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BÖHLAU-STUDIEN-BÜCHER GRUNDLAGEN DES STUDIUMS DIE MITTELALTERLICHEN GRUNDLAGEN DES MODERNEN STAATES
DIE MITTELALTERLICHEN GRUNDLAGEN DES MODERNEN STAATES von
JOSEPH R. STRAYER herausgegeben und übersetzt von
HANNA VOLLRATH
® 1975
BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN
Copyright © 1970 by Princeton University Press, Princeton, New Jersey (On the Medieval Origins of the Modern State) ISBN 0 691 05183 6
Copyright © der deutschen Ausgabe 1975 by Böhlau-Verlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung medianischer, elektronisdier und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung — audi von Teilen des Werkes — auf photomedianischem oder ähnlichem Wege, der tontedinischen Wiedergabe, des Vortrage, der Funk- und Fernsehsendung, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Gesamtherstellung: Buchdrudcerei Loibl, Neuburg/Donau Printed in Germany ISBN 3 412 02775 8
INHALT Vorwort
VII
Einleitung in die deutsche Ausgabe von Hanna Vollrath .
.
IX
ERSTE ANFÄNGE DER EUROPÄISCHEN STAATENBILDUNG SEIT DEM 11. JAHRHUNDERT . . . .
1
Erstes Kapitel
Statt einer Definition: Anzeichen für das Entstehen eines Staates (2); andere politische Organisationsformen (8); Gründe für die Wiederbelebung des Prozesses der Staatenbildung seit dem 11. Jahrhundert (13); die Bedeutung von Recht und Rechtswahrung (20); Der Aufbau der Regierungsbehörden: Vorrang der Institutionen für Innere Angelegenheiten (24); die königliche Domänenverwaltung (25); die königliche Gerichtsbarkeit (26); die Kanzlei (30); Englands besonders glückliche Ausgangslage (33); die Entstehung des Exchequer (34); der systematische Ausbau der Königsgerichtsbarkeit (35); erste Bekundungen einer sich zur Souveränität ausbildenden Staatsgewalt (39); die Anfänge des englischen Parlaments (41); Frankreich: die Ausdehnung des königlichen Einflußbereiches seit etwa 1200 (45); Zentralismus und Provinzautonomie (46); das Besteuerungsrecht des französischen Königs (49). Zweites Kapitel
DIE ZEIT DER GROSSEN KRISEN IM 14. UND 15. JAHRHUNDERT Die große Wirtschaftskrise am Ende des 13. Jahrhunderts (54); Kriege zur Konsolidierung der Staatsgebiete (55); die
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wachsende Unwilligkeit zur Kooperation bei den großen Herren (58); Offenbarwerden allgemeiner Strukturschwächen (65); gefährliche Kluft zwischen Politikern und Bürokratie (70); Stagnieren des Verwaltungsapparates (71); adliges Sonderrecht als Hemmnis bei der Einrichtung diplomatischer Vertretungen und einer durchgegliederten Militärverwaltung (76). Drittes Kapitel
KONSOLIDIERUNG UND AUSBAU DER STAATEN SEIT DEM ENDE DES 15. JAHRHUNDERTS . . . .
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Wandel der politischen Atmosphäre seit dem späten 15. Jahrhundert (83); Umstrukturierung des königlichen Rates (86); Rivalitäten zwischen der alten und neuen Bürokratie (90); lokale Verwurzelung der Beamten (92); Rivalität zwischen Herrscher und Rat (94); Gottesgnadentum und souveräner Staat (99); die Staaten und der aufkommende Nationalismus (100). Namens- und Sachregister
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VORWORT
Das Buch, das idi Ihnen vorlege, ist aus langen Jahren der Erforschung mittelalterlicher Institutionen erwachsen. Einige Abschnitte habe idi als öffentliche Vorträge an der Universität Princeton gehalten; andere gingen aus Vorträgen auf Tagungen verschiedener wissenschaftlicher Vereinigungen hervor. Dem letzten Kapitel liegt ein Vortrag zugrunde, den ich in etwas anderer Form auf der Jahrestagung des „Center for Medieval and Renaissance Studies" der Staatsuniversität von New York in Binghamton im Jahre 1968 gehalten habe und der in dem Kongreßbericht dieser Tagung 1 veröffentlicht wurde. Ich danke der Universität für ihre Erlaubnis, Teile der in Binghamton vorgelegten Arbeit hier verwenden zu dürfen. Es ist leidit zu erkennen, daß ich den größten Teil meiner Aufmerksamkeit der Entwicklung der englischen und französischen Institutionen gewidmet habe. Idi habe mich in meinen Forschungen vor allem mit der Geschichte dieser beiden Länder befaßt und so war es nur natürlich, daß ich meine Beispiele aus dem Bereich wählte, der mir am vertrautesten ist. Allerdings gibt es noch einen anderen Grund für diese Bevorzugung: die ersten europäischen Staaten, die bis in unsere eigene Zeit fortbestehen, haben sich in England und Frankreich herausgebildet, und alle anderen europäischen Staaten sind aufs stärkste vom Beispiel dieser beiden Wegbereiter beeinflußt worden. Schon im 12. Jahrhundert versuchte Friedrich Barbarossa eine Festigung des Deutschen Reiches dadurch zu erreichen, daß er die deutschen Lehnsbezüge dem englischen und französischen Vorbild anglich. Und noch im 19. Jahrhundert fanden französische Verwaltungspraxis und englischer Parlamentarismus ihre Nachahmer in vielen europäischen Ländern. Und da Frankreith und England der westlichen Christenheit zugehörten, schöpften sie nicht nur ihre Vorstellungen aus den gleichen Quellen, sondern sie hatten auch mit den gleichen Schwierig*) Developments in the Early Renaissance, Albany 1972.
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Vorwort
keiten zu kämpfen wie die meisten anderen politischen Gebilde ihres Kulturraumes. Aus diesem Grunde sind die englischen und französischen Erfahrungen für den allgemeinen Prozeß der Staatwerdung in Europa bezeichnend. Ich möchte in diesem Buch zeigen, wie sich die europäischen Staaten einige der Institutionen schufen, die sie dann in die Lage versetzten, die Kräfte einer großen Anzahl von Menschen zu organisieren und zu koordinieren. Dieses Phänomen zu beschreiben, heißt nicht auch gleich, es zu loben. Es ist nicht der oberste Zweck der Menschheit, Staaten zu gründen, und wir können nicht alle die Mittel gutheißen, die eingesetzt werden, um Staaten zu erhalten und zu festigen. Andererseits ist es dem modernen Staat gelungen, eine sehr große Anzahl von Menschen zu wirkungsvoller Zusammenarbeit zu bringen, und er vermag es, so wie andere soziale Körperschaften auch, hohe Ideale zu verkörpern und die menschlichen Hoffnungen auf ein besseres Leben zu befriedigen. So hat schon Thomas von Aquin darauf hingewiesen, wie schwer es für uns vorstellbar ist, daß sich gewisse soziale Tugenden außerhalb des Rahmens eines staatsmäßig organisierten Gemeinwesens bekunden können. Wir verdanken fast alle menschlichen Errungenschaften einem Zusammenwirken menschlicher Kräfte zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels, und der Staat stellt eine der Möglichkeiten dar, um dieses Zusammenwirken sicherzustellen. Es ist zweifellos nicht die einzige Möglichkeit, aber es ist die gegenwärtig vorherrschende Form. Grund genug, uns Gedanken darüber zu machen, was der Staat ist und wie er zu dem wurde, was er heute ist. Joseph R. Strayer Princeton, New Jersey im April 1975
EINLEITUNG IN DIE DEUTSCHE AUSGABE von
Hanna Vollrath Die Institution Staat hat es in Europa nicht immer gegeben. Bis ins Hohe Mittelalter waren die europäischen Völker ganz anders politisch organisiert. Für uns moderne Menschen aber ist der Staat so allgegenwärtig, daß wir uns ein Leben ohne ihn kaum nodi vorstellen können. Wir können ihm nicht entfliehen, er bildet den geradezu unabdingbaren Rahmen für die Entfaltung eines geglückten Lebens — Grund genug, uns mit ihm zu befassen, zumal uns ja der ständige Zuwachs an Macht der Institution Staat in dieser unserer eigenen Zeit oft mit Bedenken erfüllen muß. Das ist der Ausgangspunkt der kleinen Studie des angesehenen amerikanischen Historikers Joseph R. Strayer von der Universität Princeton, der sich als Mediävist den Anfängen dieses unseres modernen Staates im Mittelalter zuwendet. Also mittelalterliche Verfassungsgeschichte aus den Vereinigten Staaten nach Europa importiert — heißt das nicht Eulen nach Athen tragen angesichts der glänzenden Reihe deutschsprachiger Verfassungshistoriker? Man denke nur an so illustre Namen wie K. F. Eichhorn, G. Waitz, O. v. Gierke, F. Kern, H. Mitteis, O. Brunner, um nur einige wenige zu nennen. Trotzdem scheint es mir sinnvoll, den deutschsprachigen Lesern dieses amerikanische Büchlein vorzulegen. Die deutsche verfassungsgesdiichtlidie Forschung hat in den letzten Jahren eine solche Fülle neuer Erkenntnisse erbracht, daß man direkt von einer Wende sprechen kann; im Zuge dieser Neuorientierung ist nun auch die von J . Strayer behandelte Frage nach den Anfängen des modernen Staates im Mittelalter als Forschungsproblem stark in den Vordergrund gerückt. Ein kurzer Überblick über die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts soll das verdeutlichen. Fragen wir nach der geistigen Herkunft des forschenden Erkenntnisdranges, mit dem sich die deutschen Historiker — und nicht nur
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
die deutschen — des 19. Jahrhunderts der Vergangenheit ihres Volkes zuwandten, so stoßen wir auf das Denken J. G. Herders, der besonders mit seiner Sdirift „Audi eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" von 17741 eine ungeheure Wirkung auf das historische Denken des nachfolgenden Jahrhunderts ausgeübt hat. Herders Forschungen nach dem Ursprung der Sprache, des Mythos und der Dichtung hatten ihn die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der einzelnen Völker erkennen lassen: hatte die sich an abstrakte Normen bindende Rationalität der Aufklärung nach Maßgabe der einen einheitlichen Menschenvernunft alle Zeiten und alle Völker vor den Richterstuhl ihrer eigenen Wertmaßstäbe gezogen, vor dem dann ganze — „unvernünftige" — Zeitalter als der Aufmerksamkeit unwert verworfen wurden, so setzte Herder dagegen die Idee der Individualität: so wie jeder einzelne Mensch einzigartig ist und nur von seinen eigenen Voraussetzungen her verstanden werden kann, so entziehen sich auch die Kollektivindividualitäten, deren vornehmste die Nationen sind, jeder aus abstrakten Prinzipien gewonnenen Beurteilung. Jedes Volk und jeder Lebensabschnitt eines Volkes hat Wert und Sinn in sich selbst, oder ist, wie Ranke das später nennen würde, unmittelbar zu Gott 2 . Und da die Nationen als sich entfaltende Organismen gedadit wurden, deren Gegenwart und Vergangenheit einen lebendigen Gesamtzusammenhang bilden, war nun jeder einzelne Zeitabschnitt und jede Einzelentwicklung legitimes Thema historischen Verstehens. Mit einer Begeisterung ohnegleichen wandte man sich der Vergangenheit des eigenen Volkes zu, suchte, sammelte und edierte die Quellen, um jede Epoche so aus den Zeugnissen der vergangenen Zeit selbst in je ihrer Eigenart und Einzigartigkeit erfassen zu können. Die großartigen Quelleneditionen, voran die Monumenta Germaniae Historica, und die aus den Quellen erarbeiteten monumentalen Geschichtswerke legen davon beredtes Zeugnis ab. Und die kühle Verachtung der Aufklärung für das mit den Kriterien der Vernunft nicht zu fassende Mittelalter machte in der deutschen Romantik einer schwärmerischen Verklärung des Mittelalters Platz, in der dieser !) J. G. H e r d e r , Sämtliche Werke, hg. B. Suphan, Bd. V, Berlin 1891, S. 475—594. 2 ) Vgl. zu Herder und Ranke G. G. I g g e r s , Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S. 50—54 und S. 86—119.
Die Verfassungsgeschidite von Georg Waitz
XI
Epoche der „Jugendzeit des deutschen Volkes" geradezu der Rang eines Ideals zugewiesen wurde 8 . Die Erforsdiung des Mittelalters erlebte damit eine unvergleichliche Blütezeit. Wir wollen hier, unserem Thema entsprechend, einen Blick auf die verfassungsgeschichtliche Forschung werfen und uns die besondere Fragestellung und Problematik dieser historischen Teildisziplin an Leben und Werk von Georg Waitz klarmachen. Georg Waitz 4 hat in seiner acht Bände umfassenden deutschen Verfassungsgeschidite5, die die verfassungsgeschichtlithe Entwicklung von der germanischen Frühzeit bis zur Mitte des 12. Jh. umfaßt, eine Gesamtdarstellung vorgelegt, die nach ihm niemand mehr in Angriff genommen hat. Es war ohne Zweifel seine ungeheure Quellenkenntnis, die ihm aus seiner Mitarbeit und Herausgebertätigkeit bei den M G H zugewachsen war 6 , die ihn in die Lage versetzte, ein solch monumentales Werk schreiben zu können. Ausgangspunkt für die germanisch-deutsche Verfassungsentwicklung ist ihm das freie germanische Gemeinwesen der Frühzeit, gegründet auf den freien Grundbesitz der freien Bauern, die auf der Grundlage dieser ihrer wirtschaftlichen Freiheit als Staatsbürger über die öffentlidien Angelegenheiten ihres Gemeinwesens politisch entschieden: Es ist eine republikanische Verfassung, die dergestalt in den Staaten herrscht, wo gewählte Fürsten die Leitung der öffent3 ) F. S c h n a b e l , Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. I, Freiburg 1964, S. 322—338; Zitat S. 335. 4 ) Vgl. zu seinem Leben die Kurzbiographie in der ADB, Bd. 40, 1896, S. 602—629 und die bei K. J o r d a n , Georg Waitz als Professor in Kiel, in: Festschrift für P. E. Schramm, 2 Bde, Bd. II, Wiesbaden 1964, S. 90—104 genannte Literatur. Zur kritischen Würdigung der verfassungsgesdiiditlidien Forschungen von G. Waitz ist vor allem heranzuziehen: E.-W. B ö c k e n f ö r d e , Die deutsche verfassungsgesdiichtlidieForsdiung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, Einleitung S. 15—22 und dann S. 99—134. 5 ) 1. Band 1. Aufl. Kiel 1844; eine dritte Auflage der ersten beiden Bände erschien in Berlin 1880—1882. Die letzten beiden Bände erschienen 1876 und 1878 in erster Auflage. Die Arbeiten an der Verfassungsgesdiichte durchziehen also fast das gesamte wissenschaftliche Leben von Georg Waitz. 6 ) Vgl. dazu H. B r e s s l a u , Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, NA 42, 1921; auf G. Waitz, der 1875 den Vorsitz der MGH übernahm, wird durchgängig verwiesen.
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
liehen Angelegenheiten haben. Sie ruht auf der Gesamtheit der Freien, d. h. der selbständigen Landbesitzer. (VG I, 3. Aufl., 1880, S. 280). Daß wir bei den Germanen vor allem von kleineren politischen Körperschaften hören, ist so zu erklären, „daß der Staat bei den Germanen von den ihm gehörigen Rechten zu Gunsten einzelner Gewalten abgegeben hat und damit einem dem Volk einwohnenden Triebe nach Ausbildung kleinerer selbständiger Kreise entgegengekommen ist" 7 . Einen Adel als Träger politischer Rechte kann es in diesem Bild der germanischen Rechtszustände nicht geben8. Aber als Träger politischer Rechte begegnet nun der Adel in den Quellen des Mittelalters. Im Reich Karls des Großen allerdings schien noch alle Herrschaft im König versammelt, die dann von ihm an königliche Beamte zur Ausübung delegiert wurde®. Zwar war auch im Karlsreich die staatliche Organisation noch unvollkommen, da die Beamten, die die Gewalt in den einzelnen Teilen als Stellvertreter des Kaisers ausübten, durch persönliche Treue an den Herrscher gebunden waren: „Tritt diese zurück, so sind es nidit allgemeine staatliche Rücksichten, welche sie bestimmen und leiten können, sondern es machen sich sofort entgegenlaufende, particulare und private Interessen geltend10. Damit ist die Gefahr für die politische Zukunft des Karolingerreiches ausgesprochen: da „geregelte Form und Einrichtung"11, also feste Institutionen, noch nicht ausgebildet waren, würde beim Fehlen ^ G. W a i t ζ , Besprechung des Sybel-Fickersdien Streites in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen" 1862; abgedruckt in: d e r s . , Abhandlungen zur deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte, hg. Κ. Ζ e u m e r , Göttingen 1896, S. 536. 8 ) „Die Geschlechter der Männer, unter deren Führung das Volk seine Sitze einnahm, oder die längere Zeit an der Spitze desselben gestanden hatten, konnten, ja mußten leicht einen gewissen Vorrang behaupten, der eben ein historischer war, von den Vätern ererbt: und das, nicht ein bestimmtes Maß von Rechten, ist das Wesen, der Begriff des Adels bei den Deutschen*. G. W a i t ζ , Zur deutschen Verfassungsgeschidite II (1854), abgedruckt in: Abhandlungen (wie Anm. 7),S. 115. 9 ) Vgl. besonders die Charakterisierung der Grafen als „wahre Beamte", VG III, 2. Aufl., 1883, S. 384 ff. 10 ) VG, Bd. IV, 2. Aufl., S. 643—644. " ) ibid., S. 645.
Der Adel bei den Germanen
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einer starken Herrscherpersönlichkeit die das Karlsreidi tragende Verbindung von germanischer Volksfreiheit und landesväterlicher Königsherrschaft von den privaten Herrschaftsgelüsten der geistlidien und weltlichen Großen bedroht sein. Diese Großen unterschieden sich von allen anderen Freien, weil sie, „durch ein Amt im Staat oder in der Kirche ausgezeichnet"12 waren, und die große Gefahr bestand nun darin, daß diese Ämter erblicher Besitz einzelner fürstlicher Familien wurden, die dann Schritt um Schritt dem König und Kaiser seine angestammten Herrschaftsrechte entwinden würden, bis sie ihn so weit ausgeschaltet hätten, daß es ihnen gelang, ihre privaten usurpierten Herrschaftsrechte in Territorialfürstentümern zu verfestigen. Diese allen germanischen Königreichen eigenen Gefahren kamen im deutschen Reich voll zum Tragen; die Könige von England und Frankreich erwehrten sich der Usurpationsgelüste ihres Adels, sie schufen „geregelte Form und Einrichtung", und so sahen sich diese Völker im stolzen Besitz ihrer geeinten Nationalstaaten, und genossen damit ein staatliches Glück, das den Deutschen noch versagt war. Und an diesem Punkt treffen sich die historischen Forschungen von Georg Waitz mit seinem politischen Engagement: er bemühte sich wie so viele seiner Universitätskollegen als Abgeordneter der Paulskirche aktiv um die politische Neugestaltung Deutschlands, um die Sdiaffung eines freien deutschen Nationalstaates, denn „die natürliche Verbindung des Volkes (der Nation, der Nationalität, wie man wohl sagt), erhält ihre Vollendung, wenn sie zur staatlichen wird" 13 . Es könnte bei dieser überaus knappen Skizzierung der Vorstellungen von Georg Waitz der Eindruck entstehen, als habe er das Ideal seiner Zeit vom abgeschlossenen souveränen Nationalstaat so sehr zum Ziel der deutschen Geschichte gemacht, daß ihm doch wieder das Mittelalter, wenn auch in anderer Weise als der Aufklärung, als Epoche des Verfalls, des Niedergangs, der Auflösung erschien, als ruhmloses Zwischenstück — Mittelalter — zwischen Epochen politischer Blütezeiten. Dieser Eindruck wäre ganz falsch. Georg Waitz, der als junger Professor der Kollege J. G. Droysens in Kiel " ) VG, Bd. V, S. 481. 13 ) G. W a i t z , Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 7. Vgl. dazu: H. H a g e n a h , Georg Waitz als Politiker, in: Sdileswig-Holsteinische Universitäts-Gesellsdiaft, Jahrbuch 1930, Breslau 1931, S. 134—216, bes. S. 152—173.
XIV
Einleitung in die deutsdie Ausgabe
war 14 , liegt jede schematisierende Vereinfachung, jede Vernachlässigung der historischen Mannigfaltigkeit zugunsten eines willkürlich gesetzten Geschichtsziels fern. Er wendet sich wirklich, wie Ranke einmal die Aufgabe des Historikers beschrieben hat, „dem Einzelnen mit Neigung zu" und „macht das particulare Interesse geltend" 15 . Umfassende Quellenkenntnis und seine klug-abwägenden, vom wachen Verständnis für politische Fragen überhaupt geprägten Urteile 16 machen die Verfassungsgeschichte auch heute noch zu einer sehr lesenswerten Lektüre. Dabei sind es im wesentlichen zwei Elemente, die die Verfassungsstruktur mittelalterlicher Herrschaft für Georg Waitz und die mittelalterlichen Verfassungshistoriker überhaupt so lange verstellt haben: geht man von der Voraussetzung aus, daß die mittelalterlichen Königreiche aus den freien Gemeinwesen freier germanischer Staatsbürger erwachsen sind — und in Tacitus glaubte man schließlich einen unanfechtbaren Kronzeugen für diese Auffassung zu haben17 — und sah man im germanischen Königtum die glückliche Vereinigung von Freiheit und Herrschaft im Sinne des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, so mußte die mittelalterliche Adelsherrschaft als Abfall von diesem Ideal, als Usurpation staatlicher Rechte durch Privatpersonen, als Auflösung und Zersetzung des freien Untertanenverbandes erscheinen. Die Territorialfürstentümer Deutschlands waren damit ursprünglich nicht weniger „privat" als irgendeine feudale Grundherrsdiaft, wobei sie sich durch stete Aushöhlung der staatlichen Rechte des Königs schließlich auch noch den Namen Ter" ) K. J ο r d a η (wie Anm. 4). ) Leopold v. R a n k e , Aus einem Kollegmanuskript, wohl aus den 40er Jahren, zitiert nach: E. K e s s e l , Rankes Idee der Universalhistorie, in: H Z 178, 1954, S. 295 f.; den großen Eindruck, den Ranke auf ihn als akademischer Lehrer und als freundschaftlicher Förderer gemacht hat, hat G. Waitz selbst festgehalten, s. G. W a i t z , Deutsdie Kaiser von Karl dem Großen bis Maximilian, Berlin o. J., S. X. 16 ) Es ist bezeichnend für die weltkluge Art von Georg Waitz, wie er über seine Tätigkeit als Abgeordneter in der Paulskirche urteilt: „Ich habe in ihr mehr gelernt audi für meine Wissenschaft, als in manchem Jahr gelehrter Arbeit", G. W a i t ζ (wie Anm. 15), S. XXII. 17 ) Vgl. zur Interpretation der Germania des Tacitus mit Hinweisen auf seine Rezeptionsgesdiichte Κ. Β ο s 1, Reges ex nobilitate, Duces ex virtute sumunt (Tacitus, Germania c. 7), in: d e r s ., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/Wien 1964, S. 62—73; vgl. audi G. W a i t ζ , VG, 1. Bd., 3. Aufl. 1880, S. 22—25 und S. 169—172. ls
Neubestimmung germanischer Verfassungszustände
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ritorial„staaten" anmaßten 18 . Von der deutschen Geschichte her gesehen konnte also die Frage nach den Anfängen des modernen Staates im Mittelalter gar nicht aufkommen: hatten doch die mittelalterlichen Privatherrschaften des Adels den freien germanischen Staat zerstört und galt es doch, ihn nun, im 19. Jahrhundert, in einer Neubegründung wieder zu erschaffen. Es kann nidit Wunder nehmen, daß es bei dem ungeheuren Einfluß von G. Waitz und seiner Schule19 jahrzehntelanger, von ganz unterschiedlicher Fragestellung ausgehender Einzelforschung bedurfte, um einer wesentlich anderen Auffassung von der Verfassungsstruktur germanischer und mittelalterlidier Herrschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Ohne das alte Verfassungsgebäude selbst in Frage zu stellen, ergab sich schon aus den Einzelforschungen von A. Schulte20 und A. Waas 21 , daß die verfassungsrechtliche Stellung des Adels als Ergebnis „privater Usurpation" nicht angemessen gekennzeichnet war. In den Grundfesten erschüttert aber wurde dann dieses Verfassungsbild durch eine ganz grundsätzliche Neubestimmung der Verfassungszustände der germanischen Zeit: „Die Grundanschauung, von der Waitz überall stillschweigend ausgeht, daß das, was er den germanischen Staat nennt, ein fest organisiertes, politisches Gemeinwesen war, ein Staat der Freiheit, des Friedens und der Ordnung, ist eine völlig willkürliche Annahme" 22 . Nidit politische Selbstbestimmung 18
) Vorbereitet wurde die Theorie vom privaten Ursprung fürstlicher Landeshoheit, die in den allgemeinen Verfassungsgesdiiditen des 19. Jahrhunderts Eingang fand, durch die territorialstaatliche Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts, die den kaiserunabhängigen Charakter fürstlicher Territorialherrschaft zu erweisen suchte, indem sie sie aus dem „Patrimonium", dem unantastbaren Privatvermögen des Herrschers, erwachsen ansah; s. K. B e y e r l e , Art. Patrimonialstaat, in: Staatslexikon der Görresgesellschaft, 5. Aufl., Freiburg 1931, Bd. IV, Sp. 76—79. 19 ) Vgl. den Nadiruf von G. Μ ο n o d , Georges Waitz, in: Rev. hist. 31, 1886, S. 382—390. „Quand nous 1' avons connu ä Goettingue, en 1868, il y exer?ait une sorte de royauti scientifique, et la Georgia-Augusta itait pour nous la Georgia-Waitzia... Quand on voulait s* occuper du moyen äge, il fallait aller ä Goettingue recevoir le bapteme scientifique". S. 386. 20 ) Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter, Stuttgart 1910. 21 ) Vogtei und Bede in der deutschen Kaiserzeit, Berlin 1919/23. 22 ) H. D a n n e n b a u e r , Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen, in: Η Jb 61,1941; ergänzte Fassung wieder abgedruckt in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. Η. Κ ä m ρ f , S. 66—134, Zitat S. 82.
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
freier Bauern kennzeichnet nämlich das germanische politische Leben, sondern die Herrschaft adliger Herren, die sich mit eigenen Soldaten, ihren Gefolgschaften, umgaben und als Großgrundbesitzer über abhängige Bauern geboten. Die Burg war bei den Germanen so gut wie dann im Mittelalter Herrschaftsmittelpunkt, und es werden damit in der germanischen Zeit die gleichen Verfassungsstrukturen offenbar, die sich dann im ganzen Mittelalter zeigen. „Die Macht der großen Adelsfamilien in ihrem Bereich bleibt die alte, ihre Herrschaft wird nicht gemindert. Selbst die scheinbar einschneidendste Neuerung, die Einverleibung der innerdeutschen Stämme in das fränkische Reich, ändert in Wahrheit so gut wie nichts daran 23 ". Ergänzt und bestätigt wurden diese das bisherige Verfassungsbild aufs tiefste erschütternden Thesen Dannenbauers durch Untersuchungen, die Theodor Mayer und W. Schlesinger zu etwa der gleichen Zeit über die Sozialstruktur der Karolingerzeit vorlegten24. Nach der älteren Auffassung hatte sich ja im Reich Karls des Großen noch das alte freie Bauerntum als Grundlage des fränkischen Staates erhalten, und man hatte so ganz selbstverständlich unter den „liberi" (Freien) der Quellen die altfreien, gemeinfreien Bauern, die freien bäuerlichen Staatsbürger verstanden. Eine genaue Untersuchung der Quellen ergab nun, daß der Begriff „Freier" in den Quellen der Karolingerzeit äußerst vielschichtig war, daß damit aber vor allem königliche Zinsbauern, also Eigenleute des Königs, bezeichnet wurden, die als „frei" galten, weil sie direkt und unmittelbar durch ihren Dienst M
) ibid., S. 134. Die neueren Arbeiten zur Adelsforsdiung haben diese These Dannenbauers bestätigt, was die adlige Herrschaftsstruktur überhaupt betrifft, bei der personellen Zusammensetzung des „karolingisdien Reidisadels", der „Reichsaristokratie", aber größere Veränderungen nachgewiesen; genannt sei aus der umfangreichen Literatur nur G. T e l l e n b a c h , Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, Weimar 1939. M ) Th. M a y e r , Königtum und Gemeinfreiheit im frühen Mittelalter, in: DA 6,1943 und wieder abgedruckt in d e r s ., Mittelalterliche Studien, Lindau/ Konstanz 1959. Dort wird auf weitere Aufsätze Th. Mayers zu diesem Thema verwiesen. Und d e r s., Bemerkungen und Nachträge zum Problem der freien Bauern, ibid., S. 164—186, bes. S. 172—173. W. S c h l e s i n g e r , Die Entstehung der Landesherrsdiaft, 1. Aufl. 1941, 2. Aufl. 1964, bes. S. 79—129. Vgl. außerdem den Sammelband: Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte (Vorträge und Forschungen, Bd. II), hg. Th. Μ a y e r , N D Darmstadt 1963.
Gemeinfreie Bauern — Königsfreie
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an den König gebunden waren, und doch wieder „unfrei" waren, da der König sie, und das hat er häufig getan, verschenken konnte. Die These Mayers und Schlesingers, daß unter den „liberi" der Quellen nicht etwa die alten, gemeinfreien germanischen Bauern, freie Herren auf freier Scholle, zu verstehen seien, sondern vor allem diese „KönigsfreienK, hat die ältere Auffassung von der germanisch-mittelalterlichen Verfassungsentwidklung, wie wir sie oben bei Georg Waitz kennengelernt haben, von der mittelalterlichen Seite her zum Einsturz gebradit, so wie es durch Dannenbauer von der germanischen Seite her geschehen war. Waitz und mit ihm die gesamte ältere Verfassungslehre hatten ja, um die unleugbare mittelalterliche Adelsherrschaft überhaupt erklären zu können, einen gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß größten Ausmaßes in den Jahren des Zerfalls des Karolingerreiches annehmen müssen, bei dem eben die ehemals freien germanischen Bauern, deren Freiheit der mächtige Karl noch hatte schützen können, aus wirtschaftlicher Not, meist aber durch brutale Gewalt der Mächtigen direkt gezwungen, ihre Freiheit aufgegeben und sich in Schutz, Dienst und Abhängigkeit der wirtschaftlich und militärisch mächtigen Adligen begeben hatten 85 . Beide Forschungsergebnisse, die Neubestimmung der germanischen Verfassungswirklichkeit und die Lehre von den Königsfreien haben den Weg frei gemacht für die Einsicht, daß die mittelalterlichen VerDie hier skizzierte Auffassung, Gemeingut der mittelalterlichen Verfassungslehre des 19. Jahrhunderts, ist im marxistischen Geschichtsbild geradezu kanonisiert worden: Marx und Engels legten natürlich die Geschiditskenntnisse ihrer eigenen Zeit zugrunde — der Einfluß G. L. v. Maurers auf Marx und Engels ist bekannt — und so bleibt ihre Theorie von der grundlegenden Verschiedenheit der germanischen Frühzeit und des Mittelalters als zwei verschiedenen »ökonomischen Gesellschaftsformationen" wesentlich an die Theorie vom freien germanischen Gemeinwesen gebunden; vgl. vor allem die beiden Abhandlungen von F. E n g e l s , Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 25—173 und: Fränkische Zeit, MEW 19, S. 474—518. Vor diesem Hintergrund ist der Versuch des marxistischen Historikers E. M ü l l e r - M e r t e n s zu sehen, in seinem Buch: Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Freien. Wer waren die liberi homines der karolingischen Kapitularien (742/3—832)?, Berlin 1963, die Gruppe der liberi nun so weit zu differenzieren, daß eben darunter auch wieder eine Gruppe erst sekundär verknechteter gemeinfreier Bauern erscheint, die dann mangels statistischer Überprüfbarkeit durch ideologischen Vorentscheid zur Hauptgruppe erklärt wird.
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
fassungszustände ohne radikalen Bruch aus der germanischen politischen Ordnung erwachsen sind und daß die Grundlage dieser Ordnung in der Herrschaft des Adels zu sehen ist26. Die Macht des Adels beruhte auf seinem Landbesitz und seiner Gefolgschaft; Reichtum und militärische Stärke versetzten ihn in die Lage, Schutz gewähren zu können. Des Schutzes aber bedurften alle, die nicht durch eine eigene Burg und eigene Gefolgschaft — und das setzt wiederum ausgedehnten Grundbesitz voraus — in der Lage waren, sich selbst zu schützen. Die Freien aber, die den Schutz eines Herren suditen, „begaben sich eines Teils ihrer rechtlichen Handlungsfreiheit und wurden damit muntbedürftig" 27 . Schutz begründet Herrschaft, Herrschaft und Schutz aber setzen Reichtum — und das war damals immer Reichtum an Land — und militärische Stärke voraus, und genau das sind die Merkmale des Adels. Das Bedürfnis nach Schutz aber erschließt ein Wesensmerkmal germanischen und mittelalterlichen Lebens, das verstellt wird, wenn man die Vorstellung vom Staat als einem Friedens- und Rechtsbereich, wie er für uns selbstverständliche Voraussetzung alles öffentlichen Handelns ist, auf die germanisdie Zeit und das Mittelalter überträgt: es war nidit unmittelbar Aufgabe des Königs oder irgendeiner anderen öffentlichen Gewalt, Leben und Besitz des Einzelnen zu schützen und ihm bei Verletzung seines Rechts wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Zwar haben die Könige versucht, über den Ausbau der Gerichtsbarkeit überhaupt und dann über den Ausbau des Königsgerichts zur Appellationsinstanz als oberste Gerichtsherren zu wirken. Aber ihr Bemühen brach sich an der Gerichtsherrschaft der adeligen Herren und vor allem an der Vorstellung, daß ein erlittenes Unrecht vor allem durch rächende Selbsthilfe zu sühnen sei. Sein Recht mußte sich jeder selbst erkämpfen, und zwar auch mit der Waffe in der Hand erkämpfen: die Fehde ist kein Aufruhr wider die Obrigkeit, unrechtmäßige Störung des Gemeinschaftsfriedens, sondern „Rache", die 26 ) Κ. Β ο s 1, Die germanisdie Kontinuität im deutschen Mittelalter (Adel — König — Kirdie) in: d e r s Frühformen der Gesellsdiaft im mittelalterlidien Europa, München/Wien 1964, S. 80—105, vor allem S. 94—98. 27 ) W . S c h l e s i n g e r , Herrschaft und Gefolgschaft in der germanischdeutschen Verfassungsgeschichte, in: HZ 176, 1953, S. 225—275; ergänzte Fassung in: Herrschaft und Swat im Mittelalter (wie Anm. 22), S. 135—190, Zitat S. 143.
Schutz — Herrschaft — Fehde
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jede Kränkung des Rechts fordert, und damit legitimes Rechtsmittel28. Die Könige mußten also zunächst einmal die Fehde als Form des Rechtsstreits zugunsten der friedlichen gerichtlichen Auseinandersetzung zurückdrängen, ehe sie daran gehen konnten, die Gerichtsredite bei sich als dem obersten Gerichtsherrn zu monopolisieren. Den deutschen Königen ist das nie gelungen. Diese wenn audi sehr knappen Hinweise auf die wesentlichen Forschungsergebnisse — und es konnte ja nur eine geringe Auswahl neuerer Arbeiten erwähnt werden — machen wohl eines deutlich: innerhalb der letzten vierzig Jahre ist es zu einer ganz grundsätzlichen Neubestimmung der germanisch-mittelalterlichen Verfassungsentwicklung in der deutschen Forschung gekommen: es hat keine demokratischen germanisch-mittelalterlichen Freistaaten mit monarchischer Spitze gegeben, die ein skrupelloser, machtlüsterner Adel, die Schwäche des Königtums im 9. Jahrhundert rücksichtslos ausnutzend, durch die Usurpation staatlicher Rechte zerstört hätte 29 . Das germanisch-mittelalterliche Leben ist gekennzeichnet durch „Feindschaft", „Rache", Fehde; wo der Staat nicht den Frieden aller sichert, ist der Starke, Mächtige ganz grundsätzlich überlegen, bedarf der Schwächere M ) Dieses Grundprinzip mittelalterlichen Gemeinschaftslebens sichtbar gemacht zu haben ist das große Verdienst O. B r u n n e r s , vor allem in seinem bahnbrechenden Buch „Land und Herrschaft", 1. Aufl., 1939, 6. Aufl. 1970, »ohne das ein Verständnis staatlicher Entwicklung bis zur französischen Revolution nicht mehr möglich ist" (Κ. Β ο s 1, Die alte deutsche Freiheit, in: Frühformen der Gesellschaft (wie Anm. 17), S. 204. M ) In Abwandlung der mit dem Namen von G. W a i t ζ verbundenen Vorstellungen vom Ablauf der germanisch-mittelalterlidien Verfassungsentwicklung hat es dann vor allem G. v. B e l o w , (Der deutsche Staat des Mittelalters, Leipzig 1914) unternommen, die Staatlichkeit mittelalterlicher Königsherrschaft im Sinne des modernen souveränen Staates bis zum Untergang der Staufer nachzuweisen. Dann sieht er die Staatlichkeit des deutschen Reiches abgelöst durch die Staatlichkeit der Territorien. „Ohne Zweifel ist zu jeder Zeit jeder Deutsche, wenn nicht Staatsoberhaupt, entweder Untertan oder Staatsbürger gewesen... Man hat sich stets gegenwärtig zu halten, daß die alten Zwangsverbände nicht sowohl aufgelöst wurden, als vielmehr nur von einer Hand in die andere übergingen" (Bd. I, S. 238—239). Dieser Ansatz, der immerhin die Zustimmung von F. K e r n gefunden hat (Recht und Verfassung im Mittelalter, HZ 120, 1919, S. 1—80), hat mit den Vorstellungen von G. Waitz bei aller Verschiedenheit der Forscherhaltung gemein, daß auch darin die Frage nach den Anfängen des modernen Staates im Mittelalter nicht aufkommen kann.
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
des Schutzes, steht also in der Abhängigkeit und unter der Herrschaft des Mächtigen. Herrschaft und Sdiutz mächtiger Adliger ist eine Grundgegebenheit des germanisch-mittelalterlichen Lebens. Seit der Völkerwanderungszeit nun bilden fast alle germanischen Reiche das Königtum aus, und zwar ein Königtum, das sich von dem alten germanischen Sakralkönigtum ganz wesentlich unterscheidet. W. Schlesinger hat es treffend als „Heerkönigtum" bezeichnet30. Unter einem Heerführer — dux — verlassen die germanischen Stämme oder Gruppen verschiedener Stämme ihre alten Siedlungsräume, erkämpfen sich neues Land, und dieser Heerführer steigt dann nach gelungener Landnahme zum Königtum auf: seine Familie wird zur „stirps regia", zur Königssippe, die einer besonderen Heilskraft, des Königsheils, teilhaftig ist. Nach der Christianisierung der Germanen verwandelt sich die germanisch-heidnische Geblütsheiligkeit in das christliche Gottesgnadentum; die römische Kirche hat daran lebhaftesten Anteil 81 . Adel, König und Kirche sind die Träger der Herrschaftsrechte. Selbstverständlich hat es im Wandel des politischen Kräftespiels Usurpation ehemals königlicher Rechte, königlichen Besitzes durch den Adel gegeben, genau so, wie kräftige Könige versucht haben, die autogenen Herrschaftsrechte des Adels ihrer Herrschaft unterzuordnen, sie durch Verleihung an sich zu binden 88 . Wenn Georg Waitz daher nach der Blütezeit der Herrschaft Karls des Großen von einem Niedergang der Königsherrsdiaft im späx
) W. S c h l e s i n g e r , Das Heerkönigtum, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen; Vorträge und Forschungen Bd. III, hg. Th. Μ a y e r (Mainauvorträge 1954), ND Darmstadt 1963, S. 105—141. 31 ) Vgl. vor allem dazu H. B ü t t n e r , Aus den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens, in: Das Königtum (wie Anm. 30), S. 155—167; F. K e r n , Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, 3. Aufl., Darmstadt 1962; Th. S c h i e f f e r , Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, Freiburg 1954, N D Darmstadt 1972. 3Z ) Η. Μ i 11 e i s hat gegenüber der älteren Auffassung betont, daß das Lehnswesen keineswegs mit Notwendigkeit eine staatszersetzende Wirkung hat, sondern im Gegenteil dazu dienen kann, die vielerlei eigenständigen Rechte in eine hierarchische Ordnung zu bringen; eine durchgängige Feudalisierung, wie sie in England und Frankreich durchgeführt worden ist, fördert daher die Zentralisierung und Monopolisierung von Herrschaftsrediten beim König, da von ihm als oberstem Lehnsherr alle Lehen letztlich ihren Ausgang nehmen. Η. Μ i 11 e i s , Lehnrecht und Staatsgewalt, 1. Aufl. 1933, ND Darmstadt 1958.
Die Frage nadi den Anfängen des Staates
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tcrcn 9. Jahrhundert spricht, und von einer Ausdehnung der Adelsherrschaft auf Kosten königlicher Herrschaftsrechte, so läßt sidi das schlechterdings nicht bestreiten. Wohl sehen wir einen Verfall königlicher Herrschaft, aber eben keinen Zerfall des Staates, wie Waitz meinte. Denn der Staat als Frieden und Recht sichernde Institution mit einem genau abgegrenzten Gebiet und einem einheitlichen Staatsund Untertanenverband ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung und ein grundsätzlich modernes Phänomen. So wird deutlich, daß es tatsächlich erst der oben beschriebenen Neubestimmung der germanisch-mittelalterlichen Verfassungsentwicklung bedurfte, um die Frage nach den Anfängen des modernen Staates im Mittelalter in der deutschen Forschung aufkommen zu lassen. Die Frage ist natürlich auch von der deutschen Forschung gestellt worden", aber hier hat wieder die Besonderheit der deutschen Entwicklung eine in knappen, klaren Linien gezeichnete Darstellung der Entstehung des modernen Staates, so wie J. Strayer sie vorlegt, erschwert: die modernstaatliche Entwicklung hat sich ja im Deutschen Reich nicht auf der Ebene des Königtums, sondern in den fürstlichen Territorien vollzogen. Das bedeutet, daß zunächst einmal die landesgesdiichtliche Forschung für jede einzelne Herrschaft die Entwicklungslinien herausarbeiten muß, ehe allgemeine Strukturen herausgestellt werden können. Im 11. Jahrhundert sehnte man sich überall in Europa nach mehr Frieden, mehr Sicherheit, mehr Gesetzmäßigkeit. Im deutschen Reich aber war die Macht zwischen dem Königtum und den Fürsten so durchgängig aufgeteilt, daß es beiden nicht gelingen konnte, in relativ kurzer Zeit die nötigen Institutionen auszubilden84. So liegt das Schwergewicht auf England und Frankreich, und M
) Vgl. etwa den Sammelband: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, hg. Η. H. H o f m a n , Köln/Berlin 1967; bes. den Aufsatz von W. Ν ä f , Frühformen des .modernen Staates* im Spätmittelalter, ibid., S. 101— 114, zuerst veröffentlicht in: HZ 171,1951, S. 225—243, der als Ergebnis einer vergleichenden Interpretation spätmittelalterlicher Herrschaftsverträge den Dualismus von Fürstenmacht und Ständerecht als notwendige zweifache Grundsteine des modernen Staates herausstellt. Vgl. zum Problem Fürsten und Königtum, zu dem es gerade für den deutsdien Bereich eine sehr umfangreiche Literatur gibt, auch die Abhandlung von K. F. W e r n e r , Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums (9.—10. Jahrhundert), in: Die Welt als Geschichte 18, 1958, S. 256— 289, 29, 1959, S. 146—193, 20,1960, S. 87—119, der durch sehr aufschlußreiche Vergleiche mit der deutschen Entwicklung das Problem erhellt.
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Einleitung in die deutsche Ausgabe
J. Strayer nimmt deshalb auch die Beispiele für seine Strukturanalyse vor allem aus dem englischen und französischen Bereich, wo die im Mittelalter einsetzende modernstaatliche Entwicklung in äußerer Kontinuität in den modernen souveränen Nationalstaat eingemündet ist. Die amerikanisdie Originalausgabe wurde für die deutschen Leser leicht umgearbeitet: der Text wurde um einige, durch Klammern gekennzeichnete Abschnitte erweitert und der Anmerkungsapparat durch die entsprechende deutschsprachige Literatur ergänzt.
1. Kapitel ERSTE A N F Ä N G E DER E U R O P Ä I S C H E N S T A A T E N B I L D U N G S E I T D E M 11. J A H R H U N D E R T Wir sehen heute den Staat als etwas Selbstverständliches an. Wir murren über seine Forderungen; wir beklagen uns darüber, daß er immer weiter in diejenigen Bereiche eindringt, die einst als Privatangelegenheiten galten; aber wir können uns ein Leben ohne ihn kaum vorstellen. In der Welt von heute ist das schlimmste Schicksal, das einen Menschen treffen kann, staatenlos zu sein. Hale's „Menschen ohne Vaterland" gibt es jetzt wirklich, und er ist erbärmlich in einer Weise, die Haie sich niemals vorstellen konnte. Die alten Formen sozialer Identifikation sind nicht länger unbedingt notwendig. Man kann ein einigermaßen erfülltes menschliches Leben ohne Familie, ohne festen Wohnsitz, ohne religiöse Bindungen führen, aber als Staatenloser ist man ein Nichts. Man hat keine Rechte, keine Sicherheit und wenig Gelegenheit zu einer sinnvollen beruflichen Laufbahn. Es gibt keine Rettung auf Erden außerhalb eines organisierten Staates. Das war nicht immer so. Es gab Epochen — nach den Zeitmaßstäben der Historiker ist es noch nicht einmal allzu lange her — da gab es den Staat nicht, und es kümmerte auch niemanden, daß es ihn nicht gab. Damals hatte derjenige keine Sicherheit und keine Chancen, der ohne Sippe oder ohne Herrn lebte, derjenige, der keiner Siedlungsgemeinschaft und keiner der anerkannten Religionen angehörte; er konnte nur überleben, indem er Dienstmann oder Unfreier wurde. Die Wertvorstellungen einer solchen Gesellschaft unterschieden sich von den unseren; die höchsten Opfer an Gut und Leben wurden der Sippe, dem Herrn, der Ortsgemeinschaft oder der Religion gebracht, nicht dem Staat. Die Organisationskraft solcher Gesellschaften war geringer als die unserer Gesellschaft; es war schwierig, eine größere Anzahl von Menschen über eine gewisse Zeit zur Zusammenarbeit zu bewegen. Es gab ein starkes Gefühl gegenseitiger Verpflichtung bei denjenigen, die sich persönlich kannten,
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
aber dieses Gefühl der Verpflichtung verging rasch mit zunehmender Entfernung. Unvollkommene und räumlich begrenzte Organisationsformen bedeuteten, daß der Reichtum an Menschen und an den Gütern der Natur nicht bestmöglich genutzt werden konnte; der Lebensstandard war niedrig, der begabte Einzelne konnte seine Fähigkeiten nicht zur vollen Entfaltung bringen. Auf der anderen Seite ermöglichte die Entwicklung des modernen Staates eine so konzentrierte Ausnutzung seines menschlidien Potentials, daß alle anderen Formen gesellschaftlicher Organisation zwangsläufig in eine untergeordnete Rolle verwiesen wurden. Wir zahlen einen Preis — manchmal einen gefährlich hohen Preis — für diese Konzentration von Macht, und es ist theoretisch möglich, daß wir uns die Vorteile eines solchen allseitig und rational organisierten Verbandes erhalten und doch die Rolle des Staates bei der Bereitstellung des Rahmens für diesen Organisationsverband verringern. In der Praxis hat das allerdings noch niemand vollbracht. Nur die entlegensten und primitivsten Völker kommen ohne Staat aus. Sobald die moderne Welt mit solch einem Gebiet in Berührung kommt, müssen dessen Einwohner entweder einen Staat gründen oder aber sich in den schützenden Schatten eines schon bestehenden Staates begeben. Wenn wir schon dem Staat nicht entfliehen können, so ist es umso wichtiger, ihn zu verstehen. Sich mit seiner Geschichte zu befassen ist dabei einer der Wege zum Verständnis: wir wollen also sehen, von woher und wann diese Organisationsform ihren Anfang nahm, welche Bedürfnisse sie befriedigte, auf welche Prinzipien sie gegründet war. Eine Untersuchung über die Ursprünge des modeinen Staates vermag Licht auf die Wesenszüge und die Probleme des heutigen Staates zu werfen. Sie vermag besonders dazu beizutragen, Unterschiede zwischen den verschiedenen Staats-Typen aufzuzeigen und zu erklären, warum einige Staaten ausgewogenere oder wirksamere Organisationsformen als andere besitzen. Eigentlich sollten wir mit einer Definition von Staat beginnen, aber die meisten Definitionsversuche scheinen uns wenig befriedigend zu sein. Ein Staat lebt vor allem im Herzen und im Bewußtsein seiner Bürger; wenn diese nicht der Überzeugung sind, daß es ihn wirklich gibt, so kann keine logische Übung ihn zum Leben erwecken. Auch hat es Staaten mit einem blühenden Leben gegeben,
Beständigkeit in Raum und Zeit
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die kein einziges der Kriterien der politischen Wissenschaft erfüllten, ζ. B. die Niederlande im 17. Jahrhundert. Statt nach einer Definition wollen wir also lieber nach denjenigen Anzeichen suchen, die uns zeigen, daß ein Staat im Entstehen begriffen ist. Diese Anzeichen werden für unsere Untersuchung von besonderem Nutzen sein, denn uns geht es ja um die Ursprünge und nicht um die endgültige Ausprägung von Staaten. Das erste Anzeichen läßt sich leicht erkennen, weil es rein äußerlich ist. Eine Gemeinschaft von Menschen muß in Raum und Zeit Bestand haben, wenn daraus ein Staat werden soll. Nur dann, wenn eine Gemeinschaft von Menschen in einem bestimmten Gebiet viele Generationen lang zusammen lebt und arbeitet, kann sie die Organisationsformen entwickeln, die zur Ausbildung eines Staates nötig sind. Auf Zeit abgeschlossene Bündnisse von Gruppen, die einige gemeinsame Interessen haben, werden in der Regel nicht zum Kern von Staaten, es sei denn, daß der Notstand, der zum Bündnis geführt hat, so lange anhält oder so häufig wiederkehrt, daß das Bündnis allmählich zu einem Dauerzustand wird; das ist ζ. B. bei den Franken eingetreten. Nicht einmal bei den Völkerschaften, die für sich einen gemeinsamen Ursprung annehmen, reichen regelmäßige Zusammenkünfte und wiederholte Bündnisse aus, um daraus einen Staat zu entwickeln; die Verbindungen müssen vielmehr ständig und ununterbrochen sein. Die Geschichte des antiken Griechenland liefert das Beispiel dafür: weder die Bündnisse gegen die Perser noch die Olympischen Spiele haben jemals aus den griechischen Städten einen einheitlichen Staat gemacht. Geographisch gesehen bedarf es eines Kerngebiets, in dem die Gemeinschaft ihr politisches System aufbauen kann; dagegen ist eine gewisse Fluktuation in den Randgebieten möglich. Staaten bedürfen dauerhafter Institutionen, und es ist schwer, solche Institutionen einzurichten, wenn das Gebiet, in dem sie Anwendung finden sollen, sich dauernd verändert, oder wenn der Zusammenhalt der Gemeinschaft zu bestimmten Zeiten des Jahres stärker ist als zu anderen. Deshalb errichten wirkliche Nomaden keine Staaten 1 ; sie 1 ) Ph. C S a l z m a n , Political Organization among Nomadic Peoples, in: Proc. American Phil. Soc. 3, 1967, S. 115—131; dort weitere Literaturhinweise.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
müssen erst zu einem gewissen Teil seßhaft werden, ehe irgend ein höherer Grad von politischer Organisation möglich ist. Sogar ein nicht-nomadisches Volk, das — freiwillig oder unfreiwillig — seine alte Heimat verläßt, verliert gewöhnlich etwas von seinem politischen Zusammenhalt und muß den Prozeß der Bildung eines Staates von neuem beginnen, wie die Geschichte des amerikanischen Westens zeigt. Mit der Kontinuität in Raum und Zeit treffen wir auf das nächste Anzeichen für die Entstehung eines Staates: die Bildung überpersönlicher, relativ dauerhafter politischer Institutionen. Primitive oder zeitlich begrenzte politische Gruppierungen können ihre Angelegenheiten durch persönliche, unstrukturierte Beziehungen regeln, wie etwa durch die Versammlungen vornehmer Männer oder durch Nachbarschaftsversammlungen. Und sogar auf dieser Ebene werden sich bestimmte gewohnheitsmäßig festgelegte Verfahrensweisen für die die Gesamtheit betreifenden Angelegenheiten herausbilden; es wird Verfahren für die Schlichtung innerer Streitigkeiten geben und für die Aufstellung Bewaffneter in Kriegszeiten. Es ist jedoch mehr als nur das erforderlich, wenn die Gemeinschaft zeitlich fortdauern und ihren Sitz in einem geographischen Raum behaupten soll, wenn lose verbundene Nachbargemeinden zu einer wirksamen politischen Einheit zusammengeschweißt werden sollen, wenn ein rationellerer Gebrauch der verschiedenartigen Schätze und Fähigkeiten eines Volkes gemacht werden soll. Dann muß es Institutionen geben, die Wechsel in der Führung und Schwankungen im Grad der Zusammenarbeit zwischen den Untergruppen überdauern, Institutionen, die einen gewissen Grad von Spezialisierung und damit eine rationellere Bewältigung der politischen Angelegenheiten ermöglichen, Institutionen, die das Gefühl der politischen Identität der Gemeinschaft stärken. Wenn solche Institutionen in Erscheinung treten, ist ein Wendepunkt auf dem Weg zur Staatsbildung erreicht. Andererseits führt das Auftreten spezialisierter Institutionen nicht notwendigerweise zur Schaffung eines Staates. Es kann sein, daß die Institutionen einzig zu dem Zweck entwickelt werden, die Privatinteressen der Reichen und Mächtigen zu schützen. So wie jeder, der seinen Besitz sorgfältig verwaltet, mag ζ. B. auch ein Stammesführer regelmäßige Abrechnungen über die Einkünfte aus seinem Land-
Bildung dauerhafter Institutionen
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besitz und von seinen Viehherden anfordern. Durch solche Abrechnungen werden aber nicht unbedingt die Grundlagen für ein Schatzamt gelegt. Adlige Grundbesitzer mögen es für wünschenswert halten, die Fehden einzuschränken, die ihren Besitz ruinieren und sie selbst dezimieren, und deshalb ein System von Gerichtsinstanzen schaffen. Wie die frühe Geschichte Islands zeigt, führt die Existenz solcher Gerichte aber weder notwendigerweise dazu, daß das Gesetz als oberste Entscheidungsinstanz anerkannt wird, noch zur Ausbildung einer Autorität, die das Gesetz durchsetzen könnte. Es kann durchaus sein, daß die Gerichte nur zur bequemen Verfügbarkeit bereitstehen, deren man sich, je nach den Umständen, bedient oder auch nicht bedient. Aber gerade weil in der vorstaatlichen Zeit keine scharfe Trennungslinie zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich gezogen werden kann, vermag jede dauerhafte Institution schließlich Teil eines Staatsaufbaus zu werden, obwohl ihr ursprünglich diese Rolle nidit zugedacht war. Wir haben das vor vergleichsweise kurzer Zeit beobachten können. Der Staat Massachusetts (Commonwealth of Massachusetts) und das Kaiserreich Indien (British Empire of India) sind aus Einrichtungen von Privatgesellschaften hervorgegangen. Eines der ältesten öffentlichen Ämter, das heute existiert, ist das des Sheriffs, aber die Sheriffs waren ursprünglich nur Gutsverwalter der angelsächsischen Könige. Ein gewichtigerer Einwand gegen das Vorhaben, der Existenz dauerhafter Institutionen eine zu große Bedeutung beizumessen, ist der, daß Institutionen nur rein äußerliche Instrumente sein können, deren sich ein Herrscher (oder eine herrschende Klasse) bedient, um ein Volk zu unterdrücken. Die bloße Existenz dauerhafter Institutionen bedeutet noch nicht, daß die Betroffenen sie als notwendig anerkannt haben oder daß sie dasjenige geistige Klima hervorgebracht haben, das für die Existenz eines Staates wesensnotwendig ist. Aber dauerhafte Institutionen werden in der Regel zu einem allmählichen Wandel in der allgemeinen Einstellung führen. Sie vermögen das Gerüst zu sein, an dem sich die Idee des Staates emporrankt. Sogar koloniale Institutionen, die bei der unterworfenen Bevölkerung keine Wurzeln geschlagen haben, können bei der Errichtung eines neuen Staates als Gerüst dienen und sie haben auch dazu gedient.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung Wichtiger jedoch als die bloße Existenz dauerhafter Institutionen
sind die Zeugnisse dafür, d a ß sie an Ansehen und A u t o r i t ä t zunehmen. Gibt es ζ. B. Gerichte, die letztinstanzliche Urteile fällen können, die jedweden in einem bestimmten Gebiet binden und die niem a n d außer K r a f t setzen darf? Die mittelalterlichen Päpste v e r kündeten, d a ß sie „alle richten, aber v o n niemandem gerichtet werden k ö n n e n " 2 ; seit w a n n sind weltliche Herrscher in der Lage, mit diesem Anspruch aufzutreten?
Oder,
um es allgemeiner
auszu-
drücken: seit w a n n beginnt die Idee der Souveränität aufzutauchen? E s ist weitaus schwieriger, das Vorhandensein einer Idee als das einer
Institution
nachzuweisen,
und
ein Teil
der
Schwierigkeit
geht auf die Unzulänglichkeit des europäischen politischen V o k a b u lars der frühen Epochen zurück. Souveränität gab es in der Praxis lange, bevor m a n sie theoretisch formulieren konnte ( 1 3 0 0 im Gegensatz zu 1 5 5 0 ) 8 . Auch waren die Herrscher, die letztlich souveräne Gewalt beanspruchten, nicht immer in der Lage, ihre Ansprüche 2 ) Das ist die wesentliche Aussage der Artikel 18—21 des Dictatus Ρ a ρ a e von 1075, ed. E. C a s ρ a r , Das Register Gregors VII., Berlin 1920 (MGH, Ep. sei. II), S. 201—208; s. als Einführung in die wissenschaftliche Diskussion um den D. P., die eine Fülle von Literatur hervorgebracht hat, Th. S c h i e f f e r , Art.: Dictatus Papae, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3 (2. Aufl., 1959), Sp. 368—369; in den Thesen des D. P. erhält der sich in der Zeit der Kirdienreform vollziehende Wandel des Rechts im Leben der Kirche programmatischen Ausdruck; vgl. dazu H. F u h r m a n n , Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. J. F l e c k e n s t e i n (Vorträge und Forschungen 17), Sigmaringen 1973, S. 175—203 mit reichen Literaturhinweisen. Vgl. allgemein zur Einordnung des D. P. in das abendländische Denken R. W. und A. J . C a r l y l e , A History of Mediaeval Political Theory, Edinburgh 1928, Bd. IV, S. 153. s ) Vgl. zu diesem Problem G. P o s t , Studies in Medieval Legal Thought, Princeton 1964, Kap. 5, 8,10 und bes. die Seiten 280—289, 301—309, 445—453, 463—478; und E.H. K a n t o r o w i c z , The King's Two Bodies, Princeton 1957, Kap. 5, bes. die S. 236—258. So heißt es etwa audi im S t a t u t e o f W e s t m i n s t e r I (1275), Kap. 17, daß der König sogar in Wales, wo sein w r i t keine Rechtskraft hat, in seiner Eigenschaft als Herrscher über einen jeden Recht sprechen kann, und B e a u m a n o i r , der zu etwa der gleichen Zeit in Frankreich seine „Coutumes de Beauvaisis* verfaßte, schreibt im § 1043, daß der König als Herrscher über allen steht, daß er Gesetze („establissemens*) für das gemeine Wohl erlassen kann und daß jedweder seiner Rechtsprechung unterworfen ist; vgl. außerdem H. Q u a r i t s c h , Staat und Souveränität, Frankfurt 1970, mit umfassendem Anmerkungsapparat und Literaturverzeichnis.
Verlagerung der Treuebindungen
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durchzusetzen. Aber das Ausschlaggebende war nicht der Besitz eines „Machtmonopols", sondern die Einsicht, daß eine letztentscheidende Staatsgewalt nötig war. Solange die Mehrheit der politisch aktiven Bevölkerung anerkannte, daß es eine Obrigkeit mit letztinstanzlicher Entscheidungsbefugnis geben sollte, solange konnte man ziemlich viele Verletzungen dieses Prinzips in der Praxis hinnehmen. Das führt uns zum letzten, wichtigsten und verschwommensten unserer Kriterien: die Verlagerung der Loyalität von der Familie, von der Siedlungs- oder Religionsgemeinschaft weg zum Staat hin und die Aneignung von moralischer Autorität durch den Staat, der damit seinen institutionellen Aufbau und seine theoretische legale Oberhoheit absicherte. Am Ende des Prozesses erkennen die Untertanen die Vorstellung an, daß die Interessen des Staates Vorrang vor allen anderen haben und daß die Erhaltung des Staates das höchste gesellschaftliche Gut darstellt. Aber der Wandel vollzieht sich normalerweise so langsam, daß der Prozeß schwer zu belegen ist; man kann einfach nicht feststellen, daß zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt die Treue zum Staat vorherrschend wird. Außerdem, und das macht das Problem noch schwieriger, ist die Treue zum Staat nicht mit Nationalismus gleichzusetzen; in einigen Gebieten arbeitete der Nationalismus sogar der Treue gegenüber bestehenden Staaten entgegen. Selbst in den glücklichen Ländern, in denen der Nationalismus schließlich die Treue zum Staat verstärkte, war die Treue zum Staat das ursprünglichere und zwar viel gemäßigtere Gefühl, nämlich eher eine Art allgemeiner Menschenfreundlichkeit. Und in gewisser Weise kann man auch von Menschenfreundlichkeit sprechen: der Staat gab größeren Frieden und größere Sicherheit, bessere Chancen für ein gutes Leben als die losen Zusammenschlüsse kleiner Gruppen; deshalb verdiente er es, unterstützt zu werden. Fassen wir diesen Teil unserer Erörterung zusammen: wir halten Ausschau nach dem Erscheinen politischer Einheiten, die in einem festen Raum zeitlichen Bestand haben; nach der Entwicklung dauerhafter, überpersönlicher Institutionen; nach der Einsicht, daß man eine Obrigkeit braucht, die endgültige Entscheidungen fällen kann und schließlich nach der Anerkennung der Vorstellung, daß dieser Obrigkeit die grundlegende Treue ihrer Untertanen entgegengebracht werden sollte. Wir werden nach Zeugnissen für diesen Wan-
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
del in Westeuropa in der Zeit von 1100 bis 1600 suchen. Nicht deshalb, weil es in früheren Epochen oder in der nicht-europäischen Welt keine Staaten gegeben hätte — die griechische polis war sicherlich ein Staat, ebenso wie das Han-Reich in China und das Römische Reidi. Aber wir fragen nach den Ursprüngen des modernen Staates, und der moderne Staat ging nicht direkt aus irgendeinem dieser frühen Staaten hervor. Die Männer, die die Grundlagen für die ersten europäischen Staaten legten, hatten keine Kenntnisse über Ost-Asien und waren von Griechenland und Rom durch lange Zeiträume geschieden. Sie lernten zwar von Rom durch das Studium des Römischen Rechts und von Griechenland einiges aus den Schriften des Aristoteles, aber letztlich mußten sie doch den Staat durch eigene Anstrengungen neu hervorbringen. Und der Typus von Staat, den sie hervorbrachten, erwies sich als erfolgreicher als die meisten früheren Modelle. In der Antike gab es vor allem zwei Kategorien von Staaten: die unvollkommen integrierten Großreiche und die kleinen, aufs engste verwobenen politischen Einheiten wie die griechischen Stadt-Staaten. Jeder Typus hatte Schwächen. Die Großreiche waren militärisch stark, konnten aber nur einen geringen Teil ihrer Angehörigen am politischen Prozeß beteiligen, zumindest dann, wenn die unmittelbaren lokalen Interessen überschritten wurden. Das war eine beträchtliche Verschwendung menschlichen Potentials und bedeutete, daß die Treue zum Staat eher lau war. Die überwiegende Mehrheit der Untertanen eines Großreichs war nicht der Meinung, daß die Bewahrung des Staates das höchste gesellschaftliche Gut sei; in einem Fall nach dem anderen sahen sie dem Zusammenbruch der Großreiche mit Gleichmut zu, und kehrten dann entweder zu kleineren politischen Einheiten zurück oder akzeptierten ohne Widerstand ihre Eingliederung in ein neues Großreich mit einer neuen Führungsschicht. Der Stadt-Staat machte weitaus wirkungsvolleren Gebrauch von den Fähigkeiten seiner Einwohner als das Großreich: alle Bürger beteiligten sich aktiv am politischen Prozeß und an den gemeinsamen kommunalen Unternehmungen. Die Treuebindung an den Staat war stark; zeitweise näherte sie sich der Intensität des modernen Nationalismus. Aber kein Stadt-Staat löste jemals das Problem, neue Gebiete und neue Bevölkerungen in seinen bestehenden Aufbau zu integrieren und eine wirklich große
Stadtstaaten und Großreiche
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Anzahl von Menschen an seinem politischen Leben zu beteiligen. Entweder wurde der Stadt-Staat der Kern eines Großreiches (wie Rom) und so dessen Schwächen unterworfen, oder er blieb klein, militärisch schwach und wurde früher oder später das Opfer einer Eroberung. Die europäischen Staaten, die sich nach 1100 bildeten, verbanden in einem gewissen Maße die Stärken der Großreiche mit denen der Stadt-Staaten. Ihre Größe und Stärke gab ihnen ausgezeichnete Überlebenschancen — einige von ihnen nähern sich der Jahrtausendgrenze, und das ist schließlich ein respektables Alter für jede menschliche Organisation. Gleichzeitig gelang es ihnen, große Teile ihrer Bevölkerung am politischen Prozeß zu beteiligen oder zumindest zu interessieren, und ein Gefühl von Gemeinsamkeit zwischen den einzelnen Lokalgemeinden herzustellen. Sie erreiditen mehr bei ihrem Volk, sowohl was die politische als auch was die gesellschaftliche Aktivität und die Loyalität betraf, als es die antiken Großreiche vermocht hatten, wenn sie auch hinter der vollen Bürgerteilnahme zurückblieben, die eine Stadt wie Athen gekennzeichnet hatte. Die Unterscheidung zwischen unvollkommen integrierten Großreichen und kleinen, aufs engste verwobenen politischen Einheiten läßt sich auch recht gut auf den Mittleren Osten, auf Zentralasien und Indien anwenden. Sie trifft weniger gut auf China (und schließlich Japan) zu. Aber die Fähigkeit des europäischen Typus von Staat, sich ökonomische und politische Überlegenheit anzueignen, erwies sich als so groß, daß daneben schließlich das chinesische Erfahrungsgut und das anderer außer-europäischer Staaten als irrelevant erschienen. Das europäische Modell von Staat kam in Mode. Kein europäischer Staat ahmte einen außereuropäischen Typus nach, aber die nicht-europäischen Staaten ahmten entweder das europäische Modell nach, um überleben zu können, oder machten die Erfahrungen der Kolonialzeit durch, die sie mit wesentlichen Elementen des europäischen Systems in Berührung brachten. Der moderne Staat, woimmer wir ihn heute vorfinden, ist auf den Typus von Staat gegründet, der in Europa in der Zeit zwischen 1100 und 1600 entstand. Wie wir oben feststellten, mußten die Europäer den Staat aus eigenen Kräften von Neuem hervorbringen, und mehrere Jahr-
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
hunderte lang nach dem Untergang des Weströmischen Reiches schien es keineswegs so, als würden sie dabei erfolgreich sein. Die römische Staatsidee war schnell vergessen in den unruhigen Zeiten der Invasionen und Wanderungen; nicht einmal die Führer der Kirche, die viele römische Traditionen bewahrten, konnten den römischen Staatsbegrifi mehr einigermaßen klar formulieren. Im Frühmittelalter war die bestimmende Form politischer Organisation in Westeuropa das germanische Königreich4, und das germanische Königreich war in einigem die vollkommene Antithese zum modernen Staat. Es war auf die Treue zu Personen gegründet, nicht auf die Treue gegenüber Ideen und überpersönlichen Institutionen. Ein Königreich bestand aus einem Volk, das jemanden als König anerkannte, oder, in den gefestigteren Gemeinschaften, aus einem Volk, das das Recht einer bestimmten Sippe zur Herrschaft anerkannte. Diesen Königreichen fehlte die zeitliche Kontinuität und die räumliche Stabilität. Einige von ihnen waren so ephemär, daß wir sie nur mit dem Namen eines Herrschers zu benennen vermögen, ζ. B. „Samos Königreich", dem ein blühendes, aber kurzes Dasein im böhmischmährischen Raum beschieden war 5 . Einige überdauerten zwar eine größere Zeitspanne, machten aber phantastische Ortsveränderungen durch; in wenigen Generationen wanderte das Königreich der Westgoten von der Ostsee über das Schwarze Meer bis hin zum Golf von Biscaya. Der König war für Notsituationen da; er war nicht die Spitze der Rechtsprechung und der Verwaltung. Er sprach für sein Volk mit den Göttern; er führte sie gegen andere Könige in den Krieg, aber jede lokale Gemeinschaft regelte ihre inneren Angelegenheiten selbst. [Das Volk eines Königreichs war kein Untertanenverband, wie wir ihn aus der Neuzeit kennen, sondern ein ständisch gegliederter Verband von Personen, in dem der Adel Hoheitsfunktionen aus eigenem Recht ausübte, d. h. ohne, daß sie ihm vom König oder 4 ) Vgl. zum mittelalterlichen Königtum den Sammelband: Das Königtum, hg. Th. M a y e r (Vorträge und Forschungen 3), Darmstadt 1963. *) S. Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hg. Κ. Β ο s 1, 3 Bde, Band I, Stuttgart 1967, S. 142—144, S. 187; und: Siedlung und Verfassung Böhmens in der Frühzeit, hg. F. G r a u s und H. L u d a t , Wiesbaden 1967, S. 9 ff.
Das germanische Königreich
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einer anderen „Staatsgewalt" übertragen worden wären. Die Adeligen geboten über autogene Herrschaftsbereiche. Diese hatten von vornherein ein großes Maß an Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Sie waren keine Verwaltungsbezirke mit einem den Staat sprengenden Ehrgeiz zur Autonomie®.] Die Sicherheit des Einzelnen wurde nicht vom König gewährleistet; sie kam von der Familie, vom Nachbarschaftsverband, vom Herrn, nicht vom König. Das Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts und das angelsächsische Königreich des 10. und 11. Jahrhunderts erhoben sich etwas über diesen Stand. Beide Königreiche hatten sich in einem bestimmten Raum fest etabliert und eine beachtliche Zeitspanne überdauert. In beiden hatte der König die allgemeine Verantwortung für die Bewahrung des Friedens und die Rechtsprechung übernommen und ein einheitliches System lokaler Gerichtshöfe geschaffen, um dieser Verantwortung zu genügen7. Aber diese Schritte zur Errichtung eines Staates waren verfrüht; die herrschenden Sozial- und Wirtschaftsstrukturen waren nicht in der Lage, das Gewicht von auch nur in etwa zentralisierten politischen Institutionen auszuhalten. Die Interessen und Treuebindungen waren primär lokaler Art, auf die Familie, die Nachbargemeinschaft, die Grafschaft beschränkt. König6
) Vgl. zu dieser Verfassungsstruktur mittelalterlicher Reiche O. B r u n n e r , Land und Herrschaft, N D 6. Aufl., Darmstadt 1973 und den Sammelband: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. H. K ä m p f (Wege der Forschung 2), Darmstadt 1963 und darin besonders den Aufsatz von Th. M a y e r , Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im Hohen Mittelalter, S. 284—331, in dem Th. Mayer den mittelalterlichen „Personenverbandsstaat* dem „institutionellen Flächenstaat" der Neuzeit gegenüberstellt. 'J Zum angelsächsischen Königreich s. F. M. S t e η t ο η , Anglo-Saxon England, 3. Aufl., Oxford 1971, S. 492—502; J. E. A. J o l l i f f e , The Constitutional History of Medieval England, 4. Aufl., London 1962, S. 57—74; 107—127. Eine gut lesbare, relativ knappe, dabei informationsreidie Übersicht über die englische Geschichte in deutscher Sprache bietet Κ. Κ1 u χ e η , Geschichte Englands, Stuttgart 1968. Zum fränkischen Reich s. H . L ö w e , Deutschland im fränkischen Reich, und die entsprechenden Abschnitte bei Κ. Β ο s 1, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im deutschen Mittelalter (B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bde. 2 und 7, München 1973, in einzelne Bände aufgeteilter Nachdruck der 9. Aufl. des Gebhardt von 1970) und jetzt vor allem: J. F l e c k e n s t e i n , Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte (Deutsche Geschichte I), Göttingen 1974.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
lidie Amtsträger — die Herzöge, Grafen und vassi dominici im Frankenreich, die Earls und thegns in England — wurden leicht zu Anführern autonomer lokaler Gemeinschaften, anstatt als Beauftragte der Zentralgewalt zu handeln. Im Frankenreich waren die Grafen und Herzöge um 900 faktisch unabhängig geworden, aber ihre eigene Herrschaft wurde wiederum durch die Vizegrafen, die Kastellane und andere Führer kleiner Gemeinschaften unterminiert. Diese Zerstückelung politischer Macht ist einer der Aspekte des frühen Feudalismus. In der Tat kommt es zum Feudalismus in der Regel dann, wenn es sich herausstellt, daß die ökonomischen und psychischen Kräfte einer Gesellschaft nicht ausreichen, um den Belastungen standzuhalten, die die Erhaltung einer größeren politischen Einheit mit sich bringt 8 . Und der frühe Feudalismus kann die Last nur dadurch erleichtern, daß er Institutionen vereinfacht und Treuebindungen personalisiert. Der Frühfeudalismus muß also zunächst gegen den sich bildenden Staat arbeiten, auch wenn er schließlich der Staat-Bildung als Basis zu dienen vermag. Die Zersplitterung schritt in jedem Teil des alten fränkischen Reiches verschieden schnell und in verschiedenem Ausmaß fort, aber sie ging so weit, daß es schwer gewesen wäre, um das Jahr 1000 so etwas wie einen Staat irgendwo in Europa zu finden (mit Ausnahme des Byzantinischen Reiches). England, das später als das Frankenreich eine Einheit geworden war, zeigte deshalb auch später Zeichen der Desintegration. Wäre England sich selbst überlassen geblieben, so wäre es vielleicht im 12. Jahrhundert genau so zersplittert gewesen wie Frankreich im 11. Jahrhundert, aber da die normannische Eroberung die alte angelsächsische Aristokratie ausgelöscht hatte, war mit ihr auch eine der Kräfte, die zur Zersplitterung führten, beseitigt worden. Bei all den endlosen Diskussionen über die Auswirkungen der normannischen Eroberung, die wohl niemals zum Abschluß kommen werden, ist eins sicher: indem sich eine neue, nach Frankreich orientierte herrschende Schicht etablierte, wurde die Phasenverschiebung 8 ) Ο. Η i η t ζ e , Wesen und Verbreitung des Feudalismus (1929), Nd. in d e r s ., Staat und Verfassung I, 2. Aufl. 1962, S. 84 ff. Vgl. zum Begriff des Feudalismus in der nicht-marxistischen und in der marxistisdien Geschichtswissenschaft H. N e u b a u e r , Artikel: Feudalismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. II, Freiburg 1968, S. 477—490.
Wiederbelebung des Prozesses der Staatenbildung
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gegenüber den Entwicklungen auf dem Kontinent beseitigt. Nach 1066 wirkten diejenigen Kräfte, die die Entstehung des Staates in den Ländern des Kontinents förderten oder hemmten, mit gleicher Intensität auf England ein. Es ist sdiwer zu sagen, welche Vorstellungen und Ereignisse zu einer Wiederbelebung des Prozesses der Staatenbildung in Westeuropa am Ende des 11. Jahrhunderts führten. Ganz sicher waren die Verbreitung des Christentums bei nicht romgebundenen oder heidnischen germanischen Völkerschaften und die verbesserte Organisation der Kirche von Bedeutung. Westeuropa war erst am Ende des 10. Jahrhunderts wirklich christianisiert. Vor dieser Zeit hatten viele, die dem Namen nach Christen waren, wenig Berührung mit der Kirche, und eine der größten germanischen Völkerschaften — die Normannen — waren noch nicht einmal dem Namen nach Christen. Die Kirche hatte bereits viele Merkmale eines Staates ausgebildet — ζ. B. dauerhafte Institutionen — und war dabei, andere zu entwickeln, ζ. B. eine Theorie päpstlicher Souveränität 9 . Kirchliche Amtsträger waren so stark an weltlicher Politik beteiligt, daß kein Herrscher ihres Rats und ihrer Unterstützung entraten konnte; daraus ergab sich, daß die politischen Theorien und die Verwaltungstechniken der Kirche unmittelbar auf die weltliche Herrschaft einwirkten. Die Kirche lehrte zudem, daß es die Aufgabe weltlicher Herrscher sei, ihren Untertanen Frieden und Gerechtigkeit zu sichern10 — eine Lehre, die logischerweise die Schaffung neuer Gerichts- und Verwaltungsinstitutionen erforderte. Aber die Dinge gerieten nur langsam in Bewegung; es war weitaus leichter, die Einrichtungen der Kirche zu bewundern, als sie nachzuahmen, leichter, die Zuständigkeit des Königs für die Durchsetzung des Rechts an9
) W. U l i m a n n , The Growth of Papal Government in the Middle Ages, 4. Aufl., London 1970; dt. Übersetzung der 1. Aufl.: Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter, 1960; F. K e m p f , Die innere Wende des christlichen Abendlandes während der gregorianischen Reform, in: Handbuch der Kirchengesdiichte, hg. H. J e d i n , III, 1, Freiburg/Basel/Wien 1966, S. 485— 506; K. J o r d a n , Das Reformpapsttum und die europäisdie Staatenwelt, in: WaG 18, 1958, S. 122—137, und d e r s ., Die Entstehung der römischen Kurie, in: ZRG, Kan. Abt. 59,1939, Nd. mit Naditrag Darmstadt 1973. 10 ) Kantorowicz (wie Anm. 3), S. 93—97; C a r 1 y 1 e (wie Anm. 2), II, Part II, Kap. 3, 5, 8.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
zuerkennen, als ein Gerichtssystem aufzubauen. Der Einfluß der Kirche allein reichte nicht aus, um Staaten hervorzubringen. Ein anderer, fast gleichgewichtiger Faktor war die allmähliche Stabilisierung Europas, das Ende einer langen Periode von Wanderungen, Invasionen und Eroberungen. Die frühen germanischen Könige hatten das Weströmische Reich vernichtet, aber anschließend gingen sie dazu über, sich gegenseitig zu zerstören, wobei sie sich der Hilfe wieder neuer Eroberer bedienten. Die Franken eroberten rivalisierende Königreiche in Gallien und Germanien und wurden dann selbst von Bürgerkriegen zerrissen und von den Angriffen der Normannen heimgesucht. Die Ostgoten und die Vandalen wurden von Ostrom ausgelöscht, die Westgoten durch die Einfalle der Araber. Die Eroberung durch die Dänen bedeutete das Ende für die meisten angelsächsischen Königreiche. Erst im 10. Jahrhundert erlangte Wessex, das einzig überlebende angelsächsische Königreich, die Herrschaft über den größten Teil Englands. Aber nach dem Jahre 1000 wurden solche durchgreifenden Veränderungen selten. Die wichtigsten überlebenden Königreiche, das Königreich England, das Königreich der Westfranken (das einmal Frankreich werden sollte) und das Königreich der Ostfranken (der Kern Deutschlands) sollten in der einen oder anderen Form bis in unsere eigene Zeit fortbestehen. Das gleiche geschah auf lokaler Ebene; die großen Adelsfamilien wurden auf ihren Adelssitzen seßhaft, anstatt in dauernder Wanderschaft Macht und Beute zu suchen. Es war nicht mehr möglich, daß ein Graf, dessen Familie erst kürzlich aus dem Rheinland zugewandert war, die Herrschaft im Westfrankenreich erlangte, so wie es einem Vorfahren der Kapetinger gelungen war; ein Vikingerführer konnte sich nicht mehr zum Herrn einer französischen Provinz machen, wie es Rollo in der Normandie getan hatte. Die Zunahme politischer Stabilität brachte eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Errichtung von Staaten, nämlich die Kontinuität in Raum und Zeit. Einige Königreiche und Adelsherrschaften erlangten Festigkeit einfach dadurch, daß sie fortbestanden. Die gleichen Völker saßen in den gleichen Gebieten und blieben jahrhundertelang im gleichen politischen Verband. Man erwartete, daß ein Königreich, das Jahrhunderte überdauert hatte, auch weiterhin existierte; es bildete einen anerkannten Teil der politischen
Der Einfluß des Lehnswesens
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Landschaft. Und den Herrschern von Königreichen und Adelsherrschaften, die in Raum und Zeit Bestand hatten, boten sich Gelegenheiten und Anreize, dauerhafte Institutionen zu entwickeln. Sie wünschten innere Sicherheit und irgendeine organisierte Form der Beziehung zwischen den lokalen Siedlungsgemeinschaften und ihren eigenen Höfen, und sei es auch nur aus selbstsüchtigen Beweggründen; größere Sicherheit und stärkere Kontrolle würde mit fast berechenbarer Sicherheit das Einkommen des Herrschers vergrößern, sein Ansehen vermehren und die Aussicht verbessern, seine Macht und seine Besitzungen an seine Erben weitergeben zu können. Die Wünsche der Herrscher trafen sich mit den Bedürfnissen ihrer Untertanen. In einem Zeitalter der Gewalttätigkeit suchten die meisten Menschen mehr als alles andere Frieden und Sicherheit. Es gab Bestrebungen auf allen Ebenen, schwache Regierungen zu stärken, damit sie wenigstens ihre grundlegendsten Pflichten, die Verteidigung gegen innere und äußere Friedensstörer, wahrnehmen konnten. So mußte man direkt erwarten, daß in jedem politischen Gebilde, in dem es Stabilität und Kontinuität gab, Anstrengungen unternommen werden würden, Gerichtsbehörden zu schaffen, um die innere Sicherheit zu verbessern, und Finanzbehörden, um die Mittel zur Verteidigung gegen äußere Feinde beizubringen. Merkwürdigerweise war das Bemühen um verbesserte Gerichtsund Finanzbehörden besonders stark in einigen der größeren Lehnsherrschaften. Das Lehnswesen hatte das Frankenreich zerstört, aber es hatte nicht alle sozio-politischen Veränderungen rückgängig gemacht, die dieses Reich hervorgebracht hatte. Sogar die primitivste Lehnsherrschaft war ein entwickelteres politisches Gebilde als ein primitiver germanischer Stamm. Diejenigen, die politische Funktionen ausübten, unterschieden sich deutlich von dem Rest der Gemeinschaft. Der politische Aufbau war künstlich geschaffen, ζ. B. die Grafschaft, das Amt des Grafen, der Grafengerichtshof, und die politische Organisation konnte durch bewußt geplante Eingriffe verändert werden — ζ. B. durch die Übertragung eines Gerichts oder Teile der Rechtsprechung eines Gerichts von einem Herrn an einen anderen. Die Regierung unterschied sich von den Volksbräuchen der Gemeinschaft, und das Bewußtsein dieser Unterschiedenheit war ein wesentlicher Bestandteil der Staatenbildung. Außerdem hatte der
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
Feudalismus die Zwangsvorstellung beseitigt, nidit lebensfähige politische Gebilde unbedingt am Leben halten zu wollen und hatte dadurch ein günstigeres Meinungsklima für die Erprobung neuer politischer Formen geschaffen. Der tatsächlichen Einheit einer Feudalherrschaft entsprach ziemlich genau die soziale und ökonomisdie Einheit; die Untertanen eines Herrn hatten gewöhnlich ziemlich viele Gemeinsamkeiten. In vielen Feudalherrschaften entwickelte sich eine starke Treuebindung an den Herrn, und das war etwas, was sowohl im spätrömischen Reich als auch in vielen germanischen Königreichen gefehlt hatte. Schließlidi hatte der Feudalherr genau so wie jeder andere Herrsdier ein starkes Interesse daran, seine Herrschaftsweise zu verbessern: der Wunsch nach größeren Einkünften und größerer Sicherheit für sich und seine Erben. So unternahmen in einigen Gebieten, vor allem im nördlichen Frankreich, die stärkeren Feudalherren die ersten Schritte auf dem Wege zur Errichtung von Staaten. An modernen Maßstäben gemessen gab es kein sichtbares Anwachsen von Stabilität und Sicherheit in den Jahren nach 1000. Im Vergleich mit früheren Verhältnissen aber sind die Verbesserungen unleugbar; sie genügten jedenfalls, um in den meisten Ländern Westeuropas ein wirkliches Wiederaufblühen zu ermöglichen. Agrarproduktion und Fernhandel nahmen zu; die Bevölkerung wuchs; die Menschen nahmen stärker Anteil an religiösen, politischen und wirtschaftlichen Problemen. Es war nicht immer einfach, alle diese Interessen miteinander in Einklang zu bringen; es war besonders schwierig, den Wunsch nach umfassenderer und besserer Regierung mit dem Wunsch nach einer reformierten Kirche und einem christlicheren Leben zu verbinden. Ein frühes Beispiel soll dieses Argument veranschaulichen: die Gottesfriedensbewegung entstand im 10. Jahrhundert in den unruhigen Regionen Mittelfrankreichs als ein Versuch der Kirche, Bauern und andere nicht-waffentragende Bevölkerungsschichten zu einer Art Wachgenossenschaft zusammenzuschließen mit dem Ziel, die Gewalttaten und Plünderungen der Feudalherren abzuwehren 11 . Sie war nicht sehr erfolgreich, da die u ) L. H u b e r t i , Studien zur Rechtsgeschichte der Gottesfrieden und Landfrieden I (Ansbach 1892); G. Μ ο 1 i η i έ , L' organisation judiciaire, militaire et financiere des associations de la paix (Toulouse 1912); L. C. M a c k i n -
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Gottes- und Landfrieden H e r r e n in der R e g e l d e n u n a u s g e b i l d e t e n ,
schlecht
ausgerüsteten
T r u p p e n d e r F r i e d e n s b ü n d e militärisch ü b e r l e g e n w a r e n . D i e B e w e g u n g erregte auch einiges M i ß t r a u e n bei L a i e n u n d s o g a r bei k o n s e r v a t i v e n kirchlichen W ü r d e n t r ä g e r n , w e i l sie die K i r c h e in d a s höchst weltliche G e s c h ä f t des K r i e g e s u n d der K r i m i n a l g e r i c h t s b a r keit verstrickte 1 2 . A b e r a l s die I d e e v o n m ä c h t i g e n weltlichen H e r r e n w i e d e m H e r z o g v o n der N o r m a n d i e a u f g e g r i f f e n w u r d e , als die K i r c h e sich w i l l e n s zeigte, m i t einer u n t e r g e o r d n e t e n R o l l e v o r l i e b z u n e h m e n u n d n u r d i e B e m ü h u n g e n der weltlichen H e r r s c h e r z u s a n k t i o n i e r e n , d a erwies sich die F r i e d e n s b e w e g u n g als nützlich. Sie d i e n t e H e r z ö g e n u n d G r a f e n a l s R e c h t f e r t i g u n g , in l o k a l e A n g e l e genheiten e i n z u g r e i f e n u n d G e w a l t t ä t i g k e i t e n z u unterdrücken, die die politische S t a b i l i t ä t g e f ä h r d e t e n 1 3 . η e y , The People and Public Opinion in the Eleventh Century Peace Movement, in: Speculum 5, 1930, S. 181—206; H. H o f f m a n n , Gottesfriede und Treuga Dei, Stuttgart 1964. Vgl. die berühmte Stelle in den G e s t a e p i s c o p o r u m C a m e r a c e η s i u m (MGH, SS VII, S. 474), wo den französischen Bischöfen von einem Reichsbischof, dem Bischof Gerhard von Cambrai, in Bezug auf die kirchlichen Friedensheere der Vorwurf gemacht wird, daß sie sich in weltliche Angelegenheiten einmischten: Hoc enim modo sanctae aecclesiae statum confundi, quae geminis personis, regali videlicet ac sacerdotali, administrari precipitur. Huic enim orare, illi vero pugnare tribuitur. Igitur regum esse, seditiones virtute compescere, bella sedare, pacis commercia dilatare; episcoporum vero, reges ut viriliter pro salute patriae pugnent monere, ut vincant orare. (Es wird nämlich der Charakter der heiligen Kirche zerstört, die von zwei Personen, der königlichen und der priesterlichen, regiert werden soll. Jener ist es zuerteilt zu beten, dieser aber zu kämpfen. Also ist es Aufgabe der Könige, Aufruhr mutig niederzuschlagen, Kriege zu beenden und die Geschäfte des Friedens zu betreiben; Aufgabe der Bischöfe ist es aber, die Könige zu ermahnen, männlich für das Heil des Vaterlandes zu kämpfen und für ihre Siege zu beten). Vgl. dazu: Th. S c h i e f f e r , Gerhard I. von Cambrai (1012—1051), ein deutscher Bischof des 11. Jahrhunderts, in: DA 1, 1937, S. 323-360. Auf die Rolle der von kirchlichen Würdenträgern initiierten und geleiteten Friedensbünde bei der Entwicklung der Idee des „Heiligen Krieges", die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Kreuzzügen fand, macht besonders C. E r d m a n n aufmerksam: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Darmstadt 1965, bes. S. 51 ff. 1 3 ) Vgl. für die Normandie H . P r e n t o u t , La treve de Dieu en Normandie, in: Mimoires de 1' Academie de Caen, N . S. 6, 1931, S. 1—32; J. Y v e r , L'Interdiction de la guerre ρπνέβ dans le tr£s ancien droit normand, Caen 1928. In Deutschland ist es nach ersten Initiativen der Fürsten Kaiser Heinrich IV. selbst, der die Friedensidee aufnimmt und 1103 den ersten Reichsfrieden beschwören läßt. Die Früchte der sich darin anbahnenden Territorialisierung des
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
Auf die Dauer gelangten Klerus und Laien gewöhnlich zu einem Einvernehmen über die Art und Weise, wie Gewalttätigkeiten am zweckmäßigsten zu bekämpfen seien. Aber im Verlaufe des 11. Jahrhunderts entzweiten sie sich mehr und mehr über einer grundlegenden Frage: über die Frage nach dem Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Beide waren in den früheren Jahrhunderten untrennbar ineinander verwoben. Könige wurden als halbe Kleriker angesehen, die weitgehenden Einfluß auf kirchliche Angelegenheiten ausübten. Sie ernannten Äbte, Bisdiöfe und oft sogar Päpste; sie misditen sich sogar in die Angelegenheiten der kirchlichen Lehre ein, wie es Karl d. Große getan hatte 14 . Andererseits spielten führende Kleriker eine wichtige Rolle in weltlichen Angelegenheiten, als königliche Ratgeber, als Verwaltungsfachleute, als Herrscher geistlicher Herrschaften. Die neue Führungsgruppe, die der Kirche im 11. Jahrhundert erwuchs, wollte zunächst nur den Klerus reformieren. Aber es zeigte sich bald, daß die Kirche, wollte sie den Klerus reformieren, größere Unabhängigkeit vom Einfluß der Laien brauchte, und um diese Unabhängigkeit zu erlangen und zu bewahren, mußte die Kirche unter der Führerschaft des Papstes zentralisiert werden. Eine reformierte und stark zentralisierte Kirche würde dann zwangsläufig einen entscheidenden Einfluß auf weltliche Angelegenheiten ausüben. Einige Reformer waren der Meinung, daß ihr letzte Entscheidungsbefugnis in allen gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten gebühre. Wenn Europa, so sagten sie, wirklich christlich sein wollte, so bedurfte es eines christlichen Führertums 15 .
Rechts erntet aber später dann in Deutschland nicht das Königtum, sondern die Territorialfürsten, zumal sie an die herzoglidie Pflicht der Friedenswahrung anknüpfen können; vgl. dazu jetzt E. W a d 1 e , Heinrich IV. und die deutsche Friedensbewegung, in: Investiturstreit und Reidisverfassung (wie Anm. 2), S. 141—173 mit umfassenden Literaturangaben. 14 ) K a n t o r o w i c z (wie Anm. 3), Kap. 3; Η. E. F e i n e , Kirchliche Reditsgesdiidite, Köln 1964, § § 2 3 und 24; E. A m a n n und A. D u m a s , L* Eglise au pouvoir des laiques 888—1057, Paris 1948, Budi I, Kap. 2, Buch II, Kap. 2, 3, Buch III, Kap. 1. ls ) G. T e l l e n b a c h , Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits (Forschungen zur Kirdien- und Geistesgeschichte 7), 1936; W. U l i m a n n (wie Anm. 9), S. 272—299; A. F l i e h e , La ^forme Grigorienne et la reconquete chretienne, Paris 1946, S. 55—64, 76—83; A. M i c h e l , Die folgenschweren Ideen des Kardinal Humbert und ihr Einfluß auf Gre-
Der Sieg der Gregorianer
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Dieses Programm, das von Papst Gregor VII. (1073—1085) am nachdrücklichsten vertreten wurde, gab wesentliche Teile der früheren politischen Struktur Europas der Zerstörung anheim. Laienherrscher leisteten diesen Ansprüchen der Kirche Widerstand; die Auseinandersetzung, die sich daraus ergab — der Investiturstreit — dauerte fast ein halbes Jahrhundert. Im Verlaufe dieses Streites wurde die alte Symbiose von geistlicher und weltlicher Gewalt ernstlich geschwächt. Die Könige gingen ihres halb-klerikalen Charakters verlustig und ebenso eines Teils ihrer Kontrolle über die Besetzung kirchlicher Ämter. Die Kirche erlangte eine Vormachtstellung, wenn auch nicht völlige Kontrolle, in der europäischen Gesellschaft. Die Kirche hatte einen scharfen Trennungsstrich zwischen sich und den weltlichen politischen Gewalten gezogen; auf der höchsten Ebene war sie unabhängig, und konnte sich von daher auch erhebliche Selbständigkeit auf den unteren Ebenen sichern. Die gregorianischen Reformer hatten einen Sieg errungen, wenn es auch nur ein Teilsieg war 18 . Wie alle Siege, so hatte auch der Sieg der Kirche im Investiturstreit unvorhergesehene Folgen. Die Kirche betonte ihren einzigartigen Charakter und zog einen eindeutigen Trennungsstrich zu aller weltlichen Regierung — und sie schärfte gerade dadurch ganz unbeabsichtigt die Vorstellungen über weltliche Herrschaft. Definitionen und Argumente mochten sich unterscheiden, aber selbst die glühendsten Gregorianer mußten zugeben, daß die Kirche nicht alle politischen Funktionen ausüben konnte, daß weltliche Herrscher notwendig waren und ihren eigenen Handlungsbereich hatten. Es war zwar noch vorstellbar, daß sie der Führung und Züchtigung durch die Kirche unterstanden, nicht aber, daß sie selbst Teil der Herrschaftsstruktur der Kirche waren. Sie standen an der Spitze einer ganz anders gearteten Organisation, für die es noch keinen Gattungsbegriff gab. Also erforderte der gregorianische Kirchenbegriff geragor VII., in Studi Gregoriani 1, 1947, S. 65—92; J. H a l l e r , Das Papsttum, 5 Bände, Urach 1965, Band II, S. 228—233. 16 ) S. außer den in Anm. 15 genannten Werken nodi G. B a r r a c l o u g h , Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Deutschland, Weimar 1955, S. 100—122; und N. C a n t o r , Church, Kingship and Lay Investiture in England 1089—1135, Princeton 1958, Kap. 1, 5.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
dezu die Erfindung des Staatsbegriffs; er erforderte ihn so zwingend, daß es moderne Betrachter kaum vermeiden können, den Investiturstreit anders denn als Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu beschreiben. Es wäre ein Fehler, dieser Versuchung nachzugeben, aber der Wiederaufbau der politischen Struktur Europas während und nach der Auseinandersetzung ebnete in der Tat dem Aufkommen des Staates den Weg. Zunächst einmal waren die Ansprüche des westlichen Kaisertums auf die Universalherrschaft unhaltbar geworden. In den Zeiten engen Zusammenwirkens von Kirche und Kaisertum, wie unter Karl d. Großen und den Ottonen, konnte man eine kaiserliche Oberhoheit wenigstens theoretisch anerkennen; aber das Kaisertum ging aus dem Investiturstreit geschwächter als irgendeine andere weltliche Macht hervor 17 . Andere Herrscher bereinigten ihre Streitigkeiten mit den Reformern unabhängig vom Kaiser und mit besseren Bedingungen. Westeuropa mochte eine religiöse Einheit sein, aber es war eindeutig keine politische Einheit. Jedes Königtum und jede Fürstenherrschaft mußte als eigenständige Größe behandelt werden; die Grundlage für ein Vielstaatensystem war gelegt worden. Gleichzeitig verstärkte der Investiturstreit eine bereits bestehende Tendenz: die Tendenz nämlich, den weltlichen Herrscher primär als Bürgen und Sachwalter des Rechts anzusehen. Die gregorianischen Reformer mochten glauben, daß die Kirche festlegte, was Gerechtigkeit war, aber sogar sie räumten ein, daß es unter normalen Bedingungen dem weltlichen Herrscher oblag, für Recht und Gerechtigkeit im Volk zu sorgen. Es war sogar noch wichtiger für die Könige, diese ihre Aufgabe zu betonen. Wenn es ihnen künftig verwehrt war, an der Leitung und Regierung der Kirche teilzuhaben, wenn sie nicht länger „Bischöfe für das Auswärtige" waren, dann konnte ihre einzige Rechtfertigung zu sein nur darin bestehen, dem Recht Geltung zu verschaffen. Aber wenn sie dem Recht Geltung verschaffen sollten, dann mußten Gesetze kodifiziert, mußte das Gerichtssystem verbessert 17 ) Vgl. zu Ablauf, Folgen und Bedeutung des Investiturstreits für das römisch-deutsche Kaisertum jetzt vor allem Th. S c h i e f f e r , Die deutsche Kaiserzeit, Frankfurt/Berlin 1973, S. 47—67.
Die Bedeutung des Rechts für die Staatenbildung
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werden. Beides trägt natürlich zur Staatenbildung bei; aber beides kommt selten so früh und hat selten die Bedeutung wie in Westeuropa. Die Tatsache, daß in den Anfängen der europäischen Staaten eine solch starke Betonung auf dem Recht lag, sollte von größter Bedeutung für ihre zukünftige Entwicklung sein. Der Staat war auf das Recht gegründet und existierte, um das Recht durchzusetzen. Der Herrscher war moralisch (und oft auch politisch) durch das Gesetz gebunden, und das europäische Recht bestand nicht nur aus dem Strafrecht, so wie das Recht vieler anderer Regionen; es regelte Familien· und Geschäftsverbindungen, den Besitz und die Verfügung über Eigentum. In keinem anderen politischen System hatte das Recht eine solche Bedeutung; in keiner anderen Gesellschaft sollten die Juristen eine solche Rolle spielen. Die europäischen Staaten verwirklichten nicht immer ihr Ideal, vor allen Dingen Rechtsstaaten zu sein, aber allein die Tatsache, daß sie sich dies zum Ideal setzten, half ihnen, die Treue und Unterstützung ihrer Untertanen zu gewinnen. Der vielleicht letzte Anstoß für die Entstehung des europäischen Staates war wohl, daß im 12. Jahrhundert die Anzahl der Gebildeten ungeheuer schnell zunahm 18 . Es ist schwierig, dauerhafte, überpersönliche Institutionen zu errichten ohne Aufzeichnungen und amtliche Dokumente. Schriftliche Dokumente sind ja in der Tat die beste Garantie für Dauerhaftigkeit und das beste Mittel, die Staatsverwaltung persönlichen Pressionen zu entziehen; nicht umsonst wenden sich Bürger, die eine gesetzliche Bestimmung zu ihren Gunsten geändert sehen wollen, unter Umgehung schriftlicher Dokumente immer direkt an die Person, von der sie annehmen, daß sie l8 ) C. Η. Η a s k i η s , The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, Mass. 1928; G. Ρ a r έ , A. B r u n e t , P. T r e m b l a y , La renaissance du X l l e siecle: Les Ecoles et 1' Enseignement, Paris 1933; D. K n o w l e s , The Evolution of Medieval Thought, London 1962, S. 71—171 ; R . W. S o u t h e r n , The Making of the Middle Ages, dt. Ubersetzung: Gestaltende Kräfte des Mittelalters. Das Abendland im 11. und 12. Jh., Stuttgart 1960, Kap. 4. Vgl. auch F. R ö r i g , Mittelalter und Sdiriftlichkeit, in: WaG 13, 1953, S. 29—41, der im Aufstieg der städtischen Kaufmannsschicht einen wesentlichen Grund dafür sieht, daß das jahrhundertelang bestehende Sdiriftmonopol des Klerus gebrochen wurde.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
sie außer Kraft setzen kann. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts war die Zahl derjenigen, die amtliches Schriftgut verfertigen konnten, begrenzt, und genau so begrenzt war die Entwicklung der Institutionen. Aber ein Teil des allgemeinen europäischen Wiederaufblühens war das ungeheure Anwachsen des Wunsches nach Bildung; Tausende von jungen Menschen strömten in die Schulen und begaben sich dann in den Dienst weltlicher und geistlicher Amtsträger 19 . Am Ende des 12. Jahrhunderts kann man den Mangel an Schreibern und Buchhaltern als überwunden ansehen; am Ende des 13. Jahrhunderts gab es vermutlich einen Uberschuß an Leuten für diese Art von Arbeit. Eine bestimmte Ausbildung muß besonders erwähnt werden: das Rechtsstudium. Zwar beschränkte sich die Ausbildung der meisten jungen Männer auf die Beschäftigung mit den Künsten, bei deren Studium das Schwergewicht auf dem korrekten Gebrauch der Sprache und der Logik lag. Von denjenigen aber, die sich einer weiterführenden Ausbildung unterzogen, wählten die weitaus meisten das Studium an den Rechtsschulen. Sie studierten kanonisches Recht und Römisches Recht (so wie es im .Corpus Juris Civilis* des Justinian vorlag), oder beides. Die akademischen Lehrer dieser Schulen waren in ganz Europa berühmt, und ihre Studenten stiegen zu hohen Ämtern auf, insbesondere in der Kirche. Trotzdem sollte man das akademische Studium des Rechts nicht überschätzen. Die ersten, auf den Aufbau von Staaten hinwirkenden Institutionen existierten bereits, ehe die Rechtsschulen ihre Arbeit aufnahmen, und das Römische Recht war in den meisten Ländern nördlich der Alpen von nur geringer Bedeutung. In England, Deutschland und Nordfrankreich galt das Gewohnheitsrecht, das an den Schulen nicht gelehrt wurde; und Männer, die im Gewohnheitsrecht bewandert waren, hatten oft erstaunlichen Erfolg bei nur geringen oder gar keinen Kenntnissen des Römischen Rechts. [Eine gewisse Sonderstellung nimmt hier Deutschland ein, dessen Könige zugleich römische Kaiser waren: so wie Friedrich Barbarossa sich des Römischen Rechts und der Hilfe der berühmten Bologneser 19
) H. G r u n d m a n n , Aufl., Darmstadt 1964.
Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, 3.
Das Römisdie Recht
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Rechtslehrer bediente, um seine Herrschaftsansprüche auf Italien zu begründen 20 , so haben überhaupt die mittelalterlichen deutschen Kaiser, die sich als Nachfahren der römischen Kaiser verstanden, das Römisdie Recht als ihr Recht betrachtet. Das Römisdie Recht galt als Kaiserrecht. Das ändert aber nichts an dem allgemeinen Bild, daß im praktischen Vollzug der Rechtsprechung das Römische Recht im mittelalterlichen deutschen Reich zunächst nur eine geringe Bedeutung hatte 2 1 .] Die Bedeutung des Studiums des Römischen Rechts lag darin, daß es ein Kategoriensystem vermittelte, in das neue Ideen eingelassen werden konnten und einen Begriffsapparat bereitstellte, um diese neuen Ideen zu fassen. So erwies sich ζ. B. die römisdie Unterscheidung von Zivilrecht und Strafrecht als Hilfe für die englischen Richter, die sich um die Abfassung von Lehrbüchern über das sich schnell entwickelnde englische Common Law bemühten 22 . Die Vorstellung von der „öffentlichen Wohlfahrt" und die Auffassung, daß der Herrscher sie zu befördern habe, erwies sich als nützlich für die Rechtfertigung von Neuerungen, wie ζ. B. die Einführung einer allgemeinen Besteuerung25. Die Römer hatten keinen Begriff, der genau unserem Begriff „Staat" entsprochen hätte, aber ihr Res publica kam dem ziemlich nahe und bildete einen Kern, um den sich der StaatsbegrifF entwickeln konnte. Aber all dies wäre rein abstrakte Gelehrsamkeit geblieben, hätte nicht in Westeuropa der Prozeß der Gründung von Rechtsinstitutionen bereits seinen Anfang genommen. Weil die Europäer im 13. Jahrhundert bereits mit dem bürgerlichen Recht, mit Steuern und einer vagen Vorstellung vom Staat vertraut waren, konnten sie sich die römischen Parallelen zunutze
M ) H. A p p e l t , Friedrich Barbarossa und das Römisdie Recht, in: Rom. Hist. Mitt. 5, 1961—62, S. 18—34; wieder abgedr. in: Friedrich Barbarossa (Wege der Forschung, Bd. 390), hg. G. W ο 1 f , Darmstadt 1975. 3 1 ) P. K o s c h a k e r , Europa und das Römische Recht, 2. Aufl., München 1953, S. 38—73; H. C o i n g , Römisches Recht in Deutschland (Ius Romanum Medii Aevi V, 6), Mediolanum 1964, S. 13 und 30 ff. ^ G l a n v i l l , De legibus et consuetudinibus regni Angliae, ed. G. E. W o o d b i n e (New Haven 1932), der den Hauptteil seiner im Jahre 1187 verfaßten Abhandlung mit den Worten beginnt: „Piacitorum aliud criminale aliud civile", S. 42. M ) G. Ρ ο s t , Studies (wie Anm. 3), S. 258—290.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
machen. Richter und Verwaltungsleute bedienten sich dieser Parallelen, um mit ihrer Hilfe ihre Definitionen zu schärfen und ihre Überlegungen zu klären. Die Traktate zur politischen Theorie waren oft in die Begriff sspradhe des Römischen Rechts gefaßt; auch das verstärkte die bereits bestehende Tendenz, das Recht als Grundlage und Rechtfertigung für die Errichtung von Staaten anzusehen. Aber obwohl die Wiederbelebung des Römischen Rechts den Prozeß der Errichtung von Staaten erleichterte und vielleicht beschleunigte, war sie zweifellos keine primäre Ursache und vermutlich noch nidit einmal eine notwendige Bedingung dafür. Die Erörterung über den Einfluß des Römischen Rechts hat uns weit von unserem Ausgangspunkt weggeführt. Wir wollen zum Anfang des 12. Jahrhunderts zurückkehren und uns die politischen Strukturen vergegenwärtigen, die sich damals herausbildeten. Dabei können wir mit einer wichtigen Verallgemeinerung beginnen: in Westeuropa entwickelten sich als erstes dauerhafte Institutionen für die inneren, nicht für die äußeren Angelegenheiten. Es gab Hochgerichtshöfe und Schatzämter lange vor Auswärtigen Ämtern und Verteidigungsministerien. Dieser Vorrang der Institutionen für innere Angelegenheiten erwies sich in verschiedener Hinsicht als nützlich. Er entsprach besser den herrschenden weltlichen Idealen vom Redit und der Herrschaft des Gesetzes, die sich leicht auf innere Probleme anwenden ließen, aber äußerst schwer auf äußere. Die Errichtung eines wirksamen Gerichtssystems bot offensichtlich Vorteile für jedermann; es war sehr viel schwerer, den Wert eines stehenden Heeres nachzuweisen. Schließlich war es angesichts der vergleichsweise geringen Zahl möglicher Bewerber von Vorteil, daß sich die tüchtigsten und klügsten Beamten vor allem den inneren Angelegenheiten widmen konnten. Das wird deutlich, wenn wir uns das Los eines neugeschaffenen Staates in der heutigen Zeit vergegenwärtigen: muß er nicht oft seine fähigsten Männer als Diplomaten oder Offiziere einsetzen? Die Gründe für diesen Vorrang der inneren Angelegenheiten liegen auf der Hand. In Europa mit seiner Zersplitterung und der Schwäche seiner politischen Körperschaften waren andauernde oder auf lange Sicht geplante Handlungen im außenpolitischen Bereich einfach nicht möglich. Kein Herrscher war in der Lage, eine Armee
Vorrang der Inneren Angelegenheiten
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von mehr als ein paar Tausend Mann aufzustellen, noch konnte er eine solche Armee länger als einige Monate unter Waffen halten. Stehende Heere oder ein ständiges Offizierscorps waren unvorstellbar. Für die meisten Herrscher waren nur die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn von Belang: England kümmerte sich wenig um Aragon oder Frankreich um Schweden. Sogar unter Nachbarn bediente man sich eher des Mittels plötzlicher Überfälle und Vergeltungsmaßnahmen als diplomatischer Verhandlungen, um einen Streitpunkt aus der Welt zu schaffen. Waffenstillstand und Frieden konnten ad hoc geregelt werden. In einem Europa ohne Staaten und ohne feste Grenzen war der Begriff .auswärtige Angelegenheiten' bedeutungslos, und folglich wurde audi kein Verwaltungsapparat benötigt, um sie zu erledigen24. Gerade weil das politische System Europas so schwach und zersplittert war, mußten sich umgekehrt Herrscher, die das Erreichte wahren und ihren Söhnen vererben wollten, darum bemühen, aus ihren verstreuten Besitzungen und Herrschaftsrechten zusammenhängende politische Körperschaften zu bilden. Das erforderte vor allem anderen eine Verbesserung der Gutsverwaltung. Da allgemeine Steuern so gut wie unbekannt waren, kamen die Einkünfte der Könige und Fürsten fast ausschließlich von ihren Ländereien, ihren Zöllen und Marktgebühren und ihrem Anteil an den Bußgeldern bestimmter Gerichte25. Aber da der Landbesitz niemals zuM ) Vgl. zur Frage der Auswärtigen Beziehungen im Mittelalter G. Τ e 11 e η b a c h , Vom Zusammenleben der abendländischen Völker im Mittelalter, in: Festschrift für G. Ritter, Tübingen 1950, S. 1—60 und jetzt besonders F. L. G a η s h ο f , The Middle Ages, A History of International Relations, engl. Übersetzung New York 1970 der 4. franz. Aufl. 1968. Nodi im 12. Jahrhundert, als der Prozeß der Staatengründung bereits eingesetzt hatte, kamen die Einkünfte der Herrscher selbst in den am weitesten entwickelten politischen Gebilden wie England, Frankreich, die Normandie und Flandern vornehmlich aus den im Text genannten Quellen. Vgl. B. L y ο η und Α. Ε. V e r h u l s t , Medieval Finance, Providence 1967; L. D e 1 i s 1 e , Des revenues publics en Normandie au X l l e et XHIe socles, in: Bibliotheque de 1' Ecole des Chartes Χ , XI, XII, 1848—1849, 1852; Magnum rotulum 31, Henry I, Ed. J. Η u η t e r , London 1833: Die Königlichen Einkünfte in England im Jahre 1130. Frankreich befand sich noch im Jahre 1202 in diesem Stadium; s. F. L ο t und R. F a w t i e r , Le premier budget de la monarchie fran£aise: Le compte giniral de 1202—1203, Paris 1932; s. zu den Einkünften der deutschen Herrscher C. R. B r ü h l , Fodrum, gistum, servitium regis, 2
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
sammenhängend war und die Zölle und Gerichtsgefälle mit dem Adel geteilt werden mußten, konnte ein König nur schwer feststellen, was ihm nun eigentlich zustand; kannte er aber wirklich die Höhe seiner Einkünfte, so war es schwer, das ihm Zustehende einzutreiben. Die ersten auf Dauer angestellten Beamten waren Gutsverwalter — die reeves und shire-reeves (sheriffs) in England, die prevots in Frankreich, die Ministerialen in Deutschland. Sie sammelten die zerstreuten Einkünfte der ihnen unterstehenden Ländereien und machten sie ihren Herren verfügbar. Um das tun zu können, mußten sie Unterlagen anfertigen und sich einer gewissen Buchführung unterziehen. Diese Entwicklung setzte in England viel früher als anderswo ein, aber in den meisten Ländern erwuchsen die zentralen Finanzveijwaltungen aus der Arbeit der lokalen Gutsverwalter. Da die meisten Unrechtstaten durch eine Buße gesühnt wurden, bildeten die Gerichtsgefälle einen nicht unwesentlichen Teil der örtlichen Einnahmen, und es gehörte zu den Pflichten der örtlichen Regierungsvertreter, die Gerichtssitzungen abzuhalten, die diese Einkünfte erbraditen. Das war annehmbar, solange sich die Gerichte vor allem mit den Händeln von Bauern befaßten und solange es sich bei den Bußgeldern um genau festgesetzte, und in der Regel geringfügige Summen handelte. Während des gesamten Mittelalters gab es diese enge Verbindung von Rechtsprechung und Einziehung der sich daraus ergebenden Gelder. Selbst als es dann besondere Richter gab, wurden diese oft auch als Eintreiber von Einkünften eingesetzt2®, und die alten Eintreiber (die sheriffs, prevots und ähnliche Amtsträger) hielten auch weiter Gericht für Bagatellsachen. Nichtsdestoweniger setzte sich bei den Herrschern allmählich die Einsicht durch, daß Rechtsprechung doch etwas mehr sei als eine Quelle für EinBände, Köln/Graz 1968. Friedrich Barbarossa hat versucht, in Mittelitalien eine direkte Besteuerung einzuführen, ibid., I, S. 571 ff. und 684 ff. und d e r s ., Die Finanzpolitik Friedrich Barbarossas in Italien, H Z 213,1971, S. 13—37. 26 ) W. S t u b b s , Select Charters, Oxford 1921, S. 251—257; 8. Aufl. Oxford 1900, S. 259—263: (Form of Proceeding on the Judicial Visitation). Im Jahre 1194 sollen die englischen Reiseriditer alle Klagen anhören; sie sollen Nachforschungen nach heimgefallenem Gut, nach Vormundschaften und anderen finanziell nutzbaren königlichen Rechten anstellen und die königlichen Städte besteuern.
Entwicklung des Königsgerichts
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künfte. Sie war ein Mittel der Herrschaftssicherung und der Vermehrung der Macht des Königs und der großen Herren. Deshalb bemühten sich die fähigsten Herrscher darum, immer mehr Fälle vor ihre Gerichtshöfe zu ziehen2®1. Es gab da eine Reihe von Methoden, die Rechtsprechungskompetenz eines Gerichtshofes auszudehnen. Schwere Strafrechtsfälle, wie etwa Mord, konnte man dem Hof des Königs (oder des Herzogs oder Grafen) vorbehalten. Der Herrscher wurde dadurch, daß er sich diese Fälle vorbehielt (sie wurden Kronprozesse oder Blutgerichtsprozesse genannt), in die Lage versetzt, auch dort einzugreifen, wo er selbst kein Land und keine lokalen Gerichtsrechte besaß27. Bei Zivilrechtsfällen konnte man besondere Verfahrensweisen entwickeln, die es den streitenden Parteien erlaubten, den Hof des örtlichen Herrn zu übergehen und ihren Fall direkt vor das Königs(bzw. Herzogs- oder Grafen-) gericht zu bringen. Bei der Entwicklung dieser Verfahrensweisen berief man sich gewöhnlich auf die einander verwandten Vorstellungen von der Friedenswahrung und dem Schutz des Besitzes. Da die Verletzung von Besitzrechten ohne rechtmäßigen Prozeß leicht Unruhe stiftete, konnte der Oberherr eingreifen und einen Gerichtsbescheid ausstellen, um den status quo zu wahren oder wiederherzustellen28. Theoretisch blieb der niedere (baronale) Gerichtshof im Besitz der Gerichtsbarkeit; faktisch aber ^a) Die Könige von England waren darin besonders erfolgreich, s. R. C. van C a e n e g e m , The Birth of the English Common Law, Cambridge 1973, und Doris M. S t e n t o n , English Justice 1066—1215, Philadelphia 1964. 27 ) Glanvill, De Legibus, S. 42, Kap. I und II; Le tres ancien coutumier de Normandie, texte Latin, ed. E. J. T a r d i f , Rouen 1881, S. 43, Kap. 53: de placitis ensis ad Ducem pertinentibus; E . P e r r o t , Les cas royaux, Paris 1910. Vgl. zum Ausbau der Hodi- und Blutgerichtsbarkeit durch die einzelnen Landesherren in Deutschland und zur ephemären Rolle des Reichshofgeridits M i t t e i s - L i e b e r i c h , Deutsche Rechtsgeschichte, 11. Aufl., München/ Berlin 1969, Kap. 34 und 35 und Η. Η i r s c h , Die Hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, 2. Aufl., Darmstadt 1958. M ) Es handelt sich dabei um den Schutz des Besitzes (protection of seisin), einer wesentlichen Vorstellung des englischen Common Law; s. F. Ρ ο 11 ο c k und F. W. Μ a i 11 a η d , History of English Law, 2 Bde, 2. Aufl., Cambridge/ Engl. 1952, I, S. 145—149 und Donald W. S u t h e r l a n d , The Assize of Noval Disseisin, Oxford 1973; audi in Frankreich war sie yon Bedeutung, s. L. B u i s s o n , König Ludwig IX., der Heilige, und das Recht, Freiburg 1954, S. 10—20, 99—118.
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Erste Anfänge der europäisdien Staatenbildung
entsdiied das Eingreifen des übergeordneten Hofes gewöhnlich den Fall. Auf diese Weise konnte der König (Herzog, Graf) After-Vasallen vor ihren unmittelbaren Herren schützen, die dann eine vorrangige Treuebindung an denjenigen entwickelten, der sie schützte. Schließlich wurde es als die Pflicht des Königs angesehen, dafür Sorge zu tragen, daß in seinem ganzen Reich Gerechtigkeit waltete. Wenn ein untergeordneter Gerichtshof eine ungerechte Entscheidung fällte, so konnte nur die Möglichkeit der Appellation an den Hof des Oberherrn Abhilfe schaffen. Ein Herr aber, dessen Urteile kassiert werden konnten, hatte bereits ein gut Teil seiner Autorität eingebüßt 29 . Die Männer, die im 12. und 13. Jahrhundert darangingen, Staaten zu errichten, machten sich diese Mittel in unterschiedlicher Weise zunutze. Das direkte Eingreifen des Königs war in England weiter verbreitet als in Frankreich; Appellationen von einem baronalen Gerichtshof an den Hof des Königs kamen dagegen häufiger in Frankreich als in England vor. Aber wie auch immer die Gewichte verteilt waren: in jedem der beiden Länder gewann die Oberherrschaft des Königs von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Realität und der Unterschied zwischen den Gebieten, die direkt dem König unterstanden und denjenigen, die die Barone von ihm zu Lehen trugen, verlor Schritt für Schritt an Bedeutung. Wenn der Prozeß an sein natürliches Ende gekommen war, hatte die politische Landkarte eines Königreiches (oder eines Fürstentums) grundlegende Veränderungen durchgemacht. Statt einer Ansammlung zerstreuter, untereinander fast beziehungsloser Inseln politischer Macht gab es ein einheitliches Territorium, in dem ein Herrscher die letzte Entscheidungsgewalt hatte. Es sollte Jahrhunderte dauern, ehe dieses Ergebnis erzielt war, aber schon die ersten Schritte auf dem Wege zu einem einheitlichen 29
) Appellationen spielten eine große Rolle beim Aufbau des französischen Staates, s. F. L ο t und R. F a w t i e r , Histoire des institutions fransaises au Moyen Age, 3 Bde, Paris 1957—1962, Vol II, Institutions Royales, Paris 1958, S. 296—323. Ein Reditsanwalt des 13. Jahrhunderts, P h i l i p p e d e B e a u m a n o i r , brachte den Grundsatz klar in seinen Coutumes de Beauvaisis (ed. A. Salmon, 2 Bde, Paris 1899 N D 1970, § no. 1043 zum Ausdruck: »Et si n' i a nul si grant dessous Ii (der König) qui ne puist estre tres en sa court pour defaute de droit ou pour faus jugement et pour tous les cas qui touchent le roi". (Bd. II, S. 24—25).
Frühe Ausbildung ständiger Reditsinstitutionen
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Rechtssystem stärkte die Stellung derjenigen, die an der Spitze der sich neu entwickelnden Staaten standen. Wenn Feudalherren nach Unabhängigkeit strebten, brauchten sie, um dieses Ziel zu erreichen, größere militärisdie und ökonomische Mittel, und die ließen sich gewöhnlich nur durch Gewalttätigkeiten gegenüber Nachbarn und neuen Forderungen an die Untertanen gewinnen. Wenn es einem übergeordneten Gerichtshof aber gelang, Lokalkriege dadurch zu verhindern, daß er eine friedliche Lösung der Streitigkeiten durchsetzte und wenn er einen Herrn davon abhalten konnte, seine Leute ungebührlich auszubeuten, dann wurde die Errichtung neuer, autonomer Fürstentümer immer schwieriger. Im ganzen gesehen förderte das Meinungsklima den Aufbau wirksamer Gerichtshöfe. Wie wir schon erwähnt haben, wurde von Seiten der Kirche betont, daß Gerechtigkeit die wesentlichste Eigenschaft eines Herrschers sei. Die Könige gelobten in ihren Krönungseiden, Gerechtigkeit walten zu lassen, und in theoretischen Abhandlungen wurde die Auffassung vertreten, daß ein ungerechter König überhaupt nicht König sei, sondern Tyrann 30 . Die Könige waren durchaus bereit, sich die Vorstellung zu eigen zu machen, daß das Recht von ausschlaggebender Bedeutung sei, denn es war ein Zeichen ihrer Autorität und eine Waffe, mit der sie die Oberherrschaft in ihren Reichen erringen konnten. Für das gemeine Volk und sogar für viele Angehörige des niederen Adels bedeutete das Recht Sdiutz vor Gewalttätigkeiten und Landverlust. Deshalb erfreuten sidi Herrscher, die sich um den Aufbau gut funktionierender Gerichtshöfe bemühten, fast allgemeiner Zustimmung. Sogar die kriegerischsten Barone konnten gegen die Existenz der Gerichtshöfe nichts einwenden, mochten sie sich auch im Einzelfalle Zeit lassen, ihren Anordnungen nachzukommen. Aus diesen Gründen wurden ständige Rechtsinstitutionen fast genau so früh entwickelt wie ständige Finanzbehörden. Die Institutionen selbst waren in gewisser Weise spezialisierter als ihr Personal. Der 3°) C a r 1 y 1 e (wie Anm. 2), II, S. 125—140; vgl. zu den Krönungseiden die Aufsätze von P. E. S c h r a m m , die jetzt in seinen Aufsatzsammlungen Kaiser, Könige und Päpste zusammengefaßt vorliegen. Bd. Π (Stuttgart 1968), S. 99—257 enthält seine Arbeiten über die Krönungsordines bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts, Bd. III (Stuttgart 1969), die vom 10.—13. Jahrhundert.
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gleiche Mann mochte sowohl als Richter als auch als Eintreiber von Einkünften auftreten, aber wenn er als Richter auftrat, hielt er sich an bestimmte Verfahrensregeln und Formalitäten, die er nicht anzuwenden brauchte, wenn er nur die Pachtgebühren einzog. Und mit der Zeit wurde das Recht, das in den Gerichtshöfen gesprochen wurde, reichhaltiger, komplizierter und damit schwieriger ohne eine besondere Ausbildung auszulegen. Um 1200 wurden Abhandlungen über das Gewohnheitsrecht in England und in der Normandie verfaßt 31 ; um 1250 berief man sich auf Präzedenzfälle in der Vergangenheit als Richtschnur für die Entscheidungen32. Die Kompetenzen und die Verfahrensweisen der Gerichtshöfe wurden von jeder Generation von Rechtslehrern genauer ausgearbeitet. Um 1300 gab es Männer, die sich fast ausschließlich der Rechtspflege widmeten, die Richter in den Zentralgerichtshöfen Englands unter Eduard I. waren genau so sorgfältig im englischen Common Law ausgebildet wie die Professoren in Bologna im Römisdien Recht. Die beiden Säulen des mittelalterlichen Staates waren das Schatzamt und der Hochgerichtshof; am Ende des 13. Jahrhunderts verfügten beide Behörden über erfahrene und fachkundige Beamte. Nicht alle Beamten einer Regierung des 12. und 13. Jahrhunderts wurden in der Gutsverwaltung, der Lokalverwaltung und der Rechtspflege eingesetzt. Es mußte eine Zentralbehörde geben, die die Arbeit der einzelnen Sachbereiche koordinierte, die die Anweisungen an die Steuereintreiber und Richter herausgab, die in direkte Verhandlungen mit den kirchlichen Würdenträgern und den weltlichen Herren treten konnte, bei denen ja immer noch ein gut Teil Verantwortung lag für die Wahrung der inneren Ordnung und den Schutz vor äußerer Bedrohung. Diese Behörde, die Kanzlei, hatte audi all die Arbeit zu erledigen, für die es noch keine eigenständigen Abteilungen gab, so wie ζ. B. die Beziehungen zum Papsttum und zu fremden Herrschern. Die Spitze dieser Behörde, der Kanzler, 31
) Glanvill in England (s. Anm. 22); der anonym. Autor des Tr£s ancien coutumier in der Normandie (s. Anm. 27). 32 ) Bracton's Note Book, ed. F. W. Μ a i 11 a η d , 3 Bde, London 1887, enthält eine Sammlung von Notiren zu zeitlich zurückliegenden Fällen, die dieser berühmte englische Richter des 13. Jahrhunderts heranzog. Er hat eine große Abhandlung über das englische Recht verfaßt.
Die königliche Kanzlei
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war, um Stubbs' Formulierung zu gebraueben, ein „Staatssekretär" für alle Bereiche33. Er war regelmäßig ein hochgestellter Kleriker, seit dem 13. Jahrhundert gewöhnlich ein Bischof, der aber häufig bereits Erfahrungen in weniger bedeutenden Regierungsämtern gesammelt hatte. Aber auch wenn der Kanzler selbst keine Amtserfahrung mitbrachte, so waren zumindest die Männer, die in seinem Amt arbeiteten, versierte Sekretäre, die ordentliche Verwaltungstechniken und umsichtig abgefaßte, gleichbleibende Formulierungen für ihre Briefe entwickelten und bewahrten. Die Kanzleisekretäre spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des mittelalterlichen Staates. Die Zentralverwaltung war von ihrer Gewissenhaftigkeit abhängig und von der Genauigkeit, mit der sie ihre Anordnungen und Instruktionen formulierten. Im 12. Jahrhundert ist ein deutlicher Fortschritt im fachlichen Können der meisten Kanzleien zu beobachten. Unbestimmte und allgemeine Redewendungen werden durch genauere, unmißverständliche Formulierungen ersetzt. Die päpstliche Kanzlei war allen weit voraus und diente den anderen in gewisser Weise als Vorbild, aber zur Zeit Heinrichs II. (1154—1189) stand ihr die englische Kanzlei nicht mehr weit nadi. Frankreich lag hinter England zurück, zeigte aber deutliche Anzeichen für Verbesserungen84. Im 13. Jahrhundert hatte fast jede europäische Regierung eine gut funktionierende Kanzlei. Es zeigten sich also zwischen den Jahren 1000 und 1300 einige der wesentlichen Elemente des modernen Staates. Politische Einheiten mit ihrem je eigenen Kern an Land und Leuten erwarben Legitimität, indem sie Generationen hindurch Bestand hatten. Dauerhafte Institutionen entstanden für den Finanz- und den Rechtsbereich. Berufsmäßig ausgebildete Verwaltungsfachleute standen zur Verfügung. Die Kanzlei hatte sich zu einer zentralen Koordinierungsbehörde mit einem Stab hochqualifizierter Sekretäre entwickelt. M
) W. S t u b b s , The Constitutional History of England, Oxford 1891 I, Kap. XI, § 121, S. 381. A. G i r y , Manuel de diplomatique, Paris 1925, S. 661—704, 731—764 für die päpstliche und die kapetingisdie Kanzlei. Vgl. zu England L. D e l i s l e ' s Einleitung in die von ihm besorgte Urkundenedition: Recueil des actes de Henri II, Paris 1916, bes. S. 1 und 151. Obwohl die Edition nur Urkunden enthält, die im Zusammenhang mit den französischen Besitzungen Heinridis Π. stehen, treffen die Ausführungen über die Kanzlei audi für England zu.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
Diese fachlich ausgebildeten Verwaltungsleute waren noch nicht sehr zahlreich, und deshalb war es auch noch zu keiner durchgehenden Spezialisierung gekommen. Die Berufsbeamten mußten von Männern entlastet werden, die nur zeitweise zur Verfügung standen, Männer, die sich auf ein Leben in der Kirche oder als kleine Barone, Ritter oder reiche Bürger vorbereiteten. Viele von ihnen wollten gern einige Jahre oder für eine gewisse Zeit im Jahr als Guts- und Finanzverwalter, als örtliche Verwaltungsleute oder als Richter arbeiten. Sie erhofften sich davon königliches Wohlwollen und eine Vermehrung ihrer Einkünfte, auch wenn sie nicht vorhatten, der Regierung auf die Dauer zur Verfügung zu stehen. Aber daneben gab es überall Männer, die den größten Teil ihres Lebens als fachlich qualifizierte Verwaltungsleute arbeiteten, und ihre Zahl nahm im 13. Jahrhundert in bemerkenswerter Weise zu. Die Grundelemente des Staates zeigten sich fast überall in Westeuropa während des 12. und 13. Jahrhunderts. Aber der Grad ihrer Entwicklung war trotz des gleichzeitigen Auftretens sehr verschieden. Am schnellsten vollzog sich die Entwicklung in England, Frankreich und den spanischen Königreichen, sehr viel weniger schnell in Deutschland; schnell, aber verzerrt in Italien. Die spanischen Königreiche waren mit ihrem eigenen Problem der Reconquista und der Eingliederung der Maurengebiete befaßt und übten daher bis zum Ende des 15. Jahrhunderts nur geringen Einfluß auf die institutionelle Entwicklung Europas aus. Den Deutschen gelang es nicht, große, dauerhafte Staaten aufzubauen; die für Deutschland typische politische Einheit war das Fürstentum, und dort wurden die Institutionen eher in Nachahmung anderer, denn als Eigenschöpfung entwickelt. In Italien erlag die so glänzende und vielversprechende Organisation des Königreiches Sizilien im 12. Jahrhundert den unglücklichen Umständen und den politischen Fehlern des 13. Jahrhunderts. Die erfolgreichsten politischen Einheiten Italiens nach 1300 waren die Stadt-Staaten; aber die Stadt-Staaten waren nicht mit den gleichen Problemen wie die großen Königreiche konfrontiert und vieles, was man in Italien an Erfahrungen gewann, ließ sich nördlich der Alpen nicht anwenden. Es waren also England und Frankreich, die die einflußreichsten Staatsmodelle in Europa entwickelten; es waren ihre politischen Vorstellungen und Institutio-
Die glückliche Ausgangslage Englands
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nen, die mehr als die irgendeines anderen europäischen Landes nachgeahmt wurden. Ihr Beispiel erlangte besondere Bedeutung in der entscheidenden Phase des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts: zu dieser Zeit bildete sidi die Vorstellung (wenn auch nicht das Wort) der Souveränität heraus; zu dieser Zeit verlagerte sich die vorrangige Treuebindung eindeutig von der Kirdie, der Ortsgemeinschaft, der Familie weg zum entstehenden Staat. Daher ist es angebracht, den Prozeß des Aufbaus des Staates in England und Frankreich zwischen 1100 und 1300 näher zu betrachten 35 . Den englischen Herrschern bereitete es weitaus weniger Mühe, die Souveränität nach innen zu gewinnen, als ihren französischen Vettern. England war ein kleines Königreich, kaum größer als einige der großen Herzogtümer in Frankreich oder Deutschland. Ein tatkräftiger König war in der Lage, den größten Teil seines Reiches in regelmäßigen Abständen zu besuchen. Außerdem hatte eine lange Kette von Eroberungen dafür gesorgt, daß sich starke Regionalfürsten oder fest verankerte Institutionen in den Provinzen erst gar nicht entwickeln konnten. Die Däneneinfälle löschten alle alten angelsächsischen Königsdynastien mit Ausnahme des Hauses Wessex aus. Die schrittweise Wiedereroberung Mittel- und Nordenglands durch die Könige von Wessex bedeutete andererseits das Ende für die dänischen Herrscherfamilien. Jede Region bewahrte die ihr eigenen Gewohnheiten, aber es gab keine Könige von Kent, von Mercien oder vom Danelaw, die auf der Grundlage dieser verschiedenen Gewohnheiten dauerhafte Institutionen hätten aufbauen können. Die Institutionen, die es gab, waren für das gesamte Land einheitlich — die i&ire-Gerichtshöfe, die Hundertschaftsgerichtshöfe, die Stadtgerichtshöfe. Die örtlichen Amtsträger, die aldermen (ιearls) und die reeves, traten als Interessenvertreter des Königs auf 3S ) Zur englischen und französischen Verfassungsentwicklung sind vor allem die in den Anmerkungen genannten englischen und französischen Werke heranzuziehen. In deutscher Spradie empfiehlt sidi als einführender Überblick über die Verfassungsentwicklung der einzelnen europäischen Länder immer noch Η. Μ i 11 e i s , Der Staat des Hohen Mittelalters, 8. Aufl., Weimar 1968; dazu, obwohl ζ. T. veraltet, zur englischen Verfassungsentwicklung J. H a t s c h e k , Englische Verfassungsgeschidite, München/Berlin 1913 und zur französischen Verfassungsentwicklung R. H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschidite, München/Berlin 1910.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
und nicht der Lokalgemeinden. Und als dann als Ergebnis der zweiten dänischen Eroberung einige große Familien sich in einigen shires festzusetzen begannen, machte Wilhelm der Eroberer dem wiederum schnell ein Ende. Wilhelm übertrug zwar den Earls bestimmter Grenzgebiete ausgedehnte Herrschaftsbefugnisse, aber diese Männer waren nicht in der Lage, daraus mächtige Provinzdynastien aufzubauen, und die meisten seiner Gefolgsleute erhielten keine zusammenhängenden territorialen Einheiten, sondern weitverstreute Grundherrschaften und Amtsbefugnisse. Um 1100 war bereits entschieden, daß keiner der Earls oder Barone über genügend zusammenhängende Ländereien oder Macht verfügte, um daraus eine autonome Provinzherrschaft aufzubauen. Die bleibenden Institutionen, die England einmal haben sollte, würden königliche Institutionen sein. Auch darin hatte England Glück: da kein Gebiet von einer Provinzdynastie monopolisiert worden war, besaß der König nodi Land und Gerichtsrechte in allen Teilen seines Königreiches. Da sein Landbesitz und seine Rechte so weit zerstreut waren, brauchte er überall Beauftragte — Sheriffs und Gutsverwalter (bailiffs), Burgwarde und Forstmeister. Aus dem Verlangen, die Ubersicht über die Einkünfte aus den hunderterlei verschiedenen Quellen zu behalten, ergab sich von selbst der Bedarf für eine zentrale Finanzbehörde. Den Bedarf erkennen und entsprechend tätig zu werden, sind natürlich zwei verschiedene Dinge, aber schon die letzten angelsächsischen Könige hatten wichtige Elemente eines zentralen Buchführungssystems entwickelt. Wilhelm und seine Söhne konnten es, darauf aufbauend, weiterentwickeln. Im frühen 12. Jahrhundert entstand der englische Exchequer; diese Behörde erfüllte viele Zwecke; aber ihre wesentliche und am besten organisierte Aufgabe war es, die Rechenschaftsberichte der königlichen Beauftragten aus allen Teilen des Königreichs zu prüfen. Der Exchequer führte genauestens Buch; er hatte einen vorzüglich ausgebildeten Mitarbeiterstab; er war bald so fest verankert, daß er sogar in Bürgerkriegszeiten seine Arbeit fortführen konnte. Wenn sich überhaupt etwas gegen ihn sagen läßt, dann dies, daß er eigentlich zu schnell feste Gestalt annahm. Er war zu sehr seinen eigenen Regeln unterworfen (er konnte zehn Pfund ausgeben, um eine Schuld von 10 Pence einzutreiben), aber er war ohne Zweifel eine dauerhafte und einigende Institution.
Exchequer und Königsgericht
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Direkt oder indirekt war jedermann in England von der Arbeit des Exchequer betroffen 86 . Durch die gleichen historischen Umstände läßt sich audi das Aufkommen eines allumfassenden Systems königlicher Gerichtshöfe erklären. Wilhelm erbte nicht nur weitgehende Gerichtsrechte von seinen angelsächsischen Vorgängern; er führte auch eine großangelegte Konfiskation und anschließende Neuverteilung fast des gesamten Landes durch, was ihm beides, einen Zuwachs an Problemen und an Macht, einbrachte. Nun gingen alle Rechtstitel auf Schenkungen oder Bestätigungen des Königs zurück, und es war selbstverständlich, den König und seinen Hof einzuschalten, wenn es darum ging, Streitigkeiten um Landbesitz und die dazugehörigen Rechte beizulegen. „Hof" ist natürlich ein zweideutiges "Wort; zuerst bedeutete es nichts anderes als die Großen — die Bischöfe, Barone und die Hausbeamten — die sich beim König aufhielten. Aber schon im 11. Jahrhundert wurde einigen dieser Männer eher als anderen die Erledigung von Rechtsfällen übertragen, und während des 12. Jahrhunderts tritt eine Gruppe königlicher Richter in Erscheinung. Der Hof des englischen Königs war sehr beschäftigt — mehr als die Höfe der meisten seiner Zeitgenossen —, und so begann er, feste Regeln und Verfahrensweisen zur Erledigung von Routinefällen zu entwickeln. Geregelte Verfahrensweisen machten die Arbeit des Hofes rationeller und erhöhten sein Ansehen. Im Jahre 1215 waren die Barone von England der Meinung, daß ein ständiger zentraler Gerichtshof für das Wohl Englands unabdingbar sei37. Der zentrale Gerichtshof war jedoch zunächst nur für die Großen und für große Fälle zuständig. Er konnte sich nicht mit allen Streitfällen um Landbesitz befassen; er war noch viel weniger in der Lage, die Kriminalfälle zu behandeln — Mord, Brandstiftung, Vergewaltigung, Raub —, die dem König im gesamten englischen Königreich vorbehalten waren. Recht zu sprechen war eine Einnahmequelle und ein Zeichen von Macht; es diente dem König zum VorS. zum Exchequer R. L. Ρ ο ο 1 e , The Exchequer in the Twelfth Century, Oxford 1912; C. J ο h η s ο n, ed., The Course of the Exchequer by Richard, son of Nigel, London 1950. L y o n und V e r h u 1 s t (wie Anm. 25), S. 57—71. 37 ) Magna Carta, art. 17: „communia placita non sequantur curiam nostram sed teneantur in aliquo loco certo*.
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Erste Anfänge der europäisdien Staatenbildung
teil, wenn vor seinem H o f so viele Fälle als möglich verhandelt wurden. Also kam man auf die Idee, Reiserichter — als Abgesandte des Zentralgerichtshofs — auszusenden, die mit neuen und wirkungsvollen Prozeßordnungen ausgestattet waren. Die Reiseriditer konnten überbeanspruchte Sheriffs von den meisten ihrer richterlichen Pflichten entlasten; sie konnten auch diejenigen Fälle übernehmen, die in den Höfen der Feudalbarone nicht verhandelt werden konnten. Die baronalen Gerichtshöfe waren schwach und wirkungslos; meistens versuchten sie, bei Streitigkeiten einen Kompromiß herbeizuführen, und sie waren nur selten in der Lage, den Geschädigten schnelle Rechtshilfe zukommen zu lassen. Die königlichen Richter traten nicht gerade in Konkurrenz zu den baronalen Gerichtshöfen auf; eher wurden sie in Gegenden tätig, in denen die Gerichtshöfe der Barone ihre Funktionen nicht ausübten. Die neue Prozeßordnung der königlichen Gerichtshöfe hatte zum Ziel, Verzögerungen abzubauen und dort zu schnellen, leicht durchsetzbaren Entscheidungen zu gelangen, wo man bisher nur schwer Entscheidungen hatte fällen können. Sie arbeiteten mit dem Vorsatz, verwickelte Probleme auf einfache Grundfragen zurückzuführen, die auch von Männern mit nur geringen Kenntnissen des Rechts und weit zurückliegender Ereignisse beantwortet werden konnten. So wurde ζ. B. in allen Fällen, bei denen es um Landbesitz ging, normalerweise die Frage gestellt: „Wer befand sich zuletzt im friedlichen Besitz des Landes?" und nicht: „Wer hat den besten Rechtsanspruch?" Die Antwort auf diese Frage gab eine Gruppe von Nachbarn, die zu den gesetzestreuen Bürgern des Gebietes gehörten, in dem der Besitz lag. Sie gaben gemeinsam eine rechtsverbindliche Auskunft, die auf ihre eigene Kenntnis und ihre Beobachtung gegründet war; Zeugenaussagen waren unnötig, und es gab wenig Gelegenheit für einen rechtlichen Disput. Diese Art des Vorgehens entwickelte sich rasch zur Prozeßform des Geschworenengerichts; die Fragen an die Geschworenen wurden differenzierter und komplizierter, bis schließlich fast alle Streitfälle, die mit Land oder mit an Land geknüpften Gerechtsamen zu tun hatten, durch den Spruch eines Geschworenengerichts beigelegt werden konnten. Man bediente sich auch Geschworener, um die Anklage bei Kriminaldelikten zusammenzustellen. Der Nachbarschaftsverband zeigte
Geschworene und Reiserichter
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alle Kriminalfälle durdi seine anklagende (große) Geschworenenbank an; die Beschuldigten wurden festgenommen und vor dem Reiserichter abgeurteilt. Die königlichen Beamten waren natürlich eher bereit, den Spruch eines Geschworenenkollegiums in Zivilrechtsfällen als endgültig anzuerkennen als in Kriminalfällen, denn ein falsches Urteil über Landbesitz konnte jederzeit revidiert werden, was bei einem Todesurteil ja nicht möglich war. Nichtsdestowenier wurden um die Mitte des 13. Jahrhunderts die meisten Kriminalfälle durch die Anklage einer Grand Jury in Gang gesetzt und durch den Sprudi eines Geschworenenkollegiums zum Absdiluß gebracht. Die Beteiligung von Geschworenen erlaubte es den Richtern, mehrere Fälle an einem einzigen Tag zu hören. Da es selten mehr als 20 Richter zur gleichen Zeit gab, war dies die einzige Methode, den stetig wachsenden Arbeitsanfall zu bewältigen. Die Beteiligung der Geschworenen trug außerdem dazu bei, der königlichen Rechtsprechung Ansehen zu verschaffen. Da es sich um eng verwobene ländliche Gemeinden handelte, kannten die aus den Nachbarn gebildeten Geschworenenkollegien normalerweise den Tatbestand genau; das war ein Fortschritt gegenüber früheren, irrationalen Entscheidungsweisen wie dem Zweikampf oder dem Gottesurteil. Da die Geschworenen für die Gesamtgemeinde sprachen und ein Gruppenurteil abgaben, waren sie Pressionen weit weniger ausgesetzt als es einzelne Zeugen gewesen wären. Das Verfahren der Kirche (das später von den französischen Richtern übernommen wurde), die einzelnen Zeugen nacheinander zu vernehmen, war theoretisch gerechter. Aber für den mittelalterlichen Menschen war der Rechtsstreit vor Gericht nur die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln, und die Zeugen waren gewöhnlich so parteiisch, daß man sehr daran zweifeln kann, ob ihr Zeugnis der Wahrheit wirklich näher kam als der Spruch der Geschworenen des Nachbarschaftsverbandes. Jedenfalls waren die Ritter, die kleinen Landbesitzer und die gewöhnlichen Freien in England wohl der Meinung, daß ihnen die Geschworenengerichtsbarkeit einen gewissen Schutz vor den Reichen und Mächtigen gab. Sie strömten zu den königlichen Gerichten; im 13. Jahrhundert wurden alle wichtigen Fälle und sogar viele höchst unbedeutende Fälle vor den Richtern des Königs verhandelt. Der kö-
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
niglidien Regierung war es gelungen, fast die gesamte freie Bevölkerung des Landes an der Arbeit der Gerichtshöfe zu beteiligen, entweder als streitende Parteien oder als Geschworene88. Als Nebenprodukt wurde durch die Entwicklung des Exchequer und der königlichen Gerichtshöfe der Ausbau der Kanzlei gefördert. Eine exakte Buchführung setzte nicht nur eine genaue Berichterstattung durch die Sheriffs voraus, sondern ebenso sorgfältiges Registrieren und genaues Formulieren der Anweisungen, durch die die Sheriffs ermächtigt wurden, bestimmte Beträge auszuzahlen oder Guthaben für Ländereien und Rechte in Empfang zu nehmen, die vom König veräußert worden waren. Das englische Rechtsprechungssystem war außerdem in außerordentlicher Weise von der Arbeit der Kanzleibeamten abhängig. Jeder Rechtsfall mußte mit einem von der Kanzlei ausgestellten Schriftstück (writ) eingeleitet werden, das die Streitgegenstände und das anzuwendende Verfahren festlegte. Englische writs des späten 12. Jahrhunderts sind bewundernswürdige Dokumente in ihrer ausgefeilten Klarheit und Schärfe. Sie waren unmißverständlich und boten dadurch weniger Gelegenheit, sie zu mißachten. Im übrigen verfertigten alle Zweige der englischen Regierung am Ende des 12. Jahrhunderts sorgfältig Belege über ihre Arbeit. Der Exchequer bewahrte die Berichte der Sheriffs auf, die Richter hielten ihre Entscheidungen schriftlich fest, die Kanzlei führte Register der ausgehenden Korrespondenz. Die reichlich vorhandenen schriftlichen Unterlagen bewirkten, daß die schnell wachsenden Institutionen sich verfestigten. Es gab feststehende Formeln für fast jede Gelegenheit, und das brachte eine große Zeitersparnis, die es den Verwaltungsleuten an der Spitze erlaubte, sich mit außergewöhnlichen Problemen zu befassen. Es war nicht schwer, Präzedenzfälle zu finden, so daß die Regierungsentscheidungen einheitlich und vorausschaubar waren. Tatsächlich waren die englischen Institutionen so fest verwurzelt, daß die Regierungsarbeit ohne Anweisungen des M ) Zur Entwicklung des englischen Gerichtswesens im 12. Jahrhundert s. P o l l o c k und M a i t l a n d (wie Anm. 28) I, S. 79—110, S. 136—173; W. S. H o l d s w o r t h , A History of English Law, 16 Bde, Bd I, 7. Aufl., London 1956, S. 32—54; T. F. P l u c k n e t t , A Concise History of the Common Law, Boston 1956, S. 101—113, S. 139—150.
Die Entwicklung der Buchführung
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Thrones weiterlaufen konnten; das stellte sich schon während der 10-jährigen Regierung Richards I. (1189—1199) heraus, der sich als König nur einige Monate lang im Lande aufhielt. Um das Jahr 1200 besaß England dauerhafte Institutionen, in denen fachlich ausgebildete Berufsbeamte und halb-berufsmäßige Mitarbeiter tätig waren. Hier war es auch bereits zu zwei Ereignissen gekommen, die man später als Behauptungen von Souveränität angesehen hätte. Eins war die Bestimmung, daß kein Rechtsfall, der Landbesitz betraf, ohne ein Schriftstück {writ) des königlichen Hofes eingeleitet werden konnte 39 . Die andere war die Ausschreibung direkter Steuern für das gesamte Königreich40. Die Bestimmung über das Erfordernis eines königlichen writ entwickelte sich vermutlich aus der Lehre, daß der Besitz von Land und Rechten aller Freien in England direkt oder indirekt vom König herrührte, und daß der Schutz ihres rechtmäßigen Besitzes deshalb seine Aufgabe war. Das Steuerrecht erwuchs aus dem Recht des Herrn, in Notsituationen von seinen Vasallen finanzielle Hilfe fordern zu können. Am Ende des 12. Jahrhunderts gab es viele Notsituationen — der 3. Kreuzzug, der Loskauf König Richards aus seiner deutschen Gefangenschaft, der lange Krieg gegen Philipp August von Frankreich — und die von den Vasallen gezahlten Gelder konnten unmöglich den Bedarf des Königs decken. Also mußten sie zu einer allgemeinen Besteuerung ausgeweitet werden. Alle beiden Behauptungen königlicher Amtsgewalt ließen sich als logische Fortentwicklung von Lehnrechtsbeziehungen rechtfertigen, und es fiel selbstverständlich noch niemandem ein, sie im Sinne königlicher Souveränität zu interpretieren. Aber wo das Lehnrecht sich bis zu dem Punkt entwickelt hatte, daß es dem König die Aufsicht über die gesamte Rechtsprechung und das Recht allgemeiner Besteuerung zuerkannte, näherte sich seine Oberherrschaft bereits der Souveränität. Dem König war eindeutig die letzte Entscheidung in allen Rechtssachen vorbehalten; nach Glanvill waren die Entscheidungen des Königs 39 ) Glanvill, De Legibus, Kap. 25: „ . . . n e m o tenetur respondere in curia domini suo sine praecepto domini regis vel eius capitalis iustitiae"; s. auch die Erläuterung zu diesem Satz in der Ed. von W o o d b i n e (wie Anm. 22). S. K. M i t c h e l l , Taxation in Medieval England, New Haven 1951, S. 156—195.
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und seines Rates so bindend wie die leges der römischen Kaiser41. Dem König gebührte auch die letzte Entscheidung in Finanzangelegenheiten. Er konnte zwar nicht nach Gutdünken Steuern auferlegen, aber eine vollkommene Ablehnung seiner Bitte um finanzielle Hilfe war schwierig. Und wenn man Einigkeit darüber erzielt hatte, daß eine Steuer notwendig war, dann war es der König, der die Art der Steuer festlegte, wie sie eingetrieben und wer davon befreit werden sollte42. Vielleicht war es noch wichtiger, daß niemand im ganzen Königreich ohne königliche Erlaubnis Steuern auferlegen konnte. Ein Baron, der von seinen Leuten das scutagium (Schildgeld) forderte, oder eine Stadt, die ihre Verteidigungswälle ausbessern wollte, brauchten als erstes eine schriftliche Ermächtigung des Königs48. Von diesen Möglichkeiten machte man während des 13. Jahrhunderts sehr wirksamen Gebrauch. Die königlichen Gerichtshöfe dehnten ihren Zuständigkeitsbereich aus; Steuern wurden dem Besitz eines jedweden im Königreich auferlegt. Um 1300 kamen dem König von England nicht nur viele Attribute von Souveränität zu; er hatte tatsächlich — und er war sich dessen bewußt — souveräne Gewalt. Er erließ ganz bewußt und formal korrekt Gesetze, und diese Gesetze betrafen nicht nur die gerichtlichen Verfahrensweisen, sondern die rechtliche Festlegung von Landbesitz überhaupt und sie waren für das ganze Königreich verbindlich44. Er erhob zu wiederholten Malen direkte Steuern von seinen weltlichen Untertanen; er machte ebenso sein Recht geltend, seine geistlichen Untertanen ohne Zustimmung des Papstes zu besteuern45. Natürlich war ihm an der 41 ) Glanvill, De Legibus (wie Anm. 22), Prolog (S. 24 in der Ed. von W o o d b i n e ) : „Leges namque Anglicanas licet non scriptae leges appellari non videatur absurdum . . . eas scilicet quas super dubiis in concilio definiendis, procerum quidem consilio et principis accedente auctoritate constat esse promulgatas". 42 ) Beispiele bei S t u b b s (wie Anm. 26), S. 277, 348, 351, 356, 358. Zum scutagium (Sdiildgeld) s. Ρ ο 11 ο c k und Μ a i 11 a η d (wie Anm. 28), I, S. 274; Τ. Μ a d ο χ , History and Antiquities of the Exchequer of England, 2 Bde, 2. Aufl., London 1769, Bd. 1, S. 469—474; Η. Μ i 11 e i s , Lehnredit und Staatsgewalt, Weimar 1933, N D Darmstadt 1958, S. 609 ff. Zum Steuerrecht der Städte P o l l o c k und Μ a i 11 a η d I, S. 662—663. **) Statutes of the Realm I, 71, 106. Zur Gesetzgebungstätigkeit Eduards s. Τ. F. Τ. Ρ 1 u c k η e 1 1 , Legislation of Edward I, London 1949, S. 2—10. 4S ) W . S t u b b s (wie Anm. 33), II, S. 135—136, 140, 144—145, 147.
Die Anfänge des englischen Parlaments
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Zustimmung seines Volkes zu all diesen Maßnahmen gelegen, und sei es auch nur, weil diese Zustimmung es ihm erleichterte, die Gesetze durchzusetzen und die Steuern einzutreiben; aber die Art und Weise, wie die Zustimmung zustande kam, zeigt, daß England ein einheitlicher Staat mit einem anerkannten Souverän mit letzter Entscheidungsgewalt war. Der König mochte sich bei seinem Hof, seinem Rat, seinen Baronen Ratschläge und Zustimmung holen. Nach 1260 hielt er seine Beratungen im zunehmenden Maße im Parlament ab, einer Versammlung von Magnaten, von Rittern, die in den Gauen (shires) gewählt wurden und von Vertretern der Landstädte (boroughs). Aber erst der Wille des Königs gab den Entschließungen Rechtskraft, die im Hof, im Rat, oder im erweiterten Rat und im Hodigericht, dem Parlament, getroffen worden waren 46 . England war ein Staat mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl und nur deshalb konnten einige hundert Männer im Parlament mit dem Anspruch auftreten, für die Gesamtgemeinschaft zustimmen zu können. Und nur weil der König souveräne Gewalt besaß, kam der Zustimmung des Parlaments irgendeine Bedeutung zu. So hatte Bracton zwei Generationen früher davon gesprochen, daß der König alle Rechte besaß, die zur weltlichen Macht und Herrschaft des Königreichs gehörten47. Schließlich, und das war von besonderer Bedeutung, wurde es während des 13. Jahrhunderts offensichtlich, daß sidi die grundlegende Treuebindung des englischen Volkes (oder zumindest desjenigen Teils, der politisch aktiv war) von der Familie, der Ortsgemeinschaft, der Kirche weg zum Staat hin verlagert hatte 48 . Das bedeutet nicht, daß die alten Bindungen gänzlich verschwunden wären: ReichVgl. zur Entstehung des englischen Parlaments auch den Überblick über die englische Verfassungsentwicklung bei P. E. S c h r a m m , Der König von England, Ein Längsschnitt durch die englische Geschichte, in: d e r s . Kaiser, Könige und Päpste IV, 1, Stuttgart 1970, S. 223—244, in dem der Verf. die Ergebnisse seines Buches über das englische Königtum: Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung. N D Darmstadt 1970, zusammenfaßt. 47 ) P o s t , Studies (wie Anm. 3) , S. 342: der König besitzt „omnia iura . . . quae ad coronam et laicalem pertinent potestatem et materialem gladium qui pertinet ad regni gubernaculum". Vgl. auch Helen C a m , The Evolution of the Mediaeval English Franchise, in: Speculum 32,1957, S. 440. J. R. S t r a y e r , Laicization of French and English Society in the Thirteenth Century, in: Speculum 15, 1940, S. 76—86.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
tum und Macht der Familie zu mehren war immer noch das Ziel der Arbeit; man bemühte sidi um persönliche oder Gruppenprivilegien; in vielem unterwarf man sich den Anordnungen des Klerus und den Entscheidungen kirchlicher Gerichtshöfe. Aber alle diese weniger bestimmenden Treuebindungen entwickelten sich innerhalb des Rahmens des englischen Staates, waren dem fortdauernden Bestand und der Wohlfahrt des englischen Staates untergeordnet. Als es daher zu Aufständen der Barone kam, wie in den Jahren 1215 und 1258, oder ein Aufstand bevorzustehen schien, wie 1297, dachten diese keineswegs daran, die Einheit Englands oder den Bestand der englischen Institutionen zu zerstören. Sie waren der Meinung, daß die Maßnahmen der Zentralregierung unklug oder ungerecht waren, und so suchten sie dadurch Abhilfe zu schaffen, daß sie sich genug Einfluß auf die Zentralregierung sicherten, um die Mißstände beseitigen zu können 49 . Sie vertrauten darauf, daß die königlichen Gerichtshöfe ihre Rechte schützen würden, wenn sie nur die richtigen Anweisungen erhielten; sie vertrauten darauf, daß der königliche Rat, wenn nur eine angemessene Beteiligung der Barone gewährleistet wäre, die unklugen Maßnahmen rückgängig machen würde. Sie wurden nicht enttäuscht; sie konnten viele ihrer Wünsche verwirklichen, indem sie sich bestehender Institutionen bedienten, und die bestehenden Institutionen funktionierten etwa gleich gut unter baronaler wie unter königlicher Verfügungsgewalt. Die Tatsache, daß diejenige privilegierte Gruppe, die sich dem Rahmen des englischen Staates nicht völlig einfügte, der Klerus nämlich, weit weniger Erfolg mit seinem Protest hatte, unterstreicht noch das Vorhergesagte. Der Klerus mußte ja audi tatsächlich zwei Souveräne anerkennen: den kirchlichen Souverän, den Papst, und den weltlichen Souverän, den König. Er war hilflos, wenn zwischen den beiden Souveränen Einvernehmen herrschte. Da er nidit gänzlich dem englischen Regierungssystem eingegliedert war, konnte er sich auch nicht der rein englischen Institutionen bedienen, um sich gegen die Institutionen der universalen Kirche zu schützen. König und Papst konnten übereinkommen, sich die Steuern des Klerus zu 49
) Am klarsten hat R. F. Τ r e h a r η e diese Position dargelegt: The Baronial Plan of Reform, Manchester 1932.
Die Besteuerung des Klerus
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teilen, und der Klerus konnte nichts dagegen tun. Wenn die beiden Souveräne uneins waren, wie im Jahre 1297, als Eduard I. den Klerus ohne päpstliche Zustimmung besteuern wollte, war der Klerus ebenso hilflos. Die Kirche konnte ihn nicht vor der weltlichen Macht des Königs schützen. Sein Besitz wurde konfisziert; der Schutz der königlichen Gerichtshöfe wurde ihm ausdrücklich entzogen, und der König trieb fast alles ein, was er gefordert hatte. Der Klerus erhielt so gut wie keine Unterstützung von anderen Schichten, und es gab wohl auch im Klerus selbst viele, die die Verweigerung der Steuer mißbilligten50. Der Grundsatz, daß das Recht des Königs, Geld für die Landesverteidigung zu erheben, gegenüber allen anderen Verpflichtungen Vorrang habe, wurde schließlich auch vom Papst anerkannt 51 . Dieser Vorrang hätte unmöglich Anerkennung finden können, wenn nicht zuvor eine Verlagerung in der Rangfolge der Treuebindungen eingetreten wäre. Als höchste Pflicht eines jeden Untertan galt nun die Bewahrung und die Wohlfahrt des Staates. England durchlief diese ersten Stadien des Staatsaufbaus bemerkenswert schnell. Die Schnelligkeit ermöglichte wiederum eine ungewöhnliche Einheitlichkeit in der Struktur der englischen Institutionen. Lokalen Vorrechten und Gewohnheiten fehlte die Zeit, um sich zu Partikularinstitutionen verfestigen zu können. Das Rechts- und Finanzsystem, das im 11. und 12. Jahrhundert geschaffen wurde, galt einheitlich für das ganze Land. Die Tatsache, daß es keine fest verwurzelten Institutionen der Provinzen gab, erhöhte die Leistungsfähigkeit der englischen Regierung und hatte zur Folge, daß man mit einer geringeren Zahl ausgebildeter Verwaltungsleute auskam. Man bedurfte keiner Hierarchie von Gerichten mit einem umständlichen Appellationssystem von den regionalen über die provinzialen zu den zentralen Stellen. Die königlichen Richter, ob seßhaft oder als Reiserichter tätig, konnten sofort und überall ein abschließendes Urteil fällen. Der König mußte nicht erst langwierige Einzelverhandlungen mit Hunderten von Herren und Gemeinden führen, *·>) Vgl. oben Anm. 45 und F. Μ. Ρ ο w i c k e , The Thirteenth Century (The Oxford History of England, Bd. IV), Oxford 1953, S. 674—678. 51 ) Registres de Boniface VIII, ed. G. Digard, M. Faucon u. a., 4 Bde, Paris 1907/39 Nr. 2354: die Bulle ,Etsi de statu* gestand die Besteuerung des Klerus zu Verteidigungszwecken ausdrücklich zu.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
wenn er Steuern erheben wollte; der Rat, und später das Parlament, konnten für das gesamte Königreich sprechen; England brauchte also keinen ausgedehnten Verwaltungsapparat zur Kontrolle halbautonomer Provinzen und als Verbindungsglied zwischen Provinzial- und Zentralbehörden. So gab es ζ. B. während des 13. Jahrhunderts selten mehr als 20 bis 25 königliche Richter gleichzeitig in England52. Eine einzige französische Provinz hatte einen weit höheren Bedarf 53 . Andererseits konnte sich die englische Regierung darauf verlassen, daß unbezahlte ortsansässige Persönlichkeiten (Ritter und Landherren, Bürgermeister und Magistrate) einen guten Teil der Lokalverwaltung erledigten. Energien, die sich anderswo bei der Verteidigung lokaler Privilegien aufzehrten, konnten in England im Dienste der Zentralregierung eingesetzt werden. Schon in den ersten Stadien des englischen Staatsaufbaus läßt sich erkennen, wie sehr man sich auf ortsansässige Persönlichkeiten verließ, und dies blieb typisch für England bis ins 19. Jahrhundert. Die Entwicklung, wie England sie durchlief, war einzigartig und eignete sich daher schlecht als Vorbild für die Errichtung eines Staates. Es gab nur wenige andere Länder, deren Entwicklung sich so schnell wie in England vollzog und die so frei von innerer Zerrissenheit waren. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß England eher einer großen französischen Provinz als einem der Königreiche des Kontinents glich. Frankreich mit seinen vielen Provinzen und deren sehr unterschiedlichen Institutionen war weitaus typischer für die politische Situation Europas. Und die Tatsache, daß es den Franzosen als ersten gelang, das fast überall bestehende Problem zu lösen, aus faktisch unabhängigen Provinzen einen einheitlichen Staat aufzubauen, sicherte dem französischen Beispiel höchste Bedeutung in Europa. Die meisten europäischen Staaten richteten sich im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit mehr oder weniger stark nach dem französischen Muster aus. 52 ) F. Ρ a 1 g r a ν e , Parliamentary Writs, London 1827, I, S. 382: im Jahre 1278 gab es drei Richter am Hofgericht des Königs (Court of the King's Bench), fünf Richter am Court of Common Pleas und zwölf Reiserichter. 53 ) S. J. R. S t r a y e r , Les gens de justice du Languedoc sous Philippe le Bei (Cahiers de 1* Association Marc Blodi de Toulouse. Etudes d' histoire m£ridionale), Toulouse 1970. Am Ende des 13. Jahrhunderts gab es allein im Languedoc ungefähr 40 königlidie Riditer.
Die Ausweitung königlicher Herrschaft in Frankreich
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Wie für England so waren auch für Frankreich die beiden wesentlichen Entwicklungsbereiche die Justiz und das Finanzwesen. Aber die französischen Könige mußten langsam vorgehen und am Anfang waren ihre Institutionen einfacher und weniger formalisiert als die englischen. Zum Beispiel gab es zwar eine Art zentraler Abrechnungsprüfung im späten 12. Jahrhundert, aber nichts, was dem spezialisierten Verfahren des englischen Exchequer gleichgekommen wäre. Der französische Königshof war um 1200 aktiver und angesehener als um 1100, aber in seiner Rechtsprechungskompetenz und in der Verbindlichkeit seiner Rechtsformen blieb er hinter den königlichen Gerichtshöfen Englands zurück. Die französische Kanzlei war weder so rührig im Umgang mit örtlichen Behörden noch war sie in ihrer Amtssprache und ihrer Verfahrensweise so genau wie ihr englisches Gegenstück. Bis um 1200 war die Wirksamkeit der königlichen Institutionen in Frankreich auf die Isle de France beschränkt, d. h. auf das Gebiet, in dem der König direkter Herr des meisten Landes war. Die Einkünfte des Königs kamen fast nur von seinen Domänen und an seinen Gerichtshof wandten sich nur vereinzelt Rechtssuchende von außerhalb der Isle de France. Im größten Teil Frankreichs war nicht der König die letzte Entscheidungsinstanz, sondern der jeweilige Herzog, der Graf oder der Lehnsherr als Haupt eines Feudalfürstentums. Nichtsdestoweniger vermehrten die neugeschaffenen Institutionen das Einkommen, die Macht und das Ansehen des Königs, auch wenn sie vor allem für das Krongut zuständig waren. Um 1200 war der König von Frankreich stark genug, um seinen stärksten Provinz -Herrscher, den König von England, angreifen und besiegen zu können, der als Herr über den größten Teil Westfrankreichs gebot. Er nahm die nordwestlichen Provinzen Normandie, Anjou und Poitou an sich, und den hiermit begonnenen Annexionsprozeß setzte er während des ganzen Jahrhunderts fort. Durch Krieg, Heirat und Erbschaft gelang es ihm, die meisten der großen Fürstentümer der königlichen Domäne hinzuzufügen; nur die Bretagne, Guienne, Burgund und Flandern entgingen ihm. Diese fortlaufenden Annexionen stellten die französische Regierung vor schwerwiegende Probleme. Die ziemlich einfachen Institutionen, die der Verwaltung des kleinen Kronguts angemessen waren,
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
mußten natürlich erweitert und verbessert werden, um den Bedürfnissen einer so sehr vergrößerten Gebietsherrschaft und ihrer Bevölkerung gerecht zu werden. Die neuangegliederten Provinzen brachten ihre eigenen Institutionen und Gewohnheiten ein, die häufig weiter entwickelt und spezialisierter waren als die der königlichen Regierung. Den Versuch zu unternehmen, diese Institutionen der Provinzen zu verändern oder zu unterdrücken, war gefährlich, aber wie konnte eine Zentralregierung funktionieren, wenn in jeder Provinz die Verwaltung nach anderen Regeln verfuhr? Die Gewohnheiten von Paris unterschieden sich stark von den Gewohnheiten der Normandie, und die Unterschiede waren noch gravierender zwischen den Gewohnheiten des Nordens und dem Recht des Südens, das stark von römischer Rechtsgelehrsamkeit geprägt war. Es war Philipp August (1180—1223), der eigentliche Gründer des französischen Staates, der die grundlegende Lösung für dieses Problem fand. Er beließ jeder Provinz ihre eigenen Gewohnheiten und Institutionen, aber er besetzte alle wichtigen Ämter in den Provinzen mit Leuten aus Paris. In normannischen Gerichtshöfen galt also weiterhin normannisches Recht, aber den Vorsitz in diesen Gerichten führten nicht Normannen, sondern königliche Beauftragte, die vor allem aus den alten königlichen Domänen kamen 54 . Der Stolz der Provinzen wurde geschont, und doch behielt der König die neuen Besitzungen unter seiner Kontrolle. Das war klug ersonnen und ermöglichte dem Königtum, neue Provinzen fest an sich zu binden, unabhängig davon, wie eigenständig und festverwurzelt deren eigene Institutionen waren. Diese Technik bewährte sich noch im 17. Jahrhundert, als Frankreich das Elsaß erwarb. (Im Gegensatz dazu tat sich der englische Staat mit seinem Bestehen auf einheitlichen Institutionen und Gesetzen schwer, neue Gebiete mit eigenen politischen Traditionen zu assimilieren, wie etwa die walisischen Fürstentümer oder die Kleinreiche Irlands.) Aber der sich bildende französische Staat mußte für diese seine Flexibilität auch einen hohen Preis bezahlen. Die lokalen Herren waren vor allem damit beschäftigt, ihre Lokalgewohnheiten und s4 ) J. R . S t r a y e r , The Administration of N o r m a n d y under St. Louis, Cambridge, Mass. 1932, S. 91—99; d e r s., Normandy and Languedoc, in: Speculum 44, 1969, S. 1—12.
Autonomie der französischen Provinzen
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-Privilegien zu wahren; sie mißtrauten der Zentralregierung in dem gleichen Maße wie diese ihnen. Sie konnten in größerem Ausmaß nicht zur Arbeit in der Lokalverwaltung herangezogen werden. Es war geradezu die Grundregel der französischen Verwaltung, daß niemand in seiner Heimatprovinz ein Amt übernehmen sollte55. Der König mußte eigens einen Beamtenapparat zur Verwaltung der Provinzen schaffen, und der vermehrte sich in der Entstehungszeit des französischen Staates mit wachsender Schnelligkeit. Außerdem: mochte auch die französische Regierung willens sein, ein großes Maß an Verschiedenheit in den lokalen Bräuchen hinzunehmen, so mußte es doch in manchen Bereichen wie etwa der Besteuerung eine gewisse Einheitlichkeit geben; ebenso mußte es Mittel geben, einander widerstreitende lokale Interessen zu einem Ausgleich zu bringen und die letztentscheidende Amtsgewalt des Königs geltend zu machen. So mußte Frankreich einen vielschichtigen Verwaltungsapparat aufbauen. Lokale Amtsträger unterstanden der Kontrolle der Provinzbeamten, die der Kontrolle der Regionalbeamten unterstanden, die wiederum von Ratsgremien, Höfen und Kammern in Paris kontrolliert wurden. Es gab eine nie endende Flut von Befehlen, Vorwürfen, Rechtsentscheidungen und Anforderungen von Informationen von den Zentral- zu den Lokalbehörden, und eine ähnlich unendliche Flut von Protesten, Berufungen, Entschuldigungen und Erläuterungen in umgekehrter Richtung. Die Vielschichtigkeit des französisdien Verwaltungssystems erwies sich als besonders nachteilig in einer Zeit langsamer Nachrichtenübermittlung; sie führte dazu, daß die Zentralsi
) Ordonnances des roys de France de la troisifcme race, ed. E. de L a u r i έ r e u. a., Paris 1723—1847, 23 Bde, N D 1967/8, Bd. I, S. 67—75; weder ein bailli noch ein Senesdiall konnte für sidi oder seine Familie Grundbesitz in der ihm übertragenen Provinz erwerben (1254, und danach oft wiederholt). Archives de la Ville de Montpellier, ed. F. C a s t e t s und J. B e r t h e l i (1895), I, S. 51; im Jahre 1317 entließ Philip V. den obersten Richter der Beaucaire-Nimes, weil er von dort her stammte, und königliche Ordonnanzen untersagten ausdrücklich, daß jemand in dem Distrikt Richter wurde, in dem er geboren war. Im Gegensatz dazu mußte in England der Sheriff Landbesitz in der ihm unterstellten Grafschaft besitzen; s. Rot. Pari. I, S. 282, 353, 465; Statutes of the Realm, I, S. 160 und 174; Cal. Fine Rolls, IV, S. 463, 467—468: ein überaus erfahrener Sheriff, der sein Amt von 1330—1332 in Wiltshire und von 1333—1335 in Dorsetshire innegehabt hatte, konnte 1335 nicht Sheriff von Devonshire werden, weil er dort keinen Grundbesitz hatte.
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
regierung die ihr zu Gebote stehenden Mittel und Menschen niemals wirklich nutzbringend einsetzen konnte. England, das weniger als Vs der Bevölkerung Frankreichs besaß und dessen Reichtum vermutlich weit weniger als V4 des Reichtums Frankreichs ausmachte, war in Konfliktsituationen oft in der Lage, mit Frankreich Mann für Mann und Pfund für Pfund gleichzuziehen. Damit soll nicht gesagt werden, daß das französische System ein Fehlschlag war. Es stellte wohl unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit dar. Frankreich glich einem Mosaik; es war aus vielen Teilen zusammengefügt und die Bürokratie war der Zement, der sie zusammenhielt. Manchmal wurde der Zement so dick, daß er die Regierungsform verdeckte; aber das war immer noch besser, als ihn so dünn werden zu lassen, daß der Staat auseinanderbrach. Der französische Ansatz ermöglichte es, aus Provinzen und Regionen ganz unterschiedlichen Charakters einen Staat aufzubauen. Und weil die meisten europäischen Staaten, die sich allmählich bildeten, Mosaikstaaten wie Frankreich waren, neigten sie dazu, sich am französischen Vorbild zu orientieren. Im Verlaufe des 13. Jahrhunderts wurde die Souveränität des französischen Königs fest begründet. Nach außen wurde von allen, auch vom Papst, anerkannt, daß er keinen weltlichen Herrn über sich hatte 58 . Nach innen bestand der König darauf, daß ihm in allen Fällen die letztrichterliche Entscheidung zustand und daß Berufungsverfahren schließlich den Hof des Königs in Paris erreichten, unabhängig davon, wie groß die Rechte oder wie ausgedehnt die Privilegien einer Provinz oder eines Herrn waren. Tatsächlich war es dieses Recht zur letztrichterlichen Entscheidung, das auch überall dort immer wieder durchgesetzt wurde, wo der König sonst wenig **) Deer. Greg. IX, 4, 17, 13; im Jahre 1202 hatte Innozenz III. festgestellt, daß der König von Frankreich „superiorem in temporalibus minime recognoscit", und das wurde Bestandteil der offiziellen kirchlichen Lehre. Etwas später wurde dann der Satz geprägt: „rex (d. h. der König von Frankreich) est imperator in regno suo", d. h. er besaß die oberste weltliche Gewalt; diese Interpretation ist in Frage gestellt worden von F. C a l a s s o . I Glossatori e la teoria della sovranitä, 2. Aufl., Mailand 1951; s. aber Sergio M o c h i O n o r y , Fonti canonistiche dell' idea moderna dello stato, Mailand 1951 und G. P o s t (wie Anm. 3), S. 453—480; vgl. auch zur wissenschaftlichen Kontroverse um die Bedeutung dieses Satzes H. Q u a r i t s c h (wie Anm. 3), S. 79—83, mit ausführlichen Literaturhinweisen in Anm. 152.
„Steuern" im Deutschen Reich
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Macht besaß, wie e t w a im H e r z o g t u m Aquitanien oder in der G r a f schaft Flandern 5 7 . Ähnlich umfassend w a r der Theorie nach das Recht des Königs, Anordnungen für das gemeine W o h l zu erlassen 58 , wenn auch die praktische Durchführung hier hinter dem Anspruch zurückblieb. Die königlichen Verordnungen wurden vielleicht nicht im ganzen Reich mit großem Eifer ausgeführt, aber ihre Gültigkeit wurde eigentlich nicht bestritten. Gleichermaßen wurde das Recht des Königs zur Besteuerung, besonders zur Erhebung v o n Steuern für die Landesverteidigung, allgemein anerkannt 5 9 . Mochte man im Einzelfall auch über die H ö h e der Abgaben feilschen, mochten wohl auch die mächtigeren H e r r e n Ansprüche auf Beteiligung an den Einnahmen geltend machen: die königlichen Geldforderungen ganz abzulehnen w a r doch fast unmöglich. [ D e n englischen wie den französischen Königen w a r es also bis zum 14. J a h r h u n d e r t gelungen, ihr Recht zur Erhebung v o n Steuern geltend zu machen und durchzusetzen, u. z. v o n Steuern im neuzeitLes Olim ou registres des arrets, ed. Α. Β e u g η ο t (Collection de documents inidits), Paris 1839—1848, Bd. II, S. 142, 244, 300 (Flandern), I, S. 284, II, S. 94, 97, 138, 148, 236 (Aquitanien). Olim II, S. 3—8: die Tatsache, daß Eduard I. vor das Parlement nach Paris zitiert wurde, diente als Anlaß für die Besetzung der Gascogne im Jahre 1294; ibid., S. 394—396: indem das Parlement sich in die Streitigkeiten flämischer Städte im Jahre 1295 einmischte, schwächte es den Hof und legte den Grundstein für die spätere Besetzung Flanderns. *·) Der wichtigste Beleg findet sich bei B e a u m a n o i r (wie Anm. 29), §§ 1512—1515: der König kann für das gemeine Wohl Anordnungen („establissemens") treffen; alle müssen ihm gehorchen; der König kann jeden bestrafen, der ihnen nicht Folge leistet; aber neue Anordnungen dürfen nur aus gutem Grund und nach wohlerwogener Beratung (»par grant conseil") erlassen werden. Bis zum Jahre 1300 war die Gesetzgebungstätigkeit in Frankreich weit weniger bedeutend als in England, aber eine königliche „ordonnance" hatte genau so viel Autorität wie ein „Statute" des englischen Königs; so wurden ζ. B. die Embargos für den Export von Pferden und Waffen in den entlegensten Provinzen durchgesetzt, Ord. XI, 353; C h a m p o l l i o n - F i g e a c , Lettres de rois, reines, et autres personnages . . P a r i s 1839—1847, I, S. 285, 298. S 9 ) Vgl. allgemein J. R. S t r a y e r , Consent to Taxation under Philip the Fair, in J. R. S t r a y e r und C. Η. Τ a y 1 ο r , Studies in Early French Taxation, Cambridge/Mass. 1939; vgl. im besonderen Hist. Litt., 36, S. 515; Pierre Jame, ein Rechtsanwalt aus Montpellier, der keine große Vorliebe für Philipp den Schönen hatte, räumt ein, daß der König ohne Zustimmung Steuern für die Verteidigung des Königreiches auferlegen konnte. Damit wird nur das Eingeständnis Bonifaz' VIII. im Jahre 1297 wiederholt, daß der König den Klerus zu Verteidigungszwecken besteuern könne (s. oben Anm. 51).
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Erste Anfänge der europäischen Staatenbildung
liehen Sinne, denn sie waren auf die allgemeine Staatsuntertänigkeit der Besteuerten gegründet. Die deutschen Könige dagegen, die natürlich auch für besondere Zwecke, vornehmlich für den Zweck der Landesverteidigung, auf besondere Einnahmen angewiesen waren, kamen über die mittelalterliche Form der Steuer nicht hinaus; deren Rechtsgrundlage war nicht die allgemeine Staatsuntertänigkeit, sondern ein besonderes Rechtsverhältnis zwischen demjenigen, der die Steuer erhob und dem Steuerpflichtigen, und dieses Rechtsverhältnis konnte in einer lehnrechtlichen, grund- oder leibherrlichen, gerichts- oder vogteiherrlichen Beziehung bestehen60. Die auf die allgemeine Untertanenschaft gegründete Steuer wird im deutschen Bereich in den Fürstentümern von den einzelnen Landesherren und in den Städten ausgebildet. Sie ist wie in England und Frankreich zunächst immer eine außerordentliche, d. h. in einer bestimmten Notsituation oder für einen besonderen Zweck erhobene Steuer, an die Zustimmung der Betroffenen gebunden und daher verknüpft mit der Bildung von Vertretungskörperschaften und Ständen 61 . Pläne und Versuche zur Erhebung eines allgemeinen Census, also einer Reichssteuer, gab es allerdings auch bei den deutschen Kaisern, besonders bei Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. für das Königreich Italien 62 . Aber auch diese Ansätze sind, wie so vieles, durch den Untergang der Staufer zunidite gemacht worden.] Audi in Frankreich gab es wie in England eine deutliche Verlagerung der Treuebindung zum Staat. Wie in England so konnte auch hier der Papst nicht auf öffentliche Unterstützung rechnen, wenn er die Besteuerung des Klerus untersagte. Es gab Entrüstung darüber, daß der Klerus sich seinem Beitrag zur Landesverteidigung entzog. Und diese Entrüstung nahm solche Formen an, daß die Bischöfe sich darüber Sorgen machten63. Als dann die Besteuerungsfrage im Sinne des Königs beigelegt war, brach ein neuer Streit aus: es ging um das Recht der weltlichen Gewalt, einen des Hochverrats Η. Η a s s i η g e r , in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte I, hg. Η. A u b i η und W . Z o r n , Stuttgart 1971, S. 294 ff. 6 1 ) Ο. Β r u η η e r , Land und Herrschaft, 6. Aufl., Darmstadt 1970, S. 273—303. 6 2 ) Vgl· die oben in. Anm. 25 genannten Arbeiten von C. R. B r ü h l . ®3) P. D u ρ u y , Histoire du differend d'entre le pape Boniface VIII et Philippe le Bei, Paris 1655 N D Tuscon (Ariz.) 1963, preuves, S. 26.
Treue zum Staat
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angeklagten Bischof gefangennehmen und aburteilen zu können. In dem sich daraus entwickelnden Propagandakrieg zog der Papst eindeutig den kürzeren. Seine Verunglimpfungen des Königs übten auf keinen Teil der französischen Bevölkerung eine spürbare Wirkung aus. Andererseits gewannen aber die Parteigänger des Königs die Unterstützung aller politisch bedeutsamen Gruppen Frankreichs, selbst wenn sie sich zu den phantastischsten Anklagen gegen die Rechtgläubigkeit und die Moral des Papstes verstiegen. Der Adel, die Städte und fast der gesamte Klerus stimmten dem Plan eines Kirchenkonzils zu, um den Papst zu richten64. Die Zustimmung des Adels und der Städte gab vermutlich ihre wahre Meinung wieder; sie waren der ehrlichen Überzeugung, daß der Papst Frankreich zerstören wolle, und sie glaubten ihr Königreich gegen ihn verteidigen zu müssen, auch wenn er der Erbe des heiligen Petrus war. Der Klerus stand sicherlich unter Druck und muß Zweifel an der Rechtsgültigkeit der Anklagen gegen den Papst gehabt haben. Aber wenn auch der Klerus den König nicht begeistert unterstützte, so zeigte er auch keinen großen Eifer für die päpstliche Sache. Keiner wurde zum Märtyrer; man kritisierte noch nicht einmal das königlidie Vorgehen. Offensichtlich hielt man es für wichtiger, Eintracht und Einigkeit in Frankreich zu bewahren, als den Ruf des Papstes zu verteidigen. Auf dem letzten Höhepunkt der Auseinandersetzungen schickte der König eine Schar Bewaffneter aus, um den Papst gefangenzunehmen; der Schock und die schlechte Behandlung führten zum Tod des Papstes, aber die Welle der Empörung in Frankreich blieb aus, sogar beim Klerus. Den nachfolgenden Päpsten gelang es nicht, irgendein Interesse für den Fall zu entfachen. Schließlich wurde der König gänzlich entlastet, und seinen Beauftragten wurden ziemlich leichte Strafen auferlegt (die sie nie ableisteten)65. Vom Standpunkt der Klugheit aus war es offensichtlich eher geboten, dem König als dem Papst die Treue zu halten. Hinter dem hier sichtbar werdenden Wandel stand jedoch mehr als nur die Sorge um die persönliche Sicherheit und das Fortkommen. Es gab bereits Leute — vor allem Rechtsgelehrte und königM ) Die wichtigsten Quellen sind abgedruckt bei: G. Ρ i c ο t , Documents relatifs aux Etats G l ^ r a u x et Assembles r£unis sous Philippe le Bei, Paris 1901. 6S ) R. H o l t z m a n n , Wilhelm von Nogaret, Freiburg 1898, Kap. 4 und 7.
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liehe Beamte — die anfingen, ihren Staat zu idealisieren. Einen gewissen Königskult hatte es seit langer Zeit gegeben — der französische König, der Erbe Karls des Großen, der Kranke zu heilen vermochte, konnte als einziger europäischer Herrscher für sich in Anspruch nehmen, mit ö l gesalbt zu sein, das direkt vom Himmel kam 66 . Um 1300 gab es einen Kult des Königreichs Frankreich: Frankreich war ein heiliges Land, wo Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Gelehrsamkeit blühten. So wie die Juden von alters her, so waren auch die Franzosen ein auserwähltes Volk, der göttlichen Gnade zu Recht teilhaftig. Frankreich zu schützen hieß Gott dienen67. Diese Ideen breiteten sich aus — kurz nach 1400 waren sie einem Bauernmädchen im östlichen Winkel des Reidies bekannt — und die Treue zum Staat wurde mehr als bloße praktische Notwendigkeit oder Bequemlichkeit. Sie war eine Tugend.
66 ) Zu diesem Problem gibt es zwei ausgezeichnete Büdier: Μ. Β1 ο c h , Les rois thaumaturges, Strasbourg 1924 und P. E. S c h r a m m , Der König von Frankreich, 2 Bde, 2. Aufl. 1960, Kap. 5—8. 67 ) J. R. S t r a y e r , France, The Holy Land, the Chosen People, and the most Christian King, in: Action and Conviction in Early Modern Europe, ed. Τ. K. R a b b and J. E. S i e g e 1, Princeton 1969, S. 3—16; Η. Κ ä m ρ f , Pierre Dubois und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalbewußtseins um 1300 (Beiträge zur Kulturgeschichte, Heft 54). Leipzig/Berlin 1935, 2. Aufl. Hildesheim 1972. Η e y d t e , F. A. Frhr. v. d., Die Geburtsstunde des souveränen Staates, Regensburg 1952, S. 211 ff.
2. Kapitel
DIE ZEIT DER GROSSEN KRISEN IM 14. U N D 15. J A H R H U N D E R T Um 1300 war es offensichtlich, daß die beherrschende politische Form Westeuropas der souveräne Staat sein würde. Das universale Kaisertum war niemals mehr als ein bloßer Traum gewesen68; die universale Kirche mußte einsehen, daß die Verteidigung des einzelnen Staates gegenüber den Freiheiten der Kirche und den Ansprüchen der Christenheit Vorrang hatte. Die Treue zum Staat war stärker als irgendeine andere Treuebindung, und bei einigen wenigen (vor allem bei Regierungsbeamten) zeigte diese Treue zum Staat bereits Züge von Patriotismus69. So war zwar der souveräne Staat des Jahres 1300 stärker als irgendeine vergleichbare Form politischer Organisation, aber er war eben doch nicht eigentlich stark. Die Treue zum Staat mochte alle anderen Treuebindungen übertreffen, aber da alle anderen Treuebindungen 68) Dies hatte sich, was die politische Realität betraf, bereits in der Stauferzeit herausgestellt. Als N o r m der politischen Ordnung der „diristianitas" allerdings behielt das Kaisertum vornehmlich im juristischen Denken auch des Spätmittelalters noch seinen Rang bis zur Abdankung Karls V. Bartolo da Sassoferrato, der als unbestrittene Autorität in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Perugia die Rechte lehrte, gibt Lehrbuchwissen wieder, wenn er schreibt: „ . . . si quis diceret dominum imperatorem non esse dominum et monarchem totius orbis esse hereticus, quia diceret contra textum S. Evangelii (Bartolus, Comm. ad Dig. 49, 14, 24, zitiert nach H . Q u a r i t s c h (wie Anm. 3), S. 90. Vgl. dazu: J . B a s z k i e w i c z , Quelques remarques sur la conception de Dominium mundi dans 1* oeuvre de Bartolus, in: Bartolo da Sassoferrato (Studi e documenti per il V I centenario), 2Bde, Mailand 1962, Bd. I, S. 9—25. Mit dem Verlust der Einheit der Christenheit im Augsburger Religionsfrieden von 1555 aber war auch das ihr zugeordnete imperium mundi der deutschen Kaiser zu einem „leblosen Phantom" geworden; vgl. O . v. G i e r k e , Johannes Althusius, 5. Aufl., Aalen 1958, S. 235; E. W o l f , Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie, hg. K. L a r e η ζ , Bd. I, 1943, S. 33—168, bes. Kap. 3 : Die traditionelle Reichsidee, S. 56—61. 6 9 ) E. K a n t o r o w i c z (wie Anm. 3), S. 232—262 (der Abschnitt trägt die Überschrift: „Pro Patria Mori").
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Die Zeit der großen Krisen
schwach geworden waren, konnte die Treue zum Staat dominieren, ohne doch selbst sehr intensiv zu sein. Es dauerte vier, ja fünf Jahrhunderte, ehe die europäischen Staaten ihre Schwächen überwunden, ihre Verwaltungsmängel beseitigt und die eher lauwarme Treue in glühenden Nationalismus verwandelt hatten. Die ersten beiden Jahrhunderte nach 1300 erwiesen sich als besonders schwierig. Man könnte sagen, daß die Europäer ihr Staatensystem gerade im rechten Augenblick geschaffen hatten, denn im 14. Jahrhundert kam es zu einer Reihe von Katastrophen, die kaum zu politischen Neuerungen Mut machten. Um 1280 setzte eine große Wirtschaftskrise ein, eine der längsten in der Geschichte überhaupt 70 . Westeuropa war an die Grenze seiner Agrarproduktion, seines Handels und seiner Warenherstellung gelangt. Ehe nicht neue Tediniken, neue Märkte und neue Rohstoffquellen entdeckt wurden, war eine Stagnation unausweichlich, eine Rezession wahrscheinlich. Die stark angewachsene Bevölkerung lastete schwer auf dem Land; Hungersnöte und Seuchen führten zwar zu einer Entlastung, hoben aber nicht gerade die Moral der Uberlebenden. Der Schwarze Tod, der um die Mitte des Jahrhunderts wütete und noch mehrmals vor 1400 wieder auftrat, löschte einige kleinere Herrschaften so gut wie aus und raffte viele potentielle politische Führer dahin. Die politische Instabilität war ein Spiegelbild der wirtschaftlichen und physischen Unsicherheit. Wie immer wir sie nennen mögen: es gab ohne Zweifel mehr blutigen Aufruhr, mehr Aufstände und Bürgerkriege im 14. als im 13. Jahrhundert. Keine Regierung des 14. Jahrhunderts war in der Lage, ihre Bevölkerung vor wirtschaftlichen Depressionen, vor Hungersnöten und Seuchen zu schützen; es fehlten einfach die nötigen Kenntnisse und Mittel. Die Regierungen hätten wohl die langen und kostspieligen Kriege vermeiden können, die die Leiden und die Demoralisierung der Bevölkerung verstärkten. Aber in einem gewissen 70
) Eine gute Darstellung der Depression findet sich in dem Kapitel von L. G e n i c o t in: The Cambridge Economic History of Europe, ed. Μ. Μ. Ρ ο s t a η , 2. Aufl., Cambridge/Engl. 1966, Bd. I, S. 660—741. Zur Frage des Einsetzens der Depression in den 80er Jahren des 13. Jahrhunderts s. J. R. S t r a y e r , Economic Conditions in the County of Beaumont-le-Roger, in: Speculum 26, 1951, S. 277—287.
Gebietsabrundungen in England und Frankreich
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Sinne waren die Kriege notwendig, um die Entwicklung eines Systems souveräner Staaten zum Abschluß zu bringen. Souveränität verlangt Unabhängigkeit von jeder auswärtigen Macht und letzte Hoheitsbefugnis über die Menschen, die innerhalb bestimmter Grenzen leben. Aber im Jahre 1300 war nicht klar, wer unabhängig war und wer nicht; es war schwer, eindeutige Grenzlinien in Europa zu ziehen, denn man kannte bisher nur sich überschneidende Einflußsphären und fluktuierende Grenzzonen. Zwar hatten die großen Königreiche des Westens feste Kernbereiche, aber an ihren Rändern gab es Gebiete, bei denen es zweifelhaft war, ob sie dem Staat einverleibt werden würden oder nicht: für England galt das von Wales und Schottland, für Frankreich von der Bretagne, Guienne, Flandern und den Überresten des alten Mittelreiches. England eroberte Wales, aber es gelang ihm nicht, sich Schottland einzuverleiben; Frankreich eroberte Guienne, annektierte die Bretagne und viele kleine Territorien an seiner Ostgrenze, aber Flandern konnte es nicht gewinnen. Mehrere Generationen überdauernde kriegerische Auseinandersetzungen waren nötig, um das zu erreichen, aber zumindest von den Ergebnissen kann man sagen, daß sie positiv waren; sie trugen dazu bei, die Gebiete der beiden am weitesten fortgeschrittenen europäischen Staaten festzulegen. In Deutschland und Italien wurden in etwa die gleichen Ergebnisse erzielt, wenn auch auf geringere Dauer und in kleinerem Umfang. [Beide Königreiche waren seit der Eroberung Italiens durch Otto I. im Jahre 951 in „Personalunion" miteinander verbunden. Ihr König aber war zugleich Kaiser, der über Jahrhunderte hinweg mit dem Papst einen erbitterten Kampf um universale Geltung und die rechte Ordnung der christianitas führte. In diesem Spannungsfeld von Kaiser- und Reichsinteressen kam es dann schon im 12. Jahrhundert dazu, daß die Zeitgenossen das Reich in den Fürsten repräsentiert sahen 71 , und es waren auch die Fürsten, die in ihren Territorien den Ausbau einer neuen Staatlichkeit vorantrieben. Dabei gelang es keinem der alten Stammesherzogtümer Franken, Schwaben, Bayern und Sachsen, den Ubergang in eine moderne 71
) G. K o c h , Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Studien zur ideologischen Herrsdiaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1972, S. 16—17.
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Die Zeit der großen Krisen
Staatlichkeit als Einheit zu vollziehen. Der Auflösungsprozeß der Stammesherzogtümer setzte bereits am Ende des 11. Jahrhunderts ein und wurde dann von den Staufern, besonders von Friedrich Barbarossa, kräftig gefördert, der sich von der Zerstückelung dieser großen Herrschaftseinheiten größeren Spielraum für seine eigene Hausmadit und damit für die Königsgewalt erhoffte 72 . Nach dem Untergang des staufischen Hauses aber stand endgültig fest, daß sich die modernstaatliche Entwicklung in Deutschland in den fürstlichen Territorien 73 und den Reichsstädten74 und in Italien in den Stadtstaaten vollziehen würde.] Jedes deutsche Fürstentum und jede italienische Stadt beanspruchte für sich Souveränität. Grenzkriege, Heiratsbündnisse und Erbteilungen bewirkten, daß Größe und Anzahl der Staaten starken Schwankungen unterworfen waren. Aber trotz des allgemeinen Durcheinanders entstanden doch mehrere einigermaßen stabile Staaten: in Italien ζ. B. ein von Florenz beherrschter Staat in Tuscien und ein südöstlicher deutscher Staat unter der Vorherrschaft der Habsburger. Andererseits brachten viele Kriege des 14. und 15. Jahrhunderts Behinderungen und oft auch Rückschläge für den Prozeß der Staatenbildung. Zu einer Zeit, da die Wirtschaft stagnierte, ja rückläufig war, mußte es einem Herrscher, der sein Einkommen und seine Macht vergrößern wollte, als das einfachste Mittel erscheinen, sich neue Gebiete zu unterwerfen, und diese Gebiete lagen eben häufig innerhalb der Grenzen bereits etablierter Staaten. Der Hundertjährige Krieg war deshalb besonders grausam und langwierig, weil die Bemühungen des französischen Königtums, die Grenzen seines Territoriums eindeutig abzustecken und zu befestigen, auf die entgegengesetzten Ziele der englischen Könige trafen, die ihren französischen Landbesitz vergrößern wollten. Die Verbündeten Englands bei dem Versuch, dem französischen Königtum bestimmte Pro72
) Ο. Ε η g e 1 s , Die Staufer, Stuttgart 1972, S. 89 ff. ) Vgl. zur Entwicklung der einzelnen Territorien die Sammelbände: Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen XIV), 2 Bände, Sigmaringen/München 1971, hg. Η . Ρ a t ζ e . 74 ) J· S y d o w , Zur verfassungsgeschichtlichen Stellung von Reichsstadt, freier Stadt und Territorialstadt im 13. und 14. Jahrhundert, in: Les libert£s urbaines et rurales du Xle au XlVe siecle (Colloque International, Spa 1966), ο. 0 . 1 9 6 8 , S. 281—309, bes. S. 305 ff. über die freien Städte. 73
Der Hundertjährige Krieg
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vinzen zu entreißen, waren häufig die Bretagne, Flandern und Burgund, und es sah zumindest zwei Mal so aus, als ob der Versuch gelingen würde (der Vertrag von Calais im Jahre 1360 und der Vertrag von Troyes im Jahre 1420). Für uns liegt es auf der Hand, daß es den englischen Königen schlechthin an Mitteln fehlte, um große Teile Frankreichs besitzen und regieren zu können, aber für die Zeitgenossen war das keineswegs klar. Eineinhalb Jahrhunderte lang mußte das französische Königtum einen Großteil seiner Kräfte darauf verwenden, Länder und Rechte zu verteidigen, die es schon um 1300 besessen hatte. Eineinhalb Jahrhunderte lang verwandte das englisdie Königtum einen Großteil seiner Kräfte darauf, das Königreich Frankreich zu zersplittern. Manchmal fördert Krieg die Ausbildung von Verwaltungsinstitutionen, aber gerade dieser Krieg zehrte so sehr an den Kräften beider Seiten, daß er die normale Entwicklung der Staatsapparate verzögerte. Man neigte dazu, Strukturreformen zu verschieben, die anstehenden Probleme ad hoc zu lösen, anstatt neue Regierungsstellen zu schaffen und unmittelbaren Ergebnissen gegenüber der Möglichkeit zu größerer Leistungsfähigkeit den Vorzug zu geben. Die gleichen Schwächen zeigten sich in Deutschland und Spanien. Nur in Italien gab es im 14. und 15. Jahrhundert wirkliche Verbesserungen in der Verwaltungstechnik, da hier die Kriege begrenzt waren und weniger verheerend wirkten. Bis zu einem gewissen Grade hatten die Erfolge der Herrscher des 13. Jahrhunderts bei der Errichtung von Staaten die Kriege des 14. Jahrhunderts notwendig und möglich gemacht. Der gleiche Erfolg hatte noch ein anderes Problem hervorgebracht, nämlich die Unterstützung der besitzenden und politisch aktiven Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Wie wir sahen, waren die mittelalterlichen Staaten Rechts-Staaten. Sie hatten ihre Macht zum großen Teil dadurch aufgebaut, daß sie ihre Rechtsinstitutionen entwickelt und die Eigentumsrechte der besitzenden Schichten geschützt hatten. Souveränität im Innern kam vor allem in dem Recht zum Ausdruck, in einem Hochgerichtsprozeß ein letztinstanzliches Urteil fällen zu können. Der Betonung des Rechts entsprach die Betonung des Rechts auf Zustimmung. Bestehende Gewohnheiten waren eine durch das Recht garantierte Form des Eigentums. Sie durften ohne rechtmäßiges Verfahren nicht verändert werden, ebensowenig wie
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Eigentum ohne rechtmäßiges Verfahren eingezogen werden konnte. So bedurften alle Regierungsakte der Zustimmung, entweder als ausdrückliche Zustimmung in der Form einer Bewilligung durch die Untertanen, oder als stillschweigende Zustimmung zu den Entscheidungen eines Gerichtshofes. Dieser Nachdruck auf der Notwendigkeit der Zustimmung war nicht bloße Theorie, obwohl das politische Denken des 13. Jahrhunderts die Theorie dazu formulierte 75 . Sie war ein unumgehbares politisches Faktum. Es gab keinen Staat, der über die militärische Macht, den Verwaltungsapparat oder auch nur die Information verfügte, die er gebraucht hätte, um Bevölkerungsgruppen von politischer und sozialer Bedeutung Maßnahmen aufzwingen zu können, die sie ablehnten. Für die Durchführung der Verwaltungsmaßnahmen war man auf die Mitarbeit der ortsansässigen Herren angewiesen. Im 14. Jahrhundert wurde es schwierig, diese Mitarbeit zu gewinnen. Für diese Schwierigkeit gab es mehrere Gründe. Zunächst einmal waren die besitzenden Schichten durch die stagnierende oder rückläufige Wirtschaft in große finanzielle Bedrängnis geraten. Also versuchten sie, sich der Besteuerung zu entziehen oder die Steuerlast für sich zumindest zu verringern; außerdem bemühten sie sich um Ämter und Regierungsaufträge, die ihr Einkommen vergrößerten, ohne wesentlich größere Verpflichtungen mit sich zu bringen. Den ortsansässigen Magnaten wurde ζ. B. häufig die örtliche Verteidigung übertragen, und sie erhielten große Summen Geldes, um Soldaten anzuwerben und die Befestigungsanlagen zu verbessern. Ein Großteil dieses Geldes wurde verschleudert oder für andere Zwecke ausgegeben. Das örtliche Militäraufgebot wurde von den örtlichen Anführern häufig dazu mißbraucht, um zweifelhafte Ansprüche auf den Besitz schwächerer Nachbarn durchzusetzen, und manchmal sogar 7S ) G. Post (wie Anm. 3), S. 91—238. Dieser Grundsatz wurde sehr ernst genommen, wie sich an folgendem Beispiel ablesen läßt: Karl I. von Sizilien legte im Jahre 1267 seinem Königreich eine allgemeine Abgabe auf. Papst Clemens IV. sprach sofort einen Tadel aus und wies darauf hin, daß diese Maßnahme große Unruhe ausgelöst habe und daß er eine Versammlung der Barone, Prälaten und der führenden Männer der Städte einberufen solle, um mit ihnen Zeitpunkt und Durdiführung der Steuer zu bespredien. E. M a r t i n e und U. D u r a n d , Thesaurus Novus Anecdotorum, Paris 1717, ND Farnborough 1968, 5 Bde, Bd. II, col. 508.
Mangelnde Unterstützung der besitzenden Schichten
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für reine Wegelagerei. Auf höherer Ebene intrigierten die großen Herren um Posten in der Zentralregierung. Die Verlierer in diesem Konkurrenzkampf wurden unzuverlässig; die Gewinner benutzten die gewonnenen Ämter, um sich und ihre Anhänger zu bereichern. Und manchmal führte die Eifersucht zwischen den verschiedenen baronalen Fraktionen zum Bürgerkrieg. Das Wiedererstarken der Macht der Barone ist manchmal als „Bastard-Feudalismus" bezeichnet worden. Es ist sicherlich zu Einbrüchen in die Aufsicht über die Lokalverwaltungen gekommen, aber man kann doch nicht von einem eigentlichen Feudalismus sprechen. Es kam nicht zur Gründung dauerhafter Fürstenherrschaften; Macht und Reichtum wechselten schnell von einem Parteien-Führer zum anderen. Abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen war es tatsächlich nicht das Ziel dieses politischen Spiels, eine neue Regierung zu schaffen, sondern man wollte einen Teil der bestehenden Regierung in die eigene Gewalt bekommen, um sie dann für eigennützige Zwecke ausnutzen zu können. Die Gefolgsleute der baronalen Anführer wurden nicht durch Lehen belohnt; sie wurden bezahlt, und zwar aus den Einnahmequellen der Zentralregierung, die die Barone in ihre Hand gebracht hatten. So schwächten wohl die Intriguen und Streitigkeiten des Adels und seiner Gefolgsleute die lokale und zentrale Regierungsarbeit, aber die Auseinandersetzungen wurden niemals so weit getrieben, daß dadurch bestehende Institutionen zerstört worden wären. Der Grundaufbau der Regierung mußte erhalten bleiben, weil an sein Fortbestehen die Einkünfte gebunden waren, auf die es den oberen Schichten gerade ankam. Oft konnten auch die Angehörigen der besitzenden Schichten die Wünsche der Regierung ohne Intriguen und Gewaltanwendung durchkreuzen. Der Staat selbst lieferte ihnen die Mittel zur Obstruktion. Im 12. und 13. Jahrhundert war das Hauptziel sowohl der Herrscher als audi der verantwortungsbewußten Glieder der Gesellschaft, den Zuständigkeitsbereich und das Ansehen der Gerichtshöfe so weit auszudehnen, daß die meisten Auseinandersetzungen auf friedlichem Wege beigelegt werden konnten. Man hatte lange und beharrlidi auf die besitzenden Schichten einwirken müssen, ehe man sie dazu gebracht hatte, sich der Rechtsprechung der Gerichtshöfe zu
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unterwerfen, und keine Regierung wollte es riskieren, die einmal festgelegten gesetzlichen Verfahrensweisen zu schwächen. Aber Barone, Prälaten und die selbstverwaltenden Städte hatten bald herausgefunden, daß sie nur das Spiel nach den neuen Spielregeln mitzuspielen brauchten, um die Pläne der Regierung viel wirkungsvoller durch legale Obstruktion als durch bewaffneten Widerstand durchkreuzen zu können. Die schwierigen Reisebedingungen und die Umständlichkeit der Nachrichtenübermittlung zwangen die Gerichte zur Langsamkeit, wenn es gerecht zugehen sollte. Bis zur Entscheidung über die Frage, ob ein örtliches Privileg zu Recht bestand oder nicht, konnten Jahre vergehen, und wenn endlich ein Spruch ergangen war, konnte der gleiche Anspruch in leicht abgewandelter Form noch einmal vorgebracht werden. In den Ländern, die, wie Frankreich, ein kompliziertes Appellationssystem hatten, kam es zu besonders großen Verzögerungen 76 , aber auch in England, dessen Gerichtssystem einen relativ einfachen Aufbau hatte, war die Rechtsprechung keineswegs schnell. Die Regierungen verfügten weder über die Zeit noch über das Verwaltungspersonal, um allen Einsprüchen nachgehen zu können, die vorgebracht wurden. Es war einfacher, Kompromisse zu schließen, hier sich auf einen Abstrich bei den Geldforderungen einzulassen, dort Exemptionen und Privilegien zu gewähren 77 . Als einzige Alternative bot sich an, die örtliche Verwaltung und die örtliche Rechtsprechung den ortsansässigen Großen zu übertragen, wie es etwa bei den englischen Friedensrichtern der Fall war. Das verhinderte einige (nicht alle) Einsprüche, aber es bedeutete, daß die Maßnahmen der Regierung von Männern 76) Als frühes Beispiel haben wir den Rechtsstreit des französisdienKönigs mit dem Bischof von Mende um die Gerichtshoheit über das G i v a u d a n : R . M i c h e l , L ' administration royale dans la 5εηέΑα\ΐ55έε de Beaucaire, Paris 1910, S. 454 ff.; der Rechtsstreit begann im Jahre 1269: J . R o u c a u t e und M. S a c h έ , Lettres de Philippe le Bei relatives au pays de Glvaudan, Mende 1897, S. VII—XII, 174—195; er wurde im Jahre 1307 durch einen Kompromiß beigelegt, aber der örtliche Adel strengte ein Berufungsverfahren an, und diese Berufung wurde erst im Jahre 1341 zu seinen Ungunsten entschieden. Zum Problem der Verzögerung bei Rechtsstreitigkeiten in späteren Epochen s. B. G u e η έ e , Tribunaux et gens de justice dans le bailliage de Senlis (1380—1550), Paris 1963, S. 221—250. 7 7 ) M. R e y , Le domaine du roi et les finances extraordinaires sous Charles VI, Paris 1965, S. 181—182, 269—275 bringt eine Aufstellung der Steuerbefreiungen, die es in Frankreich am Ende des 14. Jahrhunderts gab.
Mißbraudi der Gerichte
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interpretiert und oft audi modifiziert wurden, die die Regierung nidit in ihrer H a n d hatte. Die Entwicklung der Vertretungskörperschaften liefert ein besonders gutes Beispiel dafür, wie man sich des offiziellen Apparats bediente, um die Handlungsfreiheit der Regierung einzuschränken. Die Idee der politischen Repräsentation ist eine der großen Entdeckungen mittelalterliciier Regierungen; die Griechen und die Römer hatten zwar einige zögernde Schritte in die Richtung unternommen, aber sie hatten das Verfahren niemals gründlich ausprobiert. Dagegen entstanden im mittelalterlichen Europa überall Vertretungskörperschaften: in Italien, Spanien und Südfrankreidi im frühen 13. Jahrhundert, in England, Nordfrankreich und Deutschland überall zwischen 50 und hundert Jahren später. Uber die Ursprünge dieser Körperschaften hat es große Meinungsverschiedenheiten gegeben, aber die meisten Gelehrten würden wohl darin übereinstimmen, daß sie eng mit dem Ausbau des mittelalterlichen Gerichtswesens und der mittelalterlichen Rechtsgelehrsamkeit zusammenhingen 78 . Die Grundsätze, daß wichtige Entscheidungen öffentlich gefällt und daß bestehende Gewohnheiten nicht ohne allgemeine 7 e ) Zu diesem Thema gibt es eine riesige Literatur. Hier sei nur auf einige wichtige Titel hingewiesen: C. H . M c l l w a i n ' s The High Court of Parliament, New Haven 1910 kann als bahnbrechendes Werk bezeichnet werden. Außerdem D. P a s q u e t , An Essay on the Origins of the House of Commons, Cambridge/Engl. 1925, der die politischen Aspekte der frühen Parlamente betont, während H. G. R i c h a r d s o n und G. O. S a y 1 e s mehr die juristische Seite des frühen Parlamentswesens hervorheben; vgl. ihre Aufsätze in: Tran«. Roy. Hist. Soc. 11, 1928 und in: Bull. Inst. Hist. Research 5, 1927/8 und 6, 1928/29. S. audi d i e s . , Parliaments und Great Councils in Medieval England, London 1961. Was die französische Entwicklung betrifft, so ist das alte Werk von Η . Η e r ν i e u , Recherche sur les premiers Etats G i n i raux, Paris 1872 völlig überholt, und C. S o u l e ' s kürzlich erschienenes Buch mit dem Titel Les Etats 6έηέ™υχ de France, Heule 1968 ist zu juristisch angelegt und bringt wenig über die früheren Epochen. Es gibt einige bemerkenswerte Hinweise in den Aufsätzen von C. Η. Τ a y 1 ο r über die frühen französischen Versammlungen, die er in verschiedenen Bänden von Speculum veröffentlicht hat: 11, 1936; 13, 1938; 14, 1939; 29, 1954; 43, 1968; Τ. N . B i s s o n hat in seinem Buch: Assemblies and Representation in Languedoc in the Thirteenth Century, Princeton 1964 eine vorzügliche Darstellung der frühen Versammlungen in Südfrankreich vorgelegt. Für Spanien s. G. Ρ ο s t (wie Anm. 3), S. 70—79; für Italien A. M a r o n g i u , II parlamento in Italia nel medio evo e nell' etä moderna, 2. Aufl., Mailand 1962 und G. Post, S. 80—90. M a r o n g i u s Buch ist von S. J. W ο ο 1 f übersetzt und unter dem Titel »Medieval Parliaments"
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Zustimmung geändert werden sollten, daß ein Herr der Zustimmung der Betroffenen bedurfte, wenn er außergewöhnliche Geldmittel forderte, daß das, „was alle angeht, von allen gutgeheißen werden muß", konnte man in Abhandlungen über das Lehnrecht, über das Gewohnheitsrecht und über das wiederbelebte Römische Recht finden79. N o d i wichtiger war, daß diese Vorstellungen fester Bestandteil der öffentlichen Meinung waren; sie wurden von Männern geteilt, die niemals ein Buch gelesen oder eine Vorlesung über Recht gehört hatten. So mußten alle Regierungen Mittel und Wege finden, wie die politisch aktive Schicht der Vermögenden ihre Zustimmung ausdrücken konnte. Es war schon allgemeiner Braudi, daß einige Männer eine größere Körperschaft vor Gericht vertraten, ζ. B. eine Stadt oder ein Kloster; es schien vernünftig, einige Männer als Repräsentanten ihrer Gruppe anzuerkennen, wenn es darum ging, alte Gewohnheiten zu ändern oder Steuern aufzuerlegen. Diese Vertreter konnte man zu den erweiterten Sitzungen der Hochgerichtshöfe hinzuziehen, um die Begründungen für getroffene Entscheidungen entgegenzunehmen; man konnte sie zu Sondersitzungen auf nationaler oder regionaler Ebene zusammenrufen, wo Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutiert wurden. Zustimmung wurde dabei herausgegeben worden (London 1966). Einen Überblick über die Ständeentwicklung in Deutschland und den deutsdien Territorien bringt Κ. Β ο s 1 (wie Anm. 7), § 254 und F. H ä r t u n g , Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 8. Aufl., Stuttgart 1964, Kap. 5 und 6. Außerdem sei hingewiesen auf O. B r u n n e r , Die Freiheitsredite der altständisdien Gesellschaft, in: d e r s . , Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 187—198. Die Ständeentwicklung verläuft in Deutschland natürlich wieder nicht einheitlich, sondern in jedem der verschiedenen Territorien mit gewissen Eigenmerkmalen, so daß audi zu dieser Frage die landesgeschichtliche Forsdiung herangezogen werden muß; vgl. etwa Κ. Β ο s 1, Stände und Territorialstaat in Bayern im 14. Jahrhundert, in: Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert (wie Anm. 73), S. 343—368, der, vom bayerischen Beispiel ausgehend, stark allgemeine Merkmale herausstellt; vgl. außerdem allgemein das bei Historikern leider viel zu wenig bekannte Buch von Chr. M ü l l e r , Das imperative und das freie Mandat, Leiden 1966, bes. Kap. 3 und 4. 7 9 ) Darüber hat am eingehendsten G. P o s t (wie Anm. 3), Kap. 3 und 4 gehandelt. P o s t schreibe dem Einfluß dieser Gesetze und dem Rechtsformalismus eine überragende Bedeutung zu, verweist aber auch auf diejenigen Kritiker, die seine Position nur eingesdiränkt gelten lassen wollen.
Entwicklung von Vertretungskörperschaften
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eher durch Anwesenheit beim Gericht oder bei einer Sitzung zum Ausdruck gebracht als durch ein förmliches Abstimmungsverfahren; erst einige Generationen später hören wir von eigentlichen Debatten und Abstimmungen. Die Versammlungen befriedigten das Verlangen der Untertanen, gefragt zu werden; sie erleichterten es andererseits den Herrschern, ihre Ziele durchzusetzen. Im ungünstigsten Falle stellten sie ein Forum dar, auf dem die Regierung ihren Standpunkt einer Gruppe einflußreicher Männer darlegen konnte; im günstigsten Falle aber gab eine solche Versammlung ihre Zustimmung, die dann die gesamte besitzende Schicht band. Tatsächlich hat es den Anschein, als ob die Herrscher anfangs weitaus begeisterter die Idee repräsentativer Körperschaften aufnahmen als ihre Untertanen. Solche Versammlungen liehen dem Herrscher fast immer politische oder finanzielle Unterstützung; für die Untertanen aber, die zu einer Ratsversammlung zusammengerufen wurden, war damit immer ein großer Zeitaufwand und meistens die Übernahme neuer finanzieller Bürden verbunden. Gerichtshöfe und Vertretungskörperschaften waren ursprünglich beide Werkzeuge der Regierung. Aber so wie es die Untertanen gelernt hatten, sich der Gerichtshöfe zu bedienen, um die Absichten der Regierung zu vereiteln, so lernten sie, sich dieser Körperschaften zu bedienen. Die Versammlungen, auf denen sich einflußreiche Männer aller Schichten zusammenfanden, boten eine günstige Gelegenheit, um Klagen vorzutragen oder um Ermittlungen und Reformen zu fordern. Die Versammlungen hatten keine Mittel in der Hand, um ihre Forderungen durchzusetzen, aber sie konnten den Regierungsbeamten einige Wochen lang Unbehagen bereiten, und manchmal auch sehr viel länger, wenn es ihnen gelang, den Herrscher zur Einsetzung einer Prüfungs- oder Reformkommission zu bewegen 80 . Nodi wichtiger war, daß die Versammlungen fast niemals so viel Geld bewilligten, wie der Herrscher verlangte. Es 8 0 ) Ε. B. F r y d e , Parliament and the Frendi War, 1336—1340, in: Essays in Medieval History Presented to Bertie Wilkinson, hg. T. A. S a η d q u i s t und Μ. R . Ρ ο w i c k e , Toronto 1969, S. 250—269 legt dar, wie sehr das englische Parlament der Regierung in einer kritischen Situation zusetzen konnte. R. C a ζ e 11 e s , La 5θΰέΐέ politique et la crise de la royautl sous Philippe de
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gab zwar selten eine glatte Absage — schließlich hatte der Herrscher vermutlich einigen Grund für seine Forderungen — aber ebenso selten gab es vorbehaltlose Zustimmung zu den Plänen der Regierung. Gewöhnlich wurde die Art und die Höhe der Steuer dahingehend geändert, daß sie weniger schwer auf den Steuerzahlern lastete — besonders auf den Steuerzahlern der privilegierten Schichten. Eine Versammlung konnte nun zwar durch Argumente und politischen Druck dahin gebracht werden, ihre Bewilligung zu erhöhen, aber selten bis zu einer wirklich zureichenden Höhe. Lange Zeit ließ sich kein geeignetes Mittel finden, um mit dieser Art von Obstruktion fertig zu werden. Man neigte dazu, sich mit Pauschalsummen oder herkömmlichen Zahlungen zufrieden zu geben, um sich die langen fruchtlosen Diskussionen zu ersparen. So mochte ζ. B. eine Versammlung in Frankreich versprechen, statt einer Steuer so und so viele tausend Pfund unter eigener Regie aufzubringen81. In England gab die Regierung 1334 den Versuch auf, das persönliche Vermögen zur Besteuerungsgrundlage zu machen und ließ sich darauf ein, die übliche Höhe einer 10-prozentigen Steuer auf 34000 Pfund festzusetzen82. Solange es in der Macht dieser Versammlungen stand, die Steuereinnahmen niedrig zu halten (und in Valois, Paris 1958, S. 224—225, 427—428; die Stände von 1347 erzwangen vorübergehend einige Reformen von der Regierung. J. B. H e n n e m a n , The Black Death and Royal Taxation in France, 1347—1351, in: Speculum 43, 1968, S. 407—412 hat dargelegt, wie sich die regionalen Vertretungskörperschaften im Jahre 1348 das Recht erkämpften, die Steuerbeamten zu ernennen, Ord. III, S. 19; diese Praxis breitete sich 1355 im gesamten Königreich aus, bis es dem König gelang, die Kontrolle über die Steuereintreiber zurückzugewinnen. In England finden sich mehrere Beispiele dafür, daß das Parlament die Einsetzung von besonderen Kontrollkommissionen verlangte um sicherzustellen, daß die Steuern nur für den bewilligten Zweck ausgegeben wurden; vgl. ζ. B. Rot. Pari. III, S. 7 (1377), S. 35—36 (1378), S. 523 ff. (1404). 81 ) J. Β. Η e η η e m a η , Financing the Hundred Years' War, in: Speculum 42, 1967, S. 280—292, bringt einige schöne Beispiele für das Jahr 1340. Für Beispiele aus den späteren Jahren vgl. seinen in Anm. 80 zitierten Aufsatz, S. 420—424, und Kap. IX seines Buches Royal Taxation in Fourteenth Century France, Princeton 1971. 8 2 ) J. F. W i l l a r d , Parliamentary Taxes on Personal Property, Cambridge/ Mass. 1934, S. 11—13, 344—345. Man beachte seine Bemerkungen über die durch Gewohnheit festgelegten Steuereinschätzungen, S. 138—144. Die offizielle Besteuerungsquote war 1 0 % auf persönliches Vermögen in den Städten und 6 / 3 ° / O auf dem Land. 2
Offenbarwerdung allgemeiner Strukturschwächen
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einigen Gegenden erhielten sie sich diese Macht bis ins 16. Jahrhundert oder sogar noch länger), war die weitere Entwicklung der europäischen Staaten beeinträchtigt. Wenn andererseits, wie es in Frankreich der Fall war, die Versammlungen diese Macht verloren, so ging damit gleichzeitig ein Gutteil guten Willens und Kooperationsbereitschaft dahin. Die Regierungsbeamten und Steuerpächter mochten zwar die Bauern pressen, den privilegierten Schichten (einschließlich des Bürgertums) gelang es aber auf legalem oder illegalem Wege, sich einem bedeutenden Teil ihres angemessenen Anteils an der Steuerlast zu entziehen. Diese ungleiche Verteilung der Steuerlast verringerte natürlich das Einkommen des Staates und bewirkte vermutlich eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs. Schließlich wurden bestimmte Strukturschwächen der Regierungen, so wie sie sich im 12. und 13. Jahrhundert ausgebildet hatten, im 14. Jahrhundert offensichtlich. Wir haben gesehen, daß der Bereich, in dem die ersten berufsmäßigen oder halbberufsmäßigen Regierungsbeamten eingesetzt wurden, der des Eintreibens und Abrechnens der Domäneneinkünfte war. Daneben hatten sie noch andere Pflichten: Rechtsprechung, Friedenswahrung, örtliche Verteidigung; aber diese Pflichten wurden als ein Teil der Aufgabe gesehen, das Einkommen des Herrschers zu sichern und nach Möglichkeit zu vermehren. So bestanden die frühen Verwaltungsapparate in England und in Frankreich aus Gutsverwaltern und die Verwaltungen wurden auch dann noch von Gutsverwalter-Ansichten beherrscht, als schon längst neue und spezialisiertere Ämter geschaffen worden waren. Die Gutsverwalter-Mentalität spielte eine wesentliche Rolle in den Anfängen der Staatenbildung. Nur ein Herrscher mit regelmäßigen und ausreichenden Einkünften konnte daran gehen, die Herrschaftsbefugnisse über seine Vasallen auszubauen und zu intensivieren und vage Oberherrenrechte in Souveränitätsrechte zu verwandeln. Aber die Gutsverwaltermentalität zeigte auch gefährliche Beschränkungen. Sie liebt die Routine und die Stabilität und ist jeder Ungewißheit und jedem unbestimmten Wechsel abgeneigt. Für einen Gutsverwalter liegt dann ein Idealzustand vor, wenn ihm über alle Einkünfte feste Aufstellungen vorliegen, nach denen er dann jährlich die gleidien Summen einziehen kann. Hatte
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man sich einmal der Mühe unterzogen, eine Liste oder Listen der Einkünfte aufzustellen, dann suchte man es tunlichst zu vermeiden, die gleiche Arbeit noch einmal auf sich zu nehmen. Die gleichen alten Listen wurden Jahr für Jahr zugrundegelegt, obgleich sie mit jedem Jahr weniger den wirklichen Gegebenheiten entsprachen. Natürlich brachte man Verbesserungen an, aber man ließ von der Grundvorstellung nicht ab, daß es eine feste Summe von Rechten und Einkünften gab, die nur innerhalb eng gezogener Grenzen Schwankungen unterworfen war. Diese Einstellung war so lange ziemlich harmlos, als die Rechte und Einkünfte vor allen Dingen von den königlichen Domänen kamen. Land, ein Lokalgerichtshof, ein städtischer Markt: das verschwand nicht einfach, selbst wenn die Beamten sich auf Listen stützten, die mehr als ein Jahrhundert alt waren. Zu dieser Zeit stiegen die Preise nur ganz langsam, und so bedeutete ein auf der Basis von uralten Einschätzungen berechnetes festes Einkommen keine Katastrophe; es war jedenfalls immer noch einem Absinken der Einkünfte vorzuziehen, was unweigerlich eingetreten wäre, wenn die Gutsverwalter ihre Arbeit nicht gewissenhaft getan hätten. Die Situation änderte sich aber grundlegend, als die Herrscher von den Steuern abhängig zu werden begannen. Jetzt wäre immer dann, wenn eine neue Steuer ausgeschrieben wurde, eine Neueinschätzung des Volksvermögens nötig gewesen (Herdstellen, Landbesitz, Einkommen usw.). Man mußte mit großen Schwankungen in der Berechnungsgrundlage und im Ertrag rechnen, besonders dann, wenn verschiedene Arten der Besteuerung ausprobiert wurden. Der alte Verwaltungsapparat vermochte sich diesen neuen Anforderungen nicht anzupassen. Zugegebenermaßen gab es viel zu wenige Beamte, und diese mußten noch, wie wir gesehen haben, mit der Opposition in den Versammlungen und mit der Steuerhinterziehung der Privilegierten fertig werden. Und doch bleibt festzustellen, daß man sich nach einem vielversprechenden Ansatz, genaue und regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachte Steuerlisten aufzustellen, sehr schnell mit herkömmlichen Einschätzungen und Pauschalsummen zufriedengab. Diese Tendenz läßt sich besonders in den großen Königreichen beobachten. Kleinere politische Einheiten, so wie ζ. B. die italienischen Stadt-Staaten, kamen dem Ziel genauer
Die Gutsverwalter-Mentalität
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Vermögenseinschätzungen ziemlich nahe, sogar in den unruhigsten Zeiten des 14. Jahrhunderts 83 . Aber um die Mitte dieses Jahrhunderts standen die zu Besteuerungszwecken verfertigten Listen der Herdstellen in Frankreich oder des persönlichen Vermögens in England in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit84. Bei den Verwaltungsapparaten des 14. Jahrhunderts zeigte sich ein weiteres Problem: jede Abteilung neigte dazu, sich in eine halbautonome, selbst-fortzeugende, gildenähnliche Korporation zu verwandeln. Die formalisierten Verfahrensweisen erstarrten in zunehmendem Maße; bei Neueinstellungen kamen fast nur Verwandte, Sekretäre und Schützlinge bereits bestallter Beamter zum Zuge; die meisten höheren Beamten hatten eine lange Lehrzeit auf einem untergeordneten Posten hinter sich gebracht, wo sie die Traditionen ihrer Abteilung in sich aufgesogen hatten. Natürlich kam es nie zur vollkommenen Autonomie und auch Traditionen konnten durchbrochen werden. Der Herrscher und seine Hauptberater konnten widitige Ämter an Männer vergeben, die wenig oder keine Verbindung zu der Behörde hatten, der sie vorstehen sollten. Und selbst dann, wenn der Chef einer großen Behörde in dieser selbst von unten aufgestiegen war, so verdankte er seine Position doch der persönlichen Wahl des Herrschers und war daher natürlich auch dessen Wünschen willfährig. In Zeiten der Not konnte der Herrscher normale Amtsvorgänge beschleunigen oder sie ganz außer Kraft setzen. Aber nur selten griffen der König und seine Berater sehr energisch in den Aufbau des Beamtenapparats ein und selten nachhaltig genug, um wesentliche Veränderungen herbeizuführen. Die mittlere Schicht der
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) W . B o w s k y hat die gründlichste Studie über die Finanzen eines italienischen Stadt-Staates vorgelegt: The Finance of the Commune of Siena, 1287— 1355, Oxford 1970. Er hat einige seiner Ergebnisse gesondert in einem Aufsatz publiziert: The Constitution and Administration of a Tuscan Republic . . . : the „maggior Sindaco" in Siena, in: Studi Senesi 80, 1968, S. 7—22. M ) B o r r e l l i d e S e r r e s , Recherdies sur divers services publics, Paris 1909, Bd. Ill, Abschn. 5 und bes. S. 406—433. A. H i g o u n e t - N a d a l , Les Comptes de la taille et les sources de Γ histoire demographique de Perigueux au XlVe si^cle, Paris 1965, S. 66—71 hat herausgefunden, daß in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts das „feu fiscal" noch in etwa dem „feu reel" entsprach, daß aber diese Übereinstimmung schnell schwand. Vgl. für die englischen Steuereinschätzungen die Anm. 82.
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Beamten blieb ihren alten Traditionen verhaftet oder kehrte zu ihnen zurück, sobald der Druck von oben nachließ. Der überwiegende Teil der normalen Finanz- und Justizgeschäfte mußte, wenn er überhaupt bewältigt werden sollte, nach den festen Verfahrensweisen der einzelnen Abteilungen abgewickelt werden. Daß es dabei zu bürokratischen Trägheitserscheinungen kam, ist nicht weiter verwunderlich; sie sind auch zu anderen Zeiten und an vielen anderen Orten vorgekommen. Verwunderlich dagegen ist, wie sehr die Verwaltungsapparate des 14. und 15. Jahrhunderts davon betroffen waren: die alteingefahrenen Abteilungen hatten erstaunlichen Erfolg, wenn es darum ging, veraltete und unbrauchbare Verfahrensweisen fortzuschleppen. Damit soll nicht gesagt werden, daß überhaupt keine Reformen oder Neuerungen durchgeführt wurden. Es gab durchaus Männer, die sich der Schwächen ihrer Behörden bewußt waren, Männer wie ζ. B. Bischof Stapledon, der die Organisation des englischen Exchequer in den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts bedeutend verbesserte85. Die Verordnungen über das „Parlement" von Paris aus dem 14. Jahrhundert sind ein Beispiel für den Versuch, Verfahrensweisen genauer festzulegen und weiterzuentwickeln86. In Frankreich neigte man dazu, neue Regierungsbehörden zu schaffen, und Behörden in den Provinzen nach dem Muster der alten Zentralbehörden neu einzurichten. So wurde am Ende des 14. Jahrhunderts eine Chambre (oder Cour) des Aides gegründet, die für die Einkünfte aus den Steuern zuständig war, während die ältere Chambre des Comptes für die Einkünfte aus den Domänen verantwortlich blieb87. Im 15. Jahrhundert wurden für das Languedoc ein eigenes Parlement (d. h. Hochgerichtshof) und eine eigene Chambre des Comptes eingerichtet88, so wie später auch für andere Regionen. Diese Maß8S ) T. F. Τ ο u t , Chapters in the Administrative History of Mediaeval England, Mandiester 1937, II, S. 211—221, 258—267. M ) Ord., I, S. 647, 702, 718; II, S. 219—224; III, S. 653; IV, S. 512; VII, S. 224; XIII, S. 479; und viele andere. 87)G. D u p o n t - F e r r i e r , Les origines et le premier siicle de la chambre ou cour des aides de Paris, Paris 1933; M. R e y , Les finances royales sous Charles VI, Paris 1965, S. 543—559. H. G i 11 e s, Les Etats de Languedoc au XVe siecle, Toulouse 1965, S. 250—263.
Einige zögernde Verwaltungsreformen
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nahmen brachten nicht nur eine Zeitersparnis, was das Reisen betraf, sondern entlasteten auch die Zentrale und schmeichelten dem Stolz der Provinzen. Es gelang allerdings nicht, dadurch die Mentalität der Bürokratie zu ändern. Die Richter in den neuen Parlements machten sich schnell die Traditionen und den Korporationsgeist des ursprünglichen Parlement von Paris zu eigen. Die neuen Finanzbehörden waren in keiner Weise erfolgreicher als die alten bei der Aufstellung genauer Vermögens- und Einkommenslisten; audi ihnen gelang es nicht, einen auch nur einigermaßen angemessenen Prozentsatz der fälligen Summen für den Fiskus einzutreiben. Tatsächlich hatten die Franzosen ihren Verwaltungsapparat so sehr aufgebläht, daß das Regieren schwieriger geworden war; um aber direkt im Volk tätig zu sein, dazu war er nicht groß genug. Viele Steuern wurden von Steuerpächtern eingezogen, und manche, wie die gabeile (Salzsteuer) von Kaufleuten; solche Leute bedrückten das Volk, ohne die Einkünfte des Königs zu vermehren 89 . In England beschritt man einen anderen Weg. Es wurden nur wenige neue Behörden geschaffen und der Verwaltungsapparat nur geringfügig erweitert. Dafür wurden den örtlichen ehrenamtlichen Honoratioren mehr Dienste abverlangt, besonders durch die Einrichtung der ehrenamtlichen Stellung des Friedensrichters (Justice of the Peace). Am Ende des 14. Jahrhunderts waren diese Richter, Landedelleute und Angehörige der städtischen Oberschicht, verantwortlich für die Durchsetzung der Gesetze und Verordnungen auf lokaler Ebene, für die Gefangennahme von Gesetzesbrechern und für die Urteilsfindung in Bagatellsachen. Die örtlichen Notabein zogen auch die Steuern ein. So konnte der englische Verwaltungsapparat relativ klein und einfach bleiben. Auch er war nicht sehr leistungsfähig, aber seine mangelnde Leistungsfähigkeit verursachte wenigstens weniger Kosten als die der meisten anderen Staaten. Und wenn der König und die besitzenden Schichten über ihre Ziele Einigkeit erreichten, konnte das englische System dank der Unterstützung der örtlichen Notabein weitaus leistungsfähiger als das anderer Länder in der Aktivierung menschlicher und finanzieller Mittel sein. Aber weder die Franzosen, die ihren Verwaltungsappa89
) M. R e y , (wie Anm. 77), S. 178—179, 233—244 (die Verpachtung der Umsatzsteuer), S. 184—185 (Salz), S. 195—198.
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rat ausbauten, noch die Engländer, die ihren ehrenamtlichen örtlichen Honoratioren mehr Arbeit abverlangten, lösten die Grundprobleme mittelalterlichen Regierens. Diese Grundprobleme lassen sich unter zwei Hauptpunkte zusammenfassen: erstens war die unvermeidliche Kluft zwischen den Politikern und der Bürokratie gefährlich breit geworden; zum anderen: aufgrund dieser Kluft und teilweise auch aus anderen Gründen entwickelten weder die Politiker noch die Bürokratie große Fähigkeiten bei der Meisterung der immer wiederkehrenden Krisen des 14. und 15. Jahrhunderts. Bis um 1300 war die Kluft zwischen den Politikern und der Bürokratie nicht gravierend gewesen, aber im 14. Jahrhundert vergrößerte sich der Abstand durch die Fehler beider Seiten. Die Politik wurde vom König mit seinem Rat gemacht, einer Körperschaft, die sich aus den Mitgliedern der königlichen Familie, königlichen Günstlingen, den Häuptern der baronalen Fraktionen und den Spitzen der Hof- und Regierungsbehörden zusammensetzte. Die Prinzen und die Magnaten nahmen nur selten teil; oft bestand der Rat nur aus den Hof- und Staatsbeamten. Ein so zusammengesetzter Rat konnte sich mit Routineangelegenheiten der inneren Verwaltung befassen oder konnte politische Maßnahmen in die Wege leiten, über die schon Einigkeit erzielt worden war, ζ. B. die Musterung oder Versorgung von Truppen. Aber wenn große und kostspielige Fragen wie Krieg und Frieden, Waffenstillstände und Bündnisse anstanden, mußten die Prinzen und die Anführer der Barone gehört werden. Diese Männer waren meist schlecht unterrichtet, unterzogen sich aber auch keiner besonderen Mühe, um ihre Informationslücken zu schließen. Aber selbst wenn sie sich mit Eifer daran gemacht hätten, ihrem Unwissen abzuhelfen, so wäre das für sie schwer gewesen. Wir haben gesehen, daß die Berufsbeamten mit ihrer immer starreren Amtsroutine gar nicht in der Lage gewesen wären, Informationen über die Verhältnisse im Innern bereitzustellen, die auf dem neuesten Stand waren. Niemand war dafür zuständig, Informationen über fremde Länder zu sammeln, weder die Berufsbeamten, noch die adligen Mitglieder des Rates. Große politische Entscheidungen wurden also auf der Grundlage eines sehr begrenzten Wissens getroffen; persönlicher Ehrgeiz oder Beschwerden der Großen spielten nur allzu oft hinein. So mochte ein Kriegszug geplant werden, nur um einem
Gefährliche Kluft zwischen Politikern und Bürokratie
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Mitglied der königlichen Familie die Möglichkeit zu geben, sich als Heerführer auszuzeichnen und an Beute und Lösegeldern zu bereichern. Eine Steuer, die zur Finanzierung eines Kriegszuges ausgeschrieben worden war, mochte für Geschenke, für Pensionen und als unangemessen hohe Zahlungen für gänzlich unzulänglichen militärischen Dienst verschleudert werden. Diese Verantwortungslosigkeit der Politiker erreichte immer dann ihren Höhepunkt, wenn der König schwach oder unfähig war, wie ζ. B. z. Zt. Karls VI. von Frankreich oder Heinrichs VI. von England. Aber selbst starke und fähige Könige, die sich mit den bestmöglichen Räten umgaben, hatten Mühe, vernünftige und kontinuierliche Richtlinien der Politik zu entwickeln. Sie neigten dazu, ihre finanziellen und militärischen Mittel zu überschätzen und die Notwendigkeit innerer Reformen zu unterschätzen 891 . Wir haben oben schon die These vertreten, daß die Berufsbeamten wenige Möglichkeiten hatten, die politischen Entscheidungen zu beeinflussen, teils, weil ihnen die Informationen fehlten, um die Entscheidungen der großen Männer zu lenken, und teils, weil sie sich vom Bereidi der Politik durch die Ausbildung starker korporativer Traditionen und Strukturen abgesondert hatten. Sogar die Behördenvorsteher, die selbst mit im Rat saßen, befragte man eher zu den Mitteln und Wegen, die die Ausführung einer politischen Entscheidung möglich machen sollten, als zu den politischen Fragen selbst. Freilich, hätte man den Mitteln und Wegen sorgfältige Aufmerksamkeit geschenkt, so hätte man von daher den Aufbau der Regierungen verändern, ihre Einkünfte verbessern und dadurch zu einem Wechsel der Politik überhaupt kommen können. Aber auch die noch so sorgfältig ausgearbeiteten Verwaltungsreformpläne, wie die Walton Ordinances von 1338 90 in England oder die Verordnungen der 89 a) Das problematische Verhältnis von Politikern und Verwaltungsleuten wird von S. B. C h r i m e s , An Introduction to the Administrative History of Medieval England, Kap. 4, überarbeitete Aufl., Oxford 1958 behandelt. Es ist auffallend, daß nicht einmal in Italien die Berufsbeamten einen größeren Einfluß auf die Politik hatten, vgl. L. M a r t i n e s , Lawyers and Statecraft in Renaissance Florence, Princeton 1968: in der Zeit von 1380—1530 waren viele wichtige Verwaltungsposten mit Juristen besetzt, die aber keinen bestimmenden Einfluß auf die Politik ausübten. 9°) T o u t (wie Anm. 85), III, S. 69—79.
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Marmousets in Frankreich aus dem Jahre 1389 91 , sind niemals ganz in die Tat umgesetzt worden. Die Prinzen und Magnaten mißtrauten Reformplänen, weil sie fürchteten, daß ihre Macht und ihr Einkommen vermindert werden könnten; die durch den Krieg angespannte Finanzlage durchkreuzte Bemühungen, Unehrlichkeit und Unfähigkeit abzubauen. Die 50 000 Pfund, die zur Zeit einer Krise benötigt wurden, wurden höher geschätzt als die 100 000 Pfund, die durch Reformmaßnahmen zwei Jahre später hätten eingenommen werden können. Kurz gesagt: die Politiker setzten mit ihren unsteten und kurzsichtigen Beschlüssen die schlecht informierte und organisierte Bürokratie einer zusätzlichen Belastung aus. Die Bürokratie mußte kurzfristig Maßnahme um Maßnahme einleiten, um plötzlichen Forderungen nach Geld und Taten nachzukommen; nur selten gab man ihr genug Zeit, um längerfristige Pläne auszuarbeiten. Wenn wir uns all das vor Augen halten, so müssen wir feststellen, daß im Spätmittelalter sowohl die Berufsbeamten als audi alle anderen Regierungsmitglieder in den größeren europäischen Staaten eine erstaunliche Einfallslosigkeit an den Tag legten. In der ersten Periode der Errichtung von Staaten — also etwa vom 11. bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts — hatten die Herrscher und ihre Ratgeber großen Einfallsreichtum bei der Schaffung neuer Institutionen und Regierungstechniken bewiesen. Die Männer, die in diesen neuen Institutionen arbeiteten — man kann sie vor dem 13. Jahrhundert noch kaum Berufsbeamte nennen — hatten den gleichen Einfallsreichtum bei der Ausdehnung der Zuständigkeitsbereiche und bei der Ausarbeitung der Verfahrensweisen ihrer Behörden entwikkelt. Aber im 14. Jahrhundert scheinen die Regierungen — mit Ausnahme einiger italienischer Stadt-Staaten — weit weniger willens gewesen zu sein, neue Verantwortungsbereiche zu übernehmen und neue Verwaltungsorgane zu entwickeln. Die einzigen wirklich durchorganisierten und auf Beständigkeit angelegten Behörden waren die Kanzleien, die Gerichtshöfe und die Behörde oder die Behörden, die 91) R e y (wie Anm. 77), S. 71—72, 100, 103—104, 135—136, 175—176, 282—283. Das Leben einer der Köpfe der Reformbewegung ist von Η. Μ ο r a η ν i 11 έ beschrieben worden: Etude sur la vie de Jean le Mercier, Paris 1888, in: Memoires presentis par divers savants ä 1' Acadimie des inscriptions et belleslettres, 2e s., Bd. 6.
Unzureichende Methoden der Wirtschaftssteuerung
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für die Einkünfte und Ausgaben des Herrschers zuständig waren. Nur in den Bereichen der Finanzverwaltung, der Rechtsprechung und der Aufbewahrung der amtlichen Dokumente gab es Berufsbeamte. Einige, aber keineswegs alle, die in den örtlichen Verwaltungen arbeiteten, kann man ebenfalls dieser Gruppe zurechnen; aber hier ist es schwierig, eine Trennungslinie zwischen dem erfahrenen Amateur zu ziehen, der doch immer seinem Distrikt und seiner Stadt verhaftet blieb, und demjenigen, der über seine ehrenamtliche Stellung schließlich eine Position in der Zentralregierung zu erlangen hoffte. Aber wie immer wir die einzelnen Regierungsbehörden oder die Berufsbeamtenschaft definieren mögen, eins kann nicht bezweifelt werden: viele Funktionen eines modernen Staates wurden entweder überhaupt nicht oder nur sehr schlecht ausgeübt. Wir erwarten von einer mittelalterlichen Regierung ja gar nicht, daß sie sich mit Problemen der Gesundheitsfürsorge oder der Erziehung befaßt hätte. Aber man hätte in diesen Zeiten wirtschaftlicher Unbeständigkeit, innerer Unsicherheit und eines fast ununterbrochenen Kriegszustandes damit rechnen können, daß es zur Ausbildung besonderer Behörden zur Wirtschaftslenkung, zur Verbrechens- und Aufruhrbekämpfung, zur Organisation des Militärs und für die zwischenstaatlichen Beziehungen gekommen wäre. Nur in Italien entwickelten sich solche Behörden, und sogar dort blieben sie rudimentär. Geldmangel und die starke Tradition lokaler Selbsthilfe vermögen einige dieser Mängel zu erklären. Es sollte noch lange dauern, bis sich irgend ein Staat ausreichende Polizeikräfte leisten konnte. Bis es so weit war, hatten die Städte ihre Wachmänner und die Grafschafts- und Provinzverwaltungen ihre sergeants (um den französischen Ausdruck zu gebrauchen), eine Handvoll Leute, die für vielerlei Zwecke eingesetzt wurden, vom Gerichtsdienst bis zu kleinen militärischen Operationen. Das interne Wirtschaftsgebahren wurde fast ausschließlich auf lokaler Ebene überwacht — auf dem Lande von den Grundbesitzern, in den städtischen Gebieten von den Stadtregierungen und den Zünften. Es gab einige unbeholfene Versuche, auf den Fernhandel aus politischen und wirtschaftlichen Gründen lenkend einzuwirken. Das Verbot der Ausfuhr von Edelmetallen, Nahrungsmitteln, Pferden oder Waffen in feindliche Staa-
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Die Zeit der großen Krisen
ten war hier die am weitesten verbreitete Maßnahme92. Die englische Regierung war ein bißchen einfallsreicher. Da englische Wolle auf dem Kontinent sehr gefragt war, konnte England Wolle mit einer hohen Exportsteuer belegen. England konnte auch Feinde dadurch bestrafen und Freunde belohnen, daß es den Wollexport in feindliche oder potentiell feindliche Länder untersagte93. Schließlich setzte England seine Exportsteuer dazu ein, die Ausfuhr von verarbeitetem Tudi gegenüber Rohwolle zu begünstigen und unterstützte auf diese Weise den Aufbau einer heimisdien Wollindustrie94. Auch Kastilien bietet uns ein Beispiel für das Eingreifen des Staates zugunsten der heimischen Produktion: den Sdiafzüchtern wurden ausgedehnte Weiderechte verbrieft, wenn sie ihre Herden von den Sommer- in die Winterquartiere führten95. Trotzdem ergaben diese Ansätze, auf den Außenhandel Einfluß zu nehmen, wenig an administrativer Neuorganisation. Nicht einmal England, das mehr als andere Länder von den Exportsteuern abhing, verfügte über eine gut funktionierende zentrale Zollbehörde. Die Zölle wurden zunächst oft an ausländische oder einheimische Bankiers verpfändet, oder vielmehr verpachtet96. Aber sdion zu 92 ) Die Franzosen verfügten erstmals in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts solche Embargos, vgl. Ord. XI, S. 353; I, S. 324, 351, 422, 505. Die Engländer benutzten Embargos als ökonomische Waffe unter Heinridi II. König Johann untersagte endgültig den Export von Waffen; vgl. Rot. lit. pat., S. 42—43. Vgl. zu diesen Fragen J. R. S t r a y e r , Notes on the Origin of English and French Export Taxes, in: Studia Gratiana 15,1972, S. 399—421. 93 ) N. S. B. G r a s , The Early English Customs System, Cambridge, Mass. 1918, S. 63; J. d e S t u r l e r , Les relations politiques et les έ