Opfer - Beute - Boten der Humanisierung?: Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg [1. Aufl.] 9783839416723

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995) gilt als ein Krieg, bei dem die systematischen Vergewaltigungen von Frauen

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German Pages 244 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern. Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur
„Glück“ (2009). Eine Skizze zu Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte mit einem Blick auf den gleichnamigen Spielfilm von Doris Dörrie (2011)
Den Krieg bezeugen. STURM (2009)
Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein? Max Färberböcks ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN (2008)
‚Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘. Menschlichkeit und Bestialität im Roman Als gäbe es mich nicht von Slavenka Drakulić
Aktivierung des Weißraums. Zur Typographie des Schweigens in E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina
BERLIN `36. Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und die filmische Umsetzung
Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien. Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung der Massenvergewaltigung
‚Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Körpers‘. Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in ESMAS GEHEIMNIS
Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Mehr als Konkurrenz der Erinnerungen
Die Antigone von Katyń . Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film.DAS MASSAKER VON KATYŃ
Autorinnen und Autoren
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Opfer - Beute - Boten der Humanisierung?: Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg [1. Aufl.]
 9783839416723

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Marijana Erstic´, Slavija Kabic´, Britta Künkel (Hg.) Opfer – Beute – Boten der Humanisierung?

Gender Studies

Marijana Erstic´, Slavija Kabic´, Britta Künkel (Hg.)

Opfer – Beute – Boten der Humanisierung? Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Siegener Zentrums für Gender Studies – Gestu_S sowie des Gleichstellungsbüros der Universität Siegen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Redaktion: Britta Künkel und Marijana Erstic´ Lektorat & Satz: Britta Künkel und Marijana Erstic´ Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1672-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur Elisabeth von Erdmann | 13 „Glück“ (2009) Eine Skizze zu Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte mit einem Blick auf den gleichnamigen Spielfilm von Doris Dörrie (2011) Marijana Erstić | 39 Den Krieg bezeugen S TURM (2009) Uta Fenske | 49 Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein? Max Färberböcks ANONYMA – E INE F RAU IN B ERLIN (2008) Walburga Hülk/Gregor Schuhen | 65 ‚Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘ Menschlichkeit und Bestialität im Roman Als gäbe es mich nicht von Slavenka Drakulić Slavija Kabić | 87 Aktivierung des Weißraums Zur Typographie des Schweigens in E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina Hermann Korte | 115

B ERLIN `36 Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und die filmische Umsetzung. Britta Künkel | 127 Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung der Massenvergewaltigung Dunja Melčić | 139 ‚Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Körpers‘ Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in E SMAS GEHEIMNIS Tanja Schwan | 155 Der Krieg in Bosnien-Herzegowina Mehr als Konkurrenz der Erinnerungen Ludwig Steindorff | 179 Die Antigone von Katyń Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film DAS MASSAKER VON K ATYŃ

Natasza Stelmaszyk | 213 Autorinnen und Autoren | 235

Vorwort S LAVIJA K ABIĆ /M ARIJANA E RSTIĆ /B RITTA K ÜNKEL

Im Siegener Workshop Frauen im Krieg – Opfer, Beute, Überläuferinnen oder Boten der Humanisierung? Muster im Bosnien-Krieg und im Zweiten Weltkrieg (Juli 2010), welcher der vorliegenden Publikation zugrunde liegt, wurde von einigen anwesenden WissenschaftlerInnen über das zum Thema bisher Geleistete berichtet. Berichtet wurde auch über die von den Opfern der Vergewaltigungen gegründeten (inter-)nationalen Vereine auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien wie auch über die Bestrafung der Kriegsverbrecher/Massenvergewaltiger auf internationaler Gerichtsebene. Es ermangele immer noch an (literarischer) Aufarbeitung des Themas Vergewaltigung seitens der Opfer selbst, wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern beklagt. Es sei nicht das Gleiche, wenn sich professionelle Schriftsteller dieses Themas annehmen. Ihnen werde dann oft, auch von Opfern, literarische Freiheit vorgeworfen, weil es zu groben Unstimmigkeiten zwischen Leben/Realität und Literatur/Fiktionalität gekommen sei. Auch waren sich die Tagungsteilnehmer der Tatsache bewusst, dass die Frauen – Opfer der Vergewaltigungen – mit ihren in welcher Form auch immer geäußerten Bekenntnissen (Aussage vor dem Gericht oder eine Prosa-Erzählung) ihr weiteres Leben aufs Spiel setzen, wenn sie von der Schande sprechen (Vergewaltigung, vielleicht auch die Entbindung und die Freigabe des Neugeborenen zur Adoption), die ihnen zugestoßen ist. Ungeachtet dessen, aus welchem Kulturkreis die Frauen kommen, werden sie oft als Huren abgestempelt und ihr

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Leben wird zur Hölle: Eheleute gehen auseinander, die Ehe wird geschieden, die Kinder werden der Frau entzogen; der verzweifelten Frau, die sowohl im Krieg (vom Feind) als auch im Nachkrieg (vom Freund?) physisch und psychisch erniedrigt wird, bleibt kein Ausweg aus dem Kreis der Schuld, Scham und Schande. In einem Vortrag wurde das Buch von Jadranka Cigelj angesprochen, die ein LagerOpfer war, zur Feder griff und von traumatischen Erniedrigungen schrieb.1 Das sind nur Einzelfälle, von denen es nicht sehr viele geben wird. Das Stigma der Vergewaltigung, im Krieg oder Frieden, lastet auf dem Opfer... lange, lange Zeit. Doch ‚Frauen im Krieg‘ sind nicht nur ‚Opfer‘ und ‚Beute‘, sie tauchen auch als ‚Boten der Humanisierung‘ oder gar als ‚Überläuferinnen‘ bzw. ‚Kollaborateurinnen‘ auf. Die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić, die im Jahr 2005 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhalten hat, schrieb bereits Ende der 1990er Jahre einen Roman über die Massenvergewaltigungen der Frauen in Bosnien-Herzegowina mit dem Titel Als gäbe es mich nicht,2 der die langwährende Ausgangsidee zu der Siegener Tagung lieferte und der ein Thema behandelt, das immer noch brisant wie schmerzhaft ist.3 Die Autorin Drakulić sagte in einem Interview, das Marijana Erstić kurz nach dem Erscheinen des Romans mit ihr geführt hat, über die Vergewaltigungen im Krieg folgendes: Auch heute finde ich, dass die Vergewaltigungen vor allem eine Demonstration der männlichen Übermacht über die Frauen darstellen und erst danach, dass es sich um ein Werkzeug der Politik handelt, wie z.B. im Jugoslawienkrieg. Sonst könnten sich die Leserinnen mit der Protagonistin nicht identifizieren, könnten nicht verstehen, worum es geht. Kurz: jede Frau kennt die Angst vor der Vergewaltigung. Was die Vergewaltigungen im Krieg angeht, in

1

Jadranka Cigelj: Appartement 102 Omarska. Ein Zeitzeugnis, Würzburg 2007. Vgl. dazu den Aufsatz von Elisabeth von Erdmann im vorliegenden Band.

2 3

Slavenka Drakulić: Als gäbe es mich nicht, Berlin 1999. Vgl. zuletzt den Band von Anja Sieber Egger: Krieg im Frieden: Frauen in Bosnien-Herzegowina und ihr Umgang mit der Vergangenheit, Bielefeld 2011.

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jedem Krieg kommen sie vor, der Unterschied ist der, dass im Bosnienkrieg die Vergewaltigungen systematisch verübt wurden, mit dem politischen Ziel der ethnischen Säuberung (unpubliziertes Gespräch).

Die These, die Drakulić mit ihrem Roman aufwirft, lautet: Frauenlager sind das Radikalste und Unmenschlichste an Unterdrückungsmechanismen und Demütigungsstrategien, das die Menschheitsgeschichte zu bieten hat. Gekoppelt wird diese Misshandlung – und das macht sie umso grausamer – an ein politisches Ziel: die Eroberung der Nachbargebiete mithilfe ethnischer Säuberung. (Für wie aktuell dieses Thema auch heute noch befunden wird, bezeugen nicht zuletzt die Filme AS IF I AM NOT THERE (2010) der irischen Regisseurin Juanita Wilson nach dem Roman von Drakulić sowie Angelina Jolies Regiedebüt IN THE LAND OF BLOOD AND HONEY (2011).) Ob Filme oder Bücher, stets stellen sich die Werke, welche die Vergewaltigung im Krieg zu ihrem Thema erheben, dem Problem einer angemessenen Darstellungsweise und Ästhetik. Doch nicht nur die Filme und Bücher, die dieses Thema berühren, bleiben höchst diffizil. Dieser Befund kann sich auf die medialen Berichte gleichermaßen wie auf die wissenschaftlichen Werke beziehen. Hier wie dort kann der Vorwurf nicht nur des Stereotyps erhoben werden, sondern auch der Überzeichnung.4 Gleichwohl sollte nicht verschwiegen werden, dass gerade dies schon immer eine Rechtfertigung der Täter gewesen ist.5

4

Vgl. Calic, Marie-Janine: Der Krieg in Bosnien-Hercegowina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche, Frankfurt a.M. 1995; Calic im Buch: „Schwieriger erwies sich die Überprüfung des im Sommer 1992 erhobenen Vorwurfs von Massenvergewaltigungen, den die Journalistin Maria von Walser im November 1992 in der Fernsehsendung Mona Lisa aufgriff und damit eine Flut von Interviews und Reportagen in den deutschen Medien auslöste. Die Medien wetteiferten bei der Verbreitung immer neuer Horrormeldungen. Zagreber Frauenverbände, die anfänglich 16 Vergewaltigungslager in Bosnien-Hercegovina eruiert hatten, warteten im Februar 1993 mit einer Liste von 42 auf. Roy Gutman ging so weit zu behaupten, daß es in Bosnien-Hercegovina keine Frau zwischen 15 und 25

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Die Beschäftigung mit dem bisher nur sporadisch und unzureichend erforschten Thema erscheint zwingend. Die Mechanismen der Kriegsführung in Bosnien-Herzegowina brachten eine Gewalttätigkeit zu Tage, auf die man in einem vereinten Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht vorbereitet war. Umso bedeutender sind deshalb die künstlerischen Arbeiten, die sich retrospektiv diesem Thema widmen. Umso dringlicher ist auch die wissenschaftliche Arbeit, die die Werke analysiert und deutet. Der vorliegende Band ist eine Sammlung exemplarischer Analysen und bewusst kein allumfassendes Kompendium zum Thema. Vielmehr war es den Herausgeberinnen wichtig, einige markante Punkte der vorwiegend künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema der Frauen im Krieg zu liefern. Mit der Besprechung und Analyse exemplarischer Werke leistet der vorliegende Band primär einen Beitrag zur Erforschung der künstlerischen Darstellung der jugoslawischen Nachfolgekriege (Kabić6, von Erdmann7) und der frühen Nachkriegs-

gebe, die nicht sexuell missbraucht worden sei. Kroatische und muslimische Stellen bezifferten die Zahl der Vergewaltigungen auf ca. 60 000.“ (ebd., S. 132f). 5

Vgl. hier z.B. Drakulić, Slavenka: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht, Wien 2004; als wissenschaftliche Studie zum Thema vgl. den Klassiker von Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a.M. 1980, hier finden sich die grundlegenden Studien nicht nur zu den Kriegen in Vietnam und Bangladesch, sondern auch zum Zweiten Weltkrieg bzw. zu den Verbrechen der Wehrmacht und der japanischen Streitkräfte wieder (vgl. ebd., insb. S. 55ff). Vgl. auch die neuere Studie von Dagmar Herzog (Hg.): Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century, London 2009; vgl. auch die weiterführenden Studien von Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren: Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt a.M. 2003 und Gesa Dane: Zeter und Mordio! Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005.

6

Vgl. den Aufsatz von Slavija Kabić: „‚Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘: Menschlichkeit und Bestialität im Roman ‚Als gäbe es mich nicht‘ von Slavenka Drakulić“, im vorliegenden Band.

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zeit in Bosnien (Fenske8, Schwan9). Erhellend dazu finden sich im Band die Beiträge über die historische Ebene des Krieges in BosnienHerzegowina (Steindorff)10 bzw. über die Rolle der Medien in den jugoslawischen Nachfolgekriegen wieder (Melčić)11. Bereichert werden diese Texte durch drei exemplarische Beiträge über die Darstellung der Frauenschicksale kurz vor dem und im Zweiten Weltkrieg (Künkel12, Hülk/Schuhen13 sowie Stelmaszyk14), sowie mit einem Aufsatz über eine Kurzgeschichte Ferdinand von Schirachs, die sich dem Thema auf einer allgemeineren Ebene widmet 15 (Erstić). Die Thematisie-

7

Vgl. den Aufsatz von Elisabeth von Erdmann: „Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern. Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur“, im vorliegenden Band.

8

Vgl. den Aufsatz von Uta Fenske: „Den Krieg bezeugen: STURM (2009)“,

9

Vgl. den Aufsatz von Tanja Schwan: „‚Die Grenzen meiner Sprache sind

im vorliegenden Band. die Grenzen meines Körpers‘. Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in ESMAS GEHEIMNIS“, im vorliegenden Band. 10 Zu den historischen Aspekten des Bosnienkrieges vgl. den Aufsatz von Ludwig Steindorff: „Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Mehr als Konkurrenz der Erinnerungen“, im vorliegenden Band. 11 Zu den medialen Aspekten des Bosnienkrieges vgl. den Aufsatz von Dunja Melčić: „Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien. Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung der Massenvergewaltigung“, im vorliegenden Band. 12 Vgl. den Aufsatz von Britta Künkel: „BERLIN `36. Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und die filmische Umsetzung“, im vorliegenden Band. 13 Vgl. den Aufsatz von Walburga Hülk und Gregor Schuhen: „Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein? Max Färberböcks ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN (2008)“, im vorliegenden Band. 14 Vgl. den Aufsatz von Natasza Stelmaszyk: „Die Antigone von Katyń. Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film DAS MASSAKER VON KATYŃ, im vorliegenden Band. 15 Vgl. den Beitrag von Marijana Erstić: „,Glück‘ – eine Skizze zu Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte mit einem Blick auf den gleichnamigen Spielfilm von Doris Dörrie (2011)“, im vorliegenden Band.

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rung der Frauen im Krieg kann selbstverständlich nicht ohne die Männerschicksale angesprochen werden, so findet sich in fast jedem der Beiträge auch dieser Aspekt wieder. Das eigentliche Thema des Bandes bleibt jedoch jenes der Frauen im Krieg und seiner Darstellung. Die alphabetische Anordnung der Aufsätze, die sich an den Autorennamen orientiert, umgeht bewusst eine Chronologie, die hier nur ein verfälschendes Konstrukt wäre – die geschilderten Schicksale mögen jeweils subjektiv und unterschiedlich sein, das Thema beansprucht Allgemeingültigkeit. Bedanken möchten sich die Herausgeberinnen für die freundliche Unterstützung des Frauenbeauftragten-Gremiums der Universität Siegen, das die vorausgegangene Tagung ermöglicht hat. Zu danken haben die Herausgeberinnen auch dem ehemaligen Fachbereich 3 der Universität Siegen für seine personelle Hilfe. Ein großes Dankeschön geht an das Gestu_S – das Siegener Zentrum für Gender Studies –, das nicht nur die Tagung mitfinanziert sondern die vorliegende Publikation möglich gemacht hat. Die herzliche Danksagung der Herausgeberinnen für ihre stets freundliche und aufgeschlossene Hilfe vor, während und nach der Tagung geht auch an die Mitarbeiterinnen Enka Hackländer und Miriam Höselbarth. Für die sorgfältige Gestaltung des Manuskriptes, die Korrekturarbeiten und die Redaktion hat vor allem die Mitherausgeberin Britta Künkel gesorgt. Für die Korrektur der Manuskripte bedanken sich die Herausgeberinnen zudem bei Michael Linn. Schließlich ist ein Dank an die Autorinnen und Autoren der Tagungsbeiträge und der Aufsätze auszusprechen, mit deren wertvollen Beiträgen die Tagung, die Diskussion und das vorliegende Buch realisiert werden konnten.

Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur E LISABETH VON E RDMANN

Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt im Bosnienkrieg und in anderen Kriegen in Kunst und Literatur ist eine komplexe Aufgabe, da das ästhetische Paradigma auf eine Realität trifft, die dringend nach wahrheitsgemäßem Ausdruck, Engagement, Stellungnahme und Auseinandersetzung verlangt und einer vertieften Kenntnis der Kontexte bedarf. Zugänge hierzu werden aus Texten gewonnen, die Diskursen und Intentionen unterliegen und die die Konstruktion der Wirklichkeit in der Wahrnehmung gestalten. Was könnte der ästhetische Text zu diesem Konzert der Texte beitragen? Das Thema bietet genug Bedrängnis und Appell, um auch in der künstlerischen Auseinandersetzung einen kompetenten Realitätsbezug zu suchen, und stellt eine Herausforderung an engagierte Kunst- und Literaturkonzepte dar. Dokumentarisch-publizistische und wissenschaftliche Literatur spielen eine überragende Rolle bei der Rekonstruktion der Kontexte, die das ästhetische Paradigma nicht vernachlässigen kann, um Dichtung und Wahrheit erkennen und unterscheiden und die Mischung des ästhetischen mit dem Realitätsdiskurs vollziehen und bewerten zu können. Das heißt nicht, dass jede künstlerische und literarische Aufnahme des Themas seiner Aufarbeitung in der Realität dienen muss, doch ist es in Anbetracht der Intensität die-

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ser Realität und der Defizite bei ihrer Wahrnehmung schwierig, sich dem Realitätsdruck ganz zu entziehen. Auch stellt es ethisch eine bedenkenswerte Frage dar, ob vergewaltigte Frauen im Bosnienkrieg als publikumswirksame Maske für eigene Diskurse, Problemstellungen und Lösungen eingesetzt und ihr Schicksal als Steinbruch für ein ästhetisches Konzept benutzt werden sollen. Eine solche Frage ist ein Ableger der Beunruhigung, die Theodor Adorno empfand, als er Gedichte nach Auschwitz für unmöglich erklärte. Paul Celan und viele andere Dichter bewiesen das Gegenteil. Gleichwohl ist eine künstlerische und literarische Auseinandersetzung mit einem intensiven Realitätsbezug für dieses Thema besonders geeignet. In diesem Artikel folgt daher einer Betrachtung des Themas die Analyse von Kontexten und Ansätzen. Als Beispiel einer literarischen Aufarbeitung wird die in Romanform präsentierte Textsorte des autobiographischen Berichts im Buch Leila (2000) ausgewählt. Den Abschluss bilden Gegenbilder zur sexualisierten Gewalt in Bosnien.

1. T HEMA Das Leiden von Frauen im Krieg tritt in Wahrnehmung und Aufarbeitung immer noch hinter den Schrecken zurück, den Männer in der aktiven Rolle des Kämpfens und Sterbens an der Front oder der daraus folgenden Versehrtheit an Leib und Seele erfahren. Der Krieg hält für Frauen in patriarchalen Kulturen andere Aspekte der Gefährdung bereit als für die Männer, die sich veranlasst sehen, Krieg zu führen. Der gewaltsame Tod eines jeden Menschen stellt in besonderer Weise einen vernichtenden Schlag für die kulturell verankerten Lebensziele und -leistungen der Frau dar, die diesen Menschen geboren und seinem Wohl und Aufwachsen ihr Leben gewidmet und daraus ihren Wert bezogen hat. Darüber hinaus sind Frauen in allen Kriegen1 das Ziel sexualisierter Gewalt geworden, die als Kommunikation zwischen Männern inszeniert wird. Diese Kommunikationsstra-

1

Vgl. hierzu u.a. die Abhandlung von Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941-1945, Hamburg 2010.

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tegie mit ihren verheerenden Folgen für die Frauen und Familien ist bisher noch nicht in den Fokus der Auseinandersetzung mit Kriegen gerückt oder aufgearbeitet worden. Obwohl sexualisierte Gewalt schon immer besonders in Kriegen zur Anwendung kam, ist sie erst seit 1949 mit der Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsopfern als Kriegsverbrechen anerkannt worden. Defizite in Wahrnehmung, Reflexion sowie kultureller und institutioneller Aufarbeitung beherrschen bis heute das Thema. Die unmittelbar Betroffenen schweigen in der Regel, die meisten ein Leben lang. Das gilt für die deutschen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg vergewaltigt wurden, genauso wie für die Frauen, die im Bosnienkrieg von 1992-1995 das Schicksal systematischer Vergewaltigungen erlitten haben. Bis heute fehlt eine international vernetzte Lobby, auch wenn von Seiten zahlreicher Organisationen und Initiativen hoffnungsvolle Anstrengungen gemacht und Zeichen gesetzt werden. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina hat durch seine Präsenz in den Medien dieses Thema zumindest eine Zeit lang sichtbar gemacht. Der systematische Einsatz sexualisierter Gewalt im Krieg oder Völkermord und seine zerstörerischen Auswirkungen für die angegriffenen Frauen und ihre Familien in einer patriarchalen Kultur gelangten auf diese Weise in die Wahrnehmung einer internationalen Öffentlichkeit. Im Jahr 2001 wurde in Den Haag zum ersten Mal das Kriegsverbrechen der Vergewaltigung an drei Kämpfern aus dem Bosnienkrieg geahndet. Doch der Umgang mit diesem Aspekt der Kriegsführung in Bosnien und Herzegowina muss sich bis heute mit fast unzugänglichen kulturellen Grundhaltungen auseinandersetzen, die von einer Allianz aus dem Schweigen zu diesem Thema und der dieses Schweigen verursachenden und unbehelligt fortbestehenden patriarchalen Kultur auf dem Balkan gebildet und am Leben gehalten wird. Erst 2006 gelangten Forderungen, die im Bosnienkrieg vergewaltigten Frauen den durch Kampfhandlungen geschädigten Männern gleichzustellen und sie als Kriegsopfer anzuerkennen und zu entschädigen, vor das Parlament in Sarajevo. Doch bisher gibt es nur schleppende und durch die Notwendigkeit eines Zeugen in der Regel verhin-

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derte Umsetzungen des Rechts auf eine Rente.2 Die Tendenz der Politik geht dahin, das Thema in der bosnischen Öffentlichkeit zu ignorieren. Keine der drei Kriegsparteien zeigt heute großes Interesse an einer öffentlichen Thematisierung und Aufarbeitung, denn alle am Krieg Beteiligten haben vergewaltigt. Unterschiede bestehen höchstens in Umfang und Systematik. Außerdem ist kein Geld für große Programme vorhanden, und das Interesse beschränkt sich darauf, dass die Frauen weiter schweigen und funktionieren. In der bosnischen Gesellschaft wird deshalb bis heute den Belangen von durch sexualisierte Gewalt kriegsgeschädigten Frauen in Aufarbeitung und Entschädigung keine Priorität gegeben. Das entspringt einer gewohnheitsmäßigen Haltung der patriarchalen Kultur in der Region, die Frauen und deren Belange den männlichen Interessen unterordnet. Die im Krieg geschädigten Männer gelten als Helden und Verteidiger. Sie können auf Anerkennung und Entschädigung hoffen, ihre Interessen und Anklagen formulieren und sogar Rache fordern. Dadurch sind sie in der Öffentlichkeit präsent. Die im Krieg durch sexualisierte Gewalt geschädigten Frauen gelten dagegen als Schandfleck und verstecken sich vor der Öffentlichkeit. Ihre Haltung ist von Scham und Entsetzen, der Angst vor Ausgrenzung und Verstoßung durch Familie und Gesellschaft, der Furcht vor Rache seitens der Vergewaltiger und ihres Umfelds sowie von der kulturellen Nötigung zum Schweigen geprägt. Die nach dem Zerfall Jugoslawiens sowie während des Bosnienkrieges und danach beobachtete Intensivierung der Beziehungen der muslimisch-bosnischen Gesellschaft zum politischen Islam hat die patriarchale Haltung in der Region insgesamt unterstützt, auch wenn die katastrophalen Folgen des Unglücks der Frauen und seiner Auswirkungen auf die Gesellschaft in der islamischen Gemeinschaft zu Versuchen führten, die im Krieg geschädigten Frauen dem gewohnten kulturellen Mechanismus zu entziehen, um der vom Angreifer reali-

2

Vgl. Duraković, Indira: „Massenvergewaltigung im Bosnienkrieg“, Graz 2008, S. 139, in URL: http://www.wsg-hist.uni-linz.ac.at/historicum/ Graue-Reihe/GraueReihe40.pdf vom 04.05.2011.

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sierten Strategie des Völkermords zumindest in den eigenen Reihen die Macht zu nehmen. Gerichtliche Aufarbeitungen können die Frauen nur unzureichend schützen, denn die Vergewaltiger verfügen nach wie vor über die Ressourcen, sich für Zeugenaussagen betroffener Frauen vor Gericht zu rächen. Häufig erleidet die aussagende Frau vor Gericht eine erneute Demütigung und Retraumatisierung. Diese vor jedem Gericht drohende Gefahr bannt zum Beispiel auch die sich als Vorbild begreifende Rechtsprechung in Deutschland keineswegs, die, wie der ehemalige Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge ausführt, nicht geeignet ist, „die Frauen zu schützen“.3 Deshalb riet er öffentlichkeitswirksam in der Gesprächsrunde bei Anne Will einer fiktiven Tochter davon ab, bei erlittener Vergewaltigung vor einem deutschen Gericht zu klagen. Auch die Familie, traditionell ein starker Verband und wichtiger Rückhalt auf dem Balkan4, verfügt offenbar nicht über die kulturellen Ressourcen, ihre geschändeten Frauen zu schützen und sich für die Bestrafung der Vergewaltiger einzusetzen. Stattdessen grenzen sie die betroffenen Mitglieder aus oder pflegen als Alternative das Schweigen über das Geschehene. Die Kriegsstrategie5, die Frauen anzugreifen, um gezielt Völkermord zu begehen, stützt sich auf ein Kalkül, das neben der physischen Bedrohung für Leib und Leben der Frauen auch eine voraussagbare mentale Maschinerie in Gang setzt, die besonders gut funktioniert, wenn der Aggressor der gleichen patriarchalen Kultur wie der Ange-

3

Schaaf, Julia: „Die einzige Zeugin“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 31 vom 08.08.2010, S. 39. „Ein prominenter Jurist warnt davor, Vergewaltigungen anzuzeigen: ‚Eine Tortur für die Frau’. Tatsächlich empfinden viele Opfer den Prozess als Qual, weil sich alles um ihre Glaubwürdigkeit dreht. Die Justiz steht vor einem Dilemma“ (ebd.).

4

Vgl. hierzu Kaser, Karl: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien u.a. 1995. Das kulturelle Paradigma ist nach wie vor wirksam.

5

Die Kriege im 20. Jh. setzten Vergewaltigung als Kampfstrategie so gezielt ein, wie schon die Kriege früherer Jahrhunderte. Zu nennen sind die Deutsche Wehrmacht, die Rote Armee, die Kampftruppen in Bangladesh, Kuweit, Ruanda, Bosnien/Herzegowina, Libyen u. a.

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griffene angehört, da man einander versteht. Die Vergewaltigung von Frauen ist eine kostensparende Kriegsstrategie ohne Benzin und Munition, aber von hoher Wirksamkeit. Sie macht die überlebenden Geschädigten sozialpsychologisch lebensunfähig und zerstört die Grundstruktur und den Zusammenhalt von Familien und Gesellschaft. Die in ihrem Lebensnerv getroffenen patriarchalen Gesellschaften werden durch das Unglück ihrer Frauen zum nützlichsten Komplizen des Aggressors und vollenden eigenhändig das von ihm in Gang gesetzte Werk der Zerstörung. Da ein Tabubereich betroffen und die patriarchale Kultur unflexibel ist, bedeutet jede öffentliche Reflexion Tabubruch und Beweis des eigenen Versagens und wird entsprechend verhindert. Dieser Mechanismus wird von einer patriarchalen Mentalität begründet, die, älter als der Islam, auch die Interpretation des Korans und die sich auf ihn rückbeziehende Lebenspraxis prägte. In einer solchen Kultur gelten die Frauen als Träger der Ehre der Männer. Sie können diese Ehre verlieren, sie aber im Falle ihres Verlusts nicht selbst wieder herstellen, sondern nur der Mann kann das zu ihren Lasten. Der Ehrverlust von Frauen, den eine Vergewaltigung darstellt, ist deshalb für den muslimischen Bosnier (und nicht nur für ihn in der Region) der schlimmste Angriff auf Integrität und Ansehen, denn kein Mann kann durch eigenes Handeln seine Ehre so verspielen wie eine Frau die Ehre eines Mannes: „Bošnjak će lakše za časnu stvar halaliti sina negoli da mu se obeščasti kćerka, supruga, majka“. 6 Die die sexualisierte Gewalt unterstützende patriarchale Mentalität bestimmt nicht nur die islamisch, sondern auch die christlich geprägten Kulturen in der Region, in der die Vergewaltigung der Frauen als ultimative Demütigung der Männer instrumentalisiert werden kann, da männliche Eigentumsrechte und Stärke durch sie eine Demontage erfahren.7

6

Halilović, Safet (Hg.): Vrijeme beščašća. Genocid nad Bošnjacima krajem dvadesetog stoljeća, Zenica 1994, S. 289.

7

Vgl. hierzu u.a. Seifert, Ruth: Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, München 1993 (= SOWI-Arbeitspapier 76); vgl. auch I. Duraković: Massenvergewaltigung im Bosnienkrieg.

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Die vergewaltigen Frauen nehmen durch die verinnerlichte patriarchale Kultur am Mechanismus teil, das Werk des Angreifers an sich selbst zu Ende zu führen. Hinzu kommt, dass ihnen als schwer traumatisierten und daher nur bedingt handlungsfähigen Opfern von außen Nötigung und Schlimmeres statt Unterstützung entgegenschlägt. Dieser Teufelskreis konnte bisher nur in Einzelfällen durchbrochen werden. Das Schweigen, mit dem die meisten Frauen bis heute reagiert haben, unterstützt das Ignorieren ihrer Belange in der bosnischen Gesellschaft und führt zu Unverständnis bei den Menschen, die mit der Psychologie von Opfern und den Formen des Patriarchats auf dem Balkan nicht vertraut sind.8 Während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina zwischen 1992 und 1995 ereigneten sich identische Vergewaltigungsverbrechen in mindestens 652 Lagern, die in der Mehrzahl von Serben an bosnischen Frauen begangen, doch auch von den anderen Kriegsparteien gegen Frauen aller ethnischen Bevölkerungsgruppen als Waffe eingesetzt wurden.9 Die wenigen Täter, die bisher tatsächlich vor Gericht gestellt wurden, berufen sich auf Befehle, die sie ausführen mussten. Solche Aussagen belegen die Systematik dieser Kriegsführung und zeigen das Funktionieren patriarchaler Hierarchien. Das Ungleichgewicht im Verhältnis von Tätern und Opfern ist bis heute nicht korrigiert worden. Noch immer können Opfer ihre Aussagen nicht vor Gericht machen, ohne Rache und Einschüchterung befürchten zu müssen. Die meisten Opfer führen auch heute noch kein menschenwürdiges Leben. Die meisten Täter können sich dagegen nach wie vor frei bewegen und konnten sogar noch einmal im Kosovokrieg von 1999 ihre Verbrechen wiederholen.10 Viele der Frauen wohnen noch heute in der Nähe ihrer Vergewaltiger, meistens als Binnenflüchtlinge, die wirtschaftlich in Armut leben, ohne eine Sicherheit für Wohnort, Ar-

8

Medica mondiale leistet für die Wahrnehmung dieses Verständnisproblems Pionierarbeit.

9

Zu den Massenvergewaltigungen vgl. I. Duraković, Massenvergewaltigung im Bosnienkrieg.

10 Vgl. das Nachwort von Cavelius, Alexandra: Leila. Ein bosnisches Mädchen, Berlin 2000, S. 235.

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beit, sozialen Status, Leib und Leben zu haben. Sie leben diskriminiert und ausgestoßen und bekommen weder Entschädigung noch Therapie. Vor Gericht erhalten die Täter ein rechtsstaatliches Verfahren mit umfassendem Schutz vor Racheakten. Wenn sich vergewaltigte Frauen tatsächlich zu einer Aussage vor Gericht entschließen, genießen sie nur für die Dauer des Verfahrens einen Schutz, der aber nicht immer funktioniert, wie es zum Beispiel Leila zugestoßen ist.11 Dieser Schutz endet nach dem Gerichtsverfahren. Das ist umso gefährlicher, wenn keine Verurteilung erfolgt. Dennoch hat der Krieg in Bosnien und Herzegowina die öffentliche Wahrnehmung verändert. Er spielte in Europa und erregte daher die besondere Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Deshalb konnten die weitreichenden Folgen dieser Kriegsverbrechen für Familie und Volk im Kontext der regionalen Mentalität sichtbarer und zum Gegenstand von Nachdenken und Diskussion werden. Die zahlenmäßig viel umfangreicheren, schon jahrzehntelang währenden Kriegsverbrechen an Frauen in Afrika konnten dagegen keine vergleichbare Wirkung entfalten. Heute versucht eine Reihe von Organisationen, die Situation der betroffenen Frauen in Bosnien und Herzegowina, aber auch in anderen Kriegen, aufzuarbeiten, Fakten zu sammeln und zu bewerten, sie ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und Hilfen anzubieten. 12 Umfassende Aufarbeitung und Hilfe bleiben jedoch nach wie vor eine Option der Zukunft. Das 1999 erschienene und sowohl in bosnischer als auch in englischer Sprache vorgelegte Buch The Sin of Silence – Risk of Speech präsentiert zahlreiche Beiträge, Zeugenaussagen, Fotomaterial und eine Abschlusserklärung. Es spiegelt in seinen Aufarbeitungsversu-

11 Vgl. ebd., S. 238 f. 12 Zu nennen sind hier u.a. Medica mondiale, zu der Medica Zenica gehört, Amnesty International, CID = Center for Information and Documentation (Sarajevo), Gesellschaft für bedrohte Völker (Göttingen), Infoteka: Women’s Information and Documentation Center (Zenica), Verband der Lagerinsassinnen Bosnien/Herzegowinas, Verein Frauen als Kriegsopfer, Zentrum der zeitgemäßen Initiativen, Zentrum für politische Schönheit, Netzwerk Frauen gegen den Krieg.

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chen die grundsätzlichen Probleme des Ehrenkodex der patriarchalen und islamischen Gemeinschaft bei der Entwicklung einer angemessenen Einstellung und Praxis des Umgangs mit den geschädigten Frauen und bei der Bestrafung dieser Verbrechen, die so alt wie das Kriegführen selbst sind.13 So muss zum Beispiel die Stellung von Frauen als Zeuginnen in Prozessen gegen Männer völlig neu bewertet werden. Eine Reihe von dokumentarischen und literarischen bzw. semiliterarischen Texten handelt von den Vergewaltigungen in Bosnien und Herzegowina.14 Die Psychotherapie hat aus diesem Anlass verstärkt den Bedarf an Therapieansätzen und der Erforschung der Traumapsychologie erkannt. Besonders engagiert hat sich die von Monika Hauser gegründete Medica mondiale15, die Wegzeichen setzte. In ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Right Livelihood Award am 8. Dezember 2008 beschreibt Monika Hauser das Problemfeld der im Krieg vergewaltigten Frauen und das immer noch vorherrschende Ignorieren der dahinter stehenden Systematik. Sie hebt besonders die Hilflosigkeit der betroffenen Frauen bei der Wahrnehmung ihrer Gefühle und beim Brechen des Schweigens hervor.16 Dabei zitiert sie die

13 Vgl. Tokača, Mirsad (Hg.): The Sin of Silence – Risk of Speech/Grijeh šutnje-rizik govora – Collection of the reports from international conference held in Sarajevo on 10th and 11th March 1999, titled "Violations of Women`s Rights during the war '92-'95", Sarajevo 1999. Hervorzuheben ist auch der schon 1993 erschienene Sammelband von Alexandra Stiglmayer (Hg.): Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen, Frankfurt a. M. 1993. 14 Vgl. z. B. folgende Abhandlung: Weiß, Klara: Gender & bewaffnete Konflikte: Bosnien-Herzegowina, hrsg. vom Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit, Wien 2007, in URL: www.vidc.org/file admin/Bibliothek/DP/pdfs/G_K/gkBosnien.pdf vom 16.07.2010. 15 Vgl. u.a. Medica mondiale e. V./ Griese, Karin (Hg.): Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen. Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern, Frankfurt a.M. 2006, 2. Auflage. 16 Vgl. Hauser Monika: Dankesrede. 8. Dezember 2008. Right Livelihood Avard 2008, in URL: www.medicamondiale.org/fileadmin/content/07_

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amerikanische Traumatherapeutin Judith Herman: „Auch wenn der Körper langsam heilt, werden die seelischen Verletzungen ein Leben lang ihre zerstörerischen Auswirkungen haben“.17 Eine literarische und künstlerische Aufarbeitung kann in der Intensität der Verbrechen und dem sie umgebenden Schweigen eine Herausforderung erblicken, für deren Meisterung die Kenntnis der kulturellen Kontexte unverzichtbar ist. Sie kann das Schweigen zum Ausgangspunkt ihres eigenen Sprechens machen und ihre Stimmen für die erheben, die keine Stimme mehr haben.

2. K ONTEXTE Die Forderungen und Absichtserklärungen von Politik und dokumentierender Aufarbeitung in Bosnien bieten das genaue Spiegelbild der patriarchalen Mentalität. Im Umgang mit dem Thema sexualisierter Gewalt im Bosnienkrieg begegnet die bosnische Gesellschaft ihrer eigenen Kultur und müsste sie grundsätzlich in Frage stellen. Diese Aufgabe konnte bisher nicht gelöst werden, sondern wird im besten Fall auf die Opfer abgewälzt. Das bereits erwähnte Buch Sin of Silence-Risk of Speech versucht, die bosnischen Frauen zu Helden zu machen und zum Reden zu ermutigen. Der weiblichen Lebenswirklichkeit in Bosnien enthobene Fachleute fordern damit von den vergewaltigten Frauen, die ohnehin unter der Ohnmacht der Viktimisierung leiden, etwas, das die größte Schande in deren Kultur bedeutet. Ideologisch vereinnahmt das Buch darüber hinaus die Frauen für die bosnische Sache und verfolgt gleichzeitig das Ziel, sie wieder zum Funktionieren in den traditionellen Frauenrollen zu bringen. Es geht nicht um die Frauen selbst oder um eine Transformation der Kultur, in der die Ursachen des Übels liegen, sondern um den Versuch, für den Fall des Bosnienkriegs einen kulturellen Mechanismus zu stoppen, um weiteren Schaden von der Gesellschaft abzuwenden.

Infothek/Reden/Stockholm_Dankesrede_Monika_Hauser_081208.pdf vom 16.07.2010. 17 Ebd., S. 5.

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Die patriarchale Mentalität und deren Internalisierung bei Frauen und Männern behinderte auch die Wirksamkeit der Fatwa, die der oberste Imam der bosnischen Gemeinde 1993 erließ.18 Er entlastete die im Krieg vergewaltigten Frauen von jeder Verantwortung und erklärte sie zu von Gott geliebten unschuldigen Opfern. Den Kindern, die sie gebären würden, sagte er die vollgültige Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinschaft zu. Realitätsnäher äußerten sich Alija Izetbegović in seiner öffentlichen Empfehlung während des Kriegs, vergewaltigten Frauen zu verzeihen, und Salim Sabić, Vorsitzender der bosnisch-muslimischen SDA-Partei zu Beginn der 90er Jahre, der laut Protokoll der MonaLisa-Sendung vom 15. November 1992 sagte: „Ich kann es der Frau verzeihen, der das passiert ist. Aber ich kann es nicht einem Wilden, der dies gemacht hat“.19 Am wirkungsvollsten erwies sich die unterschwellige, aber umso deutlicher verstandene Botschaft der bosnischen Gesellschaft an ihre vergewaltigten Frauen: „Wir verzeihen euch, aber jetzt schweigt für immer“.20 Die strukturelle Gewalt der Kultur und die psychische Struktur der Frauen spiegeln einander und bewirken einen Mangel an den für die Traumabewältigung entscheidenden inneren und äußeren Ressourcen, auf die die Frau zugreifen könnte, um ihr Selbst- und Weltvertrauen wieder herzustellen. Der unbarmherzigste Richter sitzt in den Frauen selbst, die sich entehrt, wehrlos und schuldig fühlen und nichts mehr fürchten, als durch die Offenbarung ihrer Schande entweder die ganze Familie in den Abgrund der sozialen Ächtung zu reißen oder selbst verstoßen zu werden. In der Traumaarbeit mit bosnischen Frauen tätigen Therapeuten fällt auf, dass die Frauen sich nach ihrer eigenen Schuld fragen, wegen der sie Gott gestraft habe, als er ihre Vergewaltigung zuließ. So versucht sich zum Beispiel ein 17-jähriges Mädchen umzubringen, weil

18 Vgl. I. Duraković, Massenvergewaltigung im Bosnienkrieg , S. 139. 19 Welser, Maria von: Am Ende wünschst du dir nur noch den Tod. Die Massenvergewaltigungen im Krieg auf dem Balkan, München 1993, S. 73. 20 Überliefert von Jasmina Prstojević. Vgl. K. Weiß: Gender & bewaffnete Konflikte. Bosnien-Herzegowina, S. 29.

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es an der Frage zerbricht, was es getan habe, um von Gott mit dieser Schändung bestraft zu werden.21 Die Organisation Medica mondiale hat einen tiefen und reflektierten Einblick in den seelischen Zustand dieser Frauen und ihre Defizite bei den Ressourcen zur Bewältigung des Traumas gewonnen.22 Besonders auffällig sind die Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und moralischen Integrität und Normalität. Die Frauen fühlen sich stigmatisiert und fürchten, dass man ihnen die Vergewaltigung ansähe. Sie erhoffen sich keine Unterstützung durch Familie und Gesellschaft und erblicken keine Möglichkeit, sich der Familie zu offenbaren oder in sie zurückzukehren. So fristen sie ein Leben in innerer und oft auch äußerer Ausgeschlossenheit und finden weder in ihrer Kultur noch in sich selbst einen Diskurs, der ihnen die Artikulation ihrer Erfahrung ermöglichen und ihnen einen Weg weisen würde. Ihr Körper- und Selbstgefühl ist zerstört und ihre weibliche Identität ausgelöscht, ohne dass sie für sich einen anderen Lebensentwurf als Heirat und Familie eröffnen könnten. Für viele Frauen war die Vergewaltigung darüber hinaus der erste Sexualkontakt. Eine Reihe von Frauen nahm sich daraufhin das Leben oder trieb das Kind ab. Alle sind vom Gefühl der Scham überwältigt. Wenn sie dennoch zu reden beginnen, ermutigt durch psychologische Fürsorge, dann erzählen sie von sich in der dritten Person, als sei das alles einer anderen Frau zugestoßen. Die Gründe für den durchschlagenden Erfolg der Kriegsstrategie der Vergewaltigung liegen daher sowohl in der Gesellschaft als auch in der psychosozialen Struktur ihrer Mitglieder, aus der kein Weg herauszuführen scheint.

21 Vgl. Fischer, Erica: Am Anfang war die Wut. Monika Hauser und Medica mondiale. Ein Frauenprojekt im Krieg, Köln 1997, S. 154. Ich selbst erinnere mich an die Lesung des Gedichtes einer vergewaltigten Frau auf dem Genozid-Kongress, der 2000 in Bihać stattfand und in dem das lyrische Ich nach Gott schrie, was es denn getan habe und worin seine Schuld bestehe (Ich habe das Gedicht leider nicht mehr finden können.) 22 Vgl. Medica mondiale e. V./K. Griese (Hg.), Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen.

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Die religionsübergreifende patriarchale Mentalität auf dem Balkan wird durch den islamischen Glauben in Bosnien zwar gefördert, aber nicht begründet. Sie ist vielmehr in der Region verankert. Der Islam in Bosnien ist bis heute nicht vergleichbar mit dem Islam im Nahen Osten und in der Arabischen Welt. Das liegt an der Besonderheit der bosnischen Konfessionalität.23 Die bosnische Natiogenese auf islamischer Grundlage ist jung, auch wenn sich Ansätze bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigten. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Konfession der muslimischen Bürger Bosniens als ihre Nationalität anerkannt. Der bosnische Nationalismus erhielt mit dem Bosnienkrieg eine islamistische Richtung und findet seinen Gründungsmythos in den so genannten Bogumilen des mittelalterlichen Bosniens. Allerdings hatte Alija Izetbegović, von 1990 bis 1992 der Präsident der Republik Bosnien und Herzegowina und bis zum Jahr 2000 Präsident Bosniens im kollektiven Staatspräsidium von Bosnien und Herzegowina, bereits in den 70er Jahren eine „Islamische Deklaration“ verfasst, die 1983 veröffentlicht wurde und ihn ins Gefängnis brachte. Sie fand große Beachtung in Ägypten und im Nahen Osten und inspirierte den modernen Islamismus, insofern sie den Djihad-Begriff neu als heiligen Krieg gegen alles Unislamische in der islamischen Welt und für den Islam als Modell für die ganze Menschheit auffasste. Darin etablierte der spätere Präsident eine islamistische Konzeption als Orientierungsrichtlinie für die intellektuelle und religiöse Elite, die er in seinem 1980 veröffentlichten Buch Der Islam zwischen Ost und West bereits ausgeführt hatte.24 Diese Zusammenhänge sind bisher noch nicht ausreichend untersucht worden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die ländliche Bevölkerung Bosniens bis heute nicht besonders davon beeinflusst wurde. Trotzdem ordnen sich heute im Diskurs des Bošnjaštvo die wichtigen Aspekte der nationalen Identitätsbestimmungen um den Islam als

23 Vgl. hierzu Džaja, Srečko: Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegovina, München 1984. 24 Vgl. »Muslimanstvo« und Bosniakentum: Der Islam im Diskurs der Muslime in Bosnien-Herzegowina, o. Autor, in URL: www.politik-kultur.de/ Texte/Der%20Islam%20in%20Bosnien_.pdf vom 16.07.2010.

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Wesenskern einer bosnischen Nation mit antiserbischen und antikroatischen Elementen. Als der Bosnienkrieg und die sexualisierte Gewalt einsetzten, gab es in Bosnien ein „Muslimanstvo“, das sich in den Kontexten des allgemeinen Patriarchalismus der Region und des jugoslawischen Sozialismus gebildet hatte. Schuldzuweisungen an Frauen, die eine Vergewaltigung erlitten und überlebt haben, ist zunächst eine patriarchal begründete Reaktion, eine soziokulturelle Lebenspraxis, in die der Islam bosnischer Prägung Eingang fand. Sie wurzelt daher in einer Mischung aus der zunächst vom jugoslawischen Sozialismus domestizierten patriarchalen Kultur, dem bosnischen Islam und dem jahrhundertelangen Zusammenleben der drei Konfessionen der Kroaten, Serben und Muslime in Bosnien, also in der spezifischen Identität von Konfession und Nationalität in Bosnien und Herzegowina. Es ist daher die patriarchale Struktur der Kultur, die allen Konfessionen bzw. Nationalitäten in Abhängigkeit von soziologischen Faktoren in dieser Region gemeinsam ist, und die daraus resultierende Sozialisation, die Einstellung und Verhalten prägen. Zu dieser Grundeinstellung gehört auch das Bedürfnis in der Region, mit Hilfe der jeweiligen Konfession unüberwindliche Antagonismen zu konstruieren, die ihre Form und Dynamik aus der gemeinsamen Mentalität gewinnen. Die Stellung der Frau in der patriarchalen Familie auf dem Balkan beschreibt Ulf Brunnbauer als Anpassung an eine vollkommen von Männern strukturierte Gesellschaft, in der sie dem Mann als Vater, Ehemann und Bruder grundsätzlich nach- und untergeordnet ist. Die Frauen heiraten in der Regel in den Haushalt des Schwiegervaters ein und verfügen über kein eigenes Eigentum. Sie sind für den Haushalt zuständig und darüber hinaus auch in Ackerbau und Hausindustrie tätig. Jungfräulichkeit bei Eheantritt und die Geburt von Söhnen sind überaus wichtig.25 Besonders in der islamischen Gesellschaft kann eine starke Trennung der männlichen und weiblichen Lebenssphären angetroffen werden, in der die Frauen vor der Öffentlichkeit verborgen leben.

25 Vgl. Familie und Geschlechterbeziehungen auf dem Balkan, 2005, S. 8, in URL: http://userpage.fu-berlin.de/~ulf/balkan.pdf vom 16.07.2010.

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Bis heute gehört es zum Verhaltenskodex der weiblichen Nachkommenschaft in den ländlichen Gegenden, auf das ihnen per Gesetz zustehende Erbteil zugunsten von Brüdern zu verzichten. Die Praxis des Islam war im sozialistischen Jugoslawien nicht besonders ausgeprägt, und viele der im Bosnienkrieg vergewaltigten Frauen hatten ihn als Religion nie verinnerlicht, umso mehr jedoch die patriarchale Struktur ihrer Kultur. Sie fühlten sich von der sexualisierten Gewalt deshalb nicht so sehr in ihrer Religion als vielmehr in ihrer nationalen und weiblichen Identität verletzt. Weitaus am häufigsten waren die bosnisch-muslimischen Frauen von sexualisierter Gewalt betroffen, denn aus der Sicht des Aggressors ging es nicht nur um die „ethnische Säuberung“ begehrter Gebiete oder ein Instrument des Völkermords, sondern auch um Rache für die vermeintliche Schuld an der 500 Jahre währenden osmanischen Okkupation Bosniens und für den „Verrat“ am richtigen Glauben, sei er katholisch oder orthodox. Nach dem Bosnienkrieg haben sich trotz aller gegenteiligen Absichtserklärungen die traditionellen patriarchalen Strukturen wieder verfestigt, die von der Stärkung des Islam in Bosnien profitieren. Hierüber gibt es in der bosnischen Gesellschaft kaum kritische Reflexionen. Stattdessen ist zum Beispiel ein signifikanter Anstieg des Frauenhandels und der häuslichen Gewalt zu beklagen, der sein Gewaltpotential u.a. auch aus Alkoholismus, Hoffnungslosigkeit, posttraumatischen Belastungen und schwierigen wirtschaftlichen Situationen schöpft. Der Islam gewinnt seine Haltung gegenüber der Frau aus zwei Quellen, dem Koran und der Überlieferung. In der gesellschaftlichen und häuslichen Praxis spielt die Tradition der jeweiligen Gesellschaft die entscheidende Rolle.26 Die Allianz aus Islam und Tradition stellt die Männer über die Frauen, die in der Ehe ihre Sexualität vertraglich veräußern und ihren Unterhalt mit Gehorsam und Exklusivität abgelten. Während die Männer ein Anrecht auf die ausschließliche Liebe

26 Vgl. Schirrmacher, Christine: „Die Rolle der Frau im Islam“, MBS Texte 21, 1. Jg. 2004, in URL: http://www.contra-mundum.org/schirrmacher/mb stexte021.pdf vom 20.07.2010.

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und Ergebenheit der Frau besitzen, verfügt die Frau nur über das Anrecht auf Versorgung. Kinder gehören dem Mann und seiner Familie. Die Familienehre, deren Trägerin die Frau ist, gilt mehr als das Leben und Wohl der Familienmitglieder. Da die Natur der Frau als zerstörerisch gilt und ihr die Schuld am Unheil in der Welt angelastet wird, entfalten diese überall verbreiteten Stereotypen ihre Wirkung 27 und setzen die Frauen unter einen permanenten Druck, durch ihr Verhalten zu beweisen, dass sie nicht so ist. Der internalisierte Kodex gilt auch heute noch in den ländlichen Gegenden, obwohl dort der Islam immer noch keine besondere Rolle spielt, und macht die Frauen zu einem Besitz der Männer, die zum Beispiel auch über häusliche Gewalt zu schweigen haben. Die Botschaft des Vergewaltigers im Bosnienkrieg lautete daher ehrabschneidend: Schaut her, was wir mit eurem Besitz anstellen. Ihr seid Schlappschwänze und schafft es nicht, eure Frauen im Griff zu haben und zu schützen. Ihr taugt nichts, weil eure Frauen Schande bringen und fallt der Ächtung anheim. Die vom Aggressor kalkulierte Reaktion besteht in der Flucht aus den Gebieten, in denen das geschehen ist (ethnische Säuberung) und in der Entfernung bzw. Tabuisierung der Schande, die den Umgang mit den vergewaltigten Frauen ohne Rücksicht auf persönliche Beziehungen festlegt. Das Ergebnis ist die Zerstörung der Familienverbände bzw. als Alternative das Schweigen. Männer, die sexualisierte Gewalt erleiden mussten, unterliegen dagegen nicht dieser Behandlung, da sie ihre Familie nicht entehren. Sie werden deshalb nicht verstoßen oder von einem Tabu umgeben. Auch unterstellt man ihnen keine Einwilligung, und sie gelten nicht als unverheiratbar. Diese Strukturen bringen eine Scham- und Schuldkultur hervor, die auch im Islam der arabischen Welt ihren Ursprung in der Überlieferung hat, aber die Praxis der Auslegung des Korans und den sozialen Lebensvollzug prägt. Daraus ergibt sich für die vergewaltigten Frauen eine ausweglose Situation, die so hoffnungslos ist, dass sich sogar po-

27 Gopal, Jaya: Gabriels Einflüsterungen, Freiburg 2004 (= Unerwünschte Bücher zur Kirchen- und Religionsgeschichte, Bd 5).

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litische und religiöse Autoritäten der islamischen Gemeinde zu Wort meldeten, um die verheerenden Folgen für die Gesellschaft abzufedern. Der einzige Ausweg, der sich in diesem kulturellen Diskurs für die geschädigten Frauen eröffnet und, wenn überhaupt, einen Verbleib im Familienverband ermöglich hat, ist das konsequente Schweigen. Denn nur dieses erfüllt die wichtigste Regel der kulturellen Gemeinschaft, das Gesicht und die Ehre zu wahren. Da die Gesellschaft über das angemessene Verhalten urteilt und die Ehre des Mannes sich nicht aus seinem eigenen Verhalten ergibt, sondern daraus, inwiefern er das Verhalten der Frauen seiner Familie gemäß den Werten kontrolliert, liegt die Kunst in der Wahrung des Anscheins. Die Öffentlichkeit der Regelverletzung und nicht diese selbst ist daher die wichtigste Bedingung für den Ehrverlust, der erst dann zur Ächtung der betroffenen Männer und Familien führt, wenn er bekannt wird. Somit stellt der Verbund aus Scham (Verschwiegenheit) und Ehre das Sozialkapital dar, für dessen Wahrung im schlimmsten Fall Verstoßung und Tötung der Frau und als Ausweg aus dieser Sackgasse das Schweigen die geeignete Methode ist. Dieser Ausweg wurde in Bosnien oft gewählt. Schweigen wird für die Männer, Frauen und Familien zur Überlebensstrategie, die gleichzeitig die Gültigkeit des kulturellen Paradigmas immer weiter prolongiert. Diese Struktur hat die Psychologie der vergewaltigten Frauen geformt. Äußerlich und innerlich destabilisiert, ohne Diskurs, ihr Leid auszudrücken und unter dem Verdikt des Schweigens sind sie schutzlos der in ihnen selbst wirksamen Zensur ausgeliefert, die auch durch Schweigen nicht überlistet werden kann. Traumatische Vergangenheit und lähmende Gegenwart gehen darüber hinaus in der Gesellschaft Bosniens eine Verbindung mit dem traditionellen Fatalismus ein, dessen paradoxes Verhältnis zu den rigiden Werten und Verhaltensregeln der Gemeinschaft bisher nicht reflektiert wird. Alija Izetbegović sagte bereits 1993 in einem Interview

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mit dem Spiegel: „Der Krieg war vorherbestimmt, er war unser Schicksal“.28 Auch der Wille, eine Öffentlichkeit herzustellen und moderne Werte westlichen Zuschnitts an das Geschehen anzulegen, kommt ohne fatalistische Rückbezüge auf den Willen Gottes nicht aus: „Bog je htio da one bude prvi nosioci borbe među ženama. One su baštinici ponosa“.29

3. F REMDE S TIMMEN Das Vakuum des Schweigens in Bosnien kann als eine Herausforderung an Publizistik, Wissenschaft, Kunst und Literatur wirken, es mit Stimmen zu füllen. Wenn gleichzeitig der Anspruch entwickelt wird, bessere Diskurse anzubieten und Vorbild zu sein, ergeben sich weitere Probleme, die in der Instrumentalisierung des Geschehens für fremde Diskurse wurzeln und sich analog zur Enteignung des Subjektstatus der Frauen durch die männlichen Interessen und Machtansprüche in ihrer eigenen Kultur entfalten können. Der Wunsch, denen, die nicht reden, eine Stimme zu geben oder sie zum Reden zu ermutigen, mündete in Zeugenaussagen und Selbstberichte. Er trifft auf die Notwendigkeit, die Tragödie der einzelnen Frau im Kontext der sie von außen und innen umgebenden Struktur wahrzunehmen, ihr Ausdruck zu verleihen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Eine Transformation der Kultur kann jedoch durch die Offenlegung von „Schande“ nicht einfach erreicht werden, aber die Desexualisierung der Vergewaltigung30 kann ein erster Schritt sein, sich dem Tabu zu nähern. Monika Hauser, die Gründerin von Medica mondiale, erkennt in diesem Tabu die Enteignung der Frauen: „Beides, der sexu-

28 „Die Säuberungen sind praktisch vollendet“, in: Der Spiegel 14 vom 05.04.1993 (www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679748.html vom 04.05. 2011). 29 T. Mirsad: The Sin of silence - Risk of Speech/Grijeh šutnje-rizik govora, S. 38. 30 Vgl. R. Seifert: Krieg und Vergewaltigung.

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alisierte Gewaltakt wie die Ächtung des Opfers, beruht letztendlich auf dem bewussten oder unbewussten patriarchalen Glaubensbekenntnis männlicher Eigentumsrechte am weiblichen Körper. So verwandelt sich ein Angriff gegen Frauen in einen Angriff auf männliches Eigentum und Ehre“.31 Die Tragödie der bosnischen Frauen belegt das Versagen der patriarchalen Kultur in der Region, mit Katastrophen umzugehen und die Zukunft zu gestalten. Die Kultur kann bisher jedoch den Teufelskreis der ihre Grundlagen bildenden unlösbaren Paradoxien nicht verlassen, da sie weder reflektiert noch artikuliert und den Frauen den Subjektstatus vorenthält. So kollidiert der Ehrverlust der Frauen weiter unreflektiert mit dem Willen Gottes, die strenge Regel mit der Lüge, die männliche Gewalt mit der männlichen Gewalt, die Viktimisierung mit Schuld. Die Frauen bleiben in unlösbaren Situationen (double binds) gefangen. Die Vergewaltigung hat ihnen häufig ein Kind gebracht, das sie hassen und lieben müssen. Ihnen ist Gewalt geschehen, und sie werden von innen und außen dafür schuldig gesprochen. Sie müssen schweigen und sind doch einem ständigen inneren Richter ausgeliefert. Die im Krieg vergewaltigte Frau braucht Artikulation und Hilfe, die es in ihrem Umfeld nicht gibt. Hoffnung scheint nur da auf, wo gleichzeitig das größte Entsetzen lauert, nämlich in der Wahrnehmung, wie sie sich selbst fühlt und welcher Weg sich daraus für sie eröffnen kann. Auf ihren Schultern liegt heute die Last, die kulturelle Heimat zu verlassen und ihre Geschichte als eine andere Geschichte zu erzählen (Reframing). In ihren Händen liegt der Anstoß zur Transformation der Kultur in der Region. Bisher ist die patriarchale Kultur in der Region von einer Kapitulation weit entfernt. Umso mehr Bedeutung bekommt die fremde Stimme, die sich für die erhebt, die noch nicht sprechen können, ohne das Schweigen zu überschreien.

31 M. Hauser: Dankesrede.

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4. L EILA 32 Leila ist die von der Journalistin Cavelius aufgezeichnete Geschichte eines Mädchens, das mit 15 Jahren durch den Verrat einer Tante in die Vergewaltigungsmaschinerie in Bosnien geriet und nach jahrelangem Martyrium den Weg zurück ins Leben und in die Kommunikation mit Menschen sucht. Das Buch ermutigt eine betroffene Frau zum Sprechen, eröffnet ihrer Geschichte den Kommunikationsraum eines Buches und seiner Leser und bietet gleichzeitig Schutz. Denn die Journalistin zeichnet das Sprechen von Leila auf und präsentiert es unter ihrem eigenen Namen wie einen Roman. Sie tritt somit als Vermittlerin auf und gestaltet den Idealfall, über literarisches Sprechen ein Opfer sprechen zu lassen und ihm damit Subjektstatus und Würde zu verleihen. Die entstandene Textsorte steht zwischen autobiographischem Bericht, Roman und Zeugenaussage. Sie montiert Texte aus dem Tagebuch der Mutter in die Erzählung der Tochter. Das Besondere an der Geschichte ist die Einbettung des Geschehens in das Leben dieses Mädchens, das seine eigenen Gefühle beschreibt und sich zurück ins Leben kämpft. Leilas Geschichte erreicht besonders dann eine beeindruckende Metaebene der Reflexion und Bewusstheit, wenn sie ein anschauliches Bild der verworrenen Verhältnisse im Bosnienkrieg, dessen Front überall war, zeichnet und zeigt, dass alle Kriegsparteien während des Zusammenbruchs der Ordnung sexualisierte Gewalt anwendeten. So wird sichtbar, wie Gewalt und Zartheit, Gut und Böse nicht auf Nationalität und Geschlecht, sondern auf einzelne Menschen verteilt und von seiner individuellen Wahl abhängig ist. Das Buch berichtet außerdem über die Wirkung des kulturellen Paradigmas, denn seine Gewalt und Wirkung dauern auch nach dem Ende von Gefangenschaft und Vergewaltigung in Leilas Leben an. In der Dynamik zwischen Vitalität und Ohnmacht entwickelt ihr Sehnsuchtsbild, ein ganz normales Leben als Frau mit einem Mann führen und eine Familie haben zu können, die Kraft des Orientierungsgebers.

32 A. Cavelius: Leila.

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Überzeugend gelingt die Beschreibung der Sprachlosigkeit, die sie von ihren nächsten Menschen trennt, obwohl die Erinnerung an die Liebe der Mutter Leila seelisch am Leben erhalten und die Liebe von Ratko sie konkret aus dem Horror befreit hat. Als sie zum ersten Mal wieder mit der Mutter sprechen und ihr mitteilen kann, dass sie schwanger ist, fühlt sie die Ohnmacht und Unfähigkeit, sich mitzuteilen: „Eine Stunde hatte unser Gespräch gedauert, und wir hatten uns nichts gesagt. Es war furchtbar!“33 Das Buch stellt die zerstörerische Wirkung des Schweigens auf die Seele der Frau und ihre Beziehungen dar, indem es dieses Schweigen im Medium der Literatur und über die Vermittlung einer anderen Frau überwindet. Vermittlung, Ermutigung, Schutz und Zuhören werden als Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Kommunikation sichtbar, denn Leila kann nicht einfach direkt zu ihrer Mutter oder zu dem Mann, der sie liebt, über die Wahrheit sprechen. Die Geschichte zeigt die Bedeutung, die Familie und Kommunikation auf dem Weg zurück ins Leben haben und wie sehr das Sprechen die Voraussetzung für die Fähigkeit des Zusammenlebens von Menschen ist. Leila wächst im Raum des Buches über die Sprachlosigkeit gegenüber der Mutter hinaus, jedoch nicht gegenüber dem Mann, obwohl er in sich die Gewaltsamkeit der patriarchalen Kultur überwunden hat. Sie selbst kann diese Gewalt jedoch noch nicht überwinden. Das trennt das Paar, aber zerstört nicht die Hoffnung. Leila kann also im Medium der Literatur zu Wort kommen und den inneren Ort beschreiben, an dem sie und die patriarchale Kultur sowie ihr Sprechen und ihr Schweigen gleichzeitig anwesend sind. Hier entfalten die typischen Ängste von Frauen ihre lähmende Wirkung, die auch dann anhält, die Worte raubt und von anderen Menschen trennt, wenn Menschen da sind, die lieben und zuhören wie die Mutter und der serbische Mann, der sie aus der Vergewaltigungsmaschinerie holte, mit dem sie ein Kind hat und der geduldig auf sie wartet. Auch wenn Leila ihm das Geschehene nicht erzählen kann, so

33 Ebd., S. 169.

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kann sie ihre Geschichte zumindest im Buch erzählen und dabei auch ihre Angst beschreiben, das Schweigen zu brechen.34 Leila kommuniziert also die inneren Schrecken einer patriarchal geprägten Frau, die meistens vom Schweigen bedeckt bleiben. Sie wird gequält von Selbstzweifeln und negativen Gedanken, dass sie sich vielleicht hätte wehren können, dass alles nicht so schlimm sei, dass der Mann, dem sie alles erzählen würde, ihr die Schuld geben würde, sie nicht mehr daran glaube, ein normales Kind gebären zu können, sie überhaupt kein Mädchen gebären wolle, dem solches Leid wie ihr widerfahren könnte, sie zur Außenseiterin geworden und nicht mehr gesellschaftsfähig sei und keinen Ort mehr finden würde, an dem sie leben könnte. Häufig fühlt sich Leila beherrscht vom typischen Gefühl der Erstarrung. Ihre Geschichte eröffnet ein Paradigma für das Brechen des Schweigens und die Wiederaufnahme von Kommunikation. Sie schildert umfassend das Schicksal vieler Frauen und die Feindseligkeit der Umwelt gegenüber dem Sprechen. Als Leila vor Gericht aussagen will, ein Beweis großen Muts, erleidet sie einen erneuten Angriff auf Leib und Leben und verfällt wieder in Schweigen, dessen Ende offen bleibt. Das Buch setzt insofern Maßstäbe, als es zeigt, wie die schweigenden Frauen zum Sprechen ermutigt werden können, und welche Rolle die Literatur als Vermittlerin und Raum für das Finden von Sprache für das Unsagbare spielt. Die Geschichte von Leila erzählt umfassend über die von der patriarchalen Kultur im Krieg geschaffene Welt aus der emotionalen Perspektive einer betroffenen Frau und ist damit eine richtungsweisende Ausnahmeerscheinung, die zeigt, dass und wie Sprechen möglich wird. Leilas Geschichte spiegelt in einem individuellen Schicksal, was diese, alle Kriegsparteien prägende Mentalität mit den Menschen, Frauen, Kindern und Männern macht. Das Buch erzählt gleichzeitig diese Geschichte und das über sie gebreitete Schweigen. Auch wenn die Frauen zu Opfer werden und ihre Geschichten schrecklich sind, sind doch auch sie am Erhalt der kulturellen Struktur beteiligt, wenn sie das alles verinnerlichen. Das Buch bietet Hoffnung

34 Ebd., passim.

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und Ansätze zu einer Lösung, die immer im einzelnen Menschen beginnt und das Schweigen überwindet. Dem Buch ist es, wie zahlreiche Rezensionen von Lesern und Kritikern zeigen, gelungen, eine verstummte, für viele Frauen stehende Stimme wieder zum Leben zu erwecken, die zahlreiche Leser tief berührt und Interesse am Schicksal dieser Frauen hervorruft. Es entstanden noch weitere Bücher, die das Schweigen überwinden und sich durch das Textverfahren auszeichnen, in dem ein anderer Autor seine Stimme für die Verstummten erhebt und ihr Sprechen unter seinen Schutz stellt: Am Ende wünschst Du dir nur noch den Tod, 1993; Massenvergewaltigung, 1993; Am Anfang war die Wut, 1997; Ich flehte um meinen Tod.35

5. G EGENBILDER Eine nachhaltige Änderung der Kultur kann erhofft werden, wenn einzelne Menschen den Diskurs ihrer Kultur verlassen oder transformieren. Die internationalen und bosnischen Frauenorganisationen sowie andere Organisationen bieten dabei ihre Unterstützung an. Von größter Bedeutung ist, wenn es unmittelbar betroffene Menschen mit Hilfe dieser Vermittlungen wagen, ihr Schweigen zu brechen und sich außerhalb ihrer sie prägenden Diskurse auszudrücken. Das Sprechen und Zuhören findet im Medium der Literatur einen Ort und kann zum Hoffnungsträger werden. Ratko schreibt in seinem Gedicht an Leila: „Ich wünsche mir so schmerzlich, dich wiederzusehen, deine Stimme zu hören. Aber es läßt sich nicht ändern: Du bist so

35 Hier noch einmal die vollständigen bibliographischen Angaben: Welser, Maria von: Am Ende wünscht du dir nur noch den Tod. Die Massenvergewaltigungen im Krieg auf dem Balkan, München 1993; Stiglmayer, Alexandra (Hg.): Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen, Frankfurt a. M. 1993; Fischer, Erica: Am Anfang war die Wut. Monika Hauser und Medica mondiale. Ein Frauenprojekt im Krieg, Köln 1997; Centar za istraživanje i dokumentaciju (Hg.): Ich flehte um meinen Tod. Verbrechen an Frauen in Bosnien-Herzegowina. Erstes Buch, Sarajevo 2000.

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weit weg von mir“.36 Leila erhofft sich in der Überwindung ihrer Sprachlosigkeit eine Chance, von der sie nicht weiß, ob sie sie trotz ihrer Sehnsucht danach auch gegenüber den Menschen ergreifen kann, die ihr nahe stehen. Sie schließt ihre Geschichte mit den Worten: „Wenn wir tatsächlich irgendwann zusammenleben sollten, werde ich ihm die ganze Wahrheit über mich erzählen. Vielleicht können wir uns dann lieben.“37 Ich selbst wurde im Jahr 2000 Zeugin, wie eine Mutter das Tabu des Schweigens vor den bosnischen und internationalen Teilnehmern eines Kongresses in Bihać brach und wie skandalös ihr Schreien und Weinen in der Leichenhalle von Sanski Most vor den Knochen ihrer Tochter zunächst wirkte, sodass alle Kameraleute dorthin eilten, wo sie kniete und schrie. Wir hatten die Massengräber bei Bihać besucht und befanden uns in der Leichenhalle mit den skelettierten Überresten von über 200 Toten, die auf ihre Identifizierung warteten oder eben erst identifiziert worden waren. Der Geruch in der Halle war wie ein Echo des Verwesungsgeruchs, die weißen Leichensäcke lagen zum Teil geöffnet da, und die Knochen waren auf ihnen angeordnet. Vor ihnen lag häufig ärmliche Kleidung, ein Shirt, ein Rock, Plastiksandalen. Da erhob sich plötzlich eine laute weinende Frauenstimme, die gleichzeitig voll Zorn war. Die Frau war mir schon vorher im Bus aufgefallen, ungefähr 50 Jahre alt, eine Frau vom Dorf, mit einem Kunstseidenschal um den Kopf. Neben ihr stand eine junge Frau, eine Schönheit, hoch und schlank, dunkel mit starren Augen in einem verstörten Gesicht, versteinert. Die Frau kniete vor einem der Knochensäcke, den sie geöffnet hatte, und hielt einen zierlichen Schädel in die Höhe, in dem ein kleines Loch klaffte. Sie schrie: „Das ist meine Tochter Edna. Sie war 22. Sie wurde von serbischen Männern aus dem Bus geholt, in eine Kaserne verschleppt, dort sechs Wochen gefoltert und dann ermordet.“ Das Wort Vergewaltigung gebrauchte sie nicht. Neben ihr stand die stumme Schönheit mit den verstörten Augen, die Hände zum Himmel gehoben, die Lippen lautlos bewegend. Als die Kameras hatten, was sie wollten, zerstreuten sich die Leute. Die Frau legte den Kopf zu

36 A. Cavelius, Leila, S. 7. 37 Ebd., S. 234.

V ERGEWALTIGUNG

ALS

K OMMUNIKATION ZWISCHEN M ÄNNERN

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den Knochen, schloss den Reißverschluss um den weißen Leichensack und strich darüber, als würde sie die Bettdecke auf ihrem Kind glattstreichen. Diese Frau hatte vor einer Öffentlichkeit das Tabu gebrochen und der Liebe zu ihrer Tochter den Vorrang vor dem Gebot der Kultur gegeben. Doch die Kameras gingen wieder und ließen die Frau in ihrer Situation zurück. Die patriarchale Kultur in der Region bietet kaum Alternativen und macht keine Anstalten, sich zu transformieren, und dennoch gab es in der Literatur schon früher die Vision eines gewaltfreien Zusammenlebens aller Menschen in Bosnien, die auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern umfasste. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erlangte die Dichtung des bosnischen Dichters Mak Dizdar eine enorme Popularität in Jugoslawien. Sie griff den Mythos der Bogumilen als der Vorfahren der heutigen Bewohner Bosniens auf und erschuf mit dem Steinernen Schläfer (Kameni spavač) den Schläfer unter dem Stein, ein melancholisches Sehnsuchtsbild des einen und wahren Bosniens, als dessen Zeugnis Mak Dizdar die vielen alten Grabsteine besang, die mit und ohne Reliefs und manchmal mit einer Inschrift in der Landschaft stehen. Mit ihrer Hilfe formte er ein Bild jenseits aller patriarchalen und konfessionell-nationalistischen Antagonismen.

G ORČIN ,

DER

B ITTERE

Hier ruht Gorčin der Soldat, in eigener Erde, aber auf fremdem Erbe. Ich lebte, und dennoch beschwor ich den Tod Tag und Nacht. Ich zertrat keine Ameise, und doch ging ich zu den Soldaten

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Ich nahm teil an fünf und nochmal fünf Feldzügen ohne Schild und Panzer, damit einmal ein Ende nähmen die Bitternisse. Ein seltsames Leid fällte mich Von der Lanze nicht durchstoßen, vom Pfeil nicht getroffen, vom Säbel nicht zerhauen, wurde ich von einem nicht verschmerzbaren Leid gefällt. Ich liebe, aber mein Mädchen raubten sie in die Sklaverei Wenn Ihr Kosara begegnet auf den Wegen des Herrn, dann bitte ich, sagt ihr von meiner Treue (Gorčin, 1954)38

38 Vgl. hierzu Elisabeth von Erdmann: „Marmor als Memoria. Die Dichtung von Mak Dizdar und das Rätsel Bosnien“, in: Mácha, Karel (Hg.): Das slawische Phänomen. FS für Antonín Měšt’an zu seinem 65. Geburtstag, Prag: Euroslavica 1996, 25-56. Das Gedicht ist auf Seite 41 f. abgedruckt und von mir übersetzt worden.

„Glück“ (2009) Eine Skizze zu Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte mit einem Blick auf den gleichnamigen Spielfilm von Doris Dörrie (2011) M ARIJANA E RSTIĆ

Das Thema des nachfolgenden Beitrages ist die Kurzgeschichte „Glück“ des deutschen Erfolgsautors Ferdinand von Schirach aus seinem im Jahr 2009 erschienenen Kurzgeschichtenband Verbrechen, das die Bestsellerlisten im Sturm eroberte.1 Die auch von der Kritik wohlwollend aufgenommenen Geschichten von Schirachs mussten nicht lange auf ihre filmische Umsetzung warten – der erste in der Reihe der angekündigten Filme ist der 2011 fertiggestellte Film G LÜCK von Doris Dörrie.2 Der vorliegende Beitrag geht dem Text und dem Film nach, wobei der Fokus auf der Kurzgeschichte liegt.

1

Ferdinand von Schirach: „Glück“. In: ders.: Verbrechen, München/Zürich 2010, S. 75-87, die Seitenangaben zu den Zitaten im Folgenden abgekürzt in Klammern im Fließtext. Als eine der vielen Rezensionen vgl.: Adam Soboczynski: „Täter wie wir. Wie schuldig ist Ferdinand von Schirach? Eine Begegnung – und eine Untersuchung seines neuen Buches“, in: Zeit online, in URL: http://www.zeit.de/2010/31/L-B-Schirach vom 06.04. 2012).

2

GLÜCK, D 2011, Reg.: Doris Dörrie.

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„Glück“ handelt nicht wirklich von einem Mädchen aus Bosnien. „Glück“ erzählt das Schicksal einer jungen Frau aus Osteuropa. Sie ist erst neunzehn Jahre alt und bevor sie in Deutschland eintrifft, entwirft sie als Näherin in ihrem Skizzenbuch oft und gerne Kleidungsstücke. Doch in ihrem Land herrscht Krieg – es könnte also Bosnien sein3, aber auch ein Land auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, um dem Namen der jungen Frau nach zu urteilen – Irina. Das epische Präteritum, in dem die Geschichte durchgehend verfasst ist, deutet darauf hin, dass es sich um die Vergangenheit handelt. Die erzählte Handlung wiederum mutet sehr aktuell an, mehr als ein, zwei Jahrzehnte kann die Geschichte nicht alt sein. Also kämen beide Länder in Frage. Doch letztlich ist die Frage nach dem Ursprungsland irrelevant, da bereits die Handlung eine Allgemeingültigkeit besitzt, die sie in einen Dialog mit den fiktionalen wie dokumentarischen Schilderungen des Frauenschicksals im und kurz nach dem Krieg setzt, der hier immer wieder sehr bewusst intoniert scheint. So geschieht auch in der Geschichte „Glück“, die sich an realen Fällen des Juristen und Verteidigers von Schirach orientiert haben soll4, jenes, was im Krieg häufig passiert. Irinas wohl einziges Familienmitglied, ihr Bruder, wird ermordet, sie selbst missbraucht.5

3

Zu den historischen und medialen Aspekten des Bosnienkrieges vgl. die Aufsätze von Dunja Melčić: „Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien. Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung der Massenvergewaltigung“, im vorliegenden Band sowie von Ludwig Steindorff: „Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Mehr als Konkurrenz der Erinnerungen“, im vorliegenden Band.

4

So von Schirach selbst in einigen Interviews, z.B. unter dem folgenden Link des Radiosenders Bayern 2: Matthias Dänzer-Vanotti: „Zum Filmstart von ‚Glück‘. Interview mit Autor Ferdinand von Schirach“, in: Bayern 2, in URL: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowelt/ gespraech-mit-ferdinand-von-schirach-zum-filmstart-von-glueck100.html vom 05.04.2012.

5

Die angedeutete Bruder-Schwester-Beziehung lässt an dieser Stelle an Antigone denken, aber auch an das Schicksal der Männer und Frauen, Brüder und Schwester von Katyń. Vgl. dazu den Aufsatz von Natasza

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An einem Wochenende fuhr sie zu ihrem Bruder aufs Land. Er hatte den elterlichen Hof übernommen und war deshalb vom Militär freigestellt worden. Sie überredete ihn, zu dem kleinen See zu gehen, der an den Hof grenzte. Sie saßen in der Nachmittagssonne auf dem Bootssteg, Irina erzählte von ihren Plänen und zeigte ihm das Heft mit ihren neuen Entwürfen. Er freute sich und legte ihr den Arm um die Schulter. Als sie zurückkamen, standen die Soldaten auf dem Hof. Sie erschossen ihren Bruder und vergewaltigten Irina. Sie machten es in dieser Reihenfolge. Die Soldaten waren zu viert. Einer spuckte ihr ins Gesicht, während er auf ihr lag. Er nannte sie eine Hure und schlug ihr auf die Augen. Danach wehrte sie sich nicht mehr. Als sie gingen, blieb sie auf dem Küchentisch liegen. Sie wickelte sich in die rot-weiße Tischdecke und schloss die Augen. Sie hoffte, es wäre für immer. (S. 77)

Irina versucht einen Selbstmord, flieht nach seinem Misslingen nach Deutschland, nach Berlin, wird dort Prostituierte, einer ihrer Kunden ist ein korpulenter Politiker, ein „Abgeordneter auf einem mittleren Listenplatz“ (S. 75). Wie eine Frau in Deutschland, also im Frieden, das Los einer Prostituierten mit sich tragen kann, die im Krieg den Mord am eigenen Bruder erlebt hat und danach brutal vergewaltigt worden ist, wird – wie auch alles andere in der Geschichte von Schirachs – ohne Metaphern und lakonisch skizziert: In den nächsten Monaten lernte sie andere Frauen und Männer aus ihrer Heimat kennen. Sie erklärten ihr Berlin, die Behörden und die Gesetze. Irina brauchte Geld. Legal durfte sie nicht arbeiten, sie durfte noch nicht einmal in Deutschland sein. Die Frauen halfen ihr in den ersten Wochen. Sie stand an der Kurfürstenstraße, sie lernte die Preise für Oral- und Vaginalverkehr. Ihr Körper war ihr fremd geworden, sie benutzte ihn wie ein Werkzeug, sie wollte weiterleben, auch wenn sie nicht wusste, wozu. Sie spürte sich nicht mehr. (S. 78f.)

Stelmaszyk: „Die Antigone von Katyń. Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film DAS MASSAKER VON KATYŃ“, im vorliegenden Band.

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Die Ausdrücke – „ihr Körper war ihr fremd geworden“ und „Sie spürte sich nicht mehr“ – bringen in spärlicher Form all jenes zum Vorschein, was die Schilderungen des Missbrauchs immer wieder versuchten, wie beispielswiese unsentimental in Eine Frau in Berlin6 oder Leila – ein Mädchen aus Bosnien7, und was sich im Ausdruck Als gäbe es mich nicht Slavenka Drakulićs8 pointiert und pathetisch wiederfindet – eine Trennung von Körper und Seele, die nötig ist, um äußerste Erniedrigung, Schmerz und Demütigung zu überstehen. Bei von Schirach ist diese Trennung notwendig, damit Irina als Prostituierte funktioniert und damit sie auch im Frieden, in Berlin, überleben kann. Mehr ist als Hinweis gar nicht nötig. Es reicht, um jene verknappte Ästhetisierungsform zu inszenieren, die Karl-Heinz Bohrer als ‚Ästhetik des Schreckens‘ immer wieder gedeutet und interpretiert hat.9 Die „Intensität“ und die „Rhetorik der extremen Gefühlszustände“, die die ‚Ästhetik des Schreckens‘ auszeichnen soll10, kommen in der Geschichte „Glück“ in karger und umso wirksamerer Form vor, löst doch gerade diese Form, angekoppelt an die bisweilen überraschende Geschichte, bei jeder Leserin und jedem Leser eigene Bilder des Schreckens aus. In diesen literarisch produzierten Schrecken, in die Tristesse und den Überlebenskampf mischen sich jedoch im Verlauf der

6

Vgl. den Aufsatz von Walburga Hülk und Gregor Schuhen: „Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein? Max Färberböcks ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN (2008)“, im vorliegenden Band. Kontrastiv dazu vgl. den Aufsatz von Britta Künkel: „BERLIN `36. Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und die filmische Umsetzung“, im vorliegenden Band.

7

Vgl. den Aufsatz Elisabeth von Erdmann: „Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern. Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur“, im vorliegenden Band.

8

Vgl. den Aufsatz von Slavija Kabić: „‚Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘: Menschlichkeit und Bestialität im Roman ‚Als gäbe es mich nicht‘ von Slavenka Drakulić“, im vorliegenden Band.

9

Vgl. Karl Heinz Bohrer: Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978 sowie ders.: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München 2004.

10 Bohrer: Imaginationen des Bösen, S. 215.

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Handlung zartere Töne ein, freundet sich doch Irina mit einem anderen Außenseiter, mit dem jungen Obdachlosen Kalle an: „Er saß jeden Tag auf dem Bürgersteig. Sie sah ihn, wenn sie zu den Männern ins Auto stieg, und sie sah ihn, wenn sie morgens nach Hause ging. Er hatte einen Plastikbecher vor sich gestellt, in den Leute manchmal Geld schmissen. Sie gewöhnte sich an seinen Anblick, er war immer da. Er lächelte ihr zu – nach ein paar Wochen lächelte sie zurück. Als der Winter begann, brachte Irina ihm eine Decke aus einem Secondhandladen. Er freute sich. ‚Ich heiße Kalle‘, sagte er und ließ seinen Hund auf der Decke sitzen. Er wickelte ihn ein und kraulte ihn hinter den Ohren, während er sich selbst wieder auf ein paar Zeitungen hockte. Kalle trug dünne Hosen, er fror, während er den Hund wärmte. Irina zitterten die Beine, sie ging schnell weiter. Sie setzte sich auf eine Bank um die Ecke, zog die Knie an und vergrub ihren Kopf. Sie war 19 Jahre alt, und seit einem Jahr hatte niemand sie umarmt. Sie weinte zum ersten Mal seit jenem Nachmittag in ihrer Heimat.“ (S. 79)

Während der ersten zaghaften Annäherung entsteht eine Analogie aber auch ein Kontrast zu den zumeist schmucklosen und dennoch durch den Sonnenschein, die Gesten und Berührungen äußerst friedlichen und kontemplativen Szenen mit dem Bruder am See. Während am See eine brüderliche Umarmung stattfindet, scheint in Berlin die Atmosphäre zunächst winterlich kalt, hart und rau. Weitere Vorboten des gemeinsamen Glücks sind Tod und Trauer: Irina und Kalle werden ein Paar, nachdem Kalles geliebter Hund von einem Auto erfasst worden ist: „Als ein Hund überfahren wurde, stand sie auf der anderen Straßenseite. Sie sah Kalle in Zeitlupe über die Straße rennen, er fiel vor dem Wagen auf die Knie. Er hob den Hund auf. Der Autofahrer schrie ihm nach, aber Kalle ging mit dem Hund in den Armen in der Mitte der Straße. Er drehte sich nicht um. Irina lief ihm hinterher, sie verstand seinen Schmerz, und plötzlich wusste sie, dass sie das gleiche Schicksal hatten. Gemeinsam begruben sie den Hund im Stadtpark, Irina hielt Kalles Hand.“ (S. 79f)

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Dass Irina Kalles Schmerz versteht, und dass sie weiß, „dass sie das gleiche Schicksal“ (S. 80) teilen, mag auf den ersten Blick wie eine Verharmlosung der Geschichte Irinas wirken, aber wichtiger scheint mir hier ein Hinweis auf das empfindsame Vermögen der Heldin. Was sich als Sehnsucht nach einer Umarmung andeutete, wird dann durch die zarte Berührung der Hand fortgeführt, und auch später sind es leise und friedliche Szenen, die das Verhältnis der beiden jungen Menschen am Rande der Gesellschaft auszeichnen. Irina und Kalle mieten sich eine Einzimmerwohnung, die Kunden besuchen Irina nachts, die Tage gehören dem Paar – es würde geradezu eine verkitschte Proletariatsund Außenseiter-Romantik in solchen Szenen herrschen, wenn nicht auch sie in knapper, konziser und doch poetischer, weil stets im Präteritum verfasster Form gestaltet worden wären, und wenn es nicht Irritationen gäbe, also Männer, die Irina besuchen und schlimmer noch, wenn es nicht die Vergangenheit gäbe, über die das Schweigen herrscht, weil Irina über die Vergangenheit nicht sprechen kann. Auch dies ist ein weiteres typisches Merkmal im Umgang mit dem Unaussprechlichen der Gewalt an Frauen und Männern sowie des Krieges, mit dem auch verschiedene Autoren der Weltliteratur von Ovid 11 bis Peter Waterhouse12 inhaltlich und/oder formal immer wieder operierten – um lediglich die im vorliegenden Buch behandelten Namen zu nennen. „Nun kamen die Männer zu ihnen nach Hause, Irina musste nicht mehr auf die Straße. Wenn sie morgens wieder alleine waren, holten sie ihr Bettzeug aus dem Schrank, legten sich hin und hielten sich fest. Sie lagen ineinander, nackt, still und unbeweglich, sie hörten nur auf den Atem des anderen und schlossen die Welt aus. Über die Vergangenheit sprachen sie nie“ (S. 80)

11 Vgl. den Aufsatz von Tanja Schwan: „‚Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Körpers‘. Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in ESMAS GEHEIMNIS“, im vorliegenden Band. 12 Vgl. den Aufsatz von Hermann Korte: „Aktivierung des Weißraums. Zur Typographie des Schweigens in E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina“, im vorliegenden Band.

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Alles scheint sich gut zu entwickeln, und doch gibt es auch in Berlin Vorboten des Unglücks: da ist der bereits erwähnte Unfall und Tod von Kalles Hund, der gleichzeitig auch das zart begonnene Glück der Protagonisten markiert. Und da ist auch der Herzinfarkt von Irinas korpulentem Politikerkunden während des Geschlechtsaktes, mit dem die Geschichte eigentlich beginnt. Irina flieht verwirrt aus der Wohnung, Kalle findet den toten Körper und glaubt, Irina sei die Täterin, und er müsse sie retten. Wie, wird nach einem harten Sprung, ohne Vorwarnung, in höchst ironischer, gleichzeitig auch nüchterner Manier deutlich, doch nie anklagend zynisch oder mit gehobenem Zeigefinger, stets liebe- und verständnisvoll den Protagonisten gegenüber: Eine halbe Stunde später wurde Kalle klar, dass es keine gute Idee gewesen war. Er war nackt bis auf seine Unterhosen. Sein Schweiß mischte sich mit dem Blut in der Badewanne. Er hatte dem Mann eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt, er wollte ihn dabei nicht ansehen. Zuerst hatte er es falsch gemacht und versucht, den Knochen zu durchtrennen. Dann fiel ihm ein, wie man ein Hühnchen zerteilt, und er drehte dem dicken Mann den Arm aus der Schulter. Es ging nun besser, nur die Muskeln und Fasern musste er zerschneiden. Irgendwann lag der Arm auf den gelben Fußbodenkacheln, die Uhr war noch am Handgelenk. Kalle drehte sich zur Toilettenschüssel, erbrach sich wieder. Er ließ Wasser ins Waschbecken laufen, tauchte ein und spülte den Mund aus. (S. 82)

Was auch hier wieder lakonisch und knapp geschildert wird, ist ein höchst martialisches Geschehen, das einen deutlichen Kontrast zu den zarten, leise angedeuteten Szenen zwischen den Protagonisten bildet. Wird dort durch die Lakonie der Sprache der Hauch einer Liebesbeziehung nachgezeichnet, so wird hier in und durch die Sprache die ganze pragmatische Martialität und Liebesverwirrtheit Kalles entlarvt. Und doch bleibt das panische Tun Kalles für jeden nachvollziehbar. Das wirklich Spannende und Neue ist hier – angelehnt an die US-amerikanische Kriminalliteratur – die Geschichte, die zunächst das Leben geschrieben haben soll, bevor von Schirach sie literarisch umsetzte. Kalle durchtrennt skurrilerweise den toten Körper des Politikers, um ihn besser auf seinem Karren in den Park transportieren zu können, wo er ihn vergraben möchte. Dies wird ihm auch mehr schlecht als

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recht gelingen, doch Irina kommt nach Hause zurück, findet das blutverschmierte Badezimmer vor und ruft die Polizei an. Die Polizei hat sie zunächst als Mörderin in Verdacht und führt sie fort; der gerade aus dem Park zurück gekommene Kalle will sie auch jetzt retten und wird zusammen mit ihr festgenommen. Im Gefängnis wird der Icherzähler zum ersten Mal ausdrücklich benannt, und ein knappes Gerichtsdrama entwickelt sich.13 Kalle schwieg. Er hatte schweigen gelernt, und das Gefängnis erschreckte ihn nicht. Er war schon oft dort gewesen. Einbrüche und Diebstähle. Er hatte im Gefängnis meinen Namen gehört und bat mich, seine Verteidigung zu übernehmen. Er wollte wissen, was mit Irina passiert, er selbst war sich gleichgültig. Er sagte, er habe kein Geld, ich solle mich um seine Freundin kümmern. (S. 85)

Schließlich spricht Kalle und führt die Polizei zum Grab der Leiche. Neben der Leiche wird auch der tote Hund gefunden. Die Autopsie ergibt, dass der Mann an einem Herzinfarkt verstorben ist, Irina kann also nicht für schuldig erklärt werden. Doch es gibt immer noch den Vorwurf der Störung der Totenruhe: Am Ende beschränkten sich die Vorwürfe nur noch auf das Zerstückeln. Der Staatsanwalt dachte an eine Anklage wegen Störung der Totenruhe. Das Gesetz spricht davon, dass es verboten ist. ‚Unfug‘ mit der Leiche zu treiben. Es sei grober Unfug, eine Leiche zu zersägen und zu vergraben, sagte der Staatsanwalt. (S. 86)

„Unfug aus Liebe“, erwidert knapp der Erzähler-Anwalt, und legt „eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes vor“ (S. 86), die Akte wird geschlossen. Irina beantragt und erhält Asyl. Was folgt? Sie saßen nebeneinander auf dem Bett. Das Scharnier einer der Schranktüren war bei der Durchsuchung herausgebrochen, sie hing schief in den Angeln.

13 Doch wie anders als z.B. im STURM Hans-Christian Schmids – vgl. dazu den Aufsatz von Uta Fenske: „Den Krieg bezeugen: STURM (2009)“, im vorliegenden Band.

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Sonst hatte sich nichts verändert. Irina hielt Kalles Hand; sie sahen aus dem Fenster. „Jetzt müssen wir etwas anderes machen“, sagte Kalle. Irina nickte und dachte, was für ein Glück sie doch hatten. (S. 86f)

‚Glück‘14 bedeutet auch hier vielerlei – jenes, den Krieg überlebt zu haben und überhaupt Demütigung und Gewalt im Krieg wie im Frieden überleben zu können. Es bedeutet auch die zarte Verbundenheit zu einem anderen Menschen. Vielleicht meint es auch, das Schicksal übervorteilt zu haben, durch das Irina ohnehin glaubt, an Kalle gebunden zu sein (vgl. S. 80 der Geschichte „Glück“). Oder ist es der Sieg über die Justiz, an die die Protagonisten zum Schluss ausgeliefert sind, und die sie mit Naivität und Liebesenthusiasmus besiegen. Der Schrecken, die Hindernisse, die Irritationen scheinen sich zum Schluss im herausgebrochenen Scharnier zu verdichten. Denn wie unerträglich wäre diese Geschichte voller Andeutungen ohne solche eingeworfenen Symbole und ohne den spärlichen Sprachstil. Diesen Stil in filmische Bilder zu übertragen, war den Kritikern zufolge wohl das größte Problem des Films von Doris Dörrie. Die Regisseurin setzt auf Kontraste, die schon die Geschichte auszeichnen – die zarten, geradezu sentimentalen Töne der Liebesgeschichte sowie die Familien-Szenen aus der Heimat (im Film sind aus dem Bruder die Eltern geworden) werden kontrastiert mit den brutalen Bildern der Gewalt. Da ist im Film zunächst die Kriegsgewalt zu benennen, das Blut, mit dem bei der Ermordung der Eltern gearbeitet wird, aber auch die Vergewaltigung Irinas, die, wie so oft die (sexuelle) Gewalt im Film, Gefahr läuft, zum puren Voyeurismus zu erstarren. Und da ist die unsägliche Aktion Kalles, der im Film auch noch Vegetarier ist, und bei

14 Zum Begriff ‚Glück‘ und seinem historisch-philosophischen Wandel vgl. das Stichwort „Glück“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfreid Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel, S. 679-707 sowie „Glück“, in: Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 2011, S. 1070-1082. Vgl. auch Georg Schildhammer: Glück. Wien 2009 [UTB 3236].

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der mit einer derartigen Intensität mit Kunstblut gearbeitet wurde, dass Kalles Übelkeit auf den Zuschauer regelrecht hinüberspringt. Doch das, was durch den sprachlichen Stil – der stets gleich zu bleiben scheint – gelingt, nämlich die lyrische Liebesgeschichte und die harte Außenwelt miteinander zu verbinden, sie gleichzeitig für den Leser begreiflich, bedeutend und erträglich zu machen, das kann der Film nur punktuell und mit viel Mühe erreichen. Die Ironie, die aus der unerwarteten Handlung gleichermaßen wie aus von Schirachs vereinfachtem Stil entspringt, gelingt noch, doch als eine mutige Neuinterpretation und Adaption gilt der Film bei der Kritik nicht. 15 Gleichwohl: Wenn die Kriegsschicksale – jene der Frauen, jene der Männer – oft an Tod, Demütigung und Gewalt gebunden sind, und die Schicksale der Überlebenden in der Nachkriegszeit stets in Abhängigkeit zum Krieg stehen und von den literarischen und filmischen Werken als solche auch gezeichnet werden, so ist es von Schirach und mit ihm auch Dörrie gelungen, ein ironisch gebrochenes, bisweilen auch naives, aber auf jeden Fall wohlwollendes Bild des Lebens nach dem Krieg zu zeichnen. Leser und Zuschauer im Frieden wie im Krieg benötigen solche Texte und Bilder.

15 Christina Nord: „Liebesdienst mit Küchenmesser. ‚Glück‘ von Doris Dörrie“. In: taz online, in URL: http://www.taz.de/!87783/ vom 06.04. 2012.

Den Krieg bezeugen Sturm (2009) U TA F ENSKE

Der 2008 gedrehte Film STURM zeichnet die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen im Bosnienkrieg durch das International Criminal Tribune for the former Yugoslavia (ICTY), also den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, in Den Haag nach und berührt damit auch politische Aspekte der Aufarbeitung dieses Krieges.1 Mit der Entscheidung, den juristischen Diskurs ins Zentrum des Filmes zu stellen, wird notwendigerweise eine andere Perspektive eingenommen als in den Filmen ALS GÄBE ES MICH NICHT und in ES2 MAS GEHEIMNIS. Denn es sind nicht die Schilderung der selbst erlittenen sexuellen Gewalt oder die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, die im Zentrum des Films stehen. Stattdessen nimmt die deutsch-dänisch-niederländische Koproduktion STURM über das ICTY die Außensicht der internationalen Gemeinschaft auf den Krieg ein und damit in gewisser Weise eine kritische Beobachterperspektive. Und es scheint auch erst diese Perspektive, die es überhaupt ermöglicht, das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren – dazu Anstoß zu geben, dürfte ein zentrales Anliegen des Films sein.

1

STURM (D/DK/NL 2009, R: Hans-Christian Schmid).

2

S. dazu die Beiträge von Slavija Kabić und Tanja Schwan in diesem Band.

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STURM ist auch die Geschichte einer Enttäuschung, eines systembedingten Scheiterns mit einem Quantum Hoffnung – also ein Blick auf die Welt, wie sie ist.3

Hannah Maynard (Kerry Fox) ist Anklägerin in Den Haag. Der Angeklagte vor dem ICTY ist der serbische General Durić (Dražen Kuhn): Angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzung des Kriegsrechts. Nachgewiesen werden sollen ihm die Deportation und die Ermordung von Zivilisten aus Kasmaj im serbischen Teil von Bosnien. Die Beweisaufnahme, die zur Verurteilung von Goran Durić führen soll, gestaltet sich jedoch plötzlich unvorhersehbar schwierig. Nachdem sich der bosniakische Hauptzeuge Alen Hajdarević (Krešimir Mikić) bei der Verhandlung widersprochen hat und seine Glaubwürdigkeit von der Verteidigung in Zweifel gezogen worden ist, wird eine Ortsbegehung am Tatort in der Republika Srpska durchgeführt. Bei dieser offenbart sich, dass der Zeuge gelogen hat; die Chancen, dass General Durić freigesprochen wird, sind so gut wie nie zuvor, da der Prozess kurz vor seinem Abschluss steht. Der Zeuge, der von der Schuld Durićs absolut überzeugt ist und all seine Hoffnung auf Gerechtigkeit auf das ICTY gesetzt hat, tötet sich daraufhin selbst. Eine mögliche Lesart dieses Freitodes ist, dass ihn Scham und Frustration darüber, dass er es mutmaßlich selbst war, der einen erfolgreichen Prozess verhindert hat, in den Tod getrieben haben. Hier soll jedoch eine andere Lesart vorgeschlagen werden: Das griechische Wort für Zeuge lautet martys. Im Urchristentum wurde diese Zeugenschaft umgedeutet, der Zeuge wurde zum Blutzeugen, zum Märtyrer, welcher der Passion Christi folgend, unabhängig von „Verfolgung und Tötung“, ein „Opfer für“ seinen Glauben bringt und ihn somit bezeugt. 4 Auch Alen wird zu jemandem, der für seine Überzeugung stirbt, er wird also zum Blutzeugen, der durch seinen Tod die Bedeutung und

3

Körte, Peter: „Schutz unter falscher Fahne“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.02.2009, S. 3.

4

Weigel, Sigrid: „Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen“, S. 12, in: dies. (Hg.), Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 11-37.

D EN K RIEG

BEZEUGEN

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Richtigkeit seiner Aussage unterstreicht. Und dennoch ist diese ‚unwahr‘, da er selbst die Deportationen weder gesehen noch erlebt, sondern nur davon gehört hat. Insofern offenbart seine verfehlte Zeugenschaft auch, wie problematisch der Begriff des Zeugen und des Bezeugens ist – eine Problematik, die der Film nicht nur zum Ausgangspunkt der Handlung nimmt, sondern auch, das sei hier vorweg genommen, selbstreflexiv die filmische Gestaltung thematisiert. Es ist demnach eine vermeintliche Lüge, die die Suche nach Wahrheit in Gang setzt. Die Anklägerin Hannah ermittelt weiter und trifft in Sarajewo Alens’ Schwester Mira Arendt (Anamaria Marinca), die mehr über den Angeklagten zu wissen scheint, als sie zunächst zugeben möchte. Bei ihren Recherchen keimt in Hannah der Verdacht, dass Mira in einem Vergewaltigungslager war, es bedarf aber mühsamer Überzeugungsarbeit, um Mira dazu zu bewegen, schließlich als Zeugin vor dem ICTY in Den Haag gegen Durić auszusagen. Unmittelbar vor der entscheidenden Verhandlung versuchen Durićs Verteidiger, Miras Zulassung als Zeugin in puncto sexueller Gewalt abzuwenden − und finden mit ihrem Anliegen Unterstützung von Seiten der Richterschaft. So kommt es zu einem Vergleich zwischen Verteidigung, Gericht, Chefankläger und der EU. Die Anklage wegen sexueller Gewalt und Mord würde fallen gelassen, falls Durić sich in den anderen Punkten der Anklage, Deportation und Misshandlung, schuldig bekennen würde. Dieser Deal, der die juristische Aufklärung hinten anstellt, ist politischen Interessen geschuldet: Von Seiten der EU stehen Verhandlungen mit Bosnien-Herzegowina über einen baldigen Beitritt zur EU an, die nicht verzögert bzw. belastet werden sollen. Die UNO verfolgt sowohl in der filmischen Welt von STURM als auch in der Realpolitik das Interesse, die Prozesse um das ehemalige Jugoslawien zu einem baldigen Ende zu führen, da das ICTY 2010 geschlossen werden soll(te).5 Auch für den Angeklagten Durić hat dieser

5

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde 1993 durch die Vereinten Nationen mit dem Ziel ins Leben gerufen, Kriegsverbrechen, die in den Jugoslawienkriegen seit 1991 verübt wurden, zur Anklage bringen zu können. 2003 verfügte die UN, dass alle Verfahren bis 2010 abgeschlossen sein sollten. Die Ergreifung von Radovan Karadžić 2008 führte zu einer Verlängerung des Mandats bis 2013. Alle Be-

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Vergleich Vorteile, da er zwar verurteilt werden würde, dann aber bald freikäme und die von ihm geplante politische Karriere in Bosnien-Herzegowina nicht durch einen im Interesse der internationalen Aufmerksamkeit stehenden Prozess um sexuelle Gewalt gefährdet würde. Demnach wird Mira, die sich durch die Aussage von ihrer Vergangenheit zu befreien hofft und – wie ihr Bruder zuvor – Gerechtigkeit für die Opfer und Bestrafung der Täter wünscht, genauso wie Hannah am Ende des Films zum Spielball der Politik. In buchstäblicher letzter Minute entscheidet sich Hannah jedoch vom vereinbarten Ablauf der Befragung abzuweichen und befragt Mira nach dem Vergewaltigungslager. Der Skandal vor Gericht ist perfekt und der Film schließt mit einem halboffenen Ende; nichts ist wirklich gelöst, nichts wirklich geklärt, die Zuschauer_innen erfahren nicht, wie es mit den beiden Frauen weitergeht. Es steht lediglich fest, dass Durić vor dem nationalen bosnischen Gerichtshof wegen der Leitung des Vergewaltigungslagers Vilina Kosa erneut vor Gericht gestellt werden wird. Dem Publikum bleibt also die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Dieser verhalten optimistische Filmschluss ist somit gleichermaßen als Zugeständnis an das Gerechtigkeitsempfinden der Zuschauer_innen wie an die Genreregeln des Spielfilms (Andeutung eines Happy Ends) zu verstehen. STURM ist eine Fiktion und vereinigt in sich Elemente des Thrillers, des Gerichtsfilms und des Dramas 6; vielleicht ließe er sich am ehesten als ein dramatischer Justizthriller bezeichnen. Ein wesentliches Element des Thrillers ist die Spannung. In STURM entsteht sie durch die Narration (also weniger durch die audiovisuelle Gestaltung),

rufungsverfahren sollen bis Ende 2014 abgeschlossen sein. Die bisherigen Verzögerungen im Fall Karadžić lassen es aber als möglich erscheinen, dass die Frist noch einmal verlängert wird. Ob und zu welcher Verlängerung die Verhaftungen von Ratko Mladić (Mai 2011), des bosnisch-serbischen Generals und Befehlshabers der Belagerung von Sarajewo und des Massakers von Srebrenica, sowie von Goran Hadžić (Juli 2011), politischer Führer der Serben in Kroatien und Präsident der Serbischen Republik Krajina in Kroatien, führen wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht klar. 6

Zur Problematisierung der Kategorie Genre vgl. Neale, Steve: Genre and Hollywood, London/New York 2000.

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da nach dem Tod des Hauptzeugen der „Parameter Zeit ins Spiel“ kommt7: Die Verhandlung wird für eine Woche ausgesetzt, was für Hannah bedeutet, dass sie eine Woche lang Zeit hat, um neue Beweise gegen General Durić zu sammeln. Ein weiterer Faktor, der Spannung erzeugt, ist die Dramaturgie der Verhinderung: Die Mächtigen in der Republika Srpska verweigern die Kooperation mit Hannah, und im ICTY soll Mira – wie bereits geschildert − nicht als Zeugin für sexuelle Verbrechen zugelassen werden. Hannah und Mira sind dieser Macht unterlegen, auch diese Asymmetrie der Kräfte kennzeichnet den Thriller. Im Gegensatz zum klassischen Gerichtsfilm nimmt die Verhandlung im Justizthriller nicht den vorherrschenden Stellenwert ein. Stattdessen erfolgen zentrale Wendepunkte auch außerhalb des Gerichtssaals. Die dramatischen, im Sinne von konfliktreichen, Erzählverfahren finden sich in der inneren Entwicklung der beiden Frauen und in ihrer Beziehung zueinander. Das Verfahren der „Personalisierung rechtlicher Konflikte“ gehört laut Kuzina „zum Grundmuster des legal thriller“.8 Hannah bewegt sich in einem Spannungsfeld, das abgesteckt ist durch den Widerstreit von beruflicher Pflicht einerseits, was in diesem Falle bedeutet, im Sinne des Vergleichs zu handeln, und moralischer Integrität andererseits. Ihre Figur verkörpert damit die Frage danach, in welchem Verhältnis die Justiz zur Gerechtigkeit steht. Mira hingegen ist in einem anderen Konfliktfeld gefangen. Dieses ist durch die Pole ‚traumatische Erlebnisse‘ vs. ‚nüchterne Fakten‘ markiert. Dem Prozess des Erinnerns der eigenen Leidensgeschichte steht ihre Rolle als Zeugin vor Gericht gegenüber, die ihr eine große Nüchternheit abverlangt sowie die Erkenntnis, dass das Gericht nur an bestimmten Fakten interessiert ist. Die Frage, was dieser Konflikt für die beiden

7

Körte, Peter: „,Wir haben den Blick eher auf die innere Entwicklung der beiden Hauptfiguren gerichtet als darauf, die Regeln eines Genres zu erfüllen.‘ Peter Körte im Gespräch mit Bernd Lange und Hans-Christian Schmid über die Arbeit am Film ,Sturm‘“, S. 155, in: Bernd Lange/HansChristian Schmid, Sturm, Frankfurt a.M. 2009, S. 144-175.

8

Kuzina, Matthias: Der amerikanische Gerichtsfilm. Justiz, Ideologie, Dramatik, Göttingen 2000, S. 102.

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Frauen bedeutet und wie sie sich in einer so komplizierten Situation begegnen, durchzieht den gesamten Film. So ist STURM mehr als ein Thriller, der lediglich aufgrund seiner Spannung Aufmerksamkeit erfahren hat. Stattdessen gelingt es ihm – in der Tradition der Justiz- und Gerichtsfilme – über das „partikulare (Straf-) Rechtsproblem“ hinaus, gesellschaftlich relevante „ethische Fragen von größerem Belang“,9 wie die Aufarbeitung der kriegerischen Vergangenheit, die Frage nach der Rolle der Justiz und nach moralischer Integrität, aufzuwerfen. Dass STURM sein Publikum berührt, zeigte sich z.B. bei seiner Premiere auf der Berlinale 2009, wo er minutenlange stehende Ovationen erhielt. Er ist darüber hinaus mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden: 2010 erhielt er bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises die Silberne Lola für den Besten Film (sowie die Goldene Lola für die Beste Musik und den Besten Schnitt), 2009 den Bernhard Wicki-Friedenspreis ‚Die Brücke‘ sowie den Amnesty International Filmpreis.

AUTHENTIZITÄT Realitätsnähe bzw. Authentizität sind die Schlüsselbegriffe in den Kontroversen um politische respektive historische Filme. Umso mehr, da dank der technischen Bildherstellung – anders als in der Literatur − eine analoge Verbildlichung der Welt möglich ist; „die physische Realität wird fotografisch reproduzierbar“.10 Dem realistischen Film schreibt schon Siegfried Kracauer in der Regel eine registrierende Funktion zu, d.h. der Film zeigt letztlich bekannte und damit scheinbar überprüfbare Sachverhalte. 11 Die Auseinandersetzung mit historischen Filmen wird infolgedessen vorrangig entlang der Frage nach Faktenreichtum bzw. der Frage, inwieweit der komplexe historische Kontext abgebildet wurde, geführt. Abgesehen vom problematischen

9

Ebd., S. 7.

10 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 1996, S. 44. 11 Registrierend vs. enthüllend, vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M 1973, S. 61f.

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Begriff des Mimetischen12 greift die Diskussion auch deshalb zu kurz, weil es nicht Ziel eines Spielfilms sein kann, möglichst viele Fakten zu vermitteln. Es geht ihm in der Regel um eine sinnliche Dimension des Historischen, nämlich, Geschichte hörbar, spürbar und anschaulich zu machen. Kurzum: die Vergangenheit wird in filmischer Form wiederbelebt und so für die Zeitgenossen erlebbar gemacht, sodass historische Filme eher ein Gefühl zur Vergangenheit vermitteln. 13 Das Indexieren von historischen Fakten, bzw. einer historisch verbürgten Geschichte bezeichnet der Germanist Matías Martínez als authentische Referenz.14 Diese Referentialität ist bei dem Film STURM sehr stark: Im Bosnienkrieg wurden Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Akte des Völkermordes begangen. Und eines dieser Verbrechen, unabhängig davon, welcher der drei genannten juristischen Kategorien man es zuordnet, war die systematische, massenhafte Ausübung sexueller Gewalt gegen Frauen, insbesondere gegen bosnische Muslima. Konkret rekurriert der Film auf die Ereignisse in der Stadt Višegrad. Während Srebrenica zum schrecklichen Symbol dieses Krieges und seiner Kriegsverbrechen geworden ist, wird Višegrad – wie auch Foča15 – weniger stark als Synonym für Kriegsverbrechen gebraucht. In Višegrad in Bosnien-Herzegowina

12 Vgl. dazu: Kablitz, Andreas: „Geschichte – Tradition – Erinnerung? Wider die Subjektivierung der Geschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaften 32/3 (2006), S. 220-237. 13 Vgl. Toplin, Robert B.: „Cinematic History. An Anatomy of the Genre“, in: Cineaste Spring (2004), S. 34-39. 14 Martínez, Matías: „Authentizität als Künstlichkeit in Steven Spielbergs Film Schindler’s List“, in: Augen-Blick 36 (2004): Neue Kinematographie des Holocaust, S. 39-61. 15 Zu Foča und den dort verübten Massenvergewaltigungen vgl. Iacobelli, Teresa: „The ‚Sum of Such Actions‘: Investigating Mass Rape in BosniaHerzegowina through a Case Study of Foča”, in: Dagmar Herzog (Hg.), Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century, Basingstoke, 2009, S. 261-283. Und Duraković, Indira: Massenvergewaltigungen im Bosnienkrieg (1992-1995). Diplomarbeit, Graz 2008, in URL: http://www.wsg-hist.uni-linz.ac.at/historicum/Graue-Reihe/GraueReihe 40.pdf vom 14.07.2010.

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lebten bosnische Muslime (zwei Drittel der Bevölkerung) und bosnische Serben (ein Drittel der Bevölkerung) miteinander, bis im Frühjahr 1992 paramilitärische Einheiten unter Milan Lukić begannen, die bosnische Bevölkerung mit äußerster Grausamkeit zu terrorisieren und zu ermorden, sodass Višegrad durch Vertreibung und Ermordung etwa 14 000 Muslime verloren hat.16 Die paramilitärischen Einheiten führten massenhaft Vergewaltigungen durch und richteten ein Vergewaltigungslager in dem ehemaligen Kurhotel Vilina Vlas ein, in dem viele der dort festgehaltenen Frauen starben. Die „umfangreiche[n] sexuelle[n] Gewalttaten“ sind gut dokumentiert,17 umso tragischer und skandalöser ist es, dass die Anklage vor dem ICTY gegen Milan Lukić, der 2005 in Argentinien verhaftet wurde, auf Mord, Verfolgung und andere Verbrechen lautet; wegen Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch wurde Lukić jedoch nicht angeklagt. 18 Es scheint, dass die damalige Chefanklägerin beim ICTY, Carla del Ponte, den Anklagepunkt der Vergewaltigung ganz gezielt nicht aufgenommen hat, da es schwierig gewesen sei, Frauen zu finden, die zur Aussage bereit waren. Tatsächlich aber scheint das Bedürfnis, den Prozess möglichst kurz zu halten, um im Zeitrahmen der Laufzeit des ICTY zu bleiben, entscheidend gewesen zu sein.19 Und in der Tat gilt im Internationalen

16 Vgl. Jelačić, Nerma et al.: „Višegrad I – III“, in: Bernd Lange/Hans-Christian Schmid, Sturm, Frankfurt a.M. 2009, S. 268-278. 17 Eine Schilderung der von Milan Lukić durchgeführten Vergewaltigungen findet sich in seinem Urteil, obwohl in diesem Punkt keine Anklage gegen ihn erhoben wurde, vgl. URL: http://www.icty.org/x/cases/milan_lukic_ sredoje_lukic/tjug/en/090720_j.pdf vom 24.08.2011. Mischkowski, Gabriela: „,Ob es den Frauen selbst irgendetwas bringt, bleibt eine offene Frage.‘ Gabriela Mischkowski, Referentin für Gender Justice bei Medica mondiale e.V., im Gespräch über die Probleme und Zwickmühlen der internationalen Strafgerichtsbarkeit“,

S. 237, in: Insa Eschebach/Regina

Mühlhäuser (Hg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 229-248. 18 Die Anklage ist einsehbar auf der Homepage des ICTY Court Records, in URL: http://icr.icty.org/frmResultSet.aspx?e=x2lwyv55j5ql2l55mozzm04 5&StartPage=1&EndPage=10 vom 24.08.2011. 19 Vgl. ebd. und N. Jelačić: Višegrad I – III, S. 276.

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Strafgerichtshof die Abschlussstrategie, dass bestehende Anklageschriften nicht durch neue Anklagepunkte ergänzt werden können. Sie können nur dann erweitert werden, wenn der Fall von Den Haag an die nationale Justiz z.B. nach Sarajewo abgegeben wird.20 Neben der authentischen Referenz – also der Markierung historischer Fakten – muss ein Film, um glaubwürdig zu sein, auch auf der ästhetischen Ebene Realitätsnähe hervorrufen. Martínez bezeichnet dies als die authentische Gestaltung. Entscheidend in diesem Sinne ist demnach, dass mit der Inszenierung der Anschein hervorgerufen wird, die Kamera wäre in der Geschichte selbst dabei gewesen: Authentizität in diesem zweiten Sinne ist stets ein Effekt bestimmter Formen von Künstlichkeit, ist das Ergebnis von ästhetischer Inszenierung, künstlerischer Konvention und affektsteuernder Wirkungsstrategie, so dass man hier von „Authentizitätsfiktionen“ sprechen kann. 21

In STURM wird diese Authentizitätsfiktion von Beginn an durch den dokumentarischen Filmstil hergestellt; der ausgeprägte Einsatz der Handkamera soll ein Gefühl der unmittelbaren Nähe zum Geschehen vermitteln. Tatsächlich schwankt die Kamera jedoch gerade zu Beginn so stark, dass sie dadurch wiederum auf die Künstlichkeit des Filmes aufmerksam macht. Außer der Handkamera sind auch die immer wieder vorkommenden Unschärfen ein filmisches Mittel, um einen dokumentarischen Stil zu suggerieren, genauso wie die Arbeit mit dem Zoom, welcher eher im Dokumentarfilm als im Spielfilm eingesetzt wird. Auch das Licht ist sehr behutsam gesetzt, insbesondere die Außenschüsse wirken so, als ob bei natürlichem Licht gedreht worden sei. Außerdem arbeiten die Filmemacher mit vermeintlich originalem Filmmaterial aus dem Krieg. Darüber hinaus fungiert die Mehrsprachigkeit des Films als Realitätsmarker, um die Internationalität der

20 Milan Lukić wurde vom ICTY im Juli 2009, gemeinsam mit seinem Cousin Sredoje Lukić, in erster Instanz zu 30 Jahren Haft bzw. lebenslänglich verurteilt. Das dagegen eingelegte Berufungsverfahren ist noch anhängig. Zum aktuellen Stand der Verhandlung siehe URL: http://www. icty.org/action/cases/4 vom 24.08.2011. 21 M. Martínez: Authentizität als Künstlichkeit, S. 41.

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Beteiligten am Geschehen zu unterstreichen. Während sich Anklage und Richter auf Englisch verständigen, spricht Mira, die mit ihrer Familie inzwischen in Berlin lebt, Deutsch, in Kasmaj hingegen spricht sie in ihrer Muttersprache und vor Gericht in Den Haag Englisch.22 Neben den authentischen Referenzpunkten wie Višegrad und dem Internationalen Strafgerichtshof und neben den Authentizitätsfiktionen wird nachfolgend auch die Erzählweise daraufhin betrachtet, wie die Zuschauer_innen auf einer affektiven Ebene in den Film eingebunden werden, wie also Empathie hergestellt wird.

P ROTAGONISTINNEN Zentral dafür ist die glaubwürdige Entwicklung der Figuren. Die Beziehung der beiden Frauen zueinander sowie die übergeordnete Frage nach der moralischen Integrität von Menschen sind eng mit der Entwicklung der Einzelpersonen verknüpft. Hier ist insbesondere die der Protagonistin Hannah zu nennen, aber auch der Weg Miras und der Kampf, den sie mit sich wegen der Frage austrägt, ob sie vor Gericht aussagen soll. Hannah Maynard ist eine Engländerin mittleren Alters. Sie arbeitet als Frau in der männlich dominierten Welt des Internationalen Strafgerichtshofes, ist von den Kollegen anerkannt, pflichtbewusst und ehrgeizig, muss aber zu Beginn des Filmes erfahren, dass ihr der männliche Kollege Keith Haywood (Stephen Dillane) bei einer Beförderung vorgezogen wurde. Sie wird nicht als ‚Superfrau‘ inszeniert, sondern als ‚mittlere Heldin‘. Nachdem der erste Zeuge als Lügner entlarvt worden ist, handelt sie eigenmächtig, indem sie alleine nach Sarajewo fliegt, um den Gründen seines Todes nachzuspüren und verfolgt hartnäckig und kämpferisch ihr Ziel, aufzudecken, was wirklich in Kasmaj geschehen ist. In den entscheidenden Konflikt gerät Hannah, als sie erfährt, dass es von Seiten des Gerichtes nicht gewünscht ist, dass Mi-

22 Die Vielsprachigkeit des Films verweist außerdem darauf, dass mehrere Geschichten existieren, die erzählt werden könnten und dass diesem Kommunikationsprozess immer auch die Möglichkeit von Verständigungsschwierigkeiten innewohnt.

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ra zum Vergewaltigungslager Vilina Kosa aussagt. Den Zeitdruck am ICTY kennend und erfahren genug, um zu wissen, dass durch Absprachen zwischen Verteidigung, Richtern und Anklage Prozesse erheblich verkürzt werden können, gerät sie zunächst in einen Konflikt mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden, denn ihr ist es ein politisches und mitmenschliches Anliegen, Vergewaltigung als Verbrechen gegenüber Frauen in die Anklageschrift aufzunehmen. Des Weiteren empfindet sie einen Loyalitätskonflikt: Loyalität gegenüber der Zeugin Mira, die die Aussage sowohl aus strafrechtlichen Gründen machen will, als auch aus Gründen der individuellen Bewältigung; und gegenüber ihrem Arbeitgeber, demzufolge der Prozess möglichst schnell zu Ende geführt werden sollte. Das Interessante an der Figur Hannahs ist nun, dass sie sich zunächst auf den Deal einlässt, um sich erst in letzter Sekunde dafür zu entscheiden, nach ihren persönlichen Werten und Überzeugungen zu handeln. Hannah ist also eine ambivalente Figur, sie ist nicht von Anfang an auf der ‚richtigen‘ Seite, sondern sie entwickelt sich und das ist es, was sie so interessant macht und zur Identifikation einlädt. Mira Arendt hat nach dem Krieg ein neues Leben begonnen. Sie ist eine selbstsichere junge Frau, die mit ihrer Familie seit vielen Jahren in Berlin lebt und ein bürgerliches Leben führt, an dem sie sehr hängt und das sie zunächst nicht für die Wahrheitsfindung aufs Spiel setzen möchte. Sie bezeichnet nicht länger Bosnien als ihre Heimat, sondern Deutschland, und wie dünn die Verbindungen nach Bosnien sind, zeigt sich z.B. daran, dass ihr Mann Jan ihren Bruder nie kennen gelernt hat. Sie ist physisch zart und schmächtig und wirkt dadurch verletzlich. Dennoch bedient die Figur der Mira keinesfalls ein Opferklischee. Selbst der Tod des Bruders kann sie nicht dazu bewegen, auszusagen, stattdessen bezeichnet sie ihn als Idealisten, der immer gewünscht habe, dass das Gute siege. Ihr Ehemann Jan weiß nichts von ihrer Vergangenheit, zunächst auch nichts von ihrem Plan, in Den Haag auszusagen – und wirft ihr später vor, dass er sie gar nicht kenne. Ihre Entscheidung für die Aussage fällt, als ihre Berliner Welt ins Schwanken gerät, weil sie eine Ehekrise erlebt und sie von serbischen Milizionären eingeschüchtert wird. Sie knüpft große Hoffnungen an eine Aussage und spricht davon, dass sie danach frei sein werde. An der Erkenntnis, dass das Gericht sie nur instrumentalisieren wird,

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scheint sie einen Moment lang zu zerbrechen, dann aber wird sie im Gerichtssaal durch ihre Aussage selbst zur Anklägerin. Beide Frauen sind folglich am Schluss integer sich selbst gegenüber und kämpfen gemeinsam für die Gerechtigkeit. Und so ist der Film letztlich auch ein Appell an die Solidarität, was schon über die Namen suggeriert wird: Aus den Vor- und Nachnamen der beiden − Hannah Maynard und Mira Arendt − ergibt sich der Name der Totalitarismuskritikerin Hannah Arendt23, womit im übertragenen Sinne eine weitere authentische Referenz entsteht. Hannah Arendt war Beobachterin des Eichmann-Prozesses. Sie hielt das Verfahren gegen Adolf Eichmann für ein aus verschiedenen Gründen „in verfehlter Form durchgeführtes Strafverfahren“.24 Darüber hinaus stellte sie − von den Beweggründen des Täters ausgehend − die weit grundlegendere Frage nach der Integrität des Einzelnen, also nach dem „Wesen und Funktionieren der menschlichen Urteilskraft“, „Recht von Unrecht zu unterscheiden“, wie sie in der Vorrede zur deutschen Ausgabe ihres Prozessberichts schreibt.25 Außerdem interessierte es sie, wie sich ein Gericht verhält, das „im Interesse des Verletzten wie des Angeklagten“ „Recht […] sprechen und Gerechtigkeit […] üben“ will, aber mit einem Verbrechen konfrontiert ist, das es in den Gesetzbüchern vergeblich sucht.26 Der Völkermord an den europäischen Juden und die massenhafte Ausübung sexueller Gewalt im Krieg sind unterschiedliche Verbrechen, es geht also nicht um Relativismus, sondern um die Frage nach den Strukturen des Danach: Auch für die Anklage wegen sexueller Gewalt gab es völkerstrafrechtlich keine Präzedenzfälle, und so soll hier betont werden, dass es das Verdienst des ICTY

23 Vgl. Fetscher, Caroline: „Die einzige Zeugin. Schweigen oder Sühne: Hans-Christian Schmids ‚Sturm‘ über die Wunden der Balkankriege“, in: Der Tagesspiegel vom 10.09.2009. 24 Mommsen, Hans: „Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann“ , S. 10, in: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1998, S. 9-48. 25 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1998, hier S. 64. 26 Ebd. S. 68.

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ist, dass Vergewaltigung inzwischen vor internationalen Gerichtshöfen verhandelt wird.27 Auch wenn beide Protagonistinnen letztlich nicht korrumpierbar sind, sondern sich die „menschliche Urteilskraft“, die Hannah Arendt einforderte, bewahrt haben, offenbart der STURM dennoch eine klassische männlich – weiblich Setzung. Hannah, die versucht, gegen die Notwendigkeit politischer Absprachen anzugehen, begründet das mit „I am not interested in politics.“ Sie als Frau ist folglich für Menschlichkeit, Ideale und Redlichkeit zuständig und nicht für die von Pierre Bourdieu so bezeichneten ernsten Spiele, „die es alleine wert sind, gespielt zu werden“: Politik und Krieg.28 Mira hingegen ist das Opfer von Krieg und Politik und sie beantwortet die Frage, was ihr passiert sei, mit den Worten „What happens to women in times of war?“ In ihren Worten scheinen Vergewaltigungen in Kriegen ein selbstverständliches Nebenprodukt von Kriegen zu sein. Gerade im Bosnienkrieg wurden Vergewaltigungen jedoch systematisch durchgeführt und waren Teil des Systems von Kriegsverbrechen. Und so ist es aus einer feministischen Perspektive bedauerlich, dass der Film die „Komplexität des Phänomens − wie Vergewaltigung im Krieg sich ausbreitet, wie Gender-Konstruktionen, das Individuelle und die Kriegsstrategien ineinander greifen […]“29, nicht thematisiert.

27 Vgl. Schmid, Hans-Christian: „Die Stimmen der Opfer werden immer leiser. Ein Gespräch mit der Anklägerin Hildegard Uertz-Retzlaff“, in: Bernd Lange/Hans-Christian Schmid, Sturm, Frankfurt a.M. 2009, S. 232-239. 28 Bourdieu, Pierre: „Die männliche Herrschaft“, S. 189, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1997, S. 153-217. 29 G. Mischkowski: Ob es den Frauen…, S. 245. Vgl. außerdem Bos, Pascale R.: „Feministische Deutungen sexueller Gewalt im Krieg. Berlin 1945, Jugoslawien 1992-1993“, in: Insa Eschenbach/Regina Mühlhäuser (Hg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 103-126. Zur Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt in Kriegen generell vgl. die folgenden Anthologien: Herzog, Dagmar (Hg.): Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009 und

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F REMDHEIT Abschließend sind bezüglich der Erzählweise des Films noch zwei Aspekte einzubeziehen, die beide ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und Fremdheit vermitteln. Erstens sind die vielen verschiedenen Schauplätze der Handlung zu nennen: Den Haag, Sarajewo, Kasmaj, Vilina Kosa, Berlin, Scheveningen. Die ständigen Ortswechsel und der fast vollständige Verzicht auf Establishing Shots tragen zu einem Gefühl der Orientierungslosigkeit bei. Diese wird bestärkt durch die Orte, an denen sich die Figuren vorzugsweise aufhalten, es sind zumeist Nicht-Orte, also Orte des Transits oder andere öffentliche Orte wie Hotellobbys und Hotelzimmer oder Flughäfen. Nicht-Orte unterscheiden sich nach Marc Augé von Orten, die anthropologisch durch Beziehungen, Wiedererkennen also Identität und Geschichte gekennzeichnet sind.30 Wo diese drei Charakteristika fehlen, spricht Augé von Nicht-Orten, sie sind also ohne Identität, ohne Beziehungen und geschichtslos, dort ist das soziale Leben alleine zu bewältigen. Die ersten Begegnungen zwischen Hannah und Mira finden an Orten statt, nämlich in der Wohnung des Bruders in Sarajewo und dann in Miras Wohnung in Berlin – und an beiden Orten verweigert Mira, sich als Zeugin zur Verfügung zu stellen. Erst später und draußen, auf der Straße in Berlin, die man hier als Übergang vom Ort zum Nicht-Ort bezeichnen könnte, fällt Mira die Entscheidung, auszusagen. Danach begegnen sich die beiden Frauen nur noch an Nicht-Orten. Der Film STURM „spielt“ mit der Unterscheidung von Orten und Nicht-Orten, denn letztlich sind es die Nicht-Orte, an denen Mira eine Beziehung zu ihrem alten Leben herstellt. Wenn ein Mensch mit der Vergangenheit nicht abschließen kann oder will, verlangt die Vergangenheit nach Gerechtigkeit und hier sind es genau die Nicht-Orte, an denen der Versuch unternommen wird, Gerechtigkeit herzustellen. Die anderen Orte sind nämlich durch Beziehungen und Geschichte belastet; die Tradition stellt an diesen Orten demnach eine Last dar, die Handeln unmöglich macht.

Goldstein, Joshua S.: War and Gender. How Gender shapes the war system and vice versa, Cambridge/New York 2001. 30 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte, München 2010.

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Die Distanz und Fremdheit wird zweitens durch das häufig eingesetzte filmische Mittel des Spiegels und der Blicke durch Fenster, bzw. der Unmöglichkeit aufgrund von Spiegelreflexen hindurchzusehen, verstärkt.31 Während Spiegel in der psychoanalytischen Filmtheorie für die Konfrontation mit dem Selbst, für das Eintauchen in die Persönlichkeit des Protagonisten stehen, sind Spiegelungen hier eher ein Mittel der Verunsicherung und Veruneindeutigung einer fixen Positionierung. So z.B. in jener Szene, in der Alen das Gespräch mit Hannah in ihrem Hotelzimmer sucht, nachdem er als ‚Lügner‘ entlarvt worden ist. Die gesamte Szene ist über Spiegelungen gefilmt, sodass einerseits die Orientierung schwerfällt und andererseits auch eine Distanz zu den Protagonist_innen aufgebaut wird. Foucault bezeichnet den Spiegel als „eine Art Misch- oder Mittelerfahrung“ zwischen Utopien und Heterotopien. Utopisch ist er in dem Sinne, dass man sich da sieht, wo man nicht ist und damit einen neuen Raum eröffnet; eine Heterotopie ist er in der Form, dass „er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme.“32 Der Spiegel eröffnet und schließt also gleichzeitig einen Raum. Auch Fenster, die ja eigentlich den Blick in die Welt, bzw. im Film in die diegetische Welt ermöglichen, stehen hier sowohl für Transparenz als auch für Abschottung von der gesehenen Welt. Spiegelnde Fensterscheiben stellen immer wieder Barrieren dar, schaffen ein Gefühl der Fremdheit oder betonen die Trennlinie zwischen den Menschen, die den Krieg erlebt haben und denen, die ihn beobachten und beurteilen. Und damit reflektiert STURM auch das Medium Film an sich und die (Un)Möglichkeiten seiner Zeugenschaft.

31 Zum Spiegel in der Filmtheorie vgl. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie. Zur Einführung, Hamburg Verlag 2007. 32 Foucault, Michel: „Andere Räume“, S. 39, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34-46.

Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein? Max Färberböcks ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN (2008) W ALBURGA H ÜLK /G REGOR S CHUHEN

K RIEGSFILME UND S TEREOTYPENBILDUNG Sentimentale und melodramatische Narrationen, Inszenierungen und Bilder ziehen nicht nur massenhafte Neugier und Aufmerksamkeit auf sich und sind historisch markant verknüpft mit dem Aufkommen der Massenmedien; sie stehen auch seit langem im Zentrum kunsttheoretischer und anthropologischer Betrachtungen, die sich der Form, dem Ausdruck und dem Effekt der Melodramatik als einem „kulturellen Modus“1 zuwenden, der für Literatur, bildende Künste, vor allem aber für Theater und Film von Bedeutung ist. Dieser „kulturelle Modus“ kommt, wie Christof Decker ausführt, zustande durch ein kalkuliertes Zusammenspiel von Aktion und Pathos, das beim Leser und Betrachter intensive Gefühle hervorruft: Mitleid, Angst, Lust, Sympathie, Schock oder Anklage. Es sind Gefühle, die sich nicht zuletzt über somatische Zeichen äußern und entladen, vor allem Erschütterung, Gänsehaut oder Tränen. Fais-pas du cinéma ist eine französische Redewendung, die theatralisch ausgedrückte Emotionen ironisiert oder inkriminiert, unter Klischee- und Hypokrisieverdacht stellt. Die Tatsa-

1

Decker, Christof: Hollywoods kritischer Blick. Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur 1840-1950, Frankfurt a.M. 2003, S. 11.

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che jedoch, dass ‚große‘ Gefühle erzeugt werden durch stets wiederkehrende formale Strategien und häufig auch durch kommerzielle Interessen, ändert nicht zwingend etwas daran, dass mit der Evozierung unterschiedlicher Affektqualitäten auch Wertkonflikte ausagiert werden. Das Melodram ist ein literarisches, theatralisches und filmisches Genre, das seinem Begriff nach gekennzeichnet ist durch Musik und Handlung. Für unseren Zusammenhang sind besonders die Bühnenund Kinotraditionen interessant, die handelnde Personen und ihre häufig existentiellen Entscheidungsperioden inszenieren. Melodramen sind zunächst populäre, ja „egalitäre“ Schicksalsdramen, die seit dem späten 18. Jahrhundert die guten und vor allem schlechten Zeiten der ordinary people durchführen, vor allem Gewalt und Liebe auf die Bühne bringen und, nach Peter Brooks 2, stets einer festen Dramaturgie folgen: Diese ist gekennzeichnet durch stark kontrastierte und vereinfachte Charaktere, die vom Publikum unschwer in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ einzuteilen sind. Das Melodram riskiert, oder besser: intendiert folglich Stereotypen, und es folgt einem „mode of excess“, der zwar immer wieder erwartbare Rollenmuster, aber immer auch starke Konfliktsituationen und überwältigende Effekte produziert. Diese kommen, wie Kristin Thompson für den Film erläutert hat, durch eine Dominanz des Stils über die Narration zustande, das heißt, durch starke Stilelemente, die für die Narration selbst nicht zwingend sind und deshalb häufig beurteilt werden als negatives Distinktionsmerkmal von Kitsch oder „low culture“.3 Und doch könnte man den melodramatischen Modus – bis hinein in das Hollywoodkino – nicht nur, wie Bertolt Brecht es tat, als Anrecht eines jeden Kinobesuchers ansehen, das an der Kasse erworben wird. Man könnte ihn auch als alteuropäisch bezeichnen insofern, als er hermeneutisch geerdet ist: Er setzt auf Verstehen, auf ein Bedeutsames oder einen pathetischen Mehrwert, der

2

Vgl. Brooks, Peter: „The Melodramatic Imagination, Balzac, Henry, James and the Mode of Excess“, Yale 1976, in: Frank Kelleter/Barbara Krah/Ruth Mayer (Hg.), Melodrama! The Mode of Excess from Early America to Hollywood, Heidelberg 2007.

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Thompson, Kristin: „The Concept of Cinematic Excess“, in: L. Braudy/M. Cohen (Hg.), Film Theory and Criticism, New York 1998, S.487-498.

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zwar diffus, weil qualitativ ist, sich aber auf habitualisierte Codes verlassen kann. Dekonstruktivistisches Zweifeln oder „misreading“, Nicht-Verstehen überhaupt ist nicht vorgesehen im Melodram, das rhetorische und semiotische Verfahren entwickelt hat, die über Gattungs- und Mediengrenzen hinweg wirksam sind. „Wenn Filme pathetisch argumentieren“, so schreibt Christian Schmitt in Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, „postulieren sie die Möglichkeit, verstanden zu werden. Sie legen, im gleichen Zuge wie sie diese herstellen helfen, Wert- und Deutungshorizonte offen und setzen auf die Akzeptanz ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer. Pathos ist demnach eine Konsensmaschine“.4 Eine Konsensmaschine steht so zum einen zwangsläufig unter Stereotypen-Verdacht und muss allen Vertretern differenztheoretischer Kommunikationsmodelle suspekt sein5; zum anderen aber wohnt, folgt man Peter Brooks Melodramatic Imagination, dem Melodram-Pathos ein „moral occult“ inne, das sich, wie Gertrud Koch ergänzt, „als opakes und im pastosen Auftrag des Melodramatischen bedeutungskonstitutives Aderwerk erweist“.6 Der Film als audiovisuelles Supermedium hat bald nach seiner Entstehung das melodramatische Potential voll entfaltet und affektive Erwartungen erfüllt, und bereits der Stummfilm der 20er Jahre – in der Regel vorgeführt mit Musikbegleitung – entwickelte eine Bildsprache, die seither für den melodramatischen Film als typisch zu gelten hat; zu seiner Zeichensprache gehören vor allem Großaufnahmen, close-ups, die intensiven Augenblicken der Lust und vor allem der Krise, des Konflikts und des Leides ein Gesicht geben, das „spricht und schaut“ und durch mimische Expressivität zur „Projektionsfläche für Affekte“ wird.7 Das Gesicht ist insofern nicht ein Motiv unter anderen, sondern,

4

Schmitt, Christian: Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin 2009, S. 51.

5

Vgl. ebd., S. 52

6

Gertrud Koch: „Zu Tränen gerührt – zur Erschütterung im Kino“, in: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin/New York 2004, S. 562-574, hier: S. 564.

7

Aumont, Jacques: Le Duc. Visage au cinéma, Paris 1992; Löffler, Petra: „Die Rede vom Gesicht im frühen Film“, in: Wolfgang Beilenhoff/Ma-

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wie Petra Löffler und Leander Schulz es nennen, eine „starke Organisation“8, die Bewegung und Intensität des Filmgeschehens maßgeblich konstruiert. Die starken, über das Gesicht vermittelten Augenblicke kann man mit Lessing, und damit über einen Medienwechsel, als „fruchtbaren Augenblick“ bezeichnen.

Abb. 1: Laokoon-Gruppe (Detail) Gerade Marijana Erstić hat immer wieder gezeigt, wie wertvoll dieser auf die Laokoon-Gruppe angewendete Terminus für die Filmanalyse ist, insofern, als das Imaginäre und das Gedächtnis in ihrer individuellen und kollektiven Ausprägung grundsätzlich Form annehmen in screenshots.9 Als momentane stills sind diese hervorgehoben aus dem

rijana Erstić/Walburga Hülk/Klaus Kreimeier (Hg.), Gesichtsdetektionen in den Medien des zwanzigsten Jahrhunderts, Siegen 2006, S. 25-51, hier S. 31. 8

Petra Löffler/Leander Schulz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisa-

9

Vgl. u.a. Marijana Erstić: „Pathosformel Venus? Überlegungen zu einer

tion, Köln 2004. Mythengestalt bei Aby Warburg“, in: Yasmin Hoffmann/Walburga

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Fließen der inneren Zeit, der durée, wie Henri Bergson sie verstand. Als bestes Beispiel können noch immer die „exzessiven“ Großaufnahmen aus Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc gelten, die Maria Falconetti zur Ikone des weiblichen Leidens „stilisieren“.

Abb. 2: Screenshot aus LA PASSION DE JEANNE D’ARC (F, 1928)

Dieser Begriff ist hier positiv gesetzt; er repräsentiert ganz und gar den melodramatischen Modus – den signifikanten Modus schon des frühen Films, der in ANONYMA aktualisiert wird, so wie auch die Inserts als Instrumentarium des Stummfilms im deutschen Trailer zitiert werden.10 In dem Buch Das Leiden anderer betrachten verpflichtet auch Susan Sontag sich diesem Gedanken der screenshots des Eingedenkens, der für die Photographie ebenso wie für ein cadriertes Filmbild tauglich ist – vor allem für Bilder des Schreckens: Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild. In einer Ära der Informationsüberflutung bietet das Foto eine Methode,

Hülk/Volker Roloff (Hg.), Alte Mythen – neue Medien, Heidelberg 2006, S. 33-51. 10 Der Trailer ist zu sehen auf YouTube unter URL: http://www.youtube. com/watch?v=nfxFWn7H6iY vom 03.10.2011.

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etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten. Darin gleicht es einem Zitat, einer Maxime, einem Sprichwort. […] Das Bild schockiert – und darum geht es.11

Interessant für unseren Zusammenhang ist nun, dass Susan Sontag Verständnis dafür aufbringt, dass Menschen auf die ständige Konfrontation mit Bildern des Grauens, und namentlich mit dokumentarischen Bildern, unterschiedlich reagieren, in jedem Fall aber problematisch: das kann Abwehr sein oder, wie sie sagt, „Feigheit“ (sie nennt das „Weiterzappen“) oder auch Sucht, die „krankhafte“ Lust an der Betrachtung des Leidens anderer, die man nicht kennt, in der Gewissheit, dass es keine nahe stehenden Menschen sind. Letzteres ist wichtig, denn es ist eine Ermöglichungsbedingung jener emotionalen Abstumpfung und Leere, die vielfach als Effekt eines Dauerkonsums brutaler Bilder diagnostiziert wird. Hier aber, so unsere These, ist der Einsatz des Melodrams: Die Protagonisten eines Melodrams kennt man, weil sie einem nahe gebracht werden; und nur weil das Melodram immer Komplexität reduziert, ist es möglich, in, sagen wir zwei Stunden, eine Filmfigur kennenzulernen und mit ihr zu leiden, obwohl sie fiktional ist. In Großaufnahmen von Körper und Gesicht erschrecken uns die Wunden, in point-of-view-shots oder Fokalisierungen erkennen wir mit den Augen einer Filmfigur die Furcht oder das Leiden anderer, das durch diese Zeugenschaft authentifiziert wird. Es sind Melodramen, die Abscheu gegen die Todesstrafe wecken; und ebenso sind es Melodramen, welche buchstäblich einen Aufschrei gegen die Gräuel des Krieges hervorrufen. Insofern ist das melodramatische Kalkül, das kürzlich von Tom Hanks und Steven Spielberg offensiv vertreten wurde im Zusammenhang der Inszenierung des zeitlich und räumlich ganz fernen Kriegsgeschehens in The Pacific, ernst zu nehmen in einem ästhetischen und moralischen Anspruch, der schon mit Saving Private Ryan eingelöst schien.12 Gemeint ist damit, dass die historische Erfah-

11 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a.M. 2005, S. 29f. 12 Vgl. Brinkley, Douglas: The World According to Tom, in: TIME, March 15, 2010, 24-29.

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rung, die in den Wissenschaften in ihrer Struktur erforscht werden kann, im Film zu einer persönlichen werden muss. ANONYMA ist ein zu einer persönlichen Geschichte umgeschriebenes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Während der Zweite Weltkrieg insgesamt in einer Flut von Melodramen, guten und schlechten, thematisiert wird, steht ANONYMA für ein tabuisiertes Kapitel aus der Geschichte des Krieges der Frauen, der nicht schon mit dem Ende des Krieges der Männer endet. ANONYMA ist die Geschichte eines Konflikts, ja eines moralischen Dilemmas: Die namenlose Frau aus Berlin, die in ihrem Tagebuch Zeugnis ablegt von Geschehnissen der letzten Kriegswochen, die namenlose Frau, die im Film verkörpert wird durch die großartige Nina Hoss, durchlebt, wie viele andere, den Exzess von Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten, und sie reagiert darauf mit dem Vorsatz, sich einen Wolf zu suchen, der sie vor den vielen Wölfen schützt. Wenn man mit Gertrud Koch13 davon auszugehen hat, dass es dem Melodram häufig nicht gelingt, die dilemmatische oder auch tragische Konstellation glaubwürdig darzustellen, so muss ANONYMA sich diesem Verdikt stellen und sich an dem Anspruch messen lassen, ein exemplarisches Schicksal ästhetisch und moralisch zu authentifizieren.

A NONYMA : E INE F RAU IN B ERLIN – V OM T AGEBUCH ZUM B UCH ZUM F ILM Als nun im Jahr 2008 der Film Anonyma: Eine Frau in Berlin des deutschen Regisseurs Max Färberböck in die Kinos kommt, wirft ihm die Kritik nicht selten genau jenes Stereotypisieren und Simplifizieren von Kriegserfahrungen vor: Von „Bildklischees“, „abgedroschenen Phrasen“ und „Melodramatisierung“ ist z.B. im Film-Dienst die Rede.14 Interessanterweise entfaltet sich diese Beurteilung immer in Gegenüberstellung zur literarischen Vorlage, denn insbesondere Literaturverfilmungen werden nur selten als autonomes Kunstwerk behan-

13 G. Koch: „Zu Tränen gerührt“. 14 „Anonyma. Eine Frau in Berlin“, in: Film-Dienst (61) 2008, H. 22, S. 3435.

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delt, sondern meistens im Urteil abgeglichen mit der schriftlichen Vorlage, die immer dargestellt wird als „Original“, während die Verfilmung in der Regel von der Filmkritik als defizitär eingeschätzt wird – dies ist auch und in besonderem Maße bei ANONYMA der Fall. Bevor nun die Verfilmung näher betrachtet werden soll, erscheint es daher angebracht, ein paar wenige Worte zu diesem ungewöhnlichen Text und vor allem dessen Rezeptionsgeschichte zu sagen, denn nur so lässt sich der dezidiert abwertende Befund der stereotypen Melodramatisierung, der dem Film ANONYMA vorgeworfen wird, adäquat nachzeichnen. Die Autorin schreibt während der Besatzung Berlins durch die russische Armee Tagebuch, dessen Einträge sich über den Zeitraum vom 20. April bis zum 22. Juni 1945 erstrecken. Viel erfährt man nicht über die Verfasserin, außer dass sie vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs als Journalistin tätig war, um die 30 Jahre alt ist, mehrere Sprachen spricht – darunter russisch – und ihr Lebenspartner Gerd an der Front Kriegsdienst leistet. Am 21. April notiert sie: „Ich schreibe, es tut gut, lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er wiederkommt. […] Es hat keinen Wert. Bloß privates Gekritzel.“ 15 Nach Ende des Krieges tippt die Autorin ihre handschriftlichen Notizen ab. „Dabei wurden“, wie es im Vorwort heißt, „aus Stichworten Sätze. Angedeutetes wurde verdeutlicht, Erinnertes eingefügt.“16 Ein Bekannter der Verfasserin, der Schriftsteller Kurt W. Marek, sorgt dafür, dass der Text, in dem er ein gewichtiges „Zeitdokument“17 erkennt, in einem New Yorker Verlagshaus 1954 publiziert wird, 1955 folgt die britische Ausgabe, es folgen Übersetzungen in über zehn Sprachen. Die deutsche Ausgabe erscheint im Jahr 1959, wird jedoch von der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen und wenn überhaupt, dann mit Ablehnung bedacht. Das „private Gekritzel“ der anonymen Kriegsüberlebenden interessiert das traumatisierte Nachkriegsdeutschland nicht, verfehlt also, die kollektive Amnesie der Wirtschaftswunderzeit zu durchbrechen. 44 Jahre später, im Jahr 2003

15 Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 19. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt a.M. 2003, S. 19. 16 Ebd., S. 5. 17 Ebd.

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aber erscheint im Eichborn-Verlag eine Neuauflage von Eine Frau in Berlin – die euphorisierte ANONYMA-Kritik häuft sogleich Prädikate wie „Geschichte aus erster Hand“, „erschütterndes und aufbauendes Dokument“, „ungeheuerlich“, „großartig“. Das Buch wird zur literarischen Sensation des Sommers 2003 und schließlich gar zum Bestseller – die späte Rehabilitierung eines längst vergessenen Frauenschicksals, wenn man so will. Im September desselben Jahres allerdings folgt der Euphoriewelle eine Enthüllungskampagne, losgetreten von Jens Bisky, seines Zeichens Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung. Bisky konfrontiert die Öffentlichkeit mit zwei nach eigenen Angaben gründlich recherchierten Erkenntnissen: Erstens enttarnt er die vermeintliche wahre Identität Anonymas, wobei es sich um Martha Hillers handeln soll, eine Freundin des Herausgebers Marek, deren Biographie dem Lebensbericht „der Frau aus Berlin“ erstaunlich nahe kommt. Zweitens offenbart Bisky im selben Artikel, dass der Bericht wohl gar nicht von dieser Frau geschrieben sei, sondern vom Herausgeber selbst. Alle Indizien sprächen dafür, so die Tatsache, dass Marek bereits zuvor fingierte bzw. montierte Tagebücher veröffentlicht habe; zudem hätten ihn Leserbriefe auf Sprachwendungen hingewiesen, die in Berlin ganz ungebräuchlich seien, was ebenfalls der alleinigen Autorschaft der Anonyma widerspreche; daher sei das Buch als „zeithistorisches Dokument wertlos.“ Der Artikel endet mit folgender Pointe: Die Tagebuch-Aufzeichnungen geben sich engagiert, sie appellieren an unser moralisches Urteilsvermögen, verlangen, dass wir unsere historischen Urteile überprüfen. Das können wir aber vernünftig erst tun, wenn wir […] wissen, wer was geschrieben hat. […] Solange das Buch in so nachlässiger Edition verkauft und als historisches Zeugnis vermarktet wird, profitieren Verlag und Herausgeber schamlos von der gutwilligen Leichtgläubigkeit der Leser. Diese haben ein Recht zu erfahren, wie es wirklich war mit diesem Buch.18

18 Bisky, Jens: „Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen – Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers“, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2003, nachzulesen in URL:

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Bisky schafft es, mit seinem boulevardesken Enthüllungsartikel, eine hitzige Debatte zu entfachen über Fragen der Autorschaft, über Authentizität und Historizität, bis schließlich Anfang 2004 durch Walter Kempowski einwandfrei die „Echtheit“ der Tagebücher beglaubigt wird. Was aber passiert hier genau? Was ist das eigentlich Empörende am Auftakt dieser Diskussion? Mindestens drei Dinge sind hier zu nennen: Erstens ignoriert Bisky den dezidierten und nachvollziehbaren Wunsch der Verfasserin nach Anonymität. Im Vorwort schreibt diese noch: „Ihre Person ist ohnehin belanglos, da hier kein interessanter Einzelfall geschildert wird, sondern ein grausames Massenschicksal ungezählter Frauen.“19 Dank des Dokumentarfilms BeFreier und Befreite (1992) von Helke Sanders und Barbara Johr wissen wir heute, dass es allein in Berlin ca. 130 000 Frauen waren, die dieses Schicksal teilten20 – das nur als Fußnote. Selbst wenn die angebliche Autorin Martha Hillers, die Bisky nebenbei noch als „eine Art Kleinpropagandistin des Dritten Reiches“21 aburteilt, zum Zeitpunkt der Debatte bereits zwei Jahre tot ist, ist die Missachtung des Wunsches nach Anonymität höchst diskussionswürdig. Die Enthüllung der Identität der Verfasserin dient dem Journalisten jedoch der vermeintlichen Aufklärung über die wahre Natur des Textes. Damit wären wir beim zweiten Punkt: Bisky gesteht zwar Martha Hillers in einem ersten, im besten Wortsinne performativen Schritt Autorschaft zu, jedoch nur, um sie ihr in einem zweiten Schritt gleich wieder abzuerkennen. Aus der historischen Person „Martha Hillers“ wird eine literarische Figur, deren Schöpfer Kurt W. Marek ist, ein Mann also. Der dritte und letzte Punkt, auf den noch aufmerksam gemacht werden soll, bevor wir zur Verfilmung der Tagebücher kommen, ist eine weitere Aberkennung,

http://www.buecher.de/shop/berichteerinnerungen/eine-frau-in-berlin/ano nyma/products_products/content/prod_id/11424506/ vom 03.10.2011. 19 Anonyma: Eine Frau in Berlin, S. 6. 20 Vgl. den gleichnamigen Begleitband: Sanders, Helke/Johr, Barbara (Hg.): BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder, Frankfurt a.M. 2005, S. 5. 21 J. Bisky: „Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen“.

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nämlich die des (zeit-)historischen Werts. Hier nun spätestens tritt Bisky auf als Vertreter der „Wahrscheinlichkeitskritik“, gegen die Roland Barthes bereits in den 1960er Jahren vehement opponierte. 22 Damit ist gemeint, dass der traditionelle Literaturkritiker einzig nach dem Gebot von Wahrscheinlichkeit und Authentizität agiert und diese Ideale durch biographistische Beglaubigungsstrategien zu unterfüttern sucht. Um es auf eine Formel zu bringen: Ein Buch muss einen Autor haben und wenn die Autorschaft nicht zweifelsfrei nachweisbar ist, geht der Wert des Geschriebenen verloren. Da im Fall Anonyma dieses Primat der Glaubwürdigkeit durch die in Frage gestellte Autorschaft nicht mehr gegeben ist, muss dem Text nun insgesamt sein zeithistorischer Wert, d.h. seine Authentizität abgesprochen werden. Was Bisky an dieser Stelle übersieht, und hier kommen wir noch einmal auf den Dokumentarfilm von Sanders und Johr zu sprechen, der wohlgemerkt zum Zeitpunkt des Artikels bereits elf Jahre alt ist, ist das zentrale Thema der Tagebücher, nämlich die real, authentisch und historisch erwiesenermaßen stattgefundenen Massenvergewaltigungen von Frauen zur Zeit des Kriegsendes 1945. Auf diesen zeithistorischen Befund geht Bisky im Rausch seines Enthüllungseifers mit keinem Wort ein. Das kann er schlechterdings auch nicht, da er nicht einmal näher auf Inhalt und Stil des Buches eingeht. Zumindest aber was den Stil angeht, hätte Bisky darin möglicherweise einen weiteren Beleg für seine These gefälschter Autorschaft entdecken können, ist doch Eine Frau in Berlin weit davon entfernt, in die üblichen Kategorien von ‚Frauenliteratur‘ oder aber écriture féminine gesteckt zu werden. Es ist unseres Erachtens der Stil, der neben den bis dato von der Historiographie übersehenen Darstellungen des Kriegsalltags von Frauen die größte Stärke des Berichts ausmacht. Ein Adjektiv, das in nahezu jeder Rezension mindestens einmal auftaucht und versucht, den Stil zu charakterisieren, ist „lakonisch“. Als lakonisch wird eine knappe, aber treffende, trockene, schmucklose Ausdrucksweise bezeichnet, was dem Stil Anonymas tatsächlich nahekommt, gleichwohl nicht immer – in manchen Passagen geht die Sprache in ihrer Kargheit über das

22 Barthes, Roland: „Kritik und Wahrheit“, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, Frankfurt a.M. 2006, S. 186-231, hier: S. 186.

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Knappe hinaus, übrig bleiben prädikat- oder subjektlose Satzrümpfe, insbesondere dann, wenn Schändungen beschrieben werden: Der mich treibt, ist ein älterer Mensch mit grauen Bartstoppeln, er riecht nach Schnaps und Pferden. Klinkt sorgfältig die Tür hinter sich zu […]. Er scheint die Beute gar nicht zu sehen. Um so erschreckender der Stoß, der sie zum Lager treibt. Augen zu, Zähne fest zusammengebissen. Kein Laut. […] Auf einmal Finger an meinem Mund, Gestank von Gaul und Tabak. […] Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. […] In den Boden versinken – so ist das also.23

Die Tatsache, dass ausgerechnet solche Szenen in diesem ausgesprochen skizzenhaften Nominalstil geschrieben sind, erweckt beim Lesen den Anschein, als seien diese Passagen nicht nochmals ex post bearbeitet, d.h. narrativiert worden, wie es andernorts der Fall ist. Der Staccato-Stil lässt jedoch bei genauem Hinsehen deutlich einen Formwilllen erkennen, der versucht, die Grausamkeit des Unsagbaren zu erzählen. Dadurch entsteht unwillkürlich der Eindruck, dass die Schändungen des Leib-Körpers der Verfasserin korrelieren mit dem gleichermaßen geschändeten Text-Körper, der sich schmucklos, verstümmelt und kurzatmig geriert. Auch entsteht dadurch das, was man als Illusion der Präsenz oder aber mit Hans Ulrich Gumbrecht als „Präsentifikation“24 bezeichnen kann: eine narratologische Qualität, die insbesondere präsentisch erzählten Tagebucheinträgen, verfasst in der ersten Person, innewohnt und die bei der Schilderung schmerzhafter Ereignisse beim Leser sehr viel eher Affekte hervorzurufen imstande ist als das distanzierende Tempus des prosaischen Präteritums. Wie es die bereits genannte Susan Sontag im Rekurs auf Gräuelfotos formuliert, lastet analog auf den präsentischen Schilderungen von Schändungserlebnissen in der ersten Person Singular „das Gewicht der Zeugenschaft ohne jede Beimischung von Kunst“25, was den Authentizitätsgehalt und damit freilich auch das Affektpotenzial des Erlebten erheblich steigert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ebenfalls Ano-

23 Anonyma: Eine Frau in Berlin, S. 73. 24 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2005. 25 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 34.

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nymas nahezu stringent durchgehaltene moralische Neutralität im Stil – nur ganz selten wird über Schuld und Unschuld, über Täter- und Opferstatus reflektiert. Der Text verharrt zumeist im Deskriptionsmodus, zeichnet lediglich auf, dokumentiert, ohne jemals zu urteilen – sieht man von einigen klischeebeladenen Darstellungen des russischen Volkes im ersten Teil des Buches ab, dazu später mehr. Wie würde man nun einen solchen Text adäquat in bewegte Bilder transponieren? Im Grunde müsste der Blick Anonymas auf die Gräuel des Krieges, die Leiden der Anderen und die Schändungen des eigenen Körpers perspektivisch ersetzt werden durch das Auge der Kamera, allenfalls ein mediatisierter Blick in den Spiegel dürfte einen flüchtigen Blick auf Physiognomie und Körper der namenlosen Protagonistin erlauben – damit wäre vermutlich das erreicht, was in der Kritik an Literaturverfilmungen üblicherweise als ‚Werktreue‘ bezeichnet wird – keineswegs eine neutrale Kategorie im filmkritischen Diskurs, sondern vielmehr eine durch und durch positiv besetzte Auszeichnung: je näher an der literarischen Vorlage desto besser. Wäre jedoch ANONYMA auf diese Weise verfilmt worden, wäre der Film zwar möglicherweise von der Kritik als ‚experimentell‘, ‚mutig‘ und mit den ‚Sehgewohnheiten des Zuschauern brechender Film‘ gepriesen worden, allerdings wäre das Risiko eines kommerziellen Flops bei einem solchen Großprojekt öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten zu heikel gewesen. ANONYMA ist demnach aus filmästhetischer sowie dramaturgischer Sicht allzu konventionell, was Vor- und Nachteile birgt. Beginnen möchten wir zunächst mit den Paratexten des Films, die häufig aufgrund ihrer überdeutlichen sichtbaren Präsenz Gefahr laufen, bei der Analyse schlicht übersehen zu werden. In unserem Fall geschieht auf paratextueller Ebene Signifikantes: Regisseur Färberböck nennt seinen Film ANONYMA, erst im Untertitel EINE FRAU IN BERLIN. Dadurch wird die anonyme Verfasserin der zugrundeliegenden Tagebücher von der Subjektebene des Autors auf die objektive Ebene des figuralen Inventars hinübergeholt, was im Klartext bedeutet, dass sie zur Figur innerhalb eines Werkes wird, das nicht mehr sie selbst, sondern jemand anders erzählt. Außerdem täuscht der Filmtitel darüber hinweg, dass die Protagonistin eigentlich namenlos also im wörtlichen Sinne anonym ist – der Titel ANONYMA nämlich gaukelt eine paradoxale Namensgebung vor, die dem anonymen Ich der Tage-

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bücher rein formal zuwiderläuft. In der abendländischen Geschichte des Subjekts sind es bekanntlich vor allem zwei Signaturen, die dem menschlichen Individuum seinen Subjektstatus im klassischen Sinne von Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit verleihen: Name und Gesicht. Auf beides verzichtet aus guten Gründen das Tagebuch – setzt sich im Vorwort sogar mit diesem paratextuellen Problem auseinander – der Film aber setzt auf beides: Durch die Titelei einerseits und durch den wiederholten, leitmotivischen, zuweilen exzessiven Fokus der Kamera auf das Gesicht Anonymas alias Nina Hoss. Die Motivation dieses Verfahrens liegt, wie bereits erläutert, vor allem im Identifikationspotenzial solcher für das Melodram typischen Nahaufnahmen begründet. Auch hier treten die Unterschiede in den Zeichensystemen der beiden Medien Literatur und Film offen zutage. Wenn eben gesagt wurde, dass das Tagebuch sowohl auf Namen als auch physiognomische Details verzichtet und dadurch den repräsentativen, metonymischen bzw. kollektiven Charakter des Erlebten hervorheben möchte, gibt es dennoch ein entscheidendes narratologisches Verfahren, das die buchstäbliche Subjektivität des Erzählten nicht vergessen lässt, nämlich die Erzählung in der 1. Person Singular, worauf bereits eingegangen wurde. Hier ist jemand, der unentwegt „ich“ sagt und dadurch eine Unmittelbarkeit erzeugt, die den Leser direkt ins Geschehen hineinzieht und somit einen Identifikationsprozess in Gang setzt, wozu filmisches, objektivierendes Erzählen kaum in der Lage ist. Da aber genau dieser Aspekt äußerst wichtig ist im Rahmen der Rezeption insbesondere des melodramatischen Genres, setzt der Film auf analoge Verfahren – bei ANONYMA geschieht dies primär durch Strategien der visuellen Personalisierung. Hier liegt ein großer Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm: Während jener durch den Massencharakter, d.h. durch Zahlen, Statistiken, Gruppenbilder sowie Bilder von Massengräbern die Kriegsgräuel zu veranschaulichen sucht, versucht dieser durch Erzählen von Einzelschicksalen, letzten Endes durch story-telling26, Pathos und Affektbildung zu generieren, kurz: dem Grauen im wahrsten Sinne ein Gesicht zu verleihen

26 Vgl. zum narratologischen Konzept des „story-telling“: Salomon, Christian: Storytelling. La machine à fabriquer les mots et formater les esprits, Paris 2010.

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und somit einen Identifikationsspielraum zu kreieren. Dabei spielen fraglos Großaufnahmen des Gesichts eine entscheidende Rolle, ja sind gleichsam die bewährte Währung im identifikatorischen Geschäft mit dem Zuschauer. Von Anfang an setzt Färberböck auf diese verlässliche Strategie. Anders als im Buch, das seine Leser in medias res in die Handlung hineinwirft, erzählt der Film mit wenigen kurzen Szenen die Vorgeschichte Anonymas, von ihrem Leben im gut situierten Bildungsbürgertum der deutschen Hauptstadt kurz vor Ausbruch des Krieges. Diese Sequenz endet mit einer Nahaufnahme der elegant, bezeichnenderweise weiß gekleideten Protagonistin und wird hart überblendet in dasselbe Gesicht zur Zeit des Kriegsendes (Abb. 3-4).

Abb. 3-4: Screenshots aus ANONYMA: EINE FRAU IN BERLIN (D 2008)

Der hinzugefügte Prolog lässt in der – vor allem: visuellen – Gegenüberstellung mit dem Hier und Jetzt den Schrecken des Krieges um einiges existenzieller erscheinen. Färberböck arbeitet an mehreren

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Stellen mit vergleichbaren Kontrasten, so vor allem in der ersten Hälfte des Films, der noch sehr schablonenhaft die deutschen Frauenopfer mit den gewalttätigen Rotarmisten konfrontiert – ebenfalls auf der Basis von Nahaufnahmen. Hier zwei Stills aus einer der Schändungsszenen, deren literarische Vorlage bereits thematisiert wurde:

Abb. 5-6: Screenshots aus ANONYMA. EINE FRAU IN BERLIN (D 2008)

Der Film setzt diese Technik gezielt ein, um uns die Protagonistin im wahrsten Sinne ‚nahe zu bringen‘; ein Verfahren also, das dem melodramatischen Genre inhärent ist, um sowohl Pathos zu erzeugen und damit auch Affekte hervorzurufen. Angesichts der nahezu affekt- und emotionslosen Vorlage muss jede filmische Adaption dieses Stoffes zwangsläufig mit dem Stempel der ‚Melodramatisierung‘ versehen werden. Unterstützt wird dieser Befund noch durch den äußerst groß-

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zügigen Einsatz von Filmmusik, die nahezu eins zu eins den wohlbekannten Soundtrack des Komponisten Philip Glass kopiert, der dem Frauendrama The Hours (USA 2002, Regie: Stephen Daldry) seine melodramatische Glasur gab.27 Des Weiteren erfindet Färberböck einige zusätzliche Plotstränge, so z.B. eine mit Eifersucht gespickte Dreier-Liebesbeziehung zwischen Anonyma, dem russischen Major und einer russischen Soldatin, die dem Film gar nicht gut tut. Schließlich noch die Liebesgeschichte einer jungen Deutschen, die im Dachgeschoss des Hauses, in dem sich die Kernerzählung bisweilen kammerspielartig abspielt, einen deutschen Wehrmachtsoldaten versteckt, der am Ende, nachdem er entdeckt wurde, von den Russen erschossen wird. Diese zusätzlichen Handlungseinheiten steigern den melodramatischen Charakter des Films bis nah an die Grenze des Kitsches, was ganz zweifellos dem Flirt mit der großen Öffentlichkeit geschuldet ist sowie dem anvisierten weiblichen Zielpublikum. Was der Film glücklicherweise beibehält, ist der Verzicht auf etablierte Täter-Opfer-Dichotomien. Dieser moralische Schwebezustand stellt sich jedoch erst ab der zweiten Hälfte des Films ein mit der Einführung neuer russischer Charaktere. Da wäre zum einen der bereits erwähnte Major zu nennen als auch weitere Rotarmisten, die aus dem stereotypen Schurkenschema des ersten Teils herausfallen. Das Buch, das selbst vor allem im Hinblick auf die russischen Männer nicht frei ist von gängigen barbarisch konnotierten Stereotypen (so riechen alle Soldaten nach Wodka, haben keine Schulbildung, sind ungepflegt, primitiv, etc.), macht diesbezüglich auch in der zweiten Hälfte eine Kehrtwende. Hier vollzieht sich dieser Wandel insbesondere aufgrund der Einsicht, dass auch bestimmte Russen über Bildung, europäisch anmutende Manieren und politisches Wissen verfügen. Der Film bedient sich zur Visualisierung dieses Wandels abermals stereotyper Physiognomien, d.h. Nahaufnahmen: Die Gesichter der Soldaten des zweiten Teils sind weitaus weniger schurkenhaft und ansehnlicher als die der ersten Hälfte:

27 Vgl. Schuhen, Gregor: „Am Anfang war der Suizid. Anmerkungen zur Intermedialität in Stephen Daldrys The Hours“, in: ders./Marijana Erstić/Tanja Schwan (Hg.), SPEKTRUM reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Siegen 2009, S. 301-333.

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Abb. 7-8: Screenshots aus ANONYMA. EINE FRAU IN BERLIN (D 2008)

Die Analyse abschließend soll nun noch auf eine Schlüsselszene aus ANONYMA eingegangen werden, eine Szene nämlich, die den strukturellen sowie moralischen Wendepunkt des Films erkennen lässt. Damit soll keineswegs der Verdacht aufgestellt werden, dass der Film versuche, die Massenvergewaltigungen der Rotarmisten zu legitimieren – genauso wenig wie das Buch revisionistische Ambitionen verfolgt, d.h. die deutsche Kriegsschuld zu relativieren versucht, was ihm in der Kritik zuweilen vorgeworfen wurde. Die moralische Ambivalenz, die durch diese Szene eingeleitet wird, dient vielmehr auch dazu, den inneren Konflikt der Protagonistin näher auszuleuchten – ein Konflikt, der die Frauen des Krieges auch nach dem Film weiterverfolgen wird durch das aufoktroyierte Schweigegebot, dem sich Anonyma mutig entgegensetzt, um nicht die erlittenen Schändungen durch Verdrängung ins Endlose zu verlängern. Im Buch sagt sie dazu: „Wir dagegen werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen,

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als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren.“28 Die Szene, auf die nun noch eingegangen werden soll, ist auch insofern emblematisch, als man an ihr – zumindest im Gegensatz zur Vorlage – den exzessiven Gebrauch des melodramatischen Gestus sehr gut nachweisen kann und sie gleichzeitig mit dem starren, d.h. stereotypen Täter-Opfer-Schema der ersten Filmhälfte bricht. Zunächst sei die sehr knappe Schilderung aus dem Tagebuch vorgestellt: Der zweite russische Gast ist ein junger Kerl, siebzehn Jahre alt, Partisan gewesen und dann mit der kämpfenden Gruppe westwärts gezogen. Er sieht mich mit streng gerunzelter Stirn an und fordert mich auf, zu übersetzen, daß deutsche Militärs in seinem Heimatdorf Kinder bei den Füßen gefasst, um ihre Köpfe an der Mauer zu zertrümmern. Ehe ich das übersetze, frage ich: ‚Gehört? Oder selbst mit angesehen?‘ Er, streng, vor sich hin: „Zweimal selbst gesehen.“ Ich übersetze.29

Die Adaption dieser scheinbar nebensächlichen Szene bekommt im Film den Wert einer Schlüsselszene beigemessen, die das ganze moralische Konfliktpotenzial der Handlung sowie die dilemmatische Grundstruktur des Themas noch einmal emblematisch ausstellt. Zunächst wird die Dauer der Szene auf einige Minuten ausgeweitet, was angesichts der knappen Skizzierung aus dem Tagebuch einen ersten Hinweis auf die Aufwertung des Geschehenen zulässt. Nahaufnahmen des jungen Russen wechseln sich im Schuss-Gegenschuss-Verfahren mit Anonymas Gesicht ab. Die mündliche Erzählung der Kindsmorde kostet den Soldaten einiges an Überwindung, immer wieder bricht seine Rede ab; in den Pausen übersetzt Anonyma das Gesagte ins Deutsche. Somit wird theatralisches Pathos, aber auch filmische Spannung erzeugt. Indem Anonyma die Gräueltaten mit ihrer eigenen Stimme, ihrer eigenen Muttersprache wiederholt, erhält das Ganze unweigerlich einen konfessorischen Charakter, der die am eigenen Leib erfahrenen Schändungen kurzzeitig vergessen lässt. Auch wenn der Film durch Szenen wie diese den melodramatischen resp. melodramatisie-

28 Anonyma: Eine Frau in Berlin, S. 163. 29 Ebd., S. 146.

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renden Modus beinahe auf die Spitze treibt, trägt doch genau die daraus resultierende Plakativität zum Reflexionsprozess über Fragen von Schuld und Moral bei, was ein Dokumentarfilm so höchstwahrscheinlich nicht leisten könnte.

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ANONYMA, ein Film über den Krieg der Frauen, ist ein Melodram und als ein solches getragen von Stereotypen – Figuren und Konstellationen. Zugleich aber, und das zeigt die zuletzt besprochene Filmsequenz ebenso wie die als Klischee verdammte Liebesgeschichte, durchkreuzt er die Stereotypenbildung. Das moralische Dilemma einer Frau aus Berlin wird dadurch glaubwürdiger, authentischer; Krieg und Gewalt werden in ihrem universellen, gleichgültigen Schrecken offenbart: Im Krieg bleibt niemand ohne Schuld, der Mensch wird monströs. Bei Susan Sontag heißt es: „Das Bild sagt: Setz’ dem ein Ende, interveniere, handle. Und dies ist das Entscheidende, die korrekte Reaktion.“30

Unter diesem Aspekt kann auch noch einmal Jens Biskys ebenso investigatorischer wie rechthaberischer Verriss des, wie er betont, im Eichborn-Verlag Hans Magnus Enzensbergers „schlampig“ herausgegebenen Buches begutachtet werden. Es ist nämlich schon bemerkenswert, in welch selbstgerechter Weise er Anonyma, die Frau aus Berlin, die möglicherweise Maria Hillers hieß, aburteilt „als eine Art Kleinpropagandistin des 3. Reiches“ und als eine, die erstaunlich eigenmächtig agierte: „Rot oder braun? Es ging um Bewegung. Marta Hillers hatte diesen Ratschlag nicht nötig, sie war ohnehin gern on the road.“31 Indem ihm so die Recherche polemisch und boulevardesk entgleist, verpasst er Differenzierungsstrategien, die in Buch und Film

30 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, Klappentext. 31 J. Bisky: „Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen“.

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angelegt sind, und liegt selbst Stereotypen auf – und sei es solchen seiner eigenen Erziehungs- und Bildungsjahre.

‚Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘ Menschlichkeit und Bestialität im Roman Als gäbe es mich nicht von Slavenka Drakulić S LAVIJA K ABIĆ

S. glaubt, die kleine Z. sei unter ihnen. Wer wird sich nun um das Mädchen kümmern? Sie bleibt stehen, schaut durchs Fenster. Ist Z. dabei? fragt sie. N. schüttelt den Kopf und dann bekreuzigt sie sich rasch mehrere Male. Alles liegt in dieser Kopf- und Handbewegung, alle möglichen Erklärungen. Z. ist tot, sagt N., sie wurde vergewaltigt. Gestern abend. S. möchte nichts Näheres wissen. Aber sie war doch noch ein Kind, sagt S. immer wieder, als hätten diese Worte jetzt noch einen Sinn. Die beiden werden hierbleiben, begraben neben dem Lager. Auch ein Teil von S. wird hierbleiben, zusammen mit ihnen begraben. Sie wird unter der Nebeldecke, in der Erde, an diesem Ort zwischen Wald und Bergen, umgeben von Stacheldraht, all jene quälenden Erinnerungen lassen. S. weiß, gleich unter einer dünnen Schicht Erde sind Menschenknochen, eines Tages werden sie an die Oberfläche kommen und weiß in der Sonne liegen, damit alle sie sehen, selbst wenn die Lebenden das ihnen angetane Unrecht vergessen.

1

1

Drakulić, Slavenka: Als gäbe es mich nicht. Roman. Aus dem Kroatischen von Astrid Philippsen. Berlin 2006, 2. Auflage, S. 131. – In der Folge als (A, Seitenangabe).

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1. „D IE M UTTERMILCH SOLL DIR SAUER AUFSTOSSEN “ Im Jahre 2004, dreizehn Jahre nach Kriegsbeginn im ehemaligen Jugoslawien, erschien der Roman Ministarstvo boli2 von Dubravka Ugrešić (geb. 1949), zuerst in ihrer kroatischen Muttersprache. Ein Jahr später folgte die deutsche Ausgabe unter dem Titel Das Ministerium der Schmerzen.3 Am Romananfang steht folgende Behauptung der Autorin, obwohl sich in dem aus Fakten und Fiktionen gewobenen Text ihre Biografie und ihre Exilerfahrung deutlich genug erkennen lassen: „Alles in diesem Roman ist frei erfunden: die Erzählerin, ihre Geschichte, die Situation, die Personen. Sogar der Ort der Handlung, Amsterdam, ist nicht allzu realistisch. D.U.“4 Die Ich-Erzählerin Tanja Lucić ist eine junge, heimat- und sprachlos gewordene Literaturwissenschaftlerin, die ihr Land unmittelbar vor Kriegsausbruch verlässt und an der Amsterdamer Universität eine Stelle als Dozentin für serbokroatische Literatur erhält. Mit ihren aus allen Teilen Jugoslawiens stammenden Studenten, die vor den verheerenden Kriegsfolgen in die Niederlande flüchteten, versucht sie, ein ‚jugonostalgisches‘5 Experiment durchzuführen, indem die Studenten ihre Erinnerungen an den jugoslawischen Alltag, an Kindheit, Spra-

2

Ugrešić, Dubravka: Ministarstvo boli. Zagreb 2004.

3

Ugrešić, Dubravka: Das Ministerium der Schmerzen. Roman. Berlin 2007 (BvT 0461). Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak und Mirjana und Klaus Wittmann.

4

Ebd., S. 5. – Vgl. hierzu Kabić, Slavija: „Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft. Vom Verlust der Heimat in der Prosa von Dubravka Ugrešić und Monika Maron“, in: Marijan Bobinac/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext, Basel-Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2008, S. 267-278, hier S. 276.

5

Einfache Anführungszeichen werden von mir eingesetzt. Doppelte Anführungszeichen stehen entweder im Original oder sind in der Öffentlichkeit akzeptiert worden.

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che, Elternhaus, Schule, Lektüre, Tanzunterricht, Ferienerlebnisse, Einkaufs- und Schmuggelreisen nach Triest ‚sammeln‘. In der Fremde werden sie in sonderbare Versuchskaninchen verwandelt, die ihre einstige, mehr oder weniger glückliche Vergangenheit durch Geschichte, Gespräch und Aufsatz in ihrer BKS-Muttersprache (B/K/S: Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) rekonstruieren sollen, dadurch aber auch ihre dunklen Geheimnisse aus der traumatisch empfundenen Kriegszeit preisgeben müssen.6 Die Auseinandersetzung mit den Gräueln aus der jüngsten Vergangenheit (Flucht, Gewalt/Vergewaltigung, Verlust von Eltern, Geschwistern und Verwandten, Verlust von Hab und Gut, Verlust von Heimat und Sprache) soll, meint Tanja, junge Menschen auch dazu befähigen, ihre neuen Biografien zu ‚erfinden‘, damit sie weiterleben könnten.7 Am Romanende liest man eine Auflistung von etwa hundert sprichwörtlichen Verwünschungen, welche die Ich-Erzählerin ihre „Balkanlitanei“8 nennt und die somit ihre Wut und Machtlosigkeit angesichts der furchtbaren Ereignisse in ihrer Heimat zum Ausdruck bringt. Unter den vielen Verfluchungen bezieht sich nur eine auf die

6

Vgl. S. Kabić: „Das Ministerium der Schmerzen ...“, S. 276f.

7

Vgl. D. Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen, S. 15: „Die Geschichte von der Bosnierin hatte ich schon in Berlin gehört. Sie war mit der ganzen Familie auf der Flucht, mit dem Mann, den Kindern, den Schwiegereltern. Dann kam das Gerücht auf, die Flüchtlinge würden nach Bosnien zurückgeschickt. In ihrer Angst bat die Frau ihre Ärztin um eine fingierte Einweisung in die Psychiatrie. Der zweiwöchige Klinikaufenthalt war für die Frau eine Erfahrung der Freiheit, so stark und betäubend, dass sie beschloss, nicht zurückzukehren. Sie verschwand, änderte ihre Identität, wer weiß, was mit ihr geschah, ihre Angehörigen sahen sie nie wieder. Ich habe Dutzende solcher Geschichten gehört. Der Krieg war für viele ein Verlust, aber auch ein guter Grund, das alte Leben abzuschütteln und ein neues anzufangen. Der Krieg hat wirklich das Leben der Menschen verändert. Selbst Irrenhaus, Gefängnis und Gerichtssaal wurden zu normalen Varianten.“

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D. Ugrešić, Das Ministerium der Schmerzen, S. 283.

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Mutter bzw. Mutterschaft: „Die Muttermilch soll dir sauer aufstoßen.“9

2. „D IE M ILCH SCHIESST

EIN “

Mit dem Bild der zwei jungen Mütter, die im Stockholmer Karolinska Krankenhaus am 27. März 1993 entbunden haben, beginnt der Roman von Slavenka Drakulić (geb. 1949) Als gäbe es mich nicht, 1999 zuerst in deutscher Sprache erschienen. Die Schwedin Maj bringt die Tochter Britt zur Welt, die andere Frau, S., ist eine Fremde, der Sprache, der Heimat und der Familie beraubte junge Frau. Sie kommt aus Bosnien, Maj ist in ihrem Heimatland Schweden. Für S. ist ihr Kind, ein Junge, „nur ein namenloses Geschöpf, das nach neun Monaten aus ihr herauskam. Mehr verbindet sie nicht mit ihm“. (A, 7) Während Maj ihr Kind stillt und dabei S. anlächelt, lächelt S. ihr nicht zurück. „Sie spürt einen heftigen Druck in den Brüsten, [...] die Milch schießt ein“ (A, 16), aber sie „weiß nichts mit sich anzufangen“ (A, 16). In ihren sie peinigenden Gedanken vergleicht sie ihre beiden Leben und die der Neugeborenen: „Sicherlich hat es auch einen Vater, dessen Vor- und Nachname, Beruf, Augenfarbe, Gewohnheiten bekannt sind. Das Kind hat alles: Mutter, Vater, Sprache, Heimat, Sicherheit. Dieser kleine Körper, den S. geboren hat, besitzt nichts davon.“ (A, 8) Im gleichen Jahr (1999) wurde die kroatische Ausgabe, eigentlich das Original des Buches unter dem Titel Kao da me nema 10 veröffentlicht. Das Thema der Massenvergewaltigungen der Frauen im Bosnienkrieg (1992-1995) war wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe, warum dieser Roman zuerst im Ausland veröffentlicht wurde. 11 Das

9

Ebd., S. 285.

10 Drakulić, Slavenka: Kao da me nema. Split: Feral Tribune 1999, 1. Auflage. 11 Im Interview mit Ivana Mikuličin für die Zagreber Zeitung Jutarnji list (v. 03.11.2005 unter dem Titel: „Moja je glavna ambicija samo preživljavanje“/Mein Hauptanliegen ist nur überleben) sagte S. Drakulić, dass in Kroatien nur fünf Besprechungen des Romans Als gäbe es mich nicht er-

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Sprechen über die erlebten Traumata, besonders über Vergewaltigung, greift, so die kroatische Literaturwissenschaftlerin Andrea Zlatar, in die Räume der sozialen Vorurteile und Tabus ein, sodass „wir, auch zehn Jahre nach Kriegsende, keine systematische Analyse über den soziologischen und politologischen Charakter der Vergewaltigungen [...] vorweisen können“12 Im Ausland sorgte aber dessen Veröffentlichung für literarkritische und wichtige sozial-politische Reaktionen.13 In ihrem Vorwort zu Sabrani romani (dt. Gesammelte Romane) von Slavenka Drakulić bezieht sich Andrea Zlatar 2003 auf die Worte der Autorin darüber, wie sie Bekenntnisse und Aussagen der Frauen (meistens waren es Musliminnen), die im bosnischen Krieg vergewaltigt worden waren, las oder diesen Frauen bei ihren Zeugnissen/Bekenntnissen zuhörte, und wie sie in einem Augenblick zu dem Schluss kam, dass die Frauen sich in ihrem Erzählen wiederholten. Wegen dieser Wiederholungen und der Erzählweise – sie war sehr knapp und reduziert, was auch selbstverständlich war – wirkten ihre Aussagen ermüdend.14 Die bloße Tatsache also, dass diese Frauen vergewaltigt

schienen sind, also eines Romans über die Vergewaltigungen der Frauen im Bosnienkrieg, während es in anderen Ländern, in denen der Roman veröffentlicht wurde, wenigstens je fünfundzwanzig Rezensionen pro Land gab. Hier zitiert nach URL: http://www.mvinfo.hr/izdvojeno-razgo vor-opsirnije.php?ppar=334 vom 17.06.2010. 12 Zlatar, Andrea: „Žena, identitet, tijelo“ (Predgovor) [dt. „Frau, Identität, Körper“; Vorwort], in: Slavenka Drakulić, Sabrani romani (Hologrami straha, Mramorna koža, Božanska glad, Kao da me nema)[dt. Gesammelte Romane: Das Prinzip Sehnsucht, Marmorhaut, Liebesopfer, Als gäbe es mich nicht]. Zagreb 2003, S. 5-21, hier S. 17. (Übersetzungen der Zitate aus der Sekundärliteratur aus dem Kroatischen ins Deutsche in diesem Beitrag sind von mir, S.K.) 13 Ebd., S. 7. 14 Ebd., S. 16. - Vgl. auch das Interview Slavenka Drakulićs mit Petar Vidov (erschienen im Portal index.hr am 26.10.2010, nach der Premiere des Spielfilms AS IF I AM NOT THERE in Sarajevo Film Festival): Eigentlich sollte es sich, nach dem ursprünglichen Plan und der Abmachung mit ihrem Verleger in Deutschland und den USA, um die Erstellung einer Sammlung von authentischen Dokumenten handeln, um die Sammlung

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wurden, dass es sich um wahre Ereignisse handelte, genügte nicht, dass sie auf die Zuhörer oder Leser erschütternd wirkten. Diese Ereignisse mussten auf eine andere Art und Weise erzählt werden, jene Grausamkeiten mussten, meinte Drakulić, in der Kunstprosa ausgedrückt werden. 15 Drakulić hatte in ihrem Kommentar, so Zlatar, sehr genau einen der Gründe für die „literarische Unattraktivität“ solcher Bekenntnis-Texte erkannt. Das Problem lag darin, dass im bekenntnishaften Diskurs der Opfer (der Flüchtlinge, der Traumatisierten, der Vergewaltigten usw.) eine Art Ungleichgewicht zwischen zwei extrem entfernten Punkten herrschte, zwischen dem Punkt der eigenen Erfahrung und den unbewusst aufgenommenen Schemata und Stereotypen, mit deren Hilfe man seine eigene Erfahrung, die im Grunde fast nicht aussprechbar war, ausdrücken konnte. Zlatar schließt: „Die Authentizität der eigenen Erfahrung ist wertvoll, aber die eigene Erfahrung steht immer – paradoxerweise – an der Grenze zu dem Anonymen: ‚Kleine‘ Geschichten einzelner Menschen werden nur Mosaiksteinchen in der ‚großen‘ Geschichte, in der gemeinsamen Kollektivgeschichte.“16 Drakulić erzählt im Roman eine der vielen, eine der möglichen Geschichten über die systematischen Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen, die auf authentischen Ereignissen aus dem Krieg in Bosnien beruhen, die Geschichte von einer jungen 29-jährigen Muslimin, einer Lehrerin, die in einem serbischen Frauenkonzentrationslager

von Aussagen der Frauen, die den Horror durchgemacht haben. „Wir stellten aber fest, dass die Wiederholungen in den Zeugnissen der Opfer nicht Entsetzen, sondern Langeweile erregten. Dann habe ich eingesehen, dass das Thema nicht auf diese Art und Weise behandelt werden kann. Ich wollte, dass Leser und Leserinnen sich mit der Situation identifizieren und so ist der Roman entstanden, der auf Dokumenten basiert. Jedes einzelne Element im Roman ist faktografisch, aber die Geschichte ist insofern fiktiv, da eine Hauptfigur aus mehreren realen Personen zusammengesetzt ist. URL: http://www.index.hr/vijesti/clanak/slavenka-drakulic-nema-slobodeu-hrvatskim-medijima-vecina-novinara-je-kupljena-/520069.aspx vom 26. 10.2010. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 17.

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brutal wieder und immer wieder vergewaltigt wurde. Da es für eine Abtreibung zu spät war, hat sie sich vor der Geburt entschlossen, das Kind zur Adoption freizugeben. In der Abgeschiedenheit des Krankenhauses holen sie die schrecklichen Erlebnisse der zurückliegenden Monate wieder ein: die Schläge und Folterungen, der Hunger und Schmerz, die Erniedrigung, das Ausgeliefertsein, die Allgegenwart des Todes. Bilder, denen sie auch im schwedischen Asyl nicht entfliehen kann. 17 In Rückblenden, zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselnd, und in tagebuchartiger Form – die älteste Vergangenheit beginnt Ende Mai 1992 in einem bosnischen Gebirgsdorf, die jüngste Vergangenheit sind die zwei Tage im März 1993 (der 27. und 28. März) im Stockholmer Karolinska Krankenhaus – hat sich Drakulić an die literarische Aufarbeitung eines Themas herangewagt, welches – ähnlich wie bei der literarischen Gestaltung der Shoah – wegen der Unmöglichkeit der Verfasser, das Böse, das Grauenvolle, das Unsagbare mit Sprachmitteln zu beschreiben, zu umfassen, zu entlarven, um nicht ins Pathetische zu entgleiten,18 nur wenigen Sprachkünstlern gelingt.

17 Schmidt, Gudrun: „Zerstörtes Leben. Rezension zu Slavenka Drakulic: Als gäbe es mich nicht“, in URL: http://www.luise-berlin.de/lesezei/blz00_06/ text08.htm vom 08.05.2010. 18 Vgl. Wallas, Armin A.: „Jüdische Identität(en) in Mitteleuropa – Literarische Modelle der Identitätskonstruktion. Einleitende Bemerkungen“, in: Wallas, Armin A. (Hg.), Jüdische Identitäten in Mitteleuropa. Literarische Modelle der Identitätskonstruktion, Tübingen 2002, S. 1-15, hier S. 3: „Angesichts der historischen Zäsurerfahrung der Shoah sahen – und sehen – sich Kunst und Literatur vor das Dilemma gestellt, die Schrecken, Grausamkeiten und Traumatisierungen der nationalsozialistischen Judenvernichtung zu verarbeiten, ohne der Gefahr zu erliegen, die historische Realität zu ästhetisieren. Die Aporie einer literarisch-künstlerischen Thematisierung der Shoah liegt darin begründet, daß zum einen die Wucht des Themas eine Aufarbeitung geradezu erzwingt – vor allem, um die Erinnerung an das Geschehen wachzuhalten und dem Vergessen und Verdrängen entgegenzuarbeiten –, zum anderen jedoch jeder Versuch einer solchen Aufarbeitung mit seinem eigenen Scheitern konfrontiert wird.“

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In ihrer Buchbesprechung schreibt Gudrun Schmidt weiter: Bei ihren Recherchen in Flüchtlingslagern erlebte sie [Drakulić, Anm. S. K.] das stumme Leid, das Schweigen der kriegstraumatisierten Frauen. Ihnen, so Slavenka Drakulić, will sie mit diesem Buch „eine Stimme geben“. Die Form des Romans erschien ihr dafür am ehesten geeignet, das Unbegreifliche, Unsagbare faßbar zu machen. Da die erzählte Geschichte auf umfangreichen Studien, Aufzeichnungen und Fakten beruht, wirkt sie authentisch. Dem Dokumentarischen dient, daß die Autorin Buchstaben statt Namen verwendet. Das Schicksal der jungen Muslimin S. steht somit verallgemeinernd für viele Einzelschicksale, für das unermeßliche Leid, das den Frauen im Krieg zugefügt wurde.19

Die junge Protagonistin wird auf einen Buchstaben reduziert, wie auch alle anderen weiblichen und männlichen Figuren, womit ihr Recht auf Zeugen-Anonymität bewahrt, aber auch die Verbindung mit dem Romantitel aufrechterhalten wird, d.h. die Depersonalisierung der Haupthelden weist auf deren Hilflosigkeit und Unfähigkeit hin, ihre eigene Geschichte „unter Kontrolle“ zu halten.20 Anonyme Erzähler haben einen versteckten Namen, weil sie ihre Geschichte in der Öffentlichkeit nicht als ihre eigene, sondern als eine paradigmatische präsentieren wollen: Sie hat eine Bedeutung für die Gemeinschaft.21 Drakulić bedient sich dabei des Erzählens in der dritten Person, teils aus auktorialer, teils aus personaler Sicht. Für sie war diese Erzählperspektive eine bessere Lösung, da das Erzählen in der ersten Person der Dokumentaristik und dem Zeugnis zu nahe wäre und sie eine gewisse Distanz nötig hatte.22 S. ist eine junge Frau aus Sarajevo, wo auch ihre Eltern und ihre Schwester L. leben. Ihr Leidensweg fängt Ende Mai 1992 an, als ihr, der Lehrerin in Vertretung im kleinen bosnischen Gebirgsdorf B., wie auch anderen Frauen und Kindern im Dorf von feindlichen Soldaten – Serben – befohlen wird, in wenigen Minuten ihre sieben Sachen zu

19 G. Schmidt: „Zerstörtes Leben ...“. 20 A. Zlatar: „Žena, identitet, tijelo“, S. 17. 21 Ebd., S. 17. 22 Ebd., S. 16: Worte von S. Drakulić.

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packen und in die Busse einzusteigen. Sie werden deportiert. Ihre Endstation ist ein Sammellager, ein Konzentrationslager: „Als sie im Lager eintrafen, ist es bereits Nacht. Die Autobusse bleiben am Rand der ungepflasterten Straße stehen, vor dem Stacheldrahtzaun.“ (A, 32f.)23 Vom ersten Tag an werden S. und ihre Leidensgenossinnen vergewaltigt, von jetzt an gehört ihr Körper nicht nur ihr, sondern auch den anderen. Nach kurzer Zeit kommt S. mit sieben anderen hübschen Mädchen und jungen Frauen in den sog. „Frauenraum“, wo sie ‚nur‘ einigen Offizieren sexuell Tag und Nacht zur Verfügung steht und somit wird sie in gewissem Maße von der ‚eigentlichen‘ Brutalität seitens vieler anderer Soldaten verschont. Andere Frauen im Lager werden, ungeachtet ihres Alters, egal ob noch im Kindesalter, ob junge Mädchen, reife oder alte Frauen, wieder und wieder gedemütigt, erniedrigt, geschändet, vergewaltigt, unmenschlich behandelt, gefoltert, zum Selbstmord gezwungen, getötet, verbrannt und schließlich – auch von solchen Fällen wird berichtet – in den Müll geworfen.24 Die schrecklichen Todesarten erleiden dabei gleichermaßen weibliche wie auch männliche Lagerinsassen: Der Tod ist ihnen hier nahe, er ist etwas Menschliches, sogar wenn er grausam und gewalttätig ist. [...] Menschen brennen wie Abfall in Müllcontainern, zu-

23 Vgl. Zlatar, Andrea: „Pretvorbe ženskog glasa u suvremenoj hrvatskoj prozi“ [dt. „Verwandlungen weiblicher Stimme in der kroatischen Gegenwartsprosa“], in URL: http://www.ffzg.hr/kompk/TEKSTOVI%20NAS TAVNIKA/A%20Zlatar%20Pretvorbe%20zenskog%20glasa%20u%20su vremenoj%20hrvatskoj%20prozi.doc, 28 S. vom 08.07.2010: „Gewalttätige Vertreibung aus dem Haus, Deportation (der Terminus ist vollkommen identisch mit den Erfahrungen des Holocaust), Ankunft in dem Lager.“ 24 Vgl. G. Schmidt: „Zerstörtes Leben ...“: „Differenziert und mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Slavenka Drakulic das Grauen im Lager, wo Glück für die Insassen nur ‚der Augenblick der Erholung zwischen zwei Abscheulichkeiten’ ist. Mütter müssen mit ansehen, wie ihre halbwüchsigen Töchter geschändet und danach erschossen werden, Väter werden zu sexuellen Handlungen an ihren minderjährigen Söhnen gezwungen.“

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sammen mit dem Müll – und stinken hundertmal schlimmer. Ist das das Äußerste? Oder gibt es noch etwas Schlimmeres? Die Leichen der getöteten Lagerinsassen an Tiere verfüttern? [...] Die getöteten Männer sind für die keine Menschen, sondern menschlicher Abfall, deshalb wurden sie umgebracht. (A, 99)

Der deutschen Ausgabe des Buches wurden drei Motti vorangestellt, die den Erinnerungen bzw. Erzählungen der drei Autoren mit entsetzlichen Lagererfahrungen aus dem sowjetischen GULAG, dem Zweiten Weltkrieg und den jugoslawischen Gefängnissen nach 1945 entnommen wurden. Im Zitat des italienischen Auschwitz-Überlebenden Primo Levi sticht folgender Satz aus seinem ergreifenden Buch Ist das ein Mensch? hervor: „Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden.“ Drakulić führt danach einen Satz aus den Erinnerungen der kroatischen Autorin Eva Grlić über ihre dreijährige Internierung im jugoslawischen Gulag-Gefängnis (auf den Inseln Goli otok und Sv. Grgur) an: „[...] schien mir zeitweise, als sei das gar nicht ich, es geschieht einem anderen, und alles Gesehene ist eigentlich ein Teil einer anderen, unwirklichen Welt.“ Nach vielen Haftjahren, die er in stalinistischen Lagern vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg verbracht hat, resigniert der russische Schriftsteller Warlam Schalamow in seinen Geschichten von der Kolyma: „Ein Mensch überlebt durch seine Fähigkeit zu vergessen.“25 Auch für S. gilt es: „Wenn sie zwischen zwei Wirklichkeiten gerät, fühlt sie sich, als gäbe es sie nicht.“ (A, 35) Diese Motti funktionieren m. E. als Zeichen unverkennbarer Verbindung zwischen den nationalsozialistischen und stalinistischen (auf sowjetische und jugoslawische Art) Verbrechen gegen die Menschheit einerseits und den Verbrechen, die Ende des 20. Jahrhunderts mitten in Europa, in dessen südöstlichem Teil, den man den Balkan nennt, vom Militär einer ethnischen Gruppe an den Menschen anderer ethnischer Gruppen begangen wurden, andererseits. Die Rede ist hier von den Massenvergewaltigungen der Frauen, vor allem auf dem Gebiet

25 S. Drakulić: Als gäb es mich nicht, S. 5: Zitate aus drei Motti. – In der ersten kroatischen Ausgabe des Buches (1999) gibt es die drei Motti nicht. Sie befinden sich aber in Drakulićs Sabrani romani, 2003, S. 469.

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Bosniens, die in der Zwischenzeit von Soziologen und Politologen sowohl als individuelle Tat als auch als geplanter Massenmord, als Form des „speziellen Kriegs“ und Methode der ethnischen Säuberung gedeutet wurden26, als geplante Kriegsstrategie der einen Ethnie gegen die andere(n). Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden auf dem Gebiet des damals noch existierenden Jugoslawien sog. jugoslawische Nachfolgekriege geführt, Männer- und Frauenkonzentrationslager wurden errichtet, wieder einmal wurden die ‚vorbildhaften‘ Muster des Quälens und des Mordens aus der faschistischen Praxis ‚erfolgreich‘ nachgeahmt und zur brutalen, ja perfiden Perfektion gebracht.27 Ein Staat (eigentlich mehrere Kleinstaaten/Republiken Jugoslawiens) benutzte unmenschliche Qual-Methoden und Todesarten an seinen Opfern, Angehörigen eines anderen Volkes, und versuchte, die Menschen psychisch und physisch auszurotten: Die Anführer einer Ethnie/einer Volksgruppe/einer Nation nahmen sich das Recht, die Angehörigen einer anderen Ethnie/einer anderen Volksgruppe bzw. Nation aus religiösen und/oder nationalen Gründen zu diskriminieren und mit gewaltsamen Mitteln (die sog. ethnische Säuberung oder „humane Umsiedlung“, durchgeführt auch durch die Massenvergewaltigungen der Frauen) aus einem Gebiet ihres bisher gemeinsamen Landes, aus ihrer Heimat – aus nur ‚ihnen‘ zugehörigem, aus ‚ihrem‘ durch Blut-und-Boden erkämpften Gebiet – ein für allemal zu vertreiben oder zu vernichten. In seiner Studie Sexualität und Aggression, in der er sozialpathologische Aspekte der modernen Gesellschaft analysiert, schreibt Hermann Glaser im Kapitel „Der SS-Staat“: Das Grundprinzip des sadistischen Staats, den anderen als Opfer total verfügbar zu haben und in der Tortur die Lust der Selbstausdehnung im anderen zu 26 A. Zlatar: „Žena, identitet, tijelo“, S. 17. 27 Vgl. Cigelj, Jadranka: Apartman 102. Zagreb: Agencija za komercijalnu djelatnost 2002. – Auf erschütternde Art und Weise schildert die Autorin, eine Kroatin aus Prijedor in Bosnien, ihre eigenen Lagererfahrungen und die ihrer Leidensgenossinnen und –genossen in dem berüchtigten bosnisch-serbischen Lager Omarska, wo sie vom 14. Juni bis 8. August 1992 konfiniert war.

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erleben, machen die NS-Lager zu Exerzierplätzen, auf denen sich eine neue Normalität, die Normalität des Irrsinns, ausbreitet. – „Für uns seid ihr alle keine Menschen, sondern nur ein Misthaufen ... mit wirklichem Behagen jagen wir euch alle durch die Roste der Krematoriumsöfen hindurch ... Hier werdet ihr wie Hunde verrecken.“28

Bei Drakulić heißt es: Der Soldat setzte den Stiefel auf ihre Brust. Dreh dich zu mir, befahl er. S. wandte den Kopf zu, ließ die Augen jedoch geschlossen. Noch nicht. Mach den Mund auf, befahl der Soldat. S. öffnete den Mund. Sie spürte den warmen Strahl seines Harns auf ihrem Gesicht. Trink, schrie es, trink! Es gab keinen Ausweg. Sie trank die salzige Flüssigkeit. Das kam ihr endlos lange vor, und sie wollte nichts als sterben. (A, 15f.)

Die Träger jeder Kriegsstrategie sind seit jeher Männer – als Ideologen, Krieger, Soldaten, Eroberer, Räuber, Mörder, Verbrecher. Ihre ‚Schutzzeichen‘ sind Waffen und Gewehre, Uniform und Stiefel, Alkohol, Gestank und Geruch, Schmutz und Urin, Anbrüllen und Anschreien, Befehlen und Kommandieren, Gewalt und Vergewaltigung, Tortur und Morden. Fast wie selbstverständlich steht ihnen zu, Angehörige einer anderen in ihren Augen sozial und kulturell niedriger gestuften Nation zu demütigen, indem sie sie in Gefangenschaft halten und kontinuierlich vergewaltigen. Falls diese Frauen in solcher unmenschlichen Umgebung schwanger werden, werden sie bis zur Entbindung in den Lagern gefangen gehalten, da sie Kinder für ihre „auserwählte“ Nation gebären werden. Die neugeborenen Kinder – eigentlich „Mischlinge“ – werden nämlich ihre eigene Nation, die Nation des Feindes, nach dem Vaterrecht in den traditionell patriarchalen Gemeinschaften erheben bzw. erhöhen.

28 Glaser, Hermann: Sexualität und Aggression. Sozialpathologische Aspekte der modernen Gesellschaft. München 1975, S. 142: Worte im Zitat aus einer „Begrüßungsansprache“ des Obersturmbannführers Karl Fritsch vor einer Gruppe polnischer Gefangener in Auschwitz.

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S. ist ein Kind aus der sog. Mischehe, ein „Mischling“ also, der sich in der Friedenszeit niemals Gedanken über seine nationale Identität machte und der über Nacht mit der tragischen Realität konfrontiert wird: Ihre Mutter, Angestellte in einem staatlichen Unternehmen, ist Serbin. Ihr Vater, Ingenieur, ist Muslim. S. glaubt weder das eine noch das andere zu sein. [...] Nun aber sieht sie, der Krieg hat für sie in dem Augenblick begonnen, da andere Menschen sie zuordnen und mit einem Etikett versehen, da sie nicht mehr gefragt wird ... Wenn ihr Vater Muslim ist, so gilt sie für jene ebenfalls als Muslimin, anders kann es nicht sein. Die Mutter zählt nicht, denkt S. voll Bitterkeit. (A, 35)

Ironischerweise vereinigen sich hier die ‚blutreinen‘ Männer (= Serben; Orthodoxe) mit den Frauen ‚unreinen‘ Bluts (= Bosnier/Bosniaker; Musliminnen), die sie als schmutzige und unwürdige Lebewesen betrachten, womit auch die auf diese Art und Weise gezeugten Kinder nur teilweise als ‚edel, erhaben‘ bezeichnet werden sollten. Es sind wiederum die Männer, in der Rolle der überlegenen Machthaber, die die nationale Identität der Neugeborenen bestimmen, nicht die Frauen/Mütter, auch wenn sie durch ihre Herkunft, z.B. mütterlicherseits, zu dem „Herrenvolk“ gehören. Obwohl die Mutter von S. dem Volke gehört, dessen Männer als Soldaten ihrem eigenen Blut Gewalt antun, ist sie (S.) ‚unrein‘ und ‚schmutzig‘ im Sinne der rassischen Theorie:29 M. hat ihr einmal erzählt, daß die Soldaten, als sie sie vergewaltigten, ihr sagten, sie würde ein serbisches Kind bekommen und sie würden die muslimischen Frauen alle dazu zwingen, serbische Kinder zu gebären. Wo sind sie jetzt, diese Soldaten? Wenn ein Kind geboren wird, dann geschieht es durch die Frauen, und diese entscheiden über das Schicksal der Kinder und nicht ihre unbekannten Väter. (A, 204)

29 Vgl. ebd., S. 143: „Himmlersche Polizeiromantik und Darrés Menschenzuchtideologie […] verbinden sich [...] zu einem Staatsidol, in dem blondhaarige, blauäugige, muskelstarke Übermenschen mit blutreinen Maiden sich paaren und alles Unreine (Jüdischschmutzige) mit manischer Perfektion ausgerottet wird.“

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Im „Frauenraum“, ihres Körpers und ihrer Identität als Mensch beraubt, denkt S. an den verhängnisvollen Tag zurück, an dem „ein Riss in der Identität [...] wegen der Gewalt“30 geschah: „Seit dem Augenblick, da bewaffnete Männer in ihrem Dorf erschienen waren, hatte jedes der Mädchen aufgehört, eine Person zu sein. Und nun sind sie dies noch weniger, nun sind sie nichts als eine Gruppe Geschöpfe weiblichen Geschlechts von gleichem Blut. Und nur das Blut ist wichtig, das rechte Blut der Soldaten gegenüber dem falschen Blut der Frauen.“ (A, 82) Obwohl Drakuli im Roman auch die erschütternden Schicksale anderer weiblicher Gestalten verfolgt, steht S.s Leidensgeschichte stellvertretend für Mädchen, junge Frauen, Mütter und Gebärerinnen, die sich trotz allem Bösen für das Überleben entschlossen haben. In tiefer Verzweiflung kommt S. zu der Einsicht, dass sie eine Entscheidung treffen muss: entweder sterben oder (über-)leben. Sie, die sie sich selbst nicht mehr als Menschen sieht, die kein Mensch mehr ist, wie sie es vor nur einem Monat war, unterzieht sich bewusst einer psychischen und physischen Verwandlung, sie zwingt sich, eine andere zu werden: „S. weiß, mit diesem Autobus übersiedelt sie von einer Wirklichkeit in eine andere, von einer Zeit in eine andere.“ (A, 18) Im Nachwort zur serbischen Übersetzung der Geschichten von der Kolyma schreibt die Übersetzerin Ivana Vuleti, dass Schalamows Geschichten Zeugnis vom Verfall des Individuums im Lager ablegen, von dem Grausamsten, dem Unreparierbarsten und zwar von dem moralischen Verfall. Für Schalamow stellt das Lager eine negative Lebensschule dar, da aus ihr nichts Gutes hervorkommt. Das Lager lehrt einen nur Lügen, Betrug und Nichtstun, Skrupellosigkeit und Egoismus, das Lager würgt Würde und Solidarität, es zerstört alles Menschliche. Jeder, der mit dem Lagersein zu tun hat, Gefangener oder Wächter, Zivilist oder Verwalter, trägt mit auf den „Kontinent“

30 A. Zlatar: „Žena, identitet, tijelo“, S. 5: Das Zitat von Drakuli aus dem Jahr 2003, das A. Zlatar als Motto ihrem Aufsatz voranstellt: „[...] mich interessieren diese Risse, diese Brüche in der Identität, die wegen Krankheit oder wegen Liebe oder Gewalt entstehen ... Die Frage des Körpers ist in meiner Prosa tatsächlich eine der zentralen Fragen, neben der Unmöglichkeit der Kommunikation.“

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jene schrecklichen Stempel des Lagerlebens: Sie alle haben, nach Solzenicyn, den „Boden von Bestialität und Verzweiflung berührt“.31 S. will den Männern, den Soldaten, den Herrschern, dem Feind gefallen, sie muss und will tun, als wäre sie es, die sie anlächelt, mit ihnen höflich spricht, schön geschminkt und attraktiv angekleidet zum Abendessen mit (einem von) ihnen erscheint, mit (einem von) ihnen ins Bett geht, (um vergewaltigt zu werden): Das Kleid steht ihr. Sorgfältig macht sie sich für den Hauptmann zurecht. Sie weiß, wozu sie das alles tut, aus dieser Begegnung könnte sie wirklich einigen Nutzen ziehen, obwohl ihr noch nicht ganz klar ist, welchen. Sie trägt Puder, Lidschatten und Wimperntusche auf. Kämmt ihr Haar nach oben und steckt es mit Nadeln fest. Schminkt sich die Lippen mit dem kräftigroten Lippenstift. Diesmal helfen ihr die Mädchen, sie widersetzen sich ihrem Schminken nicht. Sie sieht gut aus, sagt S. zu ihrer eigenen Maske. (A, 108)

Hermann Glaser stellt fest, dass die Frau als Objekt und nicht als Subjekt der Lust gelte, dass ihr gesellschaftlicher Status dem der leiblichen Dienstbarkeit entspreche und sie „Leibeigene“ im wahrsten Sinne des Wortes sei, instrumentalisiert, wobei ihre „Käuflichkeit“ und damit Entpersonalisierung das Gewissen des Mannes entlaste. Der Warencharakter der Frau berechtige den Mann, so Glaser, ‚verantwortungs-los‘ zu sein.32 Im Krieg, in kriegsähnlichen Situationen, wird die Frau zur Dirne gemacht, zu einer Kreatur degradiert, die Charme und Grazie besitzt, aber als (Lager-) Gefangene weder Mut noch Freiheit hat, sich der Aggression und der Gewalt der Männer zu widersetzen. Drakulis Schriftstellerin-Kollegin Ugreši schreibt im Ministerium der Schmerzen von Schicksalen der Menschen aus dem vom Krieg verwüsteten Bosnien, denen „selbst Irrenhaus, Gefängnis und Gerichtssaal [...] zu

31 Vuleti, Ivana: „Zaveštanje Varlama Šalamova“ (Pogovor) [Warlam Schalamows Vermächtnis: Nachwort], in: Varlam Tihonovi Šalamov, Pri e sa Kolime, Beograd: BIGZ 1985, S. 369-383, hier S. 372. 32 H. Glaser: Sexualität und Aggression, S. 175 (Kapitel „ Die Frau als Dirne”).

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normalen Varianten“ 33 wurden, um sich die Rettung aus dem ehemaligen Leben zu sichern bzw. ein neues Leben anzufangen. Im Roman Als gäbe es mich nicht imaginiert Drakuli einen möglichen Ausweg aus der Hölle bzw. eine ‚Rettung‘ für ihre Heldin S., deren Leben, ihre erste und wahre Identität, mit der Ankunft der bewaffneten Männer zu Ende gegangen ist, und die im Lager eine ihr selbst fremde Identität annimmt, sich eine Maske aufsetzt, sodass nur ihr Körper sozusagen zur Schau gestellt und den Männern zum Genuss angeboten wird. S. tritt aus ihrem Körper heraus, sie, die ehemalige S., löst sich auf, um eine andere, eine Höfliche, eine sich Verstellende zu werden, um sich selbst unter Schändern, Vergewaltigern, Mördern und Todesverkündern eine Chance zum Leben zu geben: Als der Hauptmann den Rauch der Zigarette in tiefen Zügen genießt, fühlt S. ihre Macht über ihn, als sei sie die Katze und er die Maus und nicht umgekehrt. Sie glaubt die Oberhand über ihn bekommen zu haben. Das Verführungsspiel erleichtert ihr die Situation. Männer wollen verführt werden, sie wollen glauben, verführt worden zu sein, sogar wenn sie vergewaltigen können. Solange sie so tut, als verführe sie sie und als genieße sie das Spiel, zwingt sie sie, auf ihre Spielregeln einzugehen. So nimmt sie ihnen das größte Vergnügen. Das Gefühl der Übermacht eines Serben, der eine Muslimin vergewaltigt, wird abgelöst von dem Gefühl der Übermacht des Mannes, der die Verführerin befriedigt. Der kleine Trick der Frau macht aus dem Serben nur einfach einen Mann und stuft ihr Verhältnis auf eine gewöhnliche Mann-FrauSituation zurück. Wenn sie wenigstens den Mädchen erklären könnte ... Aus der Schwäche der Männer ihren Vorteil zu ziehen ist das Ziel, dessen S. sich ganz bewußt ist, als sie dem Hauptmann gegenübersitzt. (A, 107f.)

Das zentrale Thema in allen Romanen Drakulis ist der weibliche Körper, der dem Blick von außen, dem äußeren Auge ausgesetzt wird.34 Dieser Körper wird der Gefahr, einer Art äußerst radikalen Zustands ausgeliefert. In Als gäbe es mich nicht ist das die Vergewaltigung, neben der Krankheit die extremste Art des Ausgesetztseins, die

33 Vgl. Anm. 6. 34 A. Zlatar: „Žena, identitet, tijelo“, S. 13.

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zeigt, dass wir keine Macht über unseren „eigenen“ Körper haben, dass man über den Körper von außen verfügen kann, ob durch andere Personen oder einen überpersönlichen Faktor.35 Die schwangere S. kommt zu der Erkenntnis, dass „ein Frauenkörper ohnehin nie ganz der Frau gehört. Sondern anderen: dem Mann, den Kindern, der Familie. Und im Krieg den Soldaten“. (A, 152) Die einheimische Serbin N., im serbischen Lager als Hilfskraft beschäftigt, verteidigt S. vor anderen Mädchen, die in der verwandelten Frau nur eine Hure sehen: Du willst nur schön sein für unsere Männer, ist es so, meine Liebe? S. nickt. Sie streichelt ihr über die Hand. Schön sein für die Männer, wiederholt sie laut. Natürlich, ihnen gefallen. Sie anlächeln mit den rot geschminkten Lippen, jene Männer, die feindlichen Soldaten. Lächeln und ihnen sagen: Komm in meine Arme. Ruhig die Angst schlucken wie das Sperma. So tun, als wäre es keine Vergewaltigung, sondern etwas, das ihr Spaß macht. Sie werden vielleicht vergessen, daß es ihre Aufgabe ist, sie zu vergewaltigen. (A, 93f.)36

Im Tagebuch der Anonyma, einer dreißigjährigen Deutschen, das sie vom 20. April bis zum 22. Juni 1945 in dem von der sowjetischen Roten Armee besetzten Berlin geführt hat, fand sich oft die Abkürzung VG, die für Vergewaltigung stand. Kurt W Marek schreibt im Vorwort zum Buch, dass ihre Person belanglos ist, da im Buch „kein interessanter Fall geschildert wird, sondern ein graues Massenschicksal ungezählter Frauen. Ohne ihre Aussage wäre die Chronik unserer Zeit, die bisher fast ausschließlich von Männern geschrieben wurde, einseitig und unvollständig“.37 Diese Notizen wurden von einer realen Person aufgezeich-

35 Ebd. 36 Vgl. die Worte eines Vergewaltigers aus dem Artikel „Universal Soldier“ (1992) der Belgrader Feministin Lepa Mladjenovi: „Ich weiß nur noch, daß ich der zwanzigste war, ihr Haar verklebt war, daß sie ekelerregend und voller Sperma war, und daß ich sie am Ende getötet habe. Mit fünf Kugeln in den Bauch.“ In URL: http://www.frauennews.de/themen/kriegs mittel/kriegsm2.htm vom 08.05. 2010. 37 Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W Marek. Herausgege-

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net, es ist ein autobiografisches Zeitdokument wie dies auch das Buch der Kroatin Jadranka Cigelj ist, das sie auf Grund von wahren Ereignissen und Erlebnissen im Lager Omarska in der Ich-Form, als Augenzeugin verfasst hat, nach einem anderen Krieg, der 47 Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts auf europäischem Boden entfacht war. Die Anonyma weiß (Realität in Berlin 1945), genauso wie S. (im fiktionalen Werk, aber nach realen Ereignissen aus Bosnien 1992), dass sie die Chance hat, aus dem Krieg ‚heil‘ davonzukommen, nur wenn sie sich eine Maske aufsetzt und sich dem Feind verstellend entgegensetzt. In dem 2009 nach den Anonyma-Tagebuchaufzeichnungen gedrehten gleichnamigen deutschen Spielfilm (Regie: Max Färberböck)38 sagt die Protagonistin: „Ich entschloss mich, dass nichts und niemand mich berühren kann.“ Im Tagebuch schreibt die Anonyma, wie sie sich den stärksten und einflussreichsten unter den Männern der feindlichen Armee aussuchen musste, um sich andere „Wölfe“ vom Leib fernzuhalten: Dienstag, 1. Mai 1945, 15 Uhr, rückschauend auf Samstag, Sonntag, Montag [...] Sagte dann laut: Verdammt! und faßte einen Entschluß. Ganz klar: Hier muß ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu hab ich meinen Grips und mein bißchen Kenntnis der Feindsprache?39 Rückblick auf Montag, 30 April 1945 [...] Und ich bin ganz stolz darauf, daß es mir wirklich gelungen ist, mir einen der Wölfe zu zähmen, wohl den stärksten aus dem Rudel, damit er mir den Rest des Rudels fernhalte.40

Die(se) Frau stellt sich den feindlichen Soldaten als einen Wolf vor, ein Raubtier, das jede Frau, jung oder alt, anziehend oder häßlich, als eine Beute erlebt.

ben von Hans Magnus Enzensberger. Die Andere Bibliothek. Frankfurt a.M. 2003, 2. Auflage (Ebook-Version: Smeeth, September 2003), S. 2. 38 Vgl. URL: http://www.bilde.de/BILD/unterhaltung/TV/2010/05/11/ninahoss-anonyma/nina-hoss-in-ihrer-schwersten-rolle.html vom 10.05. 2010. 39 Anonyma: Eine Frau in Berlin, S. 30. 40 Ebd., S. 38.

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„Hat der Mensch im Krieg tatsächlich keine Wahl?“ (A, 141) fragt sich S. ensetzt und klagt den Krieg an, der die Frauen im Lager zum Töten gezwungen hat. Die Autorin führt nämlich den Lesern Szenen vor Augen, die weder Opfer noch Täter in ihrem unmenschlichen Handeln entschuldigt oder verzweifeltes Tun der Frauen rechtfertigt: „Der Krieg, der Krieg hat sie dazu gezwungen. Doch diese gleiche Ausrede haben auch jene, die den Krieg begonnen und die Frau dazu gebracht haben, das Kind zu töten.“ (A, 141) S. sieht ohnmächtig zu, wie die Frauen im Lager, „zuerst einem Kind zur Welt zu kommen“ verhalfen, „danach banden sie ihm ein Tuch fest um den Hals“. (A, 140) Sie ist sich eines Mechanismus bewusst, der um sie aufgebaut wird und „der Menschen in Unmenschen verwandelt“(A, 139). Die Szenen des Tötens der Erstgeborenen lassen die schwangere S. in der schwedischen Fremde nicht zur Ruhe kommen, da sie das Kind in ihrem Bauch als einen „Tumor, der wächst, sich ausbreitet und immer sichtbarer wird“ (A, 154) empfindet und sich wünscht, „es würde totgeboren werden“. (A, 153) Deswegen könnte man folgenden zwei Szenen eine untergründige Bedeutung zuschreiben, da sie Ursachen und Folgen der Kriege auf dem Balkan als einen nie endenden Prozess detektieren. In deren Zentrum ist das Kind, Symbol des beginnenden Lebens, aber nicht das Leben, sondern der Tod beherrscht dieses Wesen.41 In der ersten Szene erinnert sich S. an noch einen Kindesmord, an den Mord eines erstgeborenen Kindes, der ‚Frucht‘ der Vergewaltigung, die zweite Szene stellt die Vorwegnahme des Szenariums auf dem Balkan dar:

41 Ein ‚Duell’ zwischen der Lehrerin Tanja Lucić und ihrem Studenten in Ugrešićs Roman Das Ministerium der Schmerzen, S. 95, endet wie folgt: „Entschuldigen Sie, drugarica, aber ich scheiß auf eine Sprache, in der es heißt, ‚mein Kind schläft wie abgeschlachtet’. In allen anderen Sprachen schlafen die Kinder ‚wie Engelchen’ ...“ „Darum ist auch der Krieg ausgebrochen ...“ „Wie meinen Sie das?“ „Einer, dessen Kind wie abgeschlachtet schläft, greift schnell zum Messer!“

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Als F. im Flüchtlingslager in Zagreb entband, war S. zufällig im selben Zimmer untergebracht. [...] F. drückte einfach das Kopfkissen auf das Kind. [...] Nach etwa zehn Minuten sagte sie: Fertig. (A, 10f.) Ein Junge hört ihnen zu und sagt: Wenn ich groß bin, dann bringe ich die Serben um, so: Er hebt die Hand, als wolle er jemanden aus nächster Nähe erschießen. Die Erwachsenen schweigen. S. weiß, der Junge hat mit angesehen, wie die Soldaten seinen älteren Bruder auf diese Weise getötet haben. Diese kleine Hand braucht nur noch eine Waffe, alles andere ist schon da. Egal, in welches Land sie ausreisen werden, dieser Junge wird eines Tages seine Absicht ausführen. (A, 167f.)42

Die Themen des Romans Als gäbe es mich nicht sind komplex und ernst, sie konzentrieren sich um Nation und Religion, Rassismus und Gewalt, weibliche und männliche Sexualität und das tabuisierte Thema der massenhaften Frauenvergewaltigungen im Krieg, mitten in Europa im ausgehenden 20. Jahrhundert. Das weibliche Ich im Titel des Buches, welches bereits durch die Akkusativform mich zum Objekt ‚degradiert‘ wird, meint das Schicksal einer anonymen jungen Frau, S., einer Muslimin, die nach monatelangen Vergewaltigungen seitens der serbischen Soldaten aus dem Lager entlassen wird und in der Fremde ein neues Leben beginnen will. Für die Abtreibung ist es zu spät, weshalb sie sich vor der Entbindung für die Freigabe des Kindes zur Adoption entscheidet. Ihr Leidensweg entwickelt sich nach dem Muster Vertreibung-Deportation-Lager-Asyl-Fremde/Exil. Parallel mit der Gestaltung der Geschichte von S. und ihren Leidensgenossinnen – man könnte diesen inhaltlichen Komplex mit „weibliche Opfer“ umschreiben – ist Drakulić im Roman um die Führung einer zweiten, unerlässlichen Linie bemüht, um die über die „männlichen Täter“. Wichtige Stellen im Buch weisen aber auf die Anonymität und Austauschbarkeit aller zahllosen und namenlosen Personen hin, egal ob Mann oder Frau, ob Opfer oder Täter:

42 Vgl. Dežulović, Boris: „Smrt“ [dt. Der Tod], in: Derselbe, Poglavnikova bakterija, Zagreb 2007, S. 45-71.

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Die Frauen gibt es hier nur noch im Plural. Namenlos, gesichtlos, austauschbar, wie ein Stück Brot oder Seife. (A, 59) Die Mädchen sehen, sie sind austauschbar, und das ist für sie eine zusätzliche Erniedrigung. [...] Doch auch die Männer sind keine Personen mehr, nur sind sie sich weniger bewußt. [...] Für S. ist klar, auch jene sind Gefangene, ohne Individualität, ohne Gesicht. Ihre Körper, ihr Wille gehören ebenfalls nicht ihnen, sondern der Armee, dem Anführer, der Nation. Sie gehorchen und erfüllen die Befehle von Menschen, denen sie glauben oder vor denen sie sich fürchten. (A, 82)

Mit diesen Ausführungen der Erzählerin über den ‚Wert‘ aller am Krieg Beteiligten seitens ihrer Vorgesetzten, die in ihren ‚Untertanen‘ und/oder Feinden nur den nützlichen Abfall, ein Mittel zum Zweck sehen, stellt Drakulić keinsfalls ein Gleichgewicht zwischen Opfern und Tätern her. Im Gegenteil, sie übt Kritik an der Sinnlosigkeit eines jeden Krieges, da er mit Perfidie fast jeden Menschen, Opfer und Täter, zur Bestie machen und die dünne Linie zwischen Gut und Böse verwischen kann. So weiß S. nicht mehr, ob sie noch Opfer oder schon Komplizin ist. „Gut und Böse haben im Lager kaum noch einen Sinn“ (A, 110) folgert S. und denkt fort: „Gut ist, was einem nützt, und schlecht ist, was keinen Nutzen hat oder einem anderen unmittelbaren Schaden zufügt.“ (A, 110f.) Christoph Bock vertritt die Ansicht, dass die auf einen Buchstaben reduzierten Opfernamen und Kriegsschauplätze eine erweiterte Funktion haben, denn: „Es geht nicht nur um ‚benennen können‘, sondern auch und zuerst um ‚benennen wollen‘. ‚S.‘ oder ‚F.‘ oder ‚M.‘ kann jeder sein, Bosnier, Serbe, Kroate, etc.; ebenso, wie mit ‚B.‘ keine geographische Lage festgelegt sein will. Vielleicht läßt sich Krieg auch nicht so einfach wegzappen, wenn er nicht ‚woanders‘ stattfindet.“43 In ihrer Rezension des Romans meint Eva Leipprand, dass das Buch das Gesicht des Krieges und die grauenhafte Logik des Rassismus in ihrer Essenz zeigt. Wo immer zwischen „richtigem“ und „fal-

43 Bock, Christoph: „Slavenka Drakulic: Als gäbe es mich nicht“, in URL: http://parapluie.de/archiv/sprung/aufgelesen/ausdruck.html 2010.

vom

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schem“ Blut unterschieden wird, verlieren Täter wie Opfer die Fähigkeit zum Mitgefühl und damit ihre Menschlichkeit. Der Krieg, so Leipprand, zerfrisst die Seelen und füllt die Misshandelten mit ohnmächtigem Hass, sodass sich Opfer und Täter ähnlich werden, in einem geschlossenen Kreis der Unmenschlichkeit. 44

3. „S IE STECKT DEN M UND “

DEM

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IN

In der fernen Fremde,45 in Schweden, will S. ein neues Leben anfangen, und in „ihrem schwedischen Leben ist kein Platz für ein Kind“. (A, 192) Sie fragt die Ärztin, ob sie ihren Namen ändern könne, da sie jemand anders sein möchte. (A, 192) Ihrem kleinen erst geborenen Sohn möchte sie, die sie im Gesichtchen des Jungen die Gesichtszüge ihrer in Sarajevo getöteten Schwester L. erkennt, eine möglichst schönere Vergangenheit schenken, obwohl sie einsieht, dass weder seine schwedische noch seine bosnische oder serbische Vergangenheit (und Identität) wahr sein werden: „Jedenfalls ist es diesen Kriegskindern beschieden, in Lüge aufzuwachsen. [...] Und sie, was würde sie ihm erzählen? Sie würde ihm vorlügen, sein Vater sei bei der Befreiung der Stadt als Held gefallen. Dieses Kind hat Anspruch auf einen Heldenvater.“ (A, 204) Als S., nach langem Zögern und Überlegen den weinenden, hungrigen Kleinen aus seinem Bettchen in den Arm nimmt, nur um ihn zu

44 Leipprand, Eva: „Slavenka Drakulic: Als gäbe es mich nicht“, in URL: http://rezensionen.literaturwelt.de/content/buch/d/t_drakulic_slavenca_als _gaebe_es_mich_nicht_evle_13357.html. carpe librum – rezensionen vom 08.05.2010. 45 Zum mazedonischen Sprichwortgut gehören zwei Verwünschungen, mit denen der „sprichwörtliche“ Teil von Ugrešićs Roman Das Ministerium der Schmerzen (S. 286; Ministarstvo boli, S. 306) endet und eine dunkle Botschaft in die Welt sendet – sie aber korrespondieren mit der Handlung von S. Drakulićs Als gäbe es mich nicht (Ankunft von S. in Schweden): „Die Fremde soll dein Heim sein.“ („Tuginata da ti bide mila.“) „Dort sollen deine Knochen vermodern ...“ („Tam koski da ostaviš ...“).

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beruhigen, siegt das Menschliche über das Bestiale, das Leben über den Tod: „Sie steckt dem Jungen die Brustwarze in den Mund.“ (A, 207) Das Kind saugt gierig die Milch. Es wird nur ihr Kind sein, „nur ihres“ (A, 205), denkt sie, das keinen Vater haben will: „Und das ist die Wahrheit.“ (A, 205) Eva Hoffmann bewertet den Roman als zurückhaltend, aber unbarmherzig und sehr rührend, Michael Ignotieff sieht in ihm die Prosa, die die Kraft der entsetzlichen Wahrheit besitzt, 46 Eva Leipprand schlussfolgert: „S. findet am Ende einen Ausweg aus dem Kreislauf des Hasses. [...] Angesichts des Vorangegangenen ein Schluß fast zu schön, um wahr zu sein.“ 47 Kristina Maidt-Zinke betont in ihrer FAZBesprechung, Drakulić schildere den mehrmonatigen Aufenthalt von S. im Lager „mit einer Diskretion und Distanz, die durch ihre Kühle um so schonungsloser wirkt und mit Widerhaken im Gedächtnis haftet. [...] die Autorin lässt keinen Zweifel daran, worum es ihr bei der zurückhaltenden und präzisen Darstellung von Tätern und Opfern, Gewalt und Erleiden geht: Nicht Hass soll am Ende stehen, sondern die Bereitschaft, den Krieg und seine Konsequenzen auf der Ebene der Reflexion zu besiegen“.48

46 Buchbesprechungen des Romans Als gäbe es mich in URL: http://www. profil.hr/knjiga/kao-da-me-nema/33772/ vom 07.08.2010. 47 E. Leipprand: „Slavenka Drakulic ...“. 48 Maidt-Zinke, Kristina: „Mit Widerhaken in der aufgerauten Seele“, in URL:

http://www.buecher.de/shop/buecher/als-gaebe-es-mich-nicht-/dra

kulic-slavenka/products_products/content/prod_id/24563705/ vom 08.05. 2010.

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4. E PILOG

OHNE E PILOG : „D EINE 49 SOLLEN VERDORREN ?“

L ENDEN

Ihre Buchbesprechung schließt Gudrun Schmidt wie folgt: Wir haben seinerzeit von den Greueln durch die Zeitung oder das Fernsehen erfahren. Von Verbrechen, die die Vorstellungskraft übersteigen und wofür sich kaum Worte finden. Wir waren entsetzt, betroffen, aber unseren Alltag hat das nicht verändert. Nach EU-Angaben sind im Bosnien-Krieg schätzungsweise 20 000 Frauen vergewaltigt worden. Die bosnische Regierung spricht von 50 000 Frauen. Vergewaltigungen hat es in Kriegen immer gegeben, sie sind Kriegsverbrechen und werden als solche geahndet. Neu in diesem Balkankrieg war jedoch, daß Vergewaltigungen bewußt geplant waren als Teil der ethnischen Säuberung. Wenn nun einige der Täter vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden, wird damit ein Zipfel Gerechtigkeit hergestellt, ungeschehen und wiedergutzumachen ist das Leid nicht, das den Frauen geschah und ihr Leben zerstört hat.50

Im kroatischen Nachwort zum Roman Als gäbe es mich nicht (in den 2003 herausgegebenen Gesammelten Romanen von S. Drakulić) berichtet die Autorin in der Ich-Form darüber, wie S. als Zeugin vor den Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrecher nach Den Haag geladen wurde. Angeklagt wurde der Hauptmann M. L., Kommandant eines der serbischen Lager in Bosnien: „S. sagte mir, sie sei bereit, gegen Hauptmann M. L. (im Roman nur Hauptmann genannt) auszusagen, obwohl er vielleicht Vater ihres Kindes ist. Später habe ich ge-

49 D. Ugrešić: Das Ministerium der Schmerzen, S. 286 (Ministarstvo boli, S. 306): Folgende Verwünschung ist mehreren Völkern im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam, es handelt sich ‚nur’ um dialektale Unterschiede. Auf symbolischer Ebene bestraft sie (jene) Männer, die die Frauen geschändet bzw. vergewaltigt haben: „Deine Lenden sollen verdorren.“ („Sjeme ti se zatrlo. Sime ti se zatrlo. Seme ti se zatrlo.“) 50 G. Schmidt: „Zerstörtes Leben …”.

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hört, dass S. mit ihrem Kind nach Bosnien zurückkehrte, nach Sarajevo. Ich weiß es nicht, was mit ihr weiter geschah.“51 Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Gesa Dane beschäftigte sich in ihrer Studie „Zeter und Mordio“. Vergewaltigung in Literatur und Recht mit literarischen Texten in der europäischen Literatur seit dem 17. Jahrhundert, in deren Mittelpunkt das Thema Vergewaltigung steht. Sie deutete sie in Hinblick auf die Rechts- und Kulturgeschichte der Zeit und konnte als gemeinsamen Nenner aller literarischen Texte, in denen Vergewaltigungen und deren Folgen thematisiert werden, feststellen, dass es nur in Ausnahmefällen zu einem juristischen Verfahren gegen den Täter kommt.52 Der Roman Als gäbe es mich nicht ist nicht nur ein literarischer Text. Seine Dichtung ist der realen, traumatischen Wahrheit entsprungen und das begangene Verbrechen wurde auch hier nicht bestraft. Der 2010 nach dem Roman gedrehte Spielfilm AS IF I AM NOT THERE der irischen Regisseurin Juanita Wilson stieß auf keine große Resonanz auf dem 15. Sarajevo Film Festival (August 2010), auch nicht in der Presse. Er wurde außerhalb der Konkurrenz gezeigt, die kurzen Portal-Notizen berichteten über die Roman- und Filmautorin, oder die Hauptdarstellerin, nur oberflächlich über das Thema des Films. Auch in diesem Medium wurde dieses so wichtige Thema fast verschwiegen. Die Protagonistin bekam im Film den Namen Samira, die Rollen belegten die Schauspieler „aus der Region“ (dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien).53 Der Film wird bei der Oscar-Verleihung 2012 (Februar 2012) die irische Filmographie vertreten.

51 S. Drakulić, „Kao da me nema“, in: Dieselbe, Sabrani romani, S. 626. 52 Dane, Gesa: „Zeter und Mordio“. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005, S. 13. 53 Vgl. URL: http://www.dnevniavaz.ba/lifestyle/sff/8658-sff_film_premije ra.html vom 07.08.2010; http://www.story.hr/slavenka-drakulic-ponekadlako-odustajem%E2%80%9D-50601 vom 07.08.2010; http://sarajevo. co.ba/sff-kao-da-me-nema/ vom 07.08.2010; http://www.vip.hr/film/vi jesti/article/-/journal_content/56_INSTANCE_9Doj/11801/2729164 vom 7.8.2010; http://www.sff.ba/news/show/id/467 vom 07.08.2010.

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In diesem Aufsatz wurde der Roman von Dubravka Ugrešić Das Ministerium der Schmerzen an mehreren Stellen aufgegriffen, da mir sein Thema der heimatlos gewordenen und zur Flucht getriebenen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien infolge der Kriege jenem von Drakulićs Als gäbe es mich nicht komplementär, vor allem inspirierend schien. S. erschien vor dem Haager Tribunal als Zeugin. Tanja Lucić schließt ihre Geschichte an demselben Ort, aber in der Rolle der Beobachterin und einer zutiefst interessierten, betroffenen Zeitgenossin: Vor dem Haager Tribunal wird eines Tages auch der Hauptschuldige erscheinen, und ich werde hingehen, ihn zu sehen. Er wird einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine grellrote Krawatte tragen. Die Farbe der Krawatte wird mit der Farbe der Roben der Richter identisch sein. Der Angeklagte [...] wird in einem Glaskäfig sitzen. Die Uhren werden die Zeit anzeigen, aber sie wird nicht mit der Zeit außerhalb des Gerichtssaals übereinstimmen. Verblüfft werde ich feststellen, dass ich in wenigen Jahren alles vergessen habe und mich kaum an die Namen der Menschen erinnere, die mit unseren Leben gespielt haben. Es wird mir vorkommen, als seien seit dem Beginn des Krieges hundert und nicht erst zehn Jahre vergangen. Tief entsetzt werde ich mit einem totalen Vergessen konfrontiert sein.54

Aleida Assmann spricht in ihrem Buch Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik vom heroischen und traumatischen Opfergedächtnis, bei denen man zwischen den Siegern und Besiegten einerseits und den Tätern und Opfern andererseits unterscheidet.55 Sie führt aus, wie traumatische Erfahrungen von Leid und Scham nur schwer Einlass ins Gedächtnis finden, weil diese nicht in ein positives individuelles oder kollektives Selbstbild integriert werden können. Die (geplanten) Massenvergewaltigungen der Frauen – ob diejenigen am Kriegsende 1945 oder in den jugoslawischen Nachfolgekrie-

54 D. Ugrešić, Das Ministerium der Schmerzen, S. 280. 55 Aleida, Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. S. 74.

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gen 1991-1995 beweisen Assmanns Worte: „Deshalb kann es geschehen, dass eine traumatische Erfahrung erst nachträglich, oft Jahrzehnte, ja Jahrhunderte nach dem historischen Ereignis, zu gesellschaftlicher Anerkennung und symbolischer Artikulation findet. Erst dann kann sie Teil eines kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses werden.“56

56 Ebd., S. 75.

Aktivierung des Weißraums Zur Typographie des Schweigens in E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina H ERMANN K ORTE

Seit über zwanzig Jahren – nach dem Ende des Kalten Krieges, dem Untergang sozialistischer Systeme, der Auflösung der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens – hat es weltweit so viele Kriege, bewaffnete Konflikte, gewaltsame Befriedungsaktionen und so viel Völkermord gegeben, dass inzwischen Statistiker die Zahlen verwalten. Wer weiß da noch, was während der 1990er Jahre in Bihać geschah, wer die Gegner waren, die sich dort gegenüberstanden und wie viele Flüchtlinge in der so genannten Enklave Bihać zwischen den wechselnden Frontverläufen des Frühjahrs und des Sommers 1995 hin und her irrten? Eine Gruppe österreichischer Schriftsteller startete Anfang August 1995 eine Reise in die kleine Stadt im Nordwesten von Bosnien-Herzegowina, nahe der kroatischen Grenze, „die noch ordnungslose Ordnung der neuen Macht und die Euphorie und Durchlässigkeit der Sicherheitskräfte“1 ausnützend. Der 1956 in Berlin geborene österreichische Schriftsteller Peter Waterhouse – Sohn österreichisch-englischer Eltern, der 1985 über Paul Celan promovierte – nahm an der Reise teil, unter deren Einfluss er 1996 einen schmalen, unpaginierten Gedichtband veröffentlichte. Der Untertitel des Bandes

1

Waterhouse, Peter: E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina, Salzburg/ Wien 1996 [unpaginiert], Klappentext.

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fixiert exakt, worum es sich handelt: um eine „Mitschrift aus Bihać und Krajina“, entstanden auf der Basis des Zuhörens, nicht des Kommentierens und schon gar nicht der politisch-parteilichen Stellungnahme für die Sache Bosnien-Herzegowinas, Kroatiens oder Serbiens. Die Europastraße 71 (E 71) gab die Richtung der Reise vor; was Waterhouse von ihr in E 71 auf 28 Seiten festhält, sind spärliche Notate, die, fragmentarisch verknappt, auf jeder einzelnen Seite fast 90 Prozent Leerfläche lassen: eine Fläche, die in der Druckersprache ‚Weißraum‘ genannt wird.2 Waterhouse teilt die Seite in einen oberen und einen unteren Teil; dazwischen liegt der Weißraum. Manche Seite hat sogar nur einen bedruckten oberen Teil, der aus zwei Wörtern, zwei Versen, besteht: „Wochenlang/Kukuruz“ [4]; fünf Wörter umfasst die nächste Seite: „Und geschwächt/von Kukuruz//Kinder‘“ [5]. Auf der grammatischen Ebene hat Waterhouse seine Notate so organisiert, dass sie meistens als direkte Rede mit entsprechenden Anführungszeichen versehen sind; freilich wird nicht immer klar, wer fragt und wer antwortet oder auch nicht antwortet. Solche Passagen deutet der Autor mit einem Gedankenstrich an, mitunter auch mehreren untereinander gesetzten Strichen, die ein langes Schweigen vermuten lassen.

2

Im Folgenden werden die Seiten zur besseren Orientierung in eckigen Klammern nummeriert; die Zählung beginnt mit der Seite des ersten Textnotats („Human Relief International/Islamic Worlt Committee“ [1]); der doppelte Schrägstrich markiert den Weißraum. – Eine bildende Kunst und Literatur interdisziplinär untersuchende, grundlegende Dissertation zum ‚Weißraum’-Gegenstand schreibt z. Zt. an der Universität Siegen Jan Seithe.

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„Was geschieht dort? ‚Es sind Kriegsgefangene

Wir legen die Nudeln ins Wasser und warten, daß sie aufweichen“3

3

P. Waterhouse: E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina, o. S.

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Es ist das Schweigen, das den eigentlichen Teil der Mitschriften ausmacht: ein Schweigen in vielen Varianten, gekennzeichnet als Weißraum, als Gedankenstrich, als Satzanakoluth und als Satzaussage oder Frage in Klammern: „Wird es Frieden geben?/‚-/-/-/Weiß nicht/(Ich kenne die Geschichte)//Ich kann mich nicht orientieren‘/(Lachen)“ [7]. Der Gedichtband verweigert sich jedem Ansatz eines Reportagestils und jeder storyartigen Aufmachung des Berichts, zielt also auf eine Verweigerungshaltung, die sich über den Gegensatz zu journalistischen Massenmedienformaten definiert. E 71 ist, von ein paar hingestreuten Wörtern abgesehen, fast vollständig auf Sprachlosigkeit aufgebaut. Auch die eigene Beobachterposition wird selbstverständlich in Zweifel gezogen; so steht im Klappentext (Rückumschlag) zu lesen: „Was hatten wir da zu suchen, nach dem ‚Gewittersturm‘ Anfang August 1995“? Die Grenzen des eigenen Schreibens werden im Gedichtband auf jeder Seite dokumentiert: als Weißraum, als spärlicher Text, als weitgehende Aussparung der Beobachterebene, von gelegentlichen Mitschriftformeln wie „(Lachen)“ abgesehen. Zugleich lotet Waterhouse die Möglichkeiten aus, die dem Lyriker verbleiben, wenn er den Unsagbarkeitstopos moderner Dichtung, wie ihn etwa Celan verwendet4, und die Einsicht, dass Sprache niemals authentisch sein kann – nicht einmal, wenn sie etwas zitiert oder scheinbar ein ‚Gespräch‘ wiedergeben will –, ernst nimmt. Denn Dialoge finden zwischen den Reisenden und den namenlos bleibenden Flüchtlingen nicht statt; Waterhouse hebt dies im Klappentext hervor: „In der Krajina, dem Saumland, freilich hat es keine Aussicht mehr gegeben auf solche Gespräche.“ So bleibt auch die „Zuhörsprache und Mitschriftsprache“ unfertig und unvollkommen, ja sie wirkt hilflos angesichts der vorherrschenden Dominanz des Schweigens auf allen Ebenen der Kommunikation.

4

Vgl. dazu ausführlicher Voswinckel, Klaus: Paul Celan. Verweigerte Poetisierung

der

S. 187-197.

Welt.

Versuch

einer

Deutung,

Heidelberg

1974,

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„Ich habe gelesen von den Brüdern Grimm – aus der Universität vertrieben

Das Schlimmste ist vorüber aber die Hände, die Füße werden gefühllos“5

5

P. Waterhouse: E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina, o. S.

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„Wir haben große Angst vor den feiernden Soldaten (unser Temperament)

Ich hatte den Eindruck daß das Fernsehteam nicht versteht“6

6

Ebd.

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Der Aufschreibprozess jedenfalls wird gründlich ad absurdum geführt. Dagegen sticht der Weißraum hervor, und zwar nicht allein als Leere, sondern geradezu umgekehrt als beredte aktivierte Fläche, die den eigenen Imaginationsprozess des Rezipienten in Gang setzt. Der Weißraum verknüpft zunächst die beiden Teile auf der oberen und unteren Seite mit ihren Wort- und Satzresten, schafft also eine Spannung zwischen Gedichtelementen, welche die Wirkung einer Pause hat, eines Schweigens der Sprache, des monologischen wie des dialogischen Sprechens. So sagt jemand etwas über den medizinischen Befund der Verletzungen und Traumata, ohne dass ein Zusammenhang deutlich wird; umso mehr aber forciert ein einziger Satz im oberen Teil einer Seite – „Das Schlimmste ist die Nacht“ [14] – das Assoziationspotenzial, und auch der untere Teil, eine fragmentarische Wendung, gibt der Assoziation keine Richtung vor, sondern verstärkt die Orientierungslosigkeit des Rezipienten im Fragmentlabyrinth von E 71: „Die Gewalt gegen Bücher‘“ [ebd.]. Das „Schlimmste“ ist sicherlich nicht die „Gewalt gegen Bücher“, aber gerade diese Zusammenstellung zeigt eindrucksvoll, wie ‚beredt‘ eine Aussparungstechnik sein kann, wenn sie derart konsequent und virtuos wie bei Waterhouse eingesetzt wird: Weißraum markiert das am besten, was sich der Sprache entzieht und gerade dadurch eine imaginative Kraft sui generis erhält. Waterhouse fragmentartige „Mitschrift“ konterkariert medienwirksame Formen der Kriegsberichterstattung und den spektakulären Jargon der CNN-Nachrichten und Fernsehbilder. An einer Stelle des Textes wird dies sogar explizit ausgesprochen, wobei der Satz, dessen Nebensatz ohne Objekt bleibt, weder einen Sprecher noch einen klaren Adressaten hat: „Ich hatte den Eindruck/daß das Fernsehteam nicht versteht“ [16]. Umkehrt macht der Autor kenntlich, was in der Regel den massenmedialen Berichtsstil nicht stört: die Rolle des Übersetzers als eines trügerischen Vermittlers von Botschaften: „Der Übersetzer sagt:/Die Nuancen der Sprache –/zu fein“ [21]. Dieser Anakoluth steht direkt neben einem der wenigen narrativen Berichtselemente des gesamten Textes und deformiert dessen bloße Tatsachenreferenz zu einem unfertigen Übersetzertext: „;Während des Bombardements/habe ich die Namen vergessen/meiner drei Töchter‘“ [ebd.]. Die Arbeit mit solchen Stimmenresten charakterisiert die poetischen Verfahrenstechniken des

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Autors. Lakonisch sind die Notate, aber umso ungeheuerlicher erscheinen ihre Inhalte und die Nüchternheit, mit der sie, immer wieder von Weißraum unterbrochen, angedeutet werden: „Die Dörfer um Bihać/praktisch zerstört//Heute Mittag/zum ersten Mal/ein Stück Fleisch//Ein Sack Mehl/Ende Juli: 1000 DM/heute: 40 DM“ [2f.]. Wo eine an hochdramatischen Ereignissen und Einzelschicksalen interessierte Reportage üblicherweise erst beginnt, da fehlt bei Waterhouse die entsprechende Antwort. So beginnt eine Seite der E 71 mit dem interrogativen Reporterstereotyp „Was erwarten Sie sich“ [6], die Augenzeugen und Opfern gestellt wird. Die Antwort indes fällt auf den Fragenden zurück und offenbart die Unangemessenheit der Frage ebenso wie deren Klischee: „,Der Krieg ist zuende‘“ [ebd.]. Es ist schwer zu bestimmen, was eigentlich E 71 zusammenhält. Es gibt keinen genauen Beobachter, keinen betroffenen Zeitzeugen, keinen Missstände aufdeckenden Journalisten und schon gar keine ordnende, eingreifende Erzählinstanz. Die zur Sprache kommenden Reste stehen nebeneinander, ohne dass ihnen ein sinnvolles Ganzes eingeschrieben wäre. Da heißt es im oberen Teil ein und derselben Seite: „Einer verletzte sein Herz/im Sturz auf eine Zaunstange/die Ärzte haben geholfen“, während der untere Teil etwas völlig anderes präsentiert – ebenfalls in drei Zeilen gepresst: „Nach drei Jahren/erkenne ich die Uhrzeit/am Nachtsternhimmel“ [13]. Die Abfolge der einzelnen Sequenzen jedenfalls fügt nichts zusammen als Einzelnes; die Brüche sind zuweilen besonders krass. So schließt an Anspielungen auf Vergewaltigungen („Licht ist aus/Schüsse/Junge Frauen/Die Gefangenen?/Schnelligkeit“ [18]) unmittelbar eine hilflose, ja harmlose Frage an – „Ist es die Nahrung/die die Menschen wild macht?“ [19] –; selbstverständlich gibt es keine Antwort, sondern eine in die Vergangenheit führende Assoziation, die sich vom Kriegsgeschehen entfernt: „Wir haben immer am Fluß gelebt/Wir träumen vom Fluß“ [ebd.].

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„Ich nehme Papier zwischen die Finger wenn die Gefühllosigkeit kommt‘

Licht ist aus Schüsse Junge Frauen Die Gefangenen? Schnelligkeit“7

7

P. Waterhouse: E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina, o. S.

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Die Aussparungstechnik des kurzen Fragments erübrigt weitere Fragen; die gesamte Kommunikationssituation lässt keine echte Gesprächsatmosphäre aufkommen, weil der Beobachter selbst dort, wo er der Entsetzlichkeit der traumatischen Ereignisse auf der Spur ist, diese selbstverständlich nicht in Worte zu bannen versteht, so dass schließlich auch in diesem Fall wieder die Aktivierung des Weißraums das eigentliche Assoziationspotenzial eröffnet: Das Schweigen wird zum Protokoll. Mitunter verliert sich das Gesagte derart in der Leere des Weißraums, dass die Notate kaum mehr auf ihre Aussagen hin ausgewertet werden können: „,Aber die Menschen vergessen/Dinge können vergessen werden//Ja‘ (Lachen)“ [8]. Die beiden Sätze stehen gegeneinander, sie geben keinen konkreten Redeanlass mehr zu erkennen; und auch die bejahende Bestätigungsformel mit dem anschließenden „Lachen“ klärt nichts, sondern verstärkt eher noch das Ungesagte zwischen den vier Zeilen. Die Aktivierung des Weißraums greift damit sogar in die Gattungszuordnung von E 71 ein; denn in Waterhouse’ „Mitschrift“ erinnert nur die Zeilenbrechung an ein Gedicht, das freilich keine klaren Begrenzungen mehr hat, so dass eher von einem Poem oder, noch präziser, nur von einem Poem-Fragment zu sprechen ist. In seinem poetologischen Essay „Das Wort“ hat Waterhouse seine Position pointiert auf einen Satz reduziert: „Die Heimatlosigkeit und die gebrochenen und verstümmelten Laute sind das Ganze.“8 E 71, vor dem Hintergrund der deutschen und internationalen Literatur zum Bürgerkrieg im vormaligen Jugoslawien gelesen, ist weder publikumswirksam inszeniert noch besonders literarisch ambitioniert. Der Text besticht eher durch die Zurücknahme des Gesagten zugunsten des Nicht-Gesagten, so dass bei Waterhouse erst gar nicht die Frage aufkommt, ob ein Gedicht überhaupt – sei es als „Mitschrift“, sei es in poetischer Referenz – die grausamen Realitäten eines Krieges zu tangieren vermag. Es ist evident, dass Waterhouse damit im Kontext der deutschsprachigen Literatur der 1990er Jahre eine nahe liegende Antithese zu Handke darstellt, der auf politischer Unabhängigkeit und dichterischem Selbstverständnis beharrt und sich entsprechend vehement äußert; die Literaturkritik hat bereits darauf aufmerksam ge-

8

Zitiert nach Waterhouse, Peter: Geheimnislosigkeit. Ein Spazier- und Lesebuch, Salzburg/Wien 1996, S. 19.

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macht. So heißt es bei Hans Heider in der Wiener „Presse“: „Zwei österreichische Dichter auf dem Weg zum Unbeschreibbaren: Der eine, gewiß der Stärkere, ist ‚durchgekommen‘, der andere hat ein Kunstziel erreicht.“9 Aber geht es in E 71 nur um ein „Kunstziel“? Waterhouse hat in seiner „Mitschrift“ auf ein poetologisches Statement bewusst verzichtet, hat seinem Text überhaupt keine literarische Zuordnung beigefügt, also auch die „Kunstziel“-Wirkung nicht sonderlich herausgestellt. Literatur wird zu einem sehr fernen Echo des Krieges im Medium der Sprache, die nichts beschreiben und nichts be- und verurteilen kann. Ihr Charakteristikum ist eine kategorische Differenz und Distanz zu allen Diskursformationen, die sich auf Krieg und Gewalt beziehen und – bei aller Verschiedenheit – nur eines vermeiden: dass sie sprachlos sind. Hier setzt Waterhouse an, indem er dem Gegenteil vertraut, dem aktivierten Weißraum, der nichts anderes als das NichtGesagte und das Nicht-Sagen-Können repräsentiert. Nichts ist im Gewimmel der Diskurse machtloser als die Literatur von der Art der E 71; sie ist ein Erinnerungszeichen mit offen auszulegenden Signifikanten, indem sie ihr Quäntchen Wahrheit der Leere der Seiten anvertraut. Das letzte Wort des gesamten Textes heißt daher nicht zufällig „Menschenleere“ [28], welche die Abwesenheit des Menschen und des Menschlichen ausspricht: als allgemeine Erfahrung des Krieges.

9

Haider, Hans: „Nur einer kam durch“, in: Die Presse, Wien, vom 06.04. 1996. Keine Seitenangaben vorhanden

BERLIN `36 Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und die filmische Umsetzung B RITTA K ÜNKEL

Ich wollte den Deutschen beweisen, dass Juden nicht diese schrecklichen Menschen waren, nicht so fett, hässlich, widerlich, wie sie uns darstellen. Ich wollte zeigen, dass ein jüdisches Mädchen die Deutschen besiegen kann, vor 100 000 Menschen. GRETEL BERGMANN1

Die ehemalige jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann war 1936 die Favoritin für die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Berlin. Mit ihren langen Beinen gehörte sie zu den besten Sportlerinnen Deutschlands. In Laupheim bei Ulm genoss sie eine unbeschwerte Jugend, wo Juden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein fester Bestandteil der Bevölkerung waren. Anfang der 1930er Jahre wurde Bergmann Mitglied im Ulmer Fußballverein, wo man ihr bessere Trainingsbedingungen bot als in Laupheim. Schon bald gewann sie Goldmedaillen und nahm mit Erfolg an nationalen Wettkämpfen teil.

1

Brinkbäumer, Klaus: „The German Mädel“, in: Der Spiegel Nr. 35/2009, S. 112-114, hier: 113.

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In den 1930er Jahren hatte sich der Vereinssport in der deutschen Gesellschaft etabliert. 1932 gab es schon über vier Millionen Mitglieder in Sportvereinen, und auch Frauen wurden dort immer aktiver. Bei den Olympischen Spielen 1928 waren Frauen erstmals in fünf leichtathletischen Disziplinen gestartet. Zu dieser Sportbewegung der Frauen gehörten auch Jüdinnen. In den Vereinen waren sowohl Christen als auch Juden vertreten und lediglich eine jüdische Minderheit war in eigenen Vereinen aktiv. Dies änderte sich jedoch schon unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers. Die gesamtgesellschaftliche Integration im Sport wurde gestoppt, und Juden wurden Vereinsmitgliedschaften immer häufiger einfach verweigert.2 So musste auch Gretel Bergmann 1933 den Ulmer Verein verlassen. Sie bekam einen Brief, der ihr mitteilte, dass sie nicht mehr dazu gehörte, was für sie sehr schwer zu akzeptieren war, da sie sich nicht erklären konnte, warum sie plötzlich ein anderer Mensch sein sollte als eine Woche zuvor. Doch sie musste diese Entscheidung hinnehmen. Mit dem so genannten „Arierparagraphen“, den die Deutsche Turnerschaft 1933 einführte, durften Sportler jüdischen Glaubens nicht mehr in so genannten „arischen“ Vereinen Mitglied sein und sich nur noch in rein jüdischen Verbänden organisieren. Ihnen wurde sportliche Untüchtigkeit vorgeworfen und die Teilnahme an nationalen Wettbewerben untersagt, womit man ihnen die einzige Möglichkeit entzog, sich für die bevorstehenden Olympischen Spiele in Berlin zu qualifizieren. Somit entschied sich Gretel Bergmann, nach England zu gehen und dort zu studieren. Auch dort erkannte man ihr Talent und ließ sie 1934 bei den britischen Leichtathletikmeisterschaften antreten, wo sie den Titel im Hochsprung gewann, was international für Aufsehen sorgte. Als die USA mit einem Boykott der Olympischen Spiele in Berlin drohten, nachdem sie durch Bergmanns Erfolge in England erfahren hatten, dass die Deutschen die Jüdin ausschließen wollten, holten die

2

Vgl. Lauer, Julia: „Ein dunkles Kapitel des Sports. Ausstellung über die Demütigung jüdischer Athletinnen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.05.2011, S. 66.

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Nationalsozialisten Bergmann ins deutsche Trainingslager für die Olympischen Spiele. Unter Androhung von Repressalien gegen ihre in Laupheim noch lebende Familie, vor allem gegen ihre Geschwister, erzwang die Reichssportführung ihre Rückkehr nach Deutschland. Die Nationalsozialisten wollten damit ihrer Rassenpolitik „einen liberalen Anstrich geben“3 und gleichzeitig den angedrohten Boykott vermeiden. Bergmanns Präsenz vor und während der Olympischen Spiele „sollte dem Ausland vorgaukeln, dass eine gleichberechtigte Teilnahmemöglichkeit jüdischer Sportler am Völkerfest unter dem Hakenkreuz gesichert war.“4 Die Atmosphäre im Trainingslager empfand Gretel Bergmann als feindlich, sie hatte ständig Angst und ihre Wut wurde immer größer. Sie wusste: „Ich war die Alibijüdin und litt Todesängste – zwei Jahre lang.“5 Doch je wütender sie wurde, desto besser waren ihre Leistungen. Sie wollte zeigen, was eine Jüdin leisten kann.6 Allerdings kannte sie auch die Mentalität der Nazis und ihr war klar, es war für diese unmöglich, sie zu den Spielen zuzulassen. Sie mussten sie „loswerden“. Tag und Nacht hatte sie Angst und fragte sich, wie die Nazis sie wohl loswerden würden. Nachdem sie kurz vor den Olympischen Spielen in einem Wettkampf die besten deutschen Hochspringerinnen besiegt hatte und die US-Mannschaft bereits nach Berlin unterwegs war, also nicht mehr umkehren konnte, schloss man sie schließlich von den Spielen aus. Sie erhielt lediglich einen Formbrief mit der Begründung, ihre Leistungen seien ungenügend für die Olympische Mannschaft. Ihr stehe jedoch eine Stehplatzkarte für den Hochsprungwettbewerb der Damen zu, die sie niemals einlöste, da sie dies als eine zu große Demütigung empfand. Offiziell wurde jedoch

3

Kilb, Andreas: „Allein unter Mädels. Kurz gesprungen: Kaspar Heidelbachs Film ‚Berlin 36’“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.09. 2009, S. 34.

4

Braun, Jutta: „Gretel Bergmann“, in: Berno Bahro/Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hg.): Vergessene Rekorde. Jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933, Bonn 2010, S. 89-99, hier: 89.

5

Zitiert nach: „Die Angst sprang mit. Die jüdische Hochspringerin Gretel

6

Vgl. dazu ebd.

Bergmann“, Dokumentation von Eric Friedler, 1999.

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verkündet, Gretel Bergmann sei verletzt und könne deshalb nicht an den Spielen teilnehmen. Man halte ihren Platz aber frei für den Fall, dass sie es doch noch schaffe. So trat das deutsche Team nur mit zwei statt wie ursprünglich vorgesehen mit drei Springerinnen an: Elfriede Kaun und Dora Ratjen. Bei letzterer stellte sich im Nachhinein heraus, dass sie eigentlich ein Mann war. Unklar ist, ob die Nazis von Dora Ratjens wahrem Geschlecht wussten, fest steht jedoch, dass sie hatten sicher gehen wollen, dass auf jeden Fall eine Deutsche den Wettbewerb gewinnt. Erst am 21. September 1938 erklärte Dora Ratjen offiziell, sie sei ein Mann, nachdem sie auf dem Rückweg von den LeichtathletikEuropameisterschaften, bei denen sie mit einem Sprung über 1,70 Meter Gold für das Deutsche Reich geholt und den Weltrekord aufgestellt hatte, von einem Polizisten auf die Wache geführt und unter dem Vorwurf der Täuschung zu ihrer Identität befragt wurde. Seitdem nannte sie sich Heinrich Ratjen. Bei der Geburt von Dora Ratjen am 20. November 1918 bei Bremen hatte die Hebamme zunächst verkündet, das Kind sei ein Junge, und sich fünf Minuten später korrigiert. Bei einer Untersuchung durch einen Polizeiarzt 1938 notierte dieser als Auffälligkeit einen derben Narbenstrang auf der Unterseite des Penis, worin möglicherweise die Erklärung dafür liegt, weshalb das Geschlecht bei der Geburt verwechselt wurde. Dora Ratjen wurde jedenfalls als Mädchen großgezogen.7 Bei den Olympischen Spielen von Berlin belegte sie den vierten Platz. Gretel Bergmann gelang im Mai 1937 die Ausreise nach Amerika, und sie schwor, nie wieder deutschen Boden zu betreten. In Amerika arbeitete sie in Gelegenheitsjobs als Dienstmädchen, Sportlehrerin und Putzfrau. Dabei trainierte sie stets weiter und wurde noch im selben Jahr Amerikanische Meisterin. Wieder träumte sie von den Olympischen Spielen, die 1940 in Helsinki stattfinden sollten. Doch auch dieser Traum wurde von den Nazis und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zerstört. Später sah Gretel Bergmann immer wieder die Olympischen Spiele im Fernsehen und dachte jedes Mal: „Da oben hättest du stehen müssen.“

7

Vgl. Berg, Stefan: „Die wahre Dora“, in: Der Spiegel Nr. 38/2009, S. 150154, hier: 152.

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Für sie sei das Schlimmste das Klischee, die Sippenhaft und der Hass gewesen, wobei sie nicht den Hass der Nazis meint, sondern ihren eigenen Hass gegen Deutschland, die Deutschen und die deutsche Sprache. Bis heute spricht sie nur noch Englisch, weil sie sich vorgenommen hatte, nie wieder mit Deutschen zu sprechen oder auch nur ein deutsches Wort zu sagen.8 So hat sie die Sprache im Laufe der Jahre verlernt. Über ihre Zeit in Deutschland sagt Margaret Bergmann-Lambert, wie sie inzwischen heißt: Ein Jude in Deutschland zu sein hieß zu leiden. Das Land, das ich so geliebt hatte, erwiderte meine Liebe mit Hass, Hass auf mich und das ganze jüdische Volk. Und ich selbst verzehrte mich im Hass auf alles Deutsche, und dieses Gefühl blieb sehr lange bestehen.9

In ihrer Autobiographie schrieb Gretel Bergmann: „[I]m Innern toben die wiedererwachten Erinnerungen, bis mir schwindelig wird. Deutschen Boden werde ich nie mehr betreten, das steht fest, aber ich hasse auch nicht mehr alles, was deutsch ist.“10 Inzwischen ist Gretel Bergmann noch einmal in Deutschland gewesen, doch hat sie sich oft gefragt, warum es ein halbes Jahrhundert gedauert hat, bis Deutschland zugab, ihr Unrecht getan zu haben. Auch sind ganze 73 Jahre vergangen, bis der Deutsche Leichtathletik-Verband 2009 Bergmanns Erfolg offiziell anerkannte. Mit 1,60 Metern hatte sie 1936 den deutschen Rekord erzielt, der jedoch von der nationalsozialistischen Sportführung nicht anerkannt worden war. Nachdem sie 1996 die Einladung, als Ehrengast des NOK die Olympischen Spiele in Atlanta zu besuchen, angenommen hatte, wagte Gretel Bergmann drei Jahre später auch noch einmal einen für sie enorm großen Schritt und kam nach Deutschland, um in Frankfurt den Georg von Opel-Preis in der Kategorie „Unvergessene Meister“ entge-

8 9

Vgl. K. Brinkbäumer: „The German Mädel“, S. 113. „Nie wieder Deutschland. Gretel Bergmann – jüdische Olympiakandidatin 1936“, in URL: http://www.sportsfrauen.de/portraets/bergmann.html vom 26.03.2012.

10 Bergmann, Gretel: „Ich war die große jüdische Hoffnung“. Erinnerungen einer außergewöhnlichen Sportlerin, Karlsruhe 2003, S. 2.

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genzunehmen und um die Umbenennung der Sporthalle ihrer Heimatstadt Laupheim in „Gretel-Bergmann-Halle“ vor Ort mitzuerleben. Doch schreibt sie später auch: Es ist nie zu spät, sich um Wiedergutmachung zu bemühen, sage ich, aber ich werde niemals vergessen und vergeben, und keine Auszeichnung kann die leidvollen Jahre ungeschehen machen, die ich erdulden musste. 11

Dass sie auch 1940 ihren Traum von den Olympischen Spielen nicht erfüllen konnte, war ein weiterer bitterer Rückschlag für Bergmann. Nachdem sie in die USA ausgereist war, stellte sie bald fest, dass ihre sportlichen Fähigkeiten unter der erzwungenen Pause nicht gelitten hatten, und sie nahm an amerikanischen Meisterschaften teil. Sie sollte an den Empire Games teilnehmen, doch weil es dort keinen Hochsprung gab, schlug man ihr vor, am Hürdenlauf teilzunehmen. Dort qualifizierte sie sich für die Endrunde und wurde Dritte. Daraufhin wurde der mehrfache US-Meister im 1600-Meter-Lauf Glenn Cunningham auf sie aufmerksam, und Gretel hoffte, mit Hilfe eines solch anerkannten Sportlers in die Olympia-Mannschaft zu gelangen. Vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erfuhr Gretel Bergmann aus dem Radio, als sie ihre Tasche für die Leichtathletikmeisterschaft in den USA packte. Damit wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. Es bedeutete für sie „das Ende der Meisterschaft in diesem Jahr und vielleicht für immer.“12 Doch sie konnte an nichts anderes denken als an die Folgen des Krieges für sie und ihre Familie, und plötzlich schien ihr der Hochsprung nichts mehr zu bedeuten. Es fiel ihr schwer zu akzeptieren, dass die Nationalsozialisten noch immer Einfluss und Macht über sie hatten. Dass der Krieg die Olympischen Spiele 1940 verhinderte und damit ihren Traum erneut zerstörte, begriff sie erst viel später, denn [n]och war ich wie betäubt, voller Angst vor dem, was die Zukunft bringen würde. Ein frisch verheiratetes Ehepaar hätte eigentlich im siebten Himmel

11 Ebd. 12 G. Bergmann: „Ich war die große jüdische Hoffnung“, S. 182f.

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schweben müssen; aber für Bruno und mich gab es immer neue Qualen, die Wunden zurückließen, die nie mehr ganz verheilen.13

Gretel Bergmann wollte nach Ausbruch des Krieges auch ihre Schwiegereltern in die USA holen, doch nachdem Hitler am 11. Dezember 1941 auch den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte, wurde eine Flucht aus Deutschland unmöglich. Ihr Mann Bruno meldete sich daraufhin freiwillig bei der Armee, um gegen Deutschland zu kämpfen, und wieder folgte eine lange Leidenszeit für Gretel Bergmann. Sechs Wochen nach Brunos Abreise verlor die schwangere Gretel Bergmann ihr Kind. Eine weitere Fehlgeburt folgte. Als Bruno den Befehl erhielt, sich beim Bruns General Hospital in Santa Fé zu melden, ging sie mit ihm nach New Mexico, wo sie in einem kleinen Zimmer mit verschimmelten Möbeln wohnen mussten. Wenn Bruno Nachtdienst hatte, besuchte der Friedensrichter Gretel Bergmann unter dem Vorwand ihr Bücher zu bringen. Doch sie wusste, dass er andere Absichten hatte, weshalb sie Todesangst vor ihm hatte. Daher war sie überglücklich, als sie eine andere Wohnung gegenüber dem Krankenhaus fanden. Bei ihrer Rückkehr in den Osten war Gretel Bergmann erneut schwanger. Im April 1947 kam schließlich in New York ihr Sohn auf die Welt, wo Bruno seine eigene Praxis eröffnete. 1951 kam der zweite Sohn auf die Welt und Gretel Bergmann konnte mit ihrer Familie endlich ein ruhigeres Leben führen. Im Abschluss ihrer Autobiographie schreibt sie: Es scheint mir angemessen, dass ich die Erinnerung an mein Leben im fünfzigsten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abschließe, der den Beweis für die furchtbare Schlechtigkeit Adolf Hitlers lieferte. Genauso angemessen scheint mir, dass in diesem Jahr auch die Hundertjahrfeier der Olympischen Spiele näher rückt. Die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit wird sich zweifellos noch stärker auf meine Zeit als politischer Spielball konzentrieren. Wäre es nicht so schmerzhaft für mich gewesen, fände ich es wohl ironisch, dass Adolf Hitler ausgerechnet mich, ein jüdisches Mädchen, brauchte, um sicherzustellen, dass die Berliner Olympiade 1936 wie geplant stattfand. Vielleicht können nur aktive Sportler den Traum eines Ath-

13 Ebd, S. 183.

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leten begreifen, bei einer Olympiade anzutreten. Als eine der vier Weltbesten habe ich weder vergessen noch vergeben, dass man mich um diesen Traum betrog, einzig und allein wegen meiner Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben.14

Seit der Zerstörung ihres Traumes war sie permanent begleitet von Hass. Heute sagt sie: „Ich hätte so glücklich sein können in all den Jahren, wenn ich nicht so gehasst hätte.“15 2009 verfilmte der TV-Regisseur Kaspar Heidelbach die Erfahrungen der Gretel Bergmann in BERLIN ´36 mit Karoline Herfurth in der Hauptrolle. Der von deutschen Fördergeldern finanzierte Film erzählt, wie Gretel Bergmann bei den Olympischen Spielen in Berlin durch einen als Frau verkleideten Mann ersetzt wird und startete am 10. September 2009 in den deutschen Kinos. Der Film beginnt mit Archivmaterial von den Olympischen Spielen in Berlin und weist darauf hin, dass er auf einer wahren Geschichte beruht. Untermalt wird das ganze mit einer sentimentalen Musik. Gretel Bergmann wird vorgestellt, als ihr in England mitgeteilt wird, dass sie zurück nach Deutschland kommen soll, um am Trainingslager für die Olympischen Spiele teilzunehmen. Zu Hause angekommen fasst Gretel den Entschluss, die „Nazis zu blamieren“, indem sie bei den Spielen schlecht abschneidet und wirkt dabei noch fest entschlossen. Man rät ihr jedoch dazu, ihre besten Leistungen zu zeigen und die Nazis zu schlagen, da es für diese eine viel größere Schande sei, von einer Jüdin besiegt zu werden. Also ändert die Filmfigur Gretel spontan ihre Meinung, ohne große Überlegung. Schon in diesen ersten Szenen wird deutlich, dass der Film Schwierigkeiten hat, etwas zu vermitteln. Dazu wirkt er stellenweise laienhaft gespielt, und gewollte Emotionen können den Zuschauer nur schwer erreichen. Die Figur der Marie Ketteler, die im Film Dora Ratjen repräsentiert, wird sehr plakativ eingeführt. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere deutsche Konkurrentinnen für Gretel, womit vier Springerinnen um drei Startplätze konkurrieren, während es in der Realität für Gretel Bergmann nie eine Konkurrentin

14 G. Bergmann: „Ich war die große jüdische Hoffnung“, S. 215. 15 K. Brinkbäumer: „The German Mädel“, S. 113.

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um einen Startplatz im deutschen Team gab. Mit ihr waren es drei Teilnehmerinnen für drei freie Plätze. Sie wurde nicht von den anderen beiden Starterinnen verdrängt, sondern lediglich von der Liste gestrichen. Der Film will somit vermutlich das Konkurrenzdenken steigern, um Spannung aufzubauen. Leider versucht man dies dermaßen krampfhaft zu erreichen, dass die beiden anderen Teilnehmerinnen neben Gretel und Marie natürlich neidisch und missgünstig sind und auf „Zickenkrieg“ gesetzt werden, womit der Film einen ersten Tiefpunkt erreicht. Spätestens als Gretel und eine Konkurrentin in den Duschräumen des Trainingslagers wegen eines Stücks Seife aneinander geraten, erlangt der Film in der Inszenierung und der Gestaltung das Niveau einer Seifenoper. Die Konflikte zwischen Gretel und den Nazis werden meist durch Szenen wie diese dargestellt, die an Pennäler-Filme erinnern. Die Figur der Marie Ketteler kommt dabei kaum zum Tragen, obwohl der Film sich auf den Skandal, dass Marie eigentlich ein Mann ist, konzentrieren möchte. Dies wird hingegen wie mit dem Holzhammer präsentiert. Der Film konnte nicht darauf verzichten, eine Beziehung zwischen Gretel und Marie anzudeuten. Zwar kommt es in keiner Szene zu einer ernsthaften Annäherung, doch wird deutlich, dass Marie sich zu Gretel hingezogen fühlt. Dass Dora Ratjen eigentlich ein Mann war, hat Gretel Bergmann während der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele nicht erfahren. Im Film kommt es dagegen zu einer Szene, in der Marie und Gretel von den Konkurrentinnen zusammen in der Dusche eingesperrt werden und Gretel Maries männliche Merkmale deutlich zu sehen bekommt und schockiert wegläuft. Durch den Wäscheschacht verlässt sie empört die Duschräume, kann ihrer Freundin doch schon bald verzeihen. Auch sonst verzichtet der Film immer wieder auf eine wahrheitsgetreue Darstellung zu Gunsten der leicht goutierbaren Unterhaltung, die man durch die Veränderungen zu erreichen hofft. Der Film wird den historischen Fakten nicht gerecht. Er beschäftigt sich weniger mit den eigentlichen Geschehnissen und deren Bedeutung als vielmehr mit dem Versuch, dem Kinopublikum das zu liefern, was es von „Mainstream“-Filmen gewohnt ist: Kitsch. Er ist sehr sentimental und vernachlässigt dabei die Brisanz der Thematik. Die eigentliche Geschichte wird verzerrt und emotionalisiert. Das größte Problem des Films, der mit der richtigen Umsetzung ein gelungenes Zeitdokument

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hätte werden können, ist vermutlich der Versuch, sich einem Massenpublikum anzubiedern. Der Film will dem Kinopublikum in erster Linie gefallen und nimmt dafür Abstriche in mehreren Bereichen in Kauf. Die Beziehungen der Figuren zueinander sind holprig und auch beim Setting wurden Abstriche gemacht. Die Szenen in der Sportschule wirken in keinster Weise wie bei einer Vorbereitung auf einen bedeutenden Sportwettkampf. Auch ist die Stimmung zu keiner Zeit ernsthaft bedrohlich, und das ist sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es um die Geschichte einer jüdischen Sportlerin in der Nazi-Zeit geht. Der Endkampf bei den Olympischen Spielen, bei dem Marie im Finale steht, stellt den Schlusspunkt der Handlung, indem Marie sich daran erinnert, was die Nazis ihrer Freundin Gretel angetan haben und sich „rächt“, indem sie absichtlich nur vierte wird, und somit der erhoffte deutsche Erfolg ausbleibt. In einer Überblendung von Marie und Gretel wird gezeigt, wie Marie springt, was die Emotionen zwischen den beiden Figuren und die Dramatik des Films steigern soll, allerdings eher lächerlich wirkt. Ein Abschnitt in der Geschichte der Gretel Bergmann, der viel über deren Wut und Enttäuschung aussagt, ist die Tatsache, dass sie die Eintrittskarte für die Olympischen Spiele nie eingelöst hat. Bilder der Spiele bereiten ihr noch heute Schmerzen, und so hätte sie es niemals ertragen könne, ihren Wettbewerb live mitzuerleben. Darüber hinaus war ihre Wut über die Zusendung einer Stehplatzkarte für den Wettbewerb zu groß. Gretel Bergmann schreibt dazu: Natürlich ignorierte ich dieses großzügige Angebot. Obwohl der Inhalt des Briefes schon beim ersten Lesen keine Fragen offen ließ, las ich ihn immer wieder. Und statt Tränen brach jetzt ein Strom von Schimpfwörtern aus mir heraus. Obwohl mich niemand sehen konnte, hatte ich das Gefühl, dass Tränen zeigen würden, wie tief ich verletzt war – und selbst diese Befriedigung wollte ich meinen Peinigern nicht gönnen.16

Deshalb ist es sehr bedauerlich, dass man für den Film ausgerechnet an diesem Punkt die Geschichte umgeschrieben hat. Gretel verfolgt

16 G. Bergmann: „Ich war die große jüdische Hoffnung“, S. 127.

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den Wettkampf im Stadion und fiebert mit ihrer Freundin Marie mit. Sie wirkt in Anbetracht der vorherigen Ereignisse relativ gelassen und eher gespannt darauf, was Marie tun wird. Als diese den Blickkontakt mit ihr sucht und ihr nach der absichtlichen Niederlage zulächelt, lächelt Gretel zurück und wirkt so, als habe sie ihren inneren Frieden gefunden. Wenn man bedenkt, dass Gretel Bergmann im wahren Leben sich noch heute weigert, deutsch zu sprechen und erklärte, dass sie niemals vergessen können wird, ist diese Umsetzung doch äußerst bedenklich. Auch ist kritisch anzumerken, dass Gretel Bergmanns filmische Geschichte damit beendet ist und ein Happy End suggeriert, wenn man bedenkt, welche Leiden Gretel Bergmann nach den Olympischen Spielen mit dem Ausbruch des Krieges noch ertragen musste. Ein Original-Interview mit Gretel Bergmann schließt den Film ab und wirkt wie der Versuch einer Rechtfertigung für das Gezeigte. Man fragt sich bei BERLIN `36 jedoch, weshalb der Film so authentisch sein will und diesen Anspruch nicht halten kann. Durch die Interviewszenen mit der echten Gretel Bergmann soll der Eindruck der Authentizität manifestiert werden. Warum aber wurden bei diesem Film, der fast vollständig aus deutschen Fördergeldern finanziert wurde, die Tatsachen verfälscht, da er durch die Förderung doch nicht vom Publikumserfolg abhängig ist? Welches Publikum soll er ansprechen? Er ist nicht authentisch genug, um eine geschichtliche Tragkraft zu besitzen, da, wie bereits angemerkt, zahlreiche Details geändert wurden. Nicht einmal auf das authentische Aussehen der Charaktere wurde Wert gelegt. Für einen Unterhaltungsfilm ist er hingegen zu laienhaft inszeniert und gespielt. Dem Film ist zugute zu halten, dass er versucht, dem Zuschauer ein nahezu vergessenes Thema nahe zu bringen und an eine großartige Sportlerin zu erinnern. Möglicherweise ist eine unterhaltsamere Umsetzung dann eine Methode, die mehr Menschen erreicht, doch hätte der Film dann konsequenter eine Linie verfolgen müssen. Allerdings entsteht bei einer solchen Umsetzung auch das Problem, dass die Methode der Anbiederung bei der vorliegenden Thematik kritisch betrachtet werden kann, weil man so Gefahr läuft, der Person und ihren Erfahrungen nicht gerecht zu werden. Bei einer solch komplexen Thematik ist es grundsätzlich schwierig, den richtigen Weg für eine filmische Umsetzung zu wählen. So kann BERLIN ´36 abschließend

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mit einem Zitat aus dem Film selbst beurteilt werden: „Was uns nicht umbringt, macht uns stark.“

Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besonderer Berücksichtigung der Massenvergewaltigung D UNJA M ELČIĆ

Als Niklas Luhmann Anfang der 1990er Jahre seine Aufmerksamkeit der „Realität der Massenmedien“ widmete, war die jahrzehntelange Zäsur der soziologischen Realität durch die Spaltung des Kontinents noch nicht wirklich überwunden. Die beobachtete Realität war auf die westliche Welt beschränkt, was in der Soziologie, aber auch in den meisten anderen Geisteswissenschaften, in vielerlei Hinsicht noch bis heute gilt. Doch Luhmanns methodische Ansätze können auch auf die durch totalitäre Herrschaft geprägte Welt des ehemaligen Ostblocks fruchtbar angewandt werden. Luhmanns Grundsatz lautet: „Was wir über […] die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“. 1 Dieser Grundsatz hat seine Gültigkeit in der modernen Welt westlicher Prägung, aber auch in den modernen Diktaturen, obwohl die Medien und die Öffentlichkeiten der beiden Welten recht unterschiedlich strukturiert sind bzw. waren. Für die Ausdifferenzierung des Systems „Massenmedien“ ist nach Luhmann „die Verbreitung von Kommunikation“

1

Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9.

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durch technische Mittel der Vervielfältigung ebenso konstitutiv, wie die „Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes“. 2 In der gesellschaftlichen Realität kommt es dann darauf an, mit welchen Konstruktionsleistungen die Fülle, der Luhmannsche „Überschuss“, an Kommunikations- und d.h. Interpretationsmöglichkeiten systemintern strukturiert wird. Es stellt sich die Frage, wie die eigenen „Realitätskonstruktionen kontrolliert werden“ können. Zwei Faktoren, Luhmann spricht von „Selektoren“, bedingen das Geschehen: „die Sendebereitschaft und das Einschaltinteresse, die zentral nicht koordiniert werden können“.3 In diesem „dialektischen“ Raum lassen sich die fundamentalen Strukturunterschiede der Mediensysteme einer freien und einer totalitär beherrschten Gesellschaft ausfindig machen. Einerseits. Andererseits spielt im freien Raum der Interpretationsmöglichkeiten die Ideologie eine zentrale Rolle als Richtungsgeberin der Realitätskonstruktion durch die Medien und zwar in beiden Systemen, trotz der institutionellen und strukturellen Unterschiede.

M EDIEN IN TOTALITÄR G ESELLSCHAFTEN

BEHERRSCHTEN

Die systemtheoretische Ausgangssituation der Medien in unfreien modernen Gesellschaften ist die gleiche wie die in den freien. Es ist die maschinelle Herstellung eines Produktes als Träger der Kommunikation in großer Zahl mit zunächst unbestimmten Abnehmern. Im politischen Sinne wirkt bereits das Fehlen der „Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern“ subversiv, weil dadurch „hohe Freiheitsgrade der Kommunikation gesichert“ sind.4 Ideologische, totalitär ausgerichtete Herrschaft setzt alles daran, diesen Vorgang völlig unter Kontrolle zu halten und in ihrem Sinne auszunützen. Die Zwischenschaltung der Technik in der Kommunikation und die ausschlaggebende Rolle der Technologien für den Verbreitungspro-

2

Ebd., S. 11.

3

Ebd. 12.

4

Ebd.

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zess ermöglichen einerseits die Freiräume der Kommunikation zwischen den Sendern und Empfängern und fungieren andererseits auch als Vehikel für die Verbreitung einer ideologischen „Wahrheit“. In großer Zahl gedruckte Propagandatexte und Massenbewegungen der Neuzeit sind ein augenscheinlich zusammenhängendes Phänomen. In den sowjetischen Zeiten hatten die staatlich kontrollierten Druckerzeugnisse in der Regel eine exorbitante Auflage. In einer seiner frühen Arbeiten hat der Konstanzer Slavist Jurij Murasov die wichtigen Zusammenhänge zwischen der Schrift und dem Totalitarismus dargestellt. Die Freiräume, die die Schrift als Medium freisetzt, müssen demnach in eine Art direkte Kommunikation zurückgeführt werden. Murasov spricht von der „[…] strukturelle[n] Unvereinbarkeit von Schrift und totalitärer Herrschaft“. Diese könne die Schrift nicht „lediglich als Transportmittel für ihre Ideologie […] funktionalisieren“. Weil „in der Schrift ständig […] Gefahren des Uneindeutigen und abweichlerischen Verstehens“ lauern, „muß die totalitäre Herrschaft versuchen, diese zu bannen“, um dabei das zu tilgen, „was Schrift ausmacht.“5 Eine wichtige Konsequenz daraus ist die Entstehung „einer ständigen Kommentierungs- und Auslegungswut, um jene semantischen Überschüsse und Mehrdeutigkeiten unter Kontrolle zu bringen…“6 Diese Elemente bedingen eine besondere Konstellation bei der medialen Produktion in den Systemen des real existierenden Sozialismus, die sich in allen Einrichtungen der Gesellschaft und in ihrem Grunddiskurs auswirkt. Das Sinnbild dafür sind politische Kommissare in den Redaktionen aller Medien – in Verlagen ebenso wie in den Zeitungen und Zeitschriften, elektronischen Medien, in Programmräten von Museen, Theatern, Kinos, bei der Film- und Musikproduktion. Diskurse und Inhalte werden ständig und überall – von der Schule bis zu den Akademien – kontrolliert und reguliert, wobei das Personal in den Redaktionen und Vorständen nicht nach professioneller Eignung

5

Murašov, Jurij: „Fatale Dokumente. Totalitarismus und Schrift bei Solženicyn, Kiš und Sorokin“, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, 46, August 1995, S. 84.

6

Ebd.

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sondern nach politischer Gehorsamkeit selektiert und jede Abweichung sofort sanktioniert wird. Das macht auch das Paradox der Massenmedien in totalitären Gesellschaften aus: Einerseits sind sie unverzichtbar für die Erlangung und Stabilisierung der Macht ohne demokratische Prozeduren, andererseits können sie für Diktaturen, die sich ideologisch legitimieren, also durch Sprache, Wort, Schrift, jederzeit subversive Wirkung ausüben. Daher kämpfen die Parteisoldaten in den Medien ständig gegen diese immanente subversive Kraft, die aus jeder der immer wieder nötigen Neudeutungen herausbrechen kann. Doch es sind nicht einfach „die Sendebereitschaft und das Einschaltinteresse, die zentral nicht koordiniert werden können“7, die das Geschehen bedingen. Denn Sendebereitschaft ist hier eher als „Sendebefehl“ zu bezeichnen, die streng kontrollierten Inhalte zu übermitteln, die sehr wohl von politischen Zentren koordiniert werden. Das hat Folgen für das „Einschaltinteresse“, wird aber vom Sender weitgehend ignoriert. Die „Einschaltquoten“ bei den elektronischen Medien spielen hier keine Rolle und werden nicht einmal erhoben. Der Empfang von Inhalten wird über andere staatliche Apparate und Institutionen kontrolliert und überwacht. Typisch sind die kollektiven Kinobesuche von Schulklassen bei patriotischen, ideologisch erbaulichen Filmen. Ein kurzer historischer Rückblick macht diese besondere Konstellation der Medien in den totalitären Gesellschaften deutlich.8

K URZER HISTORISCHER R ÜCKBLICK Im sozialistischen Jugoslawien entstand im Kampf um die richtige Ideologiedeutung nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 eine Sondersituation. Die jugoslawischen Massenmedien wurden von diesem ideologischen Erdbeben erschüttert und standen vor weitaus

7

S. Anm. 3.

8

Ausführlicher in meinem Beitrag „Zwischen Pluralismus und Denkdiktat. Die Medienlandschaft“, in: Melčić, Dunja (Hg.): Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden: 2007, 2. Auflage, S. 312-324.

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schwierigeren Problemen als die kanonisierten Medien in den übrigen Ländern des Ostblocks. Unter anderem musste auch die Abtrünnigkeit als eigentliche Rechtgläubigkeit interpretiert werden. Jugoslawiens Exkommunikation aus dem Reich der kommunistischen Rechtgläubigkeit ließ im Land einen gewissen Meinungspluralismus bei der Deutung des kommunistischen Dogmas entstehen. Die Lehre des Marxismus-Leninismus musste dabei ohne „Stalinismus“ auskommen und ihren Absolutheitsanspruch trotzdem bewahren. Damit waren nicht nur eine komplizierte Ausgangsposition, sondern auch die gesteigerten Interpretationsmöglichkeiten gegeben. Schon 1953 erschien eine polemische Artikelserie im kommunistischen Zentralorgan, der Tageszeitung Borba; darin kritisierte der frühere Dogmatiker Milovan Đilas, gewissermaßen als erster Dissident, aber noch als ZK-Mitglied, die neue kommunistische Elite („neue Klasse“). Đilas schied damit aus dem konsenspflichtigen System der Kommunikation aus; denn er äußerte sich ohne „mit uns die Angelegenheit vorher diskutiert zu haben“, wie Tito sich ausdrückte. Damit sprach Tito das Wesen der ideologisch gelenkten Kommunikation an: Inhalte werden in einem Kollektiv verhandelt, wobei die letzte Entscheidung durch die oberste Autorität gefällt wird, und erst danach durch streng kontrollierte Medien öffentlich gemacht. Wer sich daran nicht hält, bricht aus der konsensuellen Wahrheit des Hinterzimmers aus. Der „kritische“ Diskurs gegenüber der Sowjetunion war streng ritualisiert, echte öffentliche Diskussionen und eine freie Aussprache waren ausgeschlossen; und bald schon verschwanden die Themen samt ihrer potenziellen Subversivität für das eigene System in der Versenkung. Eine Lockerung der Kontrolle gab es in einigen Sparten nach der Gründung marktorientierter Abendzeitungen, die eine Abkehr von den „Bleiwüsten“ der ideologisch ausgerichteten „seriösen“ Parteipresse bedeuteten. Nicht nur fiel das Layout durch einen stärkeren Bildanteil auf, auch die Thematik wurde abwechslungsreicher und die Sprache überwand streckenweise die Parteiphrasendrescherei. Man kann sagen: der Alltag kam stückweise in die Medien hinein. Doch blieb die öffentliche Sphäre gekennzeichnet durch die Mischung aus dosierter Freiheit und steten Eingriffen der Obrigkeit, so dass die gesellschaftlich notwendigen politischen Diskussionen nie stattfinden konnten.

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In Serbien der 80er Jahre kam es zu einer neuen Entwicklung: allmählich verschmolz der inoffizielle nationalistische Diskurs mit der kommunistischen Indoktrinationsstrategie zu einem mächtigen Manipulationsinstrument zusammen. Da die Themen zunächst in mündlicher Kommunikation behandelt wurden, trugen sie deren Charakteristika – Autorität des Redners und beschränkte Überprüfbarkeit der Information – in die schriftliche Version mit hinein. Die dissidenten Medien in Serbien sind nie zu Foren der offenen Diskussion geworden. Sie sind eigentlich auch nur bedingt als „dissident“ zu bezeichnen; die meisten Redakteure und Autoren blieben weiterhin Parteimitglieder. Generell lässt sich sagen, dass sich die Medien der serbischen Dissidentenszene die Freiheit erkämpften, über so genannte Themen der Nation zu sprechen. Damit wurden sie zu Trägern der „serbischen Kulturrevolution“, um die Bezeichnung des französischen Slavisten Paul Garde zu benutzen. Diese kam erst mit der Gleichschaltung der wichtigsten Medien auf den Kurs von Milošević nach seiner putschartigen Machtergreifung zur vollen politischen Entfaltung. Wichtig für die mediale Realität in Serbien ist darüber hinaus der Umstand, dass an ihrer Herstellung die Propagandaabteilungen der Sicherheitsdienste maßgeblich mitwirkten.

S TRUKTURELLE C HARAKTERISTIKEN DER M ASSENMEDIEN IM T OTALITARISMUS Der Kernbereich, in welchem sich die Andersartigkeit der Medien in einer freien und einer geschlossenen Gesellschaft bemerkbar macht, findet sich in der systeminternen Selbstorganisation. Hier werden aus der überbordenden Fülle der Kommunikationsmöglichkeiten eigene Realitätskonstruktionen erarbeitet. Dabei handelt es sich nicht um Phantasiekonstrukte, vielmehr sind die Medien an die gesellschaftliche Kommunikation gekoppelt, zunächst durch die Masse der täglich einlaufenden Kommunikationen und auch – als substantielle Fremdreferenz – durch die Themen der Kommunikation. Die operative Eigendynamik der Medien ist unlösbar mit der Neuheit des Neuen verbunden. In den totalitär kontrollierten Gesellschaften wird diese systemische Eigendynamik durch Parteidirektiven durchfurcht und so zum

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teilweisen Stillstand gebracht oder entschleunigt. Durch die Kontrolle des Inputs wird die Masse der täglich einlaufenden Kommunikationen gestört und reduziert bzw. dadurch auch erheblich verfremdet. Neuheiten werden fingiert, etwa in der Art, dass diverse Beschlüsse unterschiedlicher Parteiorganisationen als „Nachrichten“ kolportiert werden, obwohl sie keinen Nachrichtenwert haben; sie bekunden bloß gehorsame Befolgung dessen, was in den Zentralen schon beschlossen wurde. Während das System der Massenmedien an bestimmten Funktionen kenntlich gemacht werden kann, ist die mediale Dysfunktionalität das Hauptcharakteristikum der zu Propagandazwecken missbrauchten Massenmedien. Ein Beispiel: In der politischen Übergangszeit in Kroatien ließ die Partei freie Wahlen zu. Das Regime und seine Multiplikatoren in den Medien waren von ihrem eigenen wirklichkeitsfremden Weltbild vollkommen befangen und hegten deshalb falsche Erwartungen bei den Wahlen im April 1990. Jeder halbwegs neutrale Beobachter konnte sich zur gleichen Zeit von der Vergeblichkeit dieser Erwartungen überzeugen, denn eine Abwendung von Parteiherrschaft und -kadern in der Bevölkerung war förmlich mit den Händen zu greifen. Das zeigte sich dann deutlich, als die populistische nationalistisch ausgerichtete Partei HDZ die meisten Stimmen der Wähler eroberte (42 Prozent).9 Damit wird auch klar, dass die durch die ideologisch-politische Lenkung dysfunktional arbeitenden Medien die Realität verfälschen, was dann für die Träger dieses Systems auch zur Falle werden kann, wie in dem erwähnten Fall. Das Zielpublikum hat deren autopoietischen Ideologiegespinsten ohnehin nicht geglaubt. Doch dieses massenmediale Schwindelsystem brachte mannigfache Strukturen hervor, setzte sich in Institutionen fest, wo sich auch bestimmte Mentalitäten mit ziemlicher Nachhaltigkeit etablierten. Der Angelpunkt dieser devianten Entwicklung liegt in der Praxis der Personalbesetzung: die Posten in den Massenmedien wurden seit Jahrzehnten von Personen besetzt, die keine professionellen journalisti-

9

Sie errang in der Koalition mit kleineren sozialistischen Parteien 36 % der Stimmen und 36 Mandate (31,30 %); besonders hart wirkte sich dieses Wahlgesetz auf die Liberal-Soziale-Koalition aus, die knapp 16 % der Stimmen und bloß 4,35 % der Mandate errang.

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schen Qualifikationen besaßen. Auch nachdem es zu einer Pluralisierung der Medien kam, ist die Professionalisierung des Journalismus keineswegs zur obersten Tugend der Zunft geworden. Bis heute scheinen Fachwissen, journalistisches Können und professionelle Führungsqualitäten dabei kaum eine Rolle zu spielen. Insofern ist die Ausdifferenzierung des Systems Massenmedien hier gar nicht richtig vollzogen worden.

S ERBISCHE M EDIEN UNTER M ILOŠEVIĆ Diese besonderen Strukturen, die durch das Eindringen der nicht-medialen, ja dem Mediumswesen fremden Sektoren in das System der Massenmedien samt deren beherrschender Rolle dort selbst geprägt waren, bestimmten auch den medialen Umgang mit den Kriegsgeschehnissen. Zu beachten ist besonders die erwähnte Aktivität der Geheimdienste, die gezielt Desinformationen und Falschmeldungen in den Medien platzieren ließen. In den der Wende vorausgegangenen Jahrzehnten gab es zahlreiche solcher Fälle, insbesondere im Zusammenhang mit der Abrechnung mit den politischen Gegnern. Der Hergang von konkreten Ereignissen wurde entweder verzerrt dargestellt oder ganz erdacht; die betroffenen Personen quasi im Voraus verurteilt und an den Pranger gestellt. Dieses Paradigma wurde besonders im serbischen „Journalismus“ zur Kriegspropaganda weiter ausgebaut, d.h. ins Kriegsfeld gezogen. Früher wurden tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner mit gezielt platzierten Verleumdungen in den Medien im Voraus schon beschuldigt und verurteilt; nunmehr wurden alle angeblich anti-serbisch eingestellten Völker – Slowenen, Albaner, Kroaten, Bosniaken – nach der gleichen Methode kollektiv verunglimpft. Solchen geheimdienstlich-propagandistischen Strategien wurden in den Medien Tür und Tor geöffnet. Die serbischen Medien hatten an der vordersten Front den Krieg verbal vorbereitet und geführt. Das augenfälligste Beispiel ereignete sich bei Vukovar: während die Weltmedien Berichte und Bilder über den brutalen Einmarsch der serbischen Streitkräfte in die völlig zerbombte Stadt und die Vertreibung der Zivilbevölkerung brachten, berichteten die serbischen Medien über „die Befreier“ von Vukovar, das nunmehr „unter der

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Kontrolle der Armee“ sei, was eine „Niederlage der Ustaschas“ bedeute.10 In einträchtiger Zusammenarbeit, sozusagen Hand in Hand, fabrizierte der Militärische Abschirmdienst zusammen mit anderen Geheimdiensten und der Nachrichtenagentur Tanjug sowie den gehorsamen Zeitungsredaktionen und sonstigen Medien etwa ihre von jeglicher Wirklichkeit abweichende Version des Luftangriffs auf den kroatischen Regierungssitz in Zagreb (Oktober 1991). Demnach habe die kroatische Seite selbst diesen Angriff ausgeführt. Variante B: den Luftangriff habe es gar nie gegeben. Oft wurden beide Varianten zugleich von einem und demselben Subjekt vorgebracht. Diese Muster wurden – leicht adaptiert – in der medialen Propagandamaschinerie auch während des Bosnien-Kriegs angewandt. Ähnlich ist auch die Verteidigungsstrategie von Radovan Karadžić gegenwärtig vor Gericht in Den Haag. In systemischer Hinsicht zeigt sich, dass die Medien seit der nationalistischen Wende zwar ideologisch neue Inhalte verbreiten, aber nach dem alten System, nämlich als Empfänger der mündlichen Botschaften und Befehle, funktionieren. In der serbischen Tradition hat darüber hinaus die Mündlichkeit einen hohen Stellenwert. Damit gehen auch eine verbreitete Mentalität und ein typisches Verhalten einher: Was man in der direkten Interaktion erfährt, hat eine weit größere Glaubwürdigkeit als alle anderen Informationsquellen. Wahrheit ist demnach, was einem in der direkten Kommunikation mitgeteilt wird. Selbstverständlich wird nach der Quelle dieses „Wissens“ gar nicht gefragt. Komplementär dazu herrscht Misstrauen gegenüber der Schrift, dem geschriebenen Wort und allen Formen der Information über professionelle Medien. Es ist wichtig, wer etwas sagt, und nicht was gesagt wird. Dieser Primat der persönlichen Autorität des Sprechers ist mit den massenmedialen kommunikativen Strukturen in totalitär beherrschten Gesellschaften ganz kompatibel und lässt sich auch in den nationalistischen Kollektivdiskurs problemlos integrieren. Daraus erklärt sich auch, warum so gewaltige Teile der serbischen Bevölkerung den Geschichten ihrer Medien glaubten, die für alle anderen Öffentlichkeiten völlig unglaubwürdig waren. Die persönliche Auto-

10 Siehe die aktuelle Dokumentation von Žarka Radoja, in URL: http://www. e-novine.com vom 04.06.2012. Siehe Anhang.

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rität des Sprechers – in diesem Fall Miloševićs – wurde auf die Massenmedien übertragen und so konnten die dreisten Lügen als Wahrheit gelten, weil darüber, was als „Wahrheit“ gilt, danach entschieden wird, wer sie ausspricht. Das binäre Operationsschema ist hier außerdem eine mit Gehalt ausgefüllte Struktur: das Freund-Feind-Schema. Die „Nachricht“ fungiert höchstens als Anlass für die symbolhafte Kommunikation; es wird nicht nach dem Nachrichtenwert selektiert, sondern in „wir“ und der Feind sortiert. Die Kommunikation hat eigentlich einen rituellen Charakter, und da ist die Wiederholung das Wesentliche. Man könnte sagen, Feinde kommen und gehen (dies allerdings nie richtig), die Methode bleibt die gleiche. Daher werden auch die Feinde im Inneren, also eigentlich die politischen Gegner, auf fast genau die gleiche Art und Weise behandelt wie die auswärtigen. Das geht soweit, dass die politischen Gegner Miloševićs als „Ustaschas“ oder einfach als „Kroaten“ beschimpft wurden.

D IE T RÄGHEIT

EINGEFLEISCHTER

M ENTALITÄTEN

So einmalig die beschriebene massenmediale Struktur in Serbien auch ist, so waren die Medien aller Republiken dennoch Teile des gleichen Systems, was sowohl deren Kommunikationsstruktur prägte als auch Folgen – mitunter bizarre – in der Zeit der Krise, am Vorabend und während des Krieges, hatte. In diesem System hatte die Belgrader „Jugoslawische Nachrichtenagentur“ (TANJUG) ein absolutes Nachrichtenmonopol und sie war selbstverständlich mehrheitlich vom serbischen Personal besetzt. Nach der nationalistischen Wende versuchte die Agentur die „serbischen Wahrheiten“ als „jugoslawische“ zu verkaufen. In der bosnischen Öffentlichkeit ist es dadurch zu geradezu schizophrenen Situationen gekommen, als etwa die Bewohner von Sarajevo die Nachrichten der Medien dieser ideologischen Provenienz sich anhören oder anschauen mussten, die über die „Zwischenfälle“, die sie gerade erlebten, völlig tatsachenwidrig berichteten. Durch Gründung von professionellen und unabhängigen seriösen Medien wären diese Probleme – die alten und die neuen – schnell gelöst. Aber dazu kam es lange nicht. Man könnte von einem posttota-

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litären Paradoxon sprechen: es gab eine große politische Umwälzung aber wenig Strukturwandel. So konnte man in Kroatien klar eine allgemeine und breite Orientierung an westlichen Werten und Hochhalten der Demokratie feststellen – die Gesellschaft war bereit und erwartete einen großen Strukturwandel. Dieser fiel dann doch aus – nur die Protagonisten wurden ausgetauscht. Ein Umbau der medialen Kultur, der den Anforderungen einer jungen Demokratie entsprechen würde, blieb wegen der Trägheit der Strukturen weitgehend aus. Die neue/alte Besetzung in den großen Medien war zum autonomen Handeln nicht fähig. Das hat sich in Kroatien während des Krieges als nachteilig erwiesen. In den Medien kam es zu einer extremen Polarisierung: auf der einen Seite waren die Anhänger des neuen Establishments unter dem Präsidenten Tudjman, die sich vorwiegend als willige Empfänger und dann Transmitter der politischen Botschaften verstanden. Die Funktionsweise der medialen Strukturen blieb also dieselbe. Die Orientierung der Medienleute an den politischen Richtlinien aus herrschaftlichen Etagen war offensichtlich Teil einer systemischen Mentalität geworden. Auf der anderen Seite standen die Gegner der neuen politischen Kraft und der nationalistischen Gesinnung, die nunmehr mit Tudjman an die Macht kam. Hier bestimmte die Gegnerschaft die Handlungsweise. Die Nachrichten waren in diesen Raster der Polarisierungen geraten und kamen in verzerrter Form zu den Empfängern. Die Folge: es herrschten ein Aggressionskrieg in der Wirklichkeit des Landes und ein Deutungschaos in der medialen Öffentlichkeit. Von den Schauplätzen des Krieges berichteten freilich die wenigen unabhängigen Journalisten, d.h. meistens und am glaubwürdigsten waren es Journalistinnen, und zwar in den Printmedien. Das hat auch der wirklich gegebenen Lage in Kroatien am besten entsprochen, weil ja die Fakten ohnehin für sich sprachen. Allerdings entwickelte sich der „kritische Journalismus“ kroatischer Prägung in eine höchst merkwürdige Richtung. Sein Fokus lag eben nicht auf der Etablierung einer unabhängigen Berichterstattung und Professionalisierung der Zunft nach westlichem Vorbild, sondern in der Bekämpfung des neuen Regimes bzw. der Medien, die man als regimetreu denunzierte. Vor allem erwiesen sich diese „kritischen Medien“ in den Zeiten des Krieges unfähig, Informationen ohne par-

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teiischen Einfluss zu übermitteln. Kritik an Tudjman war ihnen viel wichtiger als Ermittlung von Fakten. Ihnen war also nicht die Information sondern ihre eigene Tendenz heilig. Den Empfängern wurde immer mitgeteilt, wie sie etwas zu lesen und zu verstehen haben. Diese Art medialer Beeinflussung ist charakteristisch für Pamphlet-Journalismus. Das Fazit nun lautet, dass die Berichterstattung der Massenmedien über den Krieg in Kroatien die Öffentlichkeit einerseits nicht ausreichend mit zuverlässigen Informationen versorgte, diesen Mangel oft durch übertriebene patriotische und nationalistische Narrative kompensierte und so ohne Not auch Skepsis schürte. Andererseits wurde die Öffentlichkeit durch eine Publizistik von zersetzender Tendenz verunsichert, die ihr permanent suggerierte, dass es zuverlässige Nachrichten gar nicht geben könne und auch keine Orientierung über das Richtige und Falsche. Demgegenüber zeigt sich, dass gerade die ausführlichen und zutreffenden Informationen das allerbeste Mittel der Massenmedien zu Kriegszeiten sind, zumal wenn sie von nüchternem Sachverstand begleitet sind.

D AS M EDIENSYSTEM IM W ESTEN , DER K RIEG UND DIE M ASSENVERGEWALTIGUNGEN Das System der Massenmedien funktioniert nach den Codes Information/Nichtinformation und durch eine autopoietische Dynamik, aber nicht ohne Menschen. Codes funktionieren nicht von alleine, ihnen geht ein Verständnis voraus, das sie als solche oder solche interpretiert, d.h. die Neuigkeiten ordnet und selektiert und zu mitteilbaren Nachrichten macht, wobei das Verständnis selbst strukturiert ist. Beispielsweise können eigene Prioritäten oder Nachlässigkeiten bei der Aufnahme und Weitergabe von Informationen eine Rolle spielen. Wenn man sich den zeitgeschichtlichen Augenblick vergegenwärtigt, in welchem der Krieg ausbricht, so wird klar, dass auch im Westen gerade die Zeitenwende aus dem Osten Europas eine Erschütterung der jahrzehntelang aus- und eingeübten Perspektiven hervorgerufen hatte; das Neue bahnt sich erst seinen Weg durch die alten Wahrnehmungsgewohnheiten. Für die Rezeption des Kriegsgeschehens ist die Perspektive des Kalten Krieges, d.h. die Befürchtung einer globalen,

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atomaren Bedrohung, die in der Nachkriegszeit die Wahrnehmungen prägte, ausschlaggebend gewesen. Denn in ihrem Schatten schlug die Überzeugung, in Europa selbst und jenseits des Antagonismus der Blöcke könne es nie mehr wieder zu einem Krieg kommen, breite und dicke Wurzel. Als es dann doch mitten in Europa zu einer regelrechten Aggression und dem langen Krieg kam, hat sich gleichsam von alleine eine Haltung etabliert, die die Rezeption des Geschehens weitgehend abblockte. Dafür benutzte man vielfache zumeist intransparente Strategien, die ich auf gewisse „psychologische Ausweichmechanismen“ zurückführen möchte. Das heißt, dass es sich um keine bewussten Handlungen und Haltungen handelt – was den Diskurs darüber enorm erschwert. Deskriptiv behandelt zeigt sich diese Strategie etwa daran, dass das Geschehen in der Projektion geopolitisch gleichsam virtuell ausgelagert wird – aus Europa hinaus. Man ortet es im Balkan, was dann die Bedeutung von „außerhalb Europas“ bekommt. Man stuft es als einen „ethnischen Konflikt“ ein, eine Definition, die erlaubt, sich um die Ursachen und Kategorien wie Aggression und Verteidigung gar nicht erst zu kümmern. Die politischen Faktoren und Ursachen des Krieges wurden weitgehend ausgeblendet, weil eine politische Analyse geradezu dazu zwingt, zwischen den Agierenden zu unterscheiden. Als Resultat kann man sagen, dass die westlichen Medien in der Grundtendenz eine andere Realität des Krieges konstruieren als die Medien der betroffenen Gemeinschaften. Damit komme ich etwas näher zum eigentlichen Thema des Buches. Der feministische Diskurs hat sich noch weniger für die politischen Aspekte des Krieges in Kroatien und Bosnien-Herzegowina interessiert als die Medien sonst. Wahrgenommen wurde der Krieg erst, als das Thema der Massenvergewaltigungen groß publik wurde. Die Massenvergewaltigungen in Bosnien wurden überhaupt als Frauenthema wahrgenommen, auch in großen Medien und Zeitungen, besonders aber durch die Berliner taz. In den Fokus war das Phänomen der „männlichen Gewalt“ gerückt worden; so sind die Ereignisse gleichsam zu einem „westlichen“ Thema geworden. Weil bei diesem Thema der Massenvergewaltigungen der geschichtliche und politische Kontext des Krieges in der Aufnahme und Verarbeitung durch die westlichen Medien noch radikaler reduziert war, wurde es als Thema

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energischer angepackt. Da diese Diskussionen und auch die damit verbundenen konkreten Aktionen und Initiativen insbesondere in Deutschland, Frankreich und den USA von der Sicht der betroffenen Frauen bzw. Gemeinschaften sehr weit entrückt waren, blieb die Kommunikation zwischen ihnen zutiefst gestört. So kam das Thema in den westlichen Medien in einem Korsett aus Klischees, Vorurteilen und daraus produzierten Mythen an. Ein solcher Mythos entstand aus dem Narrativ, wonach die Bosnierinnen als Musliminnen sich besonders schämen und daher auch weigern würden, über das ihnen zugefügte Leid zu berichten. Die Ursprünge dieser Legende liegen im völligen Dunkel. Mit Fakten hat sie wenig zu tun. Doch was war die Funktion dieses häufig vorgebrachten Narrativs? Vielleicht lenkte es von wirklich grausigen Dimensionen dieses Verbrechens ab? Dass es sich um organisierte und geplante Verbrechen handelte, die von Ort zu Ort mit unterschiedlicher aber klarer Systematik ausgeübt wurden und somit auch einer klaren politischen Strategie folgten; dass sowohl die Massivität als auch die Systematik dieser Massenvergewaltigungen ohne Vergleich mit sonstigen Gewaltakten gegenüber Frauen im Krieg waren und ebenso die frappierende Häufigkeit, mit der Frauen und Mädchen von Bekannten, Nachbarn, Kollegen, Mitschülern vergewaltigt wurden – all das erlangte auf jeden Fall viel zu wenig Aufmerksamkeit der westlichen Medien. Die Ausschaltung dieser schwer verdaulichen und politisch undurchschaubaren Problematik reduzierte aber ihre enorme Komplexität, was sie wiederum diskursfähig machte, und zwar in jenen gewohnten Codes der Diskussion über die Gewalt an den Frauen, die sich im Westen seit geraumer Zeit etablierten. Dadurch verschob sich die Kriegsthematik fast völlig in den Hintergrund. Doch sind gleichzeitig die Massenverbrechen an Frauen und Mädchen von einem breiten – vorwiegend – Frauenpublikum rezipiert worden. Ohne diese breite Sensibilisierung für die Opfer der sexuellen Gewalt während des bosnischen Krieges und das große Engagement von Frauengruppen und entsprechender Publizistik wäre es wahrscheinlich zur Aufnahme der Vergewaltigung als Tatbestand des Völkerstrafrechts nicht gekommen. Dasselbe gilt für die Urteile des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, die zum ersten Mal die Vergewaltigung als ein Kriegsverbrechen einstuften. Besonders das historische Urteil im so genannten „Foca-Prozess“ und die bestechende

D IE POST - JUGOSLAWISCHEN K RIEGE IN DEN M ASSENMEDIEN

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Begründung der Berufungskammer haben hier ganz neue Maßstäbe des humanitären Völkerstrafrechts gesetzt.11 Mit einer mustergültigen Begründung wiesen die fünf Richter der Berufungskammer nach, dass die Vergewaltigung schon dann als Straftat zu bewerten ist, wenn die betroffene Person der Möglichkeit zur freien Entscheidung beraubt ist. Manch guter Zweck kann auch mit verkehrten Mitteln erreicht werden – fast wie bei Hegels Weltgeist.12

11 Siehe URL: http://www.icty.org/case/krnojelac/4 vom 04.06.2012: Krnojelac Appeals Judgement, 17.09.2003; siehe auch: Kunarac et al. (IT-96-23 & 23/1) „Foča“ und Krnojelac (IT-97-25) „Foča§“; vgl. Burkhardt, SvenU.: Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sexualisierte Gewalt, Makrokriminalität und Völkerstrafrecht, Bremer Forschungen zur Kriminalpolitik, Bd. 4, Münster 2005. 12 Siehe Žarka Radoja: „Krvavi medijski pir nad izmišljenim zločinima“, in URL: http://www.e-novine.com vom 11.06.2012.

‚Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Körpers‘ Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in ESMAS GEHEIMNIS T ANJA S CHWAN

E RINNERN UND E RZÄHLEN Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung. INGEBORG BACHMANN: MALINA1

Jene Erzählhemmung angesichts der „verschwiegenen Erinnerung“ 2, von der in Ingeborg Bachmanns Roman Malina so oft die Rede ist, könnte auch das Motto abgeben für eine Beschäftigung mit dem Nicht-zur-Sprache-Kommen-Können des Schmerzes im preisgekrönten ersten Spielfilm der jungen bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić, GRBAVICA – oder, wie der deutsche Verleihtitel lautet: ESMAS GEHEIMNIS.3 1

Bachmann, Ingeborg: Malina, Frankfurt a.M. 1990, 12. Auflage, S. 24.

2

Ebd., S. 20.

3

GRBAVICA, eine österreichisch-bosnisch-deutsch-kroatische Koproduktion (A/BIH/D/HR 2005, 90 min.), gewann den Goldenen Bären bei den 56. Internationalen Filmfestspielen in Berlin (2006), den Friedensfilmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury. Darüber hinaus war er 2007 für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert sowie 2006 für den Europä-

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Mit diesem intermedialen Verweis soll weder einer Minderheiten-Position innerhalb der Bachmann-Forschung das Wort geredet werden, die in Malina als biographischen Subtext eine nicht verarbeitete Missbrauchserfahrung aus der Kindheit der Autorin vermutet4, noch allzu rasch die Schreibkrise einer fiktiven weiblichen Figur kurzgeschlossen werden mit dem namenlosen Leid der anonymen Masse vergewaltigter Frauen im Bosnienkrieg, das der Film anhand einer exemplarischen Mutter-Tochter-Geschichte zum Thema macht. Vielmehr soll es im Folgenden am Beispiel von GRBAVICA um Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Codierung von Schmerz überhaupt gehen. Hier, so meine These, ist der Film als audiovisuelles Medium der Literatur voraus5, die sich allein auf sprachliche Darstellungsmittel stüt-

ischen Filmpreis in drei Kategorien. Zuvor hatte Žbanić sich bereits als Dokumentarfilmerin der Aufarbeitung der Kriegsereignisse auf dem Balkan angenommen – u.a. mit RED RUBBER BOOTS (2000), einem Kurzdokumentarfilm, in dem bosnische Mütter ihre verlorenen Kinder suchen, sowie in YOU REMEMBER SARAJEVO und IMAGES FROM THE CORNER (beide 2003). 4

Vgl. hier Stuber, Bettina: Zu Ingeborg Bachmann. „Der Fall Franza“ und „Malina“, Rheinfelden/Berlin 1994. – Zum „Schmerz als weibliches Trauma in Ingeborg Bachmanns Malina“ vgl. Kap. 2.3.1 in Hermann, Iris: Schmerzarten. Prolegomena einer Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse, Heidelberg 2006, S. 216-248.

5

Dies im Gegensatz zur Laokoon-Debatte des 18. Jahrhunderts, in der Lessing den Paragone von bildender Kunst und Literatur zugunsten letzterer entschied. „Doch mit der Entwicklung anderer, sich am wirklichen Leben orientierender Medien, etwa dem Film und der Fotografie und deren Einfluss auf die künstlerische Bildproduktion kehrten das Pathos und die Wirkungskraft der Schmerzblicke in die Bilder zurück.“ Hürlimann, Annemarie: „schmerzblicke“, in: Blume, Eugen et al. (Hg.): schmerz. kunst + wissenschaft. begleitbuch zur ausstellung „schmerz“ (Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum der Gegenwart und Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, 05.04.-05.08.2007), Köln 2007, S. 161168, hier: 167.

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zen kann und sich im diskursiven Umkreisen des Schmerzes bald an ihren monomedialen Grenzen bricht.6

6

Iris Hermann zeigt an Bachmanns Malina auf, wie das weibliche Ich in einer „Sprache bilderreicher Alpträume“ (I. Hermann: Schmerzarten, S. 214) den inneren Raum eines nicht sprachmächtigen Traumas ausschreitet, hier und da Worte dafür findet – und sie noch im gleichen Atemzug wieder verliert: „Das Sprechen ist eines, das nicht hörbar werden kann, aber es kann auf seine Stummheit verweisen. Das Ich spricht weniger, als dass es sieht“ (ebd., S. 227; m.H.). Zum Vorschein kommt eine Vision unmöglichen Schreibens, „der Traum davon, […] wie eine Sprache, wie eine Literatur aussehen könnte, die sich der Schmerzen der Vergangenheit bewusst ist. […] Ingeborg Bachmann entwirft eine radikale literarische Sprache, die sich der Aufgabe stellt, ein Sprechen des Körpers zu übersetzen in eine Materialität der Schrift. […] Das Sprechen wird vorgeführt, die Schrift wird sinnlich greifbar in Büchern, in magischen Steinen, in Briefen, in Zetteln“ (ebd., S. 244). Sie tritt hervor, wird inszeniert: „Was so Sprache wird, ist unmittelbar da. Der Schmerz erfindet die Sprache eines Präsens, das ständig auf das Erleiden zeigt. Sie repräsentiert kein Erlittenes, sondern präsentiert ein stets vorhandenes Erleiden. Es ist eine musikalische Sprache, die wie eine erklingende und gleich darauf verklingende den Schmerz zu hören gibt […]. Der Schmerz in der Prosa Ingeborg Bachmanns besteht in der (manchmal) schrill dissonanten Performanz eines kontinuierlich zu spürenden Schmerzes […]: ein nicht enden wollendes Martyrium immer wieder zu zeigen und ertönen zu lassen“ (ebd., S. 247f). In seinem Erscheinen wird der Schmerz ‚gestellt‘ – nicht beschrieben, sondern geschrieben. Vgl. in einer Kurzfassung auch Hermann, Iris: „Zwischen Stummheit und Gesang – Schmerz als Traumsprache in Malina“, in: Dies./Anne-Rose Meyer (Hg.): Schmerzdifferenzen. Physisches Leid und Gender in kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive, Königstein, Ts. 2006, S. 93-100.

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T RÄNEN UND N ARBEN – K ÖRPER -G ESCHICHTEN BEREDTEN S CHWEIGENS Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss FRIEDRICH NIETZSCHE: ZUR GENEALOGIE DER MORAL.

7

In den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen war es zum Filmstart hierzulande Anfang Juli 2006 denn auch ‚Esmas Geheimnis‘, das für unterschiedliche Einschätzungen sorgte. Verriet der Titel dem Rezensenten der FAZ, Andreas Kilb, zufolge „schon zuviel“ – „Denn dass Esma ein Geheimnis hat, ist ja gerade das Geheimnis des Films“8 –, so schien Kerstin Decker dem im Berliner Tagesspiegel entgegenzuhalten: „Egal ob man Esmas Geheimnis längst weiß. Man weiß gar nichts, man muss das sehen“.9 „Das“ wohlgemerkt, jenes Unvorstellbare nämlich, das Esma so lange wie irgend möglich vor sich selbst und ihrer pubertierenden Tochter geheim zu halten versucht: dass diese nicht das Kind eines ehrenvoll gefallenen Kriegshelden, eines Schechid ist, sondern das Produkt einer Vergewaltigung.

7

Nietzsche, Friedrich: „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, in: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe; Bd. VI, 2: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887), Berlin 1968, S. 259-430, hier: 311.

8

Kilb, Andreas: „Stimmen einer müden Stadt. Meisterhafter Film aus Bosnien: ‚Esmas Geheimnis‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 153 vom 05.07.2006, S. 41.

9

Decker, Kerstin: „Sarajewo, mon amour. ‚Grbavica – Esmas Geheimnis‘: Wie eine bosnische Mutter der heranwachsenden Tochter ihre Herkunft verschweigt“, in: Der Tagesspiegel vom 05.07.2006; vgl. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/sarajewo-mon-amour/727836.html vom 02.05.2012.

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Abb. 1: Ruinen von Grbavica, Sarajevo

GRBAVICA hingegen, der Originaltitel des Films, verweist auf den Ort, der neben Mutter und Tochter „die dritte heimliche Hauptrolle des Films“ einzunehmen scheint: einen Stadtteil der multiethnisch bevölkerten bosnischen Hauptstadt Sarajevo, hinter dem sich wörtlich eine „Frau mit Buckel“, eine gebückte Frau also verbirgt. In seiner „existenzielle[n] Unbehaustheit“10 steht dieser Nicht-Ort auch noch 2005, in der Jetztzeit des Films, zehn Jahre nach Ende der Kriegshandlungen auf dem Balkan, für einen nationalen Konfliktherd – trotz der vordergründigen Rückkehr zur Normalität. Wurden während des Krieges öffentliche Räume wie Supermärkte und Hotels von serbischen Tschetniks besetzt und systematisch in nach Geschlechtern getrennte Vergewaltigungs- und Folterlager für die Zivilbevölkerung umfunktioniert, so halten heute die im Stadtbild verbliebenen Ruinen (Abb. 1) die von einer beunruhigenden Kontinuität nur notdürftig verdeckten Erinnerungen an den Bürgerkrieg präsent, ja allgegenwärtig. In einer Szene

10 Twele, Holger/Zobl, Stefanie: Esmas Geheimnis – Grbavica. Jasmila Žbanić. Österreich, Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Kroatien 2005, in: Filmheft der Bundeszentrale für Politische Bildung (Juli 2006), S. 10.

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des Films sieht man Sara und Samir, die der Generation der Kriegskinder angehören, dort nach der Schule wie zum Spaß Schießübungen veranstalten (Abb. 2).

Abb. 2: Screenshot aus GRBAVICA: Sara und Samir spielen Krieg

Esma, die Protagonistin von GRBAVICA, ist eine Bosniakin mittleren Alters, die im Film von der serbischen Schauspielerin Mirjana Karanović verkörpert wird. Als Überlebende hat sie sich im Nachkriegsalltag scheinbar eingerichtet. Sie funktioniert in ihren Rollen als alleinerziehende Mutter der zwölfjährigen Sara und als Ernährerin der kleinen Familie, die sie mit Gelegenheitsjobs und Kriegsentschädigungen über Wasser hält. Ihre äußere Erscheinung ist geradezu ostentativ unauffällig; sie schminkt sich selten und näht figurbetonte weibliche Kleidung nur für ihre kinderlose Freundin Sabina und die Kollegin Jabolka, niemals aber für sich selbst. Von Esmas Leid erfährt man zunächst nur über Andeutungen. Hinter ihrer pragmatischen, zupackenden Fassade wirkt sie verschlossen und verstört. Ihrer Tochter gegenüber verhält sie sich ausweichend. Insbesondere Körperkontakt löst in Esma Panikattacken aus. Bei einer harmlosen morgendlichen Balgerei mit Sara (Abb. 3) gerät sie in Beklemmung. Von der aufdringlichen Nähe eines Fremden im Bus (Abb. 4) fühlt sie sich bedroht und ergreift die Flucht. Gegen die Konfrontation mit sexueller Freizügigkeit bei ihrer Arbeit als Bedie-

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nung in einem Nachtlokal (Abb. 5) bringen nur Tabletten ihr Beruhigung.

Abb. 3-5: Screenshots aus GRBAVICA: Esma in Bedrängnis

„Der Schmerz, die Angst und das Entsetzen, die sich in ihre Seele eingebrannt haben, spiegeln sich allein in ihrem Gesicht, ihrer Körpersprache“.11 In einer Einstellung des Films sieht man Esma von hinten in ihrem Schlafzimmer sitzen (Abb. 6): Der Körper, gezeichnet durch das Prägemal einer Narbenschrift auf dem Rücken12, bewahrt – als „Index und Symptom“, als „Ein- und Aus-Druck eines Fremdkörpers“13 – das Gedächtnis der ihr zugefügten Verletzungen; er ist stum-

11 Ebd., S. 8. 12 Marijana Erstić wies in ihren einleitenden Ausführungen zur Tagung sehr überzeugend darauf hin, dass die Präsentation Esmas als Rückenfigur in der Intimität ihrer Schlafkammer, in einem Moment des Innehaltens beim Ausziehen der Kleidung in Gedanken verloren auf dem Bett sitzend, kunsthistorisch ein erotisches Faszinationsmuster in Erinnerung ruft: Das (Kamera-)Bild fängt die weibliche Gestalt, nur noch halb verhüllt, in einer Haltung zwischen dem Sich-Zeigen und Sich-Abwenden ein und lässt den Betrachter unfreiwillig in die Position des Voyeurs rücken, dessen Blick von der ihm dargebotenen nackten Haut angezogen wird. Da im vorliegenden Fall jedoch, verstärkt durch den deiktischen Handgestus, den Esma vollführt, das Augenmerk auf das sich enthüllende Narbengeflecht gelenkt wird, fühlt sich der Voyeur in seiner Schaulust ertappt und im Barthes’schen Sinne gleichsam ‚punktiert‘ angesichts dieser unerwarteten Konfrontation mit dem Erlittenen, das im Filmbild zur veritablen Pathosformel geronnen scheint. 13 Göhlsdorf, Novina: „narben tragen“, in: E. Blume et al. (Hg.): schmerz, S. 233-240, hier: 236.

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mer Zeuge dessen, worüber sie nicht spricht, nicht sprechen kann. Denn, so Ute Holl: Schmerz will Bild werden. […] Schmerz knüpft ein feines Netz von Steuerungen durch den Alltag, organisiert Verhalten, kartografiert die Welt. […] Schmerz greift das Selbst an, zersetzt dessen Bild […]. Schmerz schmeißt Narziss raus, trägt sich an dessen Stelle ins Weltbild ein und reorganisiert das Ich. Schmerz macht Phantome wach und Phantasmen. Schmerz schließlich markiert den Körper und erinnert ihn. Schmerz lässt uns wissen, was wir immer wiederholen müssen, ist Mnemotechnik […]. Das Ich, um sich nicht aufzulösen, muss den Schmerz ins Weltbild setzen, topografieren, vergegenständlichen. Als Erinnerung ist Schmerz ein Realis der Macht, er kontrolliert die Körper in Traumen und Narben. Markiert. Macht Bilder und bildet die Grenzen von […] Räumen im Ich ab.14

Abb. 6: Screenshot aus GRBAVICA: Esma in Rückenansicht

Novina Göhlsdorf ergänzt: Narben […] bestimmen dauerhaft die Landschaft unserer Haut. Jede Narbe ist eine bleibende Spur; jede Verletzung lässt sich derart auch als Akt der Raumnahme auf unserer Körperfläche verstehen. Sie besetzt – gewaltsam – Land.

14 Holl, Ute: „weltschmerz im kopf. technische medien und medizinische bildgebung“, in: E. Blume et al. (Hg.): schmerz, S. 45-54, hier: 45f.

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Um Land einzunehmen und eine Grenze zu setzen, müssen Grund und Boden markiert, die Fläche geöffnet und neu – erkennbar – geschlossen werden. […] Das Glatte wird zerrissen, Abgründe klaffen auf. Die Geschichte des einzelnen Körpers mit seinen Wanderungen, Kolonisierungen und Eroberungen ist eine Geschichte der Landnahme. Es ist eine Geschichte der Inbesitznahme. […] Mit der Zeit wächst die Zahl der Enteignungen und Annexionen. […] Narben machen Geopolitik der Körper. Als Einschnitte in die Fläche, als Teilung des Bodens, ziehen und sind sie Grenzen. […] Die Öffnung der Haut und die dabei erzeugten Spuren stellen zudem Kontakt nach außen her. Hier spricht ein Text, der direkt in den Körper gewebt wurde. Narben sind immer ein bisschen öffentlich, selbst wenn sie unter langen Ärmeln verborgen bleiben. […] Sie sind Gravuren auf unserer Haut, die eine Geschichte erzählen […] und oft gelesen werden. […] Sie sprechen für sich […].15

In einem Interview hat Jasmila Žbanić einmal gesagt, die Luft in ihrer einst feindlich besetzten Heimatstadt Sarajevo sei nach wie vor durchtränkt von Unausgesprochenem. „Der Film übersetzt dieses Unaussprechliche in die Stimmung einer Jahreszeit: den Winter. Es schneit oder regnet fast unaufhörlich […], auf den Straßen gehen die Menschen geduckt unter Schirmen und Mützen.“ Der Himmel, so scheint es, öffnet seine Schleusen und weint an Esmas statt. Ihr ‚Geheimnis‘ wird zu dem Film, „der die Schleusen der Erinnerung geöffnet hat“16, zur ersten fiktionalen Erzählung über das kollektive Trauma der im Bosnienkrieg vergewaltigten Frauen im Medium Film.17 Es ist ein „kleines, trauriges und schreckliches Geheimnis, eines unter tausenden. […] Was Vertreibung, Massaker, Massenvergewaltigung wirklich bedeuten, wird erst am Einzelschicksal sichtbar“.18 Die ‚große‘ Geschichte erschließt sich, wird lesbar nur anhand individueller Geschichten, die Žbanić, selbst Zeitzeugin, aus den Erfahrungsberichten

15 N. Göhlsdorf: „narben tragen“, S. 235ff. 16 A. Kilb: „Stimmen einer müden Stadt“. 17 Mit 180.000 Zuschauern wurde GRBAVICA in Bosnien zum Publikumserfolg, während radikale Serben die Regisseurin bedrohten und zum Boykott des Films aufriefen. 18 A. Kilb: „Stimmen einer müden Stadt“.

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von Vergewaltigungsopfern zu einer filmischen Narration, zur ‚Geschichte‘ verwoben hat. Viele unserer Geschichten, vielleicht alle, sind Narbengeschichten. […] Das Narbenpalimpsest, das wir tragen, ist Historiografie auf der Schwelle von höchstpersönlicher Erfahrung und öffentlich zugänglichem Geschichtswissen. […] Im Neben- und Übereinander der einzelnen Spuren entsteht ein Palimpsest aus Narbengeschichten, in dem aber keine nur für sich, sondern stets im Kontext mit anderen erscheint.19

Gebückt unter der Last, die sie zu tragen hat, wirkt Esma angestrengt – „eine, die“, wie Decker schreibt, „sich ganz konzentrieren muss, um ihre Umrisse nicht zu verlieren, um sich selbst nicht verloren zu gehen. Eine Fremde im Alltag. Sex löst die Grenzen des Individuums auf. Krieg tut dasselbe. […] Es sind kollektive Entladungen.“20 „Gebeugt, gehetzt, wie unter einem Buckel aus Erinnerungen läuft Esma durch ihr Viertel“21; mit dem stummen Fluss ihrer Tränen angesichts der sexuell aufgeheizten Atmosphäre im Nachtclub verkörpert sie gleichsam Grbavica, die Bucklige, Gebrochene (Abb. 7). Wie der vernarbte Rücken, so ist auch ihr sprachloses Weinen ein Sinn(es)-Bild physischer Entgrenzung, der Entäußerung an einen Raum jenseits der Körperkonturen. Tränen „bezeichnen das Ende aller Semiosis: Sprache des Körpers, die für sich spricht.“ 22 Er reagiert damit auf eine aus-

19 N. Göhlsdorf: „narben tragen“, S. 235ff. 20 K. Decker: „Sarajewo, mon amour“. 21 A. Kilb: „Stimmen einer müden Stadt“. 22 Vinken, Barbara: „‚Tränen zum Leben, Tränen zum Tode‘. Katharina von Siena, Petrarca, Boccaccio, Theresa von Avila, Zola“, in: Beate Söntgen/Geraldine Spiekermann (Hg.): Tränen, München 2008, S. 17-25, hier: 17.

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weglose, „unbeantwortbare Situation.“23 „Als unwillkürliche Boten aus dem Inneren zeigen Tränen ein Versagen der Sprache an.“24 Das Weinen ist ein Indiz für die Unverfügbarkeit über die leib-seelische Existenz. […] Mit den hervorquellenden Tränen wird […] die empfindliche Grenze des Körpers, die Haut, überschritten. Sie erscheinen an der fragilen Schnittstelle zwischen Innen und Außen, den Randbereichen des Körpers, seinen Körperöffnungen. Das liquide Innere wird zwar einerseits durch die Haut um- und eingeschlossen, droht jedoch stets über die Grenzen der Haut zu quellen und sie zu überfluten. […] In sprachlichen Bildern ist diese Möglichkeit immer schon gegeben, denn hier kann das Subjekt sowohl „in Tränen zerfließen“ als auch sich „in Tränen auflösen“. Auf das Alltagsleben bezogen bedeutet eine Entkonturierung oder Entleerung jedoch eine Gefährdung, die das Subjekt in seiner Identitätsstruktur erschüttert.25

Abb. 7: Screenshot aus GRBAVICA: Esma weint in gebückter Haltung

23 Voss, Christiane: „Das Leib-Seele-Verhältnis beim Lachen und Weinen: Philosophische Anthropologie aus ästhetischer Sicht“, in: B. Söntgen/G. Spiekermann (Hg.): Tränen, S. 171-184, hier: 184. 24 Söntgen, Beate/Spiekermann, Geraldine: „Tränen. Ausdruck – Darstellung – Kommunikation. Eine Einführung“, in: Diess. (Hg.): Tränen, S. 9-16, hier: 9. 25 Spiekermann, Geraldine: „die tränen der niobe“, in: E. Blume et al. (Hg.): schmerz, S. 107-113, hier: 111f.

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M UTTER UND T OCHTER , M ANN UND F RAU Manchmal bleibt mir die Stimme weg: Ich habe mir erlaubt, trotzdem zu leben. Manchmal kommt meine Stimme und ist für alle zu hören: Ich lebe, ich werde leben, ich nehme mir das Recht auf mein Leben. BACHMANN: MALINA26

Eine „diskrete Kamera“ folgt Esma als „mitfühlende Beobachterin“27 – oftmals in Rückeneinblendungen – auf Schritt und Tritt durch ihren Schicksalsort. In episodischer Reihung berichtet sie linear von Gegenwartsereignissen, die von keiner Rückblende unterbrochen werden, und nimmt damit die Perspektive der Weiterlebenden ein. Das Kriegsgeschehen selbst bleibt undarstellbar und ist im Film nur als Leerstelle präsent. Jenseits plakativer Schwarz-Weiß-Malerei sind die Charaktere widersprüchlich gezeichnet; explizite Schuldzuweisungen unterbleiben. So nehmen die männlichen Figuren nicht ausschließlich die Position der Täter ein. Der offensive Umgang etwa des sensiblen Pelda mit seinen Kriegserinnerungen wird für Esma zum Katalysator ihrer eigenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Zwischen den beiden beginnt sich eine zarte Romanze anzubahnen, die aufgrund seiner bevorstehenden Auswanderung nach Österreich aber nicht lebbar erscheint. Nur einmal, als an Esmas Arbeitsstelle ein Konflikt um ihre Person eskaliert und es zu Handgreiflichkeiten zwischen drei Männern kommt, wendet sie sich mit den Worten: „Ihr seid alle Tiere!“ auch von den beiden ab, die ihr wohlgesonnen sind und zu ihrer Verteidigung in den Streit eingegriffen hatten. Es folgt ein Hetzlauf durch die Straßen von Grbavica, bei dem Esma, wie betäubt vom Schmerz, taub wird gegen die Geräusche der Stadt und sich in ihrem Leid vollkommen abschottet gegen die Außenwelt (Abb. 8). Für einige Sekunden

26 I. Bachmann: Malina, S. 242. 27 H. Twele/S. Zobl: Esmas Geheimis, S. 10.

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übernimmt die Tonspur das Aussetzen von Esmas Gehör, indem sie den Verkehrslärm der Umgebung völlig ausblendet. Eine durchdringende Stille setzt ein.

Abb. 8: Screenshot aus GRBAVICA: Stille um Esma

In der verwöhnten Tochter Sara schließlich, die „ein narzisstischliebenswertes Monster“28 in einem Coming-of-Age-Drama spielt, materialisiert sich die Erinnerung der Mutter. Unbewältigt belastet die Vergangenheit als Lebenslüge die Mutter-Tochter-Beziehung. Einerseits bietet das Verschweigen von Saras wahrer Abstammung einen Schutzwall gegen den übergroßen Schmerz, andererseits türmt es unüberwindliche Barrieren zwischen den beiden Frauen auf. Während Esma einen Verarbeitungsprozess durchlebt, durchläuft Sara einen Reifungsprozess. Beide sind gleichermaßen schmerzvoll. Mutter und Tochter sind im Film als Spiegelfiguren konzipiert, die einander wechselseitig erhellen: „Mit ihrer unnahbaren, aggressiven Art scheint Sara die Gefühle nach Außen zu spiegeln, die im verschlossenen Inneren ihrer Mutter zu vermuten sind.“29 Im Gegensatz zu der betont unscheinbaren Aufmachung Esmas trägt ihre Tochter häufig einen leuchtend roten Pullover. Während Esma gegenüber ihrer Tochter Schuldgefühle hegt, verspürt Sara in Bezug auf ihre Mutter

28 K. Decker: „Sarajewo, mon amour“. 29 H. Twele/S. Zobl: Esmas Geheimis, S. 8.

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Verlustängste. Die Dramaturgie des Mutter-Tochter-Konflikts kulminiert in einer Beinahe-Katastrophe, als Sara ihre Mutter mit gezückter Pistole zur Rede stellt und von ihr die endgültige Preisgabe der Identität ihres Vaters verlangt (Abb. 9). Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren ist er plötzlich da, unabweisbar: der Moment der Wahrheit. In einem kathartischen Gefühlsausbruch bricht sich Esmas finales Geständnis Bahn; sie schreit, ja brüllt es geradezu heraus. So kommt es zu einer Umkehrung der Rollen von Mutter und Tochter, denn diesmal ist es Sara, die am Ende der Szene von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wird, während Esma ganz ruhig dasitzt.

Abb. 9: Screenshot aus GRBAVICA: Konfrontation von Mutter und Tochter

Nachdem sie aus Scham bei den Gruppensitzungen des Therapiezentrums für kriegstraumatisierte Frauen stets beharrlich geschwiegen und an dem Betreuungsangebot nur teilgenommen hatte, um nicht auf ihre Kriegsversehrtenrente verzichten zu müssen, stellt Esma sich nun der historischen Verantwortung für ihr Schicksal und befreit sich damit aus der Haltung des Opfers. Am Ende des Films akzeptiert sie ihre Verwundung und öffnet sich der Begegnung mit anderen Betroffenen: Hatte sie zu Beginn noch die Augen vor ihrem Trauma verschlossen, so nimmt sie es nun sehenden Auges an. Blieb sie eingangs des Films stumm (Abb. 10), so endet dieser erneut in einem Close-up auf Esmas Gesicht, das sie jetzt als Redende zeigt, die das Erlebte bezeugt und Worte für das bis dahin Unaussprechliche findet (Abb. 11).

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Abb. 10 & 11: Screenshots aus GRBAVICA: Esma zu Beginn und am Ende des Films

Lässt man sich von dieser Rahmung des Films dazu anleiten, einen Blick zurück zu werfen, so fällt auf, dass Žbanić für die Sprachlosigkeit der vergewaltigten Frauen immer wieder textile Metaphern bemüht. Die erste Einstellung zeigt einen bunt gemusterten Flickenteppich, der das gesamte Filmbild einnimmt (Abb. 12). Alsdann fährt die Kamera langsam entlang den wie Knäuel auf dem Boden kauernden Leibern, deren stumme Masse – wären da nicht die bunten Farben – an die Enge und das Zusammengepferchtsein im Konzentrationslager 30

30 Indem die Frauen wie erstarrt daliegen, verlängert sich jener komatöse Grundzustand in den Vergewaltigungscamps, den die Journalistin Alexandra Cavelius nach dem Bericht einer Augenzeugin in Leila. Ein bosnisches Mädchen (München 2000) mit erschütternder Drastik aufgezeichnet hat, über den Krieg hinaus: „Schweigen! Bei uns herrschte immer Schweigen. In so einer Situation gibt es keine Worte mehr.“ (Ebd., S. 90) Weder Worte noch Schmerz noch Tränen: „Ich spürte nichts mehr. Das hatte ich in den Baracken gelernt. Nicht mehr vorhanden sein.“ (Ebd., S. 155) Alle menschlichen Emotionen und Reaktionen sind, wie bei Traumapatienten üblich, in die Zeit danach verschoben, die Leila als schrittweises Auftauen ihres wie „tiefgefrorenen“ (ebd.) Körpers erlebt. Wenn überhaupt, spricht sie auch noch Jahre später von dem, was ihr widerfahren ist, nur in der dritten Person, bis sie in Therapiegesprächen mühsam lernt, sich auch den Erinnerungen zu stellen, die ihre Psyche in einen Schutzraum des Schwei-

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denken ließe (Abb. 13). Noch bevor die Kameralinse sich schließlich auf Esma einschwenkt, die sie in Nahaufnahme ins Auge fasst und damit in einem Prozess perspektivischer Annäherung allmählich aus dem konturlosen Haufen heraushebt, wird so deutlich, dass die Körper und ihre Geschichten über den gemeinsamen ‚Untergrund‘ unauflösbar miteinander verknüpft sind – bildet doch jede einzelne Lebensund Leidensgeschichte einen Faden in dem Muster, welches das Kollektivschicksal dieser Frauen ergibt.

Abb. 12 & 13: Screenshots aus GRBAVICA: Am Boden

An verschiedenen Stellen des Films kann man Esma beim ‚Verarbeiten‘ von ‚Stoffen‘ beobachten. Beide Begriffe erhalten dabei eine subtile Doppeldeutigkeit: So gerät eine Näharbeit unter den Händen der Protagonistin unversehens zum Stoff ihrer Erinnerung und zum Stoff einer verschwiegenen Erzählung, die sie, noch unausgesprochen, in das textile Material einnäht (Abb. 14-16).

Abb. 14-16: Screenshots aus GRBAVICA: Esma als Philomela

Erinnerungszeichen aber, schreibt Bernhard Waldenfels,

gens verbannt hatte: „Wie eine erneute Vergewaltigung empfand ich das.“ (Ebd., S. 205)

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laufen leer, wenn es nicht etwas gibt, das immer wieder unsere Erinnerung wachruft. Dieses Mehr […] ist nicht zu denken, ohne dass etwas uns berührt und sich uns körperlich einprägt […] ein pathisches Tiefengeschehen, das sich nie völlig kulturalisieren […] lässt. Nicht nur Gedanken, auch Erinnerungen kommen, wenn sie wollen, nicht wenn wir wollen.31

Jener – auch und nicht zuletzt leibhaft erinnerte – ‚Text‘, der sich ihr einschreibt, der sie zu stillen Tränen rührt, weist Esma als die intermediale Nachfahrin der Philomela aus, die dem antiken Mythos nach die Geschichte ihrer Vergewaltigung durch den eigenen Schwager zu einem Kleid für ihre Schwester verwebt, die also ihren Schmerz (mit-)teilt, obwohl man sie ihrer ‚Zunge‘ – hier im altertümlichen Sinne von Sprache gebraucht – gewaltsam beraubt hat.32 Das Gewebe aus Fäden, Tränen und Narben, das Esma mit und an ihrem Körper produziert, erweist sich letztlich als ESMAS GEHEIMNIS selbst: als die filmische Erzählung, die das Schweigen gebrochen und das Geheimnis – Esmas und das vieler anderer – offenbart, zum Sprechen gebracht hat. Damit verändert sich auch die Kulisse: Wo vormals Schnee und Eis die städtische Szenerie beherrschten, bricht zuletzt die Frühlingssonne durch. Auf der Tonspur rahmen das religiöse Klagelied einer einzelnen Frau zu Beginn und der fröhliche Gesang, den Saras Schulklasse am Schluss des Films gemeinschaftlich anstimmt, die Handlung: „Sarajevo, meine Liebe“ lautet der Konsens, zu dem am Ende alle bereit sind – egal welcher ethnischen Abstammung. Auch Sara, aufgrund ihrer zweifelhaften Herkunft bisher Außenseiterin, ist nun in die Klassengemeinschaft integriert.

31 Waldenfels, Bernhard: „Das Fremde im Eigenen. Der Ursprung der Gefühle“, in: e-Journal Philosophie der Psychologie (Oktober 2006), http://www.jp.philo.at/texte/WaldenfelsB1.pdf, S. 1-6, hier: 5 vom 03.05.2010. 32 Zur Medialität des Ovid’schen Mythos von Procne und Philomela sowie zu seiner Bedeutung für eine gender-orientierte Schmerzforschung vgl. Iris Hermann/Anne-Rose Meyer: „Schmerzdifferenzen oder: Vom Schmerz der Philomele“, in: Diess. (Hg.): Schmerzdifferenzen, S. 9-19.

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„Verdrängen und Vergessen sind keine adäquaten Antworten“33 – diese Botschaft schält sich als Bilanz des Films heraus, eines Films, der ein Plädoyer darstellt für die offene Auseinandersetzung mit der eigenen (persönlichen wie gesellschaftlichen) Geschichte. Das versöhnliche, optimistische Ende des Films wirft jedoch auch Fragen auf: Kann (Mutter-)Liebe wirklich alles überwinden? Gelingt es ihr tatsächlich, sich gegen alle Hindernisse zu behaupten – oder, wie Žbanić sich in einem Interview äußerte, „Hass und Hässlichkeit in Liebe und Schönheit [zu] verwandeln“? Eine eher desillusionierende Antwort auf diese offen gebliebene Frage scheint die Regisseurin mit ihrem neuesten Film NA PUTU zu geben, der im Wettbewerb auf der 60. Berlinale (2010) sowie im April gleichen Jahres als Eröffnungsbeitrag des Kölner Internationalen Frauenfilmfestivals lief und unter dem Titel ZWISCHEN UNS DAS PARADIES auch in den deutschen Programmkinos zu sehen war.34 Žbanić richtet ihr Augenmerk nunmehr auf verdrängte Kriegstraumata von Männern und zeigt deren Anfälligkeit für fundamentalistische Heilsversprechen. Eine personelle Kontinuität, die zugleich für Konfusion sorgt, ergibt sich daraus, dass die männliche Hauptrolle mit dem Darsteller des Pelda aus ESMAS GEHEIMNIS, Leon Lučev, besetzt ist. Nachdem der Ex-Soldat Amar wegen Alkoholsucht seinen Job als Fluglotse verloren hat, trifft er auf seinen ehemaligen Kampfkumpanen Bahrija. Dieser ist inzwischen unter die streng gläubigen, Bart tragenden Muslime gegangen. Seine Frau – in dieser Nebenrolle begegnen wir Esma-Darstellerin Mirjana Karanović wieder – verhüllt sich mit dem Ganzkörperschleier. Bahrija, der sich illegal eine minderjährige Zweitfrau (gespielt von der jungen Luna Mijović, der Sara aus GRBAVICA) nimmt, verweigert Amirs Partnerin Luna den Handschlag und Amir ihr alsbald den Sex, da die beiden in wilder Ehe zusammenleben und er zusehends fasziniert ist von den Verlockungen einfacher Antworten, wie der orthodoxe Traditionalismus sie bietet. Der Film endet mit der Trennung des anfangs modern anmutenden Paars und dem Scheitern einer Beziehung zwischen Mann und Frau im zeitge-

33 H. Twele/S. Zobl: Esmas Geheimnis, S. 10. 34 Produktionsdaten: BIH/A/D/HR 2009, 100 min. Wörtlich übersetzt bedeutet der Filmtitel: „Auf dem Weg“.

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nössischen Bosnien an ihren unterschiedlichen (Wert-)Orientierungen: Die Männer scheinen in der Vergangenheit steckengeblieben zu sein, und an die Frauen ergeht der Appell, sich wie Luna aus diesen restaurativen Tendenzen zu verabschieden.

‚P ATHOSFORMEL ‘ E SMA ? Der Versuch einer Antwort ließe sich meines Erachtens aber auch aus einer ganz anderen Perspektive wagen. Liegt ‚Esmas Geheimnis‘, auf einer Metaebene betrachtet, nicht vielleicht genau darin, dass das Leiden und der Widerstand dagegen Hand in Hand gehen können, auch und gerade wenn seine Überwindung in letzter Konsequenz nicht zu erreichen ist? Liest man GRBAVICA vor der Folie seines weniger glücklich endenden Nachfolgers, der den harmonischen Ausklang des Erstlings rückblickend infrage stellt, so böten die Filme Jasmila Žbanićs jenseits eindimensionaler Erzählungen über die erfolgreiche Bewältigung von Kriegstraumata Einsicht in die unauflösliche Kopräsenz von Verwundung und Heilung, Trost und Trauer in der bosnischen Nachkriegsgesellschaft. Die paradoxe Gleichzeitigkeit eines schicksalhaft erfahrenen schweren Leids und des Vermögens, unter Zuhilfenahme ästhetischer Mittel dagegen aufzubegehren, wird konventionell unter dem Begriffspaar des tragischen Pathos und des Pathetischen verhandelt. „Pathos“, so lautet die Grundthese des gleichnamigen Sonderhefts von Ästhetik & Kommunikation – und sie ließe sich ohne Weiteres auf Esma in ihrer Exempelfunktion für die im Bosnienkrieg vergewaltigten Frauen münzen – „‚Pathos ist ein Akt, bei dem jemand seine Stimme erhebt‘. Pathos ist Ausdruck, irreduzibel, singulär, Körper in Bewegung, Geste, Stimme, die insbesondere dann gehört wird, wenn sie überhört werden soll.“35 Man denke nur an Esma als moderne Inkarnation der antiken Pathosformel Philomela.

35 Treusch-Dieter, Gerburg: „Pathos. Verdacht und Versprechen“. Editorial, in: Ästhetik & Kommunikation 35 (2004), Heft 124: Pathos. Verdacht und Versprechen, S. 8f, hier: 8.

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Der Rekurs auf jene in der gegenwärtigen Mediengesellschaft scheinbar überholten Begrifflichkeiten erweist sich auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht als produktiv. Befinden wir uns als Kinozuschauer gegenüber der medial inszenierten Trauerarbeit um die schier unbezifferbaren Opfer des Bosnienkriegs doch in der aporetischen Situation, dass „ein kaum mehr zu verkraftender Umfang an internalisierter Abstraktion“36 mit unabweisbarer Folgerichtigkeit sein umgekehrtes Pendant auf den Plan ruft, seinerseits beschreibbar als „ein kaum mehr zu stillender Pathosbedarf, der andere in ihrem Leiden ununterbrochen sehen, hören, fühlen will, und dies insbesondere dann, wenn das Leiden medial aufbereitet ist.“37 Schon Susan Sontag, eine engagierte Beobachterin des Bosnienkrieges, die, während die Kampfhandlungen auf dem Balkan andauerten, mehrfach vor Ort in Sarajevo Präsenz zeigte, hatte in ihrem wegweisenden Essay Das Leiden anderer betrachten ein Jahr zuvor konzediert, dass die immense Häufung medial zirkulierender Kriegsbilder in der Wahrnehmung unbeteiligter Rezipienten konstruiert wirken müsse: So omnipräsent wie flüchtig, tauchten sie bald überall auf, nur um von den Bildflächen einer globalisierten Welt alsbald wieder zu verschwinden. Allenfalls erlaubten sie eine kurzfristige Anteilnahme aus behaglicher Distanz, die angesichts der Allgegenwart des Leidens und der medialen Überflutung mit seinen Bildern jedoch oft einer Flucht in die Resignation weichen müsse, wenn sie nicht gar einer gewissen Abstumpfung Platz mache.38 Erst die Übertragung jener gleichsam frei flottierenden Bilder in eine stimmige Erzählung ermögliche es, ihren Verschleißerscheinungen im mediendominierten Alltag entgegenzuwirken. Denn, wiegt auch das Argument schwer, dass jede Metaphorisierung beinahe unweigerlich eine Verflachung mit sich bringt, so scheint doch eines zu

36 Ebd., S. 8. 37 Ebd., S. 8f. 38 Vgl. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, München/Wien 2003, S. 26f u. 92f. Bisweilen geraten fotografische Statements durch übertriebenen Gebrauch gar zu Abziehbildern wie der endlos reproduzierte Atompilz, der im Luftraum über Hiroshima und Nagasaki verglüht (vgl. ebd., S. 100).

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gelten: „Pathos, in Gestalt einer Geschichte, nutzt sich nicht ab.“39 Wie also könnte es demnach besser gelingen als im Film, der eindringliche Bilder mit einer anrührenden Narration zu kombinieren vermag, das Mitgefühl der Zuschauer zu wecken – zumal auch dann, wenn das Genre des Unterhaltungsfilms gewählt wird, der die konsumierenden Sehgewohnheiten eines Kinopublikums aus den bildgesättigten Mediendemokratien bedient?40 Jasmila Žbanić bekundet ihre Einsicht in die Mechanismen der Empathiesteuerung in GRBAVICA nicht zuletzt durch die flüchtige und kaum wahrnehmbare Einblendung der intellektuellen Aktivistin Susan Sontag als Fernsehbild in einem das Medium reflektierenden Filmausschnitt im Film. So wäre ESMAS GEHEIMNIS denn auch ein Lehrstück über unseren heutigen, zwischen cooler Abgeklärtheit und medial in-

39 Ebd., S. 97. 40 Man darf gespannt sein auf die Reaktionen, die das Regiedebüt IN THE LAND OF BLOOD AND HONEY (USA 2011, 127 min.) von Hollywoodstar Angelina Jolie in Europa hervorrufen wird, das auf der diesjährigen Berlinale vorgestellt wird und in Kürze in die deutschen Kinos kommt. Der 13Millionen-Dollar-Film, laut SPIEGEL-Interview ein Herzensprojekt Jolies, für das sie auch das Drehbuch schrieb und das sie mit einem Schauspielensemble aus dem ehemaligen Jugoslawien realisiert hat, schildert die „riskante Liebesgeschichte“ zwischen einer jungen Muslima aus Bosnien und einem Polizisten serbischer Abstammung, die sich am Vorabend des Bürgerkriegs entspinnt und zur „Geschichte einer unmöglichen Liebe“ wird, als die beiden während des Krieges in einem serbischen Vergewaltigungslager erneut aufeinandertreffen, nun auf den Seiten von Täter und Opfer. – Das Interview mit Jolie wirft die Frage nach der Legitimität eines solchen Unterfangens auf, danach, wie die Deutungshoheit der Kriegsgeschädigten über das Geschehene gewahrt werden kann, wenn eine Filmgröße aus dem fernen Amerika sich anmaßt, daraus den Stoff einer spannenden Geschichte für das kommerzielle Kino zu machen. Vgl. Beier, Lars-Olav/Gorris, Lothar: „‚Eigentlich weiß ich nichts‘. Die Schauspielerin Angelina Jolie über ihr Regiedebüt IN THE LAND OF BLOOD AND HONEY, ihr Engagement als Uno-Sonderbotschafterin und ihr seltsames Leben als Hollywood-Star“, in: Der Spiegel vom 06.02.2012, insbes. S. 102f.

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duzierter Sensationslust41 sich bewegenden Umgang mit menschlichem Leiden, das in der filmischen Vermittlung eines Gesichts und einer Stimme bedarf, um sein zum Mitleiden sensibilisierendes Potenzial entfalten zu können. Die fiktionale Figur Esma geriete dann zur Pathos-Formel, in der das Leiden mithilfe ästhetischer Formgebung Gestalt gewinnt, in der es, wenngleich gebannt, doch ausgestellt bleibt, als Mahnmal gegen das Vergessen. Als solches stünde sie stellvertretend für all die sprach- und gesichtslosen Vergewaltigungsopfer, deren bloße Zahl unser Vorstellungsvermögen weit übersteigt42 und deren Leid in seiner fürchterlichen Konsequenz für uns letztlich zwar nicht nachvollziehbar,43 vermittelt durch Esma aber doch immerhin tradierbar geworden ist.

41 Bei G. Treusch-Dieter: „Pathos“, S. 9: „der phobische Pathosverdacht“ und „das süchtige Pathosversprechen“. 42 Vgl. hierzu Cavelius in ihrem Nachwort zu Leila, S. 235: „Vergewaltigungslager: Ein Wort, das Gänsehaut verursacht, aber zugleich seltsam unkonkret bleibt, unvorstellbar. Während des Jugoslawienkrieges wurden zehn-, vielleicht sogar hunderttausend Frauen auf bestialische Weise missbraucht und gefoltert […]. So viele, daß hinter der Anonymität des Wortes verschwindet, welchen Alptraum jede einzelne von ihnen durchlebt hat.“ 43 „Erfahrungen wie Schock, Trauma und Kriegsneurosen sind kollektiv nicht teilbar. […] Man kann die Wunde darstellen, aber eine dargestellte Wunde ist keine Wunde. Sie bereitet keine wirklichen Schmerzen.“ So – in Anlehnung an Überlegungen François Lyotards – Sick, Franziska: „Schock, Trauma und Verletzung“, in: Heinz Thoma/Kathrin van de Meer (Hg.): Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg 2007, S. 151-168, hier: 152.

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Abb. 17: Screenshot aus GRBAVICA: Das verborgene Gesicht Sarajevos

Wie sehr Esma dieses verborgene Gesicht Sarajevos repräsentiert, mag ein Filmbild (Abb. 17) verdeutlichen, das Frau und Stadt in einer Relation der Unschärfe zeigt: Von ihrem Platz hinter der Fensterscheibe eines Cafés blickt Esma durch das geschäftige Treiben der winterlichen Stadt ins Leere. Obschon im Zentrum des Bildraums platziert, wirkt sie inmitten der belebten Straßenszene merkwürdig isoliert. Dennoch bricht sich ihr Konterfei, so schattenhaft es auch sei, durch die transparente Trennscheibe, was die Grenzen von Innen und Außen durchlässig erscheinen lässt. Ihr Mund ist halb geöffnet, als wollte sie zum Sprechen ansetzen; ihr Körper, dessen Schemen sich hinter dem Glas abzeichnen, befindet sich an der Schwelle der Sichtbarkeit, verdeckt und exponiert zugleich. In der Überblendung von Protagonistin und Stadtszenerie verschwimmen beider Konturen und ist bereits an einer frühen Stelle des Films ein wechselseitiges Ersetzungsverhältnis ins Bild gesetzt: Esma ist Grbavica und Grbavica ist Esma. Als Fleisch gewordene ‚Frau mit Buckel‘ inkarniert und erinnert sie das verschwiegene Trauma der Frauen ihrer Stadt und ihres Landes, das mit ihr erstmals Namen, Gesicht und Stimme erhält und sie zum Pathos-Emblem werden lässt.

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina Mehr als Konkurrenz der Erinnerungen L UDWIG S TEINDORFF

Bleibt uns nur zu konstatieren, über die Geschehnisse vor nun bald zwanzig Jahren beständen nebeneinander verschiedene Erinnerungen und Erinnerungskulturen, und soll man sie als gleichrangig akzeptieren? Oder gilt es und haben wir das Recht, nach der Historizität des Erinnerten zu fragen und damit die Erinnerungskulturen zu werten? Auch Historikerinnen und Historiker sind geprägt von persönlichen Erfahrungen, vor allem wenn sie zu Zeitzeugen geworden sind, sie sind beeinflusst von ihren weltanschaulichen Prämissen, sie wählen aus und werten bei ihrer Arbeit. Und insofern steht ihre Erinnerungsarbeit einfach in Konkurrenz zu anderen Erinnerungen. Aber es gehört zu ihrem Beruf, nach den Regeln historiographischen Arbeitens, angefangen von der Quellenkritik, zu entscheiden, welche Rekonstruktion von Vergangenheit mit Sicherheit falsch ist, welche demgegenüber als plausibel einzuschätzen ist. Sie haben die Möglichkeit zu klären, welche Erinnerungen aus historiographischer Sicht bezogen auf einen Kontext als angemessen anzuerkennen sind. Und sie können danach streben, zu einer möglichst konsensfähigen oder zumindest annehmbaren Geschichtserzählung zu gelangen, unabhängig von den verschiedensten Erfahrungen und Sichtweisen ihrer Leser oder Zuhö-

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rer.1 – Es ist nun mein Anliegen, in meiner Erzählung vor allem dem Bild der scheinbaren Unübersichtlichkeit des Geschehenen entgegen zu wirken, denn dieses verhindert auch, nach Verantwortung von Akteuren zu fragen. Im Untertitel liegt eine weitere Deutungsmöglichkeit, die ich selbst erst nachträglich bemerkt habe: nämlich dass darin eine Erklärung für den Ausbruch der jugoslawischen Nachfolgekriege 19911995 in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina genannt ist. Eine der mentalen Vorbedingungen für die Kriege war gewiss die „Konkurrenz der Erinnerungen“, vor allem mit Bezug auf Zweiten Weltkrieg und erste Nachkriegsjahre. Im offiziellen Diskurs des sozialistischen Jugoslawien gab es nur Helden und Märtyrer auf der einen, eigenen Seite und einen dämonisierten Gegner auf der anderen, an erster Stelle die kroatische ustaša und die serbischen četnici.2 Der kollektiven Unschuld der einen stand die Kollektivschuld der anderen gegenüber. Die exzessive Gewalt seitens der Kommunisten gerade bei Kriegsende und in den ersten Jahren der Macht war ein Tabuthema. 3

1

In der serbischen Tageszeitung Politika finden sich in der Zeit vom 1. bis 9. April 2011 Beiträge von Autoren aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien genau zu diesem Thema: Gibt es Chancen, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu schreiben? Die meisten Autoren sind sehr skeptisch, erreichbar seien aber besseres Kennen des anderen sowie Abbau und Verhinderung von Feindbildern, siehe http://www.politika.rs/rubrike/Sta-dase-radi/index.1.sr.html vom 09.04.2011.

2

Zuletzt Jakir, Aleksandar: „Der Partisanenmythos im sozialistischen Jugoslawien und aktuelle Interpretationen des ‚Volksbefreiungskrieges' 19411945“, in: Bernard Chiari/Gerhard P. Groß (Hg.), Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt (=Beiträge zur Militärgeschichte 68), München: 2009, S. 287-300; Karge, Heike: Steinerne Erinnerung – versteinerte Erinnerung. Kriegsgedenken in Jugoslawien (1947-1970) (=Balkanologische Veröffentlichungen 49), Wiesbaden: 2010.

3

Eine ausführlich dokumentierte deutschsprachige „Gegensicht“, vor allem mit Bezug auf Slowenien, bietet Griesser-Pečar, Tamara (2003): Das zerrissene Volk. Slowenien 1941-1946. Okkupation, Kollaboration, Bürgerkrieg, Revolution (=Studien zu Politik und Verwaltung 86), Wien: 2003. –

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Umgekehrt einseitig-unreflektierte Schablonen waren bei Teilen der politischen Emigration und als unterdrückte Stimmungslagen in Teilen der Bevölkerung geläufig. Im Moment der Staatskrise Jugoslawiens und der Delegitimation des bestehenden Systems entwickelten die Feindbilder aus verschiedener geschichtlicher Erinnerung ihre mobilisierende Wirkung und trugen zur Eskalation der Gewaltbereitschaft bei.4 Doch es wirkten eben nicht die historischen Traumata als Auslöser der Gewalt.5 Entscheidend für den Ausbruch der jugoslawischen Nachfolgekriege waren das Bestehen von sich gegenseitig ausschließenden Interessengegensätzen der Hauptakteure im Moment des Staatszerfalls 1989-91, die Unfähigkeit zu Kompromissen und schließlich die Bereitschaft vor allem und zuerst der durch das „System Milošević“ verkörperten Seite, die eigenen Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen.6

Vor allem wird in dem Buch deutlich, wie es im Laufe des Krieges immer schwieriger wurde, außerhalb der Parteiungen zu bleiben, wie man immer häufiger gezwungen wurde, sich für die eine Seite und gegen die andere zu entscheiden und entsprechend zu handeln. 4

Ramet, Sabrina P.: „The dissolution of Yugoslavia: Competing Narratives of Resentment and Blame“, in: Südosteuropa 55 (2007) S. 26-69. – Entgegen der im Titel zu vermutenden Programmatik bei Charles Ingrao/Thomas A. Emmert (Hg.): Confronting the Yugoslav Controversies. A Scholar’s Initiative, West Lafayettte, Indiana: 2009 geht der Band über die Gegenüberstellung von Positionen hinaus und versucht in den einzelnen Kapiteln, doch zu einer neuen, in sich geschlossenen Erzählung zu gelangen. Hierbei allerdings wird der Band selbst wieder zu einer der kontrovers zu diskutierenden Positionen.

5

Ähnlich Sundhaussen, Holm: „Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion von ‚Erinnerungen‘ und Mythen“, in: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Berlin: 2004, Bd. I, S. 373-426: „Das bedeutet nicht, daß die postjugoslawischen Kriege allein oder überwiegend mit ‚Erinnerungen‘ oder ‚kriegspropagandistischem Mythologismus‘ erklärt werden könnten.“ (S. 407)

6

Die Zeit bis zum Kriegsbeginn 1991 ist ausführlich dokumentiert bei Meier, Viktor: Wie Jugoslawien verspielt wurde, München: 1995; Silber, Laura -

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Bosnien-Herzegowina war eine der sechs Teilrepubliken des 1945 als föderativer Staat wiedererrichteten Jugoslawien. Seine Grenzen gehen zum großen Teil auf das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts zurück.7 Bosnien-Herzegowina war die einzige Republik, die nicht im Anspruch Heimatrepublik eine der Nationen Jugoslawiens war. Hier war die Prämisse der Multinationalität vorgegeben, wenn es auch seit den siebziger Jahren bei den Muslimen8 eine gewisse Tendenz gab, Bosnien-Herzegowina als gerade ihre Heimatrepublik anzusehen und sich selbst als das eigentliche Staatsvolk dieser Republik zu verstehen. Bei der Volkszählung im März 1991 ergaben sich folgende Antei9 le:

Allan Little: Bruderkrieg. Der Kampf um Titos Erbe. Deutsche Bearbeitung Walter Erdelitsch, Graz [u.a.]: 1995; mit Schwerpunkt auf dem Jahr 1989 auch Steindorff, Ludwig: „Jugoslawien 1989. Kosovo und der Diskurs um die Zukunft des Staates“, in: Michael Düring [u.a.] (Hg.): 1989 – Jahr der Wende im östlichen Europa, Lohmar - Köln: 2010, S. 187-206. 7

Steindorff, Ludwig: „Bosnien-Herzegowina. Geschichte der äußeren und inneren Grenzen“, S. 137f, in: Cay Lienau (Hg.): Raumstrukturen und Grenzen in Südosteuropa, München: 2001, S. 137-156.

8

Da sich die Selbstbezeichnung als bošnjaci, „Bosniaken“, erst in den neunziger Jahren durchgesetzt hat, verwende ich mit Bezug auf die Zeit vor dem Krieg den damaligen Terminus Muslimani , „Muslime“, im Sinne einer säkularen Nation, wie er seit den sechziger Jahren in Jugoslawien galt, vgl. hierzu Steindorff, Ludwig: „Von der Konfession zur Nation. Die Muslime in Bosnien-Herzegowina“, S. 263-267, in: Hans-Dieter Döpmann (Hg.): Religion und Gesellschaft in Südosteuropa, München: 1997, S. 253270.

9

Nach: Federalni zavod za statistiku (Hg): Stanovništvo Bosne i Hercegovina 1996-2006, Sarajevo: 2008; unter: http://www.fzs.ba/Dem/stanovnis tvo-bilten110.pdf vom 02.04.2011, S. 20, die absoluten Zahlen auf Tausend gerundet. Die Aufteilung nach den Entitäten von 1995 ist sekundär aufgrund der Volkszählungsergebnisse berechnet. – Geringfügig abweichende, doch die Relationen nicht verschiebende Zahlen für den Gesamtstaat bei Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden: 2007, S. 210.

D ER KRIEG

IN

B OSNIEN -HERZEGOWINA

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Tab. 1: Die ständige Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina laut Volkszählung 1991 Gesamtstaat

Volk/Nation In T.

%

Heutige

Heutige

Heutiger

Föderation

Republika

Distrikt

Srpska

Br ko

In T.

%

In T.

%

In T.

%

Muslime

1.903 43,5 1.423 52,3

441

28,1

39

44,1

Serben

1.366 31,2

478

17,6

870

55,4

18

20,7

Kroaten

761

17,4

594

21,9

144

9,2

22

25,4

Jugoslawen

243

5,5

162

5,9

75

4,8

8

6,5

Andere

104

2,4

62

2,3

39

2,5

3

3,3

88

100,0

Insgesamt

4.377 100,0 2.720 100,0 1.570 100,0

Die Zahlen geben die „ständige Bevölkerung“ (stalno stanovništvo) an, d.h. sie rechnen alle Gemeldeten ein, unabhängig davon, ob sich die Personen einen Großteil des Jahres zum Beispiel als Arbeitsemigranten in Deutschland aufhielten.10 Im Bekenntnis als „Jugoslawe“ lag zugleich der programmatische Anspruch, die historisch gewachsenen ethnischen und konfessionellen Unterschiede gegenüber dem Bekenntnis zu einer gemeinsamen jugoslawischen Nation in den Hintergrund zu drängen. Doch diese Gruppe war bei allen Volkszählungen und in allen Republiken stets eine Minderheit geblieben, stattdessen galt Jugoslawien als ein Staat mehrerer Nationen. Solange bis Anfang der achtziger Jahre das Selbstverständnis des sozialistischen Jugoslawiens nicht in Frage gestellt war, waren dabei nationales Bekenntnis und Identifikation mit diesem Staat oder zumindest Loyalität11 ihm gegenüber durchaus miteinander vereinbar.

10 Vgl. Metodološka objašnjenja za popis stanovništva za 1991, unter: http://www.fzs.ba/Dem/MetodPopisiB.htm vom 08.04.2011. 11 Abstufung zwischen Identifikation und Loyalität in Anlehnung an Sundhaussen, Holm: „Jugoslawismus und Loyalität. Kroaten und bosnische Muslime im ersten jugoslawischen Staate (1918-1941)“, in: Peter Haslin-

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Die räumliche Verteilung der drei großen Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina war ganz ungleichmäßig, so dass man unter dem Eindruck von Verkartungen gerne vom „Leopardenfell“ gesprochen hat.12 Die muslimischen Hauptsiedelgebiete lagen im Westen um Bihać, in Zentralbosnien und im nördlichen Neretvatal bis Mostar wie auch in Ostbosnien. Die serbischen Hauptsiedelgebiete erstreckten sich im Westen von der Save bis an die Grenzen Dalmatiens und trennten auf diese Weise die muslimischen Hauptsiedelgebiete, sie setzten sich jenseits der Grenze zu Kroatien in den dortigen serbischen Siedlungsgebieten fort. Außerdem dominierte die serbische Bevölkerung in Teilen Ostbosniens und in der östlichen Herzegowina. Die kroatischen Mehrheitsgebiete lagen in der Posavina südlich der Save, in Zentralbosnien und der westlichen Herzegowina, hier gingen sie in die kroatischen Siedlungsgebiete in Dalmatien über.13

ger/Joachim von Puttkamer (Hg.): Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmitteleuropa und Südosteuropa 1918-1941, München: 2007, S. 185208. 12 Als titelgebend bei Karger, Adolf: „Das Leopardenfell. Zur regionalen Verteilung der Ethnien in Bosnien-Herzegowina“, in: Osteuropa 42 (1992), S. 1102-1111. 13 Die meiner Ansicht nach „sprechendste“ Karte zur Siedlungsverteilung vor dem Krieg bietet Balić, Smail: Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt, Köln: 1992, nach S. 42. Nicht nur, dass die Einfärbung je nach Anteil der Mehrheitsnation in einer općina, „Gemeinde“ (eher mit einem kleinen Landkreis zu vergleichen), unterschiedlich stark ist. Durch Balken sind auch die Anteile der anderen Gruppen jeweils kenntlich gemacht.

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Bevölkerungsverteilung in Bosnien-Herzegowina laut Volkszählung 1991

Quelle: Balić: Das unbekannte Bosnien, nach S. 42.

Fast in allen općine, „Gemeinden“,14 war dabei mindestens eine der beiden anderen Nationen auch vertreten, so dass Dörfer verschiedener Nation nebeneinander lagen. Selten jedoch waren die Dörfer selbst gemischt. Und auch in den Städten ließen sich Schwerpunkte der nationalen Verteilung nach Stadtvierteln erkennen. Mit Sicherheit gab es mehr Mischehen als in anderen Republiken, d. h. dass die Ehepartner verschiedenen nationalen Bekenntnisses und damit auch unterschiedlicher Konfession oder zumindest konfessionellen Hintergrundes wa-

14 Diese Gemeinden entsprachen in der Größe ungefähr deutschen Landkreisen vor den Reformen der siebziger Jahre.

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ren. Doch bekannten sich deren Kinder in der Regel schon wieder klar zu einer der beiden Nationen.15 Es bestanden gewachsene Formen des Neben- und Miteinanders der Religionen und des aus der jeweiligen religiösen Tradition abgeleiteten Brauchtums, es hatten sich daraus manche Synkretismen gebildet. Im städtischen Alltag und in den modernen Lebensformen war die nationale Differenzierung weitgehend unsichtbar und auch für das Verhalten nicht von Bedeutung, aber mir sind alle Erklärungen, die nationale Identifikation und das Bewusstsein um die konfessionelle Tradition seien vielfach vergessen gewesen, wenig glaubwürdig. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina 1992-1995 ist im großen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftssystems sowie der Staatskrise und -auflösung Jugoslawiens zu sehen. Er gehört in die Kette der jugoslawischen Nachfolgekriege 1991-1995. In diesen Kriegen waren die Konfliktparteien vor allem national definiert, stets ging es um Grenzen, Kontrolle über Territorien, staatsrechtliche Stellung und Selbstverständnis der Staatlichkeit. Verspätet im Vergleich zu den westlichen Nachbarrepubliken Slowenien und Kroatien fanden die ersten freien Wahlen in Bosnien-Herzegowina am 18. November und 2. Dezember 1990 statt. Aber es hatte keine primär weltanschaulich gegliederte Parteienlandschaft zur Wahl gestanden, stattdessen gingen drei national definierte Parteien als große Sieger aus den Wahlen hervor. Entsprechend den Mehrheitsver-

15 Dass interethnische Ehen die klare Ausnahme waren, zeigen auch die Ergebnisse der Volkszählung von 1991: Državni zavod za statistiku (Hg.): Popis stanovništva, domaćinstava, stanova i poljoprivrednih gazdinstva 1991. godine. Porodice u Republici Bosni i Hercegovini, Sarajevo 1994 (=Statistički bilten 236); unter: http://www.fzs.ba/Dem/Popis/porodice% 20bilten%20236.pdf vom 04.04.2011, S. 9 (Porodice prema tipu, etničkom sastavu i nacionalnoj pripadnosti žene-muža, odnosno majke-oca) mit den absoluten Zahlen. So ist Bardos, Gordon N.: „In defense of Richard Holbrooke”, in: Eurasia Review, 3. März 2011; unter: http://www.eurasia review.com/in-defense-of-richard-holbrooke-3032011/ vom 02.04.2011, vollkommen Recht zu geben, wenn er von einem myth of high levels of interethnic marriage in Bosnia and Herzegovina spricht.

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hältnissen und noch im Sinne eines gewissen Proporzdenkens wurde Alija Izetbegović vom Parlament zum Präsidenten der Republik gewählt. Keineswegs herrschte 1991 noch vollkommene Ruhe in BosnienHerzegowina und war die Republik unbetroffen von der Gewalteskalation in Kroatien. Die serbischen Mehrheitsgebiete hatten sich gegenüber der Regierung in Sarajevo faktisch schon weitgehend verselbständigt, beginnend ab September 1991 mit der Bildung von fünf „Serbischen autonomen Gebieten“, die sich am 9. Januar 1992 zur Republika Srpska Bosne i Hercegovine vereinigten.16 Aus serbischer Sicht, korrekter: aus Sicht der Mehrheit der serbischen politischen Elite und wohl auch der serbischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, gab es nur zwei Optionen: Entweder ganz Bosnien-Herzegowina verblieb bei Jugoslawien, oder die serbischen Teile waren aus Bosnien-Herzegowina herauszulösen. Demgegenüber verfolgten Muslime und Kroaten – bzw. auch hier korrekter: die große Mehrheit der Politiker und der Bevölkerungsgruppen – das Ziel, dem Beispiel Sloweniens und Kroatiens zu folgen, die am 23. Dezember 1991 von der Bundesrepublik Deutschland und am 15. Januar 1992 von den anderen Staaten der Europäischen Union die Anerkennung erhalten hatten. In Einklang mit dieser Konstellation sprachen sich 99 Prozent der Teilnehmer am Referendum vom 29. Februar und 1. März 1992 für die staatliche Unabhängigkeit aus, doch nur 64 Prozent der Bevölkerung waren zum Plebiszit gegangen.17 Kurz darauf hatte Radovan Karadžić schon gewarnt: Falls die Republik weiterhin nach der

16 Zu einzelnen Daten vgl. die Chronologie bei Melčić: Der JugoslawienKrieg (wie Anm. 9), S. 552-557 (von 1986 bis 2002). – Überblick zu dieser Zeit auch bei Dragišić, Petar: „An der Schwelle zum Krieg. Die Krise in Bosnien-Herzegowina 1991/1992“, in: Maria Wakounig (Hg.): Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag, Wien: 2010, S. 441-450. 17 Zu den Umständen des Plebiszits siehe Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens, Frankfurt/Main: 1996, S. 265-266.

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Unabhängigkeit strebe, werde es zu Verhältnissen kommen, im Vergleich zu denen Nordirland als Sommerfrische erscheinen würde. 18 Im Falle von Slowenien und Kroatien erfolgte die internationale Anerkennung erst, als die „Feuertaufe“ bereits bestanden war, die Jugoslawische Volksarmee sich aus Slowenien längst zurückgezogen hatte und in Kroatien eine militärische Pattsituation eingetreten war. Zur Zeit der Anerkennung von Bosnien-Herzegowina am 6. April 1992 waren die Kräfteverhältnisse ungeklärt, nebeneinander bestanden im Land rivalisierende Konzepte, und die internationale Staatengemeinschaft hatte keinen Plan, wie sie im Falle von Gewaltausbrüchen reagieren würde. Insofern war diese Anerkennung vielleicht einer der Katalysatoren für die Eskalation der Gewalt, doch sie war gewiss nicht der Auslöser. Als letzte, vertane Chance für die friedliche Neuordnung im Raum Jugoslawiens im Moment der Staats- und Systemkrise dürfte man vielmehr bereits den Vorschlag der Republiken Slowenien und Kroatien vom 6. Oktober 1990 ansehen, Jugoslawien in eine „Konföderation unabhängiger Staaten“ umzuwandeln.19 Dies wäre der Weg gewesen, wie er ein Jahr später im Zusammenhang mit der Auflösung der Sowjetunion gewählt wurde. Er hätte die konsequente Fortsetzung des Prozesses einer faktischen Konföderalisierung Jugoslawiens bereits seit Ende der sechziger Jahre dargestellt. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina lässt sich in drei Hauptphasen gliedern: Die erste begann mit Aktionen serbischerseits gleich nach der Anerkennung, mit einem Massaker an Muslimen in Bijeljina in Nordostbosnien. Sie dauerte bis Ende 1992, bis zur weitgehenden Konsolidierung der Frontlinien einschließlich der Umschließung von

18 Am 2. März 1992 anhand einer WDR-Radiomeldung vom Autor notiert. Auch bei Gutman, Roy: Augenzeuge des Völkermordes. Reportagen aus Bosnien, Göttingen: 1994, S. 60. 19 Meier: Wie Jugoslawien verspielt wurde (wie Anm. 6), S. 280. Publiziert wurde der Entwurf in: Borba, 8. Oktober 1990, S. 4.

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Sarajevo. Dabei standen schließlich siebzig Prozent des Territoriums unter serbischer Kontrolle.20 Die Brutalität der Kriegsführung serbischerseits war nicht das Ergebnis eines langsamen gegenseitigen Hochschaukelns im Zuge der Eskalation, sie war als Strategie vorausgeplant. Ziel war die großzügige Arrondierung der eigenen Mehrheitsgebiete einschließlich der Sicherung eines Korridors zwischen den westlichen und östlichen Gebieten. Die Herstellung der militärischen Kontrolle war mit den „ethnischen Säuberungen“ zur Schaffung ethnisch getrennter Siedlungsräume verbunden. Das neue Syntagma „ethnische Säuberungen“, serbischerseits als Euphemismus geprägt, 21 ist erst sekundär als nun negativ konnotierter Terminus auch in die westlichen Medien gelangt. Inzwischen findet er, losgelöst vom ursprünglichen Bezug, als universalgeschichtlich gültiger Terminus der Historiographie Verwendung. Über den Ablauf der „ethnischen Säuberungen“ mit dem Schwerpunkt in Nordwestbosnien liegen hunderte oder eher wohl tausende von Einzelzeugnissen vor. Dabei lässt sich stets ein ungefähr ähnliches Muster erkennen: Es begann mit der Beschießung und Umzingelung von Dörfern und Stadtteilen, die Bevölkerung wurde herausge-

20 Das militärische Geschehen ist ausführlich dokumentiert bei Ivo Žanić/Branka Magaš (Hg.): The War in Croatia and Bosnia-Herzegovina, 1991-1995, London – Portland: 2001 (Übers. aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen, erstmals Zagreb – Sarajevo 1999), S. 133-236 (Beiträge von Jovan Divjak, Marko Attila Hoare, Norman Cigar, die allerdings auf die Vergewaltigungen gar nicht eingehen). 21 Vgl. z.B. Brunnbauer, Ulf/Esch, Michael G./ Sundhaussen, Holm: Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin: 2006, hier S. 9-10 zur ursprünglich positiv intendierten Konnotation des Syntagma; oder Naimark, Norman M.: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe, Cambridge: 2001, hier zu Bosnien, S. 159-167 ohne Verweis auf die Vergewaltigungen. Die Umkehrung zum klar negativ konnotierten Begriff findet sich schon in der im Januar 1993 erschienenen Dokumentation von Zülch, Tilmann: „Ethische Säuberung“ – Völkermord für „Großserbien“. Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker, (=Luchterhand Flugschrift 5), Hamburg – Zürich: 1993.

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trieben. Ältere und Kinder wurden beim Abtransport ausgeplündert, mussten einen teuren „Fahrschein“ lösen und vielleicht auch noch eine Erklärung über die Abtretung ihres Vermögens unterschreiben. Eine riesige Flüchtlingswelle von bis zu 300.000 Menschen traf ab Juli 1992 in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas ein. Wehrfähige Männer und viele junge Frauen wurden separiert und in Lager gebracht, deren Existenz aber erst im August 1992 allgemein bekannt wurde.22 Und die Massenvergewaltigung von Frauen wurde sogar erst im Dezember, im Zusammenhang mit der Auflösung der Lager und der Abschiebung der Frauen zum Thema für Öffentlichkeit und Medien.23 Die „unheilige Allianz“ aus Scham der Opfer, Streben der Täter nach Vertuschung und Wunsch der meisten Unbeteiligten nach Verdrängung machen es bis heute schwer, zuverlässige Zahlen zu nennen. Die Angaben schwanken zwischen 60.000 und 20.000 Opfern, wobei inzwischen letztere Zahl als doch wahrscheinlicher gilt. 24

22 In meiner damals fast täglich geführten privaten „Nachrichtenchronik“ zum Krieg findet sich vor dem 2. August kein Eintrag, gerade dann folgt bis zum 27. August eine Unterbrechung. Im zusammenfassenden Nachtrag von diesem Tag sind die Lager schon erwähnt. 23 In meiner Nachrichtenchronik findet sich erstmals ein Eintrag am 2. Dezember 1992, am 3. Dezember ist die Schätzung von 50.000 Opfern notiert. 24 Dokumentationsmaterial bei Faber, Marion/Stiglmayer, Alexandra (Hg.): Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Freiburg: 1993; Aydelott, Danise: „Mass Rape During War. Persecuting Bosnian Rapists Under International Law“, S. 604 in: Emory International Law Review 7 (1993), S. 586-631;

unter:

http://www.law-lib.utoronto.ca/Diana/fulltext/ayde.pdf

vom 04.04.2011 (20.000); Calic, Marie-Janine: Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Konfliktstrukturen. Internationale Lösungsversuche, Frankfurt am Main: 1995, S. 132, 135 (20.000); Melčić: Der JugoslawienKrieg (wie Anm. 9), S. 411-412 (20.000-60.000) mit Referat der verschiedenen Erklärungsmuster für die Bereitschaft zu dieser Form von Gewalt. – Suljagić, Emir: Ethnic Cleansing: politics, policy, violence : Serb ethnic cleansing campaign in former Yugoslavia, Baden-Baden: 2010 geht auf S. 170-172 erstaunlicherweise nur auf den sexuellen Missbrauch von gefangenen Männern ein. Cigar, Norman: Genocide in Bosnia. The Policy of

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In die zweite Phase des Krieges fällt der bosniakisch-kroatische „Krieg im Krieg“ von Frühjahr 1993 bis Frühjahr 1994. Zu ersten bosniakisch-kroatischen Spannungen war es bereits seit Sommer 1992 gekommen. Auch hatte innerhalb der kroatischen politischen Elite in Bosnien-Herzegowina die Fraktion, die einem Erhalt des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina skeptisch gegenüberstand, bereits am 5. Juli 1992 parallel zur Republika Srpska die Republik Herceg Bosna ausgerufen. Aber bis Ende 1992 handelten kroatische und bosniakische Verbände noch klar als Verbündete, vor allem bei der Zurückweisung der serbischen Angriffe auf Mostar von Osten aus.25 Für den Ausbruch des kroatisch-bosniakischen Konfliktes können wir mehrere Faktoren benennen. Bei den Kroaten setzte sich die politische Richtung durch, die klare antimuslimische Ressentiments pflegte und die kroatische Eigenständigkeit höher schätzte als ein gemeinsames Bosnien-Herzegowina. Diese Gruppe dominierte in der kompakt kroatisch besiedelten westlichen Herzegowina, wo man an eine weitgehende ethnische Homogenität gewohnt war, während die Kroaten in Zentralbosnien mit Lebensformen in einer multikonfessionellen und multinationalen Umgebung ganz anders vertraut waren. Die Konsolidierung der politisch-militärischen Strukturen auf Seiten der Bosniaken förderte das Streben, sich aus der Bevormundung durch die kroatischen Strukturen zu lösen. Schließlich kann man in dem Konflikt eine Folge des VanceOwen-Plans erkennen, dem zufolge das Land in zehn jeweils von einer der Nationen dominierte Kantone aufgeteilt werden sollte. Der Plan scheiterte, da er, wie von Radovan Karadžić erwartet und ge-

„Ethnic Cleansing“, College Station, Texas: 1995, S. 59-60, 91-92 behandelt die Vergewaltigungen nur am Rande und nennt keine Zahlen. Ramet, Sabrina: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer Probleme, a. d. Englischen, München: 2011, S. 575 nennt für alle Kriegsgebiete 1991-1995 die Schätzung von 40.000 Vergewaltigungen von Frauen. 25 Dem „Krieg im Krieg“ ist ein eigenes Kapitel gewidmet bei Melčić: Der Jugoslawien-Krieg (wie Anm. 9), S. 415-434; detaillierter Shrader, Charles R: The Muslim-Croat Civil War in Bosnia. A Military History, 19921994, College Station TA: 2003.

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wollt, vom Parlament der Republika Srpska abgelehnt und durch ein Referendum verworfen wurde. Doch für die kroatische Seite war der Plan günstig gewesen, so dass man in den Kämpfen durchaus den Versuch der Umsetzung des Planes bzw. deren Abwehr sehen kann. Auch der bosniakisch-kroatische Krieg war mit Massakern, Vergewaltigung, Zerstörung von Sakralobjekten, Lagern, Flucht und Vertreibung verbunden, aber die Gewalt ist in ihren Dimensionen keinesfalls mit dem Vorgehen der serbischen Seite gleichzusetzen. Sichtbarste Ergebnisse der bosniakisch-kroatischen Kämpfe waren die noch heute wirksame faktische Teilung Mostars entlang einer Linie etwas westlich des Neretva-Ufers und der weitgehende Rückgang der kroatischen Bevölkerung in Mittelbosnien. Die Flucht erfolgte teils als Panikreaktion, ohne dass schon eine konkrete Bedrohung vorlag. Am militärischen und logistischen Engagement der Republik Kroatien zugunsten der kroatischen Kriegsführung in Bosnien-Herzegowina 1993-1994 dürfte kein Zweifel mehr bestehen. Zwar kam es dabei nie zum vollen Bruch mit Alija Izetbegović und der Regierung in Sarajevo. Aber sehr wohl hatte Tuđman Interesse an einer Lösung, durch welche die kroatischen Mehrheitsgebiete in Bosnien-Herzegowina möglichst eng an Kroatien gebunden würden. Und in diesem Sinne hat er – gemeinsam mit Vertretern der internationalen Politik – mitgewirkt an Varianten von Teilungsplänen, sei es über die Kantone des Vance-Owen-Planes, sei es über die drei Teilrepubliken im OwenStoltenberg-Plan. Die Legende einer klaren Verabredung von Milošević und Tuđman über die Teilung von Bosnien-Herzegowina schon im März 1991 bei einem Treffen in Karađorđevo in der Vojvodina ist inzwischen überzeugend dekonstruiert worden.26 Tuđmans Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina blieb durchgehend ambivalent zwischen Setzen auf die Stabilisierung des Nachbarstaates und seiner möglichst weitgehenden Schwächung. Und auch in der kroatischen Öffentlichkeit war der

26 Melčić, Dunja: Croatia’s Discourse about the Past and Some Problems of Croatian-Bosnian Understanding, S. 118-122, in: Sabrina P. Ramet/Konrad Clewing/Reneo Lukić (Hg.): Croatia since Independence. War, Politics, Society, Foreign Relations (=Südosteuropäische Arbeiten 131), München: 2008, S. 107-140.

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politische Diskurs in dieser Frage nie homogenisiert. Auf jeden Fall waren einer Zusammenarbeit mit den bosnischen Serben enge Grenzen gesetzt, wollte man die Glaubwürdigkeit des eigenen Anspruches auf die Wiederherstellung der territorialen Integrität Kroatiens nicht aufs Spiel setzen. Der Wendepunkt in den Konstellationen und der Beginn der dritten Phase des Krieges fallen mit dem Washingtoner Abkommen vom 18. März 1994 zusammen. Dieses ging auf das erstmals verstärkte, mit der Russischen Föderation abgestimmte diplomatische Engagement der Vereinigten Staaten zurück und führte zur Bildung der bosniakisch-kroatischen Föderation. Die kroatische Seite war zur Beendigung des Konfliktes mit den Bosniaken zum einen bereit, weil die militärische Situation in Mittelbosnien für sie immer ungünstiger war, zum anderen fürchtete man Sanktionen. Zudem war ein Arrangement mit den Serben nicht zu erwarten. Mit der Bildung der Föderation war die Staatsordnung von heute mit der Gliederung des Gesamtstaates in Föderation und Republika Srpska in ihren Grundzügen schon vorgezeichnet. Allerdings war die Grenzziehung zwischen den Entitäten noch offen: zum damaligen Zeitpunkt hielten die Serben ungefähr 70 Prozent des Territoriums, die Föderation ihrerseits beanspruchte 51 Prozent wie es im von OwenStoltenberg-Plan 1993 vereinbart worden war.27 Von der Erwähnung der Friedenspläne abgesehen, habe ich bisher nichts über die internationale Politik gesagt – aus gutem Grunde: Für die Erzählung vom Kriegsgeschehen ist sie bis zum Washingtoner Abkommen auch unwichtig, bis dahin hat sie den Verlauf des Krieges nicht beeinflusst. Dem internationalen Engagement war zwar eine gewisse humanitäre Hilfe zu verdanken, und die Präsenz der UN-Truppen verlangsamte die Kriegsführung. Aber die Drohung mit Luft-

27 Eine Karte der geplanten Grenzen bietet: http://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/d/d2/Fed_zupanije_1994_cantons.GIF vom 04.04. 2011. Vergleiche demgegenüber den ungefähren Frontverlauf zwischen der serbischen und der muslimisch-kroatischen Seite Anfang 1994: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Bih94.JPG vom 04.04.2011; gezeichnet auch bei Melčić: Der Jugoslawien-Krieg (wie Anm. 9), S. 355.

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angriffen war wirkungslos, solange absehbar war, dass es symbolische Aktionen blieben. Die Entwicklungen vor Ort einschließlich des Verlaufes der Frontlinien sind fast ausschließlich aus den Chancen und dem Verhalten der Akteure in Bosnien-Herzegowina selbst und in den Nachbarländern zu erklären. Für die faktische Ineffizienz des internationalen Engagements lassen sich zahlreiche Gründe anführen: Bei unterschiedlichen Sichtweisen waren die Mächte, vor allem innerhalb der EU, um die Wahrung des Konsenses bemüht, was die Formulierung klarer Zielvorstellungen verhinderte und den Handlungsspielraum auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ reduzierte. Auch mit Rücksicht auf die eigenen Öffentlichkeiten fürchteten sich die Regierungen vor einem eventuell riskanten Engagement. Es herrschte noch die „Ratlosigkeit“ nach der Zeit des Kalten Krieges, als gegenseitige Abschreckung friedenssichernd gewirkt hatte – nun sah man sich einer Vielzahl von Konfliktparteien und Interessengruppen gegenüber. Wie Brendan Simms in seiner in Deutschland wenig bekannten detaillierten Untersuchung nachgezeichnet hat, war innerhalb der EUPolitik bis 1994 Großbritannien unter Premierminister John Major tonangebend: Die britische Diplomatie war von der Prämisse der militärischen Überlegenheit der serbischen Seite geleitet. Sie erwartete, der Unterlegene, die bosniakische Seite, möge seine Niederlage akzeptieren. Sie ging von der Gleichverantwortlichkeit aller Seiten für den Krieg aus.28

28 Simms, Brendan: Unfinest Hour. Britain’s Destruction of Bosnia, London: 2001; ähnlich negativ Jacques Rupnik in Melčić: Der Jugoslawien-Krieg (wie Anm. 9), S. 467.

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Die Akteure der internationalen Vermittlungsbemühungen (Schema: Autor)

Im Detail ist diese Sichtweise sehr deutlich in den Memoiren von Michael Rose, dem Kommandeur der UN-Truppen von Ende 1993 bis Januar 1995, wiederzuerkennen. Es sind an manchen Stellen auch klar antimuslimische Ressentiments spürbar. Folgt man den Memoiren von Rose, hat aber auch Izetbegović ihm guten Willen zugebilligt. Über seinen Abschiedsbesuch schreibt er: Izetbegović said sadly: We all have to do what we think is best. 29 „Wir alle müssen tun, was wir für das Beste halten.“ Ob der Satz authentisch ist oder nicht, so erfasst er doch klar die Tragik und Größe dieses Mannes. Selbst als Sprecher der Seite, die weitaus am meisten zum Opfer geworden war, erkannte er die Handlungslogik des anderen an. Nach dem Ende der bosniakisch-kroatischen Konföderation herrschte ein militärischer Schwebezustand. Die Lage der von serbischen Einheiten umschlossenen bosniakischen Enklaven Goražde, Žepa im Osten des Landes und Bihać im Westen verschlechterte sich. Die politische Zielvorstellung war gegeben, doch deren Umsetzung war offen. Die Endphase des Krieges in Bosnien-Herzegowina ab Sommer 1995 war eng mit der Entwicklung in Kroatien verbunden. Die schnelle Rückgewinnung Westslawoniens durch kroatische Truppen am 1.-2.

29 Rose, Michael: Fighting for Peace. Lessons from Bosnia, London 1998, S. 346.

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Mai 1995 bei erstaunlich schwachem Widerstand zerbrach den Mythos von der unantastbaren militärischen Überlegenheit der serbischen Seite; noch deutlicher wurde dies in der Aktion „Oluja“ im August 1995 mit der Rückgewinnung der ganzen „Krajina“ entlang der Westund Südwestgrenze zu Bosnien-Herzegowina. Zugleich wurde damit der Belagerungsring um Biha aufgebrochen, und die serbischen Positionen in West- und Südwestbosnien waren stark geschwächt. Die Bereitschaft der USA, sich von jetzt an auch militärisch zu engagieren, war durch die nun offensichtlichen Chancen auf Erfolg gewachsen. Entscheidend allerdings war die Wirkung der Nachrichten von den Massakern bei Srebrenica kurz nach Einnahme der Enklave durch serbische Truppen am 11. Juli 1995. Das „Fehlen“ von ca. 8000 Männern war erst einige Tage später wirklich registriert worden.30 Den letzten Anstoß zu wirksamen Luftangriffen der NATO gab dann der Einschlag einer Granate auf dem Markt von Sarajevo am 28. August 1995. In ihrer Landoffensive gewannen kroatische und bosniakische Truppen einen breiten Gebietsstreifen im Südwesten zwischen Biha und den zentralen Landesteilen. Die Einheiten verzichteten auf einen Angriff auf Prijedor, obwohl, folgt man den Holbrooke-Memoiren, die Amerikaner ein ausdrückliches Veto nur gegen die Einnahme von Banja Luka eingelegt hatten.31 Der Belagerungsring um Sarajevo wurde in den Wochen jedoch nicht aufgebrochen, und nachdem die serbische Seite an einzelnen Frontabschnitten schon wieder in die Offensive gegangen war, kam am 12. Oktober ein Waffenstillstand zustande. Die Friedensverhandlungen begannen in einer konklaveartigen Umgebung auf dem Luftwaffenstützpunkt Dayton in Ohio. Als Spre-

30 In der oben erwähnten privaten Nachrichtenchronik findet sich erst am 14. Juli ein Eintrag: „Genaue Angaben über die Zahl von Leuten in Srebrenica fehlen zwar, doch ‚fehlen’ jetzt offensichtlich mehrere Tausende, die entweder umgekommen sind, in die Berge geflohen sind oder von den Serben noch festgehalten werden. Die serbische Angabe, daß auch die Männer freigelassen seien, wird von der UN nicht bestätigt.“ Von der Gewissheit ihres Todes durch Massaker geht erst der Eintrag am 11. August aus. 31 Holbrooke, Richard: Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, München: 1998, S. 263-264.

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cher für die Serben in Bosnien-Herzegowina trat der Präsident Serbiens, Slobodan Miloševi, auf, für die Kroaten der Staatspräsident Kroatiens, Franjo Tu man, für die Bosniaken Alija Izetbegovi, Präsident von Bosnien-Herzegowina seit 1991.32 Im Selbstverständnis hatte er sich ursprünglich als Vertreter eines multikonfessionellen, multikulturellen Staates gesehen, durch die Entwicklung war er allmählich in die Rolle eines Sprechers explizit bosniakischer Interessen geworden. Beim Blick auf den Tagesablauf der Verhandlungen in Dayton33 bis zum 21. November ist eine Assoziation mit dem Berliner Kongress 1878 unter Bismarcks Leitung kaum zu vermeiden: Hier wie dort waren das Anliegen einer auf Kompromissen beruhenden Friedenssicherung in der Region und der Interessenausgleich zwischen den internationalen Akteuren eng miteinander verflochten. Um das Engagement der EU neben den Vereinigten Staaten symbolisch zu bekräftigen, wurde das in Dayton erarbeitete Vertragswerk erst am 14. Dezember 1995 in Paris unterschrieben. Doch zu Recht hat sich durchgesetzt, nicht von einem „Frieden von Paris“, sondern entsprechend dem Ort der Entscheidungen von der „Friedensordnung von Dayton“ zu sprechen. Was waren die zentralen Inhalte des Vertragswerkes? Der Staat erhielt eine Verfassungsordnung, wie sie schon im Washingtoner Abkommen vorgezeichnet war und, unabhängig von manchen Revisionen in Einzelheiten, bis heute im Großen und Ganzen gültig ist. Die Institutionen des Gesamtstaates sind schwach ausgebildet. Die Republika Srpska ist in sich zentralistisch organisiert. Die Föderation Bosnien-Herzegowi-

32 Keinesfalls war bei dieser Verteilung der Eindruck eines Primates der Bosniaken innerhalb von Bosnien-Herzegowina selbst intendiert. Es ging damals vor allem darum, auf diese Weise Radovan Karadži aus den Verhandlungen herauszuhalten, Izetbegovi war rechtlich Staatsoberhaupt des Gesamtstaates, und unbestritten wäre ohne die Mitwirkung Serbiens und Kroatiens eine Friedensordnung schwerlich durchzusetzen gewesen. 33 Holbrooke: Meine Mission (wie Anm. 31), S. 355-478. Deutlich wird, wie neben den offiziellen Terminen auch das gesamte Ambiente (Unterbringung, Mahlzeiten, Freizeit) den Verhandlungsverlauf vorantreiben sollte.

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na gliedert sich in zehn föderale Einheiten, nach bosniakischer Terminologie in „Kantone“, nach kroatischer in županije. In sieben davon dominieren die Bosniaken, in dreien die Kroaten.34 Schließlich erhielt der Distrikt Br ko im Norden an der Save an der „Kreuzung“ zwischen den westlichen und östlichen Gebieten der Republika Srpska einerseits und den Föderationsgebieten und Kroatien andererseits einen Sonderstatus. Im Land wurden internationale Truppen unter NATO-Kommando stationiert, und man richtete eine internationale Verwaltung, geleitet vom Hohen Repräsentanten, ein. Für das zukünftige Leben der Bevölkerung von besonderer Bedeutung waren die Entscheidungen über die Grenzziehungen zwischen den Entitäten. Die schon früher vereinbarte Aufteilung von 51 Prozent des Territoriums für die Föderation wurde beibehalten, an die Republika Srpska kamen 48 Prozent. Auf den Distrikt Br ko entfällt 1 Prozent. Alle Grenzziehungen in früheren Friedensplänen waren im Großen und Ganzen von der ethnischen Verteilung vor Kriegsbeginn ausgegangen, d. h. sie vermieden eine Anerkennung der erfolgten „ethnischen Säuberungen“. In Dayton hingegen wurde die Waffenstillstandslinie vom Oktober 1995 zugrunde gelegt. Hiervon gab es nur zwei Abweichungen: Die Einschließung von Sarajevo wurde beendet, das ganze Stadtgebiet von Sarajevo, auch die bis dahin serbisch kontrollierten Stadtteile, kam an die Föderation. Als Kompensation dafür ging das Gebiet um Mrkonji grad im Westen an die Republika Srpska, obwohl es im Moment des Waffenstillstandes unter Kontrolle der Föderation stand.35 Auch wenn offiziell die Rückkehr aller Flüchtlinge und deren Anspruch auf ihr Hab und Gut vorgesehen waren, wurden die „ethnischen Säuberungen“ mit den Grenzziehungen letztlich doch akzeptiert.36 Von Goražde abgesehen, das durch einen Korridor mit den

34 Karte einschließlich Einzeichnung der Kantone, siehe: http://bih.iio. org.uk/map2/federation-of-bih.gif vom 06.04.2011. 35 Die Abweichungen zwischen der Waffenstillstandslinie vom Oktober 1995 und den Grenzziehungen laut Dayton sind kartographisch dargestellt bei Holbrooke: Meine Mission S. 4 (wie Anm. 31), 36. 36 Vgl. die Karte http://bih.iio.org.uk/map2/ethnic-composition-after-the-war -in-1998.gif vom 06.04.2011. Der Karte fehlt allerdings eine Gewichtung

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Kerngebieten der Föderation verbunden wurde, waren alle bosniakischen Siedlungsräume in Ostbosnien verschwunden. Von dem mehrheitlich kroatisch besiedelten, zur Föderation gehörigen Gebiet um Orašje abgesehen, gibt es keine kroatischen und bosniakischen Siedlungsgebiete in Nordbosnien mehr. Umgekehrt kam es zu einem, offensichtlich auch von der politischen Führung der Republika Srpska gewollten, Exodus der serbischen Bevölkerung, als die serbischen Einheiten die dafür im Vertrag von Dayton vorgesehenen Stadtteile von Sarajevo räumten.37 Der Vertrag von Dayton ist vielfach gescholten worden, und es ist daraus auch ein nur schlecht und recht funktionierender Staat mit einer sehr schwierigen Wirtschaftslage hervorgegangen. Jede Gruppe kann sagen, sie habe durch den Vertragsschluss Ziele verfehlt. Die bosniakische Seite musste auf einen Einheitsstaat Bosnien-Herzegowina, in dem sie de facto die stärkste Gruppe gewesen wäre, verzichten. Die serbische Seite konnte den Anschluss an Serbien nicht durchsetzen, und die Kriegsgewinne von 1992/93 gingen teilweise verloren. Die kroatische Seite hat auf eine eigene Entität verzichten müssen, auch der Anschluss der westlichen Herzegowina an Kroatien ist nicht Wirklichkeit geworden; innerhalb der Föderation werden die Kroaten minorisiert. Aber wir sollten auch sehen, dass ohne Kompromiss ein Frieden nicht erreichbar gewesen wäre, und alle drei Gruppen haben auch Teilziele erreicht. Im Sinne vor allem der bosniakischen Interessen ist der Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina erhalten geblieben; in der Föderation ist ihre Dominanz gesichert; ganz Sarajevo ist an die Föderation gelangt. Die serbische Seite hat die Anerkennung der Republika Srpska als Entität erreicht; deren Territorium beruht zum Teil auf Kriegsgewinn. Die kroatische Seite verfügt über ihr zugeordnete Kantone innerhalb der Föderation, auch als die Volksgruppe mit dem kleinsten Anteil sind die Kroaten gleichberechtigt konstitutiv.

nach Anteilen der Mehrheit und eine Kenntlichmachung des Anteils anderer Gruppen. 37 Zu diesem Moment vgl. Donia, Robert J.: Sarajevo. A Biography, London: 2006, S. 336-339.

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Wenn man auf die politische Entwicklung der vergangenen fünfzehn Jahre schaut, ist sie vor allem dadurch charakterisiert, dass die politischen Eliten der drei Nationen mehrheitlich darauf abzielen, sich den nicht erreichten eigenen Zielen doch noch anzunähern. Die Republika Srpska unternimmt immer wieder Schritte, um in möglichst vielen Bereichen vom Gesamtstaat und von der Zusammenarbeit mit der Föderation unabhängig zu sein. So befindet sich der Staat in einer chronischen, auch die wirtschaftliche Erholung bremsenden Selbstblockade.38 Der Krieg hat die Bevölkerungsverhältnisse im Land gründlich erschüttert. Die ursprünglichen Schätzungen von über 200.000 Kriegstoten sind wahrscheinlich doch zu hoch gewesen39, doch auch die jetzigen Schätzungen von 100.000 bis 150.000 Kriegstoten sind erschreckend genug.40 Während des Krieges war wahrscheinlich über die Hälfte der Bevölkerung, geschätzte 2,3 Millionen, auf der Flucht innerhalb von Bosnien-Herzegowina, in den Nachbarländern oder in Westeuropa. Bis September 1997 rechnete man mit 700.000 Rückkehrern, davon gingen 450.000 in die Föderation, 300.000 in die Republika Srpska,

38 Zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten und Perspektiven vgl. neuerdings Schmidt, Ernst Klaus: Bosnien-Herzegowina. Eine wirtschaftsgeographische Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten, Tübingen: 2009 unter http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2009/4187/pdf/BiH_eine_poli tisch_wirtschaftsgeographische_Analyse.pdf vom 02.04.2011. 39 Reuter, Jens: „Die politische Entwicklung in Bosnien-Herzegowina. Zusammenwachsen der Entitäten oder nationale Abkapselung?“, in: SüdostEuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung, 47 (1998), S. 97-116, hier S. 97 nennt als Zahl der Kriegstoten unter Berufung auf Berechnungen des kroatischen Demographen Vladimir Žerjavi in der Zeitung Oslobo enje (Sarajevo) vom 9. Januar 1998: 160 Tausend Bosniaken, 30 T. Kroaten, 25 T. Serben. – Der Artikel ist auch wegen der damaligen Prognosen noch heute lesenswert, so S. 116 sehr zutreffend: „Die Rückkehr nichtserbischer Flüchtlinge in die Republika Srpska wird sich in engen Grenzen halten.“ 40 Mel i: Der Jugoslawien-Krieg (wie Anm. 9), S. 449 zu den verschiedenen Schätzungen.

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IN

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hinzu kamen dort 50.000 geflohene Serben aus der „Krajina“ in Kroatien.41 In diese Zahlen dürften auch Rückwanderungen innerhalb der Entitäten, vor allem innerhalb der Föderation, einbezogen sein. Die vom UNHCR herausgegebene Tabelle der Rückkehrer, getrennt nach refugees, die sich in anderen Ländern aufgehalten haben, und displaced persons innerhalb des Staatsgebietes, ist letztlich wenig aussagekräftig zur Bevölkerungsentwicklung. Sie zeigt nur an, wie groß die Zahl derer ist, die während des Krieges aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen worden sind, inzwischen jedoch durch Meldung und eventuelle Klärung von versorgungs- und vermögensrechtlichen Fragen am früheren Wohnort ihren Status geklärt haben. Insgesamt sind bis Ende 2010 0,449 Mio. aus dem Ausland zurückgekehrt, 0,580 Mio. innerhalb des Landes. 0,470 Mio. Menschen sind an ihren Herkunftsort in Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt, obwohl sie an diesem Ort zu einer ethnischen Minderheit gehören, davon 0,275 Mio. in der Föderation und 0,172 Mio in der Republika Srpska. Doch, wie auch explizit vermerkt, heißt die „Rückkehr“ im Sinne des UNHCR nicht unbedingt, dass die Person sich an diesem Ort auch wirklich aufhält.42 Wegen des Mangels an zuverlässigen Daten vor einer erneuten Volkszählung lassen sich zur Größe der Bevölkerung, zu ihrer Verteilung auf die Entitäten und zum jeweiligen Anteil der Nationalitäten nur ungefähre Zahlen nennen. Vor allem stammen die statistischen Erhebungen fast ausschließlich von den Ämtern der Entitäten, während die gesamtstaatliche Statistikagentur nur wenige

41 Reuter: Die politische Entwicklung (wie Anm. 39), S. 97 nach einem Artikel in der NNZ vom 24. September 1997. – Die 2,3 Millionen Flüchtlinge und die 700.000 Rückkehrer werden hier den 4,3 Millionen ständiger Bevölkerung laut Volkszählung gegenübergestellt. Wahrscheinlich wäre es korrekter, die derzeit nur zu schätzende, niedrigere Zahl der 1991 anwesenden Bevölkerung als Bezugsgröße zu nehmen. 42 United Nations High Commissioner for Refugees. Representation in Bosnia and Herzegovina (Hg.): Statistics Package, 31. December 2010; unter: http://www.unhcr.ba/index.php?option=com_content&view=article&id=4 22:statistics-2010-december-&catid=142:statistics-2010&Itemid=139 vom 02.04.2011.

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Daten bietet, ein weiteres Indiz für das schlechte Funktionieren des Gesamtstaates. Darüber hinaus werden wir im Folgenden dem methodischen Problem begegnen, dass zwar in den Statistiken der Föderation für die Zeit ab 1996 zwischen „ständiger Bevölkerung“ und „anwesender Bevölkerung“ unterschieden wird und man für beides Zahlenreihen zusammenstellen kann, doch die Volkszählung von 1991 nennt nur Zahlen für die „ständige Bevölkerung“ einschließlich aller, die zwar in einem Haushalt gemeldet waren, sich den größeren Teil des Jahres jedoch anderswo innerhalb der Republik, Jugoslawiens oder auch im Ausland aufhielten. Knapp drei Jahre nach Kriegsende legte das Institut für Statistik der Föderation folgende Tabelle vor:43 Tab.: Die anwesende Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina 1997 1991

1995

1996

1997

4,383 Mio.

2,930

3,174

3,322

Föderation

2,260

2,254

2,346

Republika

0,730

0,920

0,966

BosnienHerzegowina

Srpska und Distrikt Br ko44 Doch hier ist schon die Inkompatibilität der Daten von 1991 einerseits und 1995-1997 andererseits offensichtlich. 1991 ist die Gesamtzahl der Bevölkerungszählung nicht aufgrund der anwesenden, sondern der

43 Federalni zavod za statistiku (Hg.) Statisti ki godišnjak/ljetopis 19931998, S. 37: 3-2 Procjena ukupno prisustnog stanovništva. 44 Die Zeile für die Republika Srpska und das Gebiet von Br ko ist von mir aus der Differenz zwischen Gesamstaat und Föderation errechnet. – Erst ab 2003 sind die Zahlen für den Distrikt Br ko nicht mehr in die Gesamtzahlen für die Republika Srpska eingerechnet, vgl. Republi ki zavod (Hg.): Statisti ki godišnjak Republike Srpske 2010. Stanovništvo, S. 60

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IN

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| 203

ständigen Bevölkerung genannt! Die kompatible Zahl dürfte um mehrere Hunderttausend niedriger anzusetzen sein. Dieselbe Publikation bringt auch die berechnete Entwicklung der ständigen Gesamtbevölkerung, jeweils für die Jahresmitte:45 1990

4,347

1993

4,277

1996

4,174

1991

4,383

1994

4,217

1997

4,204

1992

4,411

1995

4,180

Im starken Rückgang von 1992 auf 1993 zeigen sich die Auswirkungen der Flüchtlingsströme und der vielen Toten aufgrund der ethnischen Säuberungen in Sommer und Herbst 1992. Auch noch in den Folgejahren ging die ständige Bevölkerung, allerdings langsamer, zurück. Eine wirkliche Konsolidierung setzte erst 1997 ein. Folgt man den neuesten statistischen Jahrbüchern der Föderation und der Republika Srpska für 2010, betrug dort jeweils die ständige Bevölkerung 2009:

45 Federalni zavod za statistiku (Hg.): Statisti ki godišnjak/ljetopis 19931998, S. 38: 3-3 Stanovništvo – procjena sredinom godine i prirodno kretanje, 1. Spalte. – Anders als in späteren Publikationen ist hier die anwesende Bevölkerung noch nicht in einer Parallelspalte ergänzend genannt.

204 | LUDWIG STEINDORFF

Tab. 3: Die ständige Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina 2009 Absolut

% an GesamtBevölkerung

46

Bevölkerung im Vergleich zu 1991

Föderation

2,852 Mio.

Republika

47

1,435 48

Srpska

Mio.

Distrikt Br ko

0,088 Mio.

Bosnien und Herzegowina

49

65,19 % (62,1) 33,94 %

91,45 %

(35,9) 2,01 %

100,00 %

(2,0)

4,375 Mio.

104,85 %

99,95 %

50

Demnach ist die „ständige Bevölkerung“ im Gesamtstaat inzwischen wieder fast genauso groß wie vor dem Krieg, allerdings ist der Anteil an der Bevölkerung auf dem Territorium der heutigen Föderation höher, auf dem der Republika Srpska geringer, eine offensichtliche Folge

46 In Klammern die Anteile aufgrund der Volkszählung 1991, vgl. Tab. 1. – Die Zahlen in der rechten Spalte sind unter Rückgriff auf Tabelle 1 von mir errechnet. 47 Federalni zavod za statistiku (Hg.): Statisti ki godišnjak/ljetopis 2010, S. 68 (5-9). 48 Republi ki zavod za statistiku (Hg.): Statisti ki godišnjak Republike Srpske 2010; unter: http://www.rzs.rs.ba/PublikGodisnjak2010LAT.htm vom 19.04.2011, S. 63 (5.1). 49 In Analogie zu den anderen, den Ergebnissen von 1991 ähnlichen Zahlen, von mir wie für 1991 gesetzt. 50 Eigene Aufsummierung! – Die auf den Seiten des Auswärtigen Amtes genannte Zahl von 4,6 Mio. „basierend auf einer Schätzung von 2011“ ist nicht sehr weit hiervon entfernt, vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/ DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Bos nienUndHerzegowina_node.html vom 21.04.2011.

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davon, dass sich die großen „ethnischen Säuberungen“ 1992 auf letzterem Gebiet abspielten. Man hat auch die Möglichkeit, getrennt nach den Entitäten Zahlen für die „anwesende Bevölkerung“ im Jahr 2007 zusammenzustellen. Allerdings sind die Quellen nicht gleichrangig: Nur das Statistische Jahrbuch der Föderation bietet, wie gesagt, neben einer Spalte „Ständige Bevölkerung“ auch eine Spalte „Anwesende Bevölkerung“, der Unterschied liegt durchgehend von 1996 bis 2009 bei ungefähr 500.000. Für die Republika Srpska greife ich auf den Wikipedia-Artikel ja  , „Demographie der Republika Srpska“, zurück, der, wahrscheinlich aufgrund von Zugang zu nichtöffentlichen amtlichen Daten, für 2007 eine Schätzung von 1,215 Mio. „anwesender Bevölkerung“ vornimmt. Die hier genannten Zahlen für die „ständige Bevölkerung“ decken sich mit den Zahlen aus den offiziösen Quellen. Die Differenz liegt also in der Republika Srpska bei gut 200.000.

Tab. 4: Die anwesende Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina 2007

Föderation

2,328 Mio. 51

% an der Gesamtbevölkerung 64,43 %

Republika Srpska

1,215 Mio.52

33,63 %

53

2,21 %

Distrikt Br ko

0,080 Mio.

Bosnien und Herzegowina

54

3,613 Mio.

51 Federalni zavod za statistiku (Hg.): Statisti ki godišnjak/ljetopis 2010, S. 68 (5-9). 52 Siehe http://sr.wikipedia.org/wiki/ ja__ vom 10.04.2011. 53 Geschätzt durch Postulieren einer Differenz gegenüber der „ständigen Bevölkerung“. 54 Errechnet aus den Anteilen der Föderation, der Republika Srpska und Br ko. – Ohne nähere Aufschlüsselung findet sich eine noch etwas niedrigere

Zahl

prisutno

stanovništvo

3.447.156

(2009)

unter

URL:

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Die Relationen zwischen den Territorien (Spalte 3 in den Tabellen 3 und 4) unterscheiden sich demnach nur geringfügig gegenüber der Berechnung für die „ständige Bevölkerung“. Es ist allerdings bedauerlich, dass keine Vergleichsgrößen für die „anwesende Bevölkerung“ 1991 vorliegen, denn erst dann könnte man die Auswirkungen des Krieges auf die Siedlungsdichte angemessen bestimmen. Jetzt bleibt nur zu vermuten, dass die Differenz zwischen „ständiger“ und „anwesender Bevölkerung“ vor 1991 deutlich geringer gewesen ist, d. h. dass die reale Siedlungsdichte doch höher als in der Gegenwart war. Erstaunlich ist nun, dass die hier durchgeführte Aufsummierung für den Gesamtstaat nicht mit der Zahl übereinstimmt, die von der Gesamtstaat-Agentur für Statistik genannt wird, nämlich 3,842 Mio. Anwesender Bevölkerung für 2007 und 3,843 Mio. für 2009.55 Wie konnte diese Zahl zustandekommen? Anscheinend ist für die Föderation die „anwesende Bevölkerung“ zugrundegelegt, für die Republika Srpska die „ständige Bevölkerung“:

http://www.sdnt.byethost6.com/PopisStanovnistva1991.htm vom 13.04. 2011. – Aufsummierung in der letzten 100,28 % durch Rundungsgewinne. 55 Agencija za statistiku Bosne i Hercegovine (Hg.): Demografija, Sarajevo 2010

(=Tematski

bilten

02);

bilteni/DEM_2009_002_01-bh.pdf

unter: vom

http://www.bhas.ba/tematski 02.04.20119.

Stanovništvo.

Procjena sredinom godine, mit dem Vermerk für die ganze Zahlenreihe von 1996 bis 2009: Stanovništvo de facto / Population de facto; die Zahl für 2009 ist schon unter Opi podaci, „Allgemeine Angaben“ zum Land, genannt und explizit auf die prisutni, „Anwesende“ bezogen.

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IN

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| 207

Tab. 5: Die falsche Berechnung der Gesamtbevölkerung für 2009 % an Gesamtbevölkerung Bosnien und

3,843 Mio.

100,00

Herzegowina Föderation

2,327

60,55 (62,1)

56

Mio. Republika Srpska

1,435

37,34 (35,9)

57

Mio. Distrikt Br ko

0,081

2,37

(2,0)

58

Mio.

Rechnet man die Zahlen für die Föderation und die Republika Srpska zusammen und zieht sie von der Gesamtzahl ab, erhält man die realistische Zahl von 0,081 Mio. für den Distrikt Br ko. An diesen Zahlenverhältnissen unglaubwürdig ist der Umstand, dass ihnen zufolge der Anteil der Bevölkerung auf dem Gebiet der Republik Srpska sogar gewachsen wäre!59 Die Zahl ist auch weit entfernt von den Zahlen für die anwesende und für die ständige Bevölkerung 1997 (vgl. Tab. 2 und die Auflistung

56 Federalni zavod za statistiku (Hg.): Statisti ki godišnjak/ljetopis 2010, S. 68 (5-9). – Die Prozentanteile sind erst von mir berechnet. In Klammern wieder die Verhältnisse 1991. 57 Republi ki zavod (Hg.): Statisti ki godišnjak Republike Srpske 2010. Stanovništvo, S. 63 (5.1). 58 Errechnet aus den anderen Zahlen in der Spalte. 59 Ohne dass sich die Gewichtungen signifikant verschieben, bietet http://www.worldstatesmen.org/Bosnia.htm vom 08.04.2010 für 2008 nur wenig abweichende, damit ebenso unglaubwürdige Zahlen, diese sind in eine Tabelle übernommen im Wikipedia-Artikel: Rat u Bosni i Hercegovini. Promjena stanovništva 1991./2008; unter: http://hr.wikipedia.org/ wiki/Rat_u_Bosni_i_Hercegovini#cite_note-world-209 vom 08.04.2011.

208 | LUDWIG STEINDORFF

darunter), sie liegt, bedingt durch den methodischen Fehler, ungefähr in der Mitte. Die Entvölkerung der ländlichen, passiven Gebiete ist durch den Krieg verstärkt worden, die großen städtischen Zentren sind gewachsen. Die durch den Krieg bewirkte ethnische Homogenisierung ist weitestgehend aufrecht erhalten worden, am ehesten sind noch Serben in das Gebiet der Föderation, so z. B. in die Gegend um Grahovo, in größerer Zahl zurückgekehrt. Da die statistischen Jahrbücher der Entitäten nicht nach Nationalitäten unterscheiden, gelangt man aus verschiedenen, nicht ganz kompatiblen Quellen zu nur ungefähren Ergebnissen, die allerdings in der Tendenz stimmig sein dürften. Zur Verfügung stehen mir: Daten, die nach Angabe der genutzten Internetseite vom Statistikinstitut der Föderation für 2003 für die „anwesende Bevölkerung“ zusammengestellt wurden, wie auch die erwähnten Angaben für die „anwesende Bevölkerung“ aus dem Wikipedia-Artikel ja   für 2007. Die Verwendung unterschiedlicher Jahre ist insofern nicht gravierend, da sich alle Zahlen im Jahrzehnt nach 2000 nur noch geringfügig geändert haben. Für den Distrikt Br ko bin ich von einer anwesenden Bevölkerung von 80.000 ausgegangen, die Verteilung habe ich aus der Volkszählung 1991 übernommen, nur den Anteil der „Jugoslawen“ gleichmäßig auf die drei Nationalitäten aufgeteilt. Im Übrigen ist der Prozentanteil von Br ko an der Gesamtbevölkerung so gering, dass diese Zahlen auf die Berechnungen wenig Auswirkung haben. In Klammern sind die Prozentzahlen laut Volkszählung 1991, also für die ständige Bevölkerung, angegeben. Ein direkter Vergleich ist zwar methodisch nicht einwandfrei, aber da wir schon aus dem Vergleich der Tabellen 3 und 4 gesehen haben, dass sich die jeweiligen Anteile der Bevölkerung in den Entitäten an der „ständigen Bevölkerung“ und an der „anwesenden Bevölkerung“ wenig unterscheiden, hat die Nebeneinanderstellung der Zahlen maßgebliche Aussagekraft. So ergibt sich folgende Tabelle:

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IN

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Tab. 6: Geschätzte Anteile der anwesenden Bevölkerung nach Volksgruppen im Zeitraum 2003-2007 Absolut

Bosniaken

Kroaten

Serben

An-

in Mio.

%

%

%

dere60 %

Föderation61

2,323

Republika Srpska

1,215

62

Br ko

0,080

Bosnien-

3,618 63

Herzegowina

72,9

21,6

4,5

1,2

(52,3)

(21,9)

(17,6)

(8,2)

7,5

0,8

91,8

---

(28,1)

(9,2)

(55,4)

(7,3)

46,2

27,5

22,9

3,3

(44,1)

(25,4)

(20,7)

(9,8)

50,3

14,6

34,2

0,9

(43,7)

(17,4)

(31,2)

(7,9)

Die Gruppe der „Anderen“, darunter 1991 ungefähr zwei Drittel Jugoslawen, hat sich stark verkleinert, mindestens die relative Mehrheit der damaligen Jugoslawen dürfte jetzt zu den Serben zählen. Der relative Anteil der Serben im Gesamtstaat ist durch die hinzugekommenen Jugoslawen wie auch durch den Rückgang des kroatischen Anteils gestiegen. Der bosniakische Anteil ist durch eine

60 Für 1991 einschließlich der Gruppe der Jugoslawen, sie ist in den Daten für 2003 bzw. 2007 nicht mehr ausgewiesen. 61 Federalni zavod za statistiku (auf Internetseite als Quelle genannt): Statistika stanovništva Federacije Bosne i Hercegovina za 2003 godinu; unter http://www.sdnt.byethost6.com/StanovnistvoFederacijeDecembar 2003.htm vom 14.04.2011. – In der Tabelle wird auch nach einzelnen Gemeinden differenziert, so dass z. B. die Rückkehr vieler Serben nach Grahovo dokumentiert ist. 62 http://sr.wikipedia.org/wiki/ ja__ vom 14. 04.2011. 63 Anwesende Gesamtbevölkerung durch Addition ermittelt. Die Zahl auf dieser Grundlage weicht nur minimal von der Zahl in Tabelle 3 ab.

210 | LUDWIG STEINDORFF

höhere Rückkehrerquote gestiegen, während viele Kroaten und Serben in Kroatien und Serbien geblieben sind oder dorthin noch abwandern. Auch dürfte die Geburtenrate bei den Bosniaken am höchsten, bei den Serben am niedrigsten sein. Durch Vertreibung und Abzug ist die Bevölkerungsverteilung ethnisch deutlich homogener als vor dem Krieg. Serben leben fast nur noch auf „ihrem“ Territorium und sind hier weitgehend unter sich. Der Rückgang des Anteiles der Kroaten ist fast ausschließlich durch Flucht und Vertreibung aus dem Gebiet der Republika Srpska zu erklären. Da auch in Mittelbosnien, innerhalb der Föderation, der kroatische Anteil in Folge des bosniakisch-kroatischen Krieges 19931994 zurückgegangen ist, dabei aber auf dem Gesamtgebiet der Föderation nur minimal gesunken ist, ist die Konzentration kroatischer Bevölkerung in den Mehrheitsgebieten in der Herzegowina offensichtlich noch gestiegen.64 Die zukünftige Bevölkerungsentwicklung im Land wird wahrscheinlich nicht nur von zeitweiliger oder dauerhafter Arbeitsemigration in die Nachbarländer und Westeuropa, sondern mindestens so sehr vom Rückgang der Geburtenraten bestimmt sein. Die Ergebnisse der Zwangsmigrationen in Bosnien-Herzegowina sind schließlich eng verbunden mit denen in Kroatien. Beim Vorrücken der kroatischen Armee 1995 ist der Großteil der Serben aus den seit 1991 serbisch kontrollierten Gebieten geflohen. An ihrer Stelle leben dort jetzt viele kroatische Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina – neben wenigen verbliebenen Serben und den kroatischen Rückkehrern, die 1991 in die kroatisch kontrollierten Gebiete Kroatiens geflohen waren. Die Folgen des Krieges in Bosnien-Herzegowina lassen sich nicht nur in unpersönlichen Zahlenwerken aufzeigen. Die Spuren sind im Bild der Städte und der Landschaft bis heute noch vielfach sichtbar. Noch immer lebt das Land mit Zehntausenden traumatisierter, zerschlagener

64 Die 14,6 % beruhen auf der für die Tabelle errechneten Zahl von 531.000. Diese Zahl deckt sich ungefähr mit der Schätzung von gut 500.000 Kroaten im Wikipedia-Artikel: Hrvati u Bosni i Hercegovini. 5 Demografija; unter http://hr.wikipedia.org/wiki/Hrvati_Bosne_i_Hercegovine#Demogra fija vom 14.04.2011.

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| 211

und beschädigter Familien, aus der Bahn geworfener Lebenswege. Und hierüber zu sprechen, dafür bieten sich auch Roman, Film und jede andere Form von künstlerischem Schaffen an.

Die Antigone von Katyń Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film DAS MASSAKER VON KATYŃ N ATASZA S TELMASZYK

P ROLOG P OST MORTEM Im April, Mai und im Sommer 1940 wurden rund um die Ortschaften Katyń, Smolensk, Kalinin (Twer), Mjednoje, Charkow und andere über 22.000 polnische Offiziere, Generäle und Polizisten von den Spezialeinheiten der russischen NKWD ermordet und in den nahe gelegenen Wäldern begraben. Unter den 30- bis 50-jährigen Opfern befanden sich neben Berufssoldaten auch Soldaten der Reserve: Militärseelsorger, Priester, Beamte, Ärzte, Universitätsprofessoren, Juristen, Lehrer, Ingenieure, Schriftsteller, Journalisten, Industrielle, Kaufmänner, Politiker, Aktivisten und andere1 – sprich die Elite der polnischen Gesellschaft. Jedes der Opfer, die eigentlich „Kriegsgefangene“ waren, wurde mit einem Genickschuss getötet.

1

Vgl.: Kampania społeczno-edukacyjna: Pamiętam. Katyń 1940: Kalendarium katyńskie. URL: http://www.pamietamkatyn1940.pl/upload/wkladka _nck_era.pdf vom 20.01.2012.

214 | NATASZA STELMASZYK

Alles geschah auf ausdrücklichen Befehl Stalins2 – eine Geheimaktion, die man noch lange nach dem Krieg von der Öffentlichkeit geheim zu halten versuchte. Dabei versuchte man geheim zu halten, wovon alle bereits seit 1943 wussten. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen, 1941 marschierten deutsche Truppen in die ehemals polnischen, von Sowjets besetzten Gebiete ein. 1943 entdeckten die Deutschen die Massengräber rund um Katyń. Russland bestritt seine Schuld und beschuldigte daraufhin Deutschland des Verbrechens. Doch daran glaubte man selbst in dem von HitlerDeutschland drangsalierten Polen nicht, den Einmarsch der Roten Armee am 17. September 1939 in die Ostgebiete Polens hatte man noch lebhaft in Erinnerung. Und dennoch: das Thema „Katyń“ bleibt in Polen nach dem Krieg bis zur Wende von 1989 fast 60 Jahre lang – zumindest offiziell – ein Tabu-Thema. Trotzdem war es jedem, der sich halbwegs für die geschichtlichen und politischen Gegebenheiten interessierte, auch nach dem Krieg bekannt. Der polnische Untergrund, die Kirche – die im kommunistischen Polen eine wichtige Rolle als Ort der politischen Aufklärung spielte – die Herausgeber der Zeitschriften und anderer Texte des Zweiten und Dritten Umlaufs in Polen und im westlichen Ausland, auch die Hinterbliebenen und die wenigen Überlebenden 3 haben die Bevölkerung auf ihre Art und nach ihren Möglichkeiten informiert.

2

Nach der unter falschem Vorwand angeordneten „Versammlung“ sowie Gefangennahme an mehreren Ortschaften wurden die Soldaten im Oktober 1939 in den sowjetischen Lagern in Kozielsk, Starobielsk und Ostaszkow inhaftiert. Von dort aus fuhren nach einigen Monaten die Züge weiter – u.a. Richtung Katyń. Den Erschießungsbefehl haben am 5. März 1940 die höchsten Sowjetfunktionäre, u.a. Stalin, Beria und Molotow, unterzeichnet. Alleine in Katyń wurden 4.421 Gefangene erschossen. (Vgl. ebd.)

3

Einer der überlebenden Augenzeugen, die von der Gefangenschaft berichtet haben, war der polnische Schriftsteller und Maler Józef Czapski (18961993).

D IE A NTIGONE VON K ATYŃ | 215

K ATYŃ IN DER S CHULE DER P OLNISCHEN K OMMUNISTISCHEN R EPUBLIK Ich ging in Polen in den 70er und 80er Jahren in die Schule. Davon, was 1940 in Katyń geschah, habe ich bereits zuhause erfahren. In der Grundschule war im Geschichtsunterricht selbstverständlich keine Rede von dem Verbrechen der Rotarmisten, die Schulbücher lobten die UdSSR als Freund der Polen und verklärten zahlreiche historische und politische Fakten. Im Lyzeum war es mit den Schulbüchern nicht anders, doch hatten wir in meiner Schule das ungewöhnliche Glück, von Geschichtslehrern zu lernen, die sich nicht vereinnahmen ließen und die Aufklärungsarbeit ungeachtet des offiziellen Schulplans nach Möglichkeiten geleistet haben. Die Lehrerin für Geschichte, die meine Klasse in den fortgeschrittenen Jahrgängen bis zum Abitur begleitete, hatte ihre eigene Methode, um den offiziellen Schulstoff zu umgehen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, als sie mit den von der Schulkommission zugelassenen Informationen fertig war, sagte sie nur: „Und jetzt legt eure Stifte beiseite, notiert nicht und hört genau zu ...“. Das, was in unseren Schulheften nicht festgehalten – für den Fall der Fälle also nicht oder zumindest schwieriger als Teil der Lektionen nachweisbar – war, blieb in unseren Köpfen hängen. Im Rahmen solcher Lektionen haben wir von ihr vom Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920 wie auch vom Hitler-Stalin-Pakt und den daraus resultierenden Angriffen nicht nur der Deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 im Westen, sondern auch der Roten Armee am 17. September 1939 im Osten erfahren. Natürlich sprach sie bei der Gelegenheit auch von den Geschehnissen rund um Katyń4. Spätestens da konnte ich das kleine

4

So natürlich war dieses Vorgehen aber nicht. Wenn schon in der Öffentlichkeit, in den Medien oder in der Schule im kommunistischen Polen die Rede von Katyń war, dann nur mit Angabe der falschen Gegebenheiten, woraus die Bezeichnung „Katyń-Lüge“ (Kłamstwo katyńskie) entstand. Der Katyń-Lüge glaubte auch W. Churchill. Der Kampf gegen die KatyńLüge hat auch lange nach dem Krieg zahlreiche Opfer gekostet. Zur Geschichte

der

Katyń-Lüge

siehe:

Pamietam.

Katyń

1940.

URL:

http://www.pamietamkatyn1940.pl/213.xml vom 20.01.2012. Auch die internationalen Experten der von der deutschen Seite organisierten Untersu-

216 | NATASZA STELMASZYK

Bild, das damals neben dem Abzeichen der Gewerkschaft „Solidarnosc“, dem „Opornik“ – einem Zeichen des Widerstands gegen den Kommunismus –, und weiteren Symbolen meiner „kleinen Rebellion“ gegen die vorherrschende politische Ordnung über meinem Schreibtisch hing, noch besser verstehen: Eine traurige Mutter Gottes, die mit Pietät den kahlen Kopf eines Menschen in ihren Händen hält – dabei handelte es sich nicht um den Kopf Jesu, denn dieser Kopf zeichnete sich durch ein klaffendes Loch im Hinterkopf aus.

M ATKA B OSKA VON K ATYŃ

K ATYŃSKA –

DIE

M UTTER G OTTES

Maria Dieses Abdruck eines „Heiligenbildes“5 mit der hl. Maria, das damals in den Kirchen verteilt wurde6 und in vielen Haushalten irgendwo hing oder zumindest in einer Schublade lag, war im Polen der 80er

chung der Massengräber von 1943, die die Schuld der Sowjetunion an dem Massaker bestätigt haben, wurden nach dem Krieg von der UdSSR und der NKWD verfolgt. Auch ihre Familien haben daran gelitten, wie z.B. Dr. Helge Thramsen aus Stockholm. Siehe dazu u. a.: Richter, Wolfgang: Die Pathologen von Katyń. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.04.2010, Seite 5. URL: http://www.jb-schnittstelle.de/wer/wolf gang_richter/FAS_Katyn_Richter.pdf vom 20.01.2012. 5

Die hier gemeinte Abbildung war eigentlich eine Kopie der vielzitierten Lithografie der Künstlerin Danuta Staszewska. Kleine Abweichungen waren deshalb unvermeidbar.

6

Als „Mutter Gottes von Katyń“ („Matka Boska Katyńska“) werden auch andere Darstellungen Marias bezeichnet. Wie z. B. die „Mutter Gottes von Kozielsk“, dessen Bild von einem der Gefangenen und Ermordeten aus einem Stück hölzerner Pritsche geschnitzt und von seinem überlebenden Sohn nach Polen gebracht wurde. (Vgl. Zawisza, Jerzy: Matka Boska Katyńska. In: Pamiętam. Katyń 1940. URL: http://www.pamietamkatyn 1940.pl/223.xml vom 20.01.2012.) Das hier beschriebene Motiv ist aber die bekannteste „Matka Boska Katyńska“.

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Jahre ein besonderes Symbol des Massakers von Katyń und der Erinnerung an dieses Geschehen. Es war ein vielsprechendes Bild, ein Bild einer mit Schmerzen erfüllten Frau – hier durch Maria vertreten – die um ihren Mann, ihren Sohn, ihren Vater trauert. Ein Symbol für diejenigen Hinterbliebenen, die nicht mit aller Gewissheit – da ihnen diese verwehrt wurde – jedoch mit einer bösen Vorahnung wussten, dass auch ihr Angehöriger von dem Familienangehörigen mit dem kahlen, in der Mitte durchgeschossenen Kopf symbolisiert wird. Auch noch nach vielen Jahren seit dem Ende des II. Weltkriegs bis zu der Wende von 1989 war es „nur“ ein Symbol, in einigen Fällen ist es für die Nachkommen immer noch so, denn alle Namen der über 22.000 Ermordeten (auch die genauen Zahlen sind unklar) sind immer noch nicht bekannt. Nur ein recht großer Teil der Opfer konnte nach kompliziert verlaufenden politischen Gesprächen und Übergabe der Dokumente durch Gorbatschow identifiziert werden.

ANDRZEJ W AJDA UND

SEINE

M UTTER

Aniela Zu den Frauen, die auf dem Bild der „Mutter Gottes von Katyń“ symbolisiert wurden, gehörte bis zu ihrem Tode 1950 auch Aniela Wajda, die Mutter des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda. Sein Vater Jakub Wajda, Hauptmann der polnischen Armee, ist – wovon sein Sohn erst viel später erfahren hat – nach Angaben des Regisseurs im Kriegsgefangenenlager in Starobielsk gefangen gehalten worden. Danach verlor sich jede Spur, die Familie vermutet heute, dass er eines der Opfer der Morde ist, die so nicht nur in Katyń geschahen. Die Zeit danach war im Hause Wajda mit Warten auf jemanden gekennzeichnet, der nie zurückkam: „Ich erinnere mich sehr gut an die Unruhe, die Hoffnungen und die Verzweiflung meiner Mutter“ 7, wird der Regisseur später sagen. Seine Mutter ähnelt viele Jahre später Anna, einer der Protagonistinnen des vielleicht wichtigsten Films Wajdas, wahr-

7

Katyń. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/Katyn.html vom 20.01.2012.

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scheinlich auch eines der bedeutendsten Filme der polnischen zeitgenössischen Kinematografie überhaupt. Dennoch war die Entscheidung, wie viel von der eigenen Familiengeschichte in dem Bild gezeigt werden soll, für Wajda nicht leicht: „Ich habe ja bereits seit mehreren Jahren versucht, irgendwie an die Tragödie von Katyń heranzukommen, aber einen derart dämonischen Widerstand eines Stoffes habe ich noch nie erlebt! Es gab ein großes Dilemma: Wie soll die Geschichte von Katyń gezeigt werden? Als die Tragödie einer ganzen Nation oder als persönliches dramatisches Ereignis meiner Mutter?“ 8 Wajdas Bild ist im Endeffekt sowohl weder das eine, noch das andere wie auch beides zugleich geworden.

K ATYŃ

ALS

F ILMSTOFF

Sicherlich gehört die filmische, von Zensur unbelastete Aufarbeitung der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu den wesentlichsten Aufgaben des nationalen Kulturbetriebs. Ermöglicht sie doch eine kompromisslose Auseinandersetzung mit dem psychomentalen Zustand einer Gesellschaft9,

schreibt der Osteuropaexperte Wolfgang Schlott. Die politische Wende von 1989 hat die Tür für eine solche unbelastete Aufarbeitung der bislang verkannten, von der Kunst gemiedenen, vergessenen oder falsch interpretierten bzw. nicht im vollen Umfang dargestellten Ereignisse geöffnet. Dennoch hat sich – außer den Historikern und anderen Wissenschaftlern – kaum ein Schriftsteller oder Filmemacher an dieses Thema und andere schwierige Themen herangewagt. Wohl nicht nur wegen der Zeit, die seit dem Geschehen vergangen ist, son-

8

Kostjukowitsch, Anastasija: Ein Mann aus Fleisch und Blut. Andrzej Wajda über seinen neuen Film über das Massaker in Katyń. Interview. In: Jüdische Zeitung, Mai 2007. URL: http://www.j-zeit.de/archiv/artikel. 247.html vom 20.01.2012.

9

Schlott, Wolfgang: Unter Zugzwang: der polnische Spielfilm heute. In: Deutsches Polen Institut u.a. (Hg.): Polen-Analysen. Der polnische Film. Nr. 59, 20.10.2009, S. 2. URL: http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/ PolenAnalysen59.pdf vom 20.01.2012.

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dern vermutlich vielmehr wegen der Gewichtung der historischen Aspekte und der Schwierigkeit, sie so darzustellen, dass ihre künstlerische Adaptation das Publikum und seine Erwartungen an die Beschreibung der „Nationalepen“ erfüllt. So musste anscheinend etwas Zeit vergehen, bis auch das Thema Katyń Bearbeitungen in Buchform fand. Doch selbst dann entstanden nur wenige Werke, die sich diesem Thema künstlerisch zu nähern wagten – an wissenschaftlichen Untersuchungen und historischen Publikationen hat es nicht gefehlt. Andrzej Wajda selbst hat schon frühzeitig den Entschluss gefasst, einen seiner Filme diesem Thema zu widmen, doch ähnlich wie Roman Polanski bis zum epochalen Werk DER PIANIST auf eine geeignete literarische Vorlage gewartet hatte, wartete Wajda ebenfalls auf ein Buch, das das Thema „Katyń“ seinen Erwartungen als Regisseur und Sohn eines der Ermordeten entsprechend darstellte. Er wollte bewusst keinen historischen Film machen, denn die Geschichte wurde ausreichend in anderen Formen und Filmen bearbeitet. Wajda suchte bereits seit der Wende nach einer Vorlage, die echte menschliche Schicksale geschildert hätte und die nicht nur von den Ermordeten, sondern auch von den Hinterbliebenen in ausreichendem Maße und aus einem menschen-, nicht geschichtsnahen Blickwinkel erzählen würde. Einen solchen Text hat er erst in dem an echten Schicksalen orientierten Manuskript des Drehbuchautors Andrzej Mularczyk Post mortem gefunden.10 Ergänzend bediente sich Wajda den deutschen Veröffentlichungen, Briefen der ermordeten Soldaten und ihrer Kinder sowie einem Tagebuch des Majors Adam Solski, das bei den Exhumierungen im Wald nahe Katyń gefunden wurde – das Tagebuch selbst spielte auch eine Rolle im Film. Mularczyks Hauptfiguren waren drei Männer und – was hier ausschlaggebend war – drei Frauen, die das Schicksal „Katyń“ am eigenen Leibe als Opfer und als deren Angehörige erfahren haben. In Wajdas Film werden sechs Frauen als Vertreterinnen der Hinterbliebenen und ihrer Nachkommen porträtiert. „Es ist ein Film, der aus der Sicht der Überlebenden gestaltet, keine unmittelbare Anklage erhebt, sondern die Fakten als solche (Dokumentieren der Erschießung, Ver-

10 Mularczyk, Andrzej: Katyń. Post mortem. Muza: Warszawa 2007.

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tuschung der Schuld, die durch die polnischen Zensurbehörden verhinderte Auskunft über die Opfer) benennt.“11 Zweifelsohne hatte die Entstehung von KATYŃ ihren wichtigsten Grund in der familiären Geschichte, doch gab Wajda auch an, den Film machen zu müssen, da es an einer Verarbeitung dieses Stoffs in der polnischen Kinematografie bis dahin noch gefehlt habe. 12 Solche Versuche gab es auch schon vor der Wende, doch die Zensur hat sie im Keim ersticken lassen. Wajda hat sich an dem Stoff wie an den Geistern der eigenen Vergangenheit gemessen, bis endlich der lang erwartete Film genau am 68. Jahrestag der Geschehnisse in Katyń am 17. September 2007 in den polnischen Kinos startete.

D IE F RAUEN

IN

Katyń

In seinem 2007 fertig gestellten Film KATYŃ13 (nur in recht wenig ausgewählten deutschen Kinos unter dem Titel DAS MASSAKER VON KATYŃ gelaufen) zeichnet Wajda vor allem fünf Studien der unterschiedlichen Frauencharaktere; Frauen, die, so unterschiedlich sie sind, so unterschiedlich auch auf das, was mit ihren Angehörigen in Katyń geschehen ist, reagieren. Diese Frauenfiguren symbolisieren zugleich auch unterschiedliche Herangehensweisen der polnischen Gesellschaft an das Thema „Katyń“ nach dem Krieg – wohlbemerkt nicht alle, da z. B. im Hinblick auf ihr Schicksal eindeutig negative Charaktere hier verständlicherweise fehlen (müssen), nur Irena ist eine ambivalente Figur, bewahrt in ihren Aussagen aber noch die letzte

11 Schlott, Wolfgang: Unter Zugzwang: der polnische Spielfilm heute. In: Deutsches Polen Institut u.a. (Hg.): Polen-Analysen. Der polnische Film. Nr. 59, 20.10.2009, S. 5. URL: http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/ PolenAnalysen59.pdf vom 20.1.2012. 12 Hollender, Barbara: Nie mogę stać z boku. Interview. In: Rzeczpospolita, 06.03.2006. URL: http//www.rzeczpospolita.pl. Vollständig zitiert unter URL: http://www.wajda.pl/pl/wywiad80.html vom 20.1.2012. 13 DVD – Wajda, Andrzej: KATYŃ. Film. 2008 (Kinoversion: 2007). Der Film wurde für den Oscar-Preis 2008 nominiert in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“.

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Würde.14 Vor allem aber thematisiert der Film „das Geheimnis und die Lüge“15, die um das Verbrechen gesponnen wurden, mit denen die hier dargestellten Frauen stellvertretend fertig werden müssen, es aber kaum schaffen. „Ich sehe meinen Film über Katyń als Erzählung über die für immer zerrissene Familie, über große Enttäuschungen und brutale Wirklichkeit. [...] ein Film über das Leid und nicht über die allgegenwärtige Politik. Deshalb suche ich hier keine Antwort auf Fragen, die längst beantwortet wurden, sondern rufe Bilder hervor, die eine viel größere Gefühlstiefe aufweisen.“16, erklärt Wajda das eigentliche Thema des Films. Es ist auch ein Bild über das Warten: „Dieses Warten soll das Thema der Erzählung sein. Ein treues und in seiner Zuversicht unerschütterliches Warten, in der Zuversicht, dass es doch nur ausreicht die Tür zu öffnen und es wird hinter ihr der lang erwartete Mensch – Ehemann und Vater stehen“.17 Die psychologische Ebene, die bei solchen schwerwiegenden Ereignissen neben der politischen und historischen am interessantesten – vielleicht sogar am wichtigsten – ist, spielt im Bild Wajdas eine herausragende Rolle. Dieser Film lässt wohl kaum jemanden kalt, unberührt, gedankenlos. Bei polnischen Zuschauern hat er genauso viele Befürworter wie auch Kritiker18 gefunden – ein Beleg dafür, dass es unmöglich ist, allen – vor allem bei solch schwerwiegenden Themen – gerecht zu werden, was Wajda auch gar nicht angestrebt hatte. Die

14 Einige Zuschauer kritisierten Wajda für den Einsatz von fast nur positiven Charakteren in dem Film, was ihrer Meinung nach der Realität nicht entsprechen konnte. Siehe z. B. die Rezension einer anonymer Internetnutzerin: Szukając Wajdy, die 81% der 16 an der Abstimmung teilnehmenden Leser

haben.

URL:

http://www.filmweg.pl/user/Nusia/reviews/Szukajac+Wajdy-5536

des

Textes

als

hilfreich

empfunden

vom

20.01.2012. 15 KATYŃ. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/Katyn.html vom 20.01.2012. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Siehe dazu als Beispiel sowohl positive wie auch negative Stimmen der Studenten auf dem Server Tawerna RPG (Biblioteka światów). URL: http://bs.tawerna.rpg.pl/Katyn-recenzja-filmu-a228.php vom 20.01.2012.

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Frauenrollen, die dem Zuschauer im Film Wajdas präsentiert werden, zeigen zugleich das Tiefgründige und das Vielfältige der unterschiedlichen „Bearbeitungsformen“ des Geschehens. Die Archetypen der Frauen in K ATYŃ Das offizielle Plakat der polnischen Kinowerbung zum Film zeigt die Gesichter der drei männlichen Hauptfiguren, der Ermordeten von Katyń, denn um sie geht es hier in erster Linie. Doch ihr Schicksal wird im Bild Wajdas durch die Frauen und ihr Handeln während und nach dem Krieg gezeichnet. Es ist ein Mittel, dessen Einsatz notwendig war, um so intensiv wie möglich die menschliche, tragische Geschichte der einzelnen Personen lebendig werden zu lassen, ohne dabei zu sehr in die verallgemeinernde historisch-politische Darstellungsweise zu verfallen. Das war Wajda nicht nur aus persönlichen Gründen wichtig, sondern auch, weil er dem Medium Film eine erzieherische und aufklärerische Rolle zuschreibt.19 Die sechs Frauen in Wajdas KATYŃ sind für den Zuschauer Archetypen der Frauenfigur überhaupt und Modelle des möglichen eigenen Handels. Vor allem zwei von ihnen, zwei Schwestern, deren Bruder in Katyń ermordet wurde, hat der polnische Regisseur mit archetypischen, mythologischen Merkmalen ausgestattet. Dabei bleiben sie in ihrem Handeln und Denken absolut menschlich und für den Zuschauer nachvollziehbar.

19 Begleitend zum Film hat man die Bildungsaktion für die Schulen Pamiętam. Katyń 1940 unter der Schirmherrschaft des polnischen Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe ins Leben gerufen. URL: http://www.pamietamkatyn1940.pl, Stand 20.01.2012. Eine weitere Platt form in Anlehnung an die Filmproduktion informiert über die Geschehnisse um Katyń in mehreren Sprachen unter http://www.katyncrime.pl vom 20.01.2012.

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Auf die Berufung auf Frauengestalten der griechischen Mythologie macht Wajda selbst aufmerksam, indem er Agnieszka und Irena als Antigone und Ismena identifiziert.20 Bemerkenswert ist, dass Wajdas Protagonisten keine Nachnamen haben, jedoch aus real existierenden Prototypen zusammengebaute Figuren sind. Auch die Männer stellen hier bestimmte Typen dar: Andrzej, Jerzy, „Pilot“ sind „Archetypen polnischer Offiziere, Ehemänner, Söhne, Väter. Weil man dort [...] nicht nur [...] die Männer, Kriegsgefangene ermordet hat. [...] Das Wichtigste ist, dass es in Wirklichkeit unwiderruflich das Ende des damaligen Polens war.“ 21 Auf dieses „damalige Polen“ wird sich Agnieszka, eine der Frauenfiguren, in dem Film berufen. Katyń und seine Frauencharaktere Anna „Anna erinnert mich in ihrem Handeln an meine Mutter, die sich nie damit abgefunden hat, dass mein Vater aus dem Krieg nicht zurückgekehrt ist, die ununterbrochen auf der Suche nach irgendwelchen Zeichen war, die ihre Hoffnungen bestätigt hätten“22,

sagt Andrzej Wajda. Die Figur der Anna hat er auch anhand des in Katyń gefundenen Tagebuchs von Adam Solski erschaffen – sein Autor hat die Aufzeichnungen wohl an seine Hinterbliebenen adressiert. (Solche Tagebücher haben mehrere der Ermordeten hinterlassen: Das Schreiben fingen sie oft noch in der Hoffnung an, die letzten Sätze wurden womöglich in einer unangenehmen Unsicherheit oder sogar in einer schrecklichen Gewissheit geschrieben.) Anna ist diejenige Protagonistin des Films, die erst nachdem sie in den in Katyń entdeckten

20 KATYŃ. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/katyn.html, Stand 20.01. 2012. 21 Masłon, Krzysztof: „Po ,Katyńiu‘ można tylko milczeć“, in: Rzeczpospolita, 13.09.2007. Zit. in: Katyń. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/ katyn.html vom 20.01.2012. 22 KATYŃ. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/katyn.html vom 20.01.2012.

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Notizen ihres Mannes seine letzten Sätze liest, anfängt das unwiderruflich Geschehene zu ahnen – doch nicht endgültig anzunehmen. Bis dahin aber kämpft sie mit und gegen alle sonstigen Hinweise und sicheren Aussagen anderer, die ihre Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes und Vaters der gemeinsamen Tochter zunichtemachen würden. Zuerst aber findet Anna Andrzej an seinem Versammlungsort, dem ersten Übergangslager, und versucht ihn zur Flucht zu überreden. Doch das lassen sein Soldatenstolz und das Verantwortungsgefühl gegenüber der Armee und Polen nicht zu. Andrzej ist zu dem Zeitpunkt noch sicher, dass man im Krieg keine Kriegsgefangenen tötet und dass Frankreich und England Polen bald helfen würden, so dass er für sein Land noch kämpfen können wird. Der Preis, den er und tausende andere für ihre Hoffnung bezahlen werden, ist hoch und wird nicht nur ihr Leben betreffen. Anna muss während der russischen Besatzung gegen Kriegsende widerwillig ihre Wohnung mit einem russischen Kapitän teilen. Auch ihre Schwester samt Tochter, deren Mann ebenfalls von der NKWD gefangen genommen wurde, lebt im gleichen Haus. Wajda schafft in dieser Gestalt des russischen Soldaten eine positive Figur. Der Kapitän teilt verbotenerweise mit Anna sein Wissen über das Schicksal der polnischen Offiziere: „Es gibt sie nicht mehr.“ Auch weiß er Bescheid, dass nun die Frauen und Familien der ermordeten Soldaten gesucht werden. Er rettet Anna und ihrer Tochter das Leben, doch ihre Schwester und Nichte werden abgeführt. Niemand kennt ihr zukünftiges Schicksal – man ahnt es aber. Auch der Kapitän ist sich seiner baldigen Verhaftung durch die eigenen Landsleute sicher. Als im April 1943 die sog. „Katyń-Liste“ von den deutschen Besatzungsmächten in Polen publiziert wird, fehlt auf ihr der Name Andrzejs. Alle anderen, die mit ihm im gleichen Lager über Monate hinweg gefangen gehalten wurden – darunter der General, Ehemann von Roza und sein Kapitän Jerzy – werden in der Publikation namentlich genannt. Doch Jerzy überlebt (die Tochter von Andrzej wird ihn aus Sehnsucht nach ihrem Vater mit diesem verwechseln) und erscheint eines Tages im Jahr 1945 als Oberleutnant in der Uniform des Soldaten der kommunistischen Regierung in Krakau bei Anna, um ihr

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die Verwechslung klar zu machen: Er hat Andrzej im Lager seinen Pulli geliehen, auf dem der Name Jerzys stand. Später erhält Anna nach Bemühen Jerzys die von Polen in Katyń nach dem Krieg geretteten und geheim gehaltenen persönlichen Sachen ihres Mannes – darunter auch das Tagebuch. Das geschieht allerdings erst nach dem Freitod Jerzys, von dem Anna bei der Übergabe des Tagebuchs erfährt. (Dabei ist sie zuerst überzeugt, dass das Klopfen an der Tür kein Bote, sondern ihr zurückgekehrter Mann verursacht.) Seine Aufzeichnungen dokumentieren seine letzten Tage und enden schließlich am Morgen des 9. April 1940.23 Die letzten Aufzeichnungen von Solski werden wortwörtlich vom filmischen Andrzej zitiert: Eine nüchterne „Bestandsaufnahme“ der Gegenstände, die dem Soldaten bei der Revision entnommen wurden. Nur Augenblicke danach wird Andrzej im Wald durch einen Genickschuss ermordet und am gleichen Ort im Massengrab verschüttet. Weitere Seiten sind leer – nur mit (Blut?)Flecken beschmutzt. Diesem Tagebuch wird im Film eine beinah minutenlange Sequenz gewidmet. Mit Pietät wird dieses Zeugnis des Verbrechens wie eine Reliquie, die es auch für die Hinterbliebenen in Wirklichkeit ist, von der Filmkamera aufgezeichnet. Annas Neffe kommt nach dem Krieg heil nach Krakau, lässt sich bei der Tante, die mittlerweile bei einem Fotograf arbeitet, ein Bewer-

23 Das Original-Tagebuch endet plötzlich um 5 Uhr morgens am 9. April 1940. Siehe dazu: Katyń Crime. URL: http://katyncrime.pl/Aus,dem, Tagebuch,von,Adam,Solski,ermordet,in,Katyń,386.html vom 20.01.2012. Wajda orientiert sich in „Katyń“ stark an den Aufzeichnungen und an den ihm zugänglichen Informationen über Solski und zeichnet den möglichen Verauf seiner letzten Minuten und seines Todes nach. Zu Solski siehe auch: Deutsche Informationsstelle: Amtliches Material zum Massenmord von Katyń. Zentralverlag der NSDAP, Berlin 1943, S. 31. URL: http://www.katyn-books.ru/archive/amtliches/amtliches_material.html vom 20.01.2012. Major Adam Solski wird in dem Dokument als „Leiche Nr. 490“ genannt. Hierbei die Notiz der Autoren des Materials: „Solski, Adam, Major, 57. Inf.-Rgt. ͒ 2 Notizbücher, Impfzettel, 2 Medaillons, Rechnung, ärztl. Überweisungsschein, russisches Schreiben aus dem Lager, Zettel mit Adressen.“ (Ebd., S. 178).

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bungsfoto für die Schule machen. In der Schule erkennt er in der Direktorin die Frau von einem Foto auf dem Schreibtisch der Tante – Irena, die sich von dieser von der Rückkehr ihrer Schwester zeugenden Information jedoch wenig beeindruckt zeigt, wie jemand, der in der Unterdrückung der Gedanken und Gefühle bereits geübt ist. Als Sohn des Offiziers, der ebenfalls in Katyń ums Leben kam und dessen Frau und Tochter anschließend verschleppt wurden, schreibt er Todesort und -datum seines Vaters in den Bewerbungsbogen. Irena, wohlwissend was es für den jungen Mann bedeutet und selbst der kommunistischen Regierung treu, ordnet Änderung an: „Dieses Land muss aus den Ruinen aufgebaut werden und wer macht das, wenn ihr euch alle töten lässt?“. Mit seiner Biografie zählt der Offizierssohn automatisch zu den Verlierern in dem der Sowjetunion treuen polnischen Staat. „Ich habe nur eine Biografie“, wehrt er sich. Als ehemaliger Untergrundkämpfer ist er sogar doppelt gefährdet. Irena will ihn trotzdem zum Abitur zulassen, doch er stirbt noch am gleichen Tag, nachdem er beim Abreißen eines russischen Propagandaplakats verfolgt wird. Augenblicke davor trifft und rettet ihn nur für kurze Zeit die Tochter von Roza, der Generalsfrau. Zum verabredeten Kinobesuch wird ihre neue Bekanntschaft nie erscheinen. Maria Auch Annas Schwiegermutter, Maria, muss schließlich alle Hoffnung aufgeben – trotz ihres unerschütterlichen Glaubens an einen Gott, der es nicht zulassen kann, dass ihr gleich zwei nahe Personen genommen werden. Während ihr Sohn in Katyń ermordet wird, stirbt ihr Mann, der von der Gestapo von der Krakauer Jagiellonen Universität zusammen mit anderen Professoren verschleppt wird, im Konzentrationslager. „Die Deutschen haben alle Professoren und Mitarbeiter der Universität zu einem Vortrag des Obersturmbannführers Müller ‚eingeladen‘.“ Es war ein Vorwand: „Die Gestapo hat 144 Professoren und Mitarbeiter sowie andere Personen [die zu dem ‚Vortrag‘ erschienen sind] verhaftet und nach Sachsenhausen geschickt [...]“. 24

24 Waltos, Stanislaw: Uniwersytet Jagiellonski – Historia. URL: http://www. uj.edu.pl/uniwersytet/historia vom 20.01.2012.

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Wajda vergisst in seinem Film auch dieses Ereignis nicht, erinnert unmissverständlich daran, dass beide Mächte Polen und – was im Vorfeld präzise und mit Vorsatz vorbereitet wurde – als Erstes die polnische Intelligenz als notwendige Garantie für kulturellen und intellektuellen Bestand der Gesellschaft rücksichtslos vernichten wollten. Die filmische Maria hegt Selbstzweifel, da sie ihren Mann in Anbetracht seines Pflichtbewusstseins – der Vater und der Sohn lebten gleiche Ideale – und das Böse nicht ahnend am 6. November 1939 aus dem Haus gehen ließ. In ihrer Verzweiflung nach dem Verlust des Mannes beschuldigt sie ihre Schwiegertochter Anna, ihren Sohn nicht ausreichend davon überzeugt zu haben, das Übergangslager, solange es noch möglich war, zu verlassen. Zu dem Zeitpunkt glauben beide noch, dass Andrzej sich gerettet hat. Und beide wissen insgeheim, dass sie nicht mehr tun konnten, um ihre Männer von dem ungewissen Schicksal zu bewahren als das, was sie getan haben. Dennoch sind die Schuldgefühle stärker. Auch hierbei wird eine der Tragödien tausender Hinterbliebener der „Katyń-Opfer“ thematisiert. Roza Am Weihnachtsabend deckt Roza – außer dem traditionell für einen unbekannten Gast aufgetischten Gedeck – einen Platz für Ihren Mann. Doch – und das weiß sie – wird er an diesem Tag nicht kommen. Was sie noch nicht weiß, ist, dass er nie mehr kommen wird, da auch er in demselben Transport zu den Wäldern von Katyń war wie viele „seiner“ Soldaten, darunter Andrzej. In der Weihnachtsrede an die Kameraden noch im Lager ist der General voller Zuversicht, dass sie alle die nächste Heilige Nacht mit ihren Frauen und den Familien feiern werden – doch dazu wird es nicht mehr kommen. Roza wird von den Deutschen über das Verbrechen der NKWD an den Offizieren, darunter ihrem Mann, informiert. Zugleich wird ihr unmissverständlich nahe gelegt, als Zeugin der Schuld der Sowjetunion zu agieren. Als sie ablehnt – sie weiß zwar, dass es die Wahrheit ist, will aber zu Propagandazwecken der Besatzer nicht ausgenutzt werden –, wird ihr der Film IM WALD VON KATYŃ gezeigt, der 1943 breiten Teilen der polnischen Bevölkerung zu politischen Zwecken

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(und nicht vorrangig zur Information) in den Kinos gezeigt wurde. 25 Nach Kriegsende wird auf den Straßen Polens wiederum der russische Propagandafilm von Katyń gezeigt, der die Wehrmacht der Verbrechen beschuldigt und nachdrücklich von 1941 als Zeitraum des Mordes spricht (denn erst zu diesem Zeitpunkt ist die Wehrmacht in die Gebiete, um die es sich hier handelt, einmarschiert). Die filmische Roza sieht auch diesen Film und protestiert gegen die Lüge. 26 Von Jerzy noch rechtzeitig mitgenommen – der Verhaftung also entkommen – wirft Roza ihm vor, sich durch das „Mitkommen“ mit den Machthabern des Verrats an seinen Kollegen und Polen schuldig gemacht zu haben. Er wird es bald auch so wahrnehmen und nach dem laustarken Verlautbaren „der Wahrheit, die jeder kannte, sie aber totgeschwiegen hatte“ in einer Soldatenkneipe versetzt er sich den tödlichen Schuss in den Kopf. Die nichts davon ahnende Roza trauert zusammen mit ihrer Tochter um ihren Mann – diese Trauer vertieft noch der Einblick des zurück erhaltenen Säbels des Generals, den ihre frühere Haushälterin im Krieg versteckt hielt. (Der Zufall wollte es so, dass auch Andrzej Wajda 2011 den Säbel seines Vaters zurück bekommt.27)

25 In dem Film, dessen Original in Wajdas „Katyń“ zitiert wird, spricht übrigens die Propaganda des Dritten Reiches von den ermordeten „europäischen Menschen“. Dieses klingt – in Anbetracht dessen, dass Hitlerdeutschland dieselben Menschen als ‚Untermenschen‘ klassifizierte – mehr als zynisch. 26 In dem russischen Propagandafilm über Katyń versucht man u.a. mit gefälschten Tagebucheinträgen und Briefen das Jahr 1941 zu belegen. 27 O. A.: Andrzej Wajda odzyskał szablę swojego ojca. In: Gazeta Wyborcza. Radom, 14.10.2011. URL: http://radom.gazeta.pl/radom/1,35216, 10470129,Andrzej_Wajda_odzyskal_szable_swojego_ojca.html vom 20. 01.2012.

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Agnieszka und Irena Agnieszka tritt im Film recht spät auf, ist aber neben Anna eine der herausragendsten Figuren des Bildes von Wajda. Als Überlebende des Warschauer Aufstandes erfährt sie 1945 nach der Rückkehr nach Krakau vom Tod ihres geliebten Bruders, genannt „Pilot“ („Pilot“, da er Flugzeugbauer war), in Katyń. Vom befreundeten Pfarrer, der für eine in den dortigen Wäldern abgehaltene Messe bald von den kommunistischen Machthabern entführt wird, erhält sie einen Rosenkranz, der bei der Untersuchung der Gräber 1943 in der Hand ihres toten Bruders gefunden wurde.28 „Pilot“ war, wie die meisten der Ermordeten, kein Berufssoldat. Seine Überreste blieben in einem der Massengräber weit weg von Krakau. Dennoch will seine Schwester wenigstens ein symbolisches Grabmal für ihn anfertigen. Ähnlich wie Roza wird Agnieszka von der polnischen kommunistischen Staatssicherheit gedrängt, die Schuld der Deutschen am Massaker in Katyń zu beglaubigen. Sie lehnt solche Bevormundungsversuche ab mit den Worten: „Die Deutschen haben es fünf Jahre bei mir versucht und ihr wollt es einfach so, in fünf Minuten?“ Bei Anna (beide Frauen kennen sich sonst nicht) lässt sie aus einem Foto ihres Bruders mit den beiden Schwestern, Agnieszka und Irena, ein Grabfoto anfertigen. Ihre langen blonden Haare lässt sie in einem Theater abschneiden – für das somit erworbene Geld bezahlt sie die Grabplatte, die auch ihr zum Verhängnis wird. Das weiß sie auch. Eine aus Agnieszkas Haaren angefertigte Perücke soll auf der Bühne eine junge Auschwitzüberlebende tragen, der nach dem Konzentrationslager keine Haare mehr wachsen wollen. Sie trägt Agnieszka einen Satz der von ihr verkörperten Antigone vor: „Prawdziwym nieszczęściem byłoby to, gdyby mój brat pozostał po śmierci bez

28 Ein Seelsorger schenkt den Rosenkranz im Lager dem zweifelnden „Pilot“. Die Sequenz mit der ihn haltenden Hand, die im Massengrab mit frischer Erde als letzte verschüttet wird, bildet die ausdrucksstarke Schlussszene des Films – alle Hoffnung wird begraben – und wird von vieen Zuschauern und Kritikern als eine der erschütterndsten Bilder im Werk Wajdas bezeichnet.

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grobu…“ [„Die echte Tragödie wäre es, wenn mein Bruder nach dem Tod ohne Grab bleiben würde...“ – übersetzt nach der polnischen Version im Film] und weiß nicht, dass sie zugleich mit Agnieszkas Worten spricht. Der Perückenmacher erzählt eine „Volksweisheit“, nach der die Person, die eine Perücke trägt, zugleich das Schicksal der Menschen, aus deren Haaren sie gemacht wurde, teilt. „Das möchte ich nicht mal dem schlimmsten Feind wünschen“, sind einige der wenigen Worte Agnieszkas in dieser Szene. Ihr Schicksal erahnt sie auch ohne Irenas Warnung: „Ich bin ganz in der alten Welt geblieben – in der, in welcher unser Bruder ist und wenn ich wählen soll bleibe ich bei ihm.“ Irena versucht, sich in der neuen Ordnung nach dem Krieg wieder zurecht zu finden sowie die neue politische Situation zu akzeptieren, da sie – aller Illusionen beraubt – an ein baldiges Ende der kommunistischen Macht nicht glaubt. Sie versucht, auch Ihre Schwester vor der „Wut der Machthaber“29 zu schützen. Das macht sie der mythologischen Ismena gleich, wie es Wajda selbst unterstreicht. Irena vertritt die Meinung derjenigen, die sich mit der neuen Regierung arrangieren, nicht auffallen wollen und das zu retten versuchen, was ihrer Meinung nach noch zu retten ist. Sie opfert nichts und ist dazu auch nicht bereit. Agnieszka opfert alles und zeigt ihre Entschlossenheit. Agnieszka-Antigone bringt die Grabtafel mit dem Foto, dem Namen ihres Bruders und – was der endgültige Auslöser auch ihrer Tragödie ist – dem Ort und dem Jahr 1940 am Elterngrab an. Auf den Weg dorthin wird sie noch von Irena, die sie davon abhalten will, es aber nicht schafft, begleitet. Vor dem Friedhofstor kehrt Irena-Ismena um. Ihre Schwester kann die Tafel noch zum Familiengrab bringen, wird jedoch bereits an den Friedhofstoren vom Sicherheitsdienst erwartet. Selbstsicher geht sie auf die schwarze Limousine zu und steigt ein – froh, das, was zu machen war, für wenigstens kurze Minuten gemacht zu haben und wohlwissend, dass sie dem eigenen Tod – wurde sie doch von der NKWD vorgewarnt – nicht entkommt. Die Grabplatte wird im Morgengrauen von „Unbekannten“ vernichtet. Agnieszka verschwindet in den Kasematten der Staatssicherheit, niemand wird

29 KATYŃ. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/ katyn.html vom 20.01.2012.

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sie mehr wiedersehen. Mit ihr verliert Ismena-Irena nach dem Bruder auch ihre Schwester – dass es geschehen würde, wusste auch sie, für den entschiedenen Kampf dagegen hat sie sich aber nicht entschlossen. Eine Frau in Katyń Die Filmfiguren Wajdas repräsentieren stellvertretend einige von vielen möglichen und realen Haltungen und Frauenschicksalen der Hinterbliebenen der Opfer von Katyń, Mjednoje, Charkow und anderen Orten. In den meisten Fällen war es auch so: Beim Kriegsverbrechen, das die Kategorie des Verbrechens gegen die Menschheit erreicht (was von der polnischen Seite unermüdlich unterstrichen wird, von der russischen Seite aber nie so weit anerkannt wurde), sind vor allem Männer ums Leben gekommen und Frauen als Mütter, Ehefrauen oder Geschwister, Nichten und Kinder zurückgeblieben. Doch es gab eine dokumentierte Ausnahme: Unter den 1940 in Katyń ermordeten Offizieren der polnischen Armee befand sich eine Frau. Janka30 Janina Lewandowska war Tochter des polnischen Offiziers Józef Dowbor-Muśnicki, des legendären Kommandanten des 1. Polnischen Korpus in Russland (wofür er von den Sowjets mit Argwohn betrachtet und was seiner Tochter zum Verhängnis wurde). Janina wuchs im Lusowo, nahe Poznań (Posen) auf und wollte eigentlich Sängerin werden, doch als nichts daraus wurde, hat sie sich für ihre zweite Liebe entschlossen: Das Segelfliegen. Beim Flugkurs im Posener Aeroklub lernte sie 1936 ihren zukünftigen Mann kennen – sie konnten jedoch nicht lange zusammen sein. Gleich nach dem Kriegsausbruch, im September 1939 – ihrem bereits verstorbenen Vater gedenkend – lässt sich Janina mit anderen männlichen Kollegen als einzige Frau zum III.

30 Vgl. Dybalska, Wanda: Janka poszla na wojnę. Gazeta Wyborcza, 7.4.2012 (Onlineveröffentlichung des Textes aus Gazeta Wyborcza – Wysokie obcasy, Mai 2005. URL: http://wyborcza.pl/1,75248,2688866.html vom 20.01.2012.

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Flugregiment berufen. Einer der Offiziere leiht ihr seinen Soldatenmantel aus, in der bald folgenden Gefangenschaft wird ihr von einem anderen Offizier der Grad des Unterleutnants verliehen. In dem geliehenen Mantel wird 1943 ihre Leiche in den Massengräbern bei Katyń entdeckt. Ihr Schädel mit dem charakteristischen Einschussloch im Hinterkopf wird zu Untersuchungszwecken zusammen mit den Schädeln einiger anderer Offiziere sowie in den Gräbern gefundenen Fotos, Briefen, Tagebüchern, Knöpfen und Rosenkränzen vom deutschen Labor in Smolensk zum Gerichtsmedizinischen Institut im von den Deutschen besetzten Krakau und schließlich nach Breslau gebracht. In Breslau (dann schon Wrocław) werden nach dem Krieg die Kisten mit den Knochen und Überbleibseln von einem polnischen Wissenschaftler entdeckt und über fünf Jahrzehnte von der kommunistischen Regierung, die die Massenmorde von Katyń und anderen Orten verleugnet hat, verborgen gehalten. Man vermutet, dass Janka vielleicht sogar an ihrem Geburtstag, dem 22. April 1940, vielleicht auch zwei, drei Tage früher oder später von der NKWD erschossen wurde, sie wäre 32 Jahre alt geworden (nach dem bei den in der Gefangenschaft erfolgten Vernehmungen selbst vorsorglich angegebenen falschen Geburtsdatum erst 26). Die Untersuchungen ihrer Überreste nahmen lange Jahre in Anspruch. Da die DNA der Knochen durch zahlreiche chemische Eingriffe zerstört, seine Rekonstruktion somit erschwert bis fast unmöglich gemacht wurde, konnte der Schädel von Janina erst 2005 mit Hilfe der Superprojektion eindeutig identifiziert werden.31 Janina Lewandowska starb eigentlich zufällig, anders als die anderen wurde sie doch nicht zur hinterlistigen Versammlung der polnischen Soldaten berufen, sie wollte eigentlich nur wie ihr Vater ihrem Land im Krieg dienen und ist dorthin gegangen, wohin Frauen nicht gehen mussten. Einer ihrer Brüder, der sie fürs Fliegen begeistert hat, starb in ungeklärten Zusammenhängen – den Erzählungen nach spielte er nach einem Kneipenbesuch „russisches Roulette“. Der zweite Bruder hat den Krieg als einziger überlebt und wurde Schuster in Toulouse, die jüngste der vier Geschwister, Agnieszka, wurde im Krieg noch

31 Dybalska, Wanda: Zidentyfikowali jedną z ofiar Katyńia. Gazeta Wyborcza, 18.5.2005. URL: http://wiadomosci.gazeta.pl/kraj/1,34309,27166 65.html vom 20.01.2012.

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nicht 20jährig zusammen mit der Pfadfinderorganisation „Wilki“ von der Gestapo verhaftet und von den SS-Einheiten während der Massenerschießungen in im Wald gelegenen Palmiry umgebracht. Unter den dort Ermordeten, die in 24 Massengräbern verschüttet wurden, befanden sich neben der Zivilbevölkerung auch Sportler, Universitätsprofessoren, Politiker und Bürgermeister, Schüler u. a.32

E PILOG Die filmischen Marie, Anna, Roza, Agnieszka, Irena; die realen Janina Lewandowska und Aniela Wajda und die christlich-symbolische Maria, die „Mutter Gottes von Katyń“ – es sind Frauen und Frauenfiguren, die die Gräueltaten des Krieges und der Verfolgung und ihre Folgen in ihrem eigenen Leben (und Sterben) mehr als deutlich zu spüren bekamen. Doch solche und ähnliche Frauenschicksale treffen wir nicht nur in der entfernten und nahen Vergangenheit, nicht nur bei den Prototypen der Antigone und Ismena (denn auch die Mythologie musste aus dem Leben schöpfen), nicht nur im Zweiten Weltkrieg und im Bosnienkrieg, sondern auch heute noch – egal welcher Krieg zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort und Erdteil seine tragische Bilanz zieht. Das Thema wird nie an Aktualität verlieren. Insofern ist und bleibt auch Wajdas Film aktuell und das Thema an sich gewinnt neue Sichtweisen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Doch aus dem Bild Wajdas lesen wir auch heraus, dass das trotz allem niemanden dazu verleiten soll, die Möglichkeit der Aussöhnung und der gemeinsamen Aufarbeitung der Ereignisse, deren Befürworter der Regisseurs selbst ist, abzulehnen.33

32 Vgl. u. a.: Stowarzyszenie Powiatu Nowodworskiego: Palmiry. URL: http://spn-forum.org/forum2/nasz_powiat001.php vom 20.1.2012. Palmiry werden auch „Katyń des Westens“ genannt. 33 Wajdas KATYŃ wurde trotz Hindernisse auch in Russland gezeigt und erlangte ein breites Echo. „Mir scheint, dass […] [diese Tatsache] Teil eines größeren Ganzen ist, das aus der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie soll man sich einem kritischeren Blick auf den Stalinismus und die

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Auch wenn die Kritiker von KATYŃ, die Wajda u.a. vorwerfen, er habe die des Verbrechens Schuldigen zu unklar, zu undeutlich dargestellt und angeklagt, Recht haben sollten. So müssen sie eines nachvollziehen können: Nämlich, dass Andrzej Wajda als Sohn eines der in Katyń Ermordeten und einer der auf die Rückkehr vergebens Wartenden jedes Recht hatte, seine eigene „Abrechnung“ mit dem Thema und mit der eigenen Familiengeschichte mit den ihm zur Verfügung stehenden filmischen Mitteln des künstlerischen Ausdrucks so zu vollziehen und mit einer solchen Botschaft zu versehen, wie er es für richtig hielt. Für Wajda war es wichtig, statt der Politik die Menschen darzustellen: Die einfachen Bürger, diejenigen, die die Konsequenzen der fatalen politischen Machtspiele zu tragen haben. Es wurde, so wie Wajda es wollte, „ein Film über das Leid und nicht über die allgegenwärtige Politik“34. Die Politik und die Verantwortung definieren sich in seinem Bild aus dem dargestellten Verbrechen, aus dem thematisierten Leiderlebnis selbst. Frauen und ihr Leid waren in den Augen des polnischen Regisseurs die besten Botschafter seiner Sicht auf das Thema „Katyń“, und die Vermittlung dieser Sicht ist ihm gelungen. Zudem erscheint der Film Wajdas äußerst real, eben weil er die einzige der polnischen Öffentlichkeit zugängliche Sicht auf die Ereignisse von 1940 über Jahrzehnte hinweg nahe bringt – die Sicht der Hinterbliebenen.

Sowjetische Vergangenheit nähern hervorgeht. Ich würde meine Rolle gern so sehen, dass dieser Film ein Schritt in diese Richtung war“, so Wajda. Weiter beruft sich der Regisseur auf die Ergebnisse einer Umfrage, der zufolge vor den Vorführungen von KATYŃ in Russland 38 % der Befragten die Schuld an dem Verbrechen den Deutschen zugewiesen haben; nachdem der Film Wajdas dort gezeigt wurde, waren dieser Überzeugung nur noch 18% der Befragten. (Smoczyński, Wawrzyniec: Nie możemy żyć fikcją. Interview mit Andrzej Wajda. In: Polityka, 27.5.2010. URL: http://www.polityka.pl/kraj/rozmowy/1505898,1,rozmowa-z-andrzejemwajda-o-Katyńiu-i-smolensku.read vom 20.01. 2012). Somit übernahm der Film „Katyń“ eine doppelte Rolle auf dem sicher noch langen Weg der Aussöhnung und Verständigung. 34 KATYŃ. URL: http://www.wajda.pl/pl/filmy/Katyń.html vom 20.01.2012.

Autorinnen und Autoren

Elisabeth von Erdmann, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1956, Studium der Slavistik und Osteuropäischen Geschichte in Bonn, Freiburg und Zagreb, Promotion und Habilitation in Slavischer Philologie (Freiburg, Bamberg), 1994–2005 Professorin für Slavistik in Erlangen, seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaft in Bamberg, Korrespondierendes Mitglied der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Trägerin des Kroatischen Kulturpreises 2000. Veröffentlichungen u. a.: 1987: „Poėma bez geroja“ von Anna A. Achmatova; 2000: „Der gescheiterte Drucklegungsversuch der Kašić-Bibel. Eine Dokumentation“, in: Versio Illyrica Selecta, seu Declaratio Vulgatae Editionis Latinae. Bartholomaei Cassij 1625; 2005: Unähnliche Ähnlichkeit. Zur Onto-Poetik des ukrainischen Philosophen H. S. Skovoroda. Herausgeberin der Reihe Quellen und Beiträge zur kroatischen Kulturgeschichte (10 Bde). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der russischen, ukrainischen und kroatischen Literatur- und Kulturgeschichte. Seit 2007 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Kroatistik. Ab 2012 Herausgabe der neuen Reihe Tusculum slavicum (Lit-Verlag). Marijana Erstić, Dr. phil., Studium der Germanistik, der Italianistik und der Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. 2000-2002 Promotionsstipendiatin des Graduiertenkollegs Intermedialität und des Landes NRW (Promotion), 2009-2010 Habilitationsstipendiatin an der Universität Siegen. 2002-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in unterschiedlichen DFG-Forschungsprojekten. Dissertation über die kristal-

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linen (Familien-)Bilder bei Luchino Visconti (Studienpreis der Universität Siegen, 2007). Derzeit Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät I der Universität Siegen. Veröffentlichungen zum Verhältnis von Film und Bildenden Künsten, zu den Avantgarden, zur Intermedialität, zu den Konzepten von Bewegung, und Gedächtnis um 1900 (Bergson, Aby Warburg etc.) sowie zu medialen Darstellungen der jugoslawischen Nachfolgekriege. Uta Fenske, Dr. phil. (1967). Nach dem Studium der Fächer AngloAmerikanische Geschichte, Japanologie und Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Hartford, CT und Köln Mitarbeiterin im Haus der Geschichte in Bonn. Anschließend Promotion im Fach Anglo-Amerikanische Geschichte an der Universität Köln. 2005-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 431: „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ an der Universität Tübingen. Von 2007 -2010 Mitglied in dem DFG-Netzwerk: Körper in den Kulturwissenschaften. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Siegener Zentrum für Gender Studies, seit 2010 auch am Institut für Didaktik der Geschichte. Publikationen: Mannsbilder. Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946-1960. Bielefeld: transcript 2008; Netzwerk Körper in den Kulturwissenschaften (Hg.): What Can a Body Do? Praktiken/Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Frankfurt/New York: Campus. 2012. Walburga Hülk-Althoff, Prof. Dr., lehrt Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; 2008 Forschungsprofessur FMSH, Paris. Forschungsschwerpunkte: Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik, wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“, der Dialog von Künsten und Wissenschaften sowie Kulturkritik; Publikationen u.a. zu SchriftSpuren von Subjektivität im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust sowie Bewegung als Mythologie der Moderne. Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry. Bielefeld: Transcript 2012. DFG-Forschungsprojekt (zus. mit Georg Stanitzek): Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität.

AUTORINNEN UND AUTOREN

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Slavija Kabić, Ao. Univ.-Prof. Dr., lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Zadar, Kroatien. Diplomstudium der Germanistik und Anglistik an der Philosophischen Fakultät in Zadar. Postgraduiertenstudium und Erlangung des wissenschaftlichen Magistergrades an der Philologischen Fakultät in Belgrad (Frauengestalten im Roman Heinrich Bölls ‚Gruppenbild mit Dame‘, 1986). Doktordissertation über Das Tagebuch als literarische Form in der deutschen Literatur nach 1945: Max Frisch, Marie Luise Kaschnitz und Peter Handke an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb (1999). Über fünfzig Veröffentlichungen über W. Borchert, H. Böll, M. Frisch, M. L. Kaschnitz, M. Moron, Ö. v. Horváth, J. W. v. Goethe, A. v. Arnim, F. Grillparzer, D. Ugrešić u.a. in germanistischen und anderen literaturwissenschaftlichen Zeitschriften, Autorin des Buches Ein Königreich für ein Kind. Kindheit und Jugend in der deutschsprachigen Kurzgeschichte zwischen 1945 und 1989 (Köln, 2007), Mitherausgeberin des Sammelbandes Mobilität und Kontakt. Deutsche Sprache, Literatur und Kultur in ihrer Beziehung zum südosteuropäischen Raum (Zadar, 2009). Seit 2009 Vorsitzende des Südosteuropäischen Germanistenverbands (SOEGV). Hermann Korte, Prof. Dr., lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts (Kanonforschung; Geschichte des Lesens; Eichendorff; Poetischer Realismus; Expressionismus und Dadaismus; Lyrik nach 1945; Gegenwartsliteratur; Historische Theaterpublikumsforschung). Zuletzt erschienen die Anthologie Lyrik der DDR (gemeinsam hg. mit Heinz Ludwig Arnold, 2009, S. Fischer), „Meine Leserei ist maßlos“. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800 (Göttingen 2007) und Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1871 bis 1918 (zusammen mit Ilonka Zimmer und Hans-Joachim Jakob, Frankfurt a. M. 2011). Hermann Korte ist Fachreferent bei IASLonline (Wertung und Kanon), leitet die Redaktion der Zeitschrift Text + Kritik und ist seit 2012 Herausgeber des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG).

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Britta Künkel, M.A., 2004-2009 Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften in Siegen mit den Schwerpunkten Italienisch, Französisch und Englisch; seit 2007 freie Mitarbeiterin der Sprachenschule Siegerland; seit 2009 Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Romanistik an der Universität Siegen; 2010/2011 Lehrbeauftragte an der Universität Siegen für Wissenschaftliche Arbeitsmethoden; seit 2011 Promotionsstipendiatin an der Universität Siegen, Dissertation zum Thema Pierre de Coubertin und die Inszenierung der Olympischen Spiele der Neuzeit. Dunja Melčić (geb. 1950 in Kroatien), Dr. phil., Philosophin, freie Autorin und ständige Mitarbeiterin der Zeitschrift Kommune; lebt seit 1974 in Frankfurt, wo sie 1981 über Martin Heidegger promovierte; setzt sich besonders mit Themen aus der Philosophie und der internationalen Politik (mit dem Akzent auf Südosteuropa) auseinander und veröffentlicht in deutscher, englischer und kroatischer Sprache. Zuletzt (seit 2006; Auswahl): Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen (Hg.), (VS Verlag für Sozialwissenschaften) Wiesbaden (1999) 20072; „Croatia’s Discourse about the Past and Some Problems of Croatian-Bosnian Understanding“. In: Croatia Since Independence, hg. v. Sabrina Ramet, Konrad Clewing, Reneo Lukić. Oldenbourg/München 2008; „Jahrestag von Srebrenica. Exekution im Klassenzimmer“. In: http://www.faz.net, 11. Juli 2008; „Ein völkerrechtliches Experiment mit gemischten Ergebnissen. Anderthalb Jahrzehnte internationale Strafgerichtsbarkeit in Den Haag“. In: Kommune 4/2010; „Medien in den jugoslawischen Nachfolgekriegen. Eine kommunikationstheoretische Betrachtung“. In: Kommune 2/2011. Gregor Schuhen, Dr. phil., Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen. Vorher wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ an der Universität Siegen, 2005 bis Okt. 2006 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 17. bis 20. Jh., Gender und Men’s Studies, Pop- und Jugendkultur, klassische Avant-

AUTORINNEN UND AUTOREN

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garden, Intermedialität im aktuellen Film, Wissenschaftsgeschichte. Dissertation: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust (Heidelberg, 2007). Seit Sept. 2011 Leiter der Forschungsstelle für Literatur & Men’s Studies (LIMES) an der Universität Siegen. Tanja Schwan, Dr. phil, zurzeit Lehrbeauftragte am Institut für Romanistik der Universität Leipzig, wo sie 2008 zum Thema Geschlechterperformanzen im historischen Umbruch: Renaissance und Avantgarde promovierte und 2006-2008 als wissenschaftliche Assistentin für französische und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft tätig war. Begonnen hat sie ihre Dissertation an der Universität Siegen, als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medienumbüche“ und am Metzler Lexikon Gender Studies. 2009-2011 war sie wissenschaftliche Angestellte am Romanischen Seminar der Universität Mannheim und arbeitet derzeit an ihrem Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel Papierne Passionen. Codierungen von Leiden/Schaft im französischen und spanischen Roman des 19. Jahrhunderts. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sowie zahlreiche Publikationen in den Bereichen Gender-, Performativitätsund Emotionsforschung, etwa Körper- und Affektmodellierungen in Literatur, Kultur und Medien der Romania von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Ludwig Steindorff, Prof. Dr., geboren 1952 in Hamburg; Studium der Geschichte, Slavistik und Germanistik in Heidelberg und Zagreb; 1978 1. Staatsexamen; 1981 Promotion in Heidelberg; 1981-1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster; 1990 Habilitation in Münster; 1991-1997 Hochschuldozent in Münster; 1993 Gastdozentur in Zagreb; 1997 außerplanmäßiger Professor; 1997-2000 Durchführung des DFG-Projektes „Bolschewistische Kirchenpolitik“ in Münster. Seit 2000 Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel; 2003-2009 Vorsitzender des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker; seit 2009 Wissenschaftlicher Leiter der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Altrusslands, mittelalterliche Stadtgeschichte Südosteuropas, nationale und konfessionelle Identität

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in Südosteuropa seit dem 19. Jahrhundert, Staat und Kirche im Sozialismus; Publikationen vgl. www.oeg.uni-kiel.de. Natasza Stelmaszyk, Dr. phil., geboren in Polen; polnisches und deutsches Abitur, Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Psychologie sowie Zusatzstudium „Europäisches Zertifikat“ an der Universität Siegen (NRW). Nach dem Studium freie Journalistin (Rundfunk: RBB – polnische Redaktion und Presse: u.a. n-ost e.V.), Übersetzerin sowie Literaturscout und -agentin. Promotion zum Thema Polonica nova. Die polnischen Literatur der Nachwendezeit und ihre Situation im deutschsprachigen Raum seit 1989 (Preis der Universität Siegen sowie Förderpreis des Generalkonsuls der Republik Polen für 2008). Seit 2007 Dozentin im Germanistischen Seminar an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen. Habilitationsprojekt zum Thema Literaturevents. Schwerpunkte: u.a. Aspekte der Literaturvermittlung in Theorie und Praxis, Verlagswesen und Buchwissenschaft; Polnische Literatur und ihre Rezeption.

Gender Studies Sarah Dangendorf Kleine Mädchen und High Heels Über die visuelle Sexualisierung frühadoleszenter Mädchen Oktober 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2169-3

Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform 2010, 498 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4

Udo Gerheim Die Produktion des Freiers Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie Januar 2012, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1758-0

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Gender Studies Stefan Paulus Das Geschlechterregime Eine intersektionale Dispositivanalyse von Work-Life-Balance-Maßnahmen September 2012, 472 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2208-9

Julia Reuter Geschlecht und Körper Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit 2011, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1526-5

Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Februar 2012, 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2

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Gender Studies Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.) Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1383-4

Andreas Heilmann Normalität auf Bewährung Outings in der Politik und die Konstruktion homosexueller Männlichkeit 2011, 354 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1606-4

Martina Läubli, Sabrina Sahli (Hg.) Männlichkeiten denken Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies 2011, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1720-7

Gerlinde Mauerer (Hg.) Frauengesundheit in Theorie und Praxis Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften 2010, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1461-9

Ute Kalender Körper von Wert Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung

Hanna Mei ner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx

2011, 446 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1825-9

2010, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0

Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen

Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen

2011, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7

Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hg.) Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen

Januar 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1767-2

Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten 2010, 438 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2

2011, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1802-0

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