernen Weltfinanzsystems gewarnt hat, eine solche Schwarmidiotie sehen will, darüber ließe sich trefflich streiten. Mit seinem Verweis auf die ungleiche Entwicklung von Weltsozialprodukt und Weltanlagevermögen im Vorfeld der Finanzkrise macht es sich Nida-Rümelin allzu leicht, Krisenanfalligkeit zu diagnostizieren. Schließlich lässt sich die relative Veränderung dieser beiden Größen auch auf gänzlich anders gelagerte Einflüsse - etwa den Eintritt Chinas in den Welthandel oder die Umstellung auf kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme in manchen westlichen Industrieländern zurückführen. Den Vorwurf, die Gefahr einer schweren Krise nicht rechtzeitig erkannt zu haben, müssen sich die Ökonomen dennoch gefallen lassen. Nida-Rümelin verdeutlicht sodann am Beispiel der Tugend der Besonnenheit, dass ökonomische Optimierung unvereinbar mit kurzsichtiger Wunscherfüllungspraxis ist. Hierzu bringt er eine neue Frontlinie in die Diskussion, die die althergebrachte Kontroverse zwischen streng neoklassischer (Erwartungs-)Nutzentheorie und experimentell-psychologisch untermauerten Ansätzen aus der Verhaltensökonomik ergänzt: Während in der neoklassischen Nutzentheorie Ökonomen traditionell einen Akteur mit vollständiger Rationalität modellieren (der etwa kurzfristiges und langfristiges Handeln optimal zur Deckung bringt), so sieht die Verhaltensökonomik den Menschen durch psychologische Faktoren beeinflusst (wenn etwa kurzfristige Konsumwünsche das langfristig erforderliche Sparen konterkarieren). Nida-Rümelin sieht den Menschen nun in einer dritten Spielart, die ökonomische Rationalität transzendierend, die psychologischen Aspekte überwindend, bar aller Friktionen, souverän agierend, wohlinformiert, wohlreflektiert, umsichtig und besonnen. Inwieweit ein solches Menschenbild der Realität standhält, ist allerdings fraglich. Nida-Rümelin thematisiert dies selbst mit Blick auf das Geschehen an den Finanzmärkten. Gerade hier würden infolge hohen Zeit- und Wettbewerbsdrucks Maßnahmen zunehmend automatisiert und damit der besonnenen Praxis entzogen. Angesichts der schwerwiegenden Folgen für einzelne Akteure und ganze Gesellschaften seien daher jegliche Überlegungen, die zu Entschleunigung und Einhegung der Finanzmärkte führten, willkommen.

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Nida-Rümelins Plädoyer für die Neuinterpretation der klassischen Tugendethik als Ergänzung zur modernen Entscheidungsethik nimmt alle genannten Tugenden in den Blick und gerät, auch wenn das Wechselspiel von Markt und Tugend nicht näher in einen systematischen Zusammenhang gebracht wird (vgl. hierzu Baurmann 1996 und Lütge 2007), insgesamt äußerst überzeugend. Manche Tugenden, etwa die der Gerechtigkeit, sind im utilitaristisch geprägten Denken vieler Ökonomen unterrepräsentiert. Nicht zuletzt deshalb bleibt es eine fortwährende Aufgabe, über die genaue Ausgestaltung der Curricula wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge nachzudenken und der jungen Generation neben der Fachkompetenz auch die Grundlagen ethischer Reflexion zu vermitteln. Teil III („Praktische Vernunft") sucht - nach ökonomischer und ethischer Grundlegung eine Synthese, um eine tragfähige Konzeption praktischer Vernunft im Sinne einer „humanen Ökonomie" vorzustellen. Entscheidend sind für Nida-Rümelin in diesem Zusammenhang die soziokulturelle Einbettung des Eigeninteresses, eine wohlverstandene und weiter als üblich gefasste Konzeption von Rationalität und ein Menschenbild jenseits bloßen Optimierens. In „Präferenzen und Entscheidungen" kritisiert er den rein objektivistischen Ansatz der revealedpreferences und zeigt das gespaltene Verhältais vieler Ökonomen zu normativen Fragestellungen auf. Einerseits werde versucht, ökonomische Theorie wertneutral zu gestalten, andererseits steckten häufig bereits in den getätigten Annahmen normative Elemente. Ganz ähnlich argumentiert er in „Gründe für Handlungen": Eine Wissenschaft, die keine normativen Aussagen treffen will, sich aber auch nicht nur auf die Beschreibung beobachtbaren Verhaltens beschränken will, wäre schließlich „allenfalls als Subdisziplin der Logik" (S. 221) zu beschreiben. Dies steht jedoch, wie er trefflich analysiert, in einem starken Kontrast zur Selbstsicht der Ökonomik. Dabei scheint die häufig getroffene Annahme der Eigennutzorientierung aus Nida-Rümelins Sicht nicht nur eine realitätsferne und damit unzulässige Vereinfachung. Diese könnte sich auf lange Frist sogar als gefährlich erweisen, wenn sie durch wiederholte Propagierung in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen wie im öffentlichen Diskurs zur selbsterfüllenden Prophezeiung würde. Dagegen vermögen die von Nida-Rümelin angeführten Beispiele einer ethischmoralischen Degeneration des wirtschaftlichen Handelns kaum zu überzeugen, wenn er etwa im Feld der (Politik-)Beratung eine zunehmend von Eigeninteressen geleitete und damit unredliche Tendenz auszumachen glaubt. Die Klage über den allgemeinen Werteverfall ist aber bekanntlich so alt wie die Kultur selbst. Freilich ist Nida-Rümelin mit derlei kulturpessimistischen Übertreibungen nicht alleine. Weit aufschlussreicher sind die Überlegungen, die „Begrenzung der Wünsche" betreffend. Zwar beschäftigt sich die Ökonomik gerade mit der Allokation von Ressourcen unter Knappheitsbedingungen und erscheint daher prädestiniert für die Untersuchung solcher Fragestellungen. Nida-Rümelin schlägt vor, die Knappheitsannahme durch ein „Satisfaktionsprinzip" (S. 245) zu ersetzen, das für jedes Gut eine individuelle Sättigungsgrenze annimmt, deren Überschreitung den Nutzen sinken lasse. Folgerichtig müsse eine solche Grenze auch für ein in einzelne Güter umwandelbares Tauschmittel, also für Geld, existieren. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass diese Grenze erst bei vollständiger Deckung des Bedarfs an allen erdenklichen Gütern erreicht wäre - und dies erscheint zumindest für den Großteil der Menschheit abwegig. Auch die Ergebnisse des happiness research sind schwerlich als Beleg für eine Satisfaktionsgrenze des Geldes zu werten (vgl. Frey und Stutzer 2002). Gezeigt wird lediglich, dass der relative Wohlstand für die Zufriedenheit der Menschen wichtiger ist als der absolute. Daraus ist bestenfalls zu folgern, dass unser Streben nach Wohlstand einer Art „Rattenrennen" (Rat Race) gleicht, nicht jedoch, dass mehr Geld einzelne Personen zu einem Zeitpunkt nicht auch glücklicher machen würde. Zuletzt führt Nida-Rümelin die international stark differierenden Sparquoten als Indikator für die „konsumistische Verkindlichung" (S. 247 ff.) von Gesellschaften an. Hier wären aus ökonomischer Sicht allerdings einige Punkte zu ergänzen: Nicht nur ist die internationale Vergleichbarkeit der vorliegenden Daten zur privaten Sparquote angesichts unterschiedlicher Sozialversicherungssysteme und Erhebungsmethoden zumindest fraglich, die unterschiedlichen

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Sparquoten hängen zudem eng mit der demographischen Situation der jeweiligen Gesellschaft zusammen und sind daher nicht automatisch Beleg für deren Gegenwartsorientierung. Daher plädieren Ökonomen (entgegen Nida-Rümelins Behauptung) nicht zuletzt aus Gründen der dynamischen Effizienz meist für staatliche Maßnahmen, die die private Sparquote erhöhen sollen. Im Falle einer Sättigungsgrenze wäre es zudem zweckdienlich, nicht mehr zu sparen, sondern weniger zu produzieren respektive zu arbeiten. Die Ersparnis bleibt lediglich eine Möglichkeit, sich zwischen heutigem und morgigem Konsum zu entscheiden. „Freiheit und Gleichheit" bilden das moralische Fundament einer humanen Gesellschaft. Nida-Rümelin sieht das Gleichgewicht zwischen den beiden Grundwerten durch die Überbetonung marktwirtschaftlicher Freiheiten gefährdet. Insbesondere die Möglichkeit, große Vermögen zu vererben, birgt aus seiner Sicht die Gefahr der Entstehung neuer feudalistischer Strukturen. Sein Fazit, dass ökonomische Optimierung stets durch die Grenzen der praktischen Vernunft und den Respekt vor der Autonomie des anderen zu beschränken sei, bleibt unstrittig. Inwieweit und unter welchen Umständen allerdings Zielkonflikte oder Kongruenzen zwischen „Gerechtigkeit und Effizienz" herrschen, ist eine der Kernfragen ökonomischer Forschung. Nida-Rümelins an dieser Stelle vereinfachte Argumentation verneint am Ende jeglichen Zielkonflikt, da jedes vernünftige Gerechtigkeitskriterium auch das Pareto-Kriterium erfüllen würde. In der Realität ist der Versuch, gerechtere Wohlstandsverteilungen zu erzielen, jedoch häufig mit Ineffizienzen verbunden und das Pareto-Kriterium nur eine Minimalanforderung bei der Beurteilung von Allokationen nach Effizienzkriterien. Begründet darin, dass Gerechtigkeit bzw. eine gerechte Güterverteilung nicht etwa per se ineffizient wäre, sondern dass die zur Umverteilung zur Verfügung stehenden Mittel, etwa Steuern oder Subventionen, Ineffizienzen bedingen. Auch im Kapitel „Nachhaltigkeit und Ökologie" kritisiert Nida-Rümelin die mangelnde Nachhaltigkeit marktbasierter Ökonomien und komplettiert somit die Spielarten von Marktversagen. Allerdings verdichtet sich auch mit Blick auf das Nachhaltigkeitsproblem der Eindruck, dass die Vision einer von tugendhaften Menschen bewohnten „humanen Ökonomie" eher eine Utopie als einen konkreten Lösungsvorschlag darstellen könnte. Demgegenüber folgt das Kapitel „Die Rolle des Staates" ganz der orthodoxen Ökonomik und leistet die ökonomische Rechtfertigung staatlicher Aktivität. Dabei wird die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens nicht nur mit der Bereitstellung öffentlicher Güter begründet, etwa bei der Regulierung umweltökonomischer Fragestellungen, sondern auch mit der Korrektur der Verteilungsblindheit des Marktes. Überraschenderweise werden staatliche Sozial- und Sicherungssysteme an dieser Stelle beinahe ausschließlich mit deren effizienzsteigernden Auswirkungen begründet; Nida-Rümelin scheint also orthodoxen ökonomischen Argumenten nicht gänzliche Relevanz abzusprechen. Wohlgesonnene Leser mögen daraus schließen, dass er zwischen stichhaltigen und weniger zielführenden volkswirtschaftlichen Argumenten unterscheidet. Kritische Leser werden argwöhnen, dass ökonomische Effizienzargumente womöglich nur dann anerkannt werden, wenn diese der erwünschten normativen Argumentationsrichtung nicht entgegenstehen. Nida-Rümelin hätte hier, zumal ihm ausgerechnet Singapur als Musterbeispiel an moderner Sozialstaatlichkeit dient, im Sinne der propagierten Überwindung reinen Effizienzdenkens gut daran getan, mögliche distributive und normative Gründe für staatliche Sicherungssysteme zumindest mit anzuführen. In einem letzten Argumentationsschritt weist Nida-Rümelin der Zivilgesellschaft eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle bei der Überwindung der zutage tretenden Probleme und Kooperationsdilemmata zu. Dazu führt er eine Dreiteilung in staatliche, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Praxis ein: Handlungen sind demzufolge entweder erstens durch staatsbürgerliche Pflichterfüllung, zweitens durch ökonomische Eigeninteressen oder drittens durch den Willen zu Kooperation und sozialem Zusammenleben motiviert. Innerhalb des zweiten Paradigmas bleibt es mithin legitim - so könnte der Schluss gezogen werden - , ökonomische Analyse unter Beibehaltung der Annahme ausschließlicher Eigennutzorientierung auch weiterhin zu betreiben, sofern diese allerdings kulturell und sozial reflektiert und eingebettet wurde.

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Werte und Tugenden im ordoliberalen Denken

Auch wenn das Nachdenken über das Wechselspiel von Markt und Ethik eine lange Tradition hat, erfährt es in Krisenzeiten doch besondere Konjunktur. Es ist ein Verdienst von NidaRümelins Buch, individuellen Verfehlungen und kulturpessimistischen Klagen über den Werteverfall verschiedene Facetten einer System- und Wissenschaftsanalyse zur Seite zu stellen, um in einem größeren Kontext etwaige Verkürzungen des modernen ökonomischen Denkens aufzuzeigen und dieses mit der Fülle antiken ethischen Denkens anzureichern. Sein Konzept einer „humanen Ökonomie" verfolgt das Ziel, eine ganzheitlichere, dem Menschen gemäßere Rationalitätskonzeption zu entwerfen und damit die Grundpfeiler einer zweckdienlichen wirtschaftlichen Praxis zu konstruieren. Angesichts der immensen Verwerfungen durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise und der kaum zu bewältigenden Herausforderungen, denen sich unsere Gesellschaften aufgrund demographischer Probleme, Migration, Ernährung, Armut oder Klimawandel gegenübersehen, erscheint die Notwendigkeit einer solchen Reflexion wirtschaftlichen Handelns dringlicher denn je. Nida-Rümelins Buch leistet genau dies in mustergültiger Weise. In der Analyse jedoch hätte es sogar noch weiter gewinnen können, wenn es den zugrunde liegenden Subtext deutlicher als geschehen offengelegt hätte. Weisen doch Argumentation, Kontext und Zielrichtung teils überraschende Parallelen zu den klassischen ordoliberalen Schriften auf, insbesondere derjenigen von Wilhelm Röpke (1899-1966) und Alfred MüllerArmack(\9Q\-\91%). Besonders offenkundig wird dies, wenn Nida-Rümelin Böckenfördes (1976) berühmtes Diktum anführt, wonach der „freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann" (S. 77), und dies auf Ökonomie und Markt überträgt, ohne darauf hinzuweisen, dass Böckenförde seinerseits bereits den Ökonomen Röpke (1958) abwandelte. In Jenseits von Angebot und Nachfrage formuliert dieser die Einsicht, dass auch die marktwirtschaftliche Ordnung auf Voraussetzungen beruhe, die sie selbst nicht erzeugen könne: „In Wahrheit kann die Marktwirtschaft - und mit ihr die gesellschaftliche und politische Freiheit nur als Stück einer bürgerlichen Gesamtordnung und in ihrem Schutze gedeihen. Das soll heißen, daß sie eine Gesellschaft voraussetzt, in der bestimmte grundlegende Dinge respektiert werden und dem ganzen Gewebe der gesellschaftlichen Beziehungen Farbe geben: individuelle Anstrengung und Verantwortung, unantastbare Normen und Werte, [...], der Sinn für die natürliche Ordnung der Dinge und eine unerschütterliche Rangordnung der Werte." All dies würde jedoch nicht vom Markt selbst geschaffen, sondern müsse bereits vorliegen, damit dieser überhaupt funktionieren könne. Je zweckrationaler dieser allerdings organisiert und praktiziert sei, desto mehr würden seine moralischen Grundlagen, das heißt die Werte und die Tugenden, auf denen der Markt letztlich basiert, angegriffen. In Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart beschreibt Röpke bereits 1942 den Markt gar als „Moralzehrer", der unsere moralisch-sittlichen Reserven und die Substanz traditioneller Bindungskräfte verbraucht. Wer also rein eigennutzorientiert seinen persönlichen Vorteil sucht, wird letzten Endes die Gemeinschaft und damit auch die Voraussetzung seines wirtschaftlichen Erfolgs zerstören. In Jenseits von Angebot und Nachfrage spitzt er diesen Gedanken noch weiter zu: „Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen - das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen." Markt und Wettbewerb wären - so immer noch Röpke - „weit davon entfernt, die ihnen notwendigen moralischen Voraussetzungen autonom zu erzeugen. Das ist der Irrtum des liberalen Immanentismus." Gefahren des geistig-moralischen Verfalls, der Erosion von Religion oder von gewachsenen Bindungen standen bereits damals deutlich vor Augen, insbesondere die fehlende sittliche Integrität, fortschreitende Anonymisierung und Ökonomisierung sollten durch ein im Staat verankertes „Sozial- und Humanitätsprinzips" aufgefangen werden. Es überrascht nicht, dass dabei die Wichtigkeit klassischer Tugenden wie Fürsorge, Gerechtigkeitssinn, Auf-

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richtigkeit und Anstand betont und das Finden des rechten Maßes als gesellschaftliche Aufgabe formuliert wurde. Auch Müller-Armack mahnt in Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik (1952/1966) die notwendige Verschränkung von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik an: „Die Wettbewerbsordnung muß im Gesamtrahmen der Gesellschaft gesehen werden. So wie sie einerseits gegen das Auftreten wirtschaftlicher Macht zu sichern ist, müssen wir auf der anderen Seite bedenken, daß die Gegensätzlichkeit der Interessen, die die Wettbewerbswirtschaft vorfindet und in einen sozialnützlichen Gesamtrahmen einspannt, eine Grenze ihrer Wirksamkeit bedeutet. Sie vermag nicht, die Gesellschaft als Ganzes zu integrieren, gemeinsame Haltungen und Gesinnungen, gemeinsame Wertnormen zu setzen, ohne die eine Gesellschaft nicht zu existieren vermag. Sie zehrt an der Substanz geschichtlicher Bindungskräfte und stellt den einzelnen in eine oft schmerzvoll empfundene Isolierung, wie es im Übrigen auch der Kollektivismus tut. Sie bedarf daher der Ergänzung durch eine Gesellschaftspolitik, die den Menschen nicht nur funktionell als Produzenten und Konsumenten, sondern auch in seiner persönlichen Existenz sieht. Nur wenn es innerhalb einer freien Ordnung gelingt, den einzelnen auch als Menschen einzugliedern, dürfte es möglich sein, das tiefe Mißtrauen, das viele Menschen heute gegenüber freien Ordnungen beseelt, zu überwinden". Es waren die Ordoliberalen, die sich damals selbst als Neoliberale bezeichneten und heute zumeist unter dem Begriff der Ordnungsökonomik oder der „Freiburger Schule" bekannt sind, die aufbauend auf ökonomischer Analyse, historischem Bewusstsein und ethischer Einbettung ein Konzept für eine „Verfassung des Wettbewerbs" entwickelten, das im Nachkriegsdeutschland als „Soziale Marktwirtschaft" schließlich zum politischen Auftrag wurde. Ein Begriff, der eben nicht nur eine bloße Marktordnung bezeichnen wollte, sondern ebenso - und dies gerät mitunter zu leicht in Vergessenheit - ein sittliches Menschenbild und eine gesellschaftliche Utopie transportierte. Aufbauend aufwerten wie Fairness, Rücksicht, Fürsorge, Ehrlichkeit und Anstand bleibt es eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, individuelle Handlungslogik der Märkte mit einem „Sozial- und Humanitätsprinzip" zu begrenzen, das die moderne Gesellschaft entstehen lässt und erst ihre Fortdauer sichert (zur Verbindung marktwirtschaftlicher Ordnungs- und sozialer Ausgleichsprinzipien in den unterschiedlichen ordnungspolitischen Strömungen vgl. ausfuhrlich Föste 2006). Gerade in einem ökonomischen Kontext ist an die bleibende Einsicht Kants zu erinnern, dass Ethik eben nicht allein auf das rationale Eigeninteresse zurückgeführt werden kann. Freilich muss die Herausbildung eines Normensystems, welches ökonomischen und ethischen Erfordernissen zugleich Rechnung trägt und das auch die drängenden Fragen nach Realisierung und Umsetzbarkeit zu beantworten sucht, immer auch auf Leistungen der praktischen Vernunft basieren. Eine Vielzahl weiterer Belegstellen könnten ergänzend untermauern, auf welch ähnliche Art und Weise Nida-Rümelin und die Freiburger Schule über Ökonomie und Ethik, über Eigennutz und Tugend nachdenken und für wie essentiell beide die notwendige Verknüpfung von ökonomischem und ethischem Sachverstand erachten: Denn wollten wir im Sinne einer „humanen Ökonomie" die (heute global) wirkenden Marktkräfte einhegen - so wieder Röpke - , setzt das „indessen eine entschiedene Besinnung auf die ethischen Grundfragen unseres eigenen Wirtschaftssystems voraus. Nichts ist hierfür notwendiger als die Verbindung von höchster Empfindlichkeit für das Moralische mit nationalökonomischer Sachkunde. Nationalökonomisch dilettantischer Moralismus ist ebenso abschreckend wie moralisch abgestumpfter Ökonomismus. Ethik und Nationalökonomie sind gleich schwierige Materien, und kann die erste nicht der unterscheidenden und sachgerechten Vernunft entraten, so die andere nicht der menschlich wärmenden Werte". Nida-Rümelin gebührt das nicht gering zu schätzende Verdienst, Ökonomik und Ethik auf der Höhe ihres aktuellen Erkenntnisstandes wieder zueinander in Beziehung zu setzen, die Diskurse der Fachdisziplinen gewissermaßen aufzuschließen und insofern klassische ordoliberale Gedanken aktualisiert zu haben. Angesichts der drängenden Probleme unserer Zeit wäre es ge-

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radezu ein Segen, könnte die Idee der Ordnungsökonomik, entwickelt von Freiburger Ökonomen, nunmehr unter modernen und heute globalen Bedingungen reüssieren. Ein flammenderes Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft hätte Nida-Rümelin nicht schreiben können.

Literatur Baurmann, Michael (1996), Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Oesellschaft. Eine soziologische Untersuchung, Tübingen. Böckenförde, Emst-Wolfgang (1976), Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main. Föste, Wilga (2006), Grundwerte in der Ordnungskonzeption der Sozialen Marktwirtschaft, Marburg. Frey, Bruno S. und Alois Stutzer (2002), Happiness and Economics. How the Economy and Institutions affect Weil-Being, Princeton. Hayek, Friedrich A. von (1973-79), Law, Legislation and Liberty. A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy, Vol. I-III, London. Homann, Karl (2002), Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft, hg. von Christoph Lütge, Tübingen. Lütge, Christoph (2007), Was hält eine Gesellschaft zusammen? Ethik im Zeitalter der Globalisierung, Tübingen. Maclntyre, Alasdair (1981), After Virtue. A Study in Moral Theory, London. McCloskey, Deirdre N. (2006), The Bourgeois Virtues. Ethics for an Age of Commerce, Chicago. Müller-Armack, Alfred (1952/1966), Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Alfred MüllerArmack (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik: Studien und Konzepte zur sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg, S. 231-249. Nelson, Richard R. und Sidney G. Winter (2002), Evolutionary Theorizing in Economics, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 16, No. 2, S. 23-46. Röpke, Wilhelm (1942), Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach/Zürich. Röpke, Wilhelm (1958/2009), Jenseits von Angebot und Nachfrage, Düsseldorf. Sen, Amartya (1987), On Ethics and Economics, Oxford und New York. Williamson, Oliver E. (2000), The New Institutional Economics: Taking Stock, Looking Ahead, in: Journal of Economic Literature, Vol. 38, No. 3, S. 595-613.

Roland

Kirstein

Der Anstieg der Management-Vergütung: Markt oder Macht? Anmerkungen zum gleichnamigen von Margit Osterloh und Katja Rost herausgegebenen Band* Während an den Stammtischen gerne über angeblich überhöhte Politikergehälter geschimpft wird, haben manche Politiker die Vergütung von Managern als Ziel staatlicher Regulierungsbemühungen ausgemacht. In Deutschland fordern insbesondere SPD, Grüne sowie die Linke direkte Begrenzungen von Managergehältern, oder setzen sich für indirekte ein, etwa über Einschränkungen der steuerlichen Abzugsfähigkeit oder durch ein Verbot von Aktienoptionsplänen. Selten werden allerdings stichhaltige Gründe für einen staatlichen Regulierungsbedarf explizit genannt. Gelegentlich wird ein Zusammenhang zwischen gewinnbasierter Managerentlohnung und der Finanzkrise 2008 postuliert - wenn dieser Hinweis korrekt wäre, würde er

Margit Osterloh und Katja Rost (Hg.), Der Anstieg der Managementvergütung: Markt oder Macht?, Sonderband Die Unternehmung 1/2011, Verlag Nomos, Baden-Baden 2011, 184 Seiten.

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allerdings eher die Struktur der Managerkompensation, nicht aber ihre Höhe adressieren. In der politischen Diskussion riskiert als „Büttel der Managerkaste" beschimpft zu werden, wer es wagt, nicht einer Eindämmung der hemmungslosen „Abzocke" oder „Gier" das Wort zu reden. Die Wirtschaftswissenschaft bemüht sich in dieser Frage zum Glück um einen sachlicheren Zungenschlag. Allerdings dürfte der spektakuläre Erfolg der Publikationen von Lucian Bebchuk und Jesse Fried seit 2002 die Disputierfreudigkeit eher befeuert und einer sachlich-kühlen Auseinandersetzung nicht ausschließlich förderlich gewesen sein. Die existierende wissenschaftliche Literatur kann grob in zwei Hauptströme unterteilt werden: zum einen die Idee „optimaler Verträge", zum anderen die Hypothese von Bebchuk und Fried, wonach exzessive Vergütung auf Corporate Governance, Macht der Manager und die dadurch mögliche Abschottung von Marktkräften („Entrenchment") zurückzufuhren sei. Natürlich kommen diese beiden Literaturrichtungen zu diametral entgegengesetzten Einschätzungen, es herrscht also massiver Forschungsbedarf. Diesen versucht das vorliegende Buch zu befriedigen, das im Jahre 2011 von Margit Osterloh (Universität Zürich) und Katja Rost (Universität Jena) als Sonderband des „Swiss Journal of Business Research and Practice - Die Unternehmung" herausgegeben wurde. Die insgesamt elf Beiträge sind teils in Deutsch, teils in Englisch verfasst worden. Auf die Einleitung der beiden Herausgeberinnen folgen drei Beitragsgruppen: •

der„Optimal Contract View" mit drei Artikeln;



der „Managerial Power View" mit vier Artikeln;



„Contrasting Both Views" mit zwei Artikeln.

Der Band wird beschlossen durch einen weiteren Beitrag zum Thema „Regulations of Salaries". Jeder Beitrag wird von kurzen Zusammenfassungen in Deutsch sowie in Englisch begleitet. Die Einleitung von Osterloh und Rost stellt zunächst (und recht knapp auf lediglich 5 Seiten) in Englisch den Stand der Literatur zu den beiden Sichtweisen auf die Entwicklung der Managemententlohnung dar und bietet kurze Zusammenfassungen der folgenden Beiträge. Den „Optimal Contract View" betrachten Karl Hofstetter („A Theory of Justice for Management Compensation"), Hans-Ulrich Doerig und HaraldP. Stoehr („What Drives Compensation in Banking?") sowie Robert F. Göx („Die Höhe der Management-Entlohnung in grossen Schweizer Publikumsgesellschaften") in ihren Beiträgen. Hofstetter, Verwaltungsratsmitglied der Schindler Holding AG und Titularprofessor für Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich, diskutiert verschiedene Gerechtigkeitskonzepte. Er geht von der Überlegung aus, dass Allokationen über Märkte allgemeine Akzeptanz genießen, aber nur dann legitimiert seien, wenn der Wettbewerb in diesen Märkten funktioniere. Eine durchaus ähnliche Idee findet sich in der ökonomischen Literatur über das „Arms Length Principle" bei Transferpreisen: Da internationale Konzerne durch Transferpreise Gewinne über Landesgrenzen verschieben und Steuern mindern können, werden solche Transferpreise als „gerecht" empfunden, die Marktpreisen entsprechen. Beide Ansätze übersehen jedoch, dass Organisationen normalerweise nicht etwa deswegen gegründet werden, weil sie schlechter funktionieren als der Markt. Sie sind vielmehr bisweilen die effiziente Alternative zu versagenden Märkten, etwa zur Internalisierung von Externalitäten oder zur Nutzung von steigenden Skalenerträgen. Ist die Marktlösung jedoch ineffizient, dann stellt der hypothetische Marktpreis keine gute Benchmark für organisationsinterne Aufteilungsschemata dar - und hätte insofern auch wenig Relevanz als Gerechtigkeitsmaßstab. Zudem erfordert der Schutz von spezifischen Investitionen innerhalb von Organisationen eine Aufteilung der entstehenden Quasirente; der hierfür nötige organisationsinterne Preis kann dann sehr wohl von einem sich spontan bildenden Marktpreis abweichen. Auch hier stellt sich die Frage, warum sich die internen Verhältnisse einer effizienzfordernden Organisation an versagenden Märkten orientieren sollten. Schließlich ist auch die Anfangshypothese, Marktallokation sei allgemein akzeptiert, empirisch nicht überzeugend: In vielen Ländern Europas misstrauen breite Bevölkerungsschichten „den Märkten" und halten z.B. die Schaffung von Arbeitsplätzen für eine Aufgabe der Politik (welche diese Einstellung gerne zu bedienen bereit ist).

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Doerig und Stoehr widmen sich aus der Sicht von Bankenpraktikern der Frage, wie die Vergütung von Finanzfachleuten in Banken zustande kommt. Dieser Aspekt der ManagementEntlohnung ist nicht nur für Schweizer Verhältnisse von Bedeutung, wird doch in der Entlohnung vorgeblich „gieriger" Bankmitarbeiter auch in Deutschland immer wieder ein Grund für die Finanzkrise 2008 vermutet. Der Beitrag hätte vielleicht besser in den Abschnitt „Contrasting Both Views" gepasst, da die Autoren klären wollen, ob die Vergütungspraxis in europäischen Banken funktionierende Arbeitsmärkte für Finanzfachleute widerspiegelt oder Ausdruck unzureichender Kontrolle der Geschäftsleitung ist. Allerdings kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Marktkräfte (befeuert durch Globalisierung und Deregulierung) die Gehaltsentwicklungen der letzten 25 Jahre erklären können. Göx (Universität Freiburg/Schweiz) untersucht ob Manager großer Publikumsgesellschaften in der Schweiz Vergütungen erhalten, die im Verhältnis zum erzeugten Mehrwert überzogen erscheinen. Hierbei zeigt sich, dass schon die Bestimmung der relativen Kosten des Managements nicht einfach ist. Als Indikator zieht Göx das Verhältnis zwischen Gesamtvergütung von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung zum Bilanzgewinn bzw. zur Marktkapitalisierung des Unternehmens heran. Empirisch ergibt sich, dass die Gesamtvergütungen der untersuchten Gesellschaften sich stark unterscheiden. Göx weist auf drohende Überregulierung hin und entwickelt Vorschläge für maßvolle Reformen Im Hinblick auf beide von Göx verwendeten Indikatoren ist jedoch keinesfalls klar, welche Werte als angemessen und welche als überzogen zu gelten haben. Der Schwellenwert müsste und könnte in beiden Fällen völlig willkürlich festgelegt werden. Zudem findet bei dem ersten Indikator eine Art von Doppelzählung statt, da die Managergehälter als Kosten bereits in die Berechnung des Bilanzgewinns eingehen. Weil die Managergehälter im Zähler und im Nenner des Quotienten „Managervergütung durch Bilanzgewinn" auftauchen, ist dessen Ableitung nach den Managergehältern nicht eindeutig; das Vorzeichen dieser Ableitung hängt vielmehr davon ab, ob die Erlöse größer oder kleiner sind als die sonstigen Kosten (ohne Managervergütung). Der Quotient wirft also Probleme auf. Der durch einen Manager (oder das gesamte Management) geschaffene Mehrwert ist ohnehin nicht trivial zu ermitteln, da der dispositive Faktor die Eigenschaft hat, Komplement zu den anderen Produktionsfaktoren zu sein. Welchen Gewinn wird ein Großunternehmen noch realisieren, bliebe das Management eine Abrechnungsperiode lang der Arbeit fern? Der „Managerial Power View" wird von Stephan Hostettler („Über die Konstruktion von Salären"), Thomas Minder („Es ist höchste Zeit, die Kompetenzen neu zu regeln") sowie Lukas Hengartner und Winfried Ruigrok („Pay for Power?") analysiert. Eine methodische Kritik dieses Ansatzes nehmen Stefan Winter und Philip Michels („Vorstandsvergütung und Macht") vor. Der Vergütungsberater Hostettler ist auch Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. In seinem Beitrag beschreibt er die an der Gehaltsfestlegung beteiligten Akteure und fordert stärkere Beteiligungsmöglichkeiten für (Aufsichts- bzw.) Verwaltungsräte. Aktionäre könnten mit der Forderung nach mehr Transparenz Einfluss geltend machen. Der Unternehmer Minder stellt in seinem kurzen Beitrag die in der Schweiz erfolgreich agierende Volksinitiative „gegen die Abzockerei" vor. Der Titel von Hengartner und Ruigrok, „Pay for Power", führt Ökonomen etwas in die Irre, weil es dem Beitrag gar nicht darum geht, etwa die Zahlungsbereitschaft für Macht zu ermitteln. Der Artikel will vielmehr klären, inwieweit Macht als Erklärungsfaktor für die Bezahlung von Top-Managern angesehen werden kann, und untersucht hierbei insbesondere die Machtverteilung zwischen CEO, (Aufsichts- bzw.) Verwaltungsrat und Aktionären. Macht wird über mehrere empirisch messbare Größen operationalisiert. Die Autoren leiten ihre Hypothesen nicht aus theoriegestützten rigorosen Modellen ab, sondern argumentieren verbal, dass Aktionärskonzentration und unabhängige Aufsichtsratsmitglieder dämpfend auf die Managemententlohnung wirken; erhöhend wirken dagegen die in den USA oft anzutreffende Doppelrolle des CEO in Management und Aufsichtsrat („CEO duality"), die Existenz eines vom CEO kontrollierten Vergütungsausschusses und schließlich die Berühmtheit („celebrity status") des CEO. Die em-

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pirischen Ergebnisse basieren auf 199 Firmen, die 2002 und 2003 an der Schweizer Börse SWX gehandelt wurden. Die Schätzparameter der genannten Faktoren sind zum 1-Prozent-Niveau signifikant und haben jeweils das theoretisch vorhergesagte Vorzeichen. Das umfangreiche Schätzmodell (mit zahlreichen Kontrollvariablen) erklärt 71 Prozent der Varianz der Stichprobenwerte. Allerdings sind auch die logarithmierten Erlöse, die Dummyvariable „CEO" sowie Industrie-Dummyvariablen zum gleichen Niveau signifikant. Daher fällt es schwer, sich dem so eindeutig formulierten Fazit der Autoren anzuschließen, wonach die Macht des CEO bei seiner Vergütung eine wichtige Rolle spiele. Irgendeine Rolle spielen ja nahezu alle der zahlreichen untersuchten Einflussfaktoren. Die Operationalisierung von CEO-Macht erfolgt in dem Beitrag allerdings eher intuitiv und ohne Rekurs auf z.B. die mathematische Theorie der Machtindizes. Wer sich mit solchen Machtindizes beschäftigt, der sieht schnell, dass Macht und (relative) Stimmenzahl nicht dasselbe sind. Für ihre Abstimmungsmacht ist es ein gewaltiger Unterschied, ob zwei Aktionäre 49 zu 51 Stimmen haben oder 50 zu 50, obwohl sich das Konzentrationsmaß von einem Szenario zum anderen kaum ändert. Im ersten Fall ist der eine Aktionär machtlos (soweit es um Mehrheitsentscheidungen geht), im zweiten aber genauso mächtig wie der andere. Mit drei Aktionären lassen sich noch deutlichere Beispiele konstruieren: Drei Aktionäre mit 50,49 und 1 Prozent der Aktien sind gleich mächtig, genauso wie mit jeweils 1/3 der Stimmen. Ob die Unternehmensanteile hochkonzentriert oder breit verteilt sind, sagt also nicht unbedingt etwas über die Machtverhältnisse im Unternehmen aus. Ohne Betrachtung der Struktur der anderen Anteilseigner lässt sich dagegen überhaupt nicht sagen, ob 20 Prozent der Stimmen nun eine überaus mächtige, gerade gleichmächtige oder sogar völlig machtlose Position einräumen. Nimmt man die Interaktion zwischen den Organen der AG hinzu, werden die Dinge noch komplizierter: Die durch die Unternehmensverfassung eingeräumten Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Organe müssten durch eine nicht-kooperative Spielform abgebildet werden, um einen „strategischen Machtindex" zu bestimmen. Im letzten Schritt müsste auch noch die Interaktion von Anteilsstruktur und Zusammenspiel der Organe thematisiert werden, um schließlich zu einer aussagekräftigen Operationalisierung des Konzepts der untemehmensinternen Macht zu gelangen. Winter und Michels (Universität Bochum) versuchen in ihrem Beitrag, eine methodische Schwäche der empirischen Forschung zur „Entrenchment"-Hypothese aufzudecken. Wenn Managermacht, so die Autoren, ganz im Sinne der klassischen Definition von Weber als Chance definiert werde, Gehaltsvorstellungen auch gegen den Widerstand des Aufsichtsrats oder der Aktionärsversammlung durchzusetzen (gleich, worauf diese Macht beruht), dann sei die „Entrenchment"-Hypothese zirkelschlüssig. Die Aussage „Manager A hat mehr Macht" (als vorher oder als Manager B) ist dann äquivalent zur Aussage „Manager A hat mehr Gehalt". Macht kann dann aus Gründen der Logik nicht mehr als Erklärung für mehr Gehalt herangezogen werden; empirische Forschung zu diesem Definitionsversuch von Macht wäre zweckfrei. Die „Entrechment"-Hypothese wäre dann überhaupt nicht empirisch testbar. Auf der Basis dieser grundlegenden Kritik ziehen die Autoren das Fazit, die „zentrale These des Managerial-PowerAnsatzes" sei „nicht haltbar" und es gebe „keinerlei empirische Evidenz" eines „positiven Zusammenhangs zwischen Macht und Vergütung, da beide Variablen bereits über eine Definitionsgleichung verknüpft sind." Dieser Schluss erscheint jedoch keineswegs so zwingend, wie es die Autoren durch diese Formulierungen nahelegen. Es ist verdienstvoll, den Finger in die methodische Wunde einer gedankenlosen (und vermutlich sogar häufigen) Benutzung einer Definition von „Macht" zu legen, die zu Nichttestbarkeit der Hypothese fuhrt. Aus der gelegentlichen Beobachtung dieser klaffenden Wunde kann jedoch nicht geschlossen werden, dass eine Operationalisierung von Macht, die zu einer testbaren Hypothese führt, unmöglich sei. Das wäre eine voreilige Induktion: Aus der Existenz einiger schwarzer Schwäne kann ja nicht gefolgert werden, dass es gar keine weißen Schwäne gibt.

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Um eine empirisch testbare Hypothese zu formulieren, in der Managermacht die Höhe der Managergehälter erklärt, wäre es erforderlich, das Phänomen „Macht" völlig unabhängig vom zu erklärenden Phänomen „Vergütung" zu operationalisieren. In der Tat taugt Webers Definition hier wenig, selbst wenn man sie zu verallgemeinern versuchte: Ist ein Manager nämlich in der Lage, „etwas" auch gegen Widerstand durchzusetzen, dann kann er auch seine Gehaltsvorstellungen durchsetzen, und der von Winter und Michels beschriebene Zirkel schließt sich wieder. Die Macht einer unternehmensinternen Gruppe könnte aber stattdessen an Strukturmerkmalen der Unternehmensverfassung festgemacht werden. So einen Versuch haben Hengartner und Ruigrok in ihrem oben diskutierten Beitrag unternommen. Ihr Beitrag nimmt gewissermaßen eine Antwort auf die Kritik von Winter und Michels vorweg. Freilich ließe sich gegen den Ansatz von Hengartner und Ruigrok noch einwenden, dass die vorgenommene Auswahl von Faktoren noch nicht das letzte Wort darstellen dürfte. Im Abschnitt „Contrasting Both Views" finden sich Beiträge von Enrico Prinz und Joachim Schwalbach („Zum Stand der Managervergütung in Deutschland") sowie von Patrick Kampkötter und Dirk Sliwka („Die Wirkung der Finanzkrise auf Bonuszahlungen in deutschen Banken"). Prinz (Universität Strasbourg) und Schwalbach (Humboldt Universität) fokussieren dabei auf das Topmanagement der in Dax 30, MDax 50 und DJ Stoxx 50 gelisteten Unternehmen. Sie beobachten in ihren Daten (aus den Jahren 2005 bis 2009) keinen engen Bezug zur Perfomance der jeweiligen Unternehmen. Kampkötter und Sliwka (Universität Köln) leisten Pionierarbeit, indem sie die Entlohnung des mittleren Managements betrachten. Ihr Datensatz umfasst Beschäftigte des deutschen Banken- und Finanzdienstleistungssektors in den Jahren 2004 bis 2009. Sie finden einen starken Zusammenhang zwischen Bonuszahlungen und Eigenkapitalrendite. Beide Artikel liefern einen beachtlichen Erkenntniswert, der nicht durch die wenig überzeugende Einordnung des zweiten Artikels in den Abschnitt „Contrasting" geschmälert wird. Denn er leistet eigentlich gar keinen Beitrag zum „Contrasting" von Markthypothese vs. „Managerial Power", weil niemand behauptet, dass die Entlohnung des mittleren Managements durch dessen unternehmensinterne Macht bzw. die dadurch mögliche Abschottung von Marktkräften zu erklären sei. Der den Band abschließende Beitrag von Helmut Dietl, Tobias Duschl und Markus Lang (Universität Zürich) beschreibt die - v.a. US-amerikanischen - Erfahrungen mit der Regulierung der Gehälter von Spitzensportlern. Um das „Wettrüsten" zwischen den Teams zu begrenzen, haben Verbände und Spielergewerkschaften immer wieder Gehaltsobergrenzen sowie „Luxussteuern" (auf hohe Gehälter) angewandt. Die Autoren schätzen diese Maßnahmen als erfolgreich ein, ziehen aber nicht explizit den sich aufdrängenden Schluss: ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht nicht, wenn und solange die „Tarifpartner" sich dezentral auf Gehaltsgrenzen einigen. Würde die von den Autoren nahegelegte Analogie zwischen Sportler- und Managervergütung greifen, dann wäre also nicht der Gesetzgeber gefordert, Managergehälter zentral zu regeln. Allerdings hat die „Entrenchment"-Literatur ja genau hier das Problem ausgemacht, dass Manager durch ihre Macht im Unternehmen ungebührlichen Einfluss auf dezentrale Regelungen mit Eigentümern bzw. Aufsichtsräten nehmen können. „Entrenchment" durch organisationsinterne Macht der Spitzensportler dürfte jedoch kein realweltliches Phänomen sein, so dass der Beitrag insofern an dem Problem der „Managerial Power" vorbeizielt. Insgesamt bietet der Band eine gute Übersicht über die Verhältnisse in Deutschland und der Schweiz. Das präsentierte empirische Material ist informativ und vielfach innovativ. Allerdings kommt die rigorose, modellgestützte Analyse der Anreizwirkung von Managementvergütung und Vergütungssystemen recht kurz. Wenn Vergütungssysteme eine Anreizwirkung entfalten, wäre diese den Ausgaben entgegenzurechnen. Anreize können sogar großzügige Fixlöhne entfalten, wie die Effizienzlohntheorie lehrt. Aus der Theorie der Turniere könnte gefolgert werden, dass die Bezahlung des CEO nicht nur diesen motiviert, sondern auch alle mittleren Manager, die vom Aufstieg in die höchste Etage träumen. Mit so einer umfassenden Anreizwirkung wären ohne weiteres auch recht hohe Gehälter zu rechtfertigen. Zudem könnte eine spieltheoretische Konkurrenzanalyse argumentieren, dass die Einführung eines teuren Anreizsystems auch

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dann sinnvoll sein kann, wenn keine Performance-Verbesserung folgt. Denn wenden alle Unternehmen einer Branche solche Systeme an, verbessert sich dadurch nicht der Erfolg des einzelnen Unternehmens - aber das Unternehmen, dass solche Anreizsysteme nicht anwendet, fällt gegenüber den Konkurrenten zurück. Versagt in so einer „Gefangenendilemma"-Situation die dezentrale kollektive Aktion der „Tarifpartner", dann wäre sogar ein Interesse der Aktionäre an einem flächendeckenden Verbot solcher Anreizsysteme begründbar, und dies ohne jeden Rekurs auf willkürliche Gerechtigkeitsüberlegungen. Die aus ordnungspolitischer Sicht vermutlich interessanteste Frage ist ja die, ob überhaupt gesetzgeberischer Handlungsbedarf herrscht oder ob die Festlegung von Managergehältern nicht besser dezentral den Unternehmen überlassen bleiben sollte. Wenn aber zentraler Regelungsbedarf ausgemacht wird, bleibt noch zu begründen, ob der Gesetzgeber die Spielregeln der unternehmensinternen Vergütungsfindung ändern oder gleich die Spielergebnisse festlegen soll. Auch nach den massiven Denkanstößen durch die Arbeiten von Bebchuk und Fried über „Managerial Power" herrscht also weiter Forschungsbedarf, etwa zu der Anreizwirkung von Vergütungen oder über die angemessene quantitative Operationalisierang von Macht.

Nikolaus

Knoepffler

Wirtschaftsethische Perspektiven IX. Wirtschaftsethik in einer globalisierten Welt (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 228/IX) Besprechung des von Wolfgang Buchholz herausgegebenen gleichnamigen Bandes* Dieser Band versammelt für den Druck überarbeitete Beiträge, die im Rahmen der Sitzungen des Ausschusses „Wirtschaftswissenschaften und Ethik" des „Vereins für Socialpolitik" 2009 vorgetragen wurden. Wie der Herausgeber selbst in seinem Vorwort einräumt, erscheinen diese Artikel „in ihrer thematischen Ausrichtung recht heterogen" (S. 10), denn der Themenbogen spannt sich von „Corporate Governance zwischen Kapital und Ethik" über „Faire Managemententlohnung", eher juristischen Beiträgen bis hin zu gesundheitsökomischen und klimaökonomischen Texten sowie fundamentalen Überlegungen zum Ansatz Karl Homanns. Darüber hinaus sind die Beiträge aber auch methodisch sehr unterschiedlich. Einige sind dezidiert ethisch, andere gehören eher zum Vorhof der Wirtschaftsethik. Manche Beiträge sind zudem institutionenökonomisch beeinflusst, andere haben eine andere Stoßrichtung. Alexander Brink versteht in seinem Artikel „Corporate Governance zwischen Kapital und Ethik" Ethik in „terms of economics", um einen Begriff von Homann aufzunehmen: „Corporate Governance - so das Argument im vorliegenden Beitrag - übernimmt eine moderierende Funktion in dem vermeintlichen Spannungsverhältnis von Kapital und Ethik. Dazu wird Ethik zunächst moralökonomisch rekonstruiert" (S. 13). Begrifflich wird Ethik hierbei mit Moral praktisch gleichgesetzt (vgl. S. 32 unten). Brinks Absicht besteht dabei darin zu zeigen, dass ein umfassendes Verständnis von Corporate Governance nur zu gewinnen ist, wenn man Corporate Governance nicht nur als Regelsystem versteht, „sondern auch als Agenda-Setter (Corporate Governance als Regelsystem und Initiator der eigenen Regeln)" (S. 15). Nach einem Überblick zur Corporate-Governance-Literatur und der klassisch zu nennenden Kapitaltheorie, wonach der Prinzipal das Risiko des Residualverlusts trägt (S. 15-25), möchte Brink die Neue Institutionenökonomik betriebswirtschaftlich anwenden, also gerade nicht volkswirtschaftlich theoretisch untermauern, und stellt dazu die These auf: , flehen dem Aktionär tragen auch andere Anspruchsgruppen, insbesondere Mitarbeiter, ein Risiko der Residualerträge" (S. 25). Diese These, dass neben dem Prinzipal (Aktionär) insbesondere die Mitarbeiter ein hohes Risiko tragen, Wolfgang Buchholz (Hg.), Wirtschaftsethische Perspektiven: Wirtschaftsethik in einer globalisierten Welt, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2012,208 Seiten.

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begründet Brink überzeugend damit, dass auch sie in der Regel hohe Investitionen in ein Unternehmen eingebracht haben, die nicht vollständig durch die bezahlten Gehälter abgegolten sind. Darum besteht praktisch ein impliziter Vertrag, der ein Stakeholdermanagement verlangt. Hierzu werden von Brink konkrete Vorschläge gemacht. Bei einem Thema wie Corporate Governance verwundert dabei jedoch, dass als Stakeholder viele gesellschaftliche Anspruchsgruppen nicht berücksichtigt werden, z.B. Geschäftspartner, die ebenfalls in Beziehungen investiert haben, oder auch Gemeinden, die vom Erfolg und Misserfolg mitbetroffen sind. Der zweite, von K. J. Bernhard Neumärker verfasste Beitrag widmet sich der Frage fairer Managemententlohnung. Dabei argumentiert er damit, dass das Neidargument „zu einer Anpassung der optimalen Entlohnungsstrukturen führen kann. Wird die Entlohnung neidfrei gehalten, ist folglich dem schärfsten Argument gegen unangemessene Bezüge Genüge getan" (S. 39). Der Rezensent hält diesen Ausgangspunkt für verfehlt und kann daher auch mit den Ausführungen gerade im Blick auf die Neidfrage wenig anfangen. Vielmehr hätte die Frage lauten müssen, ob es institutionenökonomisch nicht für eine Gesellschaft sehr gefährlich ist, wenn die Schere zwischen denen, die hart arbeiten und sich dennoch kaum Eigentum aufbauen können, und denen, die ebenfalls hart arbeiten, aber dabei so viel verdienen, dass sie sich fast alles leisten können, immer weiter aufgeht. Anders formuliert: Warum sind die Gehälter der meisten Durchschnittsverdiener in den letzten 20 Jahren inflationsbereinigt nicht gestiegen, während die Gehälter der CEOs in Deutschland geradezu explodiert sind? Der dritte Beitrag von Diane Grosse „Gesetze und Regelungen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - ein Vergleich amerikanischer und deutscher Institutionen" hat vier Teile. Im ersten Teil verortet sie sich institutionenökonomisch bei Homann und thematisiert die Bedeutung von Regelsystemen im grundsätzlichen Sinn. Der Teil endet mit der Frage, wie man es bewerkstelligen kann, „dass die Manager, als die eigentlichen Akteure, im Sinne des Unternehmens handeln" (S. 62). Hierzu vergleicht sie zwei Regelsysteme, nämlich Regelsysteme, die extern vorgegeben werden und die eine Compliance verlangen, und Regelsysteme, die sich Unternehmen selbst geben, also Integrity-Regeln (Teil II). Nach einem kurzen Abriss des Falles der Wirtschaftsprüfergesellschaft Arthur Andersen, die im Rahmen der Enron-Affäre selbst untergegangen ist (Teil III), vergleicht Grosse im großen Teil IV die wichtigsten amerikanischen und deutschen Gesetze für die Wirtschaftsprüfer, Geschäftsführer und Arbeitnehmer. Das Erkenntnis leitende Interesse besteht dabei darin, diese Regelungen mit Hilfe des Compliance und des Integrity Ansatzes zu prüfen. Grosses Fazit lautet, dass der deutsche Ansatz zu bevorzugen ist, weil sich die „Vorschriften zur Kontrolle an den Gegebenheiten des jeweiligen Unternehmens ausrichten" (S. 85) sollten. So endet der eher juristische Beitrag auch mit einer juristischen Empfehlung. Reinhard Neck geht im folgenden Aufsatz der „Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung" (S. 90) nach. Er greift dabei auf die katholische Soziallehre zurück und möchte die von Pius XI in seinem Rundschreiben „Quadragesimo Anno" aus dem Jahr 1931 vertretene Berufsständische Ordnung als dritten Weg zwischen den Wirtschaftsordnungen des Kapitalismus und Sozialismus, aber noch viel umfassender zwischen „liberalistischen und kollektivistischen Gesellschaften" (S. 98) in Erinnerung rufen, mit der ein vertikaler Gesellschaftsaufbau (vgl. S. 93) verteidigt wird. Sie wird von Neck dabei in einer „pluralistisch-marktwirtschaftlichen Interpretation" (S. 104) vorgelegt und beruht auf folgenden Prinzipien (vgl. S. 97): Subsidiaritätsprinzip, Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsprinzip, Prinzip der gleichberechtigten Zusammenarbeit und Gemeinwohlprinzip. Neck referiert in seinem Beitrag kurz die Kritik an dieser Ständeordnung, um danach zu zeigen, dass es „Elemente einer Berufsständischen Ordnung in Demokratie und Marktwirtschaft" (S. 102) gibt und sich sogar bei Keynes und Schumpeter lobende Worte für diese Ordnung finden. Dennoch bleibt in Necks Aufsatz unbestimmt, was er unter der naturrechtlichen Begründung dieser Ordnung versteht, was er mit einem vertikalen Gesellschaftsaufbau meint und damit, ob die Vorstellung von unterschiedlichen Ständen, wie sie lange kirchlicherseits vertreten wurde, und eine moderne Idee der Kooperation von Interessengruppen mit staatlichen Organen wirklich dasselbe bedeu-

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ten. Wenn Neck vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips für Österreich „einen Verzicht auf detaillierte Regelungsvorgaben auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zugunsten von Lösungen auf der Branchen- und der Unternehmensebene" (S. 119) anmahnt, so ist ihm zuzustimmen. Die folgenden beiden Beiträge des Buches behandeln zwei höchst komplexe Gerechtigkeitsfragen, nämlich das „Problem einer weltmarktlichen Arzneimittelversorgung" sowie „Klimaökonomische Studien und intergenerationelle Gerechtigkeit". Beide Beiträge zeichnen sich durch Klarheit, Begriffsschärfe und ein sehr hohes Reflexionsniveau aus. Allein diese beiden Beiträge lohnen die Anschaffung des Buchs. Pies und Hielscher behandeln dabei den Missstand, dass gerade die ärmsten Menschen in den Entwicklungsländern kaum Zugang zu Arzneimitteln haben. Im Unterschied zu einer journalistischen Behandlung des Themas mit Skandalisierungen und Schuldzuweisungen, aber auch im Unterschied zu einer eher moralistischen Betrachtungsweise durch manche Ethiker wählen Pies und Hielscher einen institutionenökonomischen Zugriff auf das Thema, den sie als „Ansatz einer ökonomischen Theorie der Moral" (S. 133) bezeichnen und von dem von ihnen philosophisch genannten Ansatz einer Globalen Ethik, wie ihn Thomas Pogge vertritt, abgrenzen. Pogge schlägt nämlich mit Berufung auf fundamentale (universelle?) Grundrechte im Blick auf die Arzneimittelversorgung vor, dass die Steuerzahler der reichen Länder die Forschungsanstrengungen, also die Produktentwicklung der Pharmaunternehmen, bezahlen, sodass nur die reinen Herstellungskosten in armen Ländern in Rechnung gestellt werden. Pogge geht es also um „Normativität als Obligation" (S. 141): Die Reichen sollen einem Ressourcentransfer zustimmen, der den Armen zugute kommt. Dagegen bieten Pies und Hielscher eine Lösung, die alle drei Funktionsdefizite des internationalen Arzneimittelmarktes, nämlich hohe Monopolpreise, Ausrichtung der Forschung an den Interessen der reichen Nationen und fehlende Sozialversicherung der Armen systematisch angeht, ohne ein Sollen zu verlangen. Vielmehr muss es darum gehen, daran mitzuwirken, dass der zentrale Grund der Funktionsdefizite erkannt und behoben wird, und zwar im gemeinsamen Interesse (Tauschakte) reicher und armer Nationen: das institutionelle Defizit in armen Ländern. Es geht also darum, „der Bevölkerung armer Länder bei der Überwindung ihrer internen GovernanceProbleme zu helfen" (S. 143). Diesem Fazit ist vollumfanglich zuzustimmen. Meyer und Roser behandeln in ihrem Aufsatz das in vielfacher Hinsicht brisante Thema der Klimagerechtigkeit: Auf welche Anstrengungen der jetzt lebenden Menschen haben kommende Generationen ein Anrecht? Dabei besprechen Meyer und Roser vier Prinzipien (vgl. S. 158 ff.): das Gleichheits-, das Suffizienz-, das Maximierungs- und das Nicht-Schädigungs-Prinzip. Dabei stellen sie das Gleichheitsprinzip, wonach es künftigen Generationen gleich gut wie uns gehen soll, in Frage, insbesondere, weil nicht klar ist, was unter Gleichheit gemeint ist. Ein gleiches BIP jedenfalls wäre unzureichend. Könnte es deshalb nicht hinreichend sein, wenn künftige Generationen genug haben, dass ein Mindestschwellenwert nicht unterschritten wird (Suffizienzprinzip)? Dagegen ist das Maximierungsprinzip weder notwendig noch hinreichend. Es ist nicht notwendig, wenn nur ein Mindestschwellenwert gewahrt bleibt (Option für das Suffizienzprinzip), und es ist nicht hinreichend, weil selbst bei einer Maximierung des Gesamtnutzens im Sinne des Utilitarismus einige zu wenig haben könnten. Nach einem Exkurs zur Diskontierungsrate, die Meyer und Roser für nicht hilfreich erachten, wenden sie sich dem NichtSchädigungs-Prinzip zu. Auch hier zeigt der Rückgriff auf das Suffizienzprinzip, das meines Erachtens sehr überzeugend gewählt ist, dass das Nicht-Schädigungs-Prinzip, zumal zukünftige Schäden wissenschaftlich nicht hinreichend prognostizierbar sind, zu relativieren ist. Allerdings bleibt es dann relevant, wenn die Schädigung dazu führt, dass der Mindestschwellenwert verletzt wird. Darum ist es auch wichtig zu klären, wem wir Klimaschutz schulden und was wir schulden. Dabei weisen Meyer und Roser überzeugend nach, dass die Lösimg dieser Fragen nicht ein einfacher Verweis auf eine einzige Kennzahl, nämlich ein künftiges BIP, ist, auch wenn freilich die eigenen Überlegungen die Frage offen lassen, wie genau der Mindestschwellenwert definiert werden kann.

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Der letzte Beitrag des Sammelbands stammt von Aßländer und Nutzinger, die sich bei aller Würdigung der Leistungen Homanns kritisch mit dessen Wirtschaftsethik, insbesondere mit Homanns Vorwurf gegen den ad-hoc-Charakter der Forderungen von Ulrich, Steinmann, Lohr und Wieland auseinandersetzen. Nach ihrer Ansicht verfehlt Homann den ,prozeduralen Charakter der diskursethischen Ansätze" (S. 196). Auch nähme er die Initiativen wie das CSRForum der Bundesregierung viel zu wenig ernst, wenn er es „unter einen generellen Verdacht des ,window dressing' stellt" (S. 198). Im Blick auf manche Bankenvorstände, aber auch in konkreten Erfahrungen (Bahn, Telefongesellschaften) scheint mir jedoch Homann eher Recht zu haben, zumal die Diskursethik in concreto selbst Herrschaftswissen zeigt. Jedenfalls ist Ulrichs Sprachstil für viele unternehmerisch Tätige oft nicht nachvollziehbar bzw. verstehbar. Dagegen ist Aßländer und Nutzinger in ihrem zweiten Kritikpunkt Recht zu geben, wenn sie Homanns ökonomischer Ethik einen zu unbestimmten Vorteilsbegriff vorwerfen. Es wird eine wesentliche Aufgabe des institutionenethischen Ansatzes, der mit ökonomischer Methode arbeitet, darin bestehen, genauer zu bestimmen, was unter gegenseitigem Vorteil zu verstehen ist. Auf diese Weise würde dieser Ansatz an Schärfe und Implementierbarkeit gewinnen. Der Beitrag von Pies und Hielscher in diesem Band, der auf Homanns Überlegungen aufruht, ist ein gutes Beispiel dafür, wie dies gelingen kann. Insgesamt ist die Lektüre der meisten Beiträge des Sammelbands sehr empfehlenswert, wenn man einen Eindruck über die Bandbreite gegenwärtiger Diskussionen in der Wirtschaftsethik und angrenzender Disziplinen gewinnen will.

Bodo

Knoll

Ausgewogene Analyse statt alternativloser Politik Warum uns keiner vor dem Absturz der Staatsfinanzen rettet* Zu Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise gab es eine vermeintlich „alternativlose Politik", mit Milliardenhilfen angeschlagene Staaten der Eurozone vor dem Staatsbankrott zu bewahren. Was so verdächtig nach Margaret Thatchers „There is no alternative!" klingt, unterbindet einen politischen Diskurs über die besten Lösungsansätze für die finanzpolitischen Probleme in Europa. Schon deshalb leistet das vorliegende Buch einen wichtigen Beitrag, weil es zu Beginn der Krise in allgemein verständlicher Form die Entwicklung der Staatsverschuldung nachzeichnet, Rechtfertigungsversuche und politökonomische Ursachen der Staatsverschuldung erläutert und alternative (!) Konsolidierungsstrategien diskutiert. Der erste Teil des Buchs gibt einen Überblick über die Entwicklung der Staatsverschuldung in Deutschland, im Euroraum sowie in den USA und in Japan. In der Bundesrepublik Deutschland setzte der Anstieg der Staatsverschuldung erst mit dem Siegeszug des Keynesianismus in der Wirtschaftspolitik und einer asymmetrischen aktiven Stabilisierungspolitik in den 1960er Jahren ein. Mit den Ölkrisen, der Wiedervereinigung und der Finanzmarktkrise hat es zwar auch eine Reihe unvorhersehbarer Ereignisse gegeben, die temporär höhere Staatsschulden rechtfertigen würden. Das strukturelle Grundproblem im deutschen Staatshaushalt besteht für Konrad und Zschäpitz jedoch darin, dass ein Großteil der Staatsausgaben für Soziales und Zinszahlungen gebunden ist und in der Vergangenheit eine unklare Verantwortung von Bund und Ländern für Verstöße gegen Schuldengrenzen auf europäischer und nationaler Ebene vorgelegen hat. Die Peripherieländer des Euroraums wiederum haben von der Währungsunion durch die stark rückgängigen Zinsen anfangs profitiert. Allerdings hatten sie zugleich starke Anreize, sich am Kapitalmarkt zu günstigen Konditionen höher zu verschulden; und die Währungsunion Kai A. Konrad und Holger Zschäpitz, Schulden ohne Sühne: Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft, Verlag C.H. Beck, München 2010, 240 Seiten.

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wirkte in diesen Ländern wie ein künstliches Konjunkturprogramm, das zu einem Anstieg der privaten Kredite, zu Immobilienblasen und zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit führte. Letztlich bestätigen die Leistungsbilanzungleichgewichte, dass die Eurozone bei ihrer Einführung kein optimaler Währungsraum war und in der Folgezeit nicht dazu geworden ist. Teil 2 erläutert zunächst, wie Staatsverschuldung als Instrument zur intertemporalen Lastverschiebung, als Mittel zur Konsumglättung und als Maßnahme im Rahmen aktiver Stabilisierungspolitik ökonomisch gerechtfertigt werden kann. In einem zweiten Schritt werden politökonomische Erklärungsansätze vorgestellt, um die tatsächliche Schuldenentwicklung in Demokratien zu erklären. So ist Staatsverschuldung ein mögliches langfristiges Ergebnis politischer Konjunkturzyklen. Sie lindert den Verteilungskampf der Ressortminister in der Regierung um knappe Haushaltsmittel und lässt sich als strategisches Instrument zur Beschränkung nachfolgender Regierungen nutzen. Im Gegensatz zu privaten Schuldnern können Staaten die Rückzahlung von Krediten per Beschluss verweigern, wofür zahlreiche Beispiele seit der Antike angeführt werden. Ihr Anreiz zur Rückzahlung liegt deshalb nicht in der Androhung einer zwangsweisen Durchsetzung von Ansprüchen, sondern in der Vermeidung von Reputationsverlusten, von Handelssanktionen und negativen Konjunktur- und Wachstumsimpulsen. Unter diesen Rahmenbedingungen können die unberechenbaren Erwartungen der Finanzmarktakteure zu einer „self-fulfilling prophecy" werden und eine Schuldenspirale auslösen. Hier könnten Credit Default Swaps, die grundsätzlich ein sinnvolles Versicherungsprodukt darstellen, zu einem potentiellen Systemrisiko mit negativen Anreizstrukturen für die Marktteilnehmer werden. Diese Mechanismen vermögen auch Ratingagenturen angesichts des inhärenten Interessenkonflikts und der schlechten Prognosequalität ihrer Bonitätsurteile nicht zu verhindern. Nach Konrad und Zschäpitz sollte man nicht der Illusion verfallen, dass hohe Staatsschulden unproblematisch seien, weil den Zinslasten der öffentlichen Haushalte Zinseinnahmen der Bürger in gleicher Höhe gegenüberstünden oder der Staat sich stets über neue Kredite refinanzieren könne. Gegen Ersteres sprechen neben der externen Verschuldung die Verteilungseffekte und die Ausweichreaktionen der Steuerzahler. Die zweite Strategie scheitert, wenn die Wachstumsrate des BIP unter dem Zinssatz liegt und die Schuldenquote deshalb unbeschränkt zunimmt. Im dritten Teil setzen sich Konrad und Zschäpitz mit verschiedenen Strategien zum Abbau von Staatsschulden auseinander, wobei Sparer, Arbeitnehmer und Besitzer von Realkapital jeweils ganz unterschiedlich belastet werden. Als Optionen kommen die reale Entwertung durch eine Hyperinflation, die Verweigerung der Rückzahlung an die Gläubiger, einmalige Sondersteuern oder die langfristige Konsolidierung durch Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen in Betracht. Empirisch zeigt sich, dass die Konsolidierung durch Ausgabenkürzungen erfolgreicher als eine Konsolidierung mit Hilfe von Steuererhöhungen ist, während die Inflationierung der Staatsschulden bei einem hohen Anteil ausländischer Kreditgeber politisch besonders attraktiv ist. Entschuldet sich ein Staat durch einen Staatsbankrott, erschwert häufig das Free-riderVerhalten von Gläubigern eine Verhandlungslösung. Bankrotten Schuldnern wird bei der Vergabe neuer Kredite wenig Vertrauen entgegengebracht. Letztlich verursacht die Umschuldungsoption per se höhere Verschuldungsanreize und trägt zu einer unsoliden Haushaltspolitik von Staaten bei. Ein zentrales Hindernis für solide Staatshaushalte besteht, wenn Gebietskörperschaften für die eigenen haushaltspolitischen Entscheidungen nicht voll verantwortlich sind. So machte beispielsweise spätestens die Gefahr einer Ansteckung anderer Eurostaaten und die Möglichkeit einer (weiteren) Finanzkrise die No-bailout-Klausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu einer leeren Drohung und brachte die großen Staaten in ein Samariter-Dilemma. Sowohl die notleidenden Staaten als auch die potentiellen Geberländer verlieren dadurch den Anreiz zur Konsolidierung, weil der Kapitalmarkt seine disziplinierende Funktion einbüßt. Die Vergemeinschaftung der Haftungsrisiken setzt sich faktisch im Europäischen Stabilitätsmechanismus fort. Ähnliche Mechanismen wirken allerdings auch zwischen Bund und Ländern in Deutschland, weil das Bundesverfassungsgericht die Solidargemeinschaft zwischen den föderalen Ebenen sehr weit ausgelegt hat. Zum Schluss diskutieren die Verfasser verschiedene insti-

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tutionelle Reformvorschläge, die zur Lösung der europäischen Staatsschuldenkrise vorgebracht worden sind. Sowohl eine echte EU-Wirtschaftsregierung als auch ein Fiskalkontrollrat werden von den Autoren abgelehnt. Währungsstabilität sei nur bei gleichzeitiger Eigenverantwortung der Staaten mit nationalstaatlicher Entscheidungsautonomie vereinbar. Dies gelinge nur, wenn die Systemrelevanz von Staaten beseitigt werde und eine Finanzarchitektur entstehe, die es den Finanzmarktakteuren nicht mehr ermögliche, hohe Gewinne zu privatisieren und Risiken auf den Steuerzahler abzuwälzen. Der überwiegende Teil sowohl der Ursachenanalyse als auch der Schlussfolgerungen für künftige Reformen verdient aus ordnungspolitischer Sicht uneingeschränkte Zustimmung. Die Entwicklung der Staatsverschuldung lässt sich schwerlich als Ergebnis einer Finanz- und Wirtschaftspolitik interpretieren, die mit den theoretischen Rechtfertigungsansätzen vereinbar ist. Vielmehr liefern institutionelle Anreizstrukturen und die Eigeninteressen der Entscheidungsträger in Politik und Bürokratie besser bestätigte Hypothesen zur Erklärung der Staatsverschuldung. Auch wird überzeugend begründet, weshalb bei der Bekämpfung der europäischen Staatsschuldenkrise nationalstaatliche Entscheidungsfreiheit und Verantwortung nicht voneinander entkoppelt werden sollten. Nach zwei weiteren Jahren der Krise stellen sich dem Leser allerdings weitere Fragen, welche im vorliegenden Buch - durch den Entstehungszeitpunkt bedingt - naheliegenderweise nicht behandelt oder nur am Rande thematisiert werden. So ist eine Reihe von Ländern der Eurozone mittlerweile in Probleme bei der Refinanzierung ihrer Staatsschulden geraten. Es fragt sich, welche Staaten ihre Haushalte erfolgreicher konsolidieren werden. Welche Rolle spielen hier politische Institutionen, Traditionen und nationale Rechtssysteme? Aus Sicht der heutigen Diskussion wäre es zudem für den Leser eine wertvolle Ergänzung zu erfahren, wie die wirtschaftspolitische Bedeutung von Leistungsbilanzungleichgewichten einzuschätzen ist. Nach dem bereits eingetretenen Staatsbankrott Griechenlands treten nämlich die langfristigen Folgewirkungen eines nicht-optimalen Währungsraums voll zutage: Die griechische Volkswirtschaft ist ohne eine eigene nationale Währung nicht wettbewerbsfähig, und die formellen und informellen Institutionen des Landes erweisen sich für wirtschaftspolitische Reformen und für nominale Lohnsenkungen als hinderlich. Letztlich eignet sich auch die Frage nach dem Verbleib oder Ausscheiden von Ländern aus dem gemeinsamen Währungsverbund für eine politökonomische Analyse. Ob und warm es zu einem Austritt von Mitgliedsländern aus der Eurozone kommt, hängt primär von den politischen Gleichgewichten in den Geber- und Nehmerländern ab. Ein nichtoptimaler Währungsraum wäre auf Dauer nur aufrechtzuerhalten, wenn es faktisch eine Transferunion in Europa bzw. in der Eurozone gäbe. Diese Weiterentwicklung dürfte jedoch mangels hinreichender europäischer Solidarität kein stabiles politisches Gleichgewicht in den Geberländern einer solchen Transferunion sein. Fordert man hingegen Reformen und Konsolidierungsanstrengungen in den Schuldnerländern als Gegenleistung ein, um zumindest langfristig zu einem optimalen Währungsraum zu gelangen, gefährdet dies die politischen Gleichgewichte in den Schuldnerländern. In diesem Zusammenhang mag, ergänzend zur Analyse des vorliegenden Werks, eine politökonomische Spekulation angebracht sein, weshalb die Rettungspraktiken relativ lange Zeit ohne nennenswerten politischen Widerstand als alternativlose Politik verkauft werden konnten. Eine Staatsschuldenillusion der Wähler und Steuerzahler begünstigt nicht nur allgemein die Entstehung hoher Schuldenberge, weil Wähler die künftige Steuerlast systematisch unterschätzen und so die politischen Entscheidungsträger nicht hinreichend in ihrem Ausgabendrang beschränken. Diese Illusion erlaubt es auch, zu Gunsten von Banken und Exportunternehmen und zu Lasten des Steuerzahlers Garantien und Rettungsschirme aufzubauen. Während die Bürger der Krisenländer schlagartig ihrer Schuldenillusion beraubt wurden, als der Kapitalmarkt an der Solvenz der Staaten zu zweifeln begann, erleichtern niedrige Kapitalmarktzinsen sowie ein hohes Wirtschafts- und Lohnwachstum, derartige Rettungspakete für Staaten und Privatunternehmen in den Geberländern politisch durchzusetzen.

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Lediglich in einem Punkt sollte man die Schlussfolgerungen der Autoren kritisch hinterfragen. Dass die Fehlfunktion des Stabilitäts- und Wachstumspakts primär auf die Funktionsweise der Finanzmärkte zurückzuführen sei, erscheint als ein nachträglich konstruierter Erklärungsansatz. Die Zinskonvergenz in der Eurozone hat bereits zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als weder die Kapitalmarktakteure noch die Politiker in Europa die vermeintliche Systemrelevanz einzelner Schuldner bzw. die Fragilität des Finanzsystems im Kalkül hatten. Macht man die Ursache für die Dilemmata im Umgang mit den Schuldenkrisen in erster Linie an der Finanzmarktordnung fest, liefert man den politischen Entscheidungsträgern zugleich einen Vorwand, die Finanzmärkte als Sündenbock für das eigene unsolide Wirtschaften in der Vergangenheit heranzuziehen. Die Regulierung der Finanzmärkte bekommt im Vergleich zur Konsolidierung der Staatshaushalte einen ungebührlich hohen Stellenwert auf der politischen Agenda. Insgesamt analysieren Konrad und Zschäpitz verschiedene Ursachen der Staatsverschuldung und alternative Konsolidierungsstrategien ausgewogen und sachlich, aber in verständlicher Form, so dass die Argumente einer breiten Leserschaft zugänglich sind. Es bleibt zu hoffen, dass Wähler und Politiker sich die Analysen und Schlussfolgerungen zu Herzen nehmen. Falls sie dies nicht tun, könnte der Fortsetzungsband aus Sicht des deutschen Steuerzahlers in einigen Jahren lauten: „Sühne ohne Schuld!"

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Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen Eine Typologisierung von Patienten, Ärzten und Krankenversicherungen* Vor dem Hintergrund der sich ändernden Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen rückt die Beziehung der Akteure im System in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Idee ist meist, das Verhalten der unterschiedlichen Akteure unter Zuhilfenahme eines theoretischen Modells zu analysieren und Lösungsansätze für spezifische Fragestellungen bzw. Prognosen für zukünftiges Handeln der Akteure zu entwickeln. Das vorliegende Buch von Michael Schmöller folgt ebenfalls diesem Ansatz und greift auf die Cultural Theory von Wildavsky zurück. Die Hauptaussage dieser Theorie sind die kulturenübergreifenden Verhaltensmuster bzw. Lebensstile, die sich durch die Dimensionen „grid" (soziale Regulation) und „group" (soziale Integration) auszeichnen. Das zentrale Thema der Arbeit ist, diese Typologie auf das Gesundheitssystem, insbesondere auf die Akteure Patienten, Ärzte und Krankenversicherung zu übertragen und hierdurch Typen mit mittel- und langfristig stabilen Denkmustern und Wertvorstellungen herauszuarbeiten. Dadurch soll „ein besseres Verständnis sowohl der gesellschaftlichen Unterstützung des deutschen Gesundheitssystems als auch der Bewertung konkreter gesundheitspolitischer Reformmaßnahmen erlangt werden, so dass Aussagen über Entwicklungstendenzen des wertebasierten Charakters des Gesundheitswesens in Deutschland möglich werden" (S. 29). Das Buch umfasst insgesamt acht Abschnitte, beginnend mit einer Einleitung, die die Zielsetzung und Fragestellung der Arbeit darstellt sowie den theoretischen Zugang zum Thema, den Forschungsstand und den Aufbau der Arbeit erläutert. Die Teile eins bis acht gliedern sich inhaltlich wie nachfolgend dargestellt und werden mit einer Schlussbetrachtung abgeschlossen, die die zentralen Erkenntnisse der Arbeit zusammenfasst. Der erste Teil stellt den theoretischen Unterbau der Arbeit vor. Die Fragestellungen sollen unter Nutzung der Cultural Theory nach Wildavsky beantwortet werden. Hierbei handelt es sich, wie der Autor erläutert, um einen kulturalistischen Ansatz der Politischen Kultur-Forschung, der Michael Schmöller, Vier Systemmodelle für das deutsche Gesundheitswesen: Eine Typologisierung von Patienten, Ärzten und Krankenversicherungen, Verlag Nomos, Baden-Baden 2010,427 Seiten.

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die subjektive Perspektive von Politik ins Zentrum der Analyse stellt. Schmöiler bewertet den Ansatz als eine gute theoretische Basis, das deutsche Gesundheitssystem und dessen Akteure zu analysieren. Im zweiten Teil des Buches wird das theoretische Modell modifiziert und auf Gesundheitssysteme angepasst. Hierbei definiert Schmöiler in Anlehnung an die Dimensionen „grid" und „group" folgende Idealtypen von Gesundheitssystemen: Das Staatsmodell (geringe Gruppenintegration, starke Regulationsdichte), das Marktmodell (geringe Gruppenintegration, geringe Regulationsdichte), das korporatistische Gesundheitssystem (hohe Gruppenintegration, hohe Regulationsdichte) und das Zünftemodell (hohe Gruppenintegration, niedrige Regulationsdichte). Im dritten Teil der Arbeit stellt der Autor die Methodik der empirischen Studie dar, anhand derer die Patienten-, Arzt- und Krankenversicherungstypologisierung vorgenommen wird. Ebenso handelt er hier kurz die Arbeit und deren Verortung in der Wissenschaftstheorie ab und geht allgemein auf die Messbarkeit von politischer Kultur ein. Als Datenbasis dienen drei Befragungen (Patienten, niedergelassenen Ärzte und Krankenversicherungen). Die Patientendaten ergeben sich aus einer Sekundärdatenanalyse einer Repräsentativumfrage, die 2004 durch das Meinungsforschungsinstitut INF AS durchgeführt und 2006 von Gellner und Wilhelm ausgewertet und veröffentlicht wurde. Die Umfrage der niedergelassenen Ärzte fand 2006 statt und bezog 687 Vertragsärzte ein, die auf Basis einer geschichteten Zufallsstichprobe aus der bundesweiten Grundgesamtheit gezogen wurde. Bei der Krankenversicherungsumfrage handelt es sich um eine Vollerhebung aller PKVs und GKVs in Deutschland im Zeitraum von November 2007 und Februar 2008 und diese umfasste insgesamt 52 gesetzliche und private Krankenversicherungen. Abschließend stellt Schmöiler in diesem Teil noch einmal kurz die Typologiebildung als zentralen methodischen Zugang dar. Im vierten Teil gibt der Autor einen Überblick über die historische Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems. Er ordnet das beschriebene System dem Korporatismus zu, sieht aber eine eindeutige systemverändernde Strategie der Gesundheitspolitik, die langfristig zur Stärkung des Wettbewerbsgedankens, der Eigenverantwortung und der Schwächung des Korporatismus fuhrt. Nachdem ein kurzer Überblick über die Bürgerorientierung in der Politik und die Rolle des Bürgers im deutschen Gesundheitswesen gegeben wird, identifiziert Schmöiler im Teil fünf auf Basis der empirischen Ergebnisse und entsprechend der aufgestellten Hypothesen folgende Patiententypologien: den konservativen Nutzer (korporatistisches System), den apathischen Nutzer (Staatsmodell), den wettbewerbsorientierten Traditionalisten (Genossenschaftsmodell) und den wettbewerbsorientierten Kunden und den privat Versicherten (Marktmodell). In sechsten Teil stellt Schmöiler ebenfalls analog zu Teil fünf erst die Bedeutung der niedergelassenen Ärzte im deutschen Gesundheitssystem sowie deren verändertes Rollenverständnis seit Beginn der Gesundheitsreformen in den 90er Jahren dar. Er identifiziert bei diesen Akteuren folgende Typologien: den wertkonservativen Paternalisten, den patientenorientierten Partner, den kundenorientierten Dienstleister und den liberalen Autokraten. Die jeweiligen Typen werden wie bereits bei den Patienten quantitativ und qualitativ beschrieben. Im letzten Analyseteil, dem Teil sieben („Analyse der Akteure - Krankenversicherung"), wählt der Autor die gleiche Herangehensweise wie in den vorherigen beiden Teilen. Schmöiler stellt einleitend das deutsche Krankenversicherungssystem sowie dessen Beziehungsgeflechte vor. Folgende Typologien arbeitet er auf empirischer Basis heraus: Die Versorgerkasse (z.B. die AOK), die geschlossene Betriebskrankenkasse, die wettbewerbsorientierte gesetzliche und private Krankenversicherung und die Einheitskasse. Auch hier beschreibt er die jeweiligen Typen quantitativ und qualitativ. Im achten Teil der Arbeit verbindet nun der Autor die im zweiten Teil bereits theoretisch herausgearbeiteten Systemtypen mit den empirisch ermittelten Typologien und stellt vier Idealtypen des deutschen Gesundheitswesens vor: das traditionell-korporatistische Systemmodell,

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das Staatsmodell, das Wettbewerbsmodell und das mikrosolidarische Modell. Schmöller stellt heraus, dass die seit mehr als hundert Jahren bestehende Basis des deutschen Gesundheitssystems, das traditionell korporatistische System, weiter bestehen wird und sich nur schrittweise verändert. Er prognostiziert, dass aufgrund der gesundheitspolitischen Bemühungen, welche die Stärkung von Wettbewerb und Eigenverantwortung unterstützen, es zunehmend zu einer Aufspaltung der Akteurskollektive kommen wird. Dies führt seiner Schlussfolgerung nach dazu, dass auf der einen Seite das Marktmodell von den Patienten favorisiert wird und auf der anderen Seite weniger Patienten bereit sind, mehr Eigen- oder Entscheidungsverantwortung zu tragen und dem Staatsmodell anhängen. Weiterhin sieht er die Entwicklung dahingehend, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft sich in das mikrosolidarische Gesundheitssystem zurückzieht und sich vom Rest des Systems isolieren wird. Das vorliegende Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es auf einer soliden theoretischen Basis der politischen Kulturforschung aufbaut. Neu an Schmöllers Ansatz ist, dass er im Gegensatz zur gesundheitspolitischen Debatte und auch anderen gesundheitswissenschaftlichen Analysen, die unterschiedlichen Akteure nicht als homogene Kollektive mit gleichgerichteten Interessen und Verhaltensweisen betrachtet. Die vorliegende Arbeit geht von universellen und theoretisch begründeten Idealtypen individuellen Verhaltens und Denken aus und trägt damit zu einem Erkenntnisfortschritt auf der Ebene der Differenzierung der wichtigsten Akteure im Gesundheitssystem bei. Dieser zeichnet sich dahingehend aus, dass für gesundheitspolitische Gestaltungsmöglichkeiten Impulse geliefert und Prognosen aufgrund der Annahme von Präferenzen und Wertvorstellungen der Akteure hinsichtlich ihrer Reaktion auf geplante gesundheitspolitische Maßnahmen gegeben werden können. Die Arbeit ermöglicht dadurch eine tiefergehende Analyse der Entwicklungen auf der Mikroebene des Gesundheitssystems bei Patienten, Leistungserbringern und Leistungsvergütern. Eine weitere Untersuchung anderer Akteure im Gesundheitswesen könnte eine sinnvolle Ergänzung der vorliegenden Arbeit darstellen. Leider wird der empirische Teil der Arbeit dem hohen theoretischen Anspruch nicht gerecht. Die Methodik der empirischen Vorgehensweise wird nur angerissen, der Autor gibt keine Hinweise bezüglich der Durchführung der Befragungen, die Rücklaufquote oder ähnliche grundlegende Informationen fehlen gänzlich. Die Typenbildung könnte noch durch weitere statistisch-methodische Vorgehensweise ergänzt werden und der gewählte Ansatz der „additiven Faktorenbildung" transparenter dargestellt und die konkrete Vorgehensweise erläutert werden. Alles in allem ist das Buch jedoch für Leser, die an einer Systemanalyse des deutschen Gesundheitswesens sowie deren wichtigsten Akteure interessiert sind, empfehlenswert.

Helmut

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Chancen und Risiken für die Soziale Marktwirtschaft im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme* Die Beiträge dieses Sammelbandes sind aus einer Tagung zum ordnungspolitischen Dialog hervorgegangen, die im November 2008 in Zwickau stattfand. Dieser Termin erklärt, dass aktuelle ordnungspolitische Probleme der Staatsverschuldungs-, der Währungs- und der Bankenkrise lediglich in wenigen, nachträglich hinzugefugten Beiträgen nur kurz angesprochen werden. Das erste Kapitel enthält vier Beiträge zur Genese und zu Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Uwe Dathe geht in seinem einleitenden Beitrag der geistig-theoretischen Entwicklung des jungen Walter Eucken anhand seiner Briefe, Aktivitäten und frühen

Bernhard Seliger, Jüri Sepp und Ralph Wrobel (Hg.), Chancen und Risiken für die Soziale Marktwirtschaft im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme, Peter Lang, Frankfurt am Main 2010, 346 Seiten.

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Publikationen im Zeitraum zwischen 1918 und 1934 nach. Er belegt die Entwicklung von Eucken zu einem überzeugten Vertreter des liberalen Rechtsstaates und der liberalen Wirtschaftspolitik und entkräftet damit ebenso überzeugend das immer noch verbreitete Argument, dass er Anhänger eines autoritären, weil starken Staates gewesen sei. Leider wird die Aktualität der Euckenschen und indirekt der ordoliberalen Staats- und Wirtschaftsordnung für moderne und national entgrenzte Parteiendemokratien weder hier noch in späteren Beiträgen thematisiert. Bernhard Seliger untersucht die diversen „Theorien der Wirtschaftswunder" an den Beispielen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zur ebenso schnellen Wirtschaftsentwicklung in Japan, Südkorea und später in China. Er zeigt, dass die erfolgreiche und breitenwirksame Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung ursächlich verschieden verlaufen ist und maßgeblich auf das jeweils kulturspezifische Zusammenspiel von formalen und insbesondere informalen Institutionen sowie auf politische Persönlichkeiten und Konstellationen zurückzuführen sei. Eine bloße Imitation kulturfremder Wirtschaftskonzeptionen wie etwa der Sozialen Marktwirtschaft garantiere jedenfalls noch keinen Erfolg. Gesichert sei jedoch, dass bestimmte konstitutive Prinzipien dieser Konzeption - wettbewerbliche Märkte, freier Aussenhandel, Geldwertstabilität und Privatinitiative - universal unerlässliche Vorbedingungen für wirtschaftlichen Erfolg seien. In den beiden folgenden Beiträgen werden die Wirkungen der Ausnahmenregulierungen von diesen konstitutiven Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft am Beispiel Deutschlands untersucht. Der Beitrag von Frank Fischer behandelt den Verkehrssektor und zeigt Möglichkeiten marktkonformer ordnungspolitischer Korrekturen auf. Anja Kettner und Martina Rebien untersuchen für den Arbeitsmarkt die positiven Veränderungen beim Arbeitsangebot, die sich durch die Hartz-Reformen ergeben haben. Die Beiträge des zweiten Teils behandeln analoge Probleme und Beschränkungen des freien Binnenmarktes innerhalb der EU. Als problematischer Bereich erweist sich hier der Dienstleistungssektor. Wolf Schäfer belegt in seiner sachkundigen Analyse die nach wie vor existierenden vielfältigen Beschränkungen des Binnenmarktprogramms und die dafür verantwortlichen nationalstaatlichen Interessen und Regulierungen. Obwohl der Anteil der Dienstleistungen am BIP in den Mitgliedsstaaten ca. 65 % betrage, würden nur etwa 5 % grenzüberschreitend gehandelt. Daher gelte es, das konstitutive Binnenmarktprogramm durch ordnungspolitische Regeln zugunsten der Dienstleistungsfreiheit zu verbessern. Eine originelle Lösung dafür präsentiert Susanne Kochskämper für den Bereich der Gesundheitspolitik, der nach wie vor den Kompetenzen der Mitgliedsstaaten untergeordnet ist. Dazu schlägt sie vor, die vorherrschende Finanzierung des Gesundheitswesens im Wege der Umlagefinanzierung verstärkt durch das Verfahren der Kapitaldeckung zu ersetzen und die intergenerationelle Umverteilung vollständig in ein SteuerTransfersystem zu überfuhren. Im dritten Kapitel werden in vier Beiträgen die ordnungspolitischen Herausforderungen und die bisherigen Ergebnisse der Transformationspolitik in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien behandelt. Dabei geht es um die Frage, inwieweit sich bisher typische Ordnungs- und Wirtschaftsstrukturen und die damit verbundenen Einkommensstrukturen identifizieren und mit westeuropäischen Ländern vergleichen lassen. Jüri Sepp untersucht die Entwicklung der Wertschöpfungs- und Beschäftigungsdaten in den einzelnen Wirtschaftssektoren der Transformationsländer im Vergleich zu den west- und nordeuropäischen Ländern mit einem großen Anteil der Dienstleistungswirtschaft einerseits und zu den südeuropäischen Ländern mit höherer Einkommensungleichheit und Staatsverschuldung andererseits. Die reale Entwicklung in den Transformationsländem fällt, wie nicht anders zu erwarten, verschieden in Richtung beider Referenzländer aus, weshalb auch die beträchtlichen Einkommens- und Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländergruppen nicht überraschen sollten.

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Richard Conolly kommt in seiner Analyse der Transformationsländer anhand der Kriterien „Grad der außenwirtschaflichen Offenheit" sowie „Produktions- und Exportstruktur" zu ähnlichen Ergebnissen. Länder mit einem relativ hohen Anteil an technologisch anspruchsvollen Gütern schneiden gegenüber Ländern mit geringeren Anteilen und nur auf Exporte von Rohstoffen spezialisierten Strukturen besser ab. In beiden Beiträgen werden die ordnungspolitischen Ursachen hierfür jedoch nur beiläufig analysiert. Diesem Anspruch wird der Beitrag von Isa Mulaj gerecht, der nach den ordnungstheoretischen Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeiterselbstverwaltung im früheren Jugoslawien und der Sozialen Marktwirtschaft sowie deren Vorbildfunktion für die aktuelle Wirtschaftspolitik in den jetzigen Teilstaaten fragt. Dazu wird zunächst die Entwicklung hin zur selbstverwalteten sozialistischen Marktwirtschaft im Nachkriegsjugoslawien dargestellt, wo nicht zuletzt wegen ethnischer Konflikte das zentralgeplante Wirtschaftsmodell sowjetischen Musters beseitigt wurde und weitgehend freie Marktbeziehungen zwischen den vergesellschafteten und selbstverwalteten Betrieben etabliert wurden. Ungeachtet aller ethnischen und politischen Konflikte in und zwischen den Teilstaaten sollten diese jahrzehntelangen Erfahrungen als Chance für wirtschaftliche Reformen im Geist der Sozialen Marktwirtschaft genutzt werden können. Anstelle der besonders in Serbien herrschenden eher „wilden" Marktwirtschaft seien die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft durchzusetzen, um einen Minimalkonsens der Bevölkerungsmehrheit zu gewährleisten. Dieser Problematik geht auch Joachim Ahrens in seinem Beitrag über die politisch-institutionellen Grundlagen der Wirtschaftstransformation in Zentralasien (Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan) nach. Sein besonderes Interesse richtet sich auf die Frage, inwieweit das chinesische Modell eine Leitbildfunktion für diese Länder ausüben kann. In China und in anderen ostasiatischen Transformationsländern wie in Taiwan, Singapur, Südkorea oder Malaysia erfolgten die Wirtschaftsreformen unter autoritären Regimen in kleinen Schritten. Dabei wurden die gewachsenen Institutionen und das vorhandene Sozialkapital beim Aufbau der konstitutiven Prinzipien der Marktwirtschaft genutzt. Nach Ahrens kann diese Strategie auch für die zentralasiatischen Länder auf mittlere Frist gegenüber der schockartigen Durchsetzung idealer (firstbest) Institutionen die angemessenere Alternative sein. Jedenfalls gäbe es kein universales Reformkonzept, weshalb er auch im westlichen Demokratiemodell kein universal erfolgversprechendes Entwicklungsmodell erkennt. Unverzichtbare Vorbedingungen seien jedoch die Begrenzung der staatlichen Macht und die weitgehende Etablierung der konstitutiven Prinzipien für eine wettbewerbliche und offene Marktwirtschaft. Diese Einsicht scheint von dem staatsund ordnungspolitischen Verständnis der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft nicht allzu weit entfernt zu sein. Der vierte und letzte Teil enthält drei Beiträge, in denen der Wettbewerb der Wirtschaftssysteme unter den Bedingungen der aktuellen Finanz- und Währungskrise angesprochen wird. Ralph M. Wrobel untersucht den institutionellen Einfluss der in den letzten Jahren in vielen Ländern eingerichteten Sonderwirtschaftszonen. Als wettbewerbspolitisch problematisch könne hierbei die Einräumung exklusiver Sondervorteile für ausländische Direktinvestitionen bewertet werden. Die Vorteile dieser Zonen würden jedoch überwiegen, denn sie könnten das Wissen über effiziente Institutionen verbessern. Ordnungspolitische Prinzipien und Reformempfehlungen z.B. nach dem Muster des „Washington Consensus" blieben häufig zu abstrakt, weshalb positive praktische Erfahrungen institutionelle Lernprozesse wirksam befördern können. Athanassios Pitsoulis und Jens Peter Strobel untersuchen mögliche Wechselwirkungen zwischen steigenden staatlichen Budgetdefiziten und dem Steuerwettbewerb aus einer politökonomischen Perspektive. Ihr spezielles Interesse richtet sich auf wahlstrategisch motivierte Budgetdefizite seitens der noch herrschenden Regierang mit dem Ziel, nach dem erwarteten Machtwechsel die dann herrschende Nachfolgeregierung fiskalpolitisch unter finanzielle Zwänge zu setzen, um so die Wiederwahlmöglichkeit zu erhöhen. Dieses Szenario wird methodisch anhand eines grafischen Modells veranschaulicht. Die aktuelle Krise der Staatsverschuldung wird nicht einbezogen.

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Im letzten kurzen Beitrag von Jürgen G. Backhaus geht es um den Zusammenhang zwischen der großzügigen Liquiditätsbereitstellung seitens der amerikanischen Zentralbank, in der er den wichtigsten Auslöser der Finanzkrise im Jahre 2007 vermutet, und deren realwirtschaftliche Grund- und Wertabsicherung, die offensichtlich nicht ausreichte. Von daher erklärt sich seine Forderung nach einer engeren Bindung der Geld- und Finanzpolitik an die realwirtschaftliche Entwicklung. Ein bisher ungenutztes Potential zur Ankurbelung der Realwirtschaft sieht er im verstärkten Ausbau der amerikanischen Infrastruktur. Die Lektüre des Sammelbandes hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die einzelnen Beiträge sind methodisch und sachlich tadellos, weisen jedoch insgesamt nur einen losen Bezug zur Frage nach den Chancen und Risiken der Sozialen Marktwirtschaft im internationalen Wettbewerb auf. Besonders informativ sind die Analysen der osteuropäischen und der zentral- und ostasiatischen Reformländer, deren institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung markante Eigenarten zeigen. Hier hätte sich die Frage aufgedrängt, ob und inwieweit das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft eher eine eurozentrische Fundierung aufweist und angesichts der aktuellen Herausforderungen noch als universaler ordnungspolitischer Kompass für Wirtschaftsreformen in den asiatischen, aktuell in den arabischen Ländern oder für den Ausbau einer global konsensfähigen Ordnungspolitik tauglich ist.

Thomas Mettke

Lebensmittel in den Medien Anmerkungen zum gleichnamigen von Nikolaus Bosch, Stefan Leible und Rochus Wallau herausgegebenen Buch* Vorbemerkung In seinen „Studien zur Geschichte der Lebensmittelwissenschaft" schreibt Eberhard Schmauderer (1975, S. 5): „Die Lebensmittelwissenschaft umfasst nicht nur den naturwissenschaftlichen Bereich, sondern die einschlägigen technologischen und rechtswissenschaftlichen und darüber hinaus die historischen, wirtschaftlichen, sozialen, geografischen und kulturellen Gebiete - ein weites Feld also." Diese Überlegungen waren letztlich ein Beweggrund für die Gründung der „Forschungsstelle Deutsches und Europäisches Lebensmittelrecht" an der Universität Bayreuth. In der Gründungsveranstaltung am 9. Februar 1990 auf Schloss Thurnau hatte der Präsident der Universität Klaus Dieter Wolf dies mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Die Universität Bayreuth versteht die in der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät aufgebauten Forschungsstellen ausdrücklich als Scharniere zwischen Hochschule und Praxis, als Plattform gemeinsam initiierter und getragener Forschung, Diskussion und Vermittlung." Dies ist inzwischen durch zahlreiche Dissertationen auf dem Gebiet des Rechts und der Naturwissenschaft in einmaliger Weise eindrucksvoll belegt. Mit dem Symposium „Lebensmittelrecht in den Medien" und zuvor schon mit dem Symposium „Lebensmittel zwischen Technik und Ethik" betritt die Forschungsstelle ein neues Gebiet - nämlich den Raum von Recht und Soziologie. In dem Vorwort zum Tagungsband haben die Herausgeber auf den Soziologen Niklas Luhmann (1995, S. 541) verwiesen, der die These aufgestellt hat, dass „alles was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, [...] wir über die Massenmedien" wissen. Den Medien komme zweifelsfrei eine herausragende Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung zu. Lebensmittel, die Bedingungen ihrer Herstellung und ihrer Zusammensetzung, ihre werbliche Darstellung, die Kritik von Verbraucherschutzverbänden an der Lebensmittelbranche, alles war in den letzten Nikolaus Bosch, Stefan Leible und Rochus Wallau (Hg.), Lebensmittel in den Medien, Verlag P.C.O., Bayreuth 2012, 189 Seiten.

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Jahren besonders medienpräsent. Dies allerdings ganz gewiss nicht immer zum Vergnügen der Lebensmittelhersteller und ihrer Branche. Niklas Luhmann hat dazu geschrieben: „Das Rechtssystem interessiert die Politiker, die Soziologen und die Journalisten nicht besonders. Ihnen geht es nicht um Einzelfallentscheidungen; die Differenzierung ist nicht ihre Sache, sondern hier geht es um allgemeine Erklärungen und Prognosen. Der Soziologe benötigt für seine Analysen grobe Kategorien, die viele gleiche Fälle produzieren. Feinheiten muss er vernachlässigen. Der Jurist praktiziert dagegen eine ausgefeilte Unterscheidungskunst, um zu den Ergebnissen zu kommen, die ihm gerecht erscheinen." I.

Lebensmittelskandale

Das ganze Dilemma mit Medien und Lebensmitteln wurde in dem Vortrag von Silvia Liebig „Das patentierte Schwein" sichtbar. Weder war im Folgenden von Patenten noch von Schweinen die Rede, aber das griffige Thema „Das patentierte Schwein" zeigte schon, dass kein gutes Urteil über die Lebensmittelindustrie zu erwarten war, weil, wie Liebig ausführte, wir „in einer Welt leben, in der der schöne Schein der Werbung mehr zählt, als eine offene und ehrliche Kommunikation mit Journalisten und damit auch Verbrauchern". „Der schöne Schein der Ware" ist eine Anlehnung an die bekannte Abhandlung von Volker Haug (1972, S. 26) über „Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft" über den Warenkapitalismus. „Der Schein, auf den man hereinfallt, ist ein Spiegel, in dem die Sehnsucht sich erblickt und für objektiv hält." Das größte Problem in der Überflussgesellschaft ist für Liebig die Qual der Wahl, ein Schlaraffenland, das seine Schattenseiten hat - Fleisch von gequälten Tieren, mit Pestiziden verseuchtes Obst, Erdbeerjoghurt, in dem nicht die Spur einer Erdbeere zu finden ist. Dies sei zwar nicht die ganze Realität, allerdings hätten die Verbraucher keine Entscheidungsfreiheit, weil ihnen die notwendigen Informationen für eine sachgerechte Warenauswahl fehlten. Die Lebensmittelindustrie trickse und täusche, weil Hersteller und Politik das so wollten. Kein Mensch blicke mehr durch, die Politik sei Erfüllungsgehilfin der Lebensmittelindustrie, wie das Beispiel der LebensmittelAmpel zeige. Aufgabe der Journalisten sei es daher, durch öffentlichen Druck Gesetzgeber und Industrie zum Einlenken und zur gesetzlichen Änderung zu bewirken. Für das Thema „Lebensmittel in den Medien" konnte der Auftakt nicht spannender sein. Als nächstes berichtete Karl-Peter Ellerbrock über die „Lebensmittelskandale im Kaiserreich". In der Tat waren im 19. Jahrhundert Nahrungsmittelverfälschungen in einem Ausmaß an der Tagesordnung, die für unser heutiges Verständnis unvorstellbar sind. Friedrich Engels hat dies 1845 in seiner Schrift über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England" eindrucksvoll beschrieben. Die damaligen Zustände ergeben sich auch aus den Materialien zum Nahrungsmittelgesetz von 1879. Entscheidend für die Verbesserung der Situation - ein Kontrastprogramm zu der heutigen Berichterstattung in den Medien - waren allerdings die entschlossenen Anstrengungen der Lebensmittelindustrie im Rahmen der Selbstkontrolle den Missständen zu begegnen. Vor allem waren es die Nahrungsmittelchemiker, die die Initiative ergriffen, erstmals in der Freien Vereinigung bayrischer Vertreter der angewandten Chemie, deren Nachfolgeorganisation die Gesellschaft deutscher Lebensmittelchemiker ist. Mitglieder sind Chemiker aus den staatlichen Institutionen wie der Lebensmittelüberwachung, den Universitäten und der Wirtschaft, damit ist eine reine fach- und sachorientierte Arbeit gewährleistet. Ellerbrock berichtete auch über frühere „Lebensmittelskandale", z.B. über Vergiftungen durch Konserven und den lange Zeit unseligen Krieg zwischen Butter und Margarine, deren Hintergrand weniger die Produkte selbst, sondern die unterschiedlichen agrarstaatlichen und industriellen Interessen waren und die ihr Ende erst mit der EG-Verordnung über Normen für Streichfette gefunden haben. Hans Matthias Kepplinger untersuchte Lebensmittelskandale als mediales Phänomen hausgemacht oder mediengemacht? Kepplinger zeigte dabei den Unterschied zwischen Skandalen und Missständen auf. Die Medien deckten keine Skandale auf; Skandale sind keine vorgegebenen Sachverhalte, die man aufdecken und über die man berichten kann, sondern die Folge der öffentlichen Kommunikation über Missstände. Zwischen Missständen und Skandalen be-

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steht ein kategorialer Unterschied. Zum Skandal wird ein Missstand erst durch die Perspektive, aus der man ihn betrachtet; Skandale rufen nämlich bei vielen Menschen das Gefühl hervor, dass sie persönlich bedroht sind. Als Fazit kann man festhalten: Lebensmittelskandale beruhen in den meisten Fällen zwar auf Verstößen gegen Gesetze und Verordnungen, deren medizinisch biologische Relevanz ist aber meist erheblich geringer, als die Darstellung der Medien vermuten lässt. Skandale zeichnen sich dadurch aus, dass es bei der Beurteilung des Sachverhalts, moralisch gesehen, nur noch eine legitime Position gibt. Das bedeutet, dass man in der Öffentlichkeit nur noch eine Sichtweise vertreten kann, möchte man sich nicht selbst diskreditieren. Die einzig vertretbare Sichtweise wird bei einem Skandal nicht selten von den Medien vorgegeben. Darüber hinaus wird der Skandal oft auf Bereiche ausgedehnt, die mit dem ursprünglichen Sachverhalt nicht viel gemein haben, mit diesem aber assoziiert werden. II.

Rechtsfragen

Wolfram Hertel berichtete über Informationsansprüche der Presse gegenüber Lebensmittelüberwachungs- und Untersuchungsbehörden und legte dies an den Anspruchsgrundlagen der Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Er ging dann noch einmal auf den bekannten Birkel-Fall ein und auf das Gegenbeispiel, den BSE-Fall, anhand der unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen des Oberlandesgerichts Stuttgart von 1990 und dem Urteil OLG München vom 27.4.2000. Er erläuterte, dass eine Entwicklung eingetreten sei, aufgrund derer die Gerichte dazu neigen, dem Informationsinteresse eine vorrangige Bedeutung zuzuerkennen. Dies gelte auch für Auskünfte gegenüber Journalisten. Auskünfte gegenüber Journalisten müssen in allgemein verständlicher Sprache formuliert sein und die entscheidenden Informationen auf den Punkt bringen. Roger Mann befasste sich mit dem Thema „Wie und was dürfen Medien berichten und welche Rechte haben Lebensmittelunternehmen?" Er sprach über die Fälle „Genmilch" und „Schlechte Noten für Seniorenessen". In der Genmilch-Entscheidung war der Bundesgerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass bei einem Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede gilt. Die Herausstellung der Klägerin als ein einflussreiches und bekanntes Unternehmen stelle keine unzulässige Anprangerung dar, sondern diene der Veranschaulichung durch Personalisierung. Auch im Fall „Schlechte Noten für Seniorenessen" kam das Gericht letztlich zu dem Ergebnis, dass ein Test nicht objektiv richtig sein müsse, sondern es genüge das Bemühen um Richtigkeit, d.h. die Einhaltung der journalistischen Sorgfaltspflicht. Winfried Porsch sprach in seinem Vortrag „Staatlich finanzierte Produktkritik privater Organisationen: Grundlagen und Grenzen" über das Internetportal „Lebensmittelklarheit" des Verbraucherverbandes. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass die staatliche Unterstützung durch das BMELV rechtswidrig sei. Das BMELV sei für diese finanzielle Förderung nicht zuständig. Es fehle eine gesetzliche Grundlage für die Gewährung der finanziellen Mittel. Es bedürfe zusätzlich einer grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers, ob eine Wertung von „gefühlten Verstößen gegen Täuschungsvorschriften" außerhalb der Rechtsordnung zulässig sein soll. Im Hinblick auf die Glukolentscheidung des Verfassungsgerichts legte er dar, dass der Bund im Bereich des Lebensmittelrechts keine umfassende Informationskompetenz besitze. Wolfgang Voit sprach über „Haftungsfragen" beim Portal „Klarheit und Wahrheit". Er kam zum dem Schluss, dass die Chance der Lebensmittelunternehmer, Schadensersatzansprüche gegen die Verbraucherzentrale als Portalbetreiber durchzusetzen, gering sei, da die Verbraucherzentrale sich stets auf ihre Meinungsfreiheit berufen könne, damit werden letztlich nur Schmähkritik oder unzureichend recherchierte Fälle zu einer Haftung führen. Voit machte dabei deutlich, dass die Verbraucherzentrale nicht an die Stelle einer behördlichen Eingriffsverwaltung zu setzen sei. Sie müsse sich bei nur gefühlten Täuschungen des Verbrauchers auf die bloße Information beschränken. Den Behörden wiederum fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für ein Einschreiten bei nur gefühlten Täuschungen.

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Über die „Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes" referierte Florian Becker. Der Zweck heiligt im Rechtsstaat nicht die Mittel, so lautete sein Votum. Grundrechtseinschränkungen müssen nicht nur geeignet und erforderlich zur Erreichung eines legitimen Ziels sein, vielmehr müssen Zweck und Mittel auch in einer vernünftigen Relation zueinander stehen, d.h. ein Nutzen, den ein Eingriff stiftet, darf nicht außer Verhältnis zu der Einbuße an grundrechtlicher Freiheitssubstanz bei dem Grundrechtsträger stehen - eine Feststellung, die es wert ist, öfter in das Bewusstsein gerufen zu werden. Der Entwurf des Verbraucherinformationsgesetzes bedeute dagegen eine Schwächung des Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Zu Recht kritisiert Becker den Wegfall der aufschiebenden Wirkung in § 5 Abs. 4 ViGE, der eindeutig gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoße. Damit sei eine Regelung geschaffen, die die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG ausschalte. Eine sofortige Vollziehung könne nur in Ausnahmefallen, in denen ein besonderes öffentliches Interesse bestehe, angeordnet werden, nicht aber auf sämtliche Anwendungsfalle ausgedehnt werden. Kay Windthorst hat in seinem Beitrag „Von der Behördlichen Warnung zur behördlichen Information - was ändert sich bei der Haftung?" das Grundproblem behördlicher Warnung angesprochen. Sie erfolgen einerseits häufig auf einer nicht abschließend gesicherten Tatsachengrundlage, um einen rechtzeitigen und damit wirksamen Schutz der Verbraucher zu gewährleisten, andererseits sind ihre Folgen für die Betroffenen meist schwerwiegend oder nur eingeschränkt rückgängig zu machen. Dies gelte insbesondere für den Verlust von Ansehen und Vertrauen, den die Unternehmen durch behördliche Warnung vor ihren Produkten erleiden. Die Behörden handelten insoweit nicht als neutrale Schiedsrichter in einem Konflikt zwischen Privaten, sondern werden unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten als Sachwalter der Interessen der Verbraucher tätig. Es müsse überlegt werden, ob und weshalb auf die Unterscheidung zwischen Warnung und Information nicht von vornherein verzichtet werden solle und allein auf Information als Oberbegriff abgestellt werden könne. III.

Transparenz und Kommunikation

„Kampagnen, Meinungsmache oder Verbraucherinformation" so lautete der Vortrag von Armin Valet. Er zeigte zunächst anhand einiger Beispiele, „Fruchtgehalte mehr Schein als Sein" und „Schwindel mit Regionalprodukten", einige Missstände auf. Die Lebensmittelkennzeichnung bedeutet „Detektivarbeit für die Verbraucher" ein. Die gültige Rechtsprechung - vom Europäischen Gerichtshof geprägt - gehe meist vom durchschnittlich informierten aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher aus, der rein rationale Kaufentscheidungen trifft und die Etiketten bis zum Kleingedruckten haargenau durchliest. Eine Annahme, die an der Realität vorbeigehe. Dies sei schließlich auch die Legitimationsgrundlage für das Portal „Lebensmittelklarheit". Erfolgreicher Verbraucherschutz müsse nämlich für Transparenz sorgen, die Lebensmittelüberwachung müsse verbessert werden. Ein Verbraucherinformationsgesetz, das die Verbraucherinteressen in den Vordergrund stelle, wäre dazu ein wichtiger Beitrag. Die Verbraucherzentrale Hamburg will daher mit weiteren Kampagnen die Verbraucher informieren und ein Gegengewicht zu den Werbeaktivitäten des Einzelhandels und der Lebensmittelindustrie bilden. Darauf antwortete Rochus Wallau. Wie nicht anders zu erwarten war, nahm er das Stichwort „Kampagne" auf, das eine bemerkenswerte semantische Karriere hinter sich habe. Ursprünglich bezeichnete Kampagne die Zeitspanne, die ein Heer im Feld verbrachte, also die Dauer von Feldzügen. Kampagnen könne man nach geläufiger und denkbar weiterer Definition verstehen als zielgerichtete Mobilisierung einer Öffentlichkeit aufgrund eines Planes, um die gewissermaßen strategische Herbeiführung eines öffentlichen Meinungsklimas. Dies gelte so für die Liste der Verbraucherzentrale über Lebensmittelimitate. Hier führte Wallau einige Beispiele an, mit denen die Verbraucherzentrale suggeriere, dass die Produkte rechtlich zu beanstanden seien, obwohl sie legalen Kriterien entsprechen. Wallau kritisierte weiter, dass die Verbraucherzentrale bereits in den Überschriften, die den einzelnen Produkten zugeordnet werden, wertende Vor-

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Verurteilungen vornehme, die einseitig negative Meinungen zum jeweiligen Produkt zum Ausdruck bringen. Wallau ging in seinem Vortrag aber über diese juristischen Fragestellungen hinaus und forderte eine „Kultur der Verantwortung" für Informationen im Lebensmittelbereich und nannte dafür als Beispiele den Presserat oder den Werberat. Etwas Vergleichbares gebe es für Verbraucherschutzorganisationen nicht - es gebe also genügend Anlass, eine konstruktive Debatte zu beginnen. Merlin Koene beklagte in ihrem Statement „Mehr Schaden als Nutzen? - Lebensmittel in den Medien aus Sicht eines Lebensmittelunternehmens", dass viele Medien die Standards objektiver Berichtserstattung nicht mehr einhielten, die Meinungsspalte wanderte immer öfter in die Mitte der Zeitung, dies sei eine enorme Herausforderung für alle Unternehmen. Diese Tendenz gebe es auch bei den öffentlichen und rechtlichen Sendern. Zum einen lieferten sich NGOs mit Verbraucherschützern, Politikern und Medien einen Wettkampf, um die Lufthoheit im Bereich der Kommunikation zu gewinnen. Zum anderen hätten sich manche Unternehmen viel zu lange oder zu wenig um das Thema gekümmert. Zu Unrecht stehe die Branche am Pranger wegen angeblich falscher Versprechen. IV.

Herausforderungen

Das Symposium „Lebensmittel in den Medien" hat einige Erkenntnisse gebracht: zunächst, dass die Erfahrungswelten von Journalisten und Juristen oft grundverschieden sind. Hier sind weitere Anstrengungen zum besseren Verständnis beider Seiten dringend geboten. Aber es geht noch weiter. Man muss auch erkennen, dass die klassische Unterscheidung von Staat und Markt nicht immer zutrifft. Die Grenzlinien sind häufig ganz anders gezogen. Journalisten, Politiker, aber auch Manager stehen sich in ihrem Denken und ihren Überzeugungen oft viel näher als wiederum die Juristen und Lebensmittelchemiker in Staat und Wirtschaft, die nicht in allgemeinen Systemen und Kriterien denken, sondern sich an Einzelfällen orientieren. Ein erhebliches Problem ist der Widerspruch zwischen dem juristischen Verbraucherleitbild des aufmerksamen, durchschnittlich informierten und vernünftigen Verbrauchers auf der einen Seite und der so völlig anders gearteten Lebenswirklichkeit auf der anderen. Das Internetportal „Klarheit und Wahrheit" mag viele Widersprüche hervorrufen und auch diverse Ungereimtheiten aufweisen, doch es versucht immerhin ein Funktionsdefizit in der Lebensmittelüberwachung auszugleichen. In Deutschland funktioniert traditionell seit 1873 die Lebensmittelüberwachung im Hinblick auf den Gesundheitsschutz auch in ihrer gegenwärtigen Struktur zuverlässig und leistungsfähig. Dies gilt nicht für den Täuschungsschutz. Die Werbestrategien der Unternehmen können mit der gegenwärtigen Struktur der Lebensmittelüberwachung auch nicht annähernd erfasst werden. Auf diesem Gebiet sollte eine professionelle Kompetenz eine Selbstverständlichkeit sein. Die kommunale Organisationsstruktur der Lebensmittelüberwachung kann keine ewige Entschuldigung für das sichtbare Versagen bleiben. Die gefühlte Täuschung ist ein weites Feld. Tatsache ist allerdings auch, dass von dem Internetportal auch Werbemaßnahmen erfasst werden, die als eindeutige Verstöße gegen das Irreführungsverbot zu werten sind und von den staatlichen Institutionen hätten aufgegriffen werden müssen. Interessant war die Bemerkung von Merlin Koene, dass die Unternehmen sich zu wenig um das Thema kümmern; obwohl, wie das Symposium gezeigt hat, es eine Fülle von rechtlichen Verteidigungsmöglichkeiten gibt, wird das Recht von den betroffenen Unternehmen angesichts des negativen medialen Echos nicht mehr wahrgenommen - es ist ein Verzicht auf die Wahrnehmung der subjektiven Rechte, eine Gefährdung des Rechtsstaats. Ein besonders heikler Punkt ist die auch von den Medien geprägte Urteilspsychologie der Berufsrichter, die auch im Genmilch-Urteil des Bundesgerichtshofs sichtbar wird. Darin heißt es, „dass angesichts der heutigen Reizüberflutung auch einprägsame Formulierungen verwendet werden dürfen, selbst wenn sie eine scharfe und abwertende Kritik zum Inhalt haben, und in übersteigender Polemik vorgetragen werden". Innerhalb des juristischen Diskurses würde dieses Thema aber tabuisiert.

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Es waren zwei Frauen, die die Eckpunkte der Veranstaltung setzten. Silvia Liebig als Journalistin mit dem medialen Zerrbild der Lebensmittelwirtschaft, Merlin Koene als Unternehmerin in ihrer Betroffenheit über eine unfaire Berichterstattung in den Medien. Die juristischen Vorträge der Professoren waren Forderungen und Botschaften zur Wahrung der Rechtsordnung, denen Politik und Medien allerdings nicht mehr bedingungslos folgen. In den Vorträgen von Vallet und Wallau wurden dann die Konflikte zwischen Recht und Gesellschaft angesprochen. Es bewahrheitete sich dabei die These von Luhmann (1995, S. 541): „Eine funktional differenzierte Gesellschaft ist alles andere als eine harmonische Gesellschaft mit inhärenten Stabilisierungsgrenzen." Wie geht es weiter? Hier gehe ich nochmals auf Wallau und sein Plädoyer für eine „Kultur der Verantwortung" ein. Dies muss keine Institution sein wie der Presse- oder Werberat. Vielmehr könnte diese auch durch Symposien in Universitäten wie z.B. „Lebensmittel in den Medien" im Bewusstsein verankert werden. Auf die Forschungsstelle wartet somit eine große Aufgabe: nämlich den Versuch zu wagen, die gesellschaftlichen Teilsysteme von Recht und Soziologie zu vernetzen, wie dies zwischen Recht und Naturwissenschaft der Forschungsstelle bisher weitgehend gelungen ist.

Literatur Eberhard Schmauderer (1975), Studien zur Geschichte der Lebensmittelwissenschaft, Wiesbaden. Niklas Luhmann (1995), Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main. Volker Haug (1972), Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft, Frankfurt am Main.

Wilhelm

Meyer

Marx reloaded Anmerkungen zu dem Buch von Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus* „Es kann nicht darum gehen, einen mit Mängeln behafteten Koordinationsmechanismus durch ein ideal funktionierendes Allokationssystem zu ersetzen, sondern es geht um die Wahl zwischen nicht ideal operierenden Systemen unter Effizienzgesichtspunkten." Christian Watrin (1984) Das Buch von Sahra Wagenknecht stellt eine Fundamentalkritik der zeitgenössischen Wirtschaftsordnung dar, die sie durch den Begriff „Kapitalismus" kennzeichnet. Damit sind der Finanzkapitalismus und der damit verbundene Shareholder-Value-Kapitalismus großer Unternehmen gemeint. Alle derzeitigen wirtschaftlichen Übel seien die Folge der Konzentration wirtschaftlicher Macht in Händen von relativ wenigen Privateigentümern. Diese verfolgten ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl der Bürger dieser Welt ihre egoistischen Renditenziele. Diese Wirtschaftsweise bewirke nicht nur die Verarmung eines Großteils der Menschen, sondern mache es auch demokratisch gewählten Regierungen unmöglich, Maßnahmen zur Sicherung des Gemeinwohls zu ergreifen. Deshalb komme es entscheidend darauf an, die Macht des Kapitals zu brechen. Dazu müssten die Geld-Kapitalisten enteignet und das Sachvermögen großer Unternehmen in die Obhut öffentlicher Hände überführt werden. Unternehmen mit mehr als 10 Mrd.

Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus, Verlag Eichbom, Köln 2012, 368 Seiten.

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Euro Umsatz oder mit mehr als 50 000 Beschäftigten stellten Machtbastionen dar und sollten sich unter keinen Umständen in privater Hand befinden (S. 325). Im Übrigen sei die Grundversorgung durch Unternehmen zu erbringen, die dem Gemeinwohl verpflichtet werden könnten, also durch Unternehmen in öffentlichem Eigentum (S. 276). Die Autorin beginnt ihr Buch mit dem Kapitel „Das gebrochene Versprechen Ludwig Erhards" und beendet das Buch mit dem Kapitel Erhard reloaded: Wohlstand für alle, nicht irgendwann, sondern jetzt". Analyse und Art ihrer Argumentation sind so, dass der Titel des Buches auch „Marx reloaded" hätte heißen können. Das Buch von Sahra Wagenknecht wird linke Sozialisten überzeugen. Aber auch der Leser, der mit linkem Sozialismus nichts am Hut hat, dürfte hier und da vom intellektuellen Charme der Autorin angetan sein, sollte sich davon aber nicht verführen lassen. I.

Strategie und Taktik einer Überredung

Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, so wie sie von ihrem Praktiker Alfred MüllerArmack (1947) und ihrem Theoretiker Walter Eucken (1952) entworfen worden ist, dient der Autorin als Rahmen. Sie stellt wesentliche Elemente dieser Konzeption dar: die Forderung zur rechtzeitigen Bekämpfung von wirtschaftlicher Macht, das Prinzip der Haftung, MüllerArmacks Eintreten für eine gemischte Wirtschaft und für kleine und mittelgroße Betriebe sowie seine Betonung des Sozialen in der Marktwirtschaft. Die Folgen von Marktradikalismus und Marktfanatismus der späteren Zeit werden in den folgenden Kapiteln den erhabenen Leitideen der Sozialen Marktwirtschaft gegenübergestellt. Der implizite Vergleich soll dem Leser die Augen öffnen und seine mentale Bereitschaft wecken, einem grundlegenden Wandel der Wirtschaftsordnung zuzustimmen, bedeutet dieser Wandel doch nicht mehr als eine Rückkehr zu den Wurzeln, zu der guten alten Zeit, als der Slogan „Wohlstand für alle" noch keine fromme Lüge war. Diese Strategie wird durch eine Taktik der Argumentation ergänzt, die man listig nennen könnte, wenn man an Reineke den Fuchs denkt. Einige Beispiele mögen das zeigen: Die Argumentation beginnt etwa mit der schönen Frage: „Was ist der Sinn und Zweck einer Volkswirtschaft? Offensichtlich nicht, die Menschen ärmer zu machen, sondern, sie reicher zu machen" (S. 304). Bevor der Leser auf den Gedanken kommen kann, sich zu fragen, ob es denn überhaupt Sinn macht, von dem Zweck einer Volkswirtschaft zu sprechen, oder ob es zutrifft, dass die Menschen im Kapitalismus ärmer geworden sind, wird er mit einer Feststellung konfrontiert, die ihn für den Rettungsschirm der Autorin einzunehmen vermag. Diese Feststellung lautet: „Eine wirtschaftliche Ordnung, in der die Unternehmen nicht der Gesellschaft dienen, sondern sie sich unterwerfen, eine Ordnung, die zur Folge hat, dass der Wohlstand der Mehrheit der Bevölkerung sinkt statt steigt, die vorhandene Kapazitäten ungenutzt lässt (wie allseits bekannt) und Millionen Menschen davon abhält, ihre Qualifikationen und Fähigkeiten überhaupt einzubringen (wie jeder weiß), eine solche wirtschaftliche Ordnung erfüllt ihre wichtigste Aufgabe nicht mehr. Wenn diese Ordnung (wie bekannt) dann noch die natürlichen Lebensgrundlagen der menschlichen Existenz gnadenlos wie ein Uhrwerk Takt um Takt zerstört, hat sie die Schwelle vom Gemeinnutz zur Gemeingefahrlichkeit eindeutig überschritten." (S. 304).

Kann man da wirklich widersprechen? Möchte man eine solche Ordnung? Schon Eucken habe darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht darauf ankomme, welche Ordnungsformen realisiert waren und realisiert sind, sondern darauf, welche möglich sind. Die Autorin zitiert Euckens Forderung: „Es muß eine neue Möglichkeit gefunden werden die sachlich geboten erscheint, eine Ordnungsform, die eine selbständige Lösung darstellt" (S. 319 f.). Genau das sei heute die Aufgabe, erklärt Sahra Wagenknecht uns:

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„Wo weder Regulierung noch Mitbestimmung noch Entflechtung funktioniert, bleibt nur ein Weg, die Kriterien des Wirtschaftens zu verändern: Wir brauchen Konzepte für eine neue Wirtschaftsordnung. Und wir brauchen Vorschläge, wie wir das schon von den Ordoliberalen als zentral erkannte Problem wirtschaftlicher Macht lösen, damit wir in Zukunft wieder in einem demokratischen Gemeinwesen leben können" (S. 320). Ja, wenn selbst Eucken für eine neue Ordnung wäre, die sachlich geboten scheint, dann kann man der Autorin wohl zustimmen. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass es Personen gibt, die eigentlich nichts oder wenig tun, und dennoch viel Geld besitzen. Nichts sei verlogener als die These, wir lebten in einer Leistungsgesellschaft. Wer heute viel leiste, verdiene deshalb noch lange nicht viel. Und dann stellt die Autorin dem Leser die Fangfrage: „Wenn heute alle Unternehmensberater, Investmentbanker und Aktienanalysten tot umfielen oder aber alle Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleute und Altenpfleger - wen würden sie mehr vermissen?" (S. 111 f.). Die Antwort hängt natürlich von der ökonomischen Lage des jeweiligen Lesers ab. Ein Unternehmer, ein Großinvestor oder jemand, der ein gewisses Aktienvermögen besitzt, wird nicht gerne auf guten Rat oder gute Vermittlung verzichten wollen. Aber selbst dieser Personenkreis würde es wohl nicht schätzen, wenn alle Krankenschwestern oder alle Polizisten tot umfielen. Der Ökonom könnte gegen diesen rhetorischen Alternativradikalismus mit einem Grenznutzenargument die unterschiedliche Bewertung der erwähnten Dienstleistungen erklären. Natürlich würde das in der breiten Öffentlichkeit kaum verstanden und eher als ideologische Rechtfertigung oder gar als Zynismus der Ökonomik-Professoren aufgefasst werden. Wirklich wichtig sind nach landläufiger Meinung zweifellos Krankenschwestern, Polizisten etc. Also: Von einer leistungsgerechten Entlohnung kann im Kapitalismus keine Rede sein. Die These der Autorin von der Unterbezahlung der Leistungsträger in der kapitalistischen Gesellschaft darf auf breite Zustimmung hoffen. Reineke der Fuchs lässt grüßen. Angesichts der fortgeschrittenen Konzentration von Wirtschaftsmacht müsse ernsthaft überlegt werden, ob Großunternehmen von gesamtwirtschaftlicher Relevanz Privateigentum beliebiger Inhaber sein können (S. 322). Allerdings sei es nicht einfach, die Grenze zu bestimmen, wo private Geschäftstätigkeit endet und gesellschaftliche Macht beginnt. Zur Abgrenzung der jeweiligen Machtbereiche schlägt die Autorin drei Kriterien vor. Sie sollen dazu dienen, gemeinwohlrelevante von privaten Geschäftsfeldern zu unterscheiden; diese Kriterien sind: (1) die marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens, (2) seine Bedeutung für Beschäftigung und Investition in einer wichtigen Branche, (3) die Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung (S. 124). Dass es überhaupt sinnvoll ist, staatliche Aufgabenbereiche von nichtstaatlichen zu unterscheiden, ist unstrittig, und so könnte man sich darauf einlassen, die genannten Kriterien zu diskutieren. Aber damit säße man schon in der Falle der listigen Autorin. Man hätte dann anerkannt, dass private Geschäftstätigkeit großer Unternehmen nicht gemeinwohlrelevant ist. Man benötigt nicht die ironische These von Mandeville (1980, S. 134): „Der Allerschlechteste sogar fürs Allgemeinwohl tätig war", um zu sehen, was ein Einlassen auf die Kriterien implizit bedeutet: VW, BMW, Daimler, Ölversorger und große Hafenanlagen können niemals gemeinwohlrelevant sein, da sie privat betrieben werden. Wer die These vertritt, private Geschäftstätigkeit könnte nicht gemeinwohlrelevant sein, zeigt damit, dass er das Wesen einer Marktwirtschaft nicht verstanden hat. Es ist richtig, dass private Tauschhandlungen nicht mit der Absicht getätigt werden, das Gemeinwohl zu befördern. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Resultate von marktwirtschaftlichen Interaktionen, nämlich die Versorgung der Konsumenten zu kostengünstigen Preisen, nicht gemeinwohlrelevant sind. Die Produktion von Rohstoffen, ihr Transport zu den Verarbeitern, die Erzeugung von Vorleistungen für andere Unternehmen, Lagerung und in den Verkehr bringen von Halb- und Fertigwaren, Vertrieb von Waren an Konsumenten, Bereitstellung von Eigen- und Fremdkapital, zeitliche Disposition der verfügbaren Mittel, Einstellung und Ausbildung von Arbeitskräften, Erschließung neuer Märkte: All diese Aktivitäten werden nicht unternommen, um fremde Men-

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sehen irgendwo in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Wünsche - jetzt oder später - zu erfüllen. Dennoch erfüllt die Marktwirtschaft genau diese Wünsche; sie erfüllt nicht alle Wünsche, aber die meisten. Und sie erfüllt diese Wünsche ohne einen darauf gerichteten übergeordneten Willen. II.

Kleine Unwahrheiten und großer Hass

Das Buch Freiheit statt Kapitalismus ist kein wissenschaftliches Werk. Wie andere Bücher mit ähnlicher Zielsetzung, nämlich Anhänger für eine politische Partei zu gewinnen und Zweifelnde zu überzeugen, werden viele Zahlen zur Unterstützung der eigenen Auffassung bemüht. Zahlen vermitteln offenbar den Eindruck von unbezweifelbaren Wahrheiten. Nicht alle in dem Buch verwendeten Zahlen sind zutreffend, einige stellen Unwahrheiten dar: „In Deutschland sind die privaten Geldvermögen von 1998 bis 2010 von 3,1 Billionen auf 4,9 Billionen Euro angeschwollen." Das ist zutreffend. „Diese zusätzlichen fast 2 Billionen Euro befinden sich fast ausnahmslos auf den Konten der Millionäre und Multimillionäre" (S. 188). Kann das stimmen? Zur Unterstützung ihrer Behauptung, der gesamte Vermögenszuwachs von etwa zwei Billionen Euro befände sich fast ausnahmslos auf den Konten der Millionäre, führt die Autorin die Veränderung der Spareinlagen an: „Die Spareinlagen der Mehrheit der Bevölkerung (sind) sogar geschrumpft." (S. 188) Trifft das zu? Tatsächlich: Im 4. Quartal 1998 betrug der Bestand an Spareinlagen privater Haushalte 703 Mrd. Euro; er fallt auf 530 Mrd. Euro im 4. Quartal 2008. Erklärung: Die Entwicklung der Zinsen hat die privaten Haushalte zur Umschichtung ihrer Geldvermögen veranlasst. Zum Beispiel sind die Termineinlagen von 151 Mrd. Euro im 4. Quartal 1998 auf 401 Mrd. Euro im 4. Quartal 2008 gestiegen. Spareinlagen und Termineinlagen sind in der Zeit von 1998 bis 2008 also insgesamt von 863 Mrd. Euro auf 932 Mrd. Euro gestiegen. Außerdem sind umfangreiche Umschichtungen auf Tagesgeldkonten sowie erhebliche Geldanlagen bei Bausparkassen und Versicherungen zu berücksichtigen. Es kann also keine Rede davon sein, die Geldvermögenszunahme wäre allein den Reichen zugute gekommen, wie die Autorin suggeriert. Da die Autorin offenbar davon ausgeht, dass ein Haushalt mit einem Normaleinkommen nur wenig sparen kann, verwundert es, wenn sie zur Lösung der Staatsschuldenkrise vorschlägt: 1. die Staaten der Eurozone sollten ihre Altschulden in Höhe von 50 % oder 75 % oder gar 100 % streichen, dabei jedoch 2. die Enteignung echter Spargelder vermeiden und die Sparer bis zu 500.000 Euro von der Enteignung ausnehmen (S. 198 f.) Man fragt sich, welcher private Haushalt wohl über 500.000 Euro Geldvermögen verfügt. Vielleicht sind das gerade ihre guten Freunde und Bekannten. Die wären natürlich zu schonen. Zurück zum Kaiserreich? Die sozialen Kontraste in der Bundesrepublik seien heute größer als 1913. Damals „lag der Anteil der unteren Hälfte der Bevölkerung am Einkommenskuchen immerhin bei 24 %", heute „fallen für diese Hälfte nur noch 14,9 % der gesamten Einkünfte ab" (S. 139). Vermutlich sind mit „gesamten Einkünften" die Erwerbs- und Vermögenseinkünfte vor Steuerabzug gemeint, also die Primäreinkommen. Aber der bundesdeutsche Sozialstaat belässt es dabei bekanntlich nicht. So betrug der Anteil der unteren Hälfte der Haushalte am „Einkommenskuchen" 1981 in der Bundesrepublik nur 13,5 %. Unter Berücksichtigung der Transferleistungen und der direkten Steuern entfielen auf die untere Hälfte der Haushalte 26,8 % der Jahresnettoeinkommen (Stobbe 1984, S. 329, nach Interpolation der dort angegebenen Werte). Zieht man den Sachverständigenrat zu Rate, so erfahrt man, dass auf die untere Hälfte der Ä?£7>-Stichprobe etwa 30,9 % des Nettoeinkommens entfallen (SVR 2000/2001, S. 264). Die Behauptung der Autorin ist scheinheilig. Der frühere Sc/iumpeter-Kapitalismus mit seinen innovativen Eigentümerunternehmern hätte der westlichen Welt - von den Arbeitern abgesehen - Wohlstand und Fortschritt gebracht. Das Ergebnis des heutigen Manager- und Shareholder-Kapitalismus hingegen hätte die Innovations-

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fahigkeit der Wirtschaft verringert und die technologische Entwicklung gebremst (S. 110). Was die Entwicklung der ganzen Welt anbetrifft, so ist es schwer, eine solche globale Behauptung zu beurteilen. Für Deutschland scheint die These der Autorin nicht zuzutreffen. „Es gibt kein Industrieland, in dem der Wertschöpfungsanteil der hochtechnologischen und wissensbasierten Produkte höher ist als in Deutschland. Insbesondere der Anteil hochwertiger Technologie und Spitzentechnik ist mit knapp 15 % deutlich höher als in anderen großen Industrieländern" {Rürup und Heilmann 2012, S. 19). Der reale Nettoverdienst eines Beschäftigten in Deutschland soll 2006 unter dem Niveau des durchschnittlichen Nettoverdienstes im Jahre 1986 gelegen haben (S. 139). Das ist kaum zu glauben, weil es für 1986 keine Angaben für Gesamtdeutschland gegeben hat. Tatsache ist, dass die durchschnittliche reale Bruttolohn- und Gehaltssumme je beschäftigten Arbeitnehmer von 1991 bis 2006 um etwa 1,4 % gestiegen ist. Dass sich die „Lebensverhältnisse von Mehrheiten verschlechtert" hätten, kann man nicht erkennen, wohl aber die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft, die ihr den Ehrentitel „kranker Mann Europas" eingebracht hat. Die Reformen des Arbeitsmarkts und des Steuersystems - „vor allem für Unternehmen" (Rürup und Heilmann 2012, S. 19) - haben die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft inzwischen verbessert. Es ist nicht die marktwirtschaftlich Ordnung, die Wachstum verhindert, es sind die mit einer Marktwirtschaft nicht vereinbaren staatlichen Regulierungen, die den willigen Akteuren Fesseln anlegen. Zu diesen willigen Akteuren gehören auch die wohlhabenden Familien: die Klottens, die Porsches, die Piecks, die Quandts, die Haniels, die Oetkers, die Brenninkmeyers und weitere „renditenhungrige Familienclans" (S. 106), die die Autorin - eine Jeanne D'Are des Antikapitalismus - mit Eifer brandmarkt und in die Ecke der gesellschaftlich unerwünschten Personen stellt. Waren es früher alle Unternehmer schlechthin, die man als Ausbeuter der Arbeitskraft zu beschimpfen pflegte, so hat der Neue Antikapitalismus ein neues soziologisches Objekt des Hasses entdeckt: die Klasse der Reichen und Superreichen, die Finanzmarktjongleure und Renditenjäger. „Wir fordern den sanften Tod der Renditenjongleure", soll Keynes einmal gesagt haben, vermutlich, nachdem er fast sein ganzes Vermögen an der Börse verloren hatte. Diese Forderung hört man von der Autorin nicht, wohl aber den Vorschlag, mittels Keynesscher Nachfragepolitik die Wirtschaft auf den Wachstumspfad zu bringen. III.

Geldzauber und Kreislaufschwindel

Geldzauber. Die Entstehung von Geld und die Schöpfung von Kredit sind für NichtÖkonomen meist rätselhafte Vorgänge. Die Autorin versteht es wirklich gut, dem Laien darzulegen, wie „Geld aus dem Nichts" geschaffen wird und welche Rolle Banken und Kreditgewährung dabei spielen. Über Sinn und Funktionsweise der Basel III genannten aufsichtsrechtlichen Bestimmungen wird der Leser ebenfalls kenntnisreich ins Bild gesetzt. Die Vorschrift, dass eine Bank nicht ihre gesamten Kredite, sondern nur ihre risikogewichteten Aktiva mit 8 Prozent Eigenkapital unterlegen muss, findet eine anschauliche Erläuterung. Kredite erhalten schuldnerspezifische Risikogewichte: Für die Kreditvergabe an Banken in OECD-Staaten gilt ein Gewicht von 20 %, für Unternehmenskredite ist das Gewicht wesentlich höher, für Kredite an OECD-Staaten ist es null. Hat eine Bank für Kredite eine Kreditausfallversicherung abgeschlossen (CDS), so benötigt sie dafür keine Eigenkapitalunterlegung. Für Banken ist die Kreditaufnahme bei anderen Banken scheinbar eine schier unerschöpfliche Geldquelle: Vergibt eine Bank einen Kredit über eine Million Euro an eine andere Bank, so benötigt sie 8 Prozent von 20 Prozent der Kreditsumme, also 1,6 Prozent der Kreditsumme, mithin nur 16 000 Euro Eigenkapitalunterlegung. Das heißt: Mit einem Euro zusätzlichem Eigenkapital kann eine Bank einer anderen Bank 62,5 Euro Kredit gewähren (S. 72). Dieser Kredit kostet Zinsen, die sich aber leicht durch Anlage eines Teils des aufgenommenen Kredits beschaffen lassen. Eine Anlage zu 5 Prozent würde nur 37,5 Euro Einsatz erfordern, um einen Interbankenzins von 3 Prozent aufzubringen (37,5 mal 0,05 = 62,5 mal 0,03 = 1,875). Der Rest in Höhe von 25 Euro - „geschenktes Geld" (S. 75) - steht zur freien Verfügung. Das Ganze

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funktioniert natürlich nur, wenn eine hinreichende Differenz zwischen den jeweiligen Zinssätzen besteht. Aber nehmen wir doch einmal einfach an, der Interbankenzins betrüge 3 Prozent und es gäbe „US-Staatsanleihen, die sich mit 5 Prozent rentieren" (S. 75), dann würde die Schlussfolgerung: die Banken verfügen über eine Geldmaschine, doch zutreffen oder etwa nicht? Schumpeter hat diese Art der Beweisführung das „Ricardianische Übel" genannt. Es besteht darin, einfach einmal anzunehmen, was man braucht, um ein deduktives Argument zu machen, mit dem man den Leser verblüfft (Schumpeter 1965, S 583 f.). Sollte der Zinssatz für Interbankenkredit höher sein als der Zins für sichere Staatsanleihen, könnte diese Art Arbitrage (man könnte sie die Wagenknecht-Arbitrage nennen) nicht erfolgreich sein. Und wenn die Banken sich gegenseitig keine Kredite mehr geben, ist die ganze Rechnung sowieso Makulatur. Wenn die Banken die Wagenknecht-Arbitrage einsetzen könnten: Ich gebe dir eine Million Euro Eigenkapital und du gibst mit dann 62,5 Millionen Euro Kredit, dann wären Griechenland, Spanien und Italien vermutlich die Ersten, die davon Gebrauch gemacht hätten. Es gäbe viele Schulden, aber keine Schuldenkrise; auch Bankenkrisen ließen sich dann leicht vermeiden, denn die Banken blieben immer zahlungsfähig. Eine zauberhafte Welt. Kreislaufschwindel. Gewinn entsteht, wenn der Erlös die Kosten übersteigt. Das sei eine Wahrheit, die einer (bürgerlich) verengten Sicht entstamme. Der wahre Grund, die wesentliche Ursache für den Profit in einer Volkswirtschaft seien die Investitionen der Unternehmen (S. 127). Die einzelwirtschaftlichen Handlungen täuschten eine Gewinnabhängigkeit der Investitionen nur vor, sie seien etwas für den Kaufmann. Die fundamentalen Beziehungen zwischen Profit und Investition erfordern die Übersicht des Volkswirts. Nur von einem höheren Standpunkt aus könne man die tiefere Wahrheit volkswirtschaftlicher Kreislaufzusammenhänge erkennen. Nun zeigten die kreislauftheoretischen Begriffe eindeutig, dass die Investitionen eine notwendige Voraussetzung für die Profite einer Volkswirtschaft sind: Ohne Investitionen kein Profit. Hier werden die logischen Beziehungen zwischen Begriffen einer Theorie mit den ursächlichen Beziehungen zwischen Sachverhalten konfundiert. Deshalb nenne ich solche Analysen und die daraus resultierenden politischen Vorschläge Kreislaufschwindel. Im Modell einer nach außen geschlossenen Volkswirtschaft werden Ausgaben von privaten Haushalten, von öffentlichen Haushalten (Staat) und von Unternehmen getätigt. Die Ausgaben setzen Einnahmen voraus. Es gilt die Kreislauftautologie: Ohne Ausgaben keine Einnahmen, ohne Einnahmen keine Ausgaben. Das Wirtschaftsergebnis, also die Gesamtheit der erzeugten Güter und in Anspruch genommenen Dienstleistungen (ohne die Ersatzinvestitionen) ordnet die Autorin dem Kollektiv der Lohnempfänger, dem Kollektiv der Gewinnempfänger und dem Staat zu. Diese Güterzuordnung entspricht der Aufteilung des Volkseinkommens auf die Kollektive: dem verfugbaren Einkommen der Lohnempfänger, dem verfügbaren Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen und den Einnahmen des Staates (ohne Kreditaufnahme). Der Wert der Lohngüter entspricht dem verfugbaren Einkommen der Lohnempfänger, der Wert der vom Staat bereitgestellten Güter entspricht den Staatseinnahmen. Dahinter steht die Annahme, dass die Lohnempfänger das verfügbare Einkommen vollständig ausgeben, also nicht sparen, und auch der Staat ebenfalls keine Überschüsse macht. Von möglichen partiellen Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage wird abgesehen, es wird einfach angenommen, es gäbe sie nicht. Damit ist logisch gesichert, dass ein großer Teil der in der Volkswirtschaft erzeugten Produkte bzw. bereitgestellten Dienstleistungen Absatz findet. Bleiben die Investitionsgüter. Deren Absatz müsste mit den Ersparnissen der Bezieher von Einkommen aus Gewinn und Vermögen übereinstimmen (Von Ersatzinvestitionen wird abgesehen, sie gehören nicht zum Volkseinkommen).

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In Deutschland wird den Profitempfängern mit 600 Mrd. Euro „ein Drittel der Wirtschaftsleistung (gleich ein Drittel des Volkseinkommens) zu Füßen gelegt" (S. 130). Selbst nach Abzug von Steuerschulden, die sowieso nur zum Teil beglichen würden, bliebe sehr viel Geld in sehr wenigen Händen. Da müsse man sich wirklich besorgt fragen: „Wie soll nun aber diese Handvoll Leute, denen ein Drittel der Wirtschaftsleistung zu Füßen gelegt wird, dieses ganz viele Geld ausgeben? Zumal sie großenteils längst Villen und Schlösser, Wälder und Seen, Yachten und Maseratis, Nerze und Diamantenkolliers in ausreichender Zahl ihr Eigen nennen. Was sollen diese armen Seelen denn noch kaufen?" (S. 130). Sicher eine berechtigte Frage. Was tun? Man könnte an die Nettoinvestition denken. Ja, aber die sind in Deutschland sehr gering und liegen seit Jahren unter 100 Mrd. Euro. Das ist weniger als ein Sechstel des Profitstücks am Volkseinkommen. Im Umfang von 500 Mrd. Euro fehlt Nachfrage. Das ist offenbar eine höchst prekäre Situation, möchte die Autorin dem Leser nahe legen. Sie könne - rein logisch gesehen — durch Umverteilung des Gewinns und des Einkommens aus Vermögen zugunsten des Einkommens der privaten Haushalte und zugunsten der Einnahmen der öffentlichen Haushalte gemeistert werden: Fragen die Kapitalisten zu wenig Inlandsgüter nach, sind Staat und private Haushalte gerne bereit, einzuspringen. Man könnte mit 500 Mrd. Euro rechnen, jährlich. Die Gleichheit von Ausgaben und Einnahmen wäre wieder hergestellt und für Nettoinvestitionen bliebe auch noch genug Einkommen übrig. Man hätte ein schönes neues Gleichgewicht. Kreislaufschwindel. IV.

Der gute Staat und wahres Eigentum

Es gibt keine vollkommenen sozialen Institutionen. Die Umsetzung von klugen und kenntnisreichen Entwürfen zeigt immer Fehlentwicklungen der einen oder anderen Art. Das gilt auch für die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Es kommt darauf an, die Mängel zu identifizieren, ihre Ursachen zu erkennen und Vorschläge ihrer Beseitigung auszuarbeiten. So geht auch Sahra Wagenknecht vor. Im ersten Teil des Buches wird das sozial Destruktive des heutigen Kapitalismus enthüllt. Der zweite Teil bietet dem Leser unter dem Titel „Kreativer Sozialismus: Einfach. Produktiv. Gerecht" ein Programm zur Beseitigung der schreienden Mängel des durch den Marktradikalismus ruinierten Systems der Sozialen Marktwirtschaft. Die Autorin diagnostiziert zutreffend „den Schuldenmorast, in dem die heutige Politik so hilflos und konzeptionslos herumwatet" (S. 201). Aus diesem Sumpf gebe es einen Ausweg. Er umfasse die folgenden Maßnahmen, von denen keine fehlen dürfe: (1) Streichung der Altschulden der EU-Staaten, (2) Verstaatlichung der großen Finanzkonzerne, (3) Refinanzierung der verstaatlichten Institute durch eine einmalige Abgabe auf das Vermögen der Millionäre und Multimillionäre, (4) radikale Umverteilung von oben nach unten, (5) Finanzierung von Haushaltsdefiziten zwecks Konjunktursteuerung über die EZB (S. 201 f.). Was wohl Walter Euchen und Alfred Müller-Armack zu diesem ordnungspolitisch originellen Vorschlag sagen würden? Vermutlich: Göttliche Komödie, Inferno III: Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Ökonomen sind durchweg der Meinung, dass die Privatisierung von Unternehmen die Effizienz des Faktoreinsatzes erhöht. Dazu gibt es zahlreiche Untersuchungen (Frankfurter Institut 1993, S. 23). Die theoretische Grundlage für die Vermutung liefert die Property Rights Theorie. Aus ihr ergibt sich folgende empirisch prüfbare Hypothese (Meyer 1983, S. 28): „Private Unternehmen haben bei jedem Produktionsumfang niedrigere Produktionskosten als öffentliche oder als gemeinnützige Unternehmen." Nach der Autorin ist die Privatisierung öffentlicher Unternehmen fast durchgängig gescheitert. Es werden Beispiele aus Großbritannien, Österreich, aus Peru und Südafrika genannt, es werden „Schwarzbücher" genannte Studien angeführt und Meinungen von öffentlich bekannten Autoren wie Ulrich von Weizsäcker zitiert, die ihre „Bedenken" geäußert haben. Ich habe aber kein Argument gefunden, dass die oben genannte ökonomische Hypothese widerlegt hat. Die

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Autorin gibt schließlich zu, Heerscharen von Autoren hätten die wirtschaftliche Unterlegenheit staatlicher Unternehmen, gemessen anhand der geringeren Renditen, nachgewiesen (S.302). Dabei unterschlägt sie eine nicht unwichtige Tatsache: Nicht nur sind die Renditen von staatlichen Unternehmen meist gering, diese Unternehmen können oft ohne staatliche Subventionen am Markt gar nicht bestehen. Nicht der die Leistung Nachfragende, sondern Dritte müssen für die Kosten aufkommen. Renditen sind das Resultat von Kosten und Preisen. Die neuen, privaten Eigentümer von natürlichen Monopolen - Strom, Wasser, Wärme, Verkehr - würden die hohen Renditen durch rabiate Kostensparprogramme, aber auch durch unverschämte Preiserhöhungen erzielen. „Nach der Privatisierung kostet die gleiche Leistung in der Regel ein Mehrfaches dessen, was früher staatliche Anbieter verlangt haben. Die Privatisierungsdividende für deutsche Haushalte im Bereich Energie etwa liegt in dem Luxus, sich von nunmehr vier Monopolisten Spitzenpreise diktieren zu lassen" (S. 256). Was die Haushaltspreise für Strom angeht: Die Preise in Ct. je kWh für einen Drei-PersonenHaushalt und einem Jahresverbrauch von 3500 kWh sind im Zeitraum von 2001 bis 2011 von 13,9 Ct. auf 26,7 Ct. gestiegen, also um 92 Prozent. Das ist viel im Vergleich zur Veränderung des Preisindexes für die Lebenshaltung. Der Teil, den die öffentlichen Hände beansprucht haben, ist von 5,32 Ct. auf 12,8 Ct., also um 140 Prozent gestiegen. Der Teil, der auf Erzeugung, Transport und Vertrieb entfällt, steigt von 8,62 Ct. auf 13,89 Ct., also um 62 Prozent. Die Kosten der Stromerzeugung hängen wesentlich von den Einfuhrpreisen für Rohöl, Erdgas und Steinkohle ab. Im Zeitraum von 2000 bis 2011 steigen die Einfuhrpreise für Rohöl um 280 Prozent, die für Erdgas und Steinkohle um 140 Prozent. Damit kann man zwei Preistreiber erkennen: Die Rohstoffe und den Staat, der natürlich nur Gutes bezweckt. Im Übrigen darf man sich nicht wundern, dass die Übernahme eines defizitären öffentlichen Unternehmens neben Kostensenkungen auch Preisanhebungen erforderlich machen kann. Sind solche Preiserhöhungen auf missbräuchliche Ausnutzung einer dominanten Marktposition zurückzufuhren, so liegt ein Versagen der staatlichen Missbrauchskontrolle vor. Ein „guter" Staat sollte in der Lage sein, für eine wirksame Missbrauchskontrolle zu sorgen. Nach der Autorin hat der gute Staat für ein anderes Geschäftsmodell zu sorgen, wenn es um Leistungen der Grundversorgung wie Wasser, Energie, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Mietwohnung geht. In diesem neuen Geschäftsmodell gilt die Maxime: Gemeinwohl vor Gewinn. Und dann präsentiert sie ihr Gemeinwohlaxiom: „Leistungen für alle zu moderaten Preisen, abgesichert durch Sozialtarife für Geringverdienende. Gemeinwohl heißt aber auch: Umweltgesichtspunkte sind wichtiger als Rentabilität, Nah- und Fernverkehr müssen vor allem attraktiv sein und sich nicht unbedingt rechnen" (S. 273). Wenn man das liest, versteht man recht gut, warum es in Europa Staaten gibt, deren Politiker nicht in der Lage sind, die am Gemeinwohl orientierten Ausgaben ordentlich, das heißt ohne Überschuldung, zu finanzieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Europa eine Welle der Verstaatlichungen. Die dabei entstandenen staatlichen Unternehmen werden von der Autorin als Beispiele für erfolgreiche Industrie- und Modernisierungspolitik dargestellt. Überall hätte der Staat etwas Gutes bewirkt. Das dürfte zutreffen, etwas Gutes findet man immer, bei fast allen Staaten. Aber gerade die Wirtschafts- und Finanzpolitik der britischen Regierungen vor Thatcher anzuempfehlen, verwundert nun doch etwas. Die Willkür der Gewerkschaften in Verbindung mit der Politik des Stop and Go hat den Ruin des Landes verursacht - England galt vor Thatcher als der kranke Mann Europas. Dies ist der Autorin anscheinend entgangen. Von den 15 verstaatlichten großen Industrien Großbritanniens hatten 13 für das Fiskaljahr 1980-1981 ein Finanzierungsdefizit von insgesamt 11,8 Mrd. DM ausgewiesen. Die nationalen Goldstücke, die Monopole „National Coal" und „British Railways", meldeten schon alleine ein Finanzierungsdefizit von etwa 6 Mrd. DM an. (Curzon Price 1982, S. 50; Pfundwerte mit dem Wechselkurs von 1979 umgerechnet). Nachahmenswert ist das nicht.

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Der tiefere Kern der Misere des Kapitalismus ist für Linkssozialisten das Privateigentum an Unternehmungen. Aber wie schön wäre es für Linkssozialisten, wenn Privateigentum schlechthin gar nicht zu begründen wäre? „Für John Locke, den großen Philosophen und Aufklärer und Vater des Liberalismus, war die entscheidende Grundlage für die Entstehung von Eigentum die menschliche Arbeit." (S. 328) Diese Auffassung habe sich bis heute in den Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches erhalten. Und dann zitiert Sahra Wagenknecht § 950 Absatz 1 Satz 1 des BGB: „Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache". In der Realität, so die Autorin, lebten die, die arbeiten, heute vielfach von der Hand in den Mund, wirtschaftliches Eigentum stehe überwiegend Leuten zu, die nicht arbeiten. Somit sei es doch nur im Sinne der Prinzipien von Locke und des BGB, eine grundlegend andere Ordnung des wirtschaftlichen Eigentums zu verlangen (S. 328). Das Studium in Köln erforderte zu meiner Zeit von den angehenden Volkswirten eine eingehende Beschäftigung mit dem BGB. Das Juristische Lernbuch von Wolfgang Kallwass, mit dem man sich damals zu befassen hatte, bringt zum § 950 BGB folgende Erläuterung: „Das Eigentum steht nicht in jedem Falle dem zu, der die Verarbeitung persönlich durchfuhrt. Erfolgt die Verarbeitung in einem Betrieb durch die dort Beschäftigten [...], so erwerben nicht diese das Eigentum an der neuen Sache, sondern der Betriebsinhaber, der die Verarbeitung durchführen lässt" (Kallwass 1958, S. 82). Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Lockes Vorschlag einer philosophischen Begründung des Eigentums von der damals beliebten Fiktion eines Naturzustandes ausging. Man stellte sich die Frage, welche Art der Aneignung eines Gegenstandes am ehesten allgemeiner Zustimmung fähig wäre: Gewalt oder Arbeit. Da ist natürlich das „Prinzip Arbeit" dem „Prinzip Gewalt" vorzuziehen. Was kein öffentliches Gut im Sinne der Ökonomik ist, ist prinzipiell eigentumsfahig im Sinne des BGB. Die Verfassungen schließen aber bestimmte Güter aus der Klasse der rechtlich eigentumsfähigen Güter aus. Zum Beispiel Eigentum an Menschen. Es gibt also eigentumsunfähige Gegenstände oder Bereiche. Nach Auffassung der Autorin ist ein Großunternehmen keine Privatangelegenheit, Privateigentum verkörpere in diesem Falle „Herrschaft über Menschen" (S. 321), ähnlich wie im Falle der Sklaverei. Deshalb verstoße es nicht gegen die Verfassung, wenn man sehr große Unternehmen in die Klasse der eigentumsunfähigen Gegenstände aufnehme. Eine Enteignung gemäß Art. 14 Absatz 3 Grundgesetz wäre dann auch ohne Entschädigung möglich, wie der ehemalige Hamburger Professor für öffentliches Recht Helmut Rittstieg schon 1975 in einer exzellenten Studie über „Eigentum als Verfassungsproblem" erkannt habe. Der hier angesprochene Art. 14 Grundgesetz enthält eine Institutsgarantie, das heißt: Der Gesetzgeber kann weder das Rechtsinstitut Eigentum beseitigen noch in seinem Wesensgehalt einschränken. Art. 14 Grundgesetz enthält femer eine Individualgarantie. Sie schützt subjektive Rechte des Einzelnen gegen hoheitliche Eingriffe. In seinem Investitionshilfeurteil des Jahres 1954 hat das Bundesverfassungsgericht die Formel von der „wirtschaftspolitischen Neutralität" des Grundgesetzes geprägt. Das bedeutet aber nur, dass bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung einer staatlichen Maßnahme die „Wirtschaftsverfassung" keine selbständige Prüfkategorie ist. Wie Möschel (2002, S. 149) darlegt, gelten unmittelbar die einzelnen Grundrechte selbst: „Dass sich aus der Zusammenschau von Gewährleistung des Eigentums in Art. 14 Grundgesetz, der Berufsfreiheit in Art. 12 Grundgesetz, der Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Grundgesetz und der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Grundgesetz ein faktischer Regelzusammenhang ergibt, der zu den Voraussetzungen einer verkehrswirtschaftlichen Ordnung gehört, ist schlechterdings nicht zu bestreiten." Der gute Staat hängt von der Beschränkung der Allmacht der Parlamentsmehrheit durch eine Verfassung wie der unsrigen ab. Zum guten Staat gehören aber auch die Traditionen einer Gesellschaft: „Bloße Institutionen genügen nie, wenn sie nicht in Traditionen wurzeln. Die jeweiligen Traditionen sind notwendig, um eine Art Bindeglied zu schaffen zwischen den Institutionen und den Intentionen und den Wertbegriffen der Individuen. [...] Unter den Institutionen müssen wir jene zu den wichtigsten zählen, die den ,moralischen Rahmen' einer Gesellschaft bilden,

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und die ihren überlieferten Sinn für Gerechtigkeit und Anständigkeit verkörpern" ( P o p p e r 1984, S. 170 ff.). Großunternehmen und Großbanken sind keine politischen Institutionen, die einen sozialen Auftrag zu erfüllen haben. Aber rücksichtslose Verfolgung eigener Interessen durch Akteure und Leiter von wirtschaftlichen Großgebilden kann die Akzeptanz einer freien Wirtschaft durch die Öffentlichkeit unterminieren. Nebenbei: Einige internationale Sportverbände scheinen alles zu tun, um den überlieferten Sinn für Anständigkeit im Sport auszulöschen. Im Übrigen: Freiheit kommt in dem Buch von Sahra Wagenknecht nur einmal vor: im Titel des Buches.

Literatur Curzon Price, Victoria (1982), Structural Aspects of the Thatcher Experiment, ORDO, Bd. 33, S. 39-60. Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen. Frankfurter Institut (1993), Privatisierung auch im Westen, Schriftenreihe: Band 26. Kallwass, Wolfgang (1958), Juristisches Lernbuch, Köln. Meyer, Wilhelm (1983), Entwicklung und Bedeutung des Property Rights Ansatzes in der Nationalökonomie, in: Alfred Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München, S. 1-44. Möschel, Wernhard (2002), Funktionen einer Eigentumsordnung, ORDO, Bd. 53, S. 145-154. Müller-Armack, Alfred (1947), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg. Popper, Karl R. (1984), Auf der Suche nach einer besseren Welt, München und Zürich. Rürup, Bert und Dirk Heilmann (2012), Fette Jahre, München Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR 2000/01), Chancen auf einen höheren Wachstumspfad, Stuttgart. Schumpeter, Joseph A. (1965), Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband, Göttingen. Stobbe, Alfred (1984), Volkswirtschaftslehre I. Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, 6. Auflage, Berlin und Heidelberg. Watrin, Christian (1984), Staatsaufgaben - die ökonomische Sicht, Bitburger Gespräche. Jahrgang 1984, München, S. 41-68.

Rigmar Osterkamp

Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Heinz Lantpert und Albrecht Bossert* „Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland" von Heinz Lampert (ehemals Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Augsburg, 2007 verstorben) und Albrecht Bossert (Akademischer Direktor an der Universität Augsburg) liegt nun bereits in der 17. Auflage vor. Das Buch hat auch international eine weite Verbreitung gefunden, was an der Übersetzung in sieben Sprachen deutlich wird. Es ist in fünf Teile gegliedert: 1. Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftsordnungen; 2. Die Entstehung der sozialen Marktwirtschaft; 3. Die Europäische Union als Rahmen für die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik; 4.

Heinz Lampert und Albrecht Bossert, Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union, 17. Aufl., Verlag Olzog, München 2011, 509 Seiten.

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Die derzeitige Gestalt der sozialen Marktwirtschaft; 5. Krise der sozialen Marktwirtschaft? Der 4. Teil ist der Schwerpunkt des Buches und macht mehr als die Hälfte seines Umfangs aus. Das Buch gibt einen systematischen Überblick über die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland und der EU. Es ist materialreich, geht dabei teils sehr ins Detail und ist allgemeinverständlich geschrieben. In den Augen des Rezensenten weist es jedoch zwei Hauptmängel auf: Der eine besteht darin, dass wichtige ordnungspolitisch relevante Regelungen und ordnungspolitische Mängel nicht erwähnt werden. Der andere Mangel besteht darin, dass zentrale Aussagen des Buches uneinheitlich, teils sogar widersprüchlich, teils auch fragwürdig sind. Zunächst zu den bedauerlichen Auslassungen. Im 3. Teil (Europäische Union) wäre es - unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten - angebracht gewesen, das Beistandsverbot des Art. 125 AEUV oder die Problematik einer „Transferunion" anzusprechen. Das Verbot von Krediten der EZB an den öffentlichen Sektor wird erwähnt, nicht aber die Möglichkeit, das Verbot zu umgehen - bereits seit Mitte 2010 von der EZB intensiv praktiziert. Im Unterkapitel „Die Ordnung des Arbeitsmarkts" (4. Teil) erwähnen die Autoren nicht die gefahrliche Entwicklung von Einheits- oder Industriegewerkschaften zu Sparten- oder Berufsgewerkschaften, das Gebot der Friedenspflicht während der Laufzeit eines Tarifvertrags oder die Problematik des Warnstreiks. Hier wäre auch der Platz gewesen, auf die seit langem geführte Diskussion über Mindestlöhne einzugehen und sie ordnungspolitisch einzuordnen. Der Begriff Allgemeinverbindlichkeitserklärung wird erwähnt, es wird aber nicht die damit verbundene Problematik erörtert. Die der Mitbestimmung zugrunde liegenden Regelungen werden ausfuhrlich beschrieben. Es bleibt aber unerwähnt, dass bei Einführung der Mitbestimmung eine ordnungspolitische Alternative zur Debatte gestanden hatte: der Investivlohn. Angesichts der internationalen Finanzkrise von 2008, die auch Deutschland betraf und die wesentlich auf das Fehlen eines geeigneten Ordnungsrahmens zurückzuführen ist, erstaunt es, dass ein 2011 publiziertes Buch sich der „Ordnung des Kreditwesens" auf lediglich zwei Seiten annimmt. In diesem schmalen Text werden weder die vorgenommenen Stützungsmaßnahmen für Banken ordnungspolitisch interpretiert noch die ordnungspolitischen Mängel benannt, die zu den Stützungsmaßnahmen geführt haben und auf ordnungspolitischen Reformbedarf gegen systemische Finanzmarkt-Risiken hinweisen. Spätestens seit 2008 ist in manchen Ländern Europas eine Krise der Staatsverschuldung offensichtlich geworden. Davon ist auch Deutschland zumindest betroffen, wenn es nicht sogar selbst in einer solchen Krise steckt. Zwar kam der europäische „Fiskalpakt" von Anfang 2012 für das Buch zu spät, aber das Problem der Staatsverschuldung nicht. Dieser Begriff aber taucht erstaunlicherweise nur zweimal in dem Buch auf (S. 355 und S. 441) und in beiden Fällen nur am Rande. Die ordnungspolitische Bedeutung der Staatsverschuldung, ihre Wirkung auf Generationengerechtigkeit, langfristiges Wirtschaftswachstum und die dauerhafte Tragfähigkeit der Verschuldung sind Themen, die in den 4. Teil gehört hätten, aber nicht angesprochen werden. Auch das, was meist „Euro-Krise" genannt wird, dauert nun schon einige Jahre. Und auch hier gilt, dass die Ursachen in einem fehlerhaften und unvollständigen Rahmenwerk liegen. Darüber schweigt das Buch jedoch. Die Änderungen der Wirtschaftsordnung, die sich in Deutschland durch die Beteiligung an europäischen Fonds oder Mechanismen zur Bewahrung finanzieller Stabilität ergeben, werden nicht erwähnt. Mit nur 14 Seiten ist das ordnungspolitisch besonders wichtige Kapitel „Die Finanzverfassung" (gemeint sind die Finanzen des öffentlichen Sektors) eher knapp ausgefallen. Davon beziehen sich weniger als 9 Seiten auf Deutschland (der Rest auf die EU). Das pure Ausmaß der staatlichen Aktivität als bedeutende Mit-Determinante der Wirtschaftsordnung wird nicht angesprochen. Der Länderfinanzausgleich wird erwähnt, nicht aber die Anreiz-Problematik seiner gegenwärtigen Ausgestaltung. Dass die Einkommensteuer progressiv ausgelegt ist, erfährt der Leser nicht.

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Im 5. Teil wird ausfuhrlich und überzeugend dargelegt, wie notwendig der Übergang zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland war und welche Schwierigkeiten dabei überwunden werden mussten. Die ordnungspolitischen Fehler, die dabei gemacht wurden - Umstellungssatz der DDR-Mark, Treuhand-Privatisierungen, Verträge zu Lasten Dritter zwischen westdeutschen Gewerkschaften und westdeutschen Arbeitgebervereinigungen - bleiben jedoch unerwähnt. Erstaunlich ist, dass das Wort „Haftung" im ganzen Buch nicht vorkommt, soweit ich sehe. Dieser Mangel wäre automatisch vermieden worden, wenn die Autoren in ihrer Erörterung der frühen Konzeptionen der sozialen Marktwirtschaft Walter Eucken nicht nur erwähnt, sondern auch seine konstituierenden und regulierenden Prinzipien einer Wettbewerbsordnung angeführt hätten. Der zweite Hauptmangel des Buches besteht darin, dass seine Grundaussage unklar bleibt, zu einem Widerspruch fuhrt und teils auch fragwürdig ist. Die Autoren sprechen sich mehrfach gegen „Marktwirtschaft pur" und für einen „sozial gebändigten Kapitalismus" aus. Aber worin diese Bändigung bestehen sollte, ob sie in der deutschen sozialen Marktwirtschaft nach Meinung der Autoren ausreichend realisiert ist, bereits zu weit geht oder unzureichend ist, bleibt unklar. Das Buch enthält zahlreiche Aussagen, die für jede dieser möglichen Positionen in Anspruch genommen werden können. Einig scheinen sich die Autoren darin zu sein, dass die soziale Marktwirtschaft durch das, was sie „Umdeutung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft durch einen ,neuen' Neoliberalismus" nennen, bedroht ist. Denn die Autoren erörtern die Gefahren durch eine solche Umdeutung ausführlich - im 2. Teil in einen Exkurs (S. 105-114) und im Text des 5. Teils. Diese Ansicht verdient eine eigene kritische Würdigung - auch deswegen, weil sich die Autoren schließlich selbst widersprechen. Die Autoren diagnostizieren zu Recht, dass es seit etwa 30 Jahren in Deutschland (und anderen Ländern) eine schrittweise Abwendung der Ökonomen vom Keynesianismus (Vollbeschäftigungspolitik durch Globalsteuerung) gibt, und sie stattdessen oder zumindest zusätzlich eine „angebotsorientierte" Wirtschaftspolitik (Politik der Setzung eines geeigneten Rahmens, d.h. Wirtschaftsordnungspolitik) befürworten. Die wirtschaftsordnungspolitische Neuorientierung ökonomischen Denkens betrachten die Autoren als „Renaissance des klassischen Wirtschaftsliberalismus" und behaupten, es werde von Ökonomen ein „Minimalstaat" gefordert, während das „Leitbild des subsidiären Sozialstaats verdrängt" werde. Diese Ansicht dürfte jedoch kaum haltbar sein. Erstens hat der „klassische Wirtschaftsliberalismus" z.B. bei Adam Smith, keinen Minimalstaat befürwortet. Zweitens fordern die angebotsorientierten Ökonomen heute zwar tatsächlich meist einen schlankeren, aber gleichzeitig auch einen starken Staat und sind der Ansicht, dass er gerade durch die Verschlankung stärker werden kann, als er jetzt ist. Drittens: Wenn etwas durch die Neuorientierung verdrängt wird, dann ist es nicht der subsidiäre, sondern gerade der nicht-subsidiäre Sozialstaat. Die Kritik der Autoren am „neuen Neoliberalismus" mündet schließlich in die Beschreibung eines (angeblich) zum neuen Neoliberalismus gehörenden ,,Leitbild[es] des Menschen". Die Autoren schreiben: „Von vielen Sozialstaatskritikern wird der flexible, mobile, durch Eigeninitiative und Beschäftigungsfähigkeit charakterisierte, unternehmerisch denkende und handelnde, selbstverantwortliche, jederzeit und überall zur Verfügung stehende Mensch gefordert, der bereit ist, lebenslang zu lernen und im Laufe des Erwerbslebens mehrere Berufe auszuüben." Ihre Ablehnung dieses Leitbildes unterstreichen die Autoren dadurch, dass sie schreiben, es „erinnert fatal an die Bemühungen ehemals sozialistischer Staaten, den .sozialistischen Menschen' zu erziehen." Abschließend zitieren sie zustimmend eine Passage aus einem Buch von Johano Strasser. Dort heißt es u.a., dass es beim Neoliberalismus um die „Zurichtung des Menschen zum Funktionselement des Marktes", um ein „neoliberales Selbstdressurprogramm" und um eine ,.radikale Entfremdung" gehe (S. 112).

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Um sachlich zu bleiben, muss man von der Invektive des Vergleichs mit sozialistischer Umerziehung und von Johano Strassers Sozio-Philosophie absehen. Es soll daher jetzt nur um das oben zitierte „neoliberale Leitbild des Menschen" gehen. Aber was ist falsch an Flexibilität, Mobilität, Beschäftigungsfähigkeit, daran, unternehmerisch zu denken und zu handeln, selbstverantwortlich zu sein, bereit zu sein, lebenslang zu lernen, im Laufe des Erwerbslebens mehrere Berufe auszuüben? Alles dies ist dann falsch - aber auch nur dann - , wenn man den Inbegriff einer sozialen und gerechten Ordnung darin sieht, dass die Menschen das Recht haben (sollten), unflexibel und immobil zu sein, sich nicht um ihre Beschäftigungsfähigkeit kümmern zu müssen, nicht unternehmerisch (d.h. v.a. vorausschauend) zu denken und zu handeln, nicht selbstverantwortlich sein zu müssen, nur einmal im Leben etwas erlernen zu müssen usw. Derartige Rechte machen anscheinend nach Auffassung der Autoren - jedenfalls wie sie in diesem Abschnitt des Buches zum Ausdruck kommt - die soziale Marktwirtschaft aus. Die Entwicklung zu genau dieser Art von „sozialer Marktwirtschaft" hat Ludwig Erhard bei der Rentenreform von 1957 kommen sehen und bekämpft. Sie stellt eine Pervertierung dessen dar, was Eucken, Erhard und andere damals anstrebten. Nun zu dem Widerspruch, in den sich die Autoren verwickeln. Ihre Philippika gegen den „neuen Neoliberalismus" ist zwar wortgewaltig, fuhrt aber zu einem Widerspruch, wie sich gegen Ende des Buches zeigt. Im Kapitel „Bewährungsprobe der Sozialen Marktwirtschaft" (im 5. Teil), in dem die Schwierigkeiten beschrieben werden, in Ostdeutschland die soziale Marktwirtschaft zu etablieren, fordern sie von der dortigen Bevölkerung genau die Einstellung und Verhaltensweisen, die sie an anderer Stelle des Buches (siehe oben) als neoliberales Leitbild des Menschen gegeißelt haben. So schreiben sie: „Erforderlich ist auch die Bereitschaft der Bevölkerung der neuen Bundesländer, [...] marktwirtschaftlich zu denken und zu handeln, Umschulungs- und Qualifizierungsangebote zu nutzen, zur Übernahme von Verantwortung bereit zu sein, Initiative zu entfalten, weniger auf den Staat zu setzen als [...] unter dem vorigen Regime" (S. 437). Trotz aller Unzulänglichkeiten ist das Buch nützlich, weil es systematisch angelegt und materialreich ist, aber auch deswegen, weil es gegenwärtig dazu keine vollgültige Alternative gibt. Eine wichtige, wenn auch nur teilweise Alternative ist „Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland" von Lothar F. Neumann und Klaus Schaper (2010). Eine weitere Alternative ist das Buch von Wolfgang Quaisser (2011), „Soziale Marktwirtschaft". Eine vollständige und treffende Darstellung der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland ist den Autoren Lampert und Bossert nicht gelungen. Das Buch leidet an der Auslassung vieler ordnungspolitisch wichtiger Regelungen und Regelungsmängel. Auch enthält es fast keine internationalen Vergleiche, ohne die aber die Besonderheiten der deutschen sozialen Marktwirtschaft nicht hervortreten. Eine Grundaussage des Buches ist zudem schillernd, teils widersprüchlich und teils fragwürdig.

Literatur Neumann, Lothar F. und Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2010. Quaisser, Wolfgang, Soziale Marktwirtschaft: Standortwettbewerb als Gegenstand der politischen Bildung, Tutzinger Schriften zur Politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2010.

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Helge

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Peukert

Reform der Finanzmarktregulierung Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Peter Oberender* Der Band enthält fünf Beiträge, die auf Vorträgen der Jahrestagung der Arbeitsgruppe Wettbewerb des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik im März 2010 in Essen beruhen. Auf den ersten Blick fällt (1.) die Schmächtigkeit des Bandes v.a. angesichts des Themas, (2.) das Überwiegen von Interessenvertretern (Manfred Weber vom Bundesverband deutscher Banken, Karl-Peter Schackmann-Fallis vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband und Gerhard Hofmann vom Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken) sowie (3.) die besonders angesichts der inzwischen erfolgten Entwicklungen zeitliche Verzögerung bis zur Publikation in 2011 auf, die vom Herausgeber mit der Arbeitsbelastung der Referenten begründet wird. Leider ist der Band bei Erscheinen schon völlig überholt, die bereits zwei Mal erhobene Bankenabgabe ist in einem Text nur erst vorgesehen. Im knappen ersten, recht lieblos und hastig komponierten Beitrag von P. Brämer, H. Gischer und T. Richter (Universität Magdeburg) geht es um Lehren aus der Finanzkrise. Ungewichtet werden falsche Anreizstrukturen, wenig sinnvolle Unternehmensziele, naives Vertrauen in Risikomodelle, unzureichende Kontrolle der Finanzmarktakteure und undurchsichtige Produktgestaltung (S. 12) aufgezählt. Der Rezensent teilt völlig den kritischen Unterton der Ausführungen und er steht der offiziellen Regulierungsdebatte skeptisch gegenüber. Dennoch muss zum Beitrag von Brämer et al. festgehalten werden, dass so zutreffend die Aufzählung der Ursachen auch ist, so mangelhaft fallen die Erläuterungen aus. Sie sind unverbindlich allgemein gehalten und liegen nicht auf dem Niveau der damaligen und gegenwärtigen Regulierungsdiskussion. So wird eine zweistellige Eigenkapitalrentabilität als Chimäre bezeichnet, kräftige Bonuszahlungen, Derivatelabors, Basel II als unüberschaubares Konglomerat und das unerschütterliche Vertrauen in die Ratingagenturen usw. kritisiert. Mit unverbindlichen Alltagsformulierungen wird ohne jegliche Präzisierung von einem Punkt zum nächsten gesprungen, so dass man die Ausführungen nicht als wissenschaftlichen Beitrag werten kann. Es folgt eine kleine Elementareinführung in die Funktionen und Aufgaben von Banken (Losgrößentransformation usw.), angereichert durch Schaubilder, deren Quellen nicht angemessen angegeben werden. Im vierten Abschnitt erfolgt wiederum die unverbundene Aufzählung eines Sammelsuriums an Tatsachen, die die bisherigen bescheidenen Lerneffekte dokumentieren sollen (wieder die Bonusfrage usw.). Hat man die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Autoren auf der Schlussgeraden wenigstens schemenhaft erkennen lassen, welche Reformen denn nun angemessen wären, so wird man erneut enttäuscht. So wird die hold-up-Problematik (TBTF) systemrelevanter Banken (SIFIS) angerissen und auf die sachlogisch erforderliche, konsequente Reduzierung der entsprechenden Institute hingewiesen. Diese (detailliert auszuführende) Lösung wird dann aber verworfen, „denn nach welchen Kriterien sollen systemische von nicht-systemischen Banken unterschieden werden?" (S. 22). Also lässt man es anscheinend besser sein, oder hätte man nicht etwa besser auf die intensive internationale Diskussion zur Frage eingehen sollen? Die Autoren gehen zumindest nicht darauf ein und hasten weiter. Ihnen unterlaufen hierbei auch unzutreffende Bemerkungen, etwa dass das „Intraday-Trading" bisweilen einer Lizenz zum Gelddrucken gleichkomme (S. 26). So dysfunktional der Hochfrequenzhandel nach Meinung des Rezensenten auch sein dürfte, die Autoren sollten sich einmal die Verluste des Blitz Crash im Mai 2010 ansehen und über ihre Lizenzthese nachdenken. Als großes Ergebnis halten die Autoren die kaum bestreitbare, unverbindliche und folgenlose Weisheit fest: Ihre „Bestandaufnahme hat

Peter Oberender (Hg.), Reform der Finanzmarktregulierung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 331, Verlag Duncker und Humblot, Berlin 2011, 89 Seiten.

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die zwingende Notwendigkeit einer prinzipienbasierten Regulierung des Bankensektors ergeben" (S. 24). Bert van Roosebeke vom nicht-öffentlichen Centrum für Europäische Politik (CEP), das durch sehr kompetente Überblicke über die unübersichtliche Regulierungslandschaft und großes Verständnis für die Belange der Finanzwirtschaft bekannt ist, geht im zweiten Artikel auf die too-big-to-fail-Problematik in Theorie und Praxis ein. Die fast ausschließlich aus Richtlinien, Verordnungen usw. der Kommission bestehenden Literaturverweise zeigen, dass der Beitrag dem Diskussionsstand des Jahres 2009 entstammt, d.h. deutlich vor der Richtlinien- und Verordnungsmanie der EU-Institutionen, auch die Vorschläge seines Themas betreffend (siehe zur aktuellen Lage Peukert 2012, Kapitel IV.9). Auf elementarer Ebene werden die durch TBTF hervorgerufenen Wettbewerbsverzerrungen und die Bail-out-Problematik erörtert. Die Ermittlung der SIFIS (systemrelevante Banken) durch das Financial Stability Board, die deutsche Gesetzgebung im Rahmen des Restrukturierungsfonds und der Bankenabgabe und der im Rahmen von Basel III vorgesehene SIFI-Zuschlag liegen jenseits von 2009 und wurden nicht einbezogen. Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass die Kommission nicht in Erwägung zieht, TBTF durch eine Größenbegrenzung zu begegnen (wie z.B. in Peukert 2012, Kapitel IV.3 vorgeschlagen). Anstelle einer Diskussion der entsprechenden Literatur meint der Autor, es sei schwierig, eine genaue Maximal(bilanz)summe festzulegen (siehe aber die Schwellen bei den Stresstests), und ein Verbot bestimmter Tätigkeiten laufe auf ein Trennbankensystem zu, einzig Lehman Brothers wird als Gegenevidenz, dass dies helfe, angeführt (siehe die Pro-Argumente in Peukert 2012, Kapitel IV.4). Die Beiträge von Weber, Schackmann-Fallis und Hofmann zu Strukturen adäquater Aufsicht und Finanzmarktstabilität können zusammen vorgestellt werden, da es sich um Vorträge von Interessenvertretern handelt, die nicht im eigentlichen Sinne als wissenschaftlich zu bezeichnen sind. Weber hebt als Vertreter des Bankenverbandes zunächst die positive Rolle der Banken als Finanzintermediär hervor. Sie würden zu hart gescholten und hätten aus der Krise gelernt (bessere Risikomodelle). Er gesteht die mögliche Entwicklung von Asset-Blasen durch gleichgerichtetes Handeln ein und spricht sich ohne Präzisierung für makroprudentielle Regulation, ferner für Insolvenzverordnungen für Institute und Staaten und eine beherzte Verlagerung der Aufsichtskompetenzen auf die europäische Ebene aus. Grundsätzlich spricht er sich für ,flexibel-qualitative' Rahmensetzungen aus. Schackmann-Fallis wirbt für die Sichtweise des Sparkassen- und GiroVerbandes. Dementsprechend gesteht er die durch Deregulierung hervorgerufene Unwucht durch das Auseinandertreten von Rendite und Risiko ein und wirft den großen Instituten vor, bei den Refinanzierungskosten dank TBTF wettbewerbsverzerrende Vorteile zu genießen, was sicher zutrifft. Demgegenüber stellten die sich durch dezentrale Artenvielfalt auszeichnenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken keine Systemrisiken dar; die für den Steuerzahler zum Teil recht teuren Abenteuerexkursionen der Landesbanken und der Dachinstitute der Genossenschaftsbanken und die nicht gerade systemstabilisierende Postenbesetzung bei den Sparkassen durch Politiker bleiben unerwähnt. Natürlich wird breit der Lieblingspunkt entfaltet: Die besondere deutsche Situation mit Sparkassen und Genossenschaftsbanken sei eine regionale, positive Besonderheit, die nicht durch undifferenzierte Vereinheitlichung durch EU-Bestimmungen wegrationalisiert werden dürfe, ein Aufruf, der zumindest bei Brämer et al. (S. 24, insbesondere Fn. 23) auf fruchtbaren Boden fällt. Es geht hierbei um geringere Eigenkapitalanforderungen (nachdem zwischenzeitlich z.B. Genossenschaftsanteile als Kernkapital anerkannt wurden), da der Sektor stabiler aufgestellt sei (eine These, die man nicht unbedingt teilen muss, Stichwort: fragile Fristentransformationen). Der Autor spricht sich für die Einlagensicherung von 100.000 Euro aus, es sollten aber höhere Beträge erlaubt sein. Er erwähnt nicht, dass die Einlagerungssicherungssysteme nach der Finanzkrise praktisch leer sind und die Menschen - als die Achillesferse des fraktionellen Reservesystems - auch von Seiten der Politik gewollt in falscher Sicherheit wiegen. Seine Ablehnung der Leverage Ratio (Verhältnis von Eigen- zu Fremdkapital) selbst von nur bescheidenen 3 % (auf 1 Euro Eigenkapital können bis zu 33 Euro Fremdkapital aufgenommen wer-

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den) lässt den Rezensenten daran zweifeln, ob der Autor die Mindestlektion aus der Finanzkrise gelernt hat (Stichwort: Deleveraging-Absturz). Der Beitrag von Hofmann (Bundesverband des Volks- und Raiffeisenverbandes) geht kaum verwunderlich in eine ähnliche Richtung. Er weist angesichts der .Regulierungsoffensive' darauf hin, dass Regeln auch oft unerwünschte Nebenwirkungen haben, so wirke sich z.B. eine höhere Regulierungsdichte negativ auf den Hinzutritt neuer Wettbewerber aus, höhere Eigenkapitalanforderungen bei Verbriefungen würden ihre Attraktivität senken (wäre das zu bedauern?). Kritische Worte fallen gegenüber den Oligopolisierungstendenzen bei Derivaten, Devisen und im Investmentbanking, Finanzverbünde könne man eigentlich nicht als Oligopole ansehen und die Vorteile der regionalen Verankerung kleinerer Kreditinstitute, ihre intime Kenntnis regionaler und branchenbezogener Besonderheiten werden ausgemalt. Er spricht sich gegen einen „undifferenzierten overkill" durch Vereinheitlichungen durch die EU aus, auch eine Leverage Ratio wird mit dem Argument abgelehnt, dass dann höhere Risiken gefahren würden. Wenn man aber den Banken aus eigenen Stücken eine vernünftige Zügelung des Risikoappetits nicht zutraut, wozu sind sie dann überhaupt noch fähig? Nicht zu Unrecht wird kritisiert, dass im Vergleich zu Krediten an Banken und Staaten solche an den Mittelstand und Unternehmen eine höhere Hinterlegungspflicht aufweisen. Unklar bleibt, welche Lösung dem Autor vorschwebt, eine Herunter- und Gesundrechnung wie z.B. bei nicht mit Eigenkapital hinterlegungspflichtigen Staatsanleihen oder z.B. die Rückkehr zu Basel I. Wie bei allen Finanzinteressenvertretern wird damit gedroht, dass bei zusätzlichen Anforderungen im Rahmen von Basel III der Abbau von Risikoaktiva stattfinden könnte, Regulierung also negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben kann. Insgesamt hinterlässt der Band einen in jeder Hinsicht sehr dürftigen Eindruck. Kritiker des Mainstream der Wirtschaftswissenschaften könnten sich bestätigt sehen: Die Interessenvertreter kommen großzügig zu Wort, der einzige im weiteren Sinne wissenschaftliche Beitrag aus Magdeburg wirkt oberflächlich, nicht engagiert und wirtschaftspolitisch völlig harmlos. Das unangenehme Thema scheint die Profession nicht hinter dem Ofen hervorzulocken, auch gibt es ja für Publikationen dieser Art keine Rankingfleißpunkte. Die Begründer des Ordoliberalismus waren aus einem anderen Holz geschnitzt, ein Walter Eucken hätte sicher kompetent und engagiert eine Größenbegrenzung für SIFIS analysiert, neue Haftungsregeln (z.B. Rückkehr zu Partnerschaften bei Investmentbanken), Alternativen zum fraktionellen Reservesystem (z.B. eine Waren-Reserve-Währung oder neuere Vollgeldvorschläge) und die Konstanz der Wirtschaftspolitik, was die Einhaltung von Verträgen (z.B. die no-Bail-out-Regel im EU-Vertrag) und automatische Gläubigerbeteiligungen anstelle von Rettungsschirmen eingefordert. Wie sich die Zeiten ändern. Literatur Peukert, Helge (2012), Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise: Eine kritisch-heterodoxe Untersuchung, 4. Aufl., Marburg.

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Ingo Pies

Wachstum durch Wissen: Lektionen der neueren Welt(wirtschafts)geschichte* Welch schmales Bändchen - und zugleich: welch profundes Werk! Die dringende LeseEmpfehlung, die mit dieser Rezension zum Buch von Jack Goldstone (2009) ausgesprochen wird, stützt sich auf vier Befunde. (1) Erstens gehört dieses Werk zur neueren Literatur, mit der sich Historiker seit einigen Jahren um eine ,Welt(wirtschafts)geschichte' verdient machen, die diesen Namen wirklich verdient.1 Die zentralen Kennzeichen dieser neueren Literatur spiegeln sich auch im Buch von Goldstone wohltuend wider. Hier hat man es mit einer historischen Forschung zu tun, die (a) stark empirisch orientiert ist und es versteht, die Sozialstatistik hermeneutisch zum Sprechen zu bringen; die (b) ihre Thesen in enger Tuchfühlung mit ökonomischer Theorie entwickelt, also ohne den unter Historikern leider immer noch verbreiteten (Vulgär-)Marxismus auskommt; und die (c) durch eine prononciert globale Perspektive den Eurozentrismus - d.h. die in den letzten 200 Jahren etablierte Geschichtsschreibung der wirtschaftlichen , Sieger' - überwindet und mithin das Selbstverständnis der westlichen Moderne in wichtigen Punkten zu korrigieren vermag. Goldstones Buch ist für diese neuere historische Forschungsliteratur also gleich auf dreierlei Weise repräsentativ: In empirischer Hinsicht ist sein Buch ,down to earth' und öffnet damit historische Deutungsversuche für Lernprozesse, die überraschende Erkenntnisse bereithalten. Zugleich ist seine Argumentation ökonomisch informiert, vor allem hinsichtlich der wachstumstheoretischen Bedeutung der Wissensproduktion. Und schließlich wird mit dem Ansatz einer Welt(wirtschafts)geschichte ein dezidiert kosmopolitischer Beitrag zum (Selbst-)Verständnis und damit zur intellektuellen Orientierung - der Weltgesellschaft geleistet. (2) Zweitens ist das Buch sehr gut geschrieben. Die mit 184 Seiten (inklusive Register) schlank gehaltene Argumentation hat Goldstone knapp und präzise formuliert. Die materialreiche Gedankenführung ist thematisch in acht Kapitel organisiert, von denen jedes mit einer Übersichtsbox eingeleitet wird, so dass sich die Leser sehr schnell einen Überblick verschaffen können. Der rote Faden der Argumentation ist so stets präsent (zu halten). (3) Drittens verdankt sich der Unterhaltungswert - und mithin die Lesefreude, die dieses Buch gewährt - ganz wesentlich dem Umstand, dass hier ein meinungsfreudiger Autor seine wohlfundierten Thesen zur Diskussion stellt. Dabei entsteht ein großes Panorama. Die Hauptbotschaften der acht Kapitel lauten wie folgt: 1. Erst durch die Entdeckung Amerikas und durch die Ausbeutung der dortigen Gold- und Silbervorkommen wurde es Europa möglich, als eine im Vergleich mit China und Indien wirtschaftlich rückständige Region von den Zivilisationsleistungen Asiens im größeren Stil zu profitieren. Ohne die Edelmetalle der Neuen Welt hätten die Europäer auch nach 1500 im Fernhandel mit Asien kaum etwas zu bieten gehabt, was von den dortigen Tauschpartnern als attraktive Gegenleistung Wertschätzung gefunden hätte. 2. Die Welt(wirtschafts)geschichte ist über lange Zeitspannen durch ein ewiges Auf und Ab gekennzeichnet. Das exponentielle Wachstum, das in Europa seit 1850 zu verzeichnen ist und sich in einem stark ansteigenden Pro-Kopf-Einkommen (sowie längerer Lebensdauer, besserer Gesundheit und generell höherem Lebensstandard) niederschlägt, muss man welthistorisch als eine vorher nie dagewesene Zäsur einstufen. Rezension zum veröffentlichten wirtschaftshistorischen Buch von Jack A. Goldstone, Why Europe? The Rise of the West in the World History, 1500-1850, Boston 2009. 1

Vgl. Clark (2007), Jones (1987, 1991), (2002), Landes (1998), Maddison (2001), (2005) und (2007), ferner North, Wallis und Weingast (2009) sowie insbesondere Pomeranz (2000). Vgl. auch Allen (2009) sowie Mokyr (2009). Besonders lesenswert ist auch McCloskey (2010).

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3. Max Webers These, der Protestantismus habe den Kapitalismus und damit das Wirtschaftswachstum entfesselt, wird als verfehlt zurückgewiesen. Zum einen verweist Goldstone darauf, wie ähnlich sich die großen Weltreligionen sind. Und zum anderen deutet er die empirische Evidenz eher dahingehend, dass eine rigide Orthodoxie gleich welcher Couleur tendenziell innovations- und damit wachstumshemmend wirke, während Neues vor allem in Zeiten und an Orten entsteht, die sich durch ein tolerantes Nebeneinander verschiedener Religionen auszeichnen. 4.

Goldstone interpretiert Europas Bemühungen um eine militärische Kolonialisierung als Versuch, sich in den Besitz solcher asiatischen Güter zu bringen, die man aufgrund fortgesetzter wirtschaftlicher Rückständigkeit nicht anderweitig - also durch friedlichen Handel - erlangen konnte.

5. Das historische Selbstbild der Europäer ist dringend korrekturbedürftig. Neuere Daten zur Durchschnittsproduktivität und zum Durchschnittseinkommen belegen, dass China bis zum Jahr 1800 Europa nicht wirtschaftlich unterlegen, sondern überlegen war. Zudem waren die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb Europas weitaus größer als die Unterschiede zwischen den am weitesten fortgeschrittenen Regionen Chinas und Europas. Ein außerordentlicher Wachstumserfolg und daraus folgender wirtschaftlicher Vorsprung Europas ist erst seit 1850 festzustellen. 6. Im 18. Jahrhundert hatte Großbritannien höhere Steuersätze und höhere Zölle als alle anderen Länder Europas oder Asiens. Dass die Wachstumsrevolution dennoch hier ihren Ausgang nahm, liegt an einer politischen Ausnahmesituation: Nach der Glorreichen Revolution 1688 passten mehrere Sonderfaktoren glücklich zusammen. Hierzu zählt Goldstone (a) ein starkes Parlament, das der Politik wirksame Bindungen auferlegen konnte; (b) die gegenüber zentralstaatlichen Manipulationsversuchen vergleichsweise resistente Rechtstradition des Common Law mit seiner dezentralen Schöffengerichtsbarkeit; sowie (c) den religiösen Pluralismus, der für die öffentliche Auseinandersetzung ein Klima schuf, das wissenschaftlicher Forschung förderlich war. 7. Die Industrielle Revolution wird missverstanden, wenn man sie mit der Erfindung einzelner Maschinen gleichsetzt. Insofern wird sie von Goldstone auch nicht als Ereignis, sondern als Prozess interpretiert: Das aus seiner Sicht wirklich Revolutionäre besteht in einer Innovationskultur, die permanent Neuerungen hervorbringt und auf diese Weise die Produktivität - und damit auch den Lebensstandard - dauerhaft anhebt. 8. Die Innovationskultur macht die Wissenschaft zum Motor wirtschaftlichen Wachstums. Aber gerade im Hinblick auf die Wissenschaft kommt es zu einer merkwürdigen Entwicklung. War Europa - insbesondere gegenüber dem Stand der Wissenschaft in islamischen Ländern - bis 1500 absolut rückständig, so ist seit 1600 sowohl in China und Indien, aber auch im Ottomanischen Reich eine Tendenz zum staatlichen Zentralismus und zur Unterdrückung abweichender Meinungen beobachtbar, während einzelne Regionen in Europa wissenschaftliche Spitzenleistungen hervorbringen, die das gesamte traditionell überlieferte Weltbild radikal in Frage - und in vielerlei Hinsicht sogar auf den Kopf - stellen. Experimentelle Forschung verdrängt die autoritäre Textexegese. Insbesondere in Großbritannien kommt es erstmals zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Ingenieuren, die nicht mehr nur der militärischen Innovation dient, sondern dezidiert versucht, Neuerungen zu entwickeln, die sich in marktfähige Produkte transformieren lassen. Damit zeichnet Goldstone ein Bild der welt(wirtschafits)geschichtlichen Entwicklung, das durch zwei zentrale Erkenntnisse eingerahmt wird: (a) Zum einen datiert er im Rückgriff auf die empirischen Erkenntnisse der neueren Forschungsliteratur die wirtschaftliche Überlegenheit Europas gegenüber dem Rest der Welt relativ spät, auf die Zeit nach 1850. (b) Zum anderen interpretiert er den außerordentlichen Wachstumserfolg Europas als das Ergebnis einer wissenschaftlichen - buchstäblich wissen-schaffenden - Wissensrevolution, die bereits im 17. Jahr-

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hundert ihren Anfang nimmt und durch die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Unternehmern sich langsam und allmählich zu einem immer breiteren Strom von Neuerungen entwickelt. 2 Wer über die Bedeutung der Wissensproduktion fur die moderne Wachstums-Governance informiert werden möchte, wird hier fündig werden. (4) Viertens mögen die folgenden beiden Leseproben belegen, dass historische Forschung bei Goldstone nicht einfach l'art pour l'art ist, sondern in Beiträge zum veränderten Selbstverständnis der westlichen Moderne mündet. Goldstone legt großen Wert auf die Feststellung, was genau nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand historischer Forschung nicht den Wachstumserfolg Europas ausgelöst haben kann. So liest man auf S. 95: ,,[T]he richest European nations did not become rich because they took more treasure from other parts of the world or because they had empires or slavery - as we have seen, the European countries with the largest empires, the most treasure, and slavery (namely Spain and Portugal) generally fared poorly after 1800. Rather, it was because workers in the richer countries - especially England, but also the Netherlands and Belgium - became more productive than workers elsewhere in Europe and more productive than workers anywhere in the world." Goldstone lässt also keinen Zweifel daran, dass aus seiner Sicht die Industrielle Revolution eine Revolution der Produktivität war und dass die enormen Produktivitätssteigerungen im Kern auf eine Wissensrevolution zurückzuführen sind, die von Großbritannien ausging, danach auch andere europäische Staaten erfasste und heute globale Wirkungen zeitigt. Goldstone zieht hieraus eine wichtige Schlussfolgerung für die Zukunftsaussichten der Weltgesellschaft. Im Hinblick auf die schon heute beobachtbaren - und für die Zukunft weiter absehbaren - weltweiten Wachstumsprozesse heißt es auf S. 176: „The growth of major economies outside of the United States and Europe will cause some adjustments and no doubt will spur anxieties and rivalries, especially among those who still see economic growth as a matter of different societies competing for a fixed »pot of growth« that only a few can share. This delusion needs to be set aside. If growth comes from innovation and better engineering, then gains can spread to all. The invention of gas lighting in Britain, of chemical fertilizers in Germany, of the telephone in the United States, and of the transistor radio in Japan did not impoverish other countries; on the contrary, they eventually made everyone in the world better off by making new products available. It is only countries that stop innovating (or that have never begun) that risk becoming impoverished."

Literatur Allen, Robert C. (2009), The British Industrial Revolution in Global Perspective, Cambridge. Baumol, William J. (2002), The Free-Market Innovation Machine. Analyzing the Growth Miracle of Capitalism, Princeton und Oxford. Baumol, William J. (2010), The Microtheory of Innovative Entrepreneurship, Princeton und Oxford.

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Vgl. hierzu Jacob (1997), Mokyr (2002) sowie Baumol (2002) und (2010). Zentrale Einsichten Goldstones finden sich interessanterweise bereits bei dem von ihm nicht zitierten Walter Lippmann (1929, 2009; S. 235), der in einer Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Zyklus-These vom Untergang des Abendlandes das radikal Neue der modernen Gesellschaft betont und mit der Formel „the invention of invention" auf einen Begriff bringt, der der selbstverstärkenden Dynamik der modernen Wissensproduktion auf eine geglückte Weise Ausdruck verleiht. Und der Auffassung, das epochemachend Neue liege in der Erfindung von Maschinen, entgegnet Lippmann (ebd.; S. 233 und S. 234 f.): „There is something radically new in the modern world, something for which there is no parallel in any other civilization. [...] The various mechanical inventions from James Watt's steam engine to the electric dishwasher and vacuum cleaner are not this new element. All these inventions, singly or collectively, though they have revolutionized the manner of human life, are not the ultimate reason why men put such hope in machines. Their hope is not based on the machines we possess. They are obviously a mixed blessing. Their hope is based on the machines that are yet to be made, and they have reason to hope because a really new thing has come to the world. That thing is the invention of invention."

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Clark, Gregory (2007), A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World, Princeton und Oxford. Goldstone, Jack A. (2009), Why Europe? - The Rise of the West in World History, 1500-1850, Boston. Jacob, Margaret (1997), Scientific Culture and the Making of the Industrial West, Oxford. Jones, Eric Lionel (1987, 1991), Das Wunder Europa: Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens, Tübingen. Jones, Eric Lionel (2002), The Record of Global Economic Development, Cheltenham. Landes, David S. (1998), The Wealth and Poverty of Nations, London. Landes, David S., Joel Mokyr und William J. Baumol (Hg.) (2010), Invention of Enterprise: Entrepreneurship from Ancient Mesopotamia to Modern Times, Princeton und Woodstock. Lippmann, Walter (1929, 2009), A Preface to Morals, 6. Aufl., New Brunswick und London. Maddison, Angus (2001), The World Economy: A Millennial Perspective, Paris. Maddison, Angus (2005), Growth and Interaction in the World Economy. The Roots of Modernity, Washington D.C. Maddison, Angus (2007), Contours of the World. Economy 1-2030 AD. Essays in Macro-Economic History, Oxford. McCloskey, Deirdre N. (2010), Bourgeois Dignity. Why Economics Can't Explain the Modern World, Chicago und London. Mokyr, Joel (2002), The Gifts of Athena, Princeton. Mokyr, Joel (2009), The Enlightened Economy: An Economic History of Britain 1700-1850, New Haven. North, Douglass C., John Joseph Wallis und Barry R. Weingast (2009), Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History, Cambridge. Pomeranz, Kenneth (2000), The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modem World Economy, Princeton.

Georg Rüter

Unternehmensethik Zu dem Buch von Elisabeth Göbel mit dem gleichen Titel*

I. Einführung Aktuelle Ereignisse rund um die Finanzkrise, exorbitante Bonuszahlungen an Banker, Umweltskandale und Niedriglohndebatten haben in Erinnerung gebracht, dass Wirtschaft nicht im moralfreien Raum arbeitet. Elisabeth Göbel beginnt ihr umfangreiches Buch mit der Auflistung einiger Beispiele und weist zu Recht darauf hin, dass beklagte Handlungsweisen kaum justiziabel waren, da Rechtsverstöße nicht konstatiert werden konnten. Zu Beginn ihres Werkes stellt sie die Grundsatzfrage, ob sich die Betriebswirtschaftslehre mit ethischen Fragen der Unternehmensfiihrung zu beschäftigen hat oder ob es in dieser Wissenschaft lediglich um die Optimierung der Erwerbswirtschaft geht. Sie bejaht die Frage der Notwendigkeit ethischer Grundlagen, zumal Wirtschaft sich nie im moralfreien Raum bewegen kann. Zu erinnern ist, dass die Volkswirtschaftslehre, als ältere Wissenschaft von ökonomischen Zusammenhängen, die Ursprünge in der Moralphilosophie hat, markant vertreten durch das Anfangswerk von Adam Smith „Moral Sentiments", das er eine Reihe von Jahren vor dem grundlegenden Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" schrieb. *

Elisabeth Göbel, Unternehmensethik, Verlag UTB, Stuttgart 2010,415 Seiten.

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II. Systematik Elisabeth Göbel beginnt ihr sehr systematisch und exakt in zehn Großkapitel gegliedertes Buch mit zentralen Begriffen und Grundlagen der Ethik und streicht heraus, dass die Anwendung ethischer Grundsätze zunächst einmal die Möglichkeit der Freiheit voraussetzt, da es ansonsten gar keine Handlungsalternativen gibt. Anhand aktueller Beispiele wirft Göbel instruktiv die Frage auf, inwieweit komplexe Zusammenhänge ökonomischer Vorgänge schnell und eindeutig nach ethischen Maßstäben beurteilt werden können. Sie erinnert an die gewissermaßen klassischen Begrifflichkeiten von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, die gerade im ökonomischen Raum differenzierte, mehrdimensionale Beurteilungen erforderen. Göbel hält sich mit abschließenden Urteilen zurück und überlässt es dem Leser, anhand der aufgezeigten Kriterien und Handlungsmaßstäbe seine Einordnung von Moral, Recht und Handlungsalternativen vorzunehmen. Diese zurückhaltende Standortposition durchzieht das gesamte Werk, das sich wohl eher als Handlungsanleitung denn als Positionsbestimmung versteht. Bevor Göbel zur Verknüpfung von Ethik und Ökonomie kommt, setzt sie definitorische Eckpfeiler, die hilfreich sind für die weitere Beurteilung des Zusammenhangs dieser Spannungsfelder; so beispielsweise mit der treffenden Definition der Ökonomik, die als Ziel „die Ermöglichung eines gelungenen Lebens für die Menschen" habe. Hierin sieht Göbel zu Recht auch ein ethisches Ziel der Ökonomie per se, das bei kulturkritischen, moralphilosophierenden Betrachtungen bisweilen vergessen wird. Denn bei oft lautstarker Kritik am Ökonomismus, die sich regelhaft an überziehenden Verhaltensweisen einzelner Akteure in westlichen Industriestaaten festmacht, darf daran erinnert werden, dass der Großteil der Weltbevölkerung noch sehr weit entfernt ist vom Ziel auskömmlicher Lebensumstände ohne tagtägliche Sorge um Unterkunft, Essen, geschweige denn Befriedigung kultureller Bedürfnisse. So zeigt beispielsweise die allerorten populäre Nachhaltigkeitsdebatte, die einen grundsätzlich begrüßenswerten Ansatz der Unternehmensführung beinhaltet, in ihren Ausgestaltungen und Postulaten bisweilen postmaterialistische Luxushalluzinationen, die für Menschen, die mit arger materieller Not kämpfen, schlichtweg Fantastereien darstellen. Bevor Göbel in das beherrschende große Kapitel ihres Werkes einsteigt, erinnert sie an den grundsätzlichen Forschungsgegenstand der Volkswirtschaftslehre und nimmt Bezug auf den großen Nationalökonomen Wilhelm Röpke, der Ökonomie als „fortlaufende Wahl zwischen Möglichkeiten" definierte, sowie Aristoteles, der nach dem engen Zusammenhang zur sittlichen Tüchtigkeit fragte, woraus sich für Göbel die Frage ergibt, ob Selbstinteresse und Sittlichkeit vereinbar sind. Auf dieses Spannungsfeld von Moral und Ökonomie hat Wilhelm Röpke zeitlebens hingewiesen; seine Ausfuhrungen von 1955 sind von zeitloser Gültigkeit: „ Wie viel aristokratischer Hochmut steckt doch in aller Geringschätzung des Wirtschaftlichen! Wie viel unwissende Nichtachtung der Gesamtsumme an Arbeit, Entsagung, Pioniergeist, Redlichkeit und Pflichterfüllung".

III. Kernaussagen Als betriebswirtschaftlich orientiertes Werk geht Göbel sehr detailliert auf die personelle Komponente der Unternehmensethik sowie die strukturellen Bausteine zur Realisierung ethischer Verhaltensweisen ein. Sie weist den Unternehmensstrukturen und dem Management die Pflicht zur institutionellen Unterstützung des Wollens zu. Sodann erläutert sie wesentliche Bausteine der Unternehmenspolitik, die insbesondere im Hinblick auf ethische Verhaltensweisen grundlegend sowie entscheidend sind, beispielsweise die Personalauswahl und die Personalentwicklung. Die Autorin erinnert zu Recht daran, dass unternehmensseitige Kulturbemühungen scheitern müssen, wenn die Individualethik der Mitarbeiter defizitär ist: In diesem Kapitel mit praxisbezogenen Handlungsanweisungen beschäftigt sich Göbel auch mit der Kontrolle ethischer Verhaltensweisen im Unternehmen, beispielsweise durch Compliance-Regeln, Anreizsysteme und Controlling-Mechanismen. Sie weist auf die Notwendigkeit moralischer Sensibilität

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und Grenzen der Personalentwicklung zur Unterstützung der Unternehmensethik hin. Denn Moral ist im freiheitlichen System nie von den in der Wirtschaft handelnden Personen, gleich welcher Hierarchieebene, zu trennen. Zu Recht schickt Göbel voraus, dass es bei der Konkretisierung von Ethik im Alltag um einen Ort der Moral, um die marktwirtschaftliche Grundordnung geht. Systemtheoretische Debatten fangt sie nicht an, wenngleich es an der einen oder anderen Stelle hilfreich gewesen wäre, auch für Unternehmensverhaltensweisen auf den ordnungspolitischen Rahmen für das unternehmerische Handeln einzugehen. Denn auch marktwirtschaftliche Ordnungen westlicher Gesellschaften beinhalten in Teilsegmenten oftmals hochgradig zentralverwaltungswirtschaftliche Elemente, die nicht nur Steuerungs- und Allokationsprozesse, sondern auch moralisch differenzierte Verhaltensweisen nach sich ziehen. Ein häufigerer Bezug zur volkswirtschaftlichen Gesamtordnung hätte der Erklärung von betriebswirtschaftlichen Verhaltensweisen an der einen oder anderen Stelle gut getan. So bleiben Einzelfeststellungen zum vermeintlichen Marktversagen als wenig hinterfragte Schlaglichter im Raum stehen. Beispielhaft für eine wünschenswerte differenzierte Aufdeckung von ökonomischen Implikationen nennt Göbel die Diskussion zu sogenannten fair gehandelten Produkten und zeigt auf, dass vorschnelle Forderungen nach „anständigen" Vergütungen für Lieferanten oder Arbeitnehmer für diese negative Konsequenzen haben können, wenn die letztendlich alle Lieferanten und Arbeitnehmer bezahlenden Konsumenten nicht zu entsprechenden Preiskonzessionen bereit sind. Äußerst fundiert behandelt Göbel in mehreren Kapiteln die Integration von Gesinnungsethik und Folgenethik und arbeitet dabei heraus, welche Rolle die Institutionen sowie die handelnden Individuen hierbei einnehmen. Sehr detailliert geht sie auf die betrieblichen Handlungsebenen von Management, Arbeitnehmern bis hin zu Share- und Stakeholdern ein. Erfreulich ist ihre regelmäßige Erinnerung zur differenzierten Abwägung eventuell konfligierender Interessen zu werten.

IV. Conclusio Zum Schluss ihres Werkes schließt sich die Argumentationskette wieder hin zur Einordnung des Unternehmens in den gesamtwirtschaftlichen Kontext. Den eigentlichen Zweck jeglicher Unternehmensexistenz, nämlich die Befriedigung von Verbraucherwünschen, stellt Göbel zu Recht heraus, sieht aber die Rolle des Verbrauchers eher zurückhaltend, respektive wenig machtvoll. An dieser Stelle mag kritisch angemerkt werden, dass vor dem Hintergrund drastisch steigender Informationsfluten die nuancierende Einordnung der Verbrauchermacht durch Galbraith wohl kaum noch eine zutreffende Machteinschätzung darstellen dürfte. Auch an dieser Stelle wäre eine vertiefte ordnungspolitische Diskussion volkswirtschaftlicher Rahmenbedingungen - hier der Wettbewerbsgesetzgebung - hilfreich gewesen. Denn bei konsequenter wettbewerbspolitischer Ausrichtung der Ordnungsrahmenbedingungen kann durchaus eine umfängliche sowie nachhaltige Stärkung des Verbrauchers als eigentlichen, zentralen Machtfaktor in marktwirtschaftlichen Ordnungen erreicht werden.

V. Zusammenfassende Bewertung Nach der sehr detaillierten und sachkompetenten differenzierten Behandlung der betriebswirtschaftlichen Handlungsfelder sowie Akteure fallt das Schlusskapitel von Unternehmensethik eher knapp aus. Wie eingangs erwähnt, überlässt Göbel es tendenziell dem Leser, selbst Implikationen und komplexe Zusammenhänge zu verknüpfen. Göbels Buch stellt somit eine für betriebswirtschaftliche Zwecke erstklassige Grundlage für das Verstehen und das Umsetzen von Unternehmensethik dar. Angesichts des großen Umfangs des vorliegenden Werkes mit mehr als 330 Seiten (ohne Literaturverzeichnis) wäre eine differenzierte Behandlung ordnungspolitischer Grundlagen für das Handeln der Wirtschaftenden kaum leistbar gewesen. Hier hat sich der Le-

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ser am ebenfalls sehr umfangreichen Literaturverzeichnis zu orientieren. So gesehen ist Göbel nur konsequent, indem sie den Leser nach streckenweise durchaus trockener, mühsamer Lektüre auffordert, eine eigene Conclusio und ein eigenes abschließendes Urteil zu ziehen.

Literatur Gutenberg, Erich (1979), Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, 23. Aufl., Berlin, Heidelberg und New York. Hayek, Friedrich August von (2005), Die Verfassung der Freiheit, Neuausgabe, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1948), Wahrer und falscher Individualismus, ORDO, Bd. 1, S. 19-55. Hennecke, Hans Jörg (Hg., 2010), Markwirtschaft ist nicht genug: Gesammelte Aufsätze von Wilhelm Röpke, Tübingen. Koslowski, Peter (1988), Prinzipien der ethischen Ökonomie, Tübingen. Koslowski, Peter (2009), Ethik der Banken, Paderborn. Krämer, Werner, Karl Gabriel und Norbert Zöller (2000), Neoliberalismus als Leitbild für kirchliche Innovationsprozesse, Münster. Marx, Reinhard (2008), Das Kapital, München. Nowak, Michael (1996), Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Trier. Ottnad, Adrian, Stephanie Wahl und Meinhard Miegel (2000), Zwischen Markt- und Mildtätigkeit, München. Röpke, Wilhelm (1979), Jenseits von Angebot und Nachfrage, Bern. Sedlácek, Tomás (2012), Die Ökonomie von Gut und Böse, München.

André Schmidt

Patente und Produktmarktwettbewerb Besprechung des gleichnamigen Buches von Christoph Reiss* Die Existenz von Patenten bildet seit jeher Anlass zu kontroversen Diskussionen in der Wettbewerbspolitik und im Wettbewerbsrecht. Für die einen stellen Patente einen wesentlichen Anreiz für Innovationen und damit für die Erfüllung der dynamischen Wettbewerbsfunktionen dar, für die anderen sind sie als Garantien für temporäre Monopolstellungen eine Beschränkung des Wettbewerbs. Die Diskussion darüber, ob der Patentschutz den Wettbewerb fördert oder behindert, ist daher schon so alt wie der Patentschutz selbst und wird seit jeher von Ökonomen und Juristen gleichermaßen umstritten diskutiert. Spätestens jedoch mit dem seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beobachtbaren Phänomens des Innovationsparadoxons Anstieg der Patentanmeldung bei gleichzeitig sinkenden bzw. gleichbleibenden F&EAnstrengungen - haben sich die Bedenken, dass Patente vermehrt aus strategischen Gründen eingesetzt werden, um die Kosten der Wettbewerber zu erhöhen, verstärkt. Damit rücken die traditionellen Argumente des Patentschutzes zur Heilung von Marktversagen, wie sie in den Arbeiten von Arrow (1962) und Nordhaus (1969) auf der Basis der Nichtrivalität und Nichtausschließbarkeit von technischem Wissen abgeleitet wurden, mehr und mehr in den Hintergrund. Stattdessen würden die Patente vermehrt in die Rolle eines strategischen Aktionsparameters zur Verhinderung des Wettbewerbs hineinwachsen.

Christoph Reiss, Patente und Produktmarktwettbewerb: Der strategische Einsatz von Patenten im Wettbewerb jenseits der Innovationsforderung - eine Untersuchung wettbewerbspolitisch relevanter Patentstrategien, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2011, 542 Seiten.

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Die deutschsprachige Diskussion, insbesondere bezüglich der wachsenden strategischen Bedeutung des Patentschutzes, ist nun um eine neue Veröffentlichung bereichert worden. Christoph Reiss hat sich diesem Thema im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Bayreuth gewidmet. Auf insgesamt 467 Seiten und 40 Seiten mathematischem Anhang diskutiert der Autor Fragen der strategischen Bedeutung des Patentschutzes aus rechtlicher, aber vor allem auch aus industrieökonomischer Sicht. Kernanliegen seiner Dissertationsschrift ist es, eine integrative Sicht von Patent und Wettbewerbssystemen zu liefern (S. 2), die sowohl auf den Innovationsanreizeffekt als auch auf den strategischen Effekt auf komplexe Marktprozesse rekurriert. Dabei setzt sich der Verfasser das Ziel, auf der Basis formaler ökonomischer Modelle die strategische Realisierung von Wettbewerbsvorteilen auf bereits etablierten Produktmärkten zu untersuchen. Vor dem Hintergrund des oben zitierten Innovationsparadoxons greift der Verfasser somit eine gleichfalls aktuelle als auch wissenschaftlich relevante Themenstellung auf. Das Buch untergliedert sich in sieben Kapitel. Nach einer kurzen Einleitung wird zunächst das strategische Patentierungsverhalten auf den Produktmärkten aus rechtlicher und empirischer Sicht diskutiert. Daran anschließend werden die methodischen und modelltheoretischen Grundüberlegungen präsentiert. Die Frage nach den Interdependenzen zwischen Patent und Produktwettbewerb und damit die Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen produktund patentwettbewerblichen Aktionsparametern ist Gegenstand des vierten Kapitels. Den Schwerpunkt mit einem Umfang von ca. 270 Seiten bildet - einer Dissertationsschrift angemessen - die modelltheoretische Analyse der Patente im Produktmarktwettbewerb in Kapitel fünf. Auf diesen Ergebnissen aufbauend werden dann in Kapitel sechs politikrelevante Schlussfolgerungen gezogen und eine zukünftige Forschungsagenda entwickelt. In Kapitel sieben werden die wichtigsten Ergebnisse der Dissertation noch einmal zusammengefasst. Aus wissenschaftlicher Perspektive von besonderer Relevanz - und damit auch für den Leser von besonderem Interesse - sind insbesondere die Analysen über die Interdependenzen zwischen Patent- und Produktmarktwettbewerb sowie über die modelltheoretische Erfassung des strategischen Patentwettbewerbs. Daher bietet es sich hier auch an, diese beiden Aspekte besonders hervorzuheben. Einen wichtigen Ausgangspunkt für die Untersuchung bildet das vom Verfasser konstatierte Forschungsdefizit im Bereich der modelltheoretischen Verknüpfung zwischen Produktmarktwettbewerb und Patentwettbewerb (S. 117). So weist der Autor daraufhin, dass insbesondere ein Analysedefizit bezüglich der Existenz strategischer Patente sowohl in der positiven als auch normativen Literatur festzustellen ist. Dies bedeutet nicht, dass in der patentökonomischen und wettbewerbsökonomischen Literatur die strategischen Handlungsmotive nicht thematisiert und analysiert wurden, vielmehr seien diese Arbeiten jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sie ausschließlich ihren Fokus auf die Innovationsanreize bzw. die Rückwirkungen auf den F&E Markt richteten. Die eigentlichen Auswirkungen auf den Produktmarktwettbewerb würden jedoch allenfalls nur als Randerscheinungen behandelt. Damit würden wichtige Aspekte eines effizienten Patentrechts-Wettbewerbsrechts-Regulierungsregimes vernachlässigt. Um dieses Analysedefizit zu lindern, macht es sich der Autor zur Aufgabe, sich vor allem - auch in der modelltheoretischen Analyse - auf die produktmarktseitig motivierten Patentstrategien zu konzentrieren. Für die Analyse des Verfassers bedeutet dies vor allem, dass Patent- und Wettbewerbsrecht - wenn auf die Wirkungen des Endproduktmarktes abgestellt wird - als ein integriertes Gesamtsystem betrachtet werden müssen (S. 168). Diese Vorgehensweise lässt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund rechtfertigen, dass sowohl das Patent- als auch das Wettbewerbsrecht die Realisierung von dynamischen Effizienzgewinnen zum Ziel haben. Daher ist die in der Literatur häufig separierte Betrachtungsweise wenig geeignet, das Zusammenspiel zwischen beiden Rechtsarten abzubilden. Mit dem Verweis, beide auch in der modelltheoretischen Analyse simultan zu berücksichtigen, liefert der Verfasser einen wichtigen Ansatzpunkt. Die modelltheoretische Analyse der Verknüpfung zwischen Patent- und Produktmarktwettbewerb erfolgt mithilfe der spieltheoretischen Cournot-Nash-Gleichgewichte sowie der Stackelberg-Führerschaft. Dabei wird strategisches Patentverhalten der Unternehmen als Abschre-

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ckungsverhalten interpretiert, das Newcomer vom Markteintritt fernhalten bzw. kleinere Konkurrenten aus dem Markt drängen soll. Zunächst wird die Wirkung von Einzelpatenten unter Sicherheit und Unsicherheit getrennt voneinander untersucht. Daran anschließend wird der sequenzielle mehrstufige Einsatz strategischer Patentinvestitionen in asymmetrischen Märkten spieltheoretisch analysiert. Neben diesen eher einfachen Situationen konzentriert sich der Verfasser auch auf die Wirkungen strategischer Patente auf die endogenen Markteintrittskosten (Sutton 1991), insbesondere durch Patentdickichte und Patentstreitstrategien. Diese können sowohl offensiv als auch defensiv als Marktabschreckungsstrategie des Marktfuhrers eingesetzt werden. Darüber hinaus werden die Modelle der Patentdickichte nicht nur unter den Aspekten der Konkurrenzbeziehungen untersucht, sondern auch als Kooperationsproblem auf der Patentrechtsebene. Diese Kooperationsprobleme umfassen die Aspekte der vertikalen Disaggregation, der Standardsetzung und des hold-up sowie den Zusammenhang mit der Lizenzverweigerungsstrategie. Alles in allem erarbeitet der Verfasser einen sehr umfangreichen modelltheoretischen Rahmen, der alle erdenklichen Aspekte des strategischen Patentverhaltens von Unternehmen und Marktführern berücksichtigt. Betrachtet man die Ergebnisse, die der Autor aus seiner umfangreichen modelltheoretischen Analyse generiert, so lassen sich diese wie folgt zusammenfassen: Der Verfasser zeigt, dass eine hohe Wettbewerbsintensität um Patente (Patentrennen) ein effizientes Substitut für eine geringe Wettbewerbsintensität auf dem Endproduktmarkt sein kann. Verfolgt die Wettbewerbspolitik das Ziel, die Häufigkeit des Marktfuhrerwechsels zu erhöhen, so ist dies unter Umständen mit erheblichen Verlusten an dynamischen Effizienzgewinnen verbunden. Dabei verweist der Verfasser auf die Schwierigkeit, dass für die normative Beurteilung der strategischen Patente kaum robuste form- und strukturbasierte Beurteilungskriterien gefunden werden können, die zuverlässige Aussagen über die Effizienzwirkungen ermöglichen. Die wohlfahrtsökonomischen Wirkungen strategischer Patente, insbesondere auch jener, die die Erhöhung endogener Markteintrittskosten durch Patentdickichte intendieren, können in der Regel nicht a priori eindeutig abgeschätzt werden. Die Effizienz mindernden Effekte werden dabei umso kleiner sein, je höher die Wettbewerbsintensität der Branche ist und je geringer die exogenen Markteintrittskosten sind. Die Ergebnisse sind dabei weitgehend unabhängig von der Art der verwendeten Patente. Letztendlich ist die Wettbewerbsumgebung die entscheidende Variable, die darüber bestimmt, unter welchen Umständen die wettbewerbsfördernden Effekte die wettbewerbsbehindernden überkompensieren. Damit unterstreicht der Autor die generelle Skepsis gegenüber der pauschalen Beurteilung von strategischen Patenten. Dies bedeutet für ihn auch, dass man insbesondere einer Regulierungspraxis, die nur an der Quantität strategischer Patente festmacht, kritisch gegenüberstehen muss. Vielmehr kann eine hohe Anzahl strategischer Patente auch als ein Indikator für eine hohe Wettbewerbsintensität angesehen werden, insbesondere aufgrund potenzieller Konkurrenz. Wäre der potenzielle Wettbewerbsdruck nicht so hoch, würden auch die Anreize der etablierten Unternehmen sinken, mithilfe strategischer Patentportfolien sich gegen die potenziellen Konkurrenten zur Wehr zu setzen. Daher könnten solche strategischen Patente, bis hin zu den schlafenden Patenten als Ausdruck eines normalen Wettbewerbsprozesses angesehen werden. Der Verfasser artikuliert darin auch die Hoffnung, dass dies zu einer etwas positiveren normativen Bewertung von funktionslosen strategischen Patentbeständen in der ökonomischen Theorie führt. Will man die Ergebnisse der Untersuchung des Verfassers in einem Satz zusammenfassen, so kann man sagen, dass der Einsatz von strategischen Patenten per se weder zu Effizienzgewinnen noch zu Effizienzverlusten führt. Vielmehr kommt es auf die gesamte Marktkonstellation (Marktschranken, vertikale Integration etc.) an, ob die wohlfahrtssteigernden Effekte überwiegen oder nicht. Daher unterscheiden sich seine Ergebnisse bezüglich der Arbeit zur Beurteilung strategischer Patente nicht von jenen industrieökonomischen Arbeiten, die die wohlfahrtsökonomischen Wirkungen anderer Wettbewerbsstrategien wie Kopplungsbindungen und Preisdifferenzierungsstrategien untersuchen. Auch diese müssen sich per se nicht nachteilig auf die ökonomische Wohlfahrt auswirken.

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In der Gesamtschau ist zu konstatieren, dass der Autor eine beeindruckende Gesamtanalyse über die Wirkungen strategischer Patente für den Produktmarktwettbewerb vorgelegt hat. Aus Platzgründen konnte hier allerdings nur ein kleiner Ausschnitt der behandelten Probleme dargestellt und diskutiert werden. Ohne Zweifel befruchtet die Dissertationsschrift von Herrn Reiss die rechtliche und wettbewerbsökonomische Diskussion über die Beurteilung strategischer Patente. Positiv ist insbesondere hervorzuheben, dass der Verfasser darauf verzichtet, die Ambivalenz seiner Modellergebnisse in normative Handlungsempfehlungen oder gar wettbewerbspolitische Implikationen zu überfuhren. Dies ist außerordentlich wohltuend. Die Stärke der Dissertationsschrift ist vor allem darin zu sehen, dass der Verfasser aufzeigt, wie uneinheitlich die Ergebnisse strategischen Patentsetzungsverhaltens vor dem Hintergrund unterschiedlich vorherrschender Marktstrukturen zu sehen sind. Daher trägt diese Arbeit viel zur Verbesserung des Gesamtverständnisses über die Wirkung von strategischen Patenten für den Produktmarktwettbewerb bei. Kritisch anzumerken bleibt, dass die Stärke dieser Dissertation in Form der sehr ausführlichen modelltheoretischen Analyse unter der Berücksichtigung der verschiedensten Konstellation gleichzeitig auch eine Schwäche darstellt. Das überaus ambitionierte Vorgehen des Verfassers, die modelltheoretische Analyse unter allen erdenklichen Konstellationen zu diskutieren, schränkt die Lesbarkeit seiner Schrift erheblich ein. Der Verfasser mutet seinem Leser viel zu, die umfangreichen und teilweise komplexen Modellspezifikationen jederzeit nachzuvollziehen und die Ergebnisse zu interpretieren. Vermisst wird daher insbesondere eine überblicksartige qualitative Zusammenfassung der quantitativen Modellergebnisse. Auch wenn dies teilweise im sechsten Kapitel geschieht, so erfolgt die Zusammenfassung jedoch oftmals zu spät, um für den Leser nachvollziehbar zu bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Schreibstil des Verfassers nicht gerade dazu beiträgt, die komplexen Modellergebnisse in die wettbewerbspolitische Praxis zu übertragen. Diese kritischen Anmerkungen sind jedoch hauptsächlich als Fußnote zu verstehen. Sie schmälern keinesfalls die wissenschaftliche Leistung des Autors. Er hat mit seiner Dissertationsschrift einen wichtigen und essenziellen Beitrag geliefert, das bisher wenig beleuchtete Feld der Verbindungen zwischen Patent- und Produktmarktwettbewerb der wettbewerbsökonomischen und rechtlichen Diskussion zugänglich zu machen und gleichzeitig die Perspektiven einer zukünftigen Forschungsagenda aufzuzeigen.

Literatur Arrow, Kenneth (1962), Economic Weifare and the Allocation of Resources for Invention, in: NBER: The Rate and Direction of Inventive Activity: Economic and Social Factors, Princeton, S. 609-625. Nordhaus, William D. (1969), Invention, Growth, and Weifare: A Theoretical Treatment of Technological Change, Cambridge und London. Sutton, John (1991), Sunk Costs and Market Structure: Price Competition, Advertising, and the Evolution of Concentration, Cambridge.

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Schneider

Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik: Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender* Dieser Sammelband zum Thema „Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik", der dem wissenschaftlichen Wirken von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender als Hochschullehrer, Dozent, Praktiker, Autor, Unternehmer, Berater und Gutachter für die Wirtschaftspolitik und Gesundheitsökonomie in Deutschland gewidmet ist, greift die Vielfältigkeit des Wirkens des zu Ehrenden in der Wirtschaftspolitik und in der Gesundheitsökonomie auf. Der Hauptteil des Buches konzentriert sich auf die Gesundheitsökonomie und hier im Speziellen auf den Krankenhausmarkt und die Pharma- und Medizinprodukteindustrie. Der Sammelband gliedert sich in fünf Teile. Die ersten beiden Beiträge von Georg Rüter und Ulrich Fehl setzen sich mit dem wissenschaftlichen Wirken und der Lehrtätigkeit des Jubilars auseinander und zeigen gekonnt auf, wie Peter Oberender die Studentinnen über fünfzig Jahre lang mit seinen Vorlesungen, die immer einen starken Theoriebezug aber auch einen ebenso starken Praxisbezug hatten, begeisterte. Im Bereich der Gesundheitsökonomie hat er sich in der Lehre besonders stark engagiert und hier den Studentinnen das Denken in allgemeinen Mustern und die Anwendung ökonomischer Modelle zur Analyse und Bewertung der Krankenhausfinanzierung, der Krankenhausplanung, der Krankenhausmarktentwicklung, des Arzneimittelmarktes und der Ärzteorganisationen gelehrt. Ulrich Fehl zeigt auch in seinem Beitrag, wie stark Peter Oberender Theorie und Praxis miteinander verbunden hat. Im folgenden Themenblock wird in vierzehn Beiträgen das wirtschaftspolitische Wirken von Peter Oberender gewürdigt. Sie spannen sich von Manfred E. Streit „Rechtsstaat und Sozialstaat - ein ordnungspolitischer Gegensatz" über Norbert Eickhof „Wettbewerbspolitik versus ,neue' Industriepolitik" zu Martin Leschke „Freiwillige Kooperation in nicht-iterierten Gefangenendilemma - Die Rolle moralischer Dispositionen" hin zu Bernd Noll „Zur Regulierung von Managergehältern in Deutschland - eine institutionenökonomische Analyse", Alice Weidel „Der Euro ist kein Integrationsvehikel für Europa" (heute aktueller denn je!) und Bernd Wolfrum „Open Innovation. Erfolgsrezept für Innovationsprozesse?". Es würde den Rahmen dieser Buchbesprechung sprengen, auf die einzelnen Beiträge einzugehen. Jeder ist für sich gut geschrieben, behandelt ein wissenschaftlich spannendes und anregendes Thema, und in vielen wird auch immer wieder ein Bezug zu Peter Oberender hergestellt. Damit wird ersichtlich, wie stark auch sein Wirken in der klassischen Wirtschaftspolitik war. Der zweite, umfangreichere Teil des Buches enthält sechzehn Beiträge, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit Themen der Gesundheitsökonomie beschäftigen. Eugen Münch, der Gründer der RHÖN-KLINIKUM AG, geht der Frage nach, inwiefern die Gesundheitswirtschaft ein Wachstumsmarkt ist. Nach Jürgen Zerth mit seinem Beitrag „Zweiseitige Märkte und Gesundheitswirtschaft: Übertragbarkeit der Theorie und potenzielle Implikationen für Wettbewerb und Regulierung" analysiert Hanno Beck, ob Erkenntnisse der Behavioral Economics die Effizienz des Gesundheitssystems verbessern können. Matthias Graf von der Schulenburg und Kathrin Damm greifen in ihrem Beitrag „Ökonomisches Handeln ist ethisches Handeln: Werturteil als Rahmen gesundheitsökonomischer Forschung" das Diskussionsfeld auf, für das Peter Oberender wie kein zweiter Gesundheitsökonom in Deutschland steht und einen klaren Standpunkt vertritt. Wolfgang Gitter greift in seinem Aufsatz „Das Pflegefallrisiko - ein Thema bei der Gründung der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie und heute" die nach wie vor aktuelle Problematik der Finanzierung der Pflegeversicherung auf. Georg Rüter, Patrick Da-Cruz, Philipp Schwegel, Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik: Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Oberender, Verlag Lucius und Lucius, Stuttgart 2011,652 Seiten.

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In den Beiträgen werden alle wesentlichen gesundheitsökonomischen Fragestellungen sowohl theoretisch als auch empirisch analysiert. Die Beiträge gehen auch über die traditionelle Ökonomie hinaus, wie beispielsweise der Beitrag von Matthias Graf von der Schulenburg und Kathrin Damm. Sie zeigen, dass ökonomisches Handeln immer auch ethisches Handeln ist und setzen sich mit dem Vorwurf auseinander, dass die Gesundheitsökonomie, im Rahmen von Entscheidungsempfehlungen ethische Aspekte unberücksichtigt lässt oder nur halbherzig auf sie verweist. Hierbei weisen die Autoren zu Recht darauf hin, dass gesundheitsökonomische Evaluationen der Optimierung der Allokation und dem sorgsamen, nachhaltig nutzenbringenden Umgang mit knappen Ressourcen dienen. Sie beruhen aber auf Axiomen (Werturteilen), zu denen zugrunde liegende Gerechtigkeitsvorstellungen gehören, die transparent gemacht werden müssen, über die jedoch nicht logisch gestritten werden kann. Dieser Beitrag zeigt, in welch schwierigem Spannungsfeld sich die gesundheitsökonomische Forschung befindet. Der vierte Teil des Buches setzt sich mit dem Krankenhausmarkt auseinander und enthält acht Beiträge. Es erfolgt zunächst eine empirische Bestandsaufnahme der Krankenhausszene in den vergangenen dreißig Jahren durch Uta Meurer. Christoph Rascher und Andrea Braun von Reinerdorff setzen sich mit „Krankenhäuser im Spannungsfeld von Markt- und Versorgungsauftrag: von der Medizinmanufaktur zur Hochleistungsorganisation" auseinander. Aber auch andere wichtige Themen wie das von Jörg Schlüchtermann „Die Aufbauorganisation im Krankenhaus - Analyse des Status Quo und Weiterentwicklungsperspektiven" werden behandelt. In diesem Teil erfolgt eine umfassende Analyse des Krankenhausmarktes nach dem Wissensstand bis zum Jahr 2009/10. Der letzte Teil des Buches setzt sich mit der Pharma- und Medizinprodukteindustrie auseinander und enthält vier Beiträge. Jochen Fleischmann analysiert die institutionelle Gestaltung der Arzneimittelversorgung. Hartwig Bauer untersucht in seinem Beitrag Fragen der „Kooperation zwischen Ärzten und Industrie: Der Umgang mit Interessenkonflikten". Auch in diesem Teil erkennt man, dass die Gesundheitsökonomie sich gerade in der Pharma- und Medizinprodukteindustrie in einem sehr komplexen Interaktionsfeld bewegt, was auch Peter Oberender immer analysiert hat. Insgesamt ist dies eine Festschrift, die nicht nur einen weiten Bogen spannt, sondern zugleich gekonnt herausarbeitet, in welcher wissenschaftlichen Breite Peter Oberender geforscht und gelehrt hat. Man kann den Herausgebern zu diesem Band nur gratulieren. Er enthält viele spannende Beiträge und kann auch als Nachschlagewerk sehr empfohlen werden.

Cord Siemon

Internationales Management Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von M. Kutschker und St. Schmid* Das Buch von Kutschker und Schmid widmet sich dem theoretisch und praktisch bedeutsamen Handlungsfeld der strategischen Positionierung von Unternehmen im Zeitalter der Internationalisierung. Das Buch versteht sich explizit als Lehrbuch und ist an sich bereits eine Erfolgsstory - es liegt bereits seit einiger Zeit in der 6. Auflage vor und präsentiert sich mit ca. 1.400 Seiten (inkl. Literaturverzeichnis) quasi als Enzyklopädie. Das Buch ist in sieben Abschnitte aufgeteilt, die logisch aufeinander aufbauen.

Michael Kutschker und Stefan Schmid, München 2008, 1464 Seiten.

Internationales Management, 6. Auflage, Verlag Oldenbourg,

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Die Kapitel 1 und 2 gewähren zunächst einen umfangreichen Einblick in die grundlegenden Aspekte der Internationalisierung der Wirtschaft und der Unternehmung. Im Anschluss an eine vorzüglich gelungene Einführung, die neben der historischen Darstellung auch die anschauliche Erfassung der wichtigsten Begrifflichkeiten umschließt, erfolgt eine dezidierte Darstellung der allgemeinen quantitativen Dimension mit einem speziellen Fokus auf die Außenhandelstätigkeit in Deutschland. Daran anknüpfend werden die terminologischen und inhaltlichen Grundlagen der Direktinvestitionen dargelegt, samt der traditionell angeführten betriebswirtschaftlichen Motive (beschaffiings-, absatz-, effizienz- und strategische Motive). Es folgt die Darstellung der Berührungspunkte zum Konzept der Zahlungsbilanz (S. 144 ff.) und den Entwicklungstendenzen in der Weltwirtschaft (S. 159 f f ) . Im Anschluss werden die Entwicklungstendenzen und Konsequenzen der Globalisierung dargelegt, indem die von Ökonomen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen vorgetragenen positiven und negativen Seiten gegenüber gestellt werden (S. 175 f f ) . Die allseits bekannten Bedenken von Globalisierungsgegnern lassen sich dabei wie folgt zusammen fassen (S. 178 f. m.w.N.): •

Mögliche Aushöhlung der Sozialsysteme;



Verlust von Arbeitsplätzen in Industrieländern;



Zurückdrängen von Gewerkschaften und Tarifautonomie;



Potenzielle Gefahr der Ausbeutung von Arbeitskräften in Entwicklungsländern;



Umweltzerstörung in weiten Teilen der Erde;



Ausbreitung organisierter Kriminalität (Drogenhandel etc.);



Verlust staatlicher Souveränität.

Dem gegenüber stehen die traditionell von orthodoxen Ökonomen angeführten Vorteile der „optimalen" Allokation der Ressourcen und der allgemein wohlfahrtssteigernden Wirkung im Zuge der besseren Nutzung von Spezialisierungsvorteilen. Durch den stärkeren Wettbewerb führe Globalisierung zu mehr Innovationstätigkeit, größerer Flexibilität, schnellerer Reaktion und besserer Qualität der Produkte und Dienstleistungen (S. 180 f.). Das Kapitel 1 schließt mit einer Analyse der Triebkräfte der Globalisierung von Unternehmen und stellt dazu die Rolle der Rahmenbedingungen sowie der Nachfrage-, Wettbewerbs- und Angebotsfaktoren heraus (S. 182 ff.). Im Rahmen des zweiten Kapitels wird zunächst ein Grundverständnis für die internationale Unternehmung vermittelt, indem traditionelle Trugschlüsse zum Themenfeld „Internationale Unternehmung" geliefert werden (S. 244 ff). Demzufolge wird das Erkenntnisobjekt übervereinfacht allein auf internationale Unternehmungen beschränkt, •

die zahlreiche Tochtergesellschaften im Ausland haben;



bei denen in ausländischen Tochtergesellschaften vor allem Vertrieb und/oder Produktion existieren;



die vollbeherrschte Tochtergesellschaften im Ausland haben;



die als Großunternehmen und in Form von Aktiengesellschaften agieren;



die bereits lange am Markt existieren und sich erst nach erfolgreicher Bearbeitung des Inlandsmarktes in Auslandsmärkte wagen;



die vor allem als Industrieunternehmen agieren;



die als private bzw. privatwirtschaftliche Unternehmungen agieren;



die ihren Stammsitz in großen industrialisierten Volkswirtschaften haben.

Diese Trugschlüsse werden anschaulich dargestellt und anhand von Praxisbeispielen hinterfragt. Auf diese Weise wird dem Leser ein Grundverständnis internationaler Unternehmungen geliefert, welches er zu einer Vielzahl alternativer Betrachtungsweisen in Beziehung setzen kann. Letztere lassen sich grundsätzlich nach quantitativen, qualitativen und integrativen Konzepten systematisieren (S. 255 ff.).

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Daran anknüpfend erfolgt die Einordnung des Themenfeldes in einen außenhandelstheoretischen Kontext (Kapitel 3). In diesem Zusammenhang werden die theoretischen Strömungen der Außenhandelstätigkeit systematisch vorgestellt. Dabei stehen zunächst die „ultra-traditionellen" und „traditionellen" Theorien des Außenhandels - so der Wortlaut bei Kutschker und Schmid (S. 377 ff.) - im Vordergrund. Gemeint sind die bekannten theoretischen Ideen von Smith, Ricardo sowie Heckscher und Ohlin zum einen und von Kravis, Posner und Linder zum anderen. Im Anschluss daran werden die Theorien der Direktinvestitionen (kapitalmarktorientierte Ansätze von Aliber, Krugman etc., Theorie des monopolistischen Vorteils von Hymer, die Theorie des oligopolistischen Parallelverhaltens von Knickerbocker und Graham sowie der Handelsschrankenansatz) vorgestellt. Aufbauend auf diesen theoretischen Strömungen stellen die Autoren übergreifende Theorien der Internationalisierung vor (Ansätze zur generellen Begründung der Internationalisierung und zur Begründung unterschiedlicher Formen der Internationalisierung). Um es vorweg zu nehmen: Nach meinem persönlichen Geschmack ist dies - insbesondere unter ordnungsökonomischen Gesichtspunkten - das interessanteste Kapitel. Aufbauend auf diesen Grundlagen werden Organisationsstrukturen international tätiger Unternehmungen theoretisch und praktisch beleuchtet (Kapitel 4), um sie anschließend unter dem Blickwinkel der Kulturdimension vertiefend zu analysieren (Kapitel 5). Die aus dem Vorhergehenden resultierenden strategischen Implikationen werden eingehend vorgestellt (Kapitel 6) und abschließend im Kontext eines dynamischen Unternehmens- und Wettbewerbsverständnisses betrachtet (Kapitel 7). Vor dem Hintergrund der Fülle an Gedanken und des Datenmaterials versteht es sich von selbst, dass die nachfolgende Buchbesprechung den Inhalt des Gesamtwerkes weder in der Breite noch in der Tiefe ausführlich widerspiegeln kann. Konzentrieren wir uns daher auf den bereits angesprochenen Aspekt der Verzahnung von primär volkswirtschaftlich geprägten Theorieströmungen des internationalen Handels mit der betriebswirtschaftlichen Logik zur internationalen Aktivität von Unternehmen im Globalisierungsprozess. Auf Seite 402 erklären die Autoren in einem Zwischenfazit, „dass jeglicher Versuch, die Export- und Importtätigkeiten monokausal zu erklären, zum Scheitern verurteilt wäre. Sie mögen sich vielleicht fragen, ob neben den traditionellen Ansätzen nicht auch noch ,modernere' Ansätze existieren. Ein Blick in (eher) volkswirtschaftlich orientierte Werke zum Außenhandel verdeutlicht allerdings, dass sich im Laufe der Zeit keine grundlegend neuen Erklärungsansätze durchgesetzt haben." Mit diesem Zitat konstatieren die Autoren im Grunde genommen, dass selbst die moderne Außenwirtschaftstheorie nach wie vor von jenen gleichgewichtsökonomischen Modellen dominiert wird, welche insgesamt wenig Raum für entwicklungs- und evolutionsdynamische Belange lassen. Es sind bspw. die Arbeiten von Schumpeter und Hirschman, welche bekanntlich ein breiteres entwicklungsökonomisches Verständnis für außenwirtschaftliche Aktivität liefern. Sie zielen auf die innovative Leistungsfähigkeit von Unternehmen in einem sozialen Kontext ab. Diese Ansätze lassen sich jedoch nicht ohne weiteres mit den eher statisch ausgerichteten Ansätzen verschmelzen. Zwar gibt es verschiedene Berührungspunkte zu den bekannten innovationslogischen Modellen von Posner, Linder und anderen, jedoch sind sie mit dem Entwicklungsverständnis der Gleichgewichtsökonomie bekanntlich nicht kompatibel (.Hirschman 1958; Röpke 1977). Man kann davon ausgehen, dass Ricardos. Theorem der komparativen Kostenvorteile grundsätzlich Gültigkeit hat; über die darauf aufbauenden Theoreme für die Ursachen außenwirtschaftlicher Aktivität besteht jedoch noch längst keine Einigkeit. Ricardo sah in den natürlichen Ressourcen die Hauptquelle für internationale Handelsströme. Entwicklungsökonomisch wissen wir, dass ressourcenreiche Länder jedoch häufig von einer holländischen Krankheit befallen sind, welche die Entwicklung dynamischer Prozesse im Sinne von Schumpeter behindert (Kleinknecht und Naastepad 2007). Nehmen wir mit Posner und anderen schumpeterschen Ökonomen jenseits des Mainstreams an, dass eine hohe Innovations- und Gründungsdynamik in Verbindung mit einem korrespondierenden Finanzsystem, welches die finanziellen Mittel für diese unternehmerische Aktivität bereitstellt, Handelsströme verursacht. Dann bleibt bspw. die Frage: Welches schumpetersche

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Geschäftsmodell hat Griechenland bzw. kann Griechenland Schritt fiir Schritt entwickeln, um sich qua strategisch und innovativ denkender Unternehmer aus seiner Tourismusabhängigkeit („Holländische Krankheit") zu emanzipieren, ohne sich dabei der vielerorts geforderten Lohnniveaureduzierung von mind. 30 % unterwerfen zu müssen? Welche Rolle spielen dabei die hoch gelobten Direktinvestitionen? Nehmen wir das Beispiel Estland. Nach der wieder erlangten Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu Beginn der Neunzigeijahre avancierte insbesondere Estland zu einem Labor einer äußerst liberalen Wirtschaftspolitik. Niedrige Steuern, minimale Außenhandelsbeschränkungen, ein Minimum an Bürokratie und vieles mehr führten dazu, dass viele international tätige Unternehmen Direktinvestitionen vornahmen, von denen sich die Regierung sowie viele Ökonomen und Politikberater langfristig Prosperität und Entwicklungsdynamik versprachen. Die Auswirkungen verblüfften die Fachwelt. Während die baltischen Länder zwischenzeitlich mit Wachstumsraten von durchschnittlich 8 % und mehr aufwarten konnten, wurden sie von der Krise stärker betroffen als andere Staaten. Vielerorts wird diese Krisenanfälligkeit dem marktradikalen Wirtschaftsmodell angelastet, weil die eingeworbenen Direktinvestitionen in Verbindung mit den überbordenden Konsum- und Kreditsansprüchen in der Bevölkerung zwar Wachstum, aber keine Entwicklungsimpulse bewirkten. Die im baltischen Raum vorgenommen Direktinvestitionen repräsentieren im wesentlichen Entwicklungsarbeitstätigkeitsfelder am Ende von Produktzyklen, die kaum zu bedeutsamen Kopplungswirkungen und Entwicklungsimpulsen führten (Kattel, Tiits und Kalvet 2006). Ein sowohl für international agierende Unternehmen als auch für politische Akteure relevantes Außenhandelsmodell müsste diese innovationslogischen Aspekte jenseits der Gleichgewichtslogik einfangen, um beispielsweise anhand der Handlungsvariablen „Handlungsrechte", „Fähigkeitsniveau" und „Motivation" ein handlungspraktisches Modell in den Händen zu halten {Röpke 1977). Warum steht China beispielsweise bei der Diskussion um die regionale Führerschaft im 6. Kondratieff im Fokus? Welche Rolle spielt dabei das explizite und implizite Wissen, welches insbesondere an den Hochschulen produziert wird und durch die neueren Informations- und Kommunikationstechnologien weltweit schnell verfügbar (und kopierbar; China!) ist (siehe dazu Siemon 2009)? Welche ordnungsökonomischen Grundvoraussetzungen müssten zur Wahrung der Property Rights gewährleistet sein, um den handlungsrechtlichen Rahmen für eine weltweit galoppierende Innovationsdynamik herzustellen? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen wäre es daher m. E. wünschenswert, wenn ein Lehrbuch zum Internationalen Management auch die von Schumpeter aufgeworfenen Fragen zur Innovations- und Gründungsdynamik aufnehmen und im internationalen Kontext diskutieren würde. Dabei ließe sich m. E. auch ein fruchtbares Zusammenspiel zwischen den traditionellen Ansätzen des internationalen Handels und dieser entwicklungsdynamischen Perspektive herstellen. Dieser kleine ordnungs- und evolutionsökonomische Exkurs soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vorliegende Buch sich in hervorragender Art und Weise als Standardwerk zum Internationalen Management eignet. Das Buch ist verständlich und flüssig geschrieben und zahlreiche Abbildungen und Tabellen untermauern die vorgetragene Argumentation. Wie bereits angedeutet, ist die Verzahnung von volkswirtschaftlicher Außenwirtschaftstheorie mit einer betriebswirtschaftlichen Perspektive eine Besonderheit, die den Leser einlädt, dieses vielschichtige Thema von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Der besondere didaktische Wert zeigt sich unter anderem auch darin, dass am Ende eines jeden Abschnittes Fragen zur Selbstkontrolle und zur Vertiefung des Lehrstoffes aufgeführt sind. Im Vorwort zur 6. Auflage erklären die Autoren, dass sie vornehmlich das Datenmaterial bezüglich der Direktinvestitionstätigkeit aktualisiert und die sog. GLOBE-Studie zur Kulturdimension des Internationalen Managements mit aufgenommen haben. Vor dem Hintergrund der bisherigen Taktung ist zu erwarten, dass in absehbarer Zukunft eine neue Auflage am Markt erscheinen wird, zumal das Thema en vogue ist und das Datenmaterial permanenten Veränderungen ausgesetzt ist.

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Literatur Hirschman, Albert (1958), Strategy of Economic Development, New Häven. Kattel, Rainer, Marek Tiits und Tarmo Kalvet (2006), Made in Estonia, Tallinn. Kleinknecht, A. und C.W.M. Naastepad (2007), Innovationspolitik in den Niederlanden, in: Gerlach, Frank und Astrid Ziegler (Hg.), Innovationspolitik: wie kann Deutschland von anderen lernen? Marburg, S. 120-133. Röpke, Jochen (1977), Strategie der Innovation, Tübingen. Siemon, Cord (2009), Innovationspolitik, Wissenstransfer und der 6. Kondratieff: Knabenmorgenblütenträume in der Krise? Norderstedt.

Cord

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William Baumols Markttheorie unternehmerischer Innovation Anmerkungen zu einem von I. Pies und M. Leschke herausgegebenen Sammelband* Der von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegebene Sammelband widmet sich einer differenzierten Betrachtung von William Baumols Lebenswerk. Im Vorwort erklären die Herausgeber, dass die Beiträge das Werk unter dem Blickwinkel untersuchen, „welche Bedeutung und Aktualität ihm für sozialwissenschaftliche Problemstellungen zukommt: was leisten die Analysen von William Baumol zum besseren Verständnis der Funktionsweise und zur besseren Gestaltung moderner Gesellschaften?" Dabei gliedert sich der Sammelband in drei Hauptabschnitte auf: Im ersten Abschnitt stellt Ingo Pies im Rahmen eines einführenden Beitrags Baumols Beitrag zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dar. Der zweite Teil umfasst die Tagungsbeiträge einer interdisziplinär besetzten Tagung, die vom 6. bis 8. September 2010 in Wittenberg stattfand. Dieser Abschnitt unterteilt sich in fünf thematische Unterabschnitte, die jeweils einen Hauptbeitrag und zwei Korreferate beinhalten. Im dritten Teil stellt Reese-Schäfer im Rahmen eines Epilogs die wirtschaftspolitischen Folgerungen aus dem Werk William Baumols dar. Die Tagungsbeiträge beschäftigen sich mit den nachfolgenden Themen: „Die Baumolsche Kostenkrankheit" (Jh. Apolte), „William Baumol und die Theorie der Contestable Markets" (N. Otter), „William Baumol und die Rolle des Staates" (B. Hansjürgens), „Kapitalismus, Wachstum und Entwicklung: Das Marktsystem und seine Ergebnisse aus der Sicht von William J. Baumol" (M. Leschke) und „William Baumol und die gesellschaftliche Allokation unternehmerischen Handelns" (Th. Döring). Um es vorweg zu nehmen: alle fünf Hauptbeiträge erfassen die theoretischen Grundüberzeugungen von William Baumol auf sehr überzeugende Art und Weise. Sie sind gut geschrieben, stellen die an Baumol anknüpfenden Entwicklungslinien plastisch dar und werden durch die Koreferate in sehr konstruktiver Form ergänzt. Im Rahmen seiner Einleitung stellt Ingo Pies heraus, dass sich durch Baumols Gesamtwerk ein roter Faden zieht. „Er besteht darin, das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik - insbesondere das Verhältnis zwischen Markt und Staat - immer wieder neu zu bestimmen und hierbei nicht Substitutionalität und Konflikt, sondern vielmehr Komplementarität und Harmonie zu betonen" (S. 32). Er konstatiert, dass Baumol bspw. dem öffentlichen Sektor wichtige Beiträge zur Wissensgenerierung (in Form institutioneller Anreize zur Förderung unternehmerischen Handelns und in Form öffentlich finanzierter Forschungs- und Entwicklungstätigkeit) beigemessen hat. Darüber hinaus habe Baumol in seinen umweltpolitischen Schriften gezeigt, dass

Martin Leschke und Ingo Pies (Hg.), William Baumols Markttheorie unternehmerischer Innovation, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2011, 257 Seiten.

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ein marktwirtschaftlich organisiertes System dann schlechte Ergebnisse hervorbringt, wenn die Umweltressourcen zu niedrig bepreist sind, so dass sich die volkswirtschaftlichen Kosten ihrer Inanspruchnahme in der Kalkulation der Unternehmen nicht angemessen niederschlagen. Dies müsste nicht so sein, da Märkte institutionell so gestaltet werden können, dass die wettbewerbliche Logik für das gesellschaftliche Anliegen des Umweltschutzes herangezogen werden kann. In ähnlicher Weise betont Pies, dass Baumols Schriften zur Kostenkrankheit auf Wahrnehmungsprobleme aufmerksam machen, die dazu fuhren können, dass aus (versehentlich) falsch gestellten Diagnosen die Anwendung falscher Therapien resultiert. Der Beitrag von Thomas Apolte fokussiert auf die so genannte Baumolsche Kostenkrankheit. Diese gehöre zu den bekanntesten Phänomenen der modernen Ökonomie. Die Logik dieses Phänomens sei dem Prinzip nach sehr einfach: Wenn eine Volkswirtschaft aus verschiedenen Sektoren besteht und einige davon in stärkerem Maße von technologisch bedingten Produktivitätssteigerungen betroffen sind als andere, dann stellt sich die Frage, wie sich ein Auseinanderdriften der Produktivität in makroökonomischen Größen widerspiegelt. Nach Baumol orientiert sich die Faktorentlohnung allein an der Produktivitätsentwicklung desjenigen „dynamischen" Sektors, welcher die stärkste Produktivitätssteigerung aufzeigt. Sollte es so sein, dass sich die Faktorpreise in den stagnierenden Sektoren mit der gleiche Rate entwickeln wie im dynamischen Sektor, so müssen dort die Absatzpreise steigen. Unter dieser Voraussetzung entstehe die Metapher einer „Kostenkrankheit", da die Leistungen aus den Sektoren mit stagnierender Produktivitätsentwicklung im Zeitablauf immer teurer werden (S. 30). Apolte schlussfolgert daraus, dass es Baumols Verdienst sei, „auf die Bedeutung der Unterschiedlichkeit hinzuweisen, mit der der Faktor Sparen dem technischen Fortschritt voranschreitet. Baumol hat in seinen Propositionen vor allem danach unterschieden, wie die Nachfrager nach Produkten aus den stagnierenden und dem dynamischen Sektor reagieren" (S. 52). Apolte zeigt ferner, dass man mit dieser Sichtweise - sofern m a n inhomogene Faktormärkte unterstellt - auch ganz aktuelle Entwicklungen erklären könne: „Wenn etwa die Lohnentwicklung bei einfachen und stark kompetitiven Dienstleistungen hinter jener von hochqualifizierten und schwer substituierbaren Dienstleistungen zurückbleibt, beide aber zu einem stagnierenden Sektor gehören, so entfaltet die Theorie der Bauraolschen Kostenkrankheit Effekte, wie sie in den letzten anderthalb Dekaden in nahezu allen Industrieländern beobachtbar waren" (S. 52). Der Beitrag von Nils Otter hat die Theorie der Contestable Markets von Baumol z u m Gegenstand. Otter erklärt, dass diese Theorie heutzutage als fester Bestandteil des ökonomischen Standardprogramms angesehen werden kann. Zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen von Baumol sei die Erkenntnis, „dass es für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen ein Monopol die ökonomisch effizienteste Versorgung der Gesellschaft sicherstellt, nicht auf mögliche Skalenerträge der Produktion ankommt, sondern vielmehr die sog. Subadditivität entscheidend ist" (S. 71). Darunter versteht man in der Industrieökonomik bekanntlich einen Zustand, in dem die Produktion von Gütern bzw. Dienstleistungen durch ein Unternehmen kostengünstiger als durch mehrere Unternehmen erfolgen kann. In seinem Fazit erklärt Otter, dass sich nach Würdigung der theoretischen und empirischen Forschungsergebnisse ein uneinheitliches Bild im Hinblick auf Baumols berühmte Theorie ergibt: „Während die theoretische Diskussion ergeben hat, dass die Mithilfe dieser Theorie abgeleiteten Aussagen erstens einen rein statischen Gleichgewichtszustand beschreiben und zweitens nur unter Geltung einiger sehr restriktiver Annahmen zu erzielen sind, scheint die wirtschaftspolitische Anwendbarkeit der Theorie, zumindest in einigen Bereichen der Marktregulierung und Fusionskontrolle, durchaus gegeben zu sein" (S. 92). Otter konstatiert, dass die Kritik an der „reinen" Theorie der Contestable Markets nicht haltbar sei. Sie sei im Wesentlichen „ein formal-axiomatisches System", welches „in sich widerspruchsfrei und logisch schlüssig ist"; vor dem Hintergrund der getroffenen Annahmen seien die abgeleiteten Ergebnisse „robust" (S. 92). Otter stellt jedoch auch einige inhaltliche Kritikpunkte heraus und verweist darauf, dass die Theorie „vor dem Hintergrund der zeitgeschichtli-

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chen Problemstellungen in der Industrieökonomie diskutiert werden [sollte]" (S. 94). Dabei sei es u.a. bemerkenswert, dass Baumols Werk sich bereits 1968 mit dem Themenkomplex des dynamischen Unternehmertums beschäftigte, „was eine weniger gleichgewichtsorientierte Herangehensweise zur Bestimmung von Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis nahe gelegt hätte" (S. 92). Bernd Hansjürgens widmet sich in seinem Beitrag der Rolle des Staates in Baumols Gesamtwerk. Er konstatiert, dass Baumols Beiträge zur Bedeutung der Staatstätigkeit häufig unterschätzt werden, zumal sich dessen Dissertation eben jenem Thema bereits ausfuhrlich widmete. Bereits dieses Werk kann als umfassende Kritk an der neoklassischen Wohlfahrttheorie verstanden werden, d.h., Baumol reiht sich damit in die Reihe liberaler Ökonomen wie Smith oder MiII ein, welche ebenfalls stets über die angemessene Rolle des Staates nachgedacht haben. Hansjürgens kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Baumol mit seinen Arbeiten zur Rolle des Staates und zum so genannten Standard-Preis-Ansatz nicht nur wichtige theoretische Akzente gesetzt hat, sondern auch wichtige Anhaltspunkte für die heutige Rolle des Staates in der Umweltpolitik geschaffen hat (S. 123): Er habe gezeigt, dass die privaten Wirtschaftssubjekte bestimmte Güter nicht anbieten bzw. finanzieren und ein Free-Rider-Verhalten an den Tag legen, obwohl sie Präferenzen für diese Güter haben. Der Staat sei hier aufgerufen, „aus dem wohlverstandenen Interesse der Mitglieder der Gesellschaft heraus Zwang auszuüben, um für das Angebot zu sorgen und alle Beteiligten zur Finanzierung heranzuziehen. In diesen Überlegungen Baumols sind die Grundelemente einer Theorie der öffentlichen Güter angelegt, die wenig später von Samuelson in voller Reife entwickelt wurde" (S. 124). Diese Perspektive spiegele sich auch im Standard-Preis-Ansatz wieder, denn dieser Ansatz beruhe eben auf jener Annahme, dass es die Aufgabe der Umweltpolitik sei, Umweltstandards festzulegen und sie den privaten Wirtschaftssubjekten in Form von Knappheitspreisen zur Erreichung dieser Standards vorzugeben. Für die Instrumentenwahl werden von Baumol (und Oates) marktbasierte Instrumente wegen ihrer Effizienzeigenschaften favorisiert (S. 124). Martin Leschke untersucht in seinem Beitrag zum Thema „Kapitalismus, Wachstum und Entwicklung" die Perspektive von Baumol auf das Marktsystem und dessen Ergebnisse. Baumol stelle dabei eine wohltuende Ausnahme von jener Ökonomenzunft dar, die sich einer Partialorientierung der Ökonomie zugewendet haben. Er führt dazu die beiden Bücher „The Free Market-Innovation Machine" (2002) und „Good Capitalism, Bad Capitalism and the economics of growth and prosperity" (2007) an, in denen Baumol versucht hat, „die Geheimnisse des freien, kapitalistischen Marktsystems zu lüften und die zentralen Funktionsbedingungen zu benennen" (S. 140). Leschke setzt sich dabei kritisch mit den Ausführungen Baumols zur Funktionsweise und zu den Funktionsbedingungen eines marktwirtschaftlichen Systems auseinander. Er verweist darauf, dass Baumol in der Tradition von Schumpeter die Wirkungen des Wettbewerbs auf die Inventions- und Innovationspläne der Unternehmen thematisiert. Er stellt dabei fest, dass Baumol bei seiner Analyse auf halbem Wege stehen bleibe. „Zum einen arbeitet er nicht systematisch die Gefahrenpotenziale des marktwirtschaftlichen Systems heraus (nur einige Fehlentwicklungen wie Rent-Seeking-Probleme werden eingefangen), und zum anderen weitet er seine Anreizanalyse nicht auf die Frage der Implementation seiner Reformvorschläge aus" (S. 160). So komme es in marktwirtschaftlichen Systemen immer wieder zu einem Zusammenspiel ökonomischer und politischer Interessen, das bspw. dazu führt, dass kurzfristige ökonomische Ziele eine wichtigere Rolle spielen als langfristig vernünftig erscheinende Ziele, welche mit den Grundsätzen der ökologischen Nachhaltigkeit oder auch der Generationengerechtigkeit vereinbar sind. Baumol dringe insbesondere nicht zu der Frage vor, wer auf globaler Ebene welche Regelverantwortung übernehmen kann und soll. Thomas Döring beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung unternehmerischen Handelns in Baumols Gesamtwerk. Demnach müsse die Erklärung wirtschaftlicher Entwicklungsphänomene stets mit einer Analyse der dahinter stehenden unternehmerischen Handlungsweisen einhergehen. Obwohl im Anschluss an Schumpeter, Baumol und andere Ökonomen mittlerweile vielfaltige Studien durchgeführt worden sind, welche die Bedeutung von Unternehmern

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und Unternehmertum als wesentliche Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung herausstellen, sei es - so argumentiert Döring m.E. völlig zurecht - bemerkenswert, dass in den traditionellen wachstumstheoretischen Modellen neoklassischer Prägung für diese Faktoren kein Platz sei. Im Vordergrund steht die formal-analytische Betrachtung des Zusammenspiels von jenen Produktionsfaktoren, die für das Wachstum als relevant angesehen werden; dies gälte damit auch für die Neue Wachstumstheorie (S. 185). Die Besonderheit der Baumolschen Überlegungen könne darin gesehen werden, dass er weiterhelfe, „die spezifischen Auswirkungen der (historisch) gegebenen gesellschaftlichen Institutionen auf das Verhalten von Unternehmern und die sich daraus ergebenden Folgeeffekte für das wirtschaftliche Wachstum eines Landes näher zu untersuchen. Damit wendet sich Baumol einer aus Sicht des ökonomischen Mainstreams bis dahin weitgehend unreflektiert gebliebenen Thematik zu" (S. 187). Im Zentrum stehe dabei die Frage nach der kanalisierenden Wirkung eines gesellschaftlichen Regelsystems und den damit verbundenen Anreizstrukturen für unternehmerisches Verhalten. Baumol zeige damit eine gewisse Nähe zur Österreichischen Schule, welche die Wechselwirkungen von institutionellen Regeln, Marktprozessen und unternehmerischen Entscheidungen ebenfalls in den Mittelpunkt gestellt habe. Er lehne sich dabei jedoch im Wesentlichen an Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung an, welche bekanntlich der Österreichischen Schule entsprang, sich später jedoch gedanklich von ihr fortentwickelte. In seinem abschließenden Epilog geht Reese-Schäfer auf die wirtschaftspolitischen Folgerungen ein, welche aus dem Werk Baumols resultieren. Er konstatiert dazu, „dass sich aus ihm einige generelle (weniger dagegen spezielle) Hinweise auf wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Förderung von Innovationsprozessen entwickeln lassen" (S. 235). Er bezeichnet Baumol als „modernen Ordnungsökonom", der ein besonders interessanter Vertreter der ökonomischen Aufklärung ist, da sein besonderer Blick aus der Perspektive der Innovationsökonomie auf die Übergangszonen von Wirtschaft und Politik eine Theoriekonzeption darstellt, welche hilft, „wirtschaftliche Zusammenhänge auch Außenstehenden, auch solchen Menschen, insbesondere Politikern und politisch interessierten Bürgern zu erklären, die nicht in spezifisch wirtschaftswissenschaftlichem Denken eingeübt sind" (S. 242). Er habe dabei unter anderem aufgezeigt, dass Unternehmertum und Unternehmergeist als solche keineswegs notwendigerweise zum Wohlstandsgewinn beitragen, da sie verschiedene durchaus unproduktive Formen annehmen können (Rent Seeking, Steuervermeidung, Finanzübernahme von Firmen et cetera). Resümierend stellt er fest: „William Baumol hat die Analysen zu ökonomisch-gesellschaftlichen Innovationsprozessen um einige wichtige Schritte und Fragestellungen vorangetrieben, ohne aber selber schon bahnbrechende Lösungen vorgeschlagen zu haben. So wird er vermutlich eher als Vorbereiter, nicht als Schöpfer einer neuen Theoriekonzeption in Erinnerung bleiben" (S. 244). Aus meiner Sicht gewähren Baumols Beiträge einen tiefen Einblick in die entwicklungsdynamischen Innovationsprozesse eines Marktsystems sowie in dessen potentielle Funktionsstörungen, wenn es um die angemessene Etablierung eines Wettbewerbssystems geht, welches Innovationspotenziale freisetzt, aber dabei auch durch staatliche Aktivität ergänzt wird. Zu der von Schumpeter angestoßenen (und bspw. im Rahmen der Evolutionsökonomie weitergeführten) Diskussion um das Erfordernis eines finanzwirtschaftlichen Unternehmertums, welches mit der realwirtschaftlichen Wertschöpfungsdynamik innovativer Unternehmer korrespondiert, findet man bei Baumol dagegen wenig. Hier ließe sich denn auch eine kritische Anmerkung zum Sammelband anführen, da man diesen Aspekt deutlicher hätte herausstellen können. In diesem Zusammenhang wäre bspw. auf die ordnungsökonomische Debatte der Effizienz von Kapitalmärkten im Allgemeinen (Röpke 1977, S. 376 ff.) sowie auf die verhaltenswissenschaftliche Analyse der Akteure an den Finanzmärkten (Shiller 2008) oder die Bedeutung des Zusammenspiels informeller und formeller Finanzsysteme im Kontext der innovativen Gründungsfinanzierung (Siemon 2006) im Speziellen zu verweisen.

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Natürlich lässt sich darüber streiten, ob und inwiefern man die innovationstheoretischen Weiterentwicklungen des Baumolschen Werkes noch weiter ausbreiten oder kritisch vertiefen hätte sollen. Zwar werden in den Beiträgen von Otter, Leschke oder Döring die innovationsökonomischen Aspekte bei Baumol auch kritisch und weiterführend dargestellt, gleichwohl vermisst man an manchen Stellen jene Themenkreise, die im Werk Baumols m.E. zu kurz gekommen sind. Zwar findet man bei Baumol bspw. mehrfach Verweise auf die Bedeutung der von Schmookler thematisierten nachfrageseitigen Sogeffekte im Innovationsprozess, es bleibt dabei jedoch stets unklar, ob und inwiefern diese sowohl bei inkrementellen als auch bei radikalen Innovationen (Basisinnovationen) auftreten. In Zeiten des Web 2.0 sind bspw. sog. Lead-UserMeinungen und Open-Innovation-Konzepte en vogue, um unternehmerische Innovationsstrategien zu unterstützen. Nehmen wir an, Lead User-Meinungen führen dazu, dass bestimmte inkrementelle Innovationen von etablierten Unternehmen in Form von Verfahrensneuerungen etc. vorgenommen werden. Kann dieses Feedback von Pioniernachfragern tatsächlich die Etablierung eines dauerhaften Wettbewerbsvorteils gewährleisten? Christensen (2003) hat bspw. darauf hingewiesen, dass eine auf inkrementelle Innovationen gestützte Unternehmensstrategie Gefahr läuft, in ein Innovationsdilemma zu laufen. Im Zuge kapitalintensiver Investitionen, langer Abschreibungspläne etc. verliert ein Unternehmen zunehmend die Möglichkeit, seine eigene Architektur im Zuge der eingeschlagenen Pfadabhängigkeiten radikal in Frage zu stellen. Damit wird es störanfällig, sobald es darum geht, neue (radikale) schöpferische Herausforderungen schöpferisch zu beantworten. In diesem Zusammenhang wäre bspw. die von Schumpeter, aber weder von Baumol noch im Sammelband thematisierte Dynamik der durch Basisinnovationen angestoßenen Kondratieff-Wellen zu nennen. Es wäre bspw. sehr diskussionswürdig, ob radikale Innovationen tatsächlich durch eine wirksame Interaktion mit potentiellen Pioniernachfragern angestoßen werden können, schließlich sieht Schumpeter selbst gerade hier die herausragende Aufgabe des dynamischen Unternehmers, unbekannte und unbewusste Bedürfnisse beim Kunden zu erzeugen {Schumpeter 2006/1912, S. 133). Im Zusammenhang mit Baumöls Theorie der Contestable Markets (bei Otter) oder mit Baumols Verständnis vom Schumpeter-Mniemehmtr im Wettbewerbsprozess (bei Döring) wäre es m.E. hilfreich gewesen, noch etwas weiterführender auf die unterschiedlichen Wertschöpfungskonstruktionen (im Sinne eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus) bzw. Entwicklungsbeiträge der unterschiedlichen Unternehmerfunktionen einzugehen. Die moderne Theorie des Unternehmertums {Röpke 2002) unterscheidet dazu - auch im Zusammenhang mit den ordnungsökonomischen Einwirkungsmöglichkeiten zur Unterstützung von Entwicklungs- und Wachstumsprozessen - die strukturell-gekoppelten Unternehmerfunktionen Routine, Arbitrage, Innovation und Evolution. Sie beruhen auf einem systemtheoretischen Unternehmerverständnis der neoklassischen, österreichischen, schumpeterschen und evolutorischen Ökonomie. In diesem Zusammenhang sei auch angemerkt, dass bspw. die Beiträge von Pies oder Hansjürgens die ordnungsökonomischen Leistungen von Baumols Beiträgen zur Theorie der öffentlichen Güter sehr differenziert herausgestellen, ihr entwicklungslogisches Wirken jedoch kaum thematisieren. Angesichts der möglicherweise bevorstehenden 6. Kondratieff-Welle (Nano/Biotechnologie etc.) wäre bspw. eine Diskussion wünschenswert, die aufzeigt, inwiefern man aus dem Baumolschen Werk tiefgreifendere Rückschlüsse für die Minderung des sog. KnowingGaps bei der Umsetzung von akademischem Wissen in innovationsintensive Güter ziehen kann bzw. inwiefern man Baumol hier - auch im Zusammenhang mit umweltpolitischen Fragestellungen: Förderung innovativer, d.h. wertschöpfungsstarker Umwelttechnologien etc. - sinnvoll ergänzen könnte. Eine weiterführende Diskussion der möglichen Aktionsfelder des Staates im Spannungsfeld der Anmaßung und Anwendung von Wissen hätte zu dem Sammelband angesichts der Aktualität des Themas (nahender 6. Kondratieff, zunehmende Wissensintensität von Innovationsprodukten, Produktion dynamischer komparativer Vorteile im Zeitalter der Globalisierung) m.E. gut gepasst. Wie ließen sich bspw. staatliche Innovations-AJmweltvisionen wirksam generieren und implementieren, ohne dass sie im politischen Alltagsgeschäft beim Ringen um Wählerstimmen zu Lippenbekenntnissen verkommen?

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Resümierend bleibt zu konstatieren, dass Baumol mit seinen Beiträgen zahlreiche ökonomische Themen behandelt, die auch heute noch von hoher theoretischer und politischer Aktualität sind und unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisch reflektiert werden können. In diesem Zusammenhang gibt der Sammelband von Pies und Leschke einen hervorragenden Einblick in die verschiedenen Themengebiete des Lebenswerkes von Baumol und liefert stichhaltige, kritisch-konstruktive Einschätzungen zu dessen Wirken. Die Evaluierung vollzieht sich dabei stets unter einem ordnungsökonomischen Blickwinkel. Die Beiträge sind gut verständlich geschrieben und liefern instruktive Einblicke in das facettenreiche Schaffen von Baumol, so dass dem Sammelband wirklich eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Literatur Christensen, Clayton (2003), Innovator 's Dilemma, New York. Röpke, Jochen (1977), Strategie der Innovation, Tübingen. Röpke, Jochen (2002), Der lernende Unternehmer,

Norderstedt.

Schumpeter, Joseph (2006/1912), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin. Shiller, Robert J. (2008), Die Subprime Lösung, Kulmbach. Siemon, Cord (2006), Unternehmertum in der Finanzwirtschaft,

Manfred

Norderstedt.

Spieker

Röpkes Politische Ökonomie Besprechung des Buches von Samuel Gregg, Wilhelm Röpkes Political Economy* Samuel Gregg hat mit diesem nur 216 Seiten umfassenden Buch ein Meisterwerk über Wilhelm Röpke vorgelegt: klar in der Sprache, gut gegliedert, interdisziplinär in der Perspektive, reich dokumentiert und vor allem kongenial. Sam Gregg, Mitglied der Mont Pelerin Society, ist Australier, in Oxford bei John Firnis promovierter Philosoph, der im Lord Acton Institut in Grand Rapids/Michigan, einem Think Tank, der sich mit Fragen von Religion und freiheitlicher Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, als Forschungsdirektor tätig ist. Das LordActon-Institut gibt auch das Journal of Markets and Morality heraus. Im September 2011 hatte Gregg die wissenschaftliche Leitung einer vom Liberty-Fund organisierten Konferenz über Wilhelm Röpke in Berlin, auf der ordo-liberale Verteidiger und libertäre Gegner Röpkes kontrovers diskutierten. Gregg verfolgt mit seiner Untersuchung drei Ziele: Er will Röpkes Philosophie der Marktwirtschaft erörtern, dessen Selbstverständnis als Wirtschaftswissenschaftler in Erinnerung rufen und die Anwendung seiner politischen Ökonomie auf drei praktischen Feldern, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist, klären: erstens den Wirtschaftszyklen; zweitens den Fragen von Inflation, Beschäftigung und Wohlfahrtsstaat; und drittens den internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Unter politischer Ökonomie versteht Gregg mit Röpke weder die wissenschaftliche Kritik einer konkreten Wirtschaftspolitik noch die bloße Verbindung der Wirtschaftswissenschaft mit anderen Sozialwissenschaften, sondern, mit Adam Smith und anderen Vertretern der schottischen Aufklärung, die wissenschaftliche Untersuchung der Natur und der Ursachen des „Reichtums der Nationen". Politische Ökonomie sei deshalb mehr als Institutionenökonomik oder Public Choice Theorie. Sie wurzelt in Werten und somit in einer Kultur, die wiederum auf Religion angewiesen ist. Sie untersucht die Beziehungen zwischen ökonomischen, politi-

Samuel Gregg, Wilhelm Röpke's Political Economy, Verlag Edward Elgar Publishing Ltd., Cheltenham 2010, 216 Seiten.

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sehen und kulturellen Ordnungen und ist sowohl eine empirisch-analytische als auch eine normative Disziplin. Gregg stellt Röpke nicht nur in die Tradition von Smith und den schottischen Aufklärern, sondern, wie auch schon dessen Biograph Hans Jörg Hennecke, in jene der aristotelischen politischen Philosophie. Den positivistischen Anspruch auf Wertfreiheit der Wirtschaftswissenschaft habe Röpke ebenso zurückgewiesen wie deren Reduzierung auf Mathematik. Am Anfang jeder ökonomischen Analyse habe die Anerkennung eines vierfachen Axioms zu stehen: dass es Wahrheit gibt, dass sie erkennbar ist, dass sie wert ist, erkannt zu werden, und dass dementsprechend Irrtümer identifiziert und eliminiert werden sollen. Mit dieser anti-relativistischen Position stehe Röpke darüber hinaus in der Tradition von Thomas von Aquin, Montesquieu und Tocqueville. Röpkes, Kritik am Relativismus, der alle Werte relativiert und selbst ein nicht eingestandenes Werturteil enthält, wurzele in seinem religiösen Fundament. Die Konturen dieses religiösen Fundaments zu beschreiben, ist nicht leicht, hatte Röpke, von Herkunft Lutheraner, in seinem letzten großen Werk „Jenseits von Angebot und Nachfrage" (1958, englischer Titel „A Human Economy") doch selbst erklärt, er gehöre zu denen, „die ungern ihre religiösen Überzeugungen zu Markte tragen". Aber in seinem 1944 veröffentlichten Werk „Civitas Humana" finden sich aufschlussreiche Äußerungen, die über das, was Gregg berücksichtigt, noch hinausgehen: Röpke rühmt dort die „unermessliche Leistung der katholischen Kirche" im Mittelalter, weil sie ein wirksames Gegengewicht zur politischen Herrschaft gebildet und der Person den Vorrang vor dem Staat eingeräumt habe. Mit dem Zerfall der Kirche durch Reformation und Nationalisierung sei „die Begrenzung der Staatsmacht aufs neue zu einem brennenden Problem" geworden. Er kritisiert das Luthertum für seine „penetrante Staatsfrömmigkeit" und den Calvinismus für seine „theokratischen Tendenzen". Er identifiziert sich mit der Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno" von Papst Pius XI. (1931), deren Gesellschaftsund Wirtschaftsphilosophie die Marktwirtschaft bejahe und einen entarteten Liberalismus ebenso ablehne wie den Kollektivismus. Er verteidigt die Enzyklika gegen eine korporatistische Interpretation, die mit ihr einen autoritären Ständestaat begründen wollte. „Quadragesima Anno" wende sich nicht gegen Markt und Wettbewerb, sondern gegen den Klassenkampf. Die Enzyklika setze sich ebenso für eine „Reinigung der Marktwirtschaft von ihren monopolitischen Entartungen" und für eine „Entproletarisierung" ein wie gegen „die Aushöhlung des Staates durch wirtschaftliche Gruppenmacht". Zur Beschreibung seines eigenen föderativen Staatskonzepts stützt sich Röpke auf einen Ausdruck der christlichen Soziallehre, der dies „am besten" beschreibe: das Prinzip der Subsidiarität, dessen Definition „Quadragesimo Anno" erstmals vorgenommen hat. Die Nichtbeachtung dieser Äußerungen bedeutet nicht, dass Gregg Röpke nicht gerecht würde. Er nennt Röpke einen christlichen Humanisten und einen konservativen Liberalen, der den konservativen Wert der Ordnung mit dem liberalen Verständnis der Freiheit verbinden wollte. Es ging Röpke wie den anderen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft um eine Reform des Liberalismus, der sich einerseits seiner kulturellen, mithin auch religiösen Wurzeln erinnern, andererseits staatliche Interventionen in die Wirtschaft nicht völlig ablehnen sollte. Röpkes, Reformüberlegungen enthielten aber, so Gregg, eine Reihe ungelöster Spannungen. Im Hinblick auf das kulturelle Fundament schwanke Röpkes Werk zwischen einer historisch-soziologischen Fundierung, die in seinen Arbeiten zur nationalen Wirtschaft dominiere und ihn in die Nähe von Rüstow und Müller-Armack stelle, und einer naturrechtlichen Fundierung, die in seinen Überlegungen zur internationalen Wirtschaft dominiere, in denen er sich auf Grotius, Vitoria, Pufendorf und Suarez stütze und in der Nähe von Böhm und Eucken stehe. Röpke schwanke „between humanism and social science". Seine Orientierung an zwei großen Liberalen, Tocqueville und Acton, habe sich in seinem und Hayeks Vorschlag niedergeschlagen, die Mont-Pelerin-Society „Acton-Tocqueville-Society" zu nennen. Der Vorschlag habe sich nicht durchgesetzt, weil man die Gesellschaft nicht nach zwei Katholiken benennen wollte. Nach Gregg hätte sich Röpke systematischer auf die naturrechtlichen Fundierungen stützen sollen. Die knappe Beschreibung

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von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Röpke einerseits, Hayek, Böhm, Rüstow und Müller-Armack andererseits gehört zu den zahlreichen Stärken der Arbeit.

Eucken,

Im zweiten Feld von Röpkes Versuchen, den Liberalismus zu reformieren, den Problemen der Staatsintervention, ging es Röpke darum, einerseits im Gegensatz zum klassischen Liberalismus Interventionen zuzulassen, andererseits aber die Unterminierung der Marktwirtschaft durch eben diese Interventionen zu vermeiden. Diese Unterminierung zu fördern und das kulturelle Fundament der Wirtschaft zu missachten, wirft Röpke Keynes vor. Keynes ist für Röpke ein Repräsentant des „geometric spirit" und des „positivistic scientism" des 20. Jahrhunderts, dessen General Theory der Ausweitung der Staatstätigkeit und der Inflation den Weg bahnte und der den Irrtum forderte, Regierungen könnten die Wirtschaft managen. Gregg unterstreicht in einer typisch amerikanischen Perspektive einerseits Röpkes Kritik an Keynes, den er im Hinblick auf seine desaströsen Folgen in eine Reihe mit Rousseau und Marx stellt, und andererseits dessen Kritik am Wohlfahrtsstaat, der in einigen europäischen Ländern, darunter Deutschland, despotische Züge angenommen habe. Röpke sei von einer Gesellschaft fehlbarer Menschen ausgegangen, die durch vier Elemente zusammengehalten werde: durch Marktbeziehungen, die sich am gegenseitigen Nutzen orientierten; durch moralische Verpflichtungen, die Gläubigen wie Nichtgläubigen gemeinsam seien; durch eine reiche und komplexe Zivilgesellschaft, die freiheitliche Erziehung und tugendhaftes Handeln begünstige sowie durch eine Gesetzgebung und Regierung, die, begrenzt durch Recht und Sitte, ihren Aufgaben nachgehe und dem Druck von Interessengruppen widerstehe. Greggs Fazit hat vor dem Hintergrund des Streits um die Ordnungspolitik und das Fach Wirtschaftspolitik an deutschen Universitäten aktuelle Bedeutung. Röpke wirft der Wirtschaftswissenschaft eine Dehumanisierung vor, wenn sie auf eine Physik reduziert und aller psychologischen und ethischen Dimensionen entkleidet werde. Röpkes Bereitschaft, die Wirtschaftswissenschaft über eine rein empirische Wissenschaft hinaus zu einer politischen Ökonomie zu entwickeln und über die Voraussetzungen des ökonomischen Liberalismus sowie die Rolle des Staates in der Marktwirtschaft neu nachzudenken, spiegle die Erfahrungen mit den totalitären Systemen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeige zugleich sein Vertrauen in die Kraft von Ideen, die den Lauf der Geschichte ändern können. Röpke ist für Gregg mehr Humanist im Sinne eines Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus als Sozialwissenschaftler. Ihn zeichne die Fähigkeit aus, die oft verborgenen Verbindungen zwischen der Entwicklung der Wirtschaft auf der einen Seite und der Bedeutung von Ideen über Mensch und Gesellschaft auf der anderen Seite offenzulegen. Seine politische Ökonomie stelle an Individuen, Institutionen und Regierungen hohe Ansprüche, „vielleicht zu hohe Ansprüche". Es sei zu wenig, den Nutzen und die Effizienz von Marktwirtschaften zu beweisen. Nur wenn die Wirtschaftswissenschaft dazu beitrage, deren moralisches Fundament aufzudecken, habe die Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung einer freien Gesellschaft dauerhaften Bestand. Eine Nachlässigkeit, deren Korrektur bei einer zweiten englischen Auflage oder einer deutschen Übersetzung schnell zu erledigen wäre, sind die vielen Fehler in der Rechtschreibung bei den deutschen Titel in Röpkes Schriftenverzeichnis.

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Systemprinzipien der Gesundheitsversorgung in der Sozialen Marktwirtschaft Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Sabine Großkinsky* Ausgangspunkt der Überlegung von Sabine Großkinskys Arbeit, die zugleich als Dissertation an der Universität Karlsruhe angenommen wurde, bildet das System der sozialen Marktwirtschaft, das die Freiheit des Marktes mit dem des sozialen Ausgleichs verbindet. Ausdruck findet dieses System im Subsidiaritätsprinzip (der Einzelne leistet, wozu er imstande ist) und im Solidaritätsprinzip (die Gemeinschaft hilft, wenn der Einzelne überfordert ist). Dies ist auch mit der Theorie von Adam Smith vereinbar. Das Solidaritätsprinzip manifestiert sich auch vielfach in der deutschen Sozialversicherung, in der die Gesetzliche Krankenversicherung einen wesentlichen Teil darstellt. In der GKV kommt es in Form des Generationenausgleichs, des Risikoausgleichs, der Einkommens- und des Familienausgleichs zum Tragen. Da Nachfrage und Finanzierung auseinanderfallen, entstehen verschiedene Phänomene wie z. B. Moral Hazard, was bürokratische Systemsteuerungen auslöst und in der Folge zusammen mit dem medizinischen Fortschritt zu einer unpersönlichen Versorgung (unter Vernachlässigung der Bedürfnisse nach Begegnungsgütern, die sich auf soziale Bedürfnisse der Menschen beziehen) führt, Patientenkarrieren fördert (vom Allgemeinarzt zum Facharzt in die Klinik, mit zunehmend umfassender medizinischer Versorgung und sozialen Beachtung) und in der Passivproblematik mündet. Besonders deutlich wird dies bei der Behandlung chronisch Kranker, auf die die Arbeit fokussiert. Das Subsidiaritätsprinzip verliert dadurch zunehmend an Bedeutung, so dass wesentliche Potentiale zur Gesundheitsproduktion, die den GKV-Bereich ergänzen können, brach liegen. Dazu gehören die Eigenproduktion von Gesundheitsgütern und die Beschaffung von Gesundheitsgütern über den Markt. Um dieses Potential auszuschöpfen, muss der Patient Kenntnisse, Möglichkeiten und das Selbstbewusstsein besitzen, für sich und seine Bedürfnisse selbst einzutreten, was im Empowerment-Konzept theoretisch dargestellt wird. Dazu bedarf es vielfaltiger, vernetzter Maßnahmen der Gesundheitsforderung und Prävention. Problematisch dabei ist, dass diese Maßnahmen für den Patienten in der Gegenwart zu Kosten führen und erst in einer ungewissen Zukunft zu Nutzen führen. Als Ausweg werden Berechtigungsscheine der GKV und insbesondere eine verstärkte Gesundheitsbildung vorgeschlagen, wobei dargestellt wird, dass soziodemographische Einflussfaktoren die Anreizwirkung erheblich beeinflussen. Auch die Saldierung von Nutzen und Kosten, die beim Patienten einerseits, bei der GKV andererseits entstehen (wobei es zu Überschneidungen kommt), ist problematisch. Selbst wenn Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sich durchsetzten und zu Erfolg führten, ist eine Kostensenkung im Gesundheitswesen nicht belegt. Andere Krankheiten, ein verlängertes Leben mit längerer Inanspruchnahme von GKV-Leistungen usw. können die GKV-Kosten im Zeitablauf dann zusätzlich belasten. Insofern wird vorgeschlagen, nicht die Kostenreduktion in der GKV als Ziel der Gesundheitsförderung und Prävention zu sehen, sondern die Effektivität und Effizienz in der konkreten Versorgungssituation. Als Ansatzpunkt für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention wird das Modell der Salutogenese (Entstehung und Entwicklung von Gesundheit) von Antonovsky herangezogen, in dessen Mittelpunkt das Kohärenzgefühl (sense of coherence = SOC) mit seinen drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit/Bewältigbarkeit und Sinnhafitigkeit/Bedeutung steht. Die Verstehbarkeit fokussiert auf die Fähigkeit des Menschen, Stimuli verarbeiten zu können. Die Handhabbarkeit beschäftigt sich mit der Überzeugung des Individuums, Schwierigkeiten zu meistern. Die Sinnhaftigkeit beschreibt das Ausmaß, in dem Probleme und Anforderungen es

Sabine Großkinsky, Systemprinzipien der Gesundheitsversorgung in der Sozialen Marktwirtschaft: Eine ordnungsökonomische Analyse, Verlag Nomos, Baden-Baden 2008, 163 Seiten.

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wert sind, dass man Energie in sie investiert. SOC wird durch Lebenserfahrungen geprägt. Diese Lebenserfahrungen werden durch generalisierte Widerstandsressourcen (körperliche und genetische Faktoren, Intelligenz, Bewältigungsstrategien, finanzielles Vermögen, soziale Unterstützung) ermöglicht. Wenige Widerstandsressourcen beeinflussen SOC negativ. Ein niedriges SOC verhindert die optimale Nutzung von Widerstandressourcen. Bei einem Spannungszustand (z. B. in Folge von Stress) greift das Individuum auf generalisierte Widerstandsressourcen zurück. Wird die Spannung reduziert, führt dies nicht nur zu einer Verbesserung des Individuums auf der „Gesund-krank"-Skala, sondern erhöht gleichzeitig den SOC und ermöglicht den gesünderen Menschen den Erwerb von zusätzlichen, neuen generalisierten Widerstandsressourcen. Das Salutogenese-Konzept kann als Meta-Modell für Konzepte und Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention dienen. Trotzdem ist es auch kritisch zu sehen. Seine Durchsetzbarkeit ist vor der heutigen Ausgestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung, den Honorierungsmodalitäten der Leistungserbringer, aber auch deren pathologische Sichtweise, die Krankheiten mittels magic bullets zu beseitigen suchen, sowie der Patientensozialisation hin zum Konsum von medizinischen Leistungen eher schwierig. Obgleich der Einfluss von Gesundheitsressourcen nachgewiesen ist, stehen Belege für die Kausalität von SOC und der generellen Gesundheit vielfach aus, was auch dem multifaktoriellen Gesundheitsbegriff geschuldet ist. Zusammenhänge zwischen SOC und einzelnen Gesundheitsdimensionen liegen vor. Ob Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention (auf der Basis des SalutogeneseModells) komplementär zum pathologisch orientierten Gesundheitssystem durchzusetzen sind, hängt von der Einstellung der Menschen zur Eigenversorgung, Subsidiarität und Solidarität im Gesundheitswesen ab. In der Arbeit wird unter Bezugnahme auf sekundärstatistisches Material belegt, dass das Solidaritätsprinzip in der Gesellschaft akzeptiert ist, dass aber auch Eigenverantwortung bejaht wird, wobei hier über das Wie und das Inwieweit Unsicherheiten bestehen. Ansatzpunkte können menschliche Nähe, Zuwendung, Zeit etc. sein, die in einem technisch fortschreitenden Gesundheitswesen zur Patientenzufriedenheit vermisst werden. Um das Salutogenese-Modell ordnungsökonomisch einordnen zu können, muss geprüft werden, inwieweit der Nutzer des Gesundheitssystems zur Steuerungsinstanz im Gesundheitswesen werden kann und das SOC als Steuerungskraft in Frage kommt. Dazu müssen die Komponenten des SOC ökonomisch erklärt werden. Gesundheitsbezogene Maßnahmen sind auf ihre Wirksamkeit lückenlos zu erklären (Verstehbarkeit), müssen von jedem erlernbar und in den Alltag zu integrieren sein (Handhabbarkeit) sowie effektiv und effizient sein (Sinnhaftigkeit). Wenn dies der Fall ist, können Nutzer aus den vielfaltigen pathologischen und salutogenetischen Möglichkeiten des Gesundheitssystems das für sie passende Versorgungsmenü zusammenstellen. Bei einem starken SOC besitzt der Nutzer die Erwartung, dass er Maßnahmen der Spannungsbewältigung versteht, handhabt und Effektivität und Effizienz realisieren kann. Er wird in diesem Fall GKV-Solidarleistungen subsidiär zu eigenverantwortlichen Maßnahmen in Anspruch nehmen. Im Vergleich zu einer rein pathologisch orientierten, passiven Versorgung, würde die Effektivität und Effizienz der medizinischen Versorgung verbessert. Das Modell wird am Beispiel von Asthma bronchiale dargestellt. Probleme werden bei Nutzen-Kosten-Untersuchungen, bei der Identifikation relevanter Ergebnisindikatoren und der Zurechenbarkeit von Ergebnissen zu bestimmten Interventionen gesehen. Um den Nutzer als dritte, aktive Kraft (neben Leistungserbringern und GKV) im Gesundheitswesen zu integrieren, werden als Ergebnis der Arbeit einige ordnungspolitische Feststellungen getroffen. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts, verbunden mit steigenden Ausgaben der GKV, stellt die Stärkung der Eigenverantwortung des Menschen im Gesundheitswesen eine zwingende Bedingung dar, um die Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau zu erhalten, nachdem sich eine Vielzahl von Kostendämpfungsmaßnahmen als wirkungslos erwiesen haben und andere Maßnahmen bei divergierenden Interessen der Betroffenen nicht durchsetzbar sind. Insofern trifft die Arbeit ein dringliches Problem. Für viele Ökonomen bedeutet Eigenverantwortung, die Finanzierung von

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Gesundheitsleistungen aus dem GKV-Bereich in den privaten Bereich zu verlagern, wobei die Behandlung von Krankheiten im Mittelpunkt bleibt. Die vorliegende Arbeit, mit Zusammenfassungen nach jedem Kapitel, die das Verständnis erhöhen, bietet hier eine bemerkenswerte Alternative bzw. Ergänzung, die dem Gesundheitsökonom, dem Gesundheitspolitiker, den Leistungserbringern (unter der Knute von Budgets) und den Verantwortlichen der GKVen eine zusätzliche Perspektive offenlegt. Sie stellt den Nutzer in den Mittelpunkt der Betrachtung und fokussiert auf die Gesundheitsförderung und Prävention. Sie bietet mit dem Salutogenese-Modell einen theoretischen Bezugsrahmen für Maßnahmen in diesen Bereichen. Diese können vom Nutzer nach seinen Bedürfnissen subsidiär oder ergänzend zu GKV-Leistungen nachgefragt bzw. produziert werden. Gelingt dies, werden wesentliche Potentiale für die Gesundheitsversorgung erschlossen und Rationierungen in der GKV können ggf. vermieden werden bzw. es finden sich Hinweise, welche Leistungen wann und für wen aus der GKV in die Eigenverantwortung der Nutzer überfuhrt werden können. Die Arbeit setzt sich auch kritisch mit dem Salutogenese-Ansatz auseinander und weist immer wieder auf weiteren Forschungsbedarf hin. Des Weiteren wird deutlich gemacht, dass Maßnahmen der Gesundheitsforderung und Prävention von der Akzeptanz der Nutzer abhängen. Hier greift die Arbeit zu kurz. Man darf erwarten, dass Berechtigungsscheine der GKV - wie in der Arbeit vorgeschlagen - nur beschränkt Anreize (für ohnehin motivierte Nutzer) bieten. Letztlich setzen diese allein an (momentanen) monetären Einnahmen und Ausgaben der Nutzer an. Eine intensivere Gesundheitsausbildung von Kindheit an, wie eingefordert, ist ein Weg, dessen Realisation sehr wohl wünschenswert, aber vor dem Hintergrund konkurrierender Schulsysteme bei z. T. verkürzten Schulzeiten und Staatsdefiziten, eher skeptisch zu bewerten ist. Bedenkt man, dass eine der teuersten Zigaretten aufgrund der Vorstellungen von Freiheit und Abenteuer höchste Marktanteile besitzt, ist mit der Schaffung von Emotionen ein Weg gewiesen, wie Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention beim (auch wenig interessierten - low involved-)Nutzer Akzeptanz erlangen können. Hierzu ist es aber notwendig, u. a. den Rahmen für Kommunikationspolitik im Gesundheitswesen zu verändern. Darüber hinaus müssten Anreizstrukturen für die Leistungserbringer verändert werden, wie auch in der Arbeit expliziert wird.

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Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen Anmerkungen zu dem gleichnamigen von Norbert Klüsen, Andreas Meusch und Ernst Thiel herausgegebenen Sammelband* Das Buch fasst die Vorträge einer Fachtagung der Techniker Krankenkasse (TK) zum Thema „Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen" zusammen. In seinem Beitrag „Qualität durch Transparenz" definiert T. Ballast Qualität entsprechend der DIN ISO 9000 als Maß einer Dienstleistung oder Ware, den bestehenden Anforderungen zu genügen. Er führt aus, dass zur Strukturqualität vom Staat bzw. staatlich beauftragten Institutionen wie der GKV Vorgaben zur Prozessqualität von den KVen und ihren Partnern gemacht werden. Die Ergebnisqualität wiederum ist für die Einzelkasse von Bedeutung. Diese benötigt eigene Servicequalität und Qualität ihrer Partner im Leistungsbereich (die Qualitätssicherung häufig als Vorboten der Kostendämpfung sehen) zur Profilierung im Wettbewerb. Es wird vollkommen zu Recht ausgeführt und an zahlreichen Beispielen dargestellt, dass qualitätsbezogene Daten erhoben, dokumentiert und transparent gemacht werden müssen, wenn die Bedürfnisse der Patienten nach qualitätsbezogeNorbert Klüsen, Andreas Meusch und Ernst Thiel (Hg.), Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen, Verlag Nomos, Baden-Baden 2011,202 Seiten.

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ner Information sowie der Leistungserbringer und der Kassen nach Identifikation von Verbesserungspotential befriedigt werden sollen. Dies führt zu Aufwendungen, die teilweise gescheut werden. Insgesamt fokussiert der Beitrag auf die traditionelle Qualitätssicherung. Ein modernes Qualitätsmanagement bedarf zusätzlich der Qualitätsplanung, der Qualitätslenkung und der Qualitätsverbesserung. Es wird nicht berücksichtigt, dass es letztlich der Patient sein müsste, der die Qualitätsanforderungen definiert, die dann umzusetzen und unter Berücksichtigung der Kosten zu sichern sind. Damit stellt sich die Frage, welche Daten wem transparent zu machen sind. G. Mahltig und S. Voermans untersuchen in ihrem Beitrag „Vernetzung und Qualität - Vernetzung als Erfolgsfaktor im Gesundheitswesen" Integrierte Versorgungssysteme, mit denen die Erwartung der Steigerung der Effektivität, der Effizienz und der Qualität verbunden ist, wobei eine ausreichende Evaluation noch nicht vorliegt. Sie begründen Vernetzungen, zu denen auch Kooperationen im Gesundheitswesen über Sektorengrenzen gehören, aus einer soziologischen und betriebswirtschaftlichen Perspektive. Als Praxisbeispiele dient zum einen der Vertrag über die Optimierung der Gesamtbehandlung von Patienten vor und nach einer Lungentransplantation, der den Gesamtprozess von der Indikationsstellung über die Wartelistenbetreuung, die Transplantation, die Reha bis zur Nachsorge umfasst. Nach einer ersten Einjahres-Evaluation brachte das Projekt Qualitätsvorteile für Patienten, Leistungsanbieter und TK. Zum anderen zeigt ein Beispiel der betrieblichen Unfallversicherung, welcher Koordinationsaufwand mit internen und externen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen im Prozess des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu leisten ist, wenn dieser Erfolge aufweisen soll. Tragbare Evaluationsergebnisse der Integrierten Versorgung sind bislang nicht vorhanden. Untersuchungen des Sachverständigenrates aus dem Jahre 2008 und von Kiemann 2007 geben Anlass zur Vermutung, dass eine Vernetzung mit einem Mehr an Qualität und weiteren Vorteilen verbunden ist. Auf eine sehr grundlegende Art und Weise beschäftigt sich E. Thiel mit der Frage „Wie entsteht Prozessqualität? - Umfeld, Wirkung und Voraussetzung". Er zeigt dabei den Wandel zu einer wissensbasierten, kommunikationshungrigen, arbeitsteiligen Gesellschaft mit einem Hang zur Virtualität, in der alles - einschließlich des Körpers - perfekt zu sein hat und in der Kinder lernen, aus einer Vielzahl von Optionen ihren Tagesablauf zu gestalten, ohne auch den Verzicht zu üben, verbunden mit negativen Folgen in der Arbeitswelt. Auch Prozesse im Gesundheitswesen werden vor diesem Szenario immer komplexer. Der Koordinations- und ControllingAufwand nimmt zu. Es werden fehlende Sekundärtugenden und Werte beklagt, die das Können und Wollen junger Menschen beeinträchtigen, für die Realisation komplexer Prozesse im Gesundheitswesen jedoch unabdingbar sind. Führungskräfte müssen koordinieren und steuern, was Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfahigkeit sowie eines umfangreichen Allgemeinwissens bedarf, um Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, des Gleichgewichts, der Koordination und der Transparenz bei Strukturen und Prozessen zu realisieren. In einer prozessorientierten Organisation muss jeder die Möglichkeit besitzen, durch Denkanstöße aus kollektivem Wissen auf der Basis einer Unternehmenskultur des offenen Informationsaustausches eigene Ideen zu entwickeln, Prozesse neu zu gestalten bzw. zu modifizieren. Dabei muss die Möglichkeit gegeben sein, aus Fehlern zu lernen. K. Fahlbusch und C. Nobmann diskutieren in ihrem Beitrag „Der sektorenübergreifende Ansatz des SGB V in der Qualitätssicherung", wie sektorenübergreifend über die ambulante und stationäre Behandlung sowie die Reha seit dem GKV-WSG mit § 137 SGB V Qualitätssicherung einheitlich und stringent zu gestalten ist. Als Regelbereiche sind verpflichtende Maßnahmen der Qualitätssicherung gem. §§ 135a, 115b und 116 b SGB V, grundsätzliche Anforderungen an ein Qualitätsmanagement und Kriterien für die indikationsbezogenen Notwendigkeit und Qualität der durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Leistungen genannt. Sektorenübergreifende Maßnahmen der Qualitätssicherung sind laut Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bei sektorenüberschreitenden Verfahren, sektorgleichen Verfahren und sektorübergreifenden Follow-ups zu treffen. Die sektorenübergreifende Qualitätssicherung muss alle Patienten (GKV- und privat versicherte Patienten) sowie alle Arten der Leistungserbrin-

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gung, einschließlich der aus Selektivverträgen, umfassen. Im zweiten Teil ihres Beitrags behandeln die Autoren Strukturierte Behandlungsprogramme nach §§ 137 f und 137 g SGB V. Der Qualitätssicherung in strukturierten Behandlungsprogrammen kommt bei der Erarbeitung von Empfehlungen des G-BA sowie bei der Zulassung und Verlängerung der Programme durch die Bundesversicherungsanstalt (BVA) besondere Bedeutung zu. In dem Beitrag „Pay for Performance - weder Königs- noch Holzweg" weisen N. Klüsen, A. Meusch und J. Piesker auf die Notwendigkeit der Transparenz insbesondere bei Daten der Ergebnisqualität von Leistungserbringern hin, die der engagierte Patient sucht und vor dem Hintergrund des § 1 SGB V benötigt. Unter der Überschrift „Tue das Richtige und rede darüber" werden verschiedene Angebote des Public Reportings, auf die heute bereits zurückgegriffen werden kann, dargestellt. An den Beispielen des NetzWerks psychische Gesundheit und Rundum-Versorgung in der Schmerztherapie der Techniker Krankenkasse wird gezeigt, wie Qualität durch das recht neue Instrument Pay for Performance (P4P) die Qualität der Behandlung sektorübergreifend durch entsprechende Honorierung der Leistungserbringer mit Fallpauschalen, Boni und Mali (gegebenenfalls ergänzt durch Public Reporting) sichergestellt werden kann. Als Qualitätsindikatoren der genannten Beispiele dienen letztlich Kostentreiber der TK. Diese können, müssen aber nicht mit den Qualitätsanforderungen der Patienten übereinstimmen. Ein realistisches Bild des Themas Qualität zeigen A. Bodemar und P. Wiese in dem Beitrag „Qualität in der Kranken(haus)versorgung und deren Wirtschaftlichkeitsaspekte aus Sicht einer Krankenkasse" auf. Sie sehen die Krankenkasse als Prinzipal, der die Qualitätsanforderungen der Patienten unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten sicherstellen soll. Sie zeigen auf, dass auf GKV-Ebene die Qualität bestenfalls im Rahmen der Einhaltung von Mindestmengen und der Einhaltung von Komplexkodes Bedeutung besitzt. Es wird dargestellt, dass bei Nichterfüllung der Mindestmengen im Krankenhaus ein weiteres Qualitätsdumping zu befürchten ist. Demgegenüber können Qualität und Qualitätswettbewerb in Selektiwerträgen z. B. durch P4P, eine wichtige Rolle spielen, wenn gleichzeitig einige der damit noch immer verbundenen Probleme (Messbarkeit, Transparenz, flexible Vergütung, konsentierte Qualitätsdimension u. a.) gelöst werden. In dem Beitrag „Pay for Performance. TK-PraxisNetz Mecklenburg-Vorpommern: Neue Ansätze und neue Lösungen" von P. Maaß und V. Möws wird erläutert, wie im Rahmen des „Vertrags zur integrierten Versorgung in einer Modellregion in Mecklenburg-Vorpommern" (derzeit bezogen auf den Bereich Rostock) Servicequalität für den Kunden (gemessen an der Terminvergabe spätestens innerhalb von zwei Wochen sowie Wartezeiten beim Arzt von längstens 30 Minuten), Qualität (durch Einhaltung bestimmter Normen der Leistungserbringer) und Wirtschaftlichkeit erreicht werden. Die Vergütung für Mehraufwendungen der Leistungserbringer ist an verschiedene Kriterien (vertragliche Verpflichtungen) geknüpft. Ausgangspunkt aller Aktivitäten sind die Anforderungen der Versicherten der TK. Die Krankenversicherung als kompetenten Versorgungsmanager stellen F. van Aalst, B. Brose, S. Schäpker und G. Schulte-Florian in dem Beitrag „Qualitätsmanagement in der Versorgungslandschaft" vor. Sie zeigen, dass ein Qualitätswettbewerb der Krankenversicherung bei Kollektivverträgen der GKV kaum möglich ist. Dieser findet auf der Ebene der selektiven Verträge insbesondere in der ambulant-ärztlichen Versorgung und bei Verträgen zur Integrierten Versorgung statt. Es wird der Zusammenhang des Vertragsmanagements auf der Mikroebene des einzelnen Vertrags, der Mesoebene einzelner Bereiche (z. B. ambulantes Operieren) und der Metaebene des Vertragsportfolios der Krankenversicherung verdeutlicht. Etwas isoliert stehen Betrachtungen zu Instrumenten und Konzepten des Qualitätsmanagements (Zertifizierung, TQM) am Beginn des Beitrags. Unter der Überschrift „Qualitätsverbesserung der Gesundheitsversorgung im Urteil der Öffentlichkeit am Beispiel der Transplantationsmedizin" zeigen M. Blocher und A. Voigt, dass technischer Fortschritt und organisatorische Weichenstellungen in der Transplantationsmedizin zu einer ständigen Verbesserung des deutschen Gesundheitssystems beigetragen haben. In die-

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sem Zusammenhang wird ein stärkeres Engagement der Bevölkerung zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in diesem Bereich angemahnt. Kritik am Gesundheitswesen, das in der öffentlichen Meinung als immer ungerechter und mit Qualitätsmängeln behaftet dargestellt wird, scheint nach Meinung der Verfasser damit widerlegt. Unberücksichtigt bleibt aber, dass Qualität aus Patientensicht mehr umfasst als medizinisch-technischen Fortschritt. J. Hennicke, T. Meyer und S. Suchant belegen mit ihrem Beitrag „integra - Vorreiter in moderner Patientenversorgung" am Beispiel des ersten Großobjekts der Integrierten Versorgung im Bereich der kurzoperativen Leistungen, dass Qualitätsverbesserungen sowohl aus Kunden- und Anbietersicht als auch aus Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten erreichbar sind. Insbesondere wird belegt, dass Fallpauschalen im Rahmen des Projekts nicht zu negativen Auswirkungen bezüglich der Qualität fuhren. Das Sammelwerk zeigt im ersten Teil Konzepte des Qualitätsmanagements, die im zweiten Teil an einer Vielzahl von Beispielen belegt werden. Es wird deutlich, dass Qualität im Wettbewerb der Kassen vor dem Hintergrund eines einheitlichen Beitragssatzes in der GKV immer wichtiger wird und gerade Selektiwerträge und Integrierte Versorgungsverträge Möglichkeiten zum Qualitätswettbewerb eröffnen, ohne dass die Wirtschaftlichkeit leidet. Die Einbeziehung des Patienten in das Qualitätsmanagement insbesondere im Rahmen der Qualitätsplanung, wird nur vereinzelt aufgegriffen. Hier scheint Potential zur Verbesserung zu bestehen.

Literatur Klemanrt, A. (2007), Management sektorübergreifender Kooperationen: Implikationen und Gestaltungsempfehlungen für erfolgreiche Kooperationen an der Schnittstelle von Akutversorgung und medizinischer Rehabilitation, Schriftenreihe Gesundheitswirtschaft, Band 5, Wegscheid.

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Die Wirtschaftstrends der Zukunft Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Hermann Simon* Hermann Simon, der „Preispapst" aus Deutschland und Vater der „Hidden Champions", identifiziert in diesem Buch mit der „beschleunigten Globalisierung", der „stärkeren Einflussnahme der Politik", der „engeren Verzahnung von Management und Kapital", den „tektonischen Verschiebungen in der Produktwelt", der „nachhaltigen Veränderung des Konsumentenverhaltens" und der „totalen Vernetzung" sechs sogenannte Wirtschaftstrends, die nach seiner Meinung das Management nach der Wirtschaftskrise von 2008 künftig konkret betreffen. Ob diese Meinung im Management allgemein geteilt wird, ist empirisch nicht belegt. Es handelt sich bei den Wirtschaftstrends, ähnlich der Faktorenanalyse, um Überschriften, unter denen jeweils eine Vielzahl von Sachverhalten subsumiert ist. Nicht immer ist deren Zusammenhang innerhalb der einzelnen Kapitel deutlich zu erkennen. Anspruch des Buches ist es, „klare Diagnosen zu stellen und daraus praktische handfeste Empfehlungen für das Management abzuleiten" (S. 9). Unter der Überschrift „Beschleunigte Globalisierung" wird als erster Trend anhand zahlreicher Indikatoren der internationale Güteraustausch als Wachstumsfaktor benannt. Im Bereich des Exports, der nach Meinung Simons insbesondere von der Bevölkerungszahl abhängt, schneidet Deutschland zusammen mit China, Südkorea und Frankreich besonders gut ab. Vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung, deren Konsum abnimmt, und dem Engagement vieler spezialisierter deutscher Unternehmen auf engen Märkten scheint dies - trotz internatioHermann Simon, Die Wirtschaftstrends der Zukunft, Verlag Campus, Frankfurt a. M. 2011, 218 Seiten.

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naler Kritik - auch in Zukunft dringend geboten, um den Wohlstand Deutschlands zu erhalten. Die Chancen dafür stehen nicht so schlecht. Der Standort Deutschland war schon in der Vergangenheit besser als sein Ruf und ermöglichte es 100 bis 200 Unternehmen durch Innovation und Wachstum zu Umsatzmilliardären und Champions of Growth zu werden. Durch seine geographische Lage ist es - aufbauend auf einer sich ständig verbessernden Infrastruktur mit sinkenden Kommunikations- und Transportkosten - deutschen Unternehmen möglich, an einem erweiterten Arbeitstag (neun Stunden) mit dem gesamten eurasiatischen Raum zu kommunizieren. Auch Reisezeiten nach Asien und Amerika sind, verglichen mit anderen Ländern, relativ moderat. Es wird eine Lanze für die deutsche Bürokratie gebrochen, die z. B. Firmengründungen und Betriebsgründungen schneller und rechtssicherer vollziehen als in anderen Teilen der Welt. Wie sich Unternehmen erfolgreich auf den Weltmärkten behaupten, wird am Beispiel der Hidden Champions dargestellt (Nr. 1, 2 oder 3 auf dem Weltmarkt, Nr. 1 in Europa, Umsatz < 3 Milliarden Euro, geringer Bekanntheitsgrad, vgl. Simon 2007, S. 29): ambitionierte Ziele, Fokussierung auf enge Märkte (Spezialisierung) mit einer hohen Wertschöpfungstiefe (Strategie der Konzentration auf Schwerpunkte i. S. von M. Porter), Repräsentanz auf allen wichtigen geographischen Märkte (insbesondere China und Indien), Innovation, Kundennähe, Produktqualität und Service als Wettbewerbsvorteil, treue und qualifizierte Mitarbeiter sowie eine starke, kontinuierliche Führung. Die Notwendigkeit des globalen Engagements deutscher Unternehmen im Ausland wird zudem durch die weltweite demographische Entwicklung unterstrichen. Die Weltbevölkerung wächst bis zum Jahr 2050 um 2,24 Mrd. Menschen auf 9,15 Mrd. an. Das Wachstum vollzieht sich in Afrika, den islamischen Ländern, Indien und auch noch in den USA. Demgegenüber schrumpft die Bevölkerung in Europa (insbesondere in Deutschland), in Russland und in Japan. Recht vereinfacht (aber tendenziell wohl zutreffend) stehen reiche Alte in den hochentwickelten Industrieländern einer Vielzahl armer Junger in den Entwicklungsländern gegenüber. Dies zwingt Deutschland zu einer intelligenten Zuwanderungspolitik (begrenzte Aufenthaltserlaubnis, Erlernen der deutschen Sprache sowie eine schnelle Arbeitserlaubnis) und zum Anwerben von Studenten, Absolventen und Managementnachwuchs. Als Zukunftsmärkte sieht Simon China und Indien, die bis 2050 ca. 33 % der Weltbevölkerung ausmachen. Es wird die Unterschiedlichkeit beider Länder dargestellt: China als Fabrik der Welt und Indien tendenziell als Dienstleister, wobei davon ausgegangen wird, dass China mit höherer Qualität und steigenden Preisen ein für deutsche Unternehmen immer stärkerer Konkurrent auf dem Weltmarkt wird. Als Probleme der Globalisierung werden verstärkt der Widerstand von Non Government Organizations und ein populistischer Protektionismus gesehen. Als zweiter Trend wird ein ständig wachsender Einfluss der Politik auf die Wirtschaft und fast alle Lebensbereiche als Konsequenz der Krise von 2008 beklagt. Diese findet nach Simon ihren eigentlichen Ursprung in der Inkompetenz im Finanzsektor sowie in der zunehmenden Geldvermehrung (insbesondere in den USA). In der Folge kommt es zu sinnlosen Regulierungen vor allem im Finanzsektor, aber auch im Umweltschutz, Verbraucherschutz, Datenschutz, bei Steuern (namentlich wird die Erbschaftssteuer ausgeführt) und dem Verkehr, die nicht nur die Freiheit des Einzelnen und der Unternehmen beschränkt, sondern auch zu Überkomplexität führt. In die gleiche Richtung laufen Versuche der Politik, durch Eingriffe in die Wirtschaft nationale Champions zu schaffen, was besser den Kräften des Marktes überlassen würde. Für das Management und für Verbände wird es in der Zukunft darauf ankommen, sich (auch gerichtlich) gegen sinnlose Bürokratie zu wehren. Der Lobbyismus ist zu professionalisieren, um die politische Kompetenz deutscher Top-Manager zu steigern. Durch eine andere Bezahlung von Parlamentariern, orientiert an ihrem bisherigen Einkommen, entstünde ein kompetenteres Parlament. Den dritten Trend sieht Simon in der Notwendigkeit der engeren Verzahnung von Management und Kapital in zunehmend durch angestellte Manager geführte Unternehmen. Ausgangspunkt seiner Überlegung bildet die richtige Forderung, den Shareholder Value, verstanden als

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langfristige Gewinnmaximierung und Steigerang des Unternehmenswertes, anzuerkennen. Allein die Notwendigkeit zur Stärkung der Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen, die im internationalen Vergleich erschreckend gering ist und neben Privat Equity und Börsengang zu innovativen Formen der Eigenkapitalstärkung wie z. B. Special Purpose Acquisition Companies (SPAC) führt, belegen die Bedeutung des Sharehoder Valúes. Dabei weist Simon explizit darauf hin, dass alle kurzfristigen Maßnahmen, die den Gewinn bzw. Börsenkurs der Unternehmung steigern (wie z. B. Kürzung der F & E- Ausgaben, Freisetzung von qualifizierten Mitarbeitern u. ä.), dem Unternehmen aber langfristig schaden, mit dem Shareholder-Value-Konzept i. S. von Rappaport nichts zu tun haben. Um dies zu vermeiden, sind Optionsscheine für Manager, die nur mit Einkommenszuwächsen, nicht aber mit einem Eigenkapitalverlust für das Management verbunden sind, durch Aktienbesitz des Managements (Beispiel Siemens) als Anreiz zu ersetzen. Das Management wird dem Verlustrisiko aussetzt und die Verantwortung als Miteigentümer wird gefordert. Zudem ist allgemein eine Kontinuität in den Führungspositionen, ähnlich dem Mittelstand, in dem die Unternehmensführung 20 Jahre lang im Amt ist, anzustreben, was auch die moralische Integrität von Führungskräften bedeutsam macht, um Rücktritte aufgrund von Fehlverhalten, wie sie in den letzten Jahren vielfach in DAX-Unternehmen zu beobachten waren, zu vermeiden. Schließlich zwingt der Shareholder Value dazu, dem Gewinn als Erfolgsgröße deutscher Unternehmungen weitaus größere Bedeutung zuzumessen, als dies in der Vergangenheit der Fall war, was Renditevergleiche im internationalen Kontext belegen. Obgleich diese Forderung von Simon berechtigt ist, wäre eine ausfuhrlichere Diskussion des Zusammenhangs zwischen kurz- und langfristigem Gewinn wünschenswert. Als vierter Trend werden „tektonische Verschiebungen in der Produktwelt" genannt, welche Erfahrungen des Managements teilweise obsolet und ggf. sogar zum Hemmschuh werden lassen. Es wird dargestellt, dass Produkte deutscher Unternehmen vielfach auf dem Weltmarkt nicht substituiert werden können. Ihre überlegene Wettbewerbsposition schöpfen sie u. a. aus ihrer Qualität, aus der Beratung und der Systemintegration, deren Grundlage F & E (deren Erfolg eher auf den richtigen Köpfen, der richtigen Prozesse und der Führung denn auf Geld basiert), Kundennähe und qualifizierte Mitarbeiter sind. Preisnachteile werden dadurch ausgeglichen (Netto-Nutzen), wobei ein Mangel an der Durchsetzung optimaler Preise besteht. Gleichzeitig ist zu beklagen, dass mit Ausnahme der Automobilindustrie nur wenige deutsche Produkte im weltweit wachsenden Luxussegment positioniert sind. Dazu wird zukünftig eine verstärkte Konzentration auf das Marketing und die Markenpolitik zu lenken sein. Daruber hinaus ist ein Einstieg in das Ultra-Niedrigpreissegment mit einem weltweit enormen Potential in allen Wirtschaftszweigen zu überlegen, was jedoch eine Verlagerung nicht nur der Produktion, sondern auch der Entwicklung in Niedriglohnländer bedingt. Zudem gilt es, der wachsenden Automatisierung in der Arbeits- und Konsumwelt Rechnung zu tragen. Als fünfter Trend werden Veränderungen des Kundenverhaltens als Konsequenz der Krise konstatiert. Wenig belastungsfähig ist die Aussage, dass einige dieser Veränderungen temporär, andere dauerhaft (da nicht durch die Krise induziert) wirksam blieben, ohne sie genau zuzuordnen. Es wird dargestellt, dass die Wirtschaftskrise beim Kunden einen Vertrauensverlust in Unternehmen und ihr Angebot verursachte und dass gleichzeitig die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und eine hohe Verschuldung vor der Krise zu höherem Sparen, Kaufzurückhaltung und einer höheren Risikowahrnehmung sowie Risikoscheu führten. Das Kreditvolumen von Unternehmen und Verbrauchern ist beschränkt. Auf Preissenkungen wird weniger positiv reagiert. Preissteigerungen werden negativer bewertet als vor der Krise. Unternehmen müssen in dieser Situation belegbare (insbesonders kurzfristige) Nutzen- und Kostenvorteile besitzen und kommunizieren. Durch Maßnahmen der Risikoreduktion, die sich vor allem in (z. T. innovativen) Garantien sowie Liefer- und Zahlungsbedingungen, aber auch in alternativen Finanzierungskonzepten für den Kunden (insbesondere durch finanzstarke Unternehmen) niederschlagen, kann es Anbietern künftig gelingen, Nachfrage zu schaffen. Darüber hinaus bieten sich durch neue Geschäfts- und Servicemodelle, durch vermehrte Serviceangebote bis hin zum Systemangebot und die Bearbeitung von Aftermärkten mit Ersatz- und Reparaturleistungen Mög-

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Iichkeiten, Schwächeinden Konkurrenten Umsatz abzunehmen. Zu achten ist darauf, dass sich Unternehmen auf Märkte konzentrieren, auf denen nachhaltiger Gewinn zu erzielen ist. Der sechste Trend beschäftigt sich unter der Überschrift „Totale Vernetzung" mit der Digitalisierung von Gütern wie z. B. Büchern und Zeitungen (die dann zu niedrigeren Kosten angeboten werden können) sowie sozialen Netzwerken, die den Meinungsaustausch, wie z. B. in Facebook oder Xing, über zunehmend alle Altersgruppen ermöglichen und das Kaufverhalten wesentlich beeinflussen. Vernetzung ermöglicht es auch, durch mehr Zeit für den Kunden die Kundenbindung zu steigern. Das nicht mit Theorien und Modellen überladene, mit unzähligen Beispielen unterlegte Buch lässt sich einfach lesen und verstehen. Auch Nicht-Ökonomen oder junge Studierende der Wirtschaftswissenschaften werden zur Erkenntnis gelangen, dass sich aufgrund von (z. T. allgemein bekannten, aber auch weniger offensichtlichen) Umweltveränderungen Unternehmen und das Management (und gegebenenfalls auch die Wissenschaft) verändern müssen, wenn sie auch in Zukunft erfolgreich überleben wollen. Der interessierte Leser vermisst z. T. Hinweise auf mögliche alternative Entwicklungen, die eben auch eintreten können (z. B. sind in China politische Umbrüche ebenso wenig auszuschließen wie in der arabischen Welt, Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen können zu enormen Einschränkungen der Möglichkeiten des Internets fuhren usw.). Dem Ökonom und dem verantwortlichen Manager bleibt es überlassen, sich über das Wie der Veränderung, d. h. die Veränderung der Ziele und Werteketten, der Strategien, der Maßnahmen und des Controllings in allen Teilen der Unternehmung Gedanken zu machen. Denn: „am Ende kommt es immer auf die Umsetzung, auf das Tun, an!" (S. 205)

Literatur Simon, H. (2007), Hidden Champions des 21. Jahrhunderts: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktfiihrer, Frankfurt und New York.

Anne C. Wunderlich

Patient im Visier Die neue Strategie der Pharmakonzerne* Im vorliegenden Buch wollen die Autoren Caroline Walter und Alexander Kobylinski aufzeigen, mit welchen Mitteln die Pharmaindustrie - trotz eines Werbeverbots für verschreibungspflichtige Medikamente - Arzneimittelwerbung platziert und Wege für Patienten aufzeigen, dies zu erkennen. Dabei berichten Walter und Kobylinski im Laufe des Buches von mehreren Patientenschicksalen, die durch diese gezielte, wenn auch illegale Werbung, beeinflusst wurden. Bei beiden Autoren handelt es sich um Fernsehjournalisten, die unter anderem für das ARDMagazin Kontraste tätig sind und sich im Bereich des investigativen Journalismus mit dem Reportagefilm ,NPD auf dem Vormarsch' verdient gemacht haben. Alexander Kobylinski saß 1984/85 in der DDR aufgrund staatsfeindlicher Aktivitäten in Haft. Caroline Walter hat bereits in zahlreichen Reportagen über die Pharmaindustrie berichtet. Das vorliegende Werk reiht sich in eine Sammlung an Büchern über die Machenschaften der Pharmaindustrie und deren Verflechtungen mit Ärzten oder der Politik ein.1

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Caroline Walter und Alexander Kobylinski, Patient im Visier: Die neue Strategie der Pharmakonzerne, Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2010, 240 Seiten. So zum Beispiel „Heillose Medizin: Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können" von Jörg Blech, ebenfalls Journalist, der unter anderem für den Medizin- und Wissenschaftsteil des

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„Patient im Visier" beginnt mit einem Prolog, der die Situation einer Patientin, die an Multiple Sklerose erkrankt ist, schildert. Täglich informiert sich die MS-Patientin im Internet über ihre Krankheit und versucht auf diese Weise immer auf dem neuesten Stand zu sein. Die Pharmaindustrie weiß um die Situation von Patienten die unter Krankheiten wie Multiple Sklerose, Krebs oder Alzheimer leiden und verspricht mit Medikamenten „ein Stück Leben zu behalten oder zurück zu gewinnen" (S. 11). Die Autoren wollen in den folgenden elf Kapiteln zeigen, inwiefern die Pharmakonzerne mit dieser Hoffnung Umsatz machen und worauf Patienten bei der Informationsbeschaffung achten sollen. Kapitel 1 („Die neue Strategie der Pharmakonzerne", S. 13-15) liefert eine Einfuhrung in die Thematik des Buches. Wer meint, Direktwerbung von verschreibungspflichtigen Medikamenten würde in Deutschland aufgrund des Verbots durch das Heilmittelwerbegesetz nicht stattfinden, liegt falsch, so die Autoren. Um zu zeigen, wie Werbung illegal über Umwege beim Konsumenten platziert wird (direct-to-consumer-advertising), es also zur Manipulation des Patienten kommt, gründen die Autoren in Kapitel 2 („Die Medien als Komplizen", S. 15-47) eine Pharmafirma, die nur auf dem Papier existiert. Mit einem scheinbar neuen Mittel gegen Alzheimer wenden sich die Autoren verdeckt an eine sogenannte Pharmaagentur, die die komplette PRund Werbearbeit für das Medikament übernehmen soll. Dazu gehört unter anderem die Gestaltung von Internetseiten, auf denen zwar nicht direkt für das Medikament geworben wird, das Medikament aber als besonders wirksam beschrieben wird. Außerdem verfügen solche Pharmaagenturen über Kontakte zu sämtlichen großen Zeitschriften (Die Aktuelle, Bunte, Alles für die Frau, u. a.). In solchen Meinungsbildnern können Artikel über Krankheiten veröffentlicht werden, in denen das Medikament als „Sensation aus den USA" oder „neues Heilmittel bei Alzheimer" (S. 22) etikettiert und immer wieder namentlich erwähnt wird. Ein weiteres Mittel der Pharmaagenturen sind beispielsweise Pseudoinfoveranstaltungen, bei denen sich der Patient vermeintlich objektiv - über die Krankheit aufklären lassen kann, aber eigentlich Vermarktungsinstrumenten von Pharmafirmen unterliegt. Zwar gehört Patientenschutz zur Aufgabe des Bundesverbandes, jedoch decken die Autorenangesichts der zahlreichen Möglichkeiten indirekter Werbung auf, dass dort, aufgrund fehlender personeller wie finanzieller Ressourcen, nicht systematisch nach verbotener Pharmawerbung gesucht werden kann. Im seltenen Falle einer Abmahnung wären die Kampagnen außerdem meist schon längst beim Patienten platziert. Hinzu kommt, dass Sanktionen meist leicht umgangen werden können. So kann eine Pharmafirma ihren eigenen Abmahnverein gründen, „wenn man zu viele Abmahnungen kriegt, muss man einfach selbst einen Abmahnverein gründen [...]. Und wenn dann eine offizielle Abmahnung kommt, kann man sagen, man sei schon abgemahnt worden" (S. 45). In Kapitel 3 („Das Netz der Pharmaindustrie", S. 47-82) beschreiben die Autoren verschiedene Möglichkeiten, die Pharmakonzerne nutzen, um Patienten zu beeinflussen. Die meisten davon, wie die Manipulation über das Internet, wurden bereits in Kapitel 2 aufgeführt: Zahlreiche Websites, die objektiv über eine Krankheit aufklären wollen, unterliegen dem Sponsoring von Pharmakonzernen. Auf dem wichtigsten Kongress der deutschen Neurologen, weisen sich die Autoren als Ärzte auf, um die Manipulation der Ärzte durch die Pharmalobby aufzuzeigen (S.61). Als weitere Strategie werden (unter anderem) sogenannte Pharmaschwestern (S. 63) vorgestellt, die sich im Außendienst um Patienten kümmern und einen möglichen Medikamentenwechsel auf deren Seite zu verhindern versuchen. Kapitel 4 („Die Strategie Patient im Visier", S. 82-94) geht nochmals näher auf das Internet als Plattform für Pharmakonzerne ein, denn ,je informierter ein Patient ist, desto häufiger stellt er [...] konkrete Forderungen" (S. 83), so ein interviewter Allgemeinarzt. So geben 70 % der Spiegels und der Zeit zuständig ist oder „Ware Gesundheit: Das Ende der klassischen Medizin" von Paul U. Unschuld (Professor an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA). 2

„Für verschreibungspflichtige Arzneimittel darf nur bei Ärzten, Zahnärzten [...] Apothekern und Personen, die mit diesen Arzneimitteln erlaubterweise Handel treiben, geworben werden." (S. 14)

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Ärzte in einer durch Pharmafirmen angelegten Befragung unter Ärzten (S. 84) an, dass deren Verordnung direkt vom Patientenwunsch bestimmt sei. Ob diese Wandlung der Ärzte from healer to dealer wirklich stattgefunden hat, untersuchen die Autoren anschließend selber, indem sie sich bei mehreren Ärzten als depressiv ausgeben und (meist erfolgreich) das gewünschte Medikament vom Arzt gegen Depressionen ausgestellt bekommen. In „Die Krankheitsmacher" (Kapitel 5, S. 94-113) wird beschrieben, wie die Pharmaindustrie gezielt neue Krankheiten erfindet, um verschiedene Medikamente besser verkaufen zu können. Durch gezieltes „Disease Mongering" soll auch bei gesunden Menschen der Eindruck entstehen, sie befanden sich lediglich in einer Phase der Prä-Erkrankung. So gilt Beschwerdefreiheit schon als Krankheitsbild. Den ,mündigen Patienten' zu fordern, ist eine andere der Strategie der Pharmaindustrie (aktiv) gegen das Werbeverbot anzukämpfen. In Kapitel 6 werden solche Strategien, die den Kampf gegen das Werbeverbot betreffen, näher beschrieben (S. 113-133). Dabei beeinflussen unter anderem die emotionale Einbindung sowie die Informationenfülle im Krankheitsfall die rationale Entscheidungsfindung. Dies versucht die Pharmaindustrie gezielt auszunutzen. Auf EU-Ebene fordern Pharmakonzerne beispielsweise - statt der Einrichtung eines unabhängigen Portals - die Umsetzung sogenannter Anwendungsbeobachtungen: Fragebögen, die der Arzt mit dem Patienten ausfüllt und anschließend eine Pauschale erhält. Der wissenschaftliche Wert solcher Fragebögen ließe sich entsprechend, so schlussfolgern die Autoren, anzweifeln. Hohe Medikamentenpreise werden in Deutschland immer wieder mit hohen Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) gerechtfertigt. Kapitel 7 („Die Pharmaindustrie redet vom Fortschritt", S. 133-162) zeigt auf, inwiefern die Pharmakonzerne wirklich in F&E investieren. Seriöse Schätzungen auf Basis von Unternehmensdaten zeigen, dass Konzerne lediglich 15 % des Umsatzes in F&E investieren, demgegenüber stehen 30-40 % des Umsatzes, die in den Marketing- und Werbebereich fließen. Auch analysieren die Autoren die Mitarbeiterstruktur - unter anderem - des Pharmariesen MSD, der 40 Mitarbeiter im F&E-Bereich angestellt hat, während 1140 im Marketingbereich tätig sind. Die „größte Gefahr" (Kapitel 8, S. 162-187) sehen die Autoren in der Möglichkeit der Konzerne an, negative Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten nicht veröffentlichen zu müssen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) fordert diese Pflicht zur Offenlegung. Auch bezüglich der Zulassung neuer Medikamente stellen die Autoren eine hohe Intransparenz fest, so würden in Deutschland beispielsweise einige LifestyleMedikamente zugelassen, die in den USA verboten bleiben. Kapitel 9 („Eine Macht ohne Gegenmacht", S. 187-202) führt zwar ein Institut für Pharmakologie in Bremen an, das versucht gegen die Macht der Pharmakonzerne anzukämpfen, jedoch wird der Kampf als ,Kampf gegen Windmühlen' beschrieben. Wirklich unabhängige Institute gibt es, so die Autoren, nur wenige. Das Bremer Institut berät Ärzte und Kliniken und gibt Empfehlungen ab, ob ein neues Medikament wirklich besser ist als das ältere Äquivalent. Dabei stellt sich aber insbesondere die Rekrutierung von Patienten für eigene Studien, angesichts geringerer finanzieller Mittel im Vergleich zur Pharmaindustrie, als schwierig heraus. Aber nicht nur die Kliniken sind fest im „Griff der Pharmaindustrie", auch die Politik, so erörtern Walter und Kobylinski, versagt im Umgang mit den Pharmakonzernen. Kapitel 10 (S. 202-231) beschreibt (u.a.), wie die Autoren im Rahmen ihrer Recherche eine Veranstaltung mit dem Namen ,Kompetentes Lobbying - strategisches Vorgehen nach der Bundestagswahl' besuchen, in dem gelernt werden kann, wie Lobbying - insbesondere Pharmalobbying - funktioniert. Zum Schluss versuchen die Autoren dem Leser noch einige Tipps für den Umgang mit einer Krankheit zu geben. Die ,Anleitung zum Gesundwerden" (Kapitel 11, S. 231-236) erörtert nochmals kurz die wichtigsten Punkte.

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Das Buch endet mit einem Epilog, der den Fokus nochmals auf die MS-Patientin des Prologs legt, die nun „nicht mehr darauf herein[fallt], wenn die Pharmaindustrie ihr Hoffnungen zu machen versucht" (S. 238). Zwar stellte schon Aldous Huxley 1932 in „Brave New World" („Schöne neue Welt") fest: „Die medizinische Forschung hat so viele Fortschritte gemacht, dass es überhaupt keine gesunden Menschen mehr gibt", dennoch ist die Brisanz des Buches hoch: So geriet die Pharmaindustrie gerade erst wieder mit negativen Schlagzeilen in die Presse. Clinicaltrials.gov hat analysiert, dass insgesamt mehr als 1981 klinische Studien in Indien laufen. Von 2006-2011 sind zwischen 204 (in 2006) - 173 (in 2011) neue Studien pro Jahr angelaufen. Dabei sollen allein in Indien zwischen 2007 und 2010 1725 Menschen ums Leben gekommen sein. Auch aktuell wurde das Darmkrebs-Medikament des Pharmakonzerns Merck auf Basis einer europaweiten klinischen Studie PETACC-81 untersucht, wobei sich kein zusätzlicher Benefit gegenüber einer Chemotherapie nachweisen lies. Die Reaktion von Merck fiel, wie von Walter und Kobylinski mehrfach im vorliegenden Buch beschrieben, aus: Merck ignoriert die Studie und verweist auf umfangreichere Studien mit - für Merck - wesentlich positiveren Ergebnissen (Handelsblatt vom 09.05.2012). Das Buch ist durchaus informativ und gut recherchiert. Es liefert eine fundierte Abhandlung der verschiedenen Strategien der Pharmaindustrie und ist damit ein wichtiges Buch, da es hilft Zusammenhänge zwischen Pharmalobby, Ärzten und Politik zu verstehen. Walter und Kobylinski benutzen eine einfache Sprache. Zugleich ist „Patient im Visier", nicht zuletzt durch die hohe Brisanz der Thematik, fesselnd. In einer aufwendigen Undercover-Recherche zeigen die Autoren, wie Gesundheit immer mehr zu einer Ware verkommt und das aggressive Werbeverhalten der Pharmakonzerne keinerlei Grenzen kennt. Auch durch die steigende Bedeutung des Internets erschließt die Pharmaindustrie immer weitere Kanäle Werbung zu betreiben, obwohl diese eigentlich verboten ist. Zwar liefert das Buch stellenweise keine neuen Erkenntnisse - so ist mittlerweile bekannt, dass Studien zu neuen Medikamenten oftmals geschönt oder nicht veröffentlicht werden - , jedoch zeigen Walter und Kobylinski, inwiefern diese Verschleierung möglich ist und Medikamente, deren Zusatznutzen gering oder nicht vorhanden ist, dennoch zugelassen werden können. In diesem Zusammenhang zeigen die Autoren auf, an welchen Stellen Handlungsbedarf besteht und somit die vorhandene Intransparenz abgeschafft werden kann. „Patient im Visier" handelt zahlreiche Fallbeispiele enttäuschter Patienten ab und beruft sich immer wieder auf deren Meinung, die in großem Ausmaß Einfluss in das Buch findet: So bleibt es nicht bei dem erwähnten Beispiel der MS-Patientin zu Anfang und zu Ende des Buches. Immer wieder greifen die Autoren emotionale Patientengeschichten auf, die mit ihrer tragischen Lebens- und Leidensgeschichte zu Wort kommen dürfen. Außerdem nehmen die Autoren an mehreren Stellen Wertungen vor. Zwar finden bestimmte Strategien der Pharmakonzerne immer wieder, in leicht abgewandelter Form, Anwendung, jedoch verallgemeinern die Autoren die Schicksale einzelner Patienten zu stark. Statistische Belege, wie in Kapitel 7, finden hingegen wenig Berücksichtigung. Insgesamt lässt das Buch die Objektivität missen und verliert durch seine reißerische Art den Anspruch an eine wissenschaftliche Arbeit. Bei einem Blick auf den Hintergrund der beiden Autoren, die beide im Bereich des investigativen Journalismus tätig sind, sollte dies aber den Erwartungen des Lesers entsprechen. Wer also wissenschaftlichen Anspruch erwartet, dem wird das vorliegende Buch nicht genügen. Wer hingegen einen kurzen qualitativen Einblick in die Strategien der Pharmakonzerne möchte, der sich schnell lesen lässt, der findet in diesem Buch genau das, was er sucht.

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Literatur Blech, Jörg (2005), Heillose Medizin: Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können, Frankfurt am Main. o.V. (2012), Krebsmittel von Merck versagt in Europa-Studie, in; Handelsblatt vom 09.05.2012; online: http://www.handelsblatt.com/untemehmen/industrie/rueckschlag-fuer-erbitux-krebsmittel-von-merckversagt-in-europa-studie/6612238.html (letzter Zugriff: 28.05.2012). Unschuld, Paul U. (2011), Ware Gesundheit: Das Ende der klassischen Medizin, München.

ORDO • Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Kurzbesprechungen Walter Theiler, MikroÖkonomie anschaulich erklärt, Grundlagen der VWL: MikroÖkonomie ... leicht verständlich, Verlag UTB, Stuttgart 2011,300 Seiten. Das Lehrbuch bespricht die grundlegenden Theorien und Konzepte, die in Einfuhrungsveranstaltungen der VWL im Bachelorstudium, insbesondere in der MikroÖkonomie unterrichtet werden. Es gliedert sich in zwei große Teile. Während im ersten Teil ein sogenannter „Instrumentenkasten" eingeführt wird, behandelt der zweite Teil die wichtigsten theoretischen Konzepte der MikroÖkonomie. Der erste Abschnitt dient vor allem dazu, dem Leser das volkswirtschaftliche Theoriedenken näher zu bringen. Auch wichtige Begriffe und Methoden werden eingeführt, dazu zählen unter anderem die verschiedenen Definitionen und Analysen der Gleichgewichtskonzepte. Den Abschluss bildet die Einführung des „magischen Vierecks der Verbraucherentscheidungen", welches dann als Grundlage für den weiteren Aufbau des Buchs dient. Im zweiten Abschnitt des Buchs werden zunächst die Grundbegriffe der MikroÖkonomie erläutert. Daran anschließend werden beide Marktseiten genauer betrachtet, zunächst die Nachfrageseite und danach die Angebotsseite. In beiden Kapiteln geht es darum, das Fundament für die weitere Analyse zu schaffen. Das Kapitel „Der Markt: Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage" verbindet die beiden vorherigen. Während bisher die „Normalfalle" von Angebot und Nachfrage behandelt wurden, folgt nun eine Erweiterung der beiden Theorien auf besondere Situationen. Um Veränderungen, ausgelöst entweder durch Mengen- oder Preisänderungen messen zu können, wird das Konzept der Elastizitäten eingeführt. Im Anschluss daran erfolgt eine Erweiterung auf die normative Sichtweise des Marktes. Das letzte Kapitel gibt einen Einblick in Externalitäten und effiziente Märkte. Um die Orientierung für den Leser zu erleichtern, sind die Kapitel immer nach dem gleichen Schema aufgebaut. Zu Beginn erläutert ein Schaukasten den Zusammenhang der wichtigsten Bausteine, die in dem entsprechenden Kapitel behandelt werden. Dem eigentlichen Text sind jeweils ein bis zwei Leitfragen vorangestellt. Nach der Darstellung der entsprechenden Konzepte folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte entweder in tabellarischer Form oder mittels eines Schaubildes. Um dem Studenten eine Lernkontrolle zu ermöglichen, sind nicht nur einige Übungsaufgaben eingebaut, sondern es finden sich auch Lösungshinweise am Ende des Buches. Abgerundet werden die Kapitel durch eine Liste jener Literatur, auf der der entsprechende Teil des Lehrbuches aufgebaut ist. Dabei werden nicht nur Autor und Titel genannt, sondern auch, welche Abschnitte aus dem Werk relevant sind. Zusätzlich gibt der Verfasser weiterführende Literaturhinweise für den interessierten Leser, auch hierbei sind Anmerkungen über die Besonderheiten der jeweiligen Quelle angegeben. Ein umfangreiches Glossar am Ende des Buchs ermöglicht es dem eiligen Leser, die wichtigsten Begriffe innerhalb kürzester Zeit nachzuschlagen. Der Zusatz im Titel „..leicht verständlich" suggeriert bereits, dass es sich hier nicht um ein vertiefendes Lehrbuch handelt. Es wird weitestgehend auf eine mathematische Darstellung verzichtet, jedoch würde es an manchen Stellen das Verständnis erleichtern. Für den interessierten Studenten sind insbesondere die Kästen interessant, in denen die Hintergründe zu den jeweiligen Verfassern der Theorie gegeben werden. Diese enthalten insbesondere Informationen über den Namen, die Lebenszeit, die berufliche Position sowie den Hauptbeitrag des Verfassers der angesprochenen Theorie. Der Text wird immer wieder von schematischen Abbildungen unterbrochen. Diese sind zwar hilfreich, um einen Überblick über die verschiedenen Zusammenhänge zu bekommen, jedoch erschweren es die vielen Unterbrechungen (Schaukästen, Wissenschaftlerinfos, Beispielaufgaben), den Gedankengängen zu folgen.

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Das Lehrbuch ist weniger zur konkreten Prüfungsvorbereitung geeignet, was es auch nicht sein will, da es den Stoff, der in Einführangsveranstaltungen an Universitäten gelehrt wird, nur an der Oberfläche behandelt. Vor allem der bewusste Verzicht auf mathematische Herleitungen macht diesen Aspekt deutlich. Vielmehr handelt es sich bei dem vorliegenden Lehrbuch um ein Nachschlagewerk, das einen umfassenden Überblick über das Themengebiet liefert. Sind die Grundlagen der MikroÖkonomie bereits bekannt, so besticht es neben der knappen aber dennoch verständlichen Beschreibung vor allem durch die zahlreichen Literaturhinweise, die die Suche nach weiterfuhrenden und vertiefenden Quellen erheblich erleichtern. Martina

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Franz-Ulrich Willeke, Deutschland, Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung, Verlag OLZOG, München 2011,158 Seiten. Streit um die finanzielle Belastung einzelner regionaler Glieder einer übergeordneten Gemeinschaft ist nicht selten. Auf nationaler Ebene bieten regelmäßig vorgebrachte Drohungen mit Verfassungsklagen zum deutschen Länderfinanzausgleich hierfür Beispiele. Auf europäischer Ebene sind es nicht nur die langwierigen Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Rettungsschirme für den Euro, sondern auch die jahrzehntelangen Debatten um die Nettozahlerpositionen einzelner EU-Mitgliedstaaten im normalen Budget der Union, die hierfür als Beleg herangezogen werden können. Hierbei geht es zum einen um die Umverteilungswirkungen zwischen den Mitgliedstaaten, zum anderen aber auch um die fehlende Transparenz der Finanzbeziehungen, die durch politisch veranlasste Be- und Entlastungen hervorgerufen wird. Der Verfasser versucht in seinem zehn kurze Kapitel umfassenden, populärwissenschaftlich geschriebenen und mit vielen Daten angereicherten Buch, etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen. Zunächst werden Informationen über die nationalen Finanzbeiträge geliefert. Während deren Berechnung relativ unproblematisch ist, soweit es sich um nationale Zahlungen handelt (Mehrwertsteueranteil, BNE-basierte Zahlungen), kann eine nationale Zurechnung der traditionellen EU-Eigenmittel (insbesondere der Zölle) nicht ohne Annahmen vorgenommen werden, wie sie auch der Verfasser trifft. Hierbei zeigt sich, dass es bei den nationalen Beitragszahlungen im engeren Sinne nicht nur den laut Willeke gut ein Drittel ausmachenden Rabatt für die Briten gibt, sondern auch Entlastungen für Länder, die an bestimmten Gemeinschaftspolitiken nicht oder nur eingeschränkt teilnehmen, sowie für Länder (darunter Deutschland) mit einer hohen Nettobeitragsbelastung. Die Problematik der Ermittlung der Nettozahlungen wird im Zusammenhang mit den deutschen Beitragszahlungen thematisiert. Willeke weist zu Recht und mit Nachdruck darauf hin, dass ein Rückfluss von Beitragszahlungen in Form einer Finanzierung deutscher Exporte in andere EU-Staaten keineswegs eine Wohlfahrtskompensation der Zahlungen darstellt, fließen die Waren und Dienstleistungen doch quasi als Geschenke in das Ausland. Bei der Gegenüberstellung der als Differenz zwischen den Zahlungen an die EU und den von der EU in dem betreffenden Land getätigten operativen Ausgaben gebildeten Nettozahlungen stellt er erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Nettozahlerstaaten fest. Diese Unterschiede können mit der unterschiedlichen Wirtschaftskraft der Staaten allein nicht erklärt werden. Um eine Gleichbehandlung unter den Nettozahlern zu erreichen, ermittelt er auf Basis eines einheitlichen Prozentsatzes des Bruttonationaleinkommens angemessene Nettobeiträge, die er den tatsächlichen gegenüberstellt. Dabei stellt er fest, dass von den elf Nettozahlern im Zeitraum von 1991 bis 2008 vier Staaten zu stark und sieben zu wenig belastet wurden. Da in den Tabellen der jeweilige prozentuale Anteil an der Summe des ungerecht verteilten Nettofinanzierungsbetrags und nicht der Grad der länderindividuellen Übervorteilung erscheint, steht Deutschland regelmäßig als Hauptzahlmeister dar, auch wenn es 2004 bis 2008 nach Willekes Berechnung nur knapp 24 %

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zu viel gezahlt hat, während einzelne andere Mitgliedstaaten mit bis zu 43 % noch stärker übermäßig belastet wurden. Unbeantwortet bleibt in der Analyse die Frage, ob nicht abweichend vom Gleichbehandlungsprinzip ein mit dem Pro-Kopf-Einkommen steigender Prozentsatz des Bruttonationaleinkommens als Nettobeitragssatz ebenfalls mit einem - vom Autor nie grundsätzlich in Frage gestellten - Solidargedanken vereinbar wäre. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass ein Wechsel von einer Nettoempfängerposition in eine Nettozahlerposition insbesondere bei EUErweiterungen relativ schnell erfolgen kann, ohne dass sich das Pro-Kopf-Einkommen nennenswert ändert. Nur relativ kurz behandelt wird im Übrigen die Frage nach dem Nettonutzen der Beitragszahlungen. EU-Ausgaben in einem Land werden als Nutzen steigernd für das Empfängerland angesehen (das impliziert die angewandte Nettozahlerdefmition). Aber keineswegs alle Ausgaben in einem Land kommen zwangsläufig auch ihm (vollumfanglich) als Nutzensteigerung zugute. Ferner wird auch nicht der Frage nachgegangen, inwieweit Nettozahlerstaaten durch ein anderes nationales (wirtschaftspolitisches) Verhalten mehr EU-Ausgaben in ihrem Land generieren können, schließlich stehen die meisten EU-Finanzmittel grundsätzlich allen Mitgliedsländern offen. Natürlich kann man diese Lücken mit dem begrenzten Umfang des Buches (knapp 160 Seiten) rechtfertigen. Ein Verzicht auf das Bestreben, jedes Kapitel für sich isoliert lesbar zu gestalten, hätte einige Wiederholungen überflüssig gemacht und so Raum für weitere Analysen geschaffen, zumal das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses es ohnehin schwierig macht, einzelne Themenaspekte gezielt zu suchen. Der so gewonnene Raum hätte vielleicht auch für eine etwas systematischere Darstellung der regionalen Zuordnung von Einnahmen, Ausgaben und Nutzenentstehung verwendet werden können, die das Verständnis der Ausführungen sicherlich erleichtert hätte. Wie aus dem Untertitel hervorgeht, war es aber das Ziel des Autors, primär die deutsche Nettozahlerposition in der EU zu thematisieren. Auch wenn man nicht jeder Berechnung und allen Schlussfolgerungen des Autors zustimmt, so bringt die Lektüre doch einige neue Erkenntnisse und Denkanstöße für die Bewertung der EU-Finanzierung. Bernhard

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Patrick Da-Cruz, Strategisches Beschaffungsmanagement in Dienstleistungsunternehmen, Verlag P.C.O., Bayreuth 2010,340 Seiten. Auf 263 Seiten konzipiert Da-Cruz, so wie es der Untertitel seiner Dissertation „verspricht", ein strategisches Beschaffungsmanagement auf Basis institutionenökonomischer und ressourcenorientierter Ansätze am Beispiel von Krankenhäusern. Da-Cruz gliedert seine Dissertation in sieben Kapitel. Bereits nach dem ersten Kapitel („Einleitung") wird dem Leser klar, was ihn erwartet: die Konzeption eines strategischen Beschaffungsmanagements, welche theoretisch fundiert hergeleitet wird. Auf den ersten 70 Seiten legt Da-Cruz zunächst das Fundament seines Konzeptes dar. Begrifflichkeit und Merkmale der Beschaffung werden erläutert (Kapitel 2: „Begriffliche Grundlagen: Von der Beschaffung zum strategischen Beschaffungsmanagement") und anschließend erfolgt eine Literaturaufbereitung zum strategischen Management mit den Schwerpunkten Ziele und Aufgaben, Strategien sowie Systeme und Konzeptionen der Beschaffung. Ergänzend werden vom Autor die strategischen Beschaffungsmodelle von Krampf und Leinz dargestellt. Da-Cruz trägt in Kapitel 3 („Strategisches Beschaffungsmanagement: ein Literaturüberblick") die vorhandene Literatur zusammen und schafft es, diese nachvollziehbar zu strukturieren. Wer jüngere Veröffentlichungen zum Thema „Strategisches Beschaffungsmanagement" sucht, dem sei ein Blick in dieses Kapitel empfohlen.

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Da-Cruz zieht den Kreis seiner theoretischen Konzeption jedoch noch weiter. Um seinem eigenen Anspruch eines strategischen Beschaffungsmanagements gerecht zu werden, stellt er Theorien zur Erklärung und zum Verständnis des strategischen Managements vor. Wer nun eine ähnlich fundierte „Tour" durch die strategische Managementforschung erwartet hat, wird allerdings enttäuscht. Da-Cruz beschränkt sich in Kapitel 4 („Theoretische Grundlagen") auf einen kurzen Einblick in die Industrieökonomik, bevor er sich anschließend mit dem Transaktionskostenansatz und dem Kernkompetenzansatz auseinandersetzt. In Kapitel 5 („Beschaffungsmanagement im Krankenhauskontext") erläutert Da-Cruz zunächst den Krankenhaussektor. Er beschreibt dabei auch die Vergütungssystematik in der stationären Versorgung, insbesondere die Einfuhrung der sog. DRG-Fallpauschalen. Die Auswirkungen deren Einführung auf die Beschaffung, durch die nahezu vollständige Abkehr vom „Selbstkostendeckungsprinzip", hätte Da-Cruz aber ausfuhrlicher diskutieren müssen. Zielführend und strukturiert gelingt es ihm dann im Anschluss aber, die Beschaffung als Teil des Wertschöpfungsprozesses im Krankenhaus einzuordnen und die Handlungsfelder für die Krankenhausbeschaffung zu identifizieren. Die „Erarbeitung einer strategischen Beschaffungskonzeption im Krankenhaus" nimmt DaCruz in Kapitel 6 vor. Diese Konzeption besteht aus vier Bestandteilen: Leistungstiefenstrategien, Lieferantenstrategien, Materialgruppenstrategien sowie Beschaffungsobjektstrategien. Für jeden dieser Teilbereiche stellt Da-Cruz die unterschiedlichen Ausprägungen und Ansätze vor. Er prüft deren Anwendungsmöglichkeiten im Krankenhaus. Es gibt kaum eine aus anderen Wirtschaftszweigen bereits bekannte Strategie, die nicht erörtert und auf Übertragbarkeit geprüft wird. Beispielsweise werden im Rahmen der Lieferantenstrategien alle Ansätze von Sole Sourcing über Single und Dual Sourcing bis hin zu Multiple Sourcing vorgestellt. Die Anwendung im Krankenhaus wird dabei für alle Ansätze nachvollziehbar diskutiert, jedoch wäre an der einen oder anderen Stelle ein verstärkter Praxisbezug wünschenswert gewesen. Dies kann man Da-Cruz aber nur bedingt zum Vorwurf machen, da er im Rahmen seiner Arbeit den Schwerpunkt auf eine theoretische Konzeption legt. Zum Abschluss dieses Kapitels führt Da-Cruz die dargestellten Teilstrategien im Sinne eines „Baukastenprinzips" zusammen. Aus diesem „Spektrum grundsätzlich denkbarer Konfigurationsmöglichkeiten" (S. 252) kann nun für jede typische Beschaffungssituation eine geeignete Strategie gewählt werden. Hier zeigt sich die langjährige Beratungspraxis von Da-Cruz, der durch diese Vorgehensweise die Komplexität reduziert und mögliche Alternativen transparent und die Bewertung nachvollziehbar macht. Selbstkritisch endet die Arbeit mit Kapitel 7 („Zusammenfassung, kritische Würdigung und Ausblick"). Nach einer kurzen Zusammenfassung greift Da-Cruz die Ansatzpunkte für zukünftige Forschungsaktivitäten auf, welche nicht Bestandteil seiner Dissertation sind und auf Grund seiner Fokussierung nicht weiter behandelt wurden. Neben einer Erweiterung der Theoriebasis schlägt er eine Praxiserweiterung seiner Arbeit mit großzahligen Erhebungen und Fallstudien vor. Das Buch endet mit einem zutreffenden Ausblick auf die Herausforderungen und Entwicklungen, denen die Krankenhäuser zukünftig gegenüberstehen. Das vorliegende Buch von Da-Cruz kann allen empfohlen werden, die sich mit theoretischen Ansätzen zum Beschaffungsmanagement im Krankenhaus beschäftigen wollen oder müssen. Hier kann die Dissertation als umfassende Fundstelle und Zusammenführung existierender Ansätze nachdrücklich empfohlen werden. Andreas Götz

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Michael Greiling und Michael Brinkhaus, Marktchancen und -risiken in der Gesundheitswirtschaft, Strategien zur Bewertung, Problemlösung und Umsetzung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2010,153 Seiten. Die Gesundheitswirtschaft ist eine Branche, die durch eine hohe Dynamik und damit verbundene Unsicherheit für die Marktteilnehmer geprägt ist. Aus diesem Grunde ist es für die in der Gesundheitswirtschaft tätigen Unternehmen unerlässlich, einen Strategieprozess aufzusetzen, mittels dessen die Unternehmensleitung in die Lage versetzt wird, das Unternehmen nachhaltig erfolgreich auszurichten. An diesem Punkt setzt das Buch von Greiling und Brinkhaus an. Zielsetzung der Autoren ist es, den Verantwortlichen in den Unternehmen eine Anleitung an die Hand zu geben, durch die es ihnen möglich wird zu analysieren, welche Umweltfaktoren auf die Unternehmen in der Gesundheitswirtschaft einwirken. Hierbei steht nicht nur die Identifikation der Umweltfaktoren im Vordergrund, sondern auch deren methodische Bewertung und Relevanz für die Unternehmensstrategie. Das Buch untergliedert sich in sechs Kapitel und einen Anhang. Im ersten Kapitel wird kurz die zugrunde liegende Motivation und der Aufbau der Argumentation vorgestellt. Im nachfolgenden zweiten Kapitel werden die relevanten Grundlagen erläutert. Hierbei erfolgt die Definition zentraler Grundbegriffe wie „strategische Unternehmensführung" und „Strategie". Darüber hinaus wird die Interdependenz zwischen der Vision, dem Unternehmensleitbild und den Unternehmenszielen sowie der Strategie aufgezeigt. Abschließend wird noch der Prozess der Strategieentwicklung und diesbezüglich das Instrument der Balanced Scorecard vorgestellt. Das dritte Kapitel ist der Informationsbeschaffung gewidmet, auf deren Basis die Strategieentwicklung vorgenommen werden kann. Hierbei betonen die Autoren die Dualität sowohl der Unternehmens- als auch der Umweltanalyse, wobei der Fokus auf der zweitgenannten Analyse der exogen auf die Unternehmen einwirkenden Faktoren gesetzt wird. Im daran anschließenden vierten Kapitel erfolgt zunächst eine Abgrenzung der einzelnen Partizipanten der Gesundheitswirtschaft in Anlehnung an die Definition des Instituts Arbeit und Technik. Darauf aufbauend werden dann die einzelnen Dimensionen, welche die strategische Ausrichtung der Unternehmen sowie deren zukünftige Entwicklung beeinflussen können, sehr detailliert beschrieben. Als Dimension verstehen die Autoren in diesem Kontext die „Merkmale oder Details, die an einem zu untersuchenden Sachverhalt unterschieden werden können" (S. 60). Im folgenden fünften Kapitel wird eine Methodik entwickelt, durch die die Unternehmen in die Lage versetzt werden sollen, die im vorigen Kapitel definierten Umwelteinflüsse bewerten und Lösungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Es handelt sich hierbei um eine sogenannte SWOT-Analyse, die mittels dreier Instrumente (Bewertung der Umweltveränderungen, Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten, Auswahl von Lösungsmöglichkeiten) realisiert wird. Das sechste Kapitel stellt die Schlussbetrachtung dar. Hierin werden die zentralen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und weitere unbeantwortete Fragen hinsichtlich der verwendeten Methodik aufgeworfen. Das Buch endet mit einem Anhang, in dem unter anderem die 35 ausgewerteten Studien, die letztlich zur Herleitung der Dimensionen genutzt wurden, detailliert aufgeführt sind. Die Autoren geben dem interessierten Leser mit diesem Buch ein Werk an die Hand, das auf die wesentlichen Elemente, die im Rahmen der Strategiefindung von Interesse sind, gezielt eingeht und dabei die zentralen Spezifika der Gesundheitswirtschaft berücksichtigt. Hervorzuheben sind zum einen die sehr fundierte Identifikation und Erläuterung der exogenen Einflussfaktoren und zum anderen die konkrete Darlegung einer Methodik, mittels derer der Strategieprozess strukturiert durchgeführt werden kann. Dies macht das Buch zu einem guten „Praxis-Werkzeug" für Strategieverantwortliche in der Gesundheitswirtschaft. Auch aus ordnungsökonomischer Perspektive ist das Buch durchaus von Interesse, da die exogenen Einflussfaktoren im Wesentlichen abhängig sind von dem der Gesundheitswirtschaft zugrunde liegenden institutionellen

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Rahmen und somit im Rahmen der Strategieentwicklung die Implikationen des bestehenden Ordnungsrahmens mit berücksichtigt werden sollten. Maximilian Högn

Viktor J. Vanberg (Hg.), Hayek Lesebuch, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2012, 340 Seiten. Wenn die Herausgabe der gesammelten Schriften Friedrich A. von Hayeks (1899-1992) in deutscher Sprache im Verlag Mohr Siebeck einmal abgeschlossen ist, wird ein Konvolut von wohl rund 5000 Seiten vorliegen. Möglicherweise bringt jedoch nicht jeder, der sich mit dem Denken dieses wichtigen österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen befassen möchte, hinreichend viel Zeit (und Geld) mit, um ein solches Pensum rasch zu absolvieren. Viktor Vanberg, Emeritus der Universität Freiburg, langjähriger Leiter des Walter Eucken Instituts in Freiburg und Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschafit, hat nicht nur das verdienstvolle Projekt der gesammelten Schriften als Herausgeber jahrelang maßgeblich betreut. Er hat jetzt aus diesen Texten auch noch ein schönes „Lesebuch" von angenehm überschaubarem Umfang destilliert. Es handelt sich bei dem „Lesebuch" freilich mitnichten um eine leichte Lektüre, wie es der Name falschlich vermuten lassen könnte. Hier werden keine Appetithäppchen serviert, sondern es liegt ein dichtes, zur intensiven wissenschaftlichen Arbeit anregendes und gut geeignetes Kompendium vor, das die zentralen Aufsätze und Buchkapitel (beispielsweise aus der „Verfassung der Freiheit" und aus „Recht, Gesetz und Freiheit") versammelt. So wird es auch dem eiligeren Leser ermöglicht, sich das weitgespannte Gedankengebäude Hayeks zu erschließen. Dabei erweist sich auch die Einleitung von Vanberg selbst als höchst instruktive thematische Einordnung und Verdichtung. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, die jeweils drei ausgewählte Texte umfassen. Den Anfang macht, dramaturgisch klug, eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema „Grenzen des Wissens, Freiheit und die Bedeutung von Regeln". Hiermit wird der Ausgangspunkt von Hayeks Denken abgebildet, das alles bestimmende Wissensproblem: die „Grundtatsache der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von einem Großteil dessen, worauf das Funktionieren einer Zivilisation beruht", wie Hayek selbst es formuliert hat. Erst wer diese „konstitutionelle Unwissenheit" berücksichtigt, dringt überhaupt an die Wurzel der Freiheit vor: Gerade weil die Menschen unwissend sind, ist Freiheit notwendig. Und erst vor diesem Hintergrund lässt sich auch erkennen, dass „die meisten der Verhaltensregeln, die unser Handeln leiten, und die meisten Institutionen, die aus dieser Geregeltheit entstehen, Anpassungen an die Unmöglichkeit sind, dass irgendjemand bewusst alle die Einzeltatsachen berücksichtigt, welche auf die Gesellschaftsordnung einwirken". Der zweite Teil des Buches ist „Grundfragen sozialer Ordnung" gewidmet. Hier geht es um die Unterscheidung zwischen Organisation und spontaner Ordnung; um das Zusammenspiel zwischen Regelordnung und Handelnsordnung; außerdem um die - begrenzten - Erkenntnismöglichkeiten der Sozialwissenschaften angesichts der komplexen Phänomene, mit denen sie zu tun haben. Im dritten Teil wird der Gedanke der „spontanen Ordnung des Markts" im Detail aufgefächert. Hier fehlt natürlich nicht der großartige, erstmals 1945 erschienene Aufsatz „Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft", in dem Hayek den Preismechanismus als Kommunikationssystem fasst - und ebenso wenig dessen weitergedachte Fortfuhrung aus dem Jahr 1968, der Aufsatz „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren", welcher die Kombination dezentral vorhandenen Wissens zusätzlich noch mit dem dynamischen Aspekt der Genese neuen Wissens verknüpft.

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Im vierten Teil des Lesebuches geht es um die „Wissensanmaßung des Konstruktivismus"; dort findet sich unter anderem die berühmte Schrift „Die Anmaßung von Wissen", die auf Hayeks Rede anlässlich der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaft 1974 beruht. Im fünften Teil dann ist „Liberalismus und Demokratie" das Thema. In Anlehnung an Denker wie Benjamin Constant und Lord Acton hat Hayek stets vor der Unbeschränktheit von Macht - auch der demokratischen - gewarnt. Vanberg macht mit Nachdruck klar, dass dies keine Ablehnung des Ideals der Demokratie an sich bedeutet, wohl aber eine Kritik an der spezifischen institutionellen Form, in welcher die Demokratie zumeist auftritt. Sorgfaltige bibliographische Angaben mitsamt Veröffentlichungsgeschichte sowie ein tabellarischer Lebenslauf runden den gelungenen Sammelband ab. Angesichts des ausgesprochen erschwinglichen Preises von 16,90 Euro hat jetzt auch kein Student mehr eine Ausrede, wenn er die wichtigsten Schriften Hayeks nicht gelesen oder sie noch nicht einmal als stumme Mahnung im Regal stehen hat.

Karen Horn

Markus C. Kerber, Der Verfassungsstaat ist ohne Alternative, die Verfassungsbeschwerden gegen den Eurostabilisierungsmechanismus sowie gegen die Griechenland-Hilfe, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2010,197 Seiten. Markus C. Kerber, Die EZB vor Gericht, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2011, 79 Seiten. Als Nummer 1 und Nummer 2 einer neuen Schriftenreihe zur europäischen Wirtschaftspolitik und zum europäischen Wirtschaftsrecht (Edition Europolis) wagt der Verlag Lucius & Lucius einen neuartigen Typus von Buchpublikationen: Die unveränderte Wiedergabe von Klageschriften bzw. Verfassungsbeschwerden. Unter dem etwas reißerischen Titel „Der Verfassungsstaat ist ohne Alternative" werden, wie der Untertitel aufklärt, die Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht gegen das deutsche „Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus" sowie gegen die Verordnung (EU) 407/2010 des Rates der Europäischen Union vom 11. Mai 2010, sogenannte GriechenlandHilfe, gebracht. Beschwerdeführer ist eine Gruppe von Bürgern um den Berliner Ordinarius Markus C. Kerber, der auch als Autor fungiert. Die zweite Publikation enthält den Text einer Nichtigkeitsklage von Markus C. Kerber gegen die EZB vor dem Gerichtshof der Europäischen Union. Das Gericht möge die Durchfuhrung verschiedener Beschlüsse der EZB unterbinden, in welchen der Kläger Verstöße gegen das europäische Gemeinschaftsrecht erkennt. Die Verfassungsbeschwerden bzw. die Nichtigkeitsklage sind Teil eines allgemeineren Bemühens, die Europäische Währungsunion wenn nicht zu einem Ende zu bringen, so doch auf ihren ursprünglichen Kern zu reduzieren. Der Autor spart nicht mit drohenden Visionen: Andernfalls wäre dies der Anfang vom Ende der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft. Die Bürger wären darauf verwiesen, von ihrem „politischen Widerstandsrecht Gebrauch zu machen." Die Verfassungsbeschwerden rufen zur Bürgerrevolte auf. Diese werde „zur vornehmen Pflicht jedes deutschen Citoyen." Innovationen, auch verlegerischen, sollte man mit Respekt begegnen. Sie stellen indes nicht automatisch einen Fortschritt dar. Hybride Produkte der hier besprochenen Art riskieren, keinen Mehrwert zu schaffen, sondern die Anforderungen aus beiden zusammengefassten Bereichen zu verfehlen. So verstehen sich die Verfassungsbeschwerden als „ein Lesebuch für den zivilen Ungehorsam." Die Darstellungsform des „Lesebuchs" ist für das Anliegen von juristischen Klageschriften denkbar ungeeignet. Sie kommt nicht rasch und insgesamt nicht genau genug zum Punkt. Bestenfalls langweilt sie das angerufene Gericht. Polemik gegen Personen - in der vorliegenden Publikation betrifft das vornehmlich den früheren EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet - wird von einem Gericht regelmäßig als Belästigung empfunden. Sie trägt nichts zur juristischen Sache bei. Trotz eines insgesamt klaren und disziplinierten Stils tragen Abschwei-

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fungen, die im Hinblick auf eine breitere Leserschaft akzeptabel sein mögen, wenig zur Erkenntnisfindung bei. Vor lauter Bäumen erkennt man den Wald nicht mehr. Dieses Risiko ist beim Gegenstand Währungsunion schon von der Sache her unvermeidlich groß. Nun ist eine fehlende Stringenz eingelegter Rechtsbehelfe in erster Linie eine Angelegenheit der Kläger bzw. Beschwerdeführer. Sie schaden sich selbst. Wer in der Absicht auftritt, den deutschen wie den europäischen Verfassungsstaat retten zu wollen, vertritt freilich kein reines Privatinteresse mehr. Er handelt in der Substanz als „public attorney." Als Schriften für die breitere Öffentlichkeit werden die Publikationen durch juristischen Ballast belastet. Er ist innerhalb der Rechtsbehelfe unausweichlich, innerhalb eines „Lesebuchs" wirkt er deplatziert. Man wird an den Kalauer erinnert: Juristen lösen Probleme, die ohne sie nicht bestünden. Das gilt z. B. für ausgedehnte Darlegungen zu den Erfordernissen der Klagebefugnis und der sogenannten individuellen Betroffenheit eines Staatsbürgers bei den ins Visier genommenen währungspolitischen Beschlüssen der EZB. Vergleicht man die europäische Währungssituation des Jahres 2012 mit der Idylle, die unter DM und Bundesbank bis zum Jahre 1999 herrschte, dann kann man von einem Stück aus dem Tollhaus sprechen. Wenn die Kläger bzw. Beschwerdeführer hier auf Gesetze und oberste Gerichte als letzte Rettungschance setzen, so berührt dies sympathisch. Sie riskieren freilich dieselben Fehler, welche die Schöpfer der Währungsunion zu verantworten haben und aus denen man heute kaum mehr herauskommt. Zum einen wurde bei der für die Währungsunion konstitutiven no bail-out-Bestimmung des Art. 125 AEUV nicht hinreichend bedacht, dass eine Finanzkrise häufig die Form einer Bankenkrise annimmt und hier vermeintliche oder tatsächliche Notwendigkeiten eines Krisenmanagements vorhandene Rechtsregeln beiseiteschieben können. Wichtiger ist ein defizientes Verständnis von Politik. Diese ist per defitionem diskretionär. Alles ist zu jeder Zeit neu verhandelbar. Die Klagen wie die Schöpfer der Währungsunion gingen von der naiven Vorstellung aus - sie ist jedenfalls in Deutschland verbreitet Politik werde am besten von Beamten gemacht; dann sind in der Tat rechtliche Regeln möglich und zugleich geboten. Dies spiegelt sich nicht in der Realität. De Gaulle brachte das auf den Punkt: Internationale Verträge welken dahin wie die Rosen und die jungen Mädchen (dazu Wernhard Möschel (1999), An der Schwelle zur Europäischen Währungsunion, JuristenZeitung, Bd. 53, S. 217223). Die deutsche Politik reagiert darauf, indem sie durch finanzielle Zuwendungen Zeit für die Problem-Mitgliedstaaten des Euroraums zu kaufen sucht. Diese sollen in die Lage versetzt werden, durch strukturelle Anpassungen jenes Mindestmaß an Homogenität herbeizuführen, welche eine funktionsfähige Währungsunion offenbar erfordert. Das Scheitern dieser Politik steht noch nicht fest. Viele freilich erwarten das. Sie halten letztlich einen Zerfall des Projekts Europäische Währungsunion für wahrscheinlich. Prominente Ökonomen empfehlen angesichts dessen den Bürgern, sie mögen mit den Euros „ihre Badezimmer renovieren." Vielleicht könnte eine Zwischenlösung die Reduzierung der Währungsunion auf einen kleineren und stabileren Kreis sein. Die Schaffung einer Insolvenzordnung für grenzüberschreitend tätige Kreditinstitute und eines geordneten Verfahrens zur Absicherung eines Staatsbankrottes dürften dazugehören. Wernhard

Möschel

Norbert Klüsen, England and Germany in Europe - What Lessons Can We Learn from Each Other?, Verlag Nomos, Baden-Baden 2011,152 Seiten. Der Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung von 2009 zum Thema „The Future of European Health Care Systems". Der Sammelband enthält vier Teile. Im ersten Teil setzen sich drei Beiträge mit der Frage der Gesundheitsversorgung in England, Deutschland und in Europa als auch mit dem Potential für zukünftige Reformen auseinander. Thomas McGuire und Sebastian Bauhoff untersuchen die Reaktionen des britischen und deutschen Gesundheitssystems auf eine

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der bedeutendsten kostensparenden Innovationen, die Verfügbarkeit von generischem Simvastatin, einem cholesterinsenkenden Medikament. Im zweiten Beitrag untersucht Biggi Bender die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, welche ein Sozialversicherungssystem mit Beitragsfinanzierung und ausgeprägter Selbstverwaltung darstellt. Verschiedene Reformanstrengungen und Reformen werden hier kritisch diskutiert und analysiert, z.B. ob die Reformschritte immer zum Wohle der Patienten in beiden Ländern stattfinden. Die beiden Beiträge setzen sich kritisch mit dem britischen und dem deutschen Gesundheitssystem auseinander, zeigen zahlreiche Schwachpunkte auf und bieten erste Lösungsansätze. Kapitel 3 umfasst drei Beiträge zum Thema „Spitalssektor in der EU". Jörg Debatin analysiert das Krankenhaussystem im deutschen Gesundheitswesen und hebt positiv hervor, dass dieses sich von einem komplett undurchsichtigen und stark prozessbestimmten System zu einem wettbewerbsfähigen Markt entwickelt habe. Nach seiner Meinung wurden die Krankenhäuser gezwungen, ihre Produktportfolios klar zu definieren, um in einem solchen Markt überleben zu können. Im zweiten Beitrag setzen sich Zack Cooper und Alistair McGuire mit der Frage auseinander, ob grundsätzlich endogen auf variabler Preisgestaltung basierende Gesundheitsreformen, die den Wettbewerb unter Krankenhausanbietern steigern sollen, einen strittigen Einfluss auf die Qualität der Krankenhäuser haben oder nicht. Kritisch werden hier die verschiedenen Strategien diskutiert, und auch die Frage des Marktversagens wird angesprochen. Im vierten Teil wird die Analyse der Gesundheitsökonomie auf die europäische Ebene verlagert. Caroline Wagner, Anne-Katrin Meckel und Frank Verheyen versuchten durch eine Befragung von Nachfragern, d.h. von deutschen Patienten, die im Ausland behandelt wurden, etwas über die Inanspruchnahme von EU Auslandsleistung zu erfahren. Ziel dieser Befragung war es, Ergebnisse zu generieren, die zur Weiterentwicklung des Versorgungs- und Serviceangebotes der deutschen Krankenkasse in der grenzüberschreitenden Versorgung wichtig sind. Auch dies ist eine interessante und gelungene Untersuchung mit wichtigen Erkenntnissen. Im letzten Beitrag setzt sich Günter Danner mit der Frage auseinander, welche Herausforderungen die Sozialwelten der einzelnen EU Mitgliedstaaten in der Zukunft zu bewältigen haben. Insbesondere unter dem Einfluss der Eurokrise und unter dem dadurch ausgelösten Zwang zum Sparen und zur Budgetsanierung zeigen erste Gesundheitsreformen in vielen Staaten sehr starke Budgetkürzungen. Dieser Beitrag setzt sich mit der schwierigen Situation der Haushaltssanierung auch im Bereich der Gesundheits- und Krankenhauspolitik auseinander und zeigt die Problematik von zu starken Kürzungen auf. Insgesamt sind die Beiträge in diesem Sammelband hochaktuell, und ich kann sie für jeden, der sich mit dem Gesundheitssystem von Großbritannien und Deutschland und all seinen Facetten auseinandersetzen will, empfehlen. Friedrich Schneider

Kornelia und Gregor van der Beek, Gesundheitsökonomik - Eine Einführung, Verlag Oldenbourg, München 2011, 212 Seiten. NichtÖkonomen mit ökonomischen Fragestellungen und Modellen vertraut zu machen, stellt jeden Wirtschaftswissenschaftler vor Herausforderungen. Mit ihrem in die Gesundheitsökonomik einführenden Lehrbuch richten sich die Autoren gerade an jene, die im Gesundheitsbereich tätig sind und sich mit der ökonomischen Seite ihres Metiers auseinandersetzen wollen. Das Buch beginnt daher in den ersten drei Kapiteln mit einer Einführung in die Ökonomik, ihre typischen Denkansätze und was die Welt der Gesundheit damit zu tun hat. Dass die Gesundheit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt, wird unterstrichen. In ihrer Umgrenzung des Begriffs Gesundheitsökonomie veranschaulichen die Autoren, dass Gesundheit als ein Gut verstanden wird, dessen ökonomische Analyse aufgrund der klassischen Eigenschaft von Gütern interessiert: namentlich ihrer Knappheit. Didaktisch ist es da nur folgerichtig, auf das Gut Gesundheit sogleich das Marktmodell anzuwenden (Kapitel 3). Für NichtÖkonomen ist die Darstellung sehr angemessen und wird anhand von Beispielen aus dem Gesundheitssektor motiviert.

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Ebenso verzichten die Autoren zugunsten ihrer primären Zielgruppe durchgehend auf eine formale Darstellung, stellen die Sachverhalte aber auf einprägsame Weise in Graphiken dar. In den Kapiteln 4, 5 und 6 wird deutlich, warum die Gesundheitsökonomik als eigener Gegenstandsbereich innerhalb der Ökonomik Daseinsberechtigung hat. Angefangen bei der Nachfrageseite des Gesundheitsmarkts bauen die Autoren schrittweise die besonderen Eigenschaften von Gesundheitsgütern auf. Vor allem sind es eine Kostenübernahme durch Dritte, Moral Hazard-Verhalten seitens der Konsumenten und eine anbieterinduzierte Nachfrage, die dafür sorgen, dass es im Markt für Gesundheitsgüter zu anderen Ergebnissen kommt als im Standardmarktmodell. Bei der in Kapitel 5 dargestellten Angebotsseite richten die Autoren ihr Augenmerk auf den Optionsgutcharakter von Gesundheitsgütern, die eben auch bei Nichtkonsumption Nutzen stiften. Für die anschließend folgende Übersicht über das Angebot an Gesundheit in Deutschland, Österreich und der Schweiz beschränken sich die Autoren auf eine deskriptive Darstellung. Losgelöst von der Analyse von Gesundheitsgütern führt Kapitel 6 in den Markt für Krankenversicherungen als einen weiteren für die Gesundheitsökonomik relevanten Markt ein, der insbesondere durch Informationsasymmetrien gekennzeichnet ist. Diese Asymmetrien haben die bekannten Effekte des Screenings und Signallings zur Folge. Mit den folgenden Kapiteln 7 bis 10 stellt sich nun die Frage nach der Antwort der Praxis auf die Probleme von Gesundheits- und Krankenversicherungsmärkten. Dabei versäumen es die Autoren nicht, eine Typologisierung hinsichtlich des Grades der marktwirtschaftlichen bzw. staatlichen Organisation dieser Märkte vorzunehmen. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die in verschiedenen Ländern etablierten Systeme. Ein besonderer Fokus wird in Kapitel 8 auf das Managed Care-Konzept gelegt, welches die häufig anzutreffende Trennung von Leistungsfinanzierung und -erstellung im Gesundheitswesen durch eine wechselseitige Integration miteinander verbindet. Die praktische Umsetzung dieses Konzepts erläutern die Autoren an zahlreichen Beispielen. Mit der Diskussion um die Etablierung von mehr Wettbewerb im deutschen Krankenversicherungssystem wird schließlich in Kapitel 9 eine zentrale Frage für die Wirtschaftspolitik aufgegriffen. Immerhin kursieren zahlreiche Ansätze regelmäßig in den Medien, so dass eine Diskussion schlicht nicht ausgespart werden kann. Ich möchte an dieser Stelle lediglich auf den Vorschlag einer Einführung der Kopfpauschale verweisen. Zwar bieten die Autoren für den wirtschaftspolitischen Part keine Allheilmittel zur Lösung der Allokations- und Effizienzprobleme. Der Leser wird aber für die Zielkonflikte sensibilisiert, die wirtschaftspolitische Maßnahmen mit sich führen, da offensichtlich ein ständiger Spagat zwischen Solidarität und Effizienz besteht. Kapitel 10 behandelt abschließend die ökonomische Evaluation von Gesundheitsgütern. Dadurch werden wiederum ethische Konflikte ersichtlich, da die Etablierung von Maßnahmen im Gesundheitsmarkt - und sei es auch die Bereitstellung von speziellen Gesundheitsgütern - immer ein Abwägen von Nutzen und Kosten erfordert. Allerdings steht mehr die Methode der Ermittlung von Kosten und Nutzen im Vordergrund. Das abschließende Kapitel wirft noch einige Fragen auf, die deutlich machen, dass Gesundheit ein Faktor ist, der an Wichtigkeit wohl noch zunehmen wird. Vor diesem Hintergrund stellen sich auch Fragen in Bezug auf eine zunehmende Zusammenarbeit in Europa und im Hinblick auf Globalisierung im Gesundheitsmarkt. Mit all den im Lehrbuch aufgeworfenen Fragestellungen, Analysen und den methodischen Werkzeugen dürfte es für NichtÖkonomen im Gesundheitsbereich wohl deutlich einfacher sein, in den Alltag ökonomische Betrachtungen einfließen zu lassen oder zumindest diese einfacher nachzuvollziehen. Dies muss freilich nicht als „Ökonomisierung aller Lebensbereiche" gesehen werden. Die ökonomische Betrachtung weitet die Sichtweise und hilft, Ursachen und Probleme mit der ihr eigenen analytischen Weise herauszustellen und Lösungskonzepte zu entwerfen. Es ist also so, wie die Autoren schließen, dass die „Gesundheit [...] in Zukunft noch stärker ökonomisch zu betrachten sein" wird (S. 188). Mit ihrem Lehrbuch leisten die Autoren dafür einen wertvollen Beitrag. Johannes Suttner

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Andreas J. W. Goldschmidt und Josef Hilbert, Krankenhausmanagement mit Zukunfi: Orientierungswissen und Anregungen von Experten, Verlag Thieme, Stuttgart 2011,309 Seiten. Im Wachstumsmarkt Gesundheit, dessen Bedeutung aufgrund des demographischen und des (medizin-)technischen Wandels weiter steigen wird, spielen Krankenhäuser für die Versorgung der Patienten eine besondere Rolle, werden als Jobmotor wichtiger und verbrauchen im Gegenzug weitere Ressourcen des Gesundheitssystems. Um dies effektiv und effizient zu tun, bedarf es einer markt- und unternehmensinternen Zukunftsorientierung der Krankenhäuser. Der vorliegende Sammelband will nach Angaben der Herausgeber durch 29 „Werkstattberichte" Orientierungshilfen geben und vor Zukunftsnaivität und Gestaltungsirrwegen schützen. Das Buch ist in vier Teile aufgeteilt. Unter der Überschrift „Die Krankenhauslandschaft im Umbau: generelle Entwicklungstrends und Herausforderungen" werden im ersten Teil das Krankenhausmanagement der Zukunft, Herausforderungen an Krankenhäuser, die Rolle des Krankenhauses als Systemdienstleister, das Immobilienmanagement, Prozessoptimierungen und das strategische Management von Krankenhäusern (Ermittlung von Potentialen für neue Erlösquellen und Geschäftsfelder) sowie die Vernetzung von Klinik und Patient (Haushalt) dargestellt. Die Zusammenarbeit und der Zusammenschluss von Krankenhäusern stellt den Schwerpunkt des zweiten und längsten Teils des Sammelwerks „Das Krankenhaus: vom Einzelkämpfer zum Verbund" dar. Die Themen der Beiträge beziehen sich auf Mergers und Acquisitions (M&A) im Krankenhaus, die Notwendigkeit und Möglichkeit der Kooperation von Krankenhäusern, die Potentialanalyse bei geplanten Fusionen, die Beziehungsebene des Managements bei der Kooperation, die Rolle der Unternehmenskultur, die Rolle des Pflegedienstes, organisationspsychologische und juristische Aspekte bei Veränderungen im Krankenhaus sowie Erfolgsfaktoren (dargestellt an einem Fallbeispiel) der Zusammenarbeit. Im dritten Abschnitt „Change-Management: Steuerung und Führung für die Erneuerung" wird die veränderte Rolle des Arztes, der Beitrag von Ärzten zum Krankenhausmanagement und der Sinn des Arztes als Krankenhausmanager diskutiert. Weiterhin wird dargestellt, welche Informationen ein Klinikmanager benötigt, wie interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert wird und eine verstärkte „Kundenorientierung" zu realisieren ist. Der vierte Teil „Spezialfragen des Managements" thematisiert die Kommunikation des Krankenhauses, das Beschaffungsmanagement, die Beziehung von Krankenhausmanagement und GKV, die Rolle des Managements im Medikationsprozess, Risiken und Absicherungsoptionen des Krankenhausmanagers, die ambulante Operation sowie die Personalgewinnung und -bindung im Krankenhaus Das Sammelwerk zeigt Praktikern und Wissenschaftlern Problem- und Fragestellungen des Krankenhausmanagements der Zukunft auf, die es vertieft zu lösen bzw. zu beantworten gilt. Klaus Vollert

Christoph Vauth, Gesundheitsökonomische Sekundärforschung - Das Beispiel der Bewertung stark wirksamer Analgetika in der chronischen Schmerztherapie, Verlag Nomos, Baden-Baden 2010, 348 Seiten. Die Marktforschung kennt die Sekundärforschung längst als Erhebungsmethode, deren Vorteile u. a. in niedrigeren Kosten (im Vergleich zur Primärforschung) und einem geringeren Zeitaufwand liegen. Dass diese Vorteile im Gesundheitswesen zu nutzen sind, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die Dissertation von Christoph Vauth analysiert die durch den Gesetzgeber geschaffenen Möglichkeiten der Sekundärforschung in der Gesundheitsökonomie zur Verbesserung der Versorgungslage und der Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesund-

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heitssystem vor dem Hintergrund eines information overloads der Entscheidungsträger und des vorhandenen Mangels an systematischen Informationssynthesen. Unter Sekundärforschung wird die Aufbereitung, Bereitstellung und Synthese von bereits vorhandenen Informationen im gesundheitswissenschaftlichen Umfeld gesehen. Dabei wird die empirische, qualitative und entscheidungsanalytische Sekundärforschung berücksichtigt. Es werden dazu die Möglichkeiten der empirischen Sekundäranalyse von GKV-Daten dargestellt und kritisch gewürdigt. Weiterhin wird mit dem Health-Technology-Assessement eine qualitativ-methodische Evidenzsynthese dargestellt. Es handelt sich dabei um eine interdisziplinäre Methodik zur systematischen und transparenten Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien unter medizinischen, ökonomischen, juristischen und ethischen Aspekten zur Beurteilung deren Effektivität und Effizienz. Sie dienen der Vorbereitung von Erstattungs- und Investitionsentscheidungen bei Krankenversicherungen bzw. Leistungsanbietern. Dabei auftretende Probleme der Übertragbarkeit von Daten aus anderen Gesundheitssystemen auf Deutschland werden mit Hilfe der Modellierung in Kombination mit einer ausreichenden internen und externen Validierung gelöst, um Unterschiede zu nivellieren. Die Aussagen werden am Beispiel der Bewertung von Opioiden in der chronischen Schmerzversorgung belegt. Die unterschiedlichen Formen der Sekundärforschung in einem strukurierten Setting können zur Beurteilung weiterer Forschungsaktivitäten, der Erstattung von Leistungen und der Messung der Wirkung gesundheitspolitischer Entscheidungen dienen. Die Arbeit zeigt dem Entscheidungsträger die Möglichkeiten und Grenzen der Sekundärforschung. Durch zahlreiche Zusammenfassungen, die das Verständnis steigern, kann das Buch auch Studierenden empfohlen werden. Klaus Vollert

Peter Rosner, Die Entwicklung ökonomischen Denkens. Ein Lernprozess, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2012,462 Seiten. Die volkswirtschaftliche Dogmengeschichte erfreut sich einer beachtlichen Zahl hervorragender Überblicksdarstellungen älteren und neueren Datums als Werke einzelner Autoren (,Schumpeter 1965), Stavenhagen (4. Aufl., 1969), Brandt (1992/93), Pribram (1992), Söllner (2. Aufl., 2001) oder als Sammeldarstellungen Issing (Hg., 4. Aufl., 2002), Kurz (Hg., 2008), Starbatty (Hg., neueste Aufl., 2012). In sehr seltenen Fällen entstanden solche Werke in „interdisziplinärer" Zusammenarbeit von Volkswirten mit Wirtschafitshistorikern (z.B. Ott und Winkel (1985). Dazu kommen die zahlreichen, wertvollen und teilweise ebenfalls als Überblickswerke konzipierten Darstellungen des dogmenhistorischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik, insbesondere die in der Reihe „Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie" erschienenen Arbeiten. Es fehlt also gewiss nicht an profunden und breit rezipierten Lehrwerken zur Dogmengeschichte. Mit diesen muss sich die vorliegende Studie des Wiener Volkswirts Peter Rosner messen lassen. Wie die meisten der erwähnten Darstellungen spannt das Buch einen Bogen von den staatsphilosophischen Ideen griechischer Provenienz (Aristoteles, Xenophon etc.) bis hin zu den wohlfahrtstheoretischen Überlegungen von John R. Hicks und Paul A. Samuelson und über die mikroökonomische Theorie hinaus bis zur Makroökonomie in Gestalt etwa der Geld- und Fiskalpolitik eines John Maynard Keynes. Im Grunde endet die eingehende Betrachtung des vorliegenden Buches in den späten 1940er Jahren und liegt damit auf einer zeitlichen Ebene mit Schumpeters Werk „Geschichte der ökonomischen Analyse" (1951; History of Economic Analysis, 1954). Zwar erklärt Rosner im Vorwort (S. 8), „verlorengegangene Aspekte" früherer Theorien wieder stärker betonen zu wollen und begründet damit u.a. die Motivation zu seinem Buch. Jedoch realisiert er diese Absicht meines Erachtens zu wenig. So hätte es sich z.B. angeboten, die Ansätze aus dem Schumpeterschen Werk (Innovationen, exogene und endogene

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Wachstumstheorie), wie sie von Solow, Romer, Grossmann und anderen weiterentwickelt wurden, wenigstens zu erwähnen. Oder hätte es sich nicht geboten, „wiederentdeckte" Theorien Schumpeters, wie sie zur Erklärung wirtschaftlichen Wandels etwa durch Nelson und Winter (1982) oder zur Neo-Schumpeterianischen Theorie (ein Überblick bei Witt 2009) weitergedacht wurden, exemplarisch aufzunehmen und an den gegenwärtigen Stand der Forschung heranzuführen, wie dies z.B. Fritz Söllner in nachahmenswerter Weise getan hat? Rosner konnte sich nicht dafür entscheiden und begründet das eher abrupte Ende seiner Betrachtung recht lapidar: „Die Entwicklung nach Keynes wird hier jedenfalls nicht mehr behandelt. Irgendwann muss dieses Kapitel - und damit das Buch - enden." (S. 438) Es mag andererseits noch Studierende geben, die es vorziehen, sich einen anspruchsvollen Stoff in einer gewissen narrativen Breite vermitteln zu lassen und die Geduld genug aufbringen, auch den letzten argumentativen Verästelungen und zeitgenössischen Kontextualisierungen zu folgen. Diese Zielgruppe wird durch Peter Rosner reich bedient. Jedenfalls wird das im Untertitel gegebene Versprechen, die Dogmengeschichte als „Lernprozess" darlegen zu wollen, voll und ganz eingelöst. Folgerichtig schließt er in bewährter propädeutischer Manier die wichtigsten Kapitel mit resümierenden und kritischen „Würdigungen" ab. Andererseits vermisst man zuweilen die kritischen Sichtweisen anderer Fachwissenschaftler auf die dogmenhistorischen Forschungsgegenstände sowie kontroverse Debatten, wie sie etwa im erwähnten Verein für Socialpolitik in mehreren Ausschüssen permanent geführt wurden. Insgesamt handelt es sich um eine gut verständliche, „erzählende" Dogmengeschichte, in der sich die Theorien der einflussreichsten Ökonomen und Hauptströmungen bis ca. 1950 wenig formal dargestellt finden. Wer hingegen eine kompakte Studie mit zahlreichen Modellen, viel ökonometrisch-mathematischer Abstraktion und einer Vielfalt graphischer Auflockerung sucht, die bis an die unmittelbare Gegenwart heranführt, sollte an andere Autoren verwiesen werden. Rolf Walter

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Personenregister Akerlof, George A. 143 Albert, Hans 211,387,389 Albrecht, Detlev Michael 456 Alós-Ferrer, Carlos 463 Althammer, Jörg 162 Andersen, Arthur Arango, Rodolfo 330 Arendt, Hannah 299 Arnold, Volker 281,284 Aßländer, Michael S. 267, 270, 276ff, 285, 491 Backhaus-Maul, Holger 296 Bagus, Philipp 30,38 Balcerowicz, Leszek 35, 37f Baldwin, Richard E. 459 Bandilla, Rüdiger 65 Barbieri, Pierpaolo 28 Baretti, Christian 417 Barley, Stephen R. 286 Barro, Robert 31 Barroso, José M. 86 Barth, Michael 455ff Bartram, Jamie 339, 342f, 351 Baumann, Dorothée 207, 220 Baumann, Martina 558 Baumann, Michael 479 Baumol, William 325, 535ff Bayertz, Kurt 224 Bebchuk, Lucian 484 Becht, Marco 311 Beck, Hanno 457ff Becker, Gary S. 341 Becker, Karolin 366 Becker, Maren 205 Beckmann, Markus 213ff, 234, 271,470 Bentham, Jeremy 435f, 440, 446,465 Berlin, Isaiah 138,471 Bibow, Jörg 468 Bieber, Hans-Joachim 1966 Birner, Jack 469 Biais, André 180

Blatter, Joaquim 344,350 Block, Walter 25,32 Blome-Drees, Franz 214 Boatright, John R. 224 Böcken, Jan 365 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 329, 481 Böhm, Franz 136ff, 160, 270, 297,432f, 436 Böhm-Bawerk, Eugen 13 Bonardi, Jean-Phillipe 286 Booth, Philip 35 Bordo, Michael D. 458 Bork, Robert H. 442f Borowski, Martin 329 Bosch, Nikolaus 499 Bossert, Albrecht 513ff Bouillon, Hardy 274,277 Brandt, Reinhard 441 Brandts, Jordi 200 Braun, Michael 377 Braun, Sebastian 296 Bretschneider, Wolfgang 325ff, 339 Breyer, Friedrich 455, 473 Brink, Alexander 488f Brinkhaus, Michael 561 Brinkmann, Henrik 377 Brock, William A. 12 Brohm, Winfried 332 Brown, Gordon 36 Brümmerhoff, Dieter 330 Brunner, Georg 332 Brunner, Otto 263f Bruttel, Lisa 463 Brychuk, Iryna 206,223 Buchholz, Wolfgang 488 Bücker, Thorsten 473 Bühl, Walter L. 210 Burckhardt, Jakob 425 Bürgin, Alfred 264 Burke, Edmund 435, 465 Burkhart, Ross E. Busch, Berthold 65 Cabrillo, Francisco 27, 31 Cant, Uwe 462 Caplan, Bryan 398

572 Carroll, Archie B. 276 Carter, John 180 Caspari, Volker 152 Chamberlin, John 200 Chaudhuri, Ananish 196 Chwaszcza, Christine 218 Cipriani, Giam Pietro 180, 183, 190 Clausen, Jens 223 Coase, Ronald 309 Coleman, James S. 208 Collier, Paul 396f Constantinidis, George M. 100 Cornils, Matthias 330 Crane, Andrew 207,220,271,277 Croson, Rachel T.A. 196 Czarnitzki, Dirk 462 Czempiel, Ernst Otto 205 Da-Cruz, Patrick 530, 559f Dahrendorf, Ralf 314,470 D'Andrea Tyson, Laura 470 Dathe, Uwe 137 deGeus, Arie 310 de Meo, Franceso 455 de Montoya, Lindh 469 de Soto, Jesús Huerta 21 ff, 45ff de Soysa, Indra Delors, Jacques 63 Dethlefs, Carsten 135 Dewenter, Ralf 461 ff Di Fabio, Udo 211 Dietl, Helmut 487 Dikötter, Frank 397 Dinar, Ariel 344 Dluhosch, Barbara 12f Doerig, Hans-Ulrich 484f Doering, Detmar 464ff Dönges, Juergen B. 11 Draghi, Mario 28 Drevs, Florian 365ff Dubreuil, Celine 342 Duijm, Bernhard 559 Duschl, Tobias 487 Düwell, Marcus 273

Personenregister

Earle, Anton 344 Eberlein-Gonska, Maria 456 Edgeworth, Francis Y. 471 Edwards, Franklin 100 Ehlers, Sevnja 456 Eichengreen, Barry 33, 88 Eifert, Martin 330 Eigenstetter, Monika 221 Einaudi, Luigi 4 Ekkernkamp, Axel 456 Emunds, Bernhard 273, 280 Engbruch, Katharina 326 Engel, Gerhard 399 Engelhard, Peter 467ff Engels, Wolfram 297 Enzensberger, Magnus 416 Erhard, Ludwig 4, 136 Erlei, Mathias 141ff, 339 Ernste, Dominik H. 262,275, 293ff Estefanía, Joaquín 30 Etzioni, Amitai 220 Eucken, Rudolf 139 Eucken, Walter 136ff, 160f, 165, 172, 264, 296,432 Faber, Malte 262, 266, 283 Falk, Armin 314 Fälsch, Marcel 344 Feld, Lars P. 403ff Felder, Stefan 375 Feldstein, Martin 31 Feng, Xingyuan 109 Ferrand, Martin M. 30 Ferscha, Rudolf 103 Fetchenhauer, Detlef 298, 314f Fetzer, Joachim 221, 297 Föste, Wilga 482 Foucault, Michel 141,432,437f Frank, Björn 180f, 190 Frank, Robert H. 174f, 180 Frank, Thomas 329 Fransmann, Martin 171 Franzius, Claudio 330 Frei, Kilian 475ff French, Peter A. 208f, 226, 297 Frenz, Walter 64

Personenregister

Frey Marti, Claudia Frey, Bruno S.

573

Habermas, Jürgen

141

141, 145, 180, 182ff, 479

Habisch, André

141,436f 206,223

Freytag, Andreas 9ff

Hagist, Christian

373

Fried, Jesse

Hajen, Leonhard

473

484

Friedman, Milton

Hartig, Sandra

174,298

Frondel, Manuel

165

Hartmann, Martin 219

386,396

Fulda, Friedrich 440

Hartmann, Nicolai

Furubotn, Eirik G.

Hartwell, Ronald M. 24

141,339

281

Haselbach, Dieter Gabriel, Sigmar Gallo, Andres

Hasse, Rolf

282

Hatje, Armin

28

64f

Gawel, Erik 325ff

Hau, Harald

Gehlen, Arnold

Haucap, Justus

302

141

12, 15 99 180, 183ff, 190,462

Gelernter, David

395

Hauptmeier, Sebastian

Giersch, Herbert

16,165

Heck, Volker

66

463

Göbel, Elisabeth 270, 285, 523ff

Hegel, Georg F . W . 431, 439, 446

Goklany, Indur M. 393

Heidbrink, Ludger 203ff, 233ff, 268 Heimeshoff, Ulrich 462

Goldberg, Victor P. 340, 344 Goldschmidt, Andreas J. W. Goldschmidt, Nils

567

139ff, 162, 265

Heine, Günter

204

Heinig, Hans M. 331

Goldstone, Jack A. 520ff

Heinsohn, Gunnar

Golsbee, Austan 31

Heller, Axel R. 456

79

Goodpaster, Kenneth 205, 209

Helmdag, Fritz

Googins, Bradley K. 222

Hengartner, Lukas 485

Gorman, Raymond

Hennecke, Hans Jörg 3ff, 151

Götz, Andreas

181

467,469,472

Henseler-Unger, Iris 463

560

Herrmann, Christoph

64

Göx, Robert F. 484f

Heuermann, Roland

342

Gramm, Phil

Heuß, Ernst

Gowlland-Gualtieri, Alix

332

39

159,471

Gregg, Samuel 540ff

Hielscher, Stefan 216f, 309, 312,470,490f

Greiling, Michael

Hilbert, Josef 567

561

Grimm, Veronika 463

Hilzenbecher, Manfred 473ff

Groenewegen, Peter P. 366

Hishow, Ognian N. 67

Grömling, Michael

Hobbes, Thomas

65

Grosse, Diane 489

142,440,446

Hoccleve, Thomas 471

Großinsky, Sabine 543ff Großmann-Doerth, Hans

Höffe, Otfried 298,301 136

Höftler, Felix 463

Gsell, Silvio 468f

Hoffmann, Bruce

Gujer, Willi

343

Hoffmann-Riem, Wolfgang

Guo, Sujian

109

Hofstätter, Peter R. 388

Güth, Werner

179,462

Gutowski, Alexander Haakonssen, Knud

159

439f

393

Hofstetten Karl 484 Hokamp, Sascha

196ff

Hollande, Francois

30

Holländer, Robert

343

Haberler, Gottfried 10

Hollweg, Leander L. 469f

Habermann, Gerd

Holmer, Martin R. 366

147

211,330

574

Personenregister

Homann, Karl 141, 163, 214, 220, 281, 298, 301,390, 477, 488,491 Hoppmann, Erich 166,470 Horcher, Georg 342 Horn, Gustav 467,470 Horn, Karen 563 Horvath, Michael 475ff Hostettler, Stephan 485 Howard, Guy 339, 342f,351 Hume, David 294, 299, 437ff, 465 Hüther, Michael 262, 275, 293ff Ingram, Helen 344, 350 Irons, Michael 180 Isensee, Josef 331 Issing, Otmar 37,71 Jaeger, Klaus 462 Jakalow-Standke, Angelika 456 James, Harold 309f James, Sallie 397 Jansen, Stephan A. 310 Janssen, Hauke 137 Jarchow, Hans-Joachim 12 Jaspers, Karl 298,302 Jensen, Michael C. 278, 311 John, Stefanie 205 Just, Tobias 180,183 ff, 190 Kahnemann, Daniel 182f, 366, 3 88 Kaiser, Ulrich 463 Kampkötter, Patrick 487 Kant, Immanuel 138ff, 433, 437ff, 476 Kasper, Wolfgang 159 Kehr, James B. 181 Kelly, Roche L. 39 Kerber, Markus C. 62, 63ff, 165, 563f Kerssens, Jan J. 366 Kersting, Wolfgang 162, 218,440f Keynes, John M. 51, 464ff, 489 Kifmann, Mathias 455 Kim, BumJ. 371 Kindleberger, Charles P. 12 Kirchgässner, Gebhard 141, 145, 161, 180f Kirstein, Roland 483ff Kirzner, Israel M. 469, 471

Kitzmueller, Markus 297f, 304, 310 Klakow-Francks, Regina 455 Kleinhenz, Gerhard D. 162 Kluge, Thomas 333, 343, 354 Klump, Rainer 149 Klüsen, Norbert 545ff, 564 Knauff, Matthias 330 Knelsen, Inna 298,300 Knoepffler, Nikolaus 488ff Knoll, Bodo 491 ff Kobylinski, Alexander 551 Kohlberg, Lawrence 301 Köhler-Emmert, Claudia 277, 279 Konrad, Kai A. 49 lf Koppel, Oliver 298 Korenjak, Thomas 221 Kraft, Kornelius 462 Kranton, Rachel E. 143 Kridel, Donald J. 366 Krippner, Stanley 212 Kromphardt, Jürgen 467, 469, 472 Krueger, Anne O. 12 Krüger, Malte 12f Krugman, Paul 31,36,470 Kuhlen, Ralf 455 Kuhn, Fritz 389 Kuhn, Nicole 494ff Kuklys, Wiebke 163 Kunreuther, Howard G. 366 Küpers, Wendelin 210 Kutschker, Michael 531 ff Kyora, Stefan 218, 224, 226 Lachmann, Ludwig 471 Lakatos, Imre 386 Lambrecht, Anja 366 Lampe, Adolf 143 Lampert, Heinz 513ff Lang, Markus 487 Lange, Klaus 331 Langford, Malcolm 332 Laperriere, Andy 33 Laskowski, Silke R. 326, 333, 35lff Laszlo, Alexander 212 Laux, Bernhard 299 Ledyard, John O. 196

Personenregister

Leible, Stefan 499 Leipold, Helmut 282, 496ff Lenel, Hans Otto 137,159 Lenger, Alexander 143 Lenk, Hans 209 Leschke, Martin 141ff, 535ff Lewis, Hai 389 Lindner, Fabian 468 Lin-Hi, Nick 214 Liu, Lili 417 Ljungwall, Christer 109ff Locher, Lieselotte 462 Loew, Thomas 223 Loewenstein, George 366 Logeay, Camille 469 Lomborg, Björn 395 Louis, Jean-Victor 64 Lübbe, Weyma 210 Lübbe-Wolff, Gertrude 329,331 Lücke, Jörg 330 Lüdecke, Horst-Joachim 385, 392, 395 Luhmann, Niklas 210f, 239, 432f Lukas, Karen 207 Lüning, Sebastian 385, 387, 392f Luskin, Donald L. 39 Lütge, Christoph 141, 479 Machlup, Fritz 24 Maclntyre, Alasdair 478 Madhavan, Ananth 100 Magee, Stephen P. 12 Maier-Rigaud, Frank P. 471 Maier-Rigaud, Remi 471 Mann, Michael 394 Marcoux, Alexei 270, 274 Maring, Matthias 209,211 Markert, Kurt 355 Marquis, Susan M. 366 Martin, Hans-Peter 458 Marx, Karl 270,436, 446, 504ff Matheson, Thornton 88, 97 Matten, Dirk 207,220,277 Matthes, Jürgen 65 Matys, Thomas 204 Maurach, Reinhart 204 Mayntz, Renate 205

575

McCaffrey, Stephen C. 344 McCloskey, Deirdre N. 478 McKitrick, Ross 387, 391, 396f Meckling, William H. 311 Meier, Alfred 161 Meier, Carsten P. 13 Mendez, Susan J. 463 Meran, Georg 352 Merkel, Angela 65 Merklein, Renate 159 Mersch, Yves 65 Merton, Robert K. 391 Mestmäcker, Ernst-Joachim 64, 429ff Mettke, Thomas 499ff Mettler, Daniel 161 Meusch, Andreas 545ff Meyer, Fritz 4, 12, 46,49, 52 Meyer, Lukas H. 490 Meyer, Wilhelm 504ff Michaels, Patrick J. 386, 389, 396 Michels, Philip 485f Michler, Albrecht F. 85 Miksch, Leonhard 136,146 Mill, John Stuart 436 Miller, Peter 472 Minder, Thomas 485 Mirvis, Philip H. 222 Molsberger, Josef 48 Moon, Jeremy 207 Morner, Michèle 222 Morrison, John 223 Möschel, Wernhard 462, 564 Moser, Reinhold 468 Muermann, Alexander 377 Müller, Jörg P. 331 Müller-Armack, Alfred 4, 136ff, 161, 167, 481f Münch, Richard 211 Mundeil, Robert A. 32 Müntefering, Franz 262 Murphy, Frank G. 456 Nash, John 197 Nawroth, Egon Edgar 141 Neck, Reinhard 489f Nelson, Robert H. 392, 398,477

576

Personenregister

Neubecker, Leslie 462 Neuhäuser, Christian 208, 221 Neumärker, Bernhard K. J. 489 Neus, Werner 462 Newholm, Terry 219 Nguyen, Tristan 365ff Nida-Rümelin, Julian 273,475ff Nieberding, Anne 266, 269, 275, 285 Niskanen, William 10 Noll, Bernd 206, 261 ff, 302 Novak, Richard 331 Nunes, Joseph C. 366 Nutzinger, Hans G. 143, 279, 491 Obama, Barack 36 Oberender, Peter O. 162, 165, 517ff, 530f O'Caithnia, Brian 35 Ockenfels, Axel 190,219 O'Driscoll, Gerald P. 469 Oelmann, Mark 355 Ohr, Renate 64 Okruch, Stefan 162, 165 Olson, Mancur 144f, 195fr, 285, 395 Oppenheimer, Julius R. 136 Oppenländer, Karl Heinrich 462 Ortmann, Günther 210,226 Osterkamp, Rigmar 513 ff Osterloh, Margit 483 Palazzo, Guido 207, 220, 224 Palz, Doris 206 Paque, Karl-Heinz 165 Pareto, Vilfredo 195ff Pashigian, Peter 366 Patzer, Moritz 263,277 Pauly, Mark 367 Penatzer, Markus 85 Petersen, Jens 439 Petersen, Thomas 262, 266, 283 Petersen, Tim 405 Peukert, Helge 468f, 517ff Picek, Oliver 89 Pickhardt, Michael 195ff Pierenkemper, Toni 265, 267 Pies, Ingo 162, 212ff, 233ff, 263, 274, 281, 309, 312, 470,490f, 520ff, 535ff

Pilon, Roger 397 Pitofsky, Robert 442 Pogge, Thomas 490 Pohl, Matthias 418 Pommerehne, Werner W. 181 Popper, Karl R. 386, 388f, 391 Prelec, Drazen 366 Prinz, Enrico 487 Pütz, Claudia 373 Raith, Dirk 221 Ramm, Thilo 329 Ramser, Hans Jürgen 461 Raub, Werner 219 Rawls, John 236, 283,438,440 Recarte, Alberto 31 Reich, Robert 220 Reinhardt, Michael 352, 355 Reiss, Christoph 526ff Reiter, Andrea H. H. 456 Remien, Oliver 64 Reynolds, Scott J. 220 Richter, Rudolf 141,339 Riedel, Eibe H. 326 Rietzler, Katja 468 Rink, Oda 455 Rizzo, Mario J. 469 Roaf, Virginia 354 Robbins, Lionel 471 Rochus Wallau 499 Rodden, Jonathan A. 417 Rodrik, Dani 457ff Rohde, Friederike 223 Roller, Lars-Hendrick 462 Rande, Thomas 463 Röpke, Wilhelm 3ff, 46f, 136ff, 163, 275, 301, 315, 403ff, 470,481f, 540ff Rose, Nikolas 472 Rosemann, Nils 344 Rosenau, James N. 205 Roser, Dominic G. 490 Rosner, Peter Rost, Katja 483 Rothen, Peter 326 Rothschild, Michael 367, 37 lf Rousseau, Jean-Jacques 465

Personenregister

577

Rudolf, Beate 326, 343, 350

Schulz, Luis Manuel

Rueff, Jacques

Schulz, Norbert

4

Rühmann, Peter

462

462

Schulze, Günther G.

12

180f, 190

Ruigrok, Winfried 485

Schumann, Harald 458

Rummel, Rudolph J.

Schumpeter, Joseph A. 207, 270, 272, 390,

Ruske, René

397

471,489

179ff

Rüstow, Alexander Rüter, Georg

138ff, 470f

523ff, 530

Schuppert, Gunnar F 205, 223, 296, 330 Schwalbach, Joachim Schwalbe, Ulrich

Samuelson, William

Schwartz, Pedro 31

366

Sanchez-Fuentes, Jesus A. Sauerland, Dirk Scanion, John

66

141 ff, 365

Schwegel, Philipp

530

Schweikard, David P. 209 Schweitzer, Heike 64, 435

333

Scheele, Ulrich 333, 343, 354

Schwert, G. William

Schefold, Bertram

152

Scriba, Peter C.

Schellhorn, Martin

374

Seebaß, Gottfried

209

Seguin, Paul J.

99

Scheu, Christoph 456

Seigin, George

79

Schiller, Karl

Seliger, Bernhard

147,470

Schirm, Stefan A.

205,207

496

Selten, Reinhard Sen, Amartya

166

Schlesinger, Harris

190

163,430,440,475,477

Sennet, Richard

371 209

Schmid, Hans Bernhard

Sepp, Jüri

268,285,471

496

Schmid, Stefan 531 ff

Shaw, Deirdre

Schmidpeter, René 206

Shimshack, Jay

Schmidt, André

Shleifer, Andrei

526ff

99

455

Scherer, Andreas 207, 220, 263, 277

Schlecht, Otto

487

462

219 297f, 304, 310 311

Schmiedeknecht, Maud H. 206

Siemon, Cord 531 ff, 535ff

Schmieding, Holger

165

Sierck, Gabriela M.

Schmölders, Günter

219

Sievert, Olaf 41 l f

Schmöller, Michael

494ff

Sigel, Katja

Schnaas, Dieter Schnee, Melanie

Singer, Fred

377

Schneider, Dieter

350

Simon, Hermann

270

418

548

385,393

Sinn, Hans-Werner

269

395,398

Schneider, Friedrich 530ff, 565

Skidelsky, Robert 31

Schneider, Hans-Peter

330

Skiera, Bernd

Schoemaker, Paul J.H.

366

Sloterdijk, Peter

366 299

Schräder, Ulf

Uli

Smeets, Heinz-Dieter

Schräm, Arthur

200

Smith, Adam 266ff, 355, 437ff, 446, 465f,

Schramm, Carl J.

469

394

Schratzenstaller, Margit Schuknecht, Ludger

89

66

Schulenburg, J. Matthias Schuler, Ekkehard

367

456

Schüller, Alfred 45ff, 166, 264, 266, 269, 278 Schulmeister, Stephan

47

Smith, A m y K .

373

Soltwedel, Rüdiger Sommer, Michael Sorman, Guy

274 282

34

Spencer, Roy W. 385, 387, 389, 392f, 395 Spethmann, Dieter 66

89

Spieker, Manfred 540ff

578

Personenregister

Stadler, Manfred 46 lf Stahl, Konrad 462 Starbatty, Joachim 159 Steiger, Otto 66 Steiner, Josephine 64 Stern, Klaus 331 Stigler, George 443 Stigler, George J. 180 Stiglitz, Joseph E. 31, 36, 97, 367, 371f, 458 Stoehr, Harald P. 484f Storch, Hans von 389 Strausz, Roland 463 Streeck, Wolfgang 165 Streit, Manfred E. 159 Stützel, Wolfgang 297 Stutzer, Alois 479 Suchanek, Andreas 141, 213, 241ff, 283 Summers, Lawrence H. 99 Summers, Victoria P. 99 Suttner, Johannes 179ff, 566 Swan, Peter L. 97 Taylor, Alan M. 458 Taylor, John 39 Teubner, Gunther 218 Tewari, Ishani 99 Theiler, Walter 557 Thiel, Ernst 545ff Tietmeyer, Hans 63 Tobin, James 88 Tomandl, Theodor 332 Tomenendal, Matthias 342 Töpfer, Horst 389 Train, Kenneth 366 Trevino, Linda K. 220 Tuchtfeldt, Egon 166,471 Tullock, Gordon 12, 144 Turgeon, Evan 397 Tversky, Arnos 366 Udehn, Lars 207 Ullrich, Carsten G. 366, 377 Ulrich, Fernando 36 Ulrich, Peter 141, 277ff

Ungericht, Bernhard 221 Vahrenholt, Fritz 385, 387, 392f van der Beek, Gregor 565 van der Beek, Kornelia 565 van Oosterhout, Hans 225 van Treeck, Till 467,470 van Zijp, Rudy 469 Vanberg, Viktor 160, 163, 213, 223, 276, 461,562 Vaubel, Roland 162 Vauth, Christoph 567 Vehlen, Thorstein 468f Vidal-Folch, Xavier 27 Vishny, Robert W. 311 Vogel, David 223 Vollert, Klaus 543ff, 545ff, 548ff, 567f von Dietze, Constantin 143 von Hagen, Jürgen 417 von Hayek, Friedrich August 23ff, 48, 53, 136,145, 150, 162,207, 210, 267,270, 276, 282, 390, 396, 411, 432, 439, 477, 562f von Klinckowstroem, Wendula 137 von Mises, Ludwig 23ff, 61, 396,466 von Nell-Breuning, Oswald 136ff von Rauchhaupt, Ulf 394 von Weizsäcker, Carl-Christian 425, 462 von Weizsäcker, Ernst U. 171 Wagenknecht, Sahra 504ff Waibl, Elmar 264f, 271 Walter, Caroline 551 Walter, Rolf 569 Warner, Jeroen 344 Watrin, Christian 145,160 Weaver, Gary R. 220 Webb, Steven B. 417 Weber, Max 10,264ff Weede, Erich 129, 385ff Wegner, Gerhard 162 Weidner, Helmut 205,207 Welzel, Peter 462 Werblow, Andreas 374f Werhane, Patricia 208,212,297 Werner, Horst 15

Personenregister Wesel, Uwe 267 Westerholm, Joakim 97 Wettstein, Florian 207 Whyte, Jamie 33 Wieland, Joachim 330 Wieland, Josef 204,206 Willeke, Franz-Ulrich 558 Willgerodt, Hans 3ff, 9ff Williams, Bernhard 430 Williams, Richard 189 Williamson, Jeffrey G. 458 Williamson, Oliver E. 309, 477 Willke, Gerhard 220 Willke, Helmut 205, 21 Of, 220 Winkler, Inga 350 Winter, Sidney G. 477 Winter, Stefan 485f Wischermann, Clemens 266, 269, 275 Witt, Ulrich 159ff, 165, 174 Wohlgemuth, Michael 151, 405 Wolf, Klaus Dieter 205, 226 Wolff, Franziska 221 Wolfson, Simon A. 81 Woods, Lorna 64 Wörsdörfer, Manuel 135ff Wrobel, Ralph 496 Wunderlich, Anne C. 55Iff Wyplosz, Charles 88 Young, Leslie 12 Young, Robert 180 Zacher, Josef 455f Zeckhauser, Richard 366 Zeitoun, Mark 344 Zelmer, Jennifer 196 Zipf, Heinz 204 Zok, Klaus 377 Zöttl, Gregor 463 Zschäpitz, Holger 49 lf Zürn, Michael 205,207 Zweifel, Peter 366,455 Zwiener, Rudolf 468

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Sachregister Adverse Selektion 365ff Aktiengesellschaften 271 Analgetika 567 animal rationale 136 Antieurokoalition 34 Antinomien 431 f Arbeitsteilung, globale 268 Argentinien 27f Bedarfswirtschaft 264 Beschaffungsmanagement 559f Binnenmarkt 434f Bonitätsschwellenwerte 68 Bretton Woods 47f, 458 Bürgerschaftliches Engagement 293 ff Calvinismus 266 Constitutional Choice 163 Corporate Citizens 234, 237 Corporate Citizenship 276ff corporate philanthropy 244 Corporate Social Responsibility 24Iff, 276ff Darwinismus 465 Demokratie 457ff Deregulierung 470 Devisentransaktionssteuer 14 Dienstleistungsunternehmen 559f Eigennutzorientierung 476 Emissionssteuer 396 Entwicklungsländer 459, 468 Entwicklungsprozess, institutioneller 263 Erziehungsziele 316 Euro 2Iff, 45ff Eurodirigismus 60 Europäische Integration 6 Europäische Währungsunion 15f, 63ff, 403ff, 468 Europäische Zentralbank 21ff, 63ff, 413ff, 563f

Europäischer Stabilitätspakt 54 Europäisches Währungssystem (EWS) 47f Euroskeptiker 34 Eurostabilisierungsmechanismus Euro-Urteil 73 Evolutionäre Ökonomik 477

563f

Finanzkrise 467ff, 475 Finanzmarktregulierung 517ff Fiskalsozialismus 46 Flat-Rate-Bias 365ff Forschung 386ff Freihandel 458 Freiheit, negative 137f Freiheit, positive 137f GATT 458 Geldsystem 21f Gesundheitsökonomie 473ff, 530f Gesundheitsökonomik 565f Gesundheitsversorgung 455ff, 543ff Gesundheitswesen 494ff, 545ff Gesundheitswirtschaft 561 Gewässerschutz 326 Gewissheit 385ff Globalisierung 267ff, 458, 469 Globalisierungsparadox 457ff Goldstandard 22, 45ff, 458 Griechenland 26f hair cut 40 Handelsbilanz 12 Happiness Research 479 Homo culturalis 135ff Homo oeconomicus 135ff, 476 Homo passionis 139 Homo sapiens 138 Indoktrinationshypothese 180 Industriekapitalismus 265, 269 Industrielle Revolution 265, 397 Initiative Qualitätsmedizin 455ff Innovation 535ff Institutionenethik 273 Institutionenethischer Ansatz 281 ff Instrumentalismus, moralischer 219

582 Interessengruppe 144 Internationaler Währungsfonds 47 Internationales Management 531 ff Interventionismus 21 ff Kapitalgesellschaften 271 Kapitalismus 504ff Kapitalmärkte 63 ff Kapitalmärkte, internationale 458 Kapitalvergehen 34ff Kapitalverkehrskontrollen 14f Kartelle 462 Klimaschutz 385ff Klugheitsheuristik 245 Kognitivismus, diskursiver 219 Kollektivgüter 195 Kooperation 248ff Kooperationsdilemma 477 korporative Akteure 278 Krankenhausmanagement 567 Krankenversicherungen 365ff, 494ff Krönungstheorie 64 Laissez-Faire 464ff Lastenverteilung 558f Lebensmittel 499ff Leistungsbilanz 12ff Lender of Last Resort 79 Liberalisierung 470 Linear Public Good Games 195ff Lobbyismus 236 Maastricht-Urteil 64 Management-Vergütung 483ff Marktmacht 461 ff Markttheorie 535ff Marktversagen 477 Massenproduktion 268 Medien 499ff Menschenbild, ordoliberales 136ff Menschenrechte 326, 435ff Merkantilismus 464 MikroÖkonomie 557f Minimalstaat 471 Mitverantwortung 293ff More Economic Approach 462

Sachregister Multistakeholder-Initiativen 207 Multistakeholder-Netzwerke 211 Neue Institutionenökonomik 477 Neue Politische Ökonomik 161 New Governance 233 No-Bail-out Prinzip 71 Nutzungsinteressen 344 Öffentliche Güter 195ff Oikonomia 264 Oikonomik 264 Oikos 263 Ökologie 398 Ökonomie, humane 475ff Ökonomismus, expansiver 5 Ordnungsethik 5 Ordnungsökonomik 159ff, 233 Ordnungsverantwortung 203ff, 233ff, 246 Ordoliberalismus 13 5 Ordonomik 220,235,470 Pareto-Optimalität 195ff Patente 526ff Patientensicherheit 456 Personengesellschaften 271 Pharmakonzerne 5 51 ff Phillips-Kurven 469 Political Economy 10 Politik 385fr Politische Ökonomie 3ff, 540ff Politische Union 36 Politischer Ökonom 9ff Positivismus 148 Private Governance 239 Privatisierung der Versorgung 354ff Produktmarktwettbewerb 526ff Profit seeking 296ff Public Choice 163 Public Governance 239 Public Private Partnerships (PPP) 206 Punktualismus 149 Puritanismus 266

Sachregister

Qualitative Easing 68 Qualitätsmanagement 455ff, 545ff Qualitätssicherung 455ff Quantitative Easing 33, 69 Race-to-the-Bottom-Diagnose 206 Rätestaat 471 Rational-Choice-Paradigma 219 Rationalität 179ff Rationalitätskonzeption 476 Regulierungsökonomik 463 Relativismus 149 Rentenversicherung 468 Rentseeking 236, 296ff Sarkotrade 78 Satisfaktionsprinzip 479 Schirmtheorie 55 Selbstregulierungsfähigkeit 3 Selbstselektionshypothese 180 shared mental models 143 Sicherheitenverzeichnis 69 Skeptizismus 391 Soziale Marktwirtschaft 159ff, 267, 496ff, 543 Sozialordnung 513ff Spanien 26f Spekulative Blasen 37 Staatsfinanzen 491 Staatsverschuldung 6 Staatswissenschaften 5 Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) 54 Stakeholder-Paradoxon 205 Ständestaat 471 Standortverantwortung 262 Strukturreformen 26f Subsidiaritätsprinzip 268,286 Systemverantwortung 203ff, 233ff Tarifwahlverhalten 365ff Tertiarisierung 267ff Theorie optimaler Währungsräume 32 Triple-Bottom-Line 277 Trittbrettfahrer 179 Tugendethik 273,475

583

Ultimatumspiel 179 Universalismus 391 Unternehmensethik 256, 523ff Unternehmenskultur 309ff Unternehmensverantwortung 207, 241 ff Unternehmertum 269ff Verantwortung, beschäftigungspolitische 261 ff Verantwortungsethik 7 Verantwortungssystematik, klugheitsethische 215 Verfahrensgerechtigkeit 274 Verfassungsstaat 563f Verhaltensökonomik 478 Vertrauenserwartungen 250 Vertrauenswürdigkeit 248ff Wachstum 520ff Wachstums- und Beschäftigungspakt 54 Wahrheit 385ff Wasser 325ff Wasserpolitik 328 Wechselkurse, feste 22ff, 45ff Wechselkurse, flexible 22ff, 45ff Weltwährungsordnung 469 Weltwirtschaft 457ff Weltwirtschaftsgeschichte 520ff Wertschöpfung 248 Wettbewerbsfähigkeitsansatz 13 Wettbewerbsfreiheit 429ff Wettbewerbsordnung 63 ff Wettbewerbspolitik 461 ff Wettbewerbsrecht 442ff Wettbewerbstheorie 461 ff Wettbewerbsverfälschung 63ff Wirtschaftsbücher 457ff Wirtschaftsethik 488ff Wirtschaftskrise 467ff, 475 Wirtschaftsordnung 513ff Wirtschaftspolitik 9ff, 530f Wirtschaftssystem, liberales 3 Wirtschaftssysteme 496 Wirtschaftstrends 545ff Wissen 520ff Wissenschaft 3ff, 392ff

584 Wissenschaftssoziologie 391 Wissenschaftsverständnis 147ff Wohlfahrt 429ff Zahlmeister 558f Zahlungsbilanz 12 Zoll lOff

Sachregister

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63

Anschriften der Autoren Michael Barth Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Sportökonomie und Gesundheitsökonomie Seidelstraße 20 07749 Jena. Martina Baumann (M.Sc.) Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre (520 D), Lehrstuhl für Finanzwissenschaft Schloss-Mittelhof (Ost) 70599 Stuttgart. Dr. Hanno Beck Professor an der Hochschule Pforzheim, Volkswirtschaftslehre Tiefenbronner Straße 65 75175 Pforzheim. Dipl.-Vw. Wolfgang Bretschneider Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Leipzig Institut für Infrastruktur und Ressourcenmanagement Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Institutionenökonomische Umweltforschung Grimmaische Str. 12 04109 Leipzig. Carsten Dethlefs Südergeest 2 25799 Wrohm. Dr. Ralf Dewenter Professor am Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitätsstr. 1 40225 Düsseldorf. Dr. Detmar Doering Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich Naumann Stiftung Postfach 900164 14437 Potsdam. Dr. Florian Drevs Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Lehrstuhl BWL II - Marketing und Gesundheitsmanagement Platz der Alten Synagoge 79085 Freiburg.

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Anschriften der Autoren

Dr. Bernhard Duijm Professor an der Universität Tübingen, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Nauklerstr. 47 72074 Tübingen. Dipl.-Vw. Kilian Frei Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbes. Finanzwissenschaft und Industrieökonomik Arcisstraße 21 80333 München. Dr. Peter Engelhard Milchstraße 26, 45277 Essen. Dr. Erik Gawel Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) Department Ökonomie Permoserstraße 15 04318 Leipzig. Dr. Dominik H. Ernste Professor am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln Leiter Kompetenzfeld Institutionenökonomik Konrad-Adenauer-Ufer 21 50668 Köln. Dr. Lars Feld Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau Institut fur Allgemeine Wirtschaftsforschung Abteilung für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik Kollegiengebäude II Platz der Alten Synagoge 79085 Freiburg. Feng Xingyuan Rural Development Institute Chinese Academy of Social Sciences Jian Guo Men Nei Street 5, Beijing 100732 China. Dr. Andreas Freytag Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik Carl-Zeiss-Straße 3 07743 Jena. Andreas Götz Seniorberater bei Oberender & Partner Nürnberger Str. 38 95448 Bayreuth.

Anschriften der Autoren

Dr. Ludger Heidbrink Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Lehrstuhl für Praktische Philosophie Leibnizstraße 4 24118 Kiel. Dr. Hans Jörg Hennecke apl. Professor an der Universität Rostock (Lehrbeauftragter) Christophstraße 72 40225 Düsseldorf. Dr. Manfred Hilzenbecher Ministerialrat, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg Königstraße 46 70173 Stuttgart. Dr. Maximilian Högn Seniorberater Oberender & Partner Ganghoferstr. 31 80339 München. Dr. Karen Horn Leitung des Hauptstadtbüros, Institut der deutschen Wirtschaft Köln Gustav-Heinemann-Ufer 84-88 50968 Köln. Dipl.-Kfm. Michael Horvath (M.A.) Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbes. Finanzwissenschaft und Industrieökonomik Arcisstraße 21 80333 München. Dr. Michael Hüther Professor und zugleich Direktor am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln Konrad-Adenauer-Ufer 21 50668 Köln. Dr. Markus C. Kerber Professor an der TU Berlin, Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht Sekr. H 58 Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin. Dr. Roland Kirstein Professor an der Otto von Guericke Universität Magedeburg Chair of Business Administration, in particular "Economics of Business and Law" Universitätsplatz 2 39106 Magdeburg. Dr. Nikolaus Knoepffler Professor am Ethik-Zentrum Jena Lehrstuhl für Angewandte Ethik Zwätzengasse 3 07743 Jena.

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Anschriften der Autoren

Dr. Bodo Knoll Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre (520 D), Lehrstuhl für Finanzwissenschaft Schloss-Mittelhof (Ost) 70599 Stuttgart. Dipl.-Pflegewirtin (FH) Nicole Kuhn (M.A.) Externe Doktorandin an der Universität Trier Internationales Health Care Management Institut (IHCI) Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement und Logistik von Herrn Prof. Dr. Andreas Goldschmidt Campus II - Behringstraße 54286 Trier. Dr. Helmut Leipold Professor em., an der Philipps-Universität Marburg Waldweg 15 35094 Lahntal-Goßfelden. Dr. Dr. h.c. mult. Ernst-Joachim Mestmäcker Professor em., Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Mittelweg 187 20148 Hamburg. Dr. Thomas Mettke Rechtsanwalt bei meyer.rechtsanwälte in München Sophienstraße 5 80333 München. Dr. Wilhelm Meyer Professor em., an der Philipps-Universität Marburg c/o Dekanat Universitätsstraße 25 35032 Marburg. Dr. Albrecht F. Michler apl. Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstrasse 1, Geb. 24.31. Ebene 01 Raum 01 (Oeconomicum) 40225 Düsseldorf. Dr. Wernhard Möschel Professor an der Universität Tübingen Lehrstuhl für Bürgerl. Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Geschwister-Scholl-Platz 72074 Tübingen. Dr. Tristan Nguyen Professor an der Wissenschaftliche Hochschule Lahr (WHL), Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre/Versicherungs- und Gesundheitsökonomik Hohbergweg 15-17 77933 Lahr.

Anschriften der Autoren

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Dr. Bernd Noll Professor an der Hochschule Pforzheim, Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte Tiefenbronner Straße 65 75175 Pforzheim. Dr. Rigmar Osterkamp Professor an der University of Namibia Faculty of Economics and Management Sciences Department of Economics 340 Mandume Ndemufayo Avenue Windhoek NAMIBIA. Markus Penatzer, B. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstrasse 1, Geb. 24.31. Ebene 01 (Oeconomicum) 40225 Düsseldorf. Dr. Helge Peukert Professor an der Universität Erfurt Krupp Stiftungsprofessur fur Finanzwissenschaft und Finanzsoziologie Nordhäuser Str. 63 99089 Erfurt. Dr. Ingo Pies Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik Große Steinstraße 73 06108 Halle. Dr. Georg Rüter Gastdozent an der Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld Dipl.-Volksw. René Ruske Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung (CIW) Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Scharnhorststraße 100 48151 Münster. Dr. André Schmidt Professor an der Universität Witten/Herdecke, Lehrstuhl für MakroÖkonomik und Internationale Wirtschaft Alfred-Herrhausen-Straße 50 58448 Witten. Dr. Friedrich Schneider Professor an der Johannes Keppler Universität Linz Department of Economics Altenberger Str. 69 A-4040 Linz-Auhof.

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Anschriften der Autoren

Dr. Alfred Schüller Professor em., Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft e.V. Feldbergstraße 57 35043 Marburg. Dr. Cord Siemon Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Unternehmensgründungen an der Fachhochschule Brandenburg Fachbereich Wirtschaft Magdeburger Straße 50 14770 Brandenburg an der Havel. Dr. Jesús Huerta de Soto Professor an der Universität Rey Juan Carlos Principe de Vergara 38 28001 Madrid Spanien Dr. Manfred Spieker Professor an der Universität Osnabrück Institut für Katholische Theologie, Fachgebiet Christliche Sozialwissenschaften Schloßstraße 4 49074 Osnabrück. Andreas Suchanek Professor an der HHL - Leipzig Gradúate School of Management, Lehrstuhl für Wirtschaftsund Unternehmensethik Jahnallee 59 04109 Leipzig. Dipl.-Volksw. Johannes Suttner Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung (CIW) Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Scharnhorststraße 100 48151 Münster. Dr. Klaus Vollert Professor an der Hochschule Mittweida Fakultät Wirtschaftswissenschaften Technikumplatz 17 09648 Mittweida. Dr. Rolf Walter Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Carl-Zeiss-Straße 3 07743 Jena. Dr. Erich Weede Professor em. an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie Lennéstrafle 27 53113 Bonn.

Anschriften der Autoren Dr. Ulrich Witt Professor am Max Planck Institut für Ökonomik Kahlaische Straße 10 07745 Jena. Dr. Manuel Wörsdörfer Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe Universität Frankfurt am Main Chair of Economic Development and Integration Postbox 47, Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main. Dipl.-Vw. Anne C. Wunderlich Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Sportökonomie und Gesundheitsökonomie Seidelstr. 20 07749 Jena.

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Adolf Wagner und Ullrich Heilemann (Hrsg.)

Empirische MakroÖkonomik und mehr Festschrift zum 80. Geburtstag von Karl Heinrich Oppenländer 2012. X I V / 4 2 4 S., geb. € 69,-. ISBN 9 7 8 - 3 - 8 2 8 2 - 0 5 7 0 - 3 Der Band versammelt 2 4 Einzelbeiträge namhafter Autoren und Weggefährten Karl-Heinrich Oppenländers, langjähriger Präsident des ifo-lnstituts, dem diese Festschrift gewidmet ist. Die Aufsätze sind nach Theorie und Politik, langfristigem Wachstum, Konjunkturforschung, Bevölkerungsökonomik, Arbeitsmarktfragen, Regionalökonomik sowie Institutionellem und Informationsbasis gegliedert. Kurz: Ein Kaleidoskop aktueller Fragen der MakroÖkonomik und mehr. Inhaltsübersicht Ullrich Heilemann Die »Große Dichotomie« ist größer geworden - Zur Konjunkturprognose heute Gerd Ronning Lagerhaltung in der empirischen Wirtschaftsforschung Klaus Abberger/Wolfgang Nierhaus 40 Jahre ifo Geschäftsklima in der gewerblichen Wirtschaft: Ein zuverlässiger Indikator für die Konjunkturentwicklung in Deutschland. Zur Bevölkerungsökonomik und zum Arbeitsmarkt Josef Schmid Deutschland und die Bevölkerungsfrage Adolf Wagner Evolutionary Aspects of Population Economics Alfred Kleinknecht/C. W. M Naastepad/ Servaas Storm/Robert Vergeer Der innovatorische Nutzen von starren Arbeitsmärkten. Zur Förderung von Regionen Ulrich Blum/Werner Cleißner Vom ökonomischen Desaster zum subventionierten Cluster? Alternative wirtschaftliche Aufbaustrategien »Build-Strategien« in den neuen Ländern und ihr ökonomischer Wert durch Risikodiversifikation

LUCIUS LUCIUS

Thomas Oursin Empirische Entwicklungsländerforschung im ifo Institut. Zu Institutionellem Klaus Jaeger Renditen und andere Ungereimtheiten Wulf D. v. Lucius Staatliche Daseinsvorsorge, Stiftungen und Marktwirtschaft Uwe Chr. Täger Gesamt- und einzelwirtschaftliche Entwicklungen in den Wettbewerbsstrukturen der Distribution von Konsumgütern - ein Überblick Frank Oppenländer Auswirkungen des Gesellschaftsrechts auf Unternehmensgründungen, dargestellt an Hand der GmbH, der englischen Limited und der UG (haftungsbeschränkt). Zur Informationsbasis Johann Hahlen Das Europäische Statistische System im Stresstest Hans-Jürgen Krupp Datenverarbeitung und empirische Wirtschaftsforschung - Vor 25 Jahren

Stuttgart

Hans Willgerodt

Werten und Wissen Beiträge zur politischen Ökonomie Marktwirtschaftliche Reformpolitik Bd. 11

2011. XVIII/462 S„ geb., 59,- €. ISBN 978-3-8282-0534-5 Wirtschaftspolitik ist Kunstlehre. Es geht um das Zusammenspiel von Politik und ordnungstheoretischem Wissen und Kunst, die daraus resultierenden Erkenntnisse in einem bestimmten gesellschaftspolitischen Umfeld fruchtbar werden zu lassen. Die ordoliberale Konzeption erweiterte diesen Ansatz um das Wissen der Interdependenz zwischen wirtschaftlicher und politischer Sphäre - als Theorie und Konzeption für die Praxis. Die Zusammenstellung der wissenschaftlichen Beiträge von Hans Willgerodt zeigen dies eindrucksvoll. Sie sind ein Beleg schier unerschöpflicher Kreativität und engagierter Teilnahme an wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen (Fehl-)Entwicklungen sowie dafür, welche Leistungen für Theorie und Praxis möglich sind, wenn hohe wissenschaftliche Kreativität mit festen ordnungspolitischen Grundsätzen und Erkenntnissen kombiniert werden. Die Lektüre belegt: Das Stemmen gegen den Zeitgeist lohnt sich und das Kämpfen gegen den Strom sollte eine eherne Aufgabe des Wissenschaftlers sein. Inhaltsübersicht Erster Teil: Werte, Freiheit und Ordnung Christliche Ethik und wirtschaftliche Wirklichkeit Wirtschaftsfreiheit als moralisches Problem Die Gesellschaftliche Aneignung privater Leistungserfolge als Grundelement der wettbewerblichen Marktwirtschaft Grenzmoral und Wirtschaftsordnung Rang und Grenzen der Wirtschaftsfreiheit im Streit der Fakultäten: Rechtswissenschaft, Medizin und Naturwissenschaften Soziale Marktwirtschaft - ein unbestimmter Begriff? Wirtschaftsordnung und Staatsverwaltung Westdeutschland auf dem Wege zu „richtigen" Preisen nach der Reform von 1948 Einigkeit und Recht und Freiheit Der Staat und die Liberalen

LUCIUS LUCIUS

Demokratisierung der Wirtschaft und die Freiheit des Einzelnen Der Bürger zwischen Selbstverantwortung und sozialer Entmündigung Zweiter Teil: Vertrauen, Irrtum und Wissen als wirtschaftspolitische Probleme Diskretion als wirtschaftspolitisches Problem Der Unternehmer zwischen Verlust, Gewinn und Gemeinwohl Regeln und Ausnahmen in der Nationalökonomie Das Problem des politischen Geldes Gedeckte und ungedeckte Rechte Sozialpolitik und die Inflation ungedeckter Rechte Enteignung als ordnungspolitisches Problem Die Anmaßung von Unwissen Die Universität als Ordnungsproblem

Stuttgart

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Herausgegeben von Thomas Apolte Martin Leschke, Albrecht F. Michler, Christian Müller, Stefan Voigt und Dirk Wentzel

Band 93: Albrecht F. Michler und Heinz-Dieter Smeets (Hg.)

Die aktuelle Finanzkrise Bestandsaufnahme und Lehren für die Zukunft 2011. X/390 S„ kt. € 48,-. ISBN 978-3-8282-0538-3 Die jüngste Finanzkrise hatte zwar ihren Ausgangspunkt am amerikanischen Hypothekenmarkt, sie blieb aber weder auf die USA noch auf die Finanzmärkte beschränkt. Seit dem Herbst 2008 erfasste sie zunehmend auch den realwirtschaftlichen Bereich und führte in vielen Ländern zur schwersten Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg und zu hoher Staatsverschuldung. Vor diesem Hintergrund untersuchen die Beiträge des 43. Forschungsseminars Radein die Ursachen und Wirkungen der aktuellen Krise sowie die ergriffenen Maßnahmen zu ihrer Überwindung. Dabei steht das Geschehen in Deutschland und Europa im Vordergrund. Ferner werden prozess- und insbesondere ordnungspolitische Veränderungen erörtert, durch die sich künftige Finanzkrisen vermeiden lassen.

Band 94: Christian Müller, Frank Trosky und Marion Weber (Hg.)

Ökonomik als allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens Grundlagen und Anwendungen 2012 (in Vorb.), ca. 300 S., kt., ca. € 39,-. ISBN 978-3-8282-0559-8 Die Ökonomik ist eine allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens, die von der Annahme rationalen Handelns ausgeht und nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern auch in Soziologie und Politikwissenschaft eine Vielzahl erfolgreicher Erklärungen ermöglicht. Der Band beleuchtet wissenschaftstheoretische Grundfragen nach der Geltung des viel kritisierten „Homo-Oeconomicus"-Ansatzes und fragt nach möglichen Erklärungs- und Prognoseproblemen. Anwendungen betreffen Institutionen wie die Europäische Union, Finanzintermediäre oder das Urheberrecht im Zeitenwandel sowie den politischen Prozess am Beispiel ökonomischer Theorien der Staatsverschuldung oder der Revolution. Ferner wird das Verhältnis von Ökonomik und Philosophie erörtert am Beispiel des Utilitarismus und der empirischen Glücksforschung.

LUCIUS L U C I U S

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