Offene Wirklichkeit: Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty 9783495860236, 9783495484654


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Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
1. Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch, der ortlose Blick
2. Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer offenen Wirklichkeit
3. Zum Gang der Argumentation
I. Hinführung
2. Der Aufbruch in das naturwissenschaftliche Zeitalter: der dualistische Ansatz von René Descartes
1. Galilei Galileo und Francis Bacon
2. René Descartes: Philosophie als Methode
3. Der Weg des Zweifels
4. Der Substanzdualismus
5. Die Radikalität des Ansatzes
6. Die innovativen Aspekte des dualistischen Ansatzes bei Descartes
7. Bleibende Probleme des Dualismus
3. Unsere Wirklichkeit als Leonardo-Welt: der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett
1. Unsere Welt als Leonardo-Welt
2. Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung
3. Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bewusstsein
4. Grundannahmen von Daniel Dennett
5. Die heterophänomenologische Methode
6. Ein funktionalistisches Modell des Bewusstseins
7. Intuitionen und Gegenintuitionen
8. Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen
A. Zum Status von Sprache und Intentionalität
B. Die Wirklichkeit als geschlossene Welt
C. Der Mensch als eingekapseltes Wesen
D. Dennett als Denker der Leonardo-Welt
II. Die Bedingungen des phänomenologischen Realismus
4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty
1. Rückblick auf Descartes und Dennett: Ortloses Erkennen
2. Charakteristika der phänomenologischen Methode
3. Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt
A. Die Struktur – Was ist Handeln?
B. Die Gestalt – Was ist Wahrnehmen?
C. Was zeigt sich, wenn sich beide Hände berühren?
D. Gibt es einen Weg zwischen Rationalismus und Empirismus?
E. Die Zeichen – Was ist Sprechen?
F. Späte Begriffe zur Bestimmung der Wirklichkeit: Wahrnehmungsglaube, Fleisch, wildes Sein
4. Was ist der Leib?
5. Resümee: Der Leib als Schüssel zum Verständnis der Wirklichkeit
6. Das Verhältnis zu Descartes
5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen
1. Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen Realismus«
2. Die Phänomene des Leibes
3. Die Erscheinungsweisen des Leibes
4. Der Chiasmus als regulatives Schema
A. Rückblick auf den dualistischen Ansatz von Descartes
B. Das Verhältnis zwischen dem Chiasmus zu den Erscheinungsweisen
C. Der Chiasmus als Ordnungsschema der Erscheinungsweisen
D. Interpretation der wichtigsten Eigenschaften des Chiasmus
I. Die Größen Bewusstsein* und Körper*
II. Eigenschaften der Erscheinungsweisen im Chiasmus
III. Subjekt und Objekt im Verhältnis zum Chiasmus
IV. Zur Interpretation des Chiasmus im Ganzen
5. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus
6. Der Leib als Einheit
7. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)
A. Zum Ertrag des Chiasmus als Schema
B. Zur Philosophie der Gefühle
C. Der Ansatz von Hermann Schmitz
D. Der Dualismus als ein Reduktionismus
8. Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältnis zu Descartes
6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit
1. Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit
A. Die Suche nach einem archimedischen Punkt
B. Der Leib als partikulares Problem – Emergenztheorien
C. Schopenhauers Schluss vom Leib auf die Wirklichkeit
2. Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit
A. Die Erscheinungsweisen in der Wirklichkeit
I. Wirklichkeit ist unanschaulich
II. Der Umfang der Erscheinungsweisen
III. Gibt es weitere, neue Erscheinungsweisen der Wirklichkeit?
IV. Begegnungen in der Wirklichkeit: der Andere, Gott
B. Der Leib in der Erscheinungsweise als Körper und seine Umgebung
C. Die Wirklichkeit im Schema des Chiasmus dargestellt
D. Ist der phänomenologische Realismus ein verdeckter Anthropozentrismus?
3. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus
A. 1.-Person-Perspektive und 3.-Person-Perspektive
B. Zur sprachlichen Form der Erscheinungsweisen
4. Die Wirklichkeit als Einheit
5. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)
A. Der Schatten eines Baumes
B. Atmosphäre und Raumkonzept
C. Atmosphäre und Gefühl
D. Anmerkungen zur Qualia Diskussion
6. Bemerkungen zu Raum und Zeit
7. Die soziale Dimension der Wirklichkeit. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead
1. Der sozialphilosophische Ansatz von George Herbert Mead
A. Mead deutet die soziale Welt von »innen« her
I. Akzeptanz der parallelistischen Erfahrungen
II. Der Ausgangspunkt beim Behaviorismus
III. Der neue Ansatz: Sozialbehaviorismus
B. Die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gedanke und als Ding
2. Die Medien Wahrnehmen Sprechen und Handeln
A. Wahrnehmen, Sprechen und Handeln bei Mead und Merleau-Ponty
B. Verortung der Medien im Chiasmus
I. Die Medien sind nicht nur Teil der Erscheinungsweisen
II. Die Medien als Vermittlung von Bewusstsein* und Ding*
III. Unterschiedliche Grade der Vermittlung in den Erscheinungsweisen
C. Genauere Charakterisierung der Medien
I. Einheit der Medien
II. Unterschiede zwischen den Medien
III. Intentionalität
3. Erfahrungen von Sinn
4. Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen
A. Die biographische Entwicklung
B. Die kulturelle Entwicklung
5. Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus
III. Vertiefungen
8. Die Frage nach der Wahrheit: die Theorie des Internal Realism von Hilary Putnam
1. Das Konzept des Internal Realism
2. Charakteristika der Wirklichkeit im Internal Realism
3. Zur Wahrheitsfrage
A. Gegen einen Relativismus
B. Das Wahrheitskriterium der Bewährung
C. Das Wahrheitskriterium der Kohärenz
D. Wahrheit als Wahrhaftigkeit
E. Die Suche nach der einen Wahrheit
9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt
1. Lebenswelt in der Leondardo-Welt
2. Charakteristika der Lebenswelt
3. Einige bekannte, alltägliche Begriffe
10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit
1. Wissenschaftliches Erkennen führt zur Abstraktion
2. Der wissenschaftliche Fortschritt
3. Das Verhältnis von Theorie und Empirie
4. Transdiziplinarität
5. Wissenschaften unter den Bedingungen der Leonoardo-Welt
11. Wissenschaft und Kultur
1. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt
A. Die Bedeutung der Lebenswelt für die Wissenschaft
B. Lebenswelt als Apriori
2. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kultur
3. »Ordnung der Wirklichkeit«. Der Ansatz von Werner Heisenberg
A. Grundannahmen Heisenbergs
B. Die Kopenhagener Deutung
C. Die Wirklichkeit zwischen Subjekt und Objekt
D. Anmerkungen zu einzelnen Wissenschaften
E. Wissenschaft und Kultur
12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit – Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit
Literatur
Personenregister
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Offene Wirklichkeit: Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty
 9783495860236, 9783495484654

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https://doi.org/10.5771/9783495860236 .

Frank Vogelsang Offene Wirklichkeit

FERMENTA PHILOSOPHICA

A

https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Zu diesem Buch: Die Untersuchung zeigt die grundsätzliche Offenheit der Wirklichkeit, die man zwar erfolgreich naturwissenschaftlich erforschen, die man aber nicht in einer geschlossenen und vollständigen Darstellung abbilden kann. Sie knüpft an die phänomenologischen Arbeiten von MerleauPonty an, der eine Beschreibung der Wirklichkeit jenseits eines SubjektObjekt-Dualismus anstrebte. Aufgrund ihrer leiblichen Existenz können Menschen sich von der Wirklichkeit distanzieren, aber nicht vollständig aus ihr lösen. Weder monistische noch dualistische Ansätze können deshalb überzeugen. Einerseits werden die objektivierend arbeitenden Naturwissenschaften bestätigt, andererseits werden zugleich jene irreduziblen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit freigelegt, die etwa in bestimmten Sinnerfahrungen, Emotionen und Intuitionen einen Ausdruck finden. Ein Schema, das sich aus der Metapher des Chiasmus ableitet, ist Grundlage für die Entwicklung eines phänomenologischen Realismus. Aus dieser Analyse der Wirklichkeit folgt die Forderung nach einer Kultur, die die lebensweltlichen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine fruchtbare Beziehung setzt. Dem gemäß ist eine offene Erkenntnishaltung, die die Anstrengungen des Verstehens mit einer Achtsamkeit auf die unverstandenen und unverstehbaren Anteile der Wirklichkeit verbindet.

Der Autor: Dr. Frank Vogelsang, Diplom-Ingenieur und ev. Theologe, ist Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland. Er hat sich in Veröffentlichungen mit unterschiedlichen Aspekten des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaften beschäftigt.

https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Frank Vogelsang

Offene Wirklichkeit Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Originalausgabe 2., verbesserte Auflage 2012 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48465-4

(Print)

ISBN 978-3-495-86023-6 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Meinen Eltern

»Il y a sens.« Maurice Merleau-Ponty

»If one must use metaphorical language, then let the metaphor be this: the mind and the world make jointly up the mind and the world.« Hilary Putnam

»Our knowledge can only be finite, while our ignorance must necessarily be infinite.« Karl R. Popper

https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1. 2. 3.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch, der ortlose Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer offenen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Gang der Argumentation . . . . . . . . . . .

I. Hinführung

. . . .

17

. . . .

18

. . . . . . . .

23 27

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2.

Der Aufbruch in das naturwissenschaftliche Zeitalter: der dualistische Ansatz von René Descartes . . . . . . .

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Galileo Galilei und Francis Bacon . . . . . . . . . René Descartes: Philosophie als Methode . . . . . Der Weg des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . Der Substanzdualismus . . . . . . . . . . . . . . Die Radikalität des Ansatzes . . . . . . . . . . . . Die innovativen Aspekte des dualistischen Ansatzes bei Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bleibende Probleme des Dualismus . . . . . . . .

7.

13

. . . . .

35 37 42 45 49 52

. . . . . . . .

54 57

. . . . .

. . . . .

. . . . .

3.

Unsere Wirklichkeit als Leonardo-Welt: der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett .

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Unsere Welt als Leonardo-Welt . . . . . . . . . . . Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung . . . . Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bewusstsein Grundannahmen von Daniel Dennett . . . . . . . . Die heterophänomenologische Methode . . . . . . . Ein funktionalistisches Modell von Bewusstsein . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

61 62 67 70 72 75 80 7

https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

.

Inhalt

7. 8.

Intuitionen und Gegenintuitionen . . . . . . . . Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen A. Zum Status von Sprache und Intentionalität B. Die Wirklichkeit als geschlossene Welt . . . C. Der Mensch als eingekapseltes Wesen . . . D. Dennett als Denker der Leonardo-Welt . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

II. Die Bedingungen des phänomenologischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

83 89 91 94 97 100

. . .

103

4.

Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

1. 2. 3.

6.

Rückblick auf Descartes und Dennett: Ortloses Erkennen Charakteristika der phänomenologischen Methode . . . Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . A. Die Struktur – Was ist Handeln? . . . . . . . . . . B. Die Gestalt – Was ist Wahrnehmen? . . . . . . . . C. Was zeigt sich, wenn sich beide Hände berühren? . D. Gibt es einen Weg zwischen Rationalismus und Empirismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Zeichen – Was ist Sprechen? . . . . . . . . . . F. Späte Begriffe zur Bestimmung der Wirklichkeit: Wahrnehmungsglaube, Fleisch, wildes Sein . . . . . Was ist der Leib? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee: Der Leib als Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zu Descartes . . . . . . . . . . . . . . .

5.

Der Leib und seine Erscheinungsweisen . . . . . . . . . 148

1.

Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen Realismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Phänomene des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweisen des Leibes . . . . . . . . . . . . Der Chiasmus als regulatives Schema . . . . . . . . . . . A. Rückblick auf den dualistischen Ansatz von Descartes . B. Das Verhältnis zwischen dem Chiasmus und den Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4. 5.

2. 3. 4.

8 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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. . . . . .

103 107 112 113 116 120

. .

121 124

. .

127 134

. .

142 146

151 155 164 170 173 175

Inhalt

C.

5. 6. 7.

8.

Der Chiasmus als Ordnungsschema der Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Interpretation der wichtigsten Eigenschaften des Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Größen Bewusstsein* und Körper* . . . . . II. Eigenschaften der Erscheinungsweisen im Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Subjekt und Objekt im Verhältnis zum Chiasmus IV. Zur Interpretation des Chiasmus im Ganzen . . Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus . . Der Leib als Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zum Ertrag des Chiasmus als Schema . . . . . . . . . B. Zur Philosophie der Gefühle . . . . . . . . . . . . . C. Der Ansatz von Hermann Schmitz . . . . . . . . . . D. Der Dualismus als ein Reduktionismus . . . . . . . . Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältnis zu Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180 182 182 188 191 196 199 205 210 212 214 220 224 226

6.

Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

1.

Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Suche nach dem archimedischen Punkt . . . . . . B. Der Leib als partikulares Problem – Emergenztheorien C. Schopenhauers spekulativer Schluss vom Leib auf die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Erscheinungsweisen in der Wirklichkeit . . . . . I. Die Wirklichkeit ist unanschaulich . . . . . . . II. Der Umfang der Erscheinungsweisen . . . . . . III. Gibt es weitere neue Erscheinungsweisen der Wirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Begegnungen in der Wirklichkeit: der Andere, Gott . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

231 232 234 240 242 244 244 245 245 246

9 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Inhalt

B.

3.

4. 5.

6.

Der Leib in der Erscheinungsweise als Körper und seine Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Wirklichkeit im Schema des Chiasmus dargestellt . D. Ist die Leibtheorie ein verdeckter Anthropozentrismus? Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus . . A. 1.-Person-Perspektive und 3.-Person-Perspektive . . . B. Zur sprachlichen Form der Erscheinungsweisen . . . . Die Wirklichkeit als Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der Schatten eines Baumes . . . . . . . . . . . . . . B. Atmosphäre und Raumkonzept . . . . . . . . . . . . C. Atmosphäre und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . D. Anmerkungen zur Qualia-Diskussion . . . . . . . . Bemerkungen zu Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . .

250 252 254 257 259 263 267 269 270 271 273 274 276

7.

Die soziale Dimension der Wirklichkeit nach George Herbert Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

1.

Der sozialphilosophische Ansatz von George Herbert Mead A. Mead deutet die soziale Welt von »innen« her . . . . I. Akzeptanz der parallelistischen Erfahrungen . . II. Der Ausgangspunkt beim Behaviorismus . . . . III. Der neue Ansatz: Sozialbehaviorismus . . . . . B. Die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gedanke und als Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Medien Wahrnehmen Sprechen und Handeln . . . . . A. Wahrnehmen, Sprechen und Handeln bei Mead und Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Verortung der Medien im Chiasmus . . . . . . . I. Die Medien sind nicht nur Teil der Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Medien als Vermittlung von Bewusstsein* und Ding* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterschiedliche Grade der Vermittlung in den Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . C. Genauere Charakterisierung der Medien . . . . . . . I. Die Einheit der Medien . . . . . . . . . . . . . II. Unterschiede zwischen den Medien . . . . . . . III. Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

10 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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285 285 286 287 289 292 301 301 305 305 306 308 309 310 310 313

Inhalt

3. 4.

5.

Erfahrungen von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die biographische Entwicklung . . . . . . . . . . . B. Die kulturelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Vertiefungen

.

316

. . .

320 324 327

.

328

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

8.

Die Frage nach der Wahrheit: die Theorie des Interal Realism von Hilary Putnam . . . . . . . . . . . . 338

1. 2. 3.

Das Konzept des Internal Realism . . . . . . . . . . Charakteristika der Wirklichkeit im Internal Realism Zur Wahrheitsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Gegen einen Relativismus . . . . . . . . . . . . B. Das Wahrheitskriterium der Bewährung . . . . C. Das Wahrheitskriterium der Kohärenz . . . . . D. Wahrheit als Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . E. Die Suche nach der einen Wahrheit . . . . . . .

9.

Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

1. 2. 3.

Lebenswelt in der Leonardo-Welt . . . . . . . . . . . . . Charakteristika der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . Einige bekannte, alltägliche Begriffe . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

340 345 347 348 350 351 354 358

365 372 374

10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit . . . 377 1. 2. 3. 4. 5.

Wissenschaftliches Erkennen führt zur Abstraktion . . . . Der wissenschaftliche Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Theorie und Empirie . . . . . . . . . . Transdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaften unter den Bedingungen der Leonardo-Welt

378 381 385 388 393

11 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

2014

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Inhalt

11. Wissenschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 1.

2. 3.

Zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt . . . A. Die Bedeutung der Lebenswelt für die Wissenschaft B. Lebenswelt als Apriori . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kultur . . . . . . »Ordnung der Wirklichkeit«. Der Ansatz von Werner Heisenberg . . . . . . . . . . . A. Grundannahmen Heisenbergs . . . . . . . . . . . . B. Die Kopenhagener Deutung . . . . . . . . . . . . . C. Die Wirklichkeit zwischen Subjekt und Objekt . . . D. Anmerkungen zu einzelnen Wissenschaften . . . . E. Wisenschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

395 395 400 403

. . . . . .

411 411 414 416 418 421

12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit – Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit . . . . . . . . 422

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

12 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Vorwort

Die zentrale Frage des Buches lautet: Wie ist die Wirklichkeit zu beschreiben, wenn wir die Bedingungen unserer leiblichen Existenz berücksichtigen? Die Beachtung dieser Bedingungen führen zu einer umfassenden Darstellung der Wirklichkeit, die sowohl das wissenschaftlich Erforschbare wie auch jene Erscheinungsformen der Wirklichkeit umfasst, die sich einer wissenschaftlichen Darstellung weitgehend entziehen. Die Wirklichkeit zeigt sich auf diese Weise als offen und unausmesslich. Die Möglichkeiten des menschlichen Erkennens werden in unserer Zeit zugleich unterschätzt und überbewertet. Während nach der Postmoderne in der professionellen Philosophie große Thesen über unsere Welt eher verpönt sind, haben sie in der popularisierten Wissenschaft Konjunktur. Die Thesen der Populärwissenschaft über die Welt zeichnet eine eigentümliche Unbekümmertheit aus. Die Wirklichkeit ist hiernach eine Sphäre von Objekten, die man wissenschaftliche methodisch analysieren und auf die man in der Regel auch technisch handelnd einwirken kann. Eine solche Leichtfertigkeit in der Auffassung von der Wirklichkeit färbt auf viele Bereiche der Kultur ab und findet sich auch in vielen alltäglichen Vorstellungen wieder. Anlass für die Arbeit an dem vorliegenden Buch war die Einsicht, dass mit dem überzogenen Anspruch einer bestimmten Deutung nicht nur spekulative Elemente in die Auffassung von der Wirklichkeit Einzug halten, sondern zugleich die Vorstellungen über die Wirklichkeit und die Erwartungen ihr gegenüber verarmen. Das mag erstaunen. Wer mehr behauptet, als er einzulösen vermag, sollte doch zumindest dem Schein nach reicher dastehen. Tatsächlich verhält es sich aber umgekehrt. Wenn wir Aussagen des Typs »Die Wirklichkeit ist nichts als …« Glauben schenken, verlieren wir die Fähigkeit, auf übersehene Dimensionen und unergründliche Tiefen zu achten, die Wirklichkeit verflacht zu einer geschlossenen Welt von Objekten. Dieses Buch soll eine Basis bieten, die in unseren zeitgenössischen Vorstellungen verschütteten Dimensionen der Wirklichkeit freizulegen, ohne dabei die Errungenschaften wissenschaftlicher Erkennt13 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Vorwort

nisse in Frage zu stellen. Wir können die vielfältigen Dimensionen der Wirklichkeit uns aber nur dann erschließen, wenn wir die Bedingungen unserer leiblich-existentiellen Situation in der Wirklichkeit berücksichtigen und beachten. Auch die Wissenschaft beginnt mit dem Staunen und Fragen im Hier und Jetzt. Das meint streng genau dieses: Es geht um die oder den, die oder der gerade über die Wirklichkeit nachdenkt oder über sie eine Aussage macht, es geht nicht um das Nachdenken und Erkennen im Allgemeinen und Abstrakten. Wir sind schon selbst, in unserer eigenen Existenz gefordert, wenn wir verstehen wollen, was die Wirklichkeit ausmacht. Doch ist die Achtsamkeit auf die eigene leibliche Existenz nicht eine Einladung zu freier Assoziation, sondern die Auferlegung einer besonderen Strenge in der Argumentation. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt: Unfreiwillige Spekulation entsteht immer dann, wenn man sich zu Behauptungen hinreißen lässt, die den Ort der Erkenntnis, die die eigene leibliche Existenz außer Acht lassen. Eines der zentralen Probleme des folgenden Textes wird es sein, den Ausdruck »die leibliche Existenz« genauer zu bestimmen. Das ist ein unumgänglicher erster Schritt. Wenn wir Aussagen über die Wirklichkeit machen, müssen wir zugleich immer auch Rechenschaft darüber ablegen, wie wir, die wir diese Aussagen machen, in dieser Wirklichkeit verortet sind. Je umfassender die Aussagen werden, die wir über die Wirklichkeit machen, desto kritischer müssen wir die Tragfähigkeit der Behauptungen prüfen. Die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit sind zu vielfältig, als dass ein eng gehaltenes Arsenal von Methoden oder gar nur eine einzige zu ihrer Erschließung ausreichen könnte. Von hierher begründet sich auch die ungewöhnliche Kombination des Titels: »phänomenologischer Realismus«. Die phänomenologische Methode ist offen, umfasst sehr heterogene Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Andererseits hält sie den Ausgangspunkt des Erkenntnisweges stets im Blick, unsere leibliche Existenz. Gegen die Selbstvergessenheit mancher »Realisten« und gegen deren Verengung des Blickwinkels durch die Vernachlässigung ihrer leiblichen Existenz sollte man ausrufen: Realistischer sollten die »Realisten« sein! Der folgende Text schlägt also einen Weg zur Beantwortung der Frage nach der Wirklichkeit vor, der zunächst bei uns selbst beginnt, also bei dem- bzw. derjenigen, die oder der die Wirklichkeit zu erfassen sucht. Es ist scheinbar eine Trivialität, dass wir, die wir die Wirklichkeit erforschen wollen, ihr zugleich angehören. Aber schon die Vorstellung, 14 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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wir könnten unsere Beteiligung berücksichtigen, indem wir auf uns selbst reflektieren, führt in der Regel zu voraussetzungsreichen Annahmen darüber, wer wir sind, die wir die Wirklichkeit betrachten. Deshalb soll hier ein Weg beschritten werden, der mit möglichst wenigen Vorannahmen bei dem beginnt, was sich zeigt. Dabei werde ich mich maßgeblich auf die philosophischen Einsichten von Maurice Merleau-Ponty beziehen. Der phänomenologische Ansatz Merleau-Pontys ist so reich an Einblicken, weil er stets eine schwebende Balance zu halten versucht hat zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen. Der hier vorzustellende Ansatz ist in gewisser Weise das Ergebnis einer längeren kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty. Die zentralen Gedanken und Konzepte, die ich hier vorschlagen möchte, sind entweder seinen Schriften direkt entnommen oder ein Versuch ihrer Weiterentwicklung. Eine Auseinandersetzung setzt auch Differenzen voraus, die ich an den entsprechenden Stellen deutlich machen werde. Eine der großen Herausforderungen auf diesem Wege ist die konsistente Verknüpfung der stets anfänglichen und elementaren Einsichten unserer leiblichen Existenz mit den komplexen Ordnungen, wie sie die Naturwissenschaften, die Mathematik oder die Logik erarbeitet haben. Nur wenn das gelingt, wenn gezeigt werden kann, dass diese Ordnungen nicht einfach eine ganz andere Sicht der Welt darstellen, sondern Teil eines Prozesses sind, in den wir leiblich eingebunden sind, wird es auch möglich sein, die selbstverschuldete Verarmung unserer Vorstellungen von der Wirklichkeit durch eine Pluralität von Methoden aufzuheben. Die Erforschung unserer Wirklichkeit ist auch im 21. Jahrhundert keine Sache für hoch spezialisierte Experten, die die verbliebenen Lücken im Universum erkunden, sondern ein allgemeines Abenteuer, weil auch heute noch viel Elementares in unserer nahen Umwelt unerschlossen ist. Wenn es uns gelingt, die Wirklichkeit, auch die, die sich gerade in diesem Moment vor unseren Augen ausbreitet, als in den Grundfesten unverstanden wahrzunehmen, mag auch wieder eine Kultur der Neugierde und der Offenheit entstehen, die uns hilft, Neues zu entdecken. Meinen Dank möchte ich den vielen Gesprächspartnerinnen und -partnern aussprechen, mit denen ich in meiner beruflichen Tätigkeit an der Evangelischen Akademie im Rheinland im Austausch sein kann. Ein besonderer Dank gilt Dr. Thomas Ulrich, dessen Anregungen nicht nur am Anfang des Weges standen, ebenso Prof. Dr. Christian Link, 15 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Dr. Christian Hoppe und Prof. Dr. Christian Bermes, die mir in Diskussionen so manche wertvolle Hinweise gegeben haben und schließlich nicht zuletzt meiner Frau, die den mehrjährigen Arbeitsprozess mit viel Rücksichtnahme und einer hilfreichen Portion Skepsis begleitet hat.

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1. Einleitung

Unsere gegenwärtige Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass es populäre und vorherrschende Vorstellungen darüber gibt, was der Mensch und was die Welt ist. Diese Vorstellungen sind vage und bestimmend zugleich, sie bilden keine ausformulierte Lehre, vielmehr sind sie Grundannahmen, auf die man sich zumeist eher indirekt bezieht und doch als fest gegeben voraussetzt. Sie helfen, einen Rahmen aufzuspannen, innerhalb dessen neue Erkenntnisse eingeordnet und verarbeitet werden können. Auf eine kurze Formel gebracht lauten sie: Der Mensch ist ein körperliches Wesen mit einem Innenleben. Er ist in gewisser Weise ein in seinem Körper eingekapseltes Wesen. Die Welt ist ein durch Raum und Zeit strukturiertes Gesamt von Objekten, die zueinander in Beziehungen stehen. Zu diesen Objekten gehört auch der Mensch. Der folgende Text ist von der Erkenntnis motiviert, dass diese Annahmen nicht nur unbegründet, sondern auch von gravierenden und folgenreichen Verkürzungen und Fehldeutungen bestimmt sind. Die Annahmen legen zum Beispiel nah, dass sich die beiden Fragen nach dem Menschen und nach der Welt weitgehend getrennt voneinander bearbeiten lassen. Doch wie ließe sich diese Annahme begründen? Sind es doch immer menschliche Verständnisbemühungen, die Auskunft über Mensch und Welt geben! Was meinen wir, wenn wir »Welt« oder »Mensch« sagen? Im Folgenden möchte ich dagegen die Vermutung stark machen, dass wir die Wirklichkeit nur verstehen, wenn wir bei einer unauflöslichen Verbindung von »Welt« und »Mensch« beginnen und sie nicht als Konzession oder nachträgliche Korrektur oder erkenntniskritischen Vorbehalt schon fertigen Bildern von »Welt« und »Mensch« anfügen. Ich möchte deshalb von Beginn an den Begriff der Wirklichkeit dem der Welt vorziehen, da letzterer eine Geschlossenheit impliziert, die mit den zu vermeidenden Fehlschlüssen im Zusammenhang stehen. Der Text ist von der Grundhaltung bestimmt, dass wir uns in eine offene, weitgehend unbekannte Wirklichkeit vortasten, dass wir nicht bei 17 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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1. Einleitung

dem Großen und Ganzen beginnen können, dass Vermutungen über das Große und Ganze immer spekulativ bleiben müssen. Die Wirklichkeit, die wir uns erschließen können, ist eine offene Wirklichkeit in dem Sinne, dass wir sie niemals ganz erfassen können, weil wir leiblich in ihr existieren. Denn nur allzu schnell entstehen spekulative Verzerrungen, wenn wir den Ausgangspunkt vergessen, der uns unausweichlich in das einbindet, was wir zu erkennen trachten.

1.

Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch, der ortlose Blick

Kennen wir die Welt, in der wir leben? Na, im Großen und Ganzen ja, so glauben wir antworten zu können. Wir haben einiges über das Universum erkannt, wir wissen, dass es vor etwa 13,7 Milliarden Jahren in einem Urknall entstand und sich seitdem kontinuierlich ausdehnt. Wir wissen, dass die Erde sich vor etwa 4, 6 Milliarden Jahren bildete und dass vor etwa 3,5 Milliarden Jahren sich erstes Leben auf dem noch jungen Planeten entwickelte. Wir haben eine recht gute Vorstellung, wie sich diese ersten Lebensformen vermehrten und sich in den folgenden Generationen veränderten, wie insbesondere im Kambrium eine unglaubliche Zahl von Arten entstand. Und schließlich wissen wir, dass die ersten Exemplare der Gattung Homo vor etwa 2,5 Millionen Jahren ihre Spuren hinterließen, aus denen sich über einige Zwischenstufen schließlich vor etwa 200000 Jahren der heutige Mensch entwickelte, der homo sapiens. Zu der Geschichte des Menschen wissen wir auch eine Menge, wenn auch noch lange nicht alles. Wie war der Mensch zu einer derart erstaunlichen kulturellen Entwicklung in der Lage? Die Neurowissenschaften geben uns Antworten, in dem sie Schritt für Schritt das menschliche Gehirn analysieren und seine funktionalen Teile bestimmen und so seine besonderen Fähigkeiten erschließen. Das Gehirn zeigt sich als das wohl Komplexeste, was das Universum bislang hervorgebracht hat. Der Mensch lässt sich so als einen Organismus beschreiben, dessen Eigenschaften und dessen Vermögen aus seinen internen Zuständen resultieren. Der Mensch ist ein in den eigenen Körper eingekapseltes Wesen. Damit ist der Rahmen gespannt für ein umfassendes Wissen über die Welt, die Welt wird als eine geschlossene Menge von Entitäten vorgestellt. Da gibt es natürlich noch jede Menge weißer Flecken, manches 18 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch, der ortlose Blick

wissen wir nur ungefähr, vieles besteht noch aus Hypothesen. Unwahrscheinlich aber scheint, dass durch die Bearbeitung der weißen Flecken sich herausstellen sollte, dass der Rahmen sich noch einmal ändern muss. Er spannt die Fläche auf, auf der jedes künftig zu erwerbende Wissen seinen Platz finden muss. Wir bewegen uns in der Wirklichkeit ein wenig wie ein Gutsbesitzer, der seine ausgedehnten Ländereien nicht im Detail kennt, der aber weiß, welchen Umfang sein Besitz hat und der hin und wieder genauere Vermessungen vornimmt. Ein erstes Misstrauen gegenüber einer allzu homogenen Darstellung der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt sollte entstehen, wenn man auf die Metapher des Rahmens näher eingeht und danach fragt, was das Bild in dem Rahmen eigentlich darstellen soll und wer es sich ansieht. Innerhalb dieses Rahmens bildet sich, das ist die Behauptung, die Wirklichkeit ab. Wer aber betrachtet denn die Wirklichkeit auf diese Weise? Wir selbst sind natürlich die Betrachter. Welche Konsequenzen ergeben sich aber daraus, dass wir nun zugleich auch Teil des Bildes sind, das wir betrachten wollen, welchen Ausdruck finden wir dafür, dass wir selbst an der Wirklichkeit beteiligt sind? Die Vorstellung, man könne einen vollständigen Überblick über die Wirklichkeit erlangen, hat unmittelbar zur Folge, dass unser eigener Standpunkt, von dem wir die Wirklichkeit in ihrer Vollständigkeit beobachten, ortlos wird. Man kann diese vorherrschende Haltung, ein wenig zugespitzt, den »Bullaugen«-Blick auf die Welt nennen. Ein Bullauge ist ein Fenster aus besonders dickem Glas, das die Eigenschaft hat, das, was man beobachtet, und den Beobachter selbst sorgsam voneinander zu trennen. So können an einem Schiff an den Stellen Bullaugen angebracht werden, wo Gefahr besteht, dass bei Sturm Wasser eindringt. Durch ein Bullauge kann man gefahrlos nach außen blicken, die Trennung ist durch das dicke Glas gesichert. Unsere Zeit ist geprägt durch diesen Bullaugen-Blick. Wir betrachten die Welt und sehen sorgsam darauf, dass wir selbst nicht beteiligt sind. Wir leisten uns einen Blick »von außen« auf die Welt. Damit wird zugleich unser eigener Standpunkt ortlos. Wir können uns keine Rechenschaft mehr darüber ablegen, von wo aus wir die Wirklichkeit betrachten. Wenn wir allerdings uns auf den Ort besinnen, von dem aus wir die Wirklichkeit betrachten, werden wir ihn in dem verorten müssen, was wir betrachten. Die Verortung des Betrachters hat aber weitreichende Folgen für die Betrachtung selbst. Es ist schwierig, die Position des Beobachters mit dem in einen Zusammenhang zu bringen, was sie oder er beobachtet. 19 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Diese Ortlosigkeit ist die Kehrseite eines überzogenen Anspruchs. Der Anspruch kann metaphysisch begründet werden mit der Behauptung einer Gründung des Weltbildes in einem Absoluten oder scheinbar wissenschaftlich mit der Verabsolutierung einer bestimmten Erkenntnismethode. Oft äußert sich diese Neigung in Ausdrücken wie die Wirklichkeit sei »nichts anderes als«. Wer so redet, katapultiert sich ins Nirgendwo und verleugnet seine Verortung in der Wirklichkeit. Die obige Haltung ignoriert auf diese Weise genau jene Voraussetzungen, die erst den Erfolg der Naturwissenschaften möglich gemacht haben, nämlich das methodisch kontrollierte Erkennen. Es gibt keinen voraussetzungslosen Blick auf die Wirklichkeit, es gibt folglich auch kein absolutes Wissen. Die Erkenntnis der Wirklichkeit findet nicht in einer Gottesperspektive statt, sie sieht die Welt eben nicht, wie Gott sie sah, als er sie schuf, sondern wir sehen sie immer unter bestimmten methodischen Prämissen. Methoden sind in der naturwissenschaftlichen Forschung nichts Nebensächliches. Die Bedeutung der Methoden können für das Selbstverständnis der Wissenschaften gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und sie werden in seriösen wissenschaftlichen Veröffentlichungen deshalb auch minutiös beachtet. Das zentrale Problem entsteht also nicht durch die naturwissenschaftliche Forschung, im Gegenteil, Forschung hat immer eine Ahnung von dem Unverstandenen, wohl aber richtet sie sich gegen eine zu weitgehende und spekulative Interpretation der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Entscheidend ist die offene oder versteckte Behauptung, diese Erkenntnisse würden sich zu einem geschlossenen und in sich stimmigen Bild von der Wirklichkeit fügen. Das hat mehrere Nachteile zur Folge. Die Geschlossenheit ist für alle Bemühungen abträglich, mehr über die Wirklichkeit herausfinden zu wollen. Der Blick auf die Wirklichkeit steht darüber hinaus in Gefahr, im Modus der Objektivität starr zu werden und die Fähigkeit zu verlieren, für die Zwischentönungen und -farben empfänglich zu sein. Der Blick wird aber starr, wenn er von einem imaginären Irgendwo auf die Wirklichkeit blickt, wenn diese Wirklichkeit als eine Welt angefüllt mit Objekten erscheint. Der starre Blick führt also nicht nur zu einer Ortlosigkeit des Betrachters, sondern auch zu einer Verarmung dessen, was der Betrachter sehen kann. Manche Wissenschaftler sind an dem Missstand der Fehldeutungen nicht unschuldig, einige erheben die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Welt zu einem unumstößlichen Weltwissen (»Die Wis20 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch, der ortlose Blick

senschaft hat gezeigt, dass …«) und schreiben Bücher mit großen Auflagen zur umfassenden naturwissenschaftlichen Deutung der Welt. Gegen diesen Missbrauch, gegen die nahezu »priesterliche« Verwendung des naturwissenschaftlichen Wissens, gegen die Vorstellung, hier sei der singuläre und unüberbietbare, der eine und wahre Zugang zur Wirklichkeit, werden wir argumentieren. Auf dem Spiel steht das Selbstverständnis unserer Kultur, die sich über einen Rahmen definiert, innerhalb dessen eine Haltung der Offenheit und Neugier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zukunft erscheint nur noch unter einer meist negativ konnotierten Prognose (Klima, Rohstoffe, Bevölkerung), welche nichts anderes ist, als die Fortschreibung der Gegenwart unter den Bedingungen des gegenwärtigen Wissens. Wissenschaftliche Forschung ist in diesem geschlossenen Rahmen lediglich die Verfeinerung bestehender Annahmen. Dabei ist die kontinuierliche Kritik an den Wissensbeständen eine wichtige wissenschaftliche Tugend und einer der Grundpfeiler des Selbstverständnisses wissenschaftlicher Forschung. Gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von großen wissenschaftlichen Innovationen und Erkenntnissen geprägt, die scheinbar unerschütterlich fundierte Weltbilder ins Wanken gebracht haben. 1 Umso erstaunlicher ist es, dass sich das Abenteuer der Forschung in der öffentlichen Darstellung immer mehr zu einer Verkündung scheinbar gesicherter Besitzstände verengt. Natürlich gibt es einige Gründe für diese Entwicklung. Dazu gehört die erfolgreiche Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine verlässlich funktionierende Technik im Alltag, dazu gehört auch ein Wissenschaftsbetrieb, der immer stärker von einer einseitigen Anwendungsorientierung und durch ökonomische Kriterien geprägt ist. Innovative Wissenschaft war und ist aber gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie, angetrieben durch eine Ahnung von dem noch Unverstandenen, die Aussagekraft und –reichweite der gegebenen Thesen kritisch befragt und bereit ist, auch unter Verlust scheinbarer Selbstverständlichkeiten neue und ungebahnte Wege zu gehen. Sehr weitgehende Konsequenzen sah Heisenberg: »(…) denn die heutige Naturwissenschaft ist durch ihre erkenntnistheoretischen Erfahrungen gezwungen worden, sofort die Frage zu stellen, was die Behauptung von der ›Existenz der objektiven, realen Außenwelt‹ bedeuten könne. Wahrscheinlich kann sie nicht mehr bedeuten, als die vorsichtigere Aussage: ein großer Ausschnitt aus der Welt unserer Erfahrungen lässt sich mit Erfolg objektivieren.« Heisenberg 1942: 285.

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1. Einleitung

Eine Kritik an szientistischen Verengungen ist nun weder neu noch originell. Viele Positionen der Philosophie des 20. Jahrhunderts haben sich kritisch mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden auseinander gesetzt und sie im Namen des Eigentlichen, des unmittelbaren Lebens, der Existenz, des Seins, dem Verstehen und auch der Leiblichkeit in Frage zu stellen versucht. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich, wie gering die langfristigen kulturellen Wirkungen all dieser philosophischen Ansätze waren. Die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zogen, blieb mehr oder minder innerhalb der Grenzen geisteswissenschaftlicher Diskurse, wohingegen die Popularität der geschilderten Deutungsangebote, die an naturwissenschaftliche Erkenntnisse anknüpfen, unverändert hoch ist. Durch eine allzu simple Wissenschaftskritik entsteht der Eindruck eines Streites zwischen zwei Seiten, zwischen zwei Kulturen, der schnell zu einem weltanschaulichen Streit eskaliert. Auf der einen Seite stehen die nüchternen und »aufgeklärten Naturwissenschaftler«, auf der anderen Seite stehen die »Romantiker«, die sich alternativen Lebensstilen hingezogen fühlen und die Verbundenheit des Menschen mit dem Leben auf der Erde betonen. Ich möchte im Folgenden dafür plädieren, dass beide Sichtweisen sich nicht ausschließen, sondern beide gerade durch die Beachtung der Bedingungen des phänomenologischen Realismus aufeinander bezogen sein müssen. Bei aller Kritik an einem rein distanzierten Blick auf die Wirklichkeit gilt: Es wäre viel zu einfach, im Namen einer diffusen Unmittelbarkeit, im Namen von Erfahrung und Betroffenheit die naturwissenschaftliche Forschung zu verwerfen. Ökologisch, poetisch, spirituell oder religiös sich verstehende Protestformen gegen das wissenschaftliche Denken sehen oft nicht, in welchem Umfang sie durch die einfache Negation an das gebunden sind, was sie negieren. Auch sie zehren von der Vorstellung einer geschlossenen Wirklichkeit, jedoch tun sie das so, dass sie ihre auf Bewahrung zielende Haltung mit moralischen Appellen an die Grenzen des Handelns verbinden. Manche Argumente um das Weltklima zeigt die Vorstellung einer geschlossenen Weltsicht in besonderer Deutlichkeit: Die Erde wird dann zu einem zu regelnden technischen System. Manche kritische bioethische Positionen suggerieren, der Mensch sei nun dem Menschen auf dem Labortisch vollständig verfügbar. Die Positionen, die in positiver oder auch in kritischer Haltung meinen, sich auszukennen und die »Welt« im Griff zu haben, sollen unter der Bezeichnung Leonardo-Welt besprochen werden. Ein Protest darf sich nicht auf die Wissenschaft im 22 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer offenen Wirklichkeit

engeren Sinne konzentrieren, sondern muss unsere Kultur des Umgangs mit Wissensbeständen in den Blick nehmen: Unser Wissen ist bei weitem nicht so vollständig, wie viele suggerieren.

2.

Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer offenen Wirklichkeit

Der Schlüssel zu einer neuen Betrachtung der Wirklichkeit, die deren Offenheit beachtet, liegt in der Berücksichtigung unserer leiblichen Existenz. Wir haben aber immer schon einen Ort in der Wirklichkeit, die wir betrachten wollen. Deshalb können wir streng genommen die Wirklichkeit nie »von außen«, sondern immer nur »von innen« erkunden. Das ist eine der zentralen Einsichten eines Ansatzes des phänomenologischen Realismus, wie er hier im Anschluss an die Arbeiten von Merleau-Ponty konzipiert werden soll. Wir müssen uns die Wirklichkeit »von innen« her erschließen. Dabei wollen wir an die Tradition der Erkenntniskritik im Sinne der Aufklärung anknüpfen. Die Vertreter der Aufklärung haben sich stets gegen alle dogmatischen Festsetzungen eine vorurteilsfreie Erkenntniskritik gefordert, die immer auch eine Kritik der eigenen Position einschließt. Doch es ist schwer von jenen Vorurteilen zu lassen, die wir im Alltag teilen und die uns von vielen Seiten immer wieder nahe gelegt werden. Der phänomenologische Ansatz, den wir hier vorschlagen wollen, enthält sich zunächst ziemlich rigoros weit reichender Urteile, was der Mensch sei, was die Welt sei, aber auch, was die Wirklichkeit sei oder was ein Leib sei. Nur wenn wir diese Spannung für eine ganze Weile aufrecht erhalten, wenn es uns gelingt, unseren fest gefügten Vorstellungen von der Welt und dem Menschen zu suspendieren, mag auch eine Ahnung davon entstehen, wie wenig wir tatsächlich wissen. So kann es gelingen, sowohl das Bild einer abgeschlossenen Welt als auch das Bild eines eingekapselten Menschen zu vermeiden. Man bekommt eine Ahnung von der grundlegenden Offenheit beider, die sich nicht mehr einer einzigen, schon gar nicht einer objektiven Perspektive fügen. Doch es geht nicht darum, alte Begriffe durch neue zu ersetzen. Denn auch die neuen Begriffe sind schnell kontaminiert und mit klaren Inhalten gefüllt. Schon jetzt möchte ich davor warnen, für den Begriff »Leib« eine bereits existierende Vorstellung einzusetzen. 23 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Natürlich haben wir ein intuitives Verständnis, wenn wir den Begriff nutzen. Doch darf gerade am Anfang des Weges nur eine Minimaldeutung stehen. Der Begriff steht eher für ein methodisches Programm. Der phänomenologische Weg ist deshalb von definitorischer Zurückhaltung geprägt. Als leiblich existierende Menschen erschließen wir uns die Wirklichkeit »von innen« her. Auch die räumliche Metapher des »Innen« (wie natürlich auch die oben gebrauchte des »Außen«!) ist mit Vorsicht zu gebrauchen, denn wir diskutieren hier nicht räumliche Verhältnisse. Doch ist die Metapher in der Lage, einen ersten Eindruck zu vermitteln, worum es geht. Wenn man etwas »von innen« sieht, sieht man nie alles zugleich. Es ist die leiblich-existentielle Bindung all unserer Erkenntnis, die mit der offenen Wirklichkeit korrespondiert. Erst die Berücksichtigung der eigenen Bindung ermöglicht die Fähigkeit, die Offenheit der Wirklichkeit wahr zu nehmen. Schließlich sind auch die Metaphern »Sehen«, »Blick«, »Bild« und »Perspektive« hoch ambivalent. Denn sie transportieren immer wieder das verfälschende Verhältnis eines eindeutigen und räumlichen Gegenübers in die Argumentation. Wir nutzen sie hier, in den einleitenden Bemerkungen, um einen ersten Eindruck davon vermitteln zu können, worum es im Folgenden geht. Tatsächlich bekommen wir die umfassende Wirklichkeit »nie zu Gesicht«, »in den Blick«, sie ist uns nicht als Objekt gegeben, wir haben keine klare oder distinkte Vorstellung. Es würde eine Untersuchung lohnen, inwieweit die Verfechter einer szientistischen Position in der Begründung ihrer Position von dieser räumlichen Metaphorik bestimmt sind. Die Skepsis gegenüber fixierenden Begriffen zeigt: Unser Verhältnis zur Wirklichkeit beginnt nicht mit einer philosophischen Debatte um das Für und Wider bestimmter Ontologien. Es gibt also keinen rein argumentativen Anfangspunkt, von dem aus wir eine gesicherte Reflexion und Diskussion starten könnten. Wenn wir über die Wirklichkeit reden wollen, müssen wir erst einmal anerkennen, dass wir immer schon voll und ganz einbezogen sind. Die unterschiedlichen Weisen, in der uns die Wirklichkeit immer schon erscheint, als Tisch etwa oder als kluger Gedanke oder als Magenschmerz, sollten wir erst einmal in dieser Unterschiedlichkeit belassen, ohne sie auf eine fixe Vorstellung von etwas Gegebenem zu reduzieren. Wir wurden geboren, sind gebunden an einen begrenzten Körper, wachsen auf, suchen unseren Platz im Leben in einem wechselhaften Auf und Ab, partizipieren an unserer 24 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer offenen Wirklichkeit

Kultur, sind ständig im Kontakt mit unserer Umwelt, lernen uns zu orientieren, zu sprechen, wir lieben und freuen uns, wir erleben Schmerzen, wir engagieren uns. Wir beginnen unser Nachdenken also mitten im Strom der Wirklichkeit und sollten mit all ihren Erscheinungen deshalb behutsam umgehen, und sie nicht zu schnell auf eine bestimmte Weltsicht fixieren. Maurice Merleau-Ponty hat die Maxime in ausdrucksstarker Weise formuliert, wenn er sich auch auf den Wesensbegriff Husserls und damit auf einen Kern einer bestimmten Auslegung der phänomenologischen Methode bezog, der wir hier nicht folgen wollen: »Wie Netze vom Meeresgrund das zuckende Leben der Fische und Algen ans Licht heben, so müssen die Wesen Husserls in sich die Erfahrung in all ihren lebendige Bezügen einfangen.« 2 Die leibliche Verortung, die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit und des Beteiligtseins muss wie ein solches Netz wirken, sie darf die Aufmerksamkeit nicht einschränken, sondern muss fähig sein, sie für alle möglichen divergenten Phänomene geöffnet zu halten. Das endliche Erkennen erfasst die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit und entwickelt eine Ahnung, dass ein einziger Blick auf die Wirklichkeit, dass eine einzige Perspektive, dass eine einzelne Methode nicht ausreichen, um die Vielfalt der Wirklichkeit zu erfassen. Wer dies versucht, dessen Blick wird starr und unbeweglich. Die Wirklichkeit zeigt sich nur in einer Vielzahl von Erscheinungsweisen. Aber ist diese Übung wirklich notwendig, erleben wir nicht die Wirklichkeit auch schon im Alltag in offenen Bezügen mit wechselnden und fließenden Kontexten und Deutungen? Kann man etwa die Erfahrung von Zuneigung zu einem anderen Menschen in jenes methodisch reduktive Bild von der Wirklichkeit integrieren, das wir an den Anfang gestellt haben? Es ist für uns im Erleben in der Tat schwierig, dieses distanzierte Bild und die eigenen intimen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Die unregulierbaren Erfahrungen sind bleibende Stachel im Fleisch einer Kultur der geschlossenen Weltinterpretationen. Die meisten von uns haben eine klare Intuition, dass Phänomene wie die Liebe in der Tat weit über eine distanzierte, methodenverengte Darstellung der Wirklichkeit hinausragen. Es gibt eine Weisheit des »common sense«. Doch müssen wir genauer hinsehen und danach fragen, wie wir diese abweichenden Erfahrungen verarbeiten und deuten. Hier zeigt sich: Unsere Kommunikation darüber verarmt gerade hier 2

Merleau-Ponty 1945: 12.

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1. Einleitung

zunehmend und es wird immer schwieriger, für diese Erfahrungen starke Metaphern anzubieten, die wir miteinander teilen. So bleiben wir isoliert mit den diffusen Vorstellungen, die als Repräsentanten von sehr individuellen Erfahrungen nur schwer anderen mitgeteilt werden können. Unsere Kultur der Kommunikation dieser Erfahrungen ist verkümmert, erst recht existiert nur eine rudimentäre kulturelle Fähigkeit der Vermittlung dieser Erfahrungen in unseren gesellschaftlich ausdifferenzierten Institutionen. Dieser Mangel fungiert wie ein Tor, durch das eine wunderliche Mischung von religiösen Versatzstücken, esoterischen Vorstellungen und psychologisierenden Einsichten dringen. Eine Kultur, die eher auf Wissensbesitzstände ausgerichtet ist und feste Deutungsrahmen bevorzugt, hat hier wenig zu bieten. Die Deutung der fließenden Erfahrungen bleibt dem Einzelnen überlassen, sie ist »subjektiv«. Die verbreiteten Synkretismen, die man sich je einzeln aneignet, zwischen denen man gegebenenfalls wechselt, stets auf der Suche nach einer gültigen und bleibenden, sind ihrerseits in ihrer kulturellen Prägekraft schwach, dienen eher als individualisierter Ersatz, entwickeln aber kaum eine gestalterische soziale Energie. Sie wirken nicht zurück auf unser gesellschaftliches Institutionsgefüge, sie beeinflussen den Gang von Wissenschaft und Technik so wenig wie die Entwicklungen in Wirtschaft oder Politik, sie sind geprägt von einer privaten und zumeist isoliert rezeptiven Haltung. Kurz, sie sind eher individuelles Refugium als kulturelle Kraftquelle. Die Rezeption der Versatzstücke führen zu keiner existentiell verpflichtenden Bindung. Stabilisiert wird die Situation isolierter Erfahrungen durch die Leitvorstellung des eingekapselten Menschen mit der Differenz von Innen und Außen. Diese hilft, beide Bereiche voneinander zu trennen und so zu fixieren: auf der einen Seite die geschlossene Welt der objektiven Dinge, auf der anderen die persönlichen Erfahrungen. Wir brauchen dagegen eine Kultur, in der wir uns wieder selbstverständlicher über das schwer Verständliche austauschen können. Wir brauchen eine Kultur, in der die eigenen Erfahrungen achtsam wahrgenommen werden und andere daran Anteil haben können, eine Kultur in der die isolierten und privatisierten Suchbewegungen mit den sozialen Prozessen vermittelt werden. Nur eine solche Kultur kann unsere humane Situation adäquat zum Ausdruck bringen und uns befähigen, denn wir leben als leiblich existierende Wesen in einer offenen Wirklichkeit und haben so stets das Bedürfnis nach Orientierung. Eine differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine Sensi26 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Zum Gang der Argumentation

blität für ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen der Wirklichkeit lässt aufmerksam werden für jene Erscheinungsformen, die sich jeder Totalordnung entziehen, die aber dennoch unser Leben vom Anfang bis zum Ende begleiten. Merleau-Ponty hat sie in immer wieder neuen Anläufen zu beschreiben versucht, notwendig scheiternd an dem Versuch, sie clare et distincte zu bestimmen. Doch ist die Annäherung an diese Erscheinungsweise von großer Wichtigkeit für einen phänomenologischen Realismus. Merleau-Ponty schreibt: »Unser Ausgangspunkt wird nicht sein: das Sein ist, das Nichts ist nicht – und nicht einmal: es gibt nur Sein – das sind Formulierungen eines totalisierenden, eines überfliegenden Denkens –, sondern: es gibt Seiendes, es gibt Welt, es gibt etwas; im starken Sinne, wie die Griechen von to legein sprechen: es gibt Zusammenhang, es gibt Sinn.« 3 Dieser eigenartige Sinn, den es gibt, verhindert einen totalen Skeptizismus und zugleich eine völlige Weltbejahung, dieser Sinn zeigt sich uns immer wieder neu, ohne dass wir über ihn verfügen. Er ist innerhalb der Begrenztheit und des Ephemeren, in dem er sich zeigt, ganz und gar nicht trivial, sondern strahlt aus auf alles andere und lässt uns an seiner Kraft partizipieren. Dieser erlebte Sinn fügt sich keinen Ordnungen, man kann ihm nachspüren, doch immer hat er einen Eigen-Sinn. Deshalb lässt er sich auch nicht in geschlossene Weltbilder zwingen. Das lässt alle Versuche einer abgeschlossenen Weltdeutung so eigentümlich schwanken zwischen den Extremen von Weltverneinung und Weltbejahung. Es muss darum gehen, die Verbindungen der Kultur zu jener Region der Wirklichkeit wieder zu stärken, der diese Sinnerfahrungen entstammen. Am Ende des Textes soll deshalb ein Aufruf zu einer Kultur der Achtsamkeit und der Offenheit stehen, geprägt durch die Bereitschaft, neue Blicke auf die Wirklichkeit zu wagen, jenseits der bestehenden Ordnungen.

3.

Zum Gang der Argumentation

Der folgende Text ist in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil, der die Kapitel zwei und drei umfasst, soll die zentrale Herausforderung anhand einer Position der philosophischen Tradition und anhand eines aktuellen Beitrags zur Debatte herausgearbeitet werden. Man kann die 3

Merleau-Ponty 1964: 121.

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1. Einleitung

Frage nach einem Verständnis der Wirklichkeit auch reformulieren als eine zentrale Frage der Moderne, als die Frage nach dem Status des Bewusstseins. Am Ende dieses Durchgangs soll die Erkenntnis stehen, dass sowohl dualistische, als auch methodenmonistische Ansätze starke Verkürzungen und ungeklärte Probleme in der Darstellung der Wirklichkeit zur Folge haben. Der zweite Teil, in den Kapiteln vier bis sieben wird eine systematische Entwicklung des Ansatzes eines phänomenologischen Realismus auf der Grundlage der Arbeiten von MerleauPonty vorgenommen. Der dritte Teil fragt in den Kapiteln acht bis zwölf nach Folgerungen aus dem vorgeschlagenen Ansatz für das Verständnis von Wahrheit und das Verhältnis von Lebenswelt, Kultur und Wissenschaft. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den Ansatz von René Descartes, dessen substanzdualistischer Ansatz in der philosophischen Diskussion heute kaum noch Anhänger findet. Dennoch folgt die Darstellung nicht nur einem historischen Interesse. Descartes hat mit der philosophischen Etablierung eines Bewusstseins, das abgesondert von der materiellen Welt existiert, einen Grundstein für viele zentrale moderne philosophische Diskurse gelegt. Wie haben wir das von der materiellen Welt getrennte Bewusstsein zu deuten? Zudem hat Descartes zugleich ein Paradigma geschaffen, das die popularisierten Vorstellungen von naturwissenschaftlicher Wirklichkeitsbeschreibung nach wie vor zumindest implizit prägt: Die Welt wird zu einem zu betrachtenden Gegenüber. In diesem Ansatz ist die Vorstellung des »äußeren Beobachters« angelegt und philosophisch begründet. Man kann die Motivation der Philosophie von Merleau-Ponty besser verstehen, wenn man den expliziten und auch impliziten Bezug zu Descartes berücksichtigt. Im dritten Kapitel wenden wir uns dann der Gegenwart zu und stellen dabei mit Daniel Dennett den Vertreter einer Philosophie vor, die von der Behauptung bestimmt ist, dass die Wirklichkeit in Gänze mit wissenschaftlichen Methoden erfasst und beschrieben werden kann. Im Zentrum seiner Schriften steht die Behauptung, dass auch das Bewusstsein sich durch einen wissenschaftlichen Zugang vollständig erschließen lässt. Die Untersuchung seiner Thesen wird zeigen, dass dieser Anspruch, die Wissenschaften hätten die alleinige Kompetenz zur Deutung der Welt, zu kurz greift. Die von ihm vorgeschlagene Methode der Heterophänomenologie hat gravierende Einschränkungen und systematische Tücken, die den Anspruch der Methode, 28 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Zum Gang der Argumentation

neben materiellen Prozessen auch das Bewusstsein erfassen zu können, außer Kraft setzen. Wenn aber sowohl ein dualistischer wie auch ein methodenmonistischer Weg zu erheblichen Schwierigkeiten führen, stellt sich die Frage nach einer Alternative. Im zweiten Teil der Arbeit werden wir einen phänomenologischen Ansatz vorstellen, der sich eng an die Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty anlehnt. Ein entscheidender Schritt wird dabei sein, die Vorstellung von einem Bewusstsein als gegebener, fest umrissener Größe möglichst zu meiden. Im vierten Kapitel sollen wichtige Einsichten und grundlegende Argumentationsweisen des Ansatzes von Merleau-Ponty vorgestellt werden, die die Erkenntnis der Wirklichkeit an die leibliche Existenz binden und damit die Bedingungen eines endlichen Erkennens berücksichtigen. Diese grundlegenden Einsichten von Merleau-Ponty bilden den Ausgangspunkt für einen systematisierenden Ansatz eines phänomenologischen Realismus, der in den drei folgenden Kapiteln schrittweise entfaltet werden soll. Im Zentrum steht dabei die Herausforderung, derart heterogene Zugänge zur Wirklichkeit, wie sie die naturwissenschaftlichen Methoden und die phänomenologische Theorie der Gefühle darstellen, so miteinander zu verbinden, dass sie in ihren jeweiligen Stärken bestätigt und ihnen jedoch zugleich die je eigenen Grenzen gesetzt werden. Von dem fünften Kapitel an wollen wir deshalb sukzessive die Bedingungen entfalten, die für einen phänomenologischen Realismus bedacht werden müssen. Nicht alles kann zur gleichen Zeit schon gesagt werden, deshalb ist ein schrittweises Vorgehen notwendig, das die einzelnen Aspekte der Wirklichkeit sukzessive entfaltet. Zunächst beginnt der Weg im fünften Kapitel mit der Betrachtung des eigenen Leibes. Endliches Erkennen ist dadurch geprägt, dass wir die Wirklichkeit nur »von innen« her erschließen können. Also müssen wir an dem Ort beginnen, wo wir gerade sind, das »wir« hier nicht verstanden als ein Abstraktum der Menge nachdenkender Menschen, sondern in der Konkretion derjenigen, die diesen Text hier lesen (oder ihn schreiben). In diesem ersten Zugang ist alles durch die Erscheinungsweisen des eigenen Leibes bestimmt. Auf der Grundlage der Theorie von Merleau-Ponty wird ein Schema entwickelt, das helfen soll, die verschiedenen Erscheinungsweisen einander zuzuordnen. Die hier vorgeschlagene Beschreibung der Bedingungen des phänomenologischen Realismus durch das Schema des Chiasmus macht einige wenige hypothetische Annahmen notwendig, die den Charakter regulativer Prinzi29 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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1. Einleitung

pien haben. Sie sind und bleiben hypothetisch und begründen ihre Existenz allein durch ihre Funktion, eine gute Systematik für die Erscheinungsweisen des Leibes bereit zu stellen. Das Schema hilft, die Pluralität der Erscheinungsweisen zu erfassen und sie einander zu zuordnen. Damit wird es möglich, Gedanken, Gefühle und auch die Erscheinungsweisen des Körpers in gleicher Weise zu berücksichtigen. In einem zweiten Schritt erst werden im sechsten Kapitel die zuvor gewonnenen Erkenntnisse auf die weitere, uns umgebende Wirklichkeit hin ausgeweitet. Es wird zu zeigen sein, dass bei dieser Ausweitung das regulative Schema des Chiasmus nur wenig modifiziert werden muss und keine qualitativ neuen Elemente braucht, um die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit zu erfassen. Es folgt eine kritische Analyse einiger heute verbreiteter Argumentationsschemata, die das Verhältnis von Bewusstsein und materieller Welt thematisieren wie die Unterscheidung zwischen der 1.-Person-Perspektive und der 3.-Person-Perspektive oder die Theorie der Emergenz. Besonderheiten einer sich so erschließenden Wirklichkeit werden beschrieben durch Anmerkungen zur Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Atmosphäre oder in Bemerkungen zu Raum und Zeit. Doch wie kann man verhindern, wenn man bei dem eigenen Leib beginnt und von dort die Wirklichkeit erschließt, dass man nicht zugleich den eigenen Standort absolut setzt, so dass allein das, was sich gerade zeigt, bestimmt, was wirklich ist? Denn es ist doch zum Beispiel sehr offensichtlich, dass unsere leibliche Existenz keine Insel ist, sondern durch und durch biographisch, kulturell, sozial und geschichtlich geprägt. Der Leib, wie er uns erscheint, ist nur eine Momentaufnahme in einer Entwicklung, die unser Leben bestimmt und die auch in die Geschichte der Kultur, der wir angehören, eingeordnet werden muss. Der Ort des Erkennens wäre also unzureichend bestimmt, wenn man sich allein auf das beziehen würde, was sich gerade zeigt, ohne es durch seine soziale, kulturelle und geschichtliche Genese zu relativieren. Im siebten Kapitel werden wir uns dazu der sozialphilosophischen Theorie von George Herbert Mead zuwenden. Sein Ansatz verhilft uns zu einer Aufnahme sozialer Einflüsse, biographischer und soziokultureller Entwicklungen, ohne dass wir dadurch unsere Verankerung in der Wirklichkeit, den leiblich bestimmten Ort des Erkennens verlassen müssten. Wir können über die Begrifflichkeit, die Mead für eine Fundamentalanalyse des Sozialen ausgearbeitet hat, die soziale Dimension unserer leiblichen Existenz erschließen. Unser Standpunkt erweist sich so als 30 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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ein relativer Ausgangspunkt innerhalb unserer eigenen biographischen und innerhalb der soziokulturellen Entwicklung, der wir zugehören. Die Kapitel fünf bis sieben verstehen sich als systematisch geschlossener Vorschlag zu einem konsistenten Ansatz eines phänomenologischen Realismus, die die Bedingungen unserer leiblichen Existenz von Beginn an berücksichtigt. Ein solcher Ansatz muss einerseits nach der Kohärenz der Argumentation beurteilt werden, zum anderen aber auch nach seiner Fruchtbarkeit zur Erschließung neuer Erkenntnisse und Perspektiven. Letzteres kann hier nur in Andeutungen und skizzenhaft geschehen unter Bezug auf zwei Fragestellungen, die im dritten Teil als Vertiefungen diskutiert werden sollen. Welches Verständnis von Wahrheit ergibt sich aus einem solchermaßen begründeten phänomenologischen Realismus? Es ist ja offenkundig, dass ein Erkennen, dass sich in dem zu Betrachtenden lokalisiert, nicht mit der klassischen Wahrheitsdefinition von »adaequatio intellectus et rei«, also der Übereinstimmung zweier getrennter Bereiche von Beschreibung und Sache arbeiten kann. Im achten Kapitel werden wir uns auf die Theorie von Hilary Putnam beziehen, die er in einigen Schriften als internal realism vertreten hat. Dieser Ansatz ist bestimmt durch die Einsicht, dass zur hinreichenden Bestimmung der Bedeutung eines Begriffes die Sache, auf die der Begriff verweisen will, notwendig hinzu gehören muss. Dementsprechend kann Wahrheit nicht mehr als die Qualität einer Beziehung zwischen zwei getrennten Bereichen verstanden werden. Ausgehend von dem Schema des Chiasmus stellt sich die Frage, ob in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Wirklichkeit, ohne der Gefahr eines Relativismus zu erliegen, unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit zum Tragen kommen. Hier soll der Vorschlag gemacht werden, Wahrheit sowohl als Kohärenz, als Bewährung wie auch als Wahrhaftigkeit zu fassen. Die zweite Fragestellung, bei der die Fruchtbarkeit des Ansatzes geprüft werden soll, ist die Frage nach Ausrichtung und Gestaltung der wissenschaftlichen Forschung in unserer Kultur. Das soll in mehreren Schritten geschehen. Im neunten Kapitel werden wir die mittlere Region des Schemas des Chiasmus neu interpretieren als einen elementaren Bestandteil der Lebenswelt. Auch unter den schon beschriebenen Bedingungen der wissenschaftlich-technisch formierten Leonardo-Welt kann die Lebenswelt als Ressource für Sinnerfahrungen, für die Haltung der Wahrhaftigkeit und für Wertorientierungen fungieren. Aber es entsteht die weitergehende Frage, wie diese lebensweltlich 31 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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verbürgten Zugänge mit der abstrahierenden Form des wissenschaftlichen Erkennens in Beziehung gesetzt werden können. Das zehnte Kapitel macht einige Anmerkungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Ohne Zweifel haben wir viele Erkenntnisse über die Wirklichkeit der wissenschaftlichen Forschung zu verdanken. Der Fortgang der Wissenschaften lässt sich im Rahmen des phänomenologischen Realismus als sukzessive Ausweitung unseres Umgangs mit der Wirklichkeit deuten. Durch die Überwindung traditioneller metaphysischer Unterscheidungen leisten die Wissenschaften einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Aufklärung. Wissenschaften sind aber in erster Linie durch ihre Methoden definiert. Einer offenen Wirklichkeit, deren Erscheinungsformen nicht auf die von Ordnungen fixiert oder reduziert werden können, wird am ehesten eine Forschung gerecht, in der die Methoden ihrerseits nicht fixiert sind, sondern immer wieder neu variiert werden. Am Ende dieses Kapitels muss allerdings ein Blick auf die augenblickliche Situation wissenschaftlichen Forschens gerichtet werden. Auch wissenschaftliche Forschung unterliegt den Bedingungen der Leonardo-Welt. Dies schafft aber Einschränkungen und eine Konzentration auf das Machbare, die die innovative Kraft der Wissenschaften zu schwächen drohen. Das folgende Kapitel fragt danach, wie die methodisch abstrahierende Wissenschaft mit den lebensweltlichen Bezügen verbunden werden kann. Die Klage einer Entfernung der Wissenschaften von der Lebenswelt ist schon seit vielen Jahrzehnten präsent und auch berechtigt. Die Wissenschaften müssen durch ihre spezifizierte Methodik bestimmte Erscheinungsweisen der Wirklichkeit vernachlässigen. Deshalb ist der Appell einer direkten Anbindung des wissenschaftlichen Erkennens an die Lebenswelt kaum hilfreich. Die vermittelnden kulturellen Kräfte müssen gestärkt werden, die in der Lage sind, Lebenswelt und Wissenschaften miteinander in Kontakt zu bringen. Dies weist auf den großen Bereich der Kultur. Der Physiker Werner Heisenberg bietet mit dem Text »Ordnung der Wirklichkeit« einen Entwurf, der kulturelle und wissenschaftliche Deutungen der Wirklichkeit konzeptionell verbinden will. Am Ende steht deshalb ein Aufruf zu einer Kultur der Offenheit und Achtsamkeit, die die wissenschaftliche Forschung mit unserer Lebenswelt in einem lebendigen Austausch zu halten in der Lage ist. Der kurze Überblick über den vor uns liegenden Weg zeigt, dass wir auf begrenztem Raum viele Themen nur kurz und knapp darstellen kön32 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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nen. Manches müsste eingehender behandelt werden. Im Zentrum des Buches steht der Vorschlag für einen phänomenologischen Realismus, ein »Realismus«, der die Offenheit der Wirklichkeit und unserer leiblichen Existenz darzustellen in der Lage ist. Dadurch soll deutlich werden, wie rätselhaft nach wie vor unsere Wirklichkeit ist und dass wir in den wirklich großen Fragen nur dann weiter kommen, wenn wir bereit sind, nicht nur auf die »großen Fragen« zu achten, sondern auch auf die kleinen Antworten aufmerksam und für diese achtsamer zu werden.

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I. Hinführung 2. Der Aufbruch in das naturwissenschaftliche Zeitalter: der dualistische Ansatz von René Descartes Der Blick von außen auf die Wirklichkeit, der in unserer gegenwärtigen Kultur so dominant ist, der scheinbar objektive und damit ortlose Blick, ist eng mit ihren Erfolgen und zugleich auch mit ihren Versäumnissen verknüpft. Europas Aufbruch im 17. Jahrhundert hat den Kontinent zu ungeahnten Erfolgen geführt, hat zugleich aber auch vorher nicht denkmögliche Gefährdungen hervorgebracht, wie man an der militärischen Nutzung der Atomenergie oder auch an der ökologischen Frage sehen kann. Was hier dargestellt werden soll, ist eine kurze Skizzierung einer der Ursprünge der von Naturwissenschaft und Technik geprägten Sicht auf die Wirklichkeit. Es soll gezeigt werden, dass diese Sicht von einer revolutionären Innovation abgeleitet werden kann, die die Fähigkeit des Menschen, die Welt zu verstehen, in der er lebt, enorm erweitert hat. Die Innovation ist weiterhin eng verknüpft mit so manchen Segnungen der Aufklärung. Es scheint folgerichtig, dass Adorno und Horkheimer, als sie sich gegen die Herrschaft der technischen Rationalität wendeten, dies nicht von einer Kritik an der Aufklärung selbst trennen konnten: »Der Mythos geht in Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität.« 1 Aufklärung und Fortschritte beim Erkennen der Wirklichkeit sind in hohem Maße dialektisch, die Frage ist allerdings, ob eine solche Fundamentalkritik, die bei den genannten Autoren zu Tage tritt und die schon mit einer Kritik der griechischen Mythologie beginnt, unausweichlich ist. Unser Ziel ist es, einen Weg zu suchen, in dessen Folge die hoch ambivalenten Charakteristika unserer Kultur nicht wie in manchen ökologischen Diskussionen als Folgen einer Verirrung verstanden werden müssen, sondern als Teil einer gefährdeten, aber nach wie vor offenen und zukunftsorientierten Entwicklung gesehen werden können. Fundamentale kulturelle Entwicklungen wie das Aufkommen der 1

Horkheimer/Adorno 1986: 15.

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Naturwissenschaften und eine veränderte Sicht auf die Wirklichkeit hängen nicht an einem einzigen und auch nicht allein an wenigen herausragenden Theorien. Auch darf man, wenn man auf die Veränderungen achtet, sie nicht zu dramatischen Zäsuren stilisieren. Ein genauerer Blick auf historische kulturelle Wandlungen zeigt in der Regel auch Kontinuitäten, sukzessive Übergänge und Ungleichzeitigkeiten. 2 Dies gilt auch für den Epochenwechsel zur naturwissenschaftlich bestimmten Neuzeit. Schon im Spätmittelalter sind neue Ansätze der Naturforschung und ein Vielzahl von technischen Innovationen nachweisbar. 3 Und die neuzeitlichen Forscher teilten noch viele Vermutungen und Anschauungen mit ihren mittelalterlichen oder alchemistischen Vorgängern. 4 Es ist instruktiv, bei derart tief greifenden Veränderungen wie dem Entstehen der modernen Naturwissenschaften nicht nur auf einen zentralen Gedanken zu achten, sondern die unterschiedlichen, aber zeitgleichen Suchbewegungen wie auch die sukzessiven Entwicklungen in den Blick zu nehmen. So hebt Daston die zeitliche und semantische Unterscheidung des Entstehens und der Verwendung dreier zentraler Begriffe der wissenschaftlichen Rationalität hervor: Tatsachen, Evidenz und Objektivität. 5 Wenn man also die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft beschreiben will, wird man mit einer Vielzahl von Einflussgrößen und wechselseitigen Abhängigkeiten zu rechnen haben. Die naturwissenschaftliche Rationalität ist kein monolithischer Block, vielmehr ist sie Teil einer historischen kulturellen Entwicklung. Daraus folgt im Übrigen auch: Sie ist nicht abgeschlossen, auch heute findet ein unausgesetzter Wandel in sehr unterschiedlichen Elementen statt! 6 Trotz aller Komplexität und Vielzahl der Faktoren, die den Wandel im 17. Jahrhundert bestimmt haben, sind entscheidende Impulse zu Dies zeigte ja schon die Diskussion um die Renaissance-These von Jacob Burckhardt, vgl. Flasch 1986: 563 ff. 3 Vgl. a. a. O.: 482 ff. 4 So hat etwa Newton mit großem Einsatz sich am Ende des 17. Jahrhunderts noch mit der Alchemie befasst: »The Newtonian papers contain a very large number (there are well over a million words) written in his distinctive hand, that are devoted to alchemy.« Cohen/Westfall 1995: 299. 5 Vgl. Daston 2003: 14. 6 So »(…) lässt sich direkt folgern, dass die Geschichte der Rationalität noch weiter im Gange ist.« Daston 2003: 11; vgl. in diesem Sinne auch Schnädelbach, 2007: 14: »es handelt sich offenbar um ein offenes Konzept, das keine abschließende Systematisierung erlaubt.« 2

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den Veränderungen in den Arbeiten einiger Philosophen exemplarisch und paradigmatisch dokumentiert worden. Für die Veränderungen im 17. Jahrhundert ist René Descartes bei der Frage nach der naturwissenschaftlichen Rationalität wie kaum ein anderer als innovativer Denker anzusehen. Das ist sein Ruhm, aber zugleich auch sein Elend. Denn kein anderer Philosoph musste so oft für die negativen Seiten unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation herhalten. Ihm wurde die Naturferne, die gefühllose Ausnutzung der Natur, die Distanzierung des Menschen von seiner Umwelt vorgeworfen, die Instrumentalisierung aller Dinge und Lebewesen. Die Kritik hat ohne Zweifel einen wahren Kern, doch macht sie es sich zu einfach, wenn sie allein die negativen Seiten bei Descartes ablädt und die positiven Seiten der Entwicklung stillschweigend übergeht.

1.

Galilei Galileo und Francis Bacon

In nur wenigen Sätzen möchte ich, bevor Descartes in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden soll, zumindest zwei weitere Zeitgenossen Descartes’ erwähnen: Galileo Galilei und Francis Bacon. In manch wichtigen Innovationen zeigt sich bei ihnen eine sehr ähnliche und geistesverwandte Deutung der Welt, ein Hinweis darauf, dass das beginnende 17. Jahrhundert sowohl in Frankreich als auch in England und in Italien (und Kepler hinzunehmend auch in Deutschland) in einem gemeinsamen Aufbruch war. Galilei und Bacon haben, wie viele andere Zeitgenossen des frühen 17. Jahrhunderts für ein neues Verständnis der Welt gekämpft und sich gegen die überkommenen, vor allem kirchlich bestimmten Traditionen gewehrt. Auch wenn man vorsichtig sein sollte, ihre Ansätze zu schnell zu vereinheitlichen und aus den Einzelentwürfen im Nachhinein eine geschlossene Bewegung zu machen, haben ihre Schriften dennoch erkennbar eine gemeinsame Stoßrichtung. Sie alle haben mit einer polemischen Haltung gegenüber den traditionellen philosophischen Lehren eine systematische Naturforschung und eine Nutzung dieses Wissens durch die Technik befördern wollen. Beide haben ihr Interesse dabei nicht nur auf theoretische Erkenntnisse gerichtet, sondern auch auf deren praktische Nutzung. Galileo Galilei hat sich wie kein anderer in polemischer Schärfe von den traditionellen Lehrmeinungen abgegrenzt. Es gibt seiner Ansicht nach zwei Sichtweisen, die neue und die alte, die kopernikanische 37 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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und die ptolemäische. Galilei hat den Streit der Anschauungsweisen in seiner Schrift »Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme – das ptolemäische und das kopernikanische« als einen Streit zwischen einem klugen Protagonisten, Salviati, und einem eher beschränkten Verteidiger der alten Lehre, Simplicio, inszeniert. 7 Simplicio fällt die Aufgabe zu, das alte System und die Lehren des Aristoteles zu verteidigen. Natürlich gelingt ihm das nicht. Galilei legt seinem alter ego Salviati in den Mund: »Aber Ihr werdet zuverlässig noch andere Neuigkeiten zu hören bekommen, Ihr werdet Beobachtungen, Versuche und Gründe zu hören bekommen, die von den Anhängern des neuen Systems gegen dieses selbe System (die Lehren des Aristoteles, FV) gerichtet worden sind und die viel größere Beweiskraft besitzen als die von Aristoteles, Ptolemäus und anderen Gegnern dieser Ansichten angeführten.« 8 Dem traditionellen Wissen aus Büchern stellt er das in Experimenten gewonnene Wissen aus dem Buch der Natur gegenüber. Beobachtungen werden nach Darstellung von Galilei dem angelesenem Wissen vorgezogen. 9 In der zentralen Frage der korrekten Beschreibung des Sonnensystems verlässt er sich auf Beobachtungen: »Simplicio: Woraus schließt Ihr aber, dass nicht die Erde, sondern die Sonne das Zentrum der Planetendrehungen ist? Salviati: Es ergibt sich dies aus ganz augenscheinlichen und darum durchaus beweisenden Beobachtungen.« 10 Doch nicht nur Beobachtungen, etwa mit dem zu Galileis Zeit neu erfundenen Teleskop, sind Grundlage seiner Theorie über die Natur. Galilei ist vor allem ein Mann der Praxis, der sich Apparaturen ersinnt, mit denen er Experimente durchführen kann. In der Suche nach neuen Hilfsmitteln und Instrumenten unterscheidet er sich nicht sehr von vielen anderen Erfindern der Renaissance. Allerdings geht er neue Wege in der Art und Weise, wie er Experimente gestaltet, wie er sie durchführt und auswertet. Das Experiment ist ein UnterscheiGalilei 1632. A. a. O.: 89. 9 Diese Selbstdarstellung muss man sehr kritisch beurteilen, wie Feyerabend überzeugend dargestellt hat. Tatsächlich steht hier nicht Buchwissen gegen Beobachtungswissen, sondern eine herkömmliche Interpretation von Beobachtungen gegen eine, so Feyerabend, neue und abstraktere Interpretation von Beobachtungen. Vgl. Feyerabend 1986: 105 ff. 10 Galilei 1632: 101. Feyerabend hat herausgearbeitet, wie viel des Erfolgs dieser einfachen Beobachtungsgabe auch von einer geschickten Überredungskunst Galileis bestimmt war. Vgl. Feyerabend 1986: 108. 7 8

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dungsmerkmal gegenüber der alten Lehre. So führt Galilei in dem späteren Dialog »Unterredungen« aus: »Salviati: (…) Zunächst zweifle ich sehr daran, dass Aristoteles je experimentell nachgesehen habe, ob zwei Steine, von denen der eine ein 10 mal so großes Gewicht hat, als der andere, wenn man sie in einem und demselben Augenblick fallen ließe, z. B. 100 Ellen hoch herab, so verschieden in ihrer Bewegung sein sollten, dass bei der Ankunft des größeren der kleinere erst 10 Ellen zurückgelegt hätte.« 11 Hier spielt die Fähigkeit eine große Rolle, die Experimente durch mathematische Formeln beschreiben zu können. Um mathematische Beschreibungen auf die Gegenstände der Wirklichkeit anwenden zu können, muss sich Galilei auf diejenigen Eigenschaften konzentrieren, die er messen kann. Er unterscheidet deshalb klar zwischen solchen Eigenschaften der Wirklichkeit, die für die Auswertung der Experimente wichtig und solchen Eigenschaften, die dafür irrelevant sind. Zu den letzteren gehören etwa Aussagen über Farben und Gerüche, all die Dinge, die nicht quantifizierbar sind. Andere Eigenschaften der Dinge dagegen haben eine Bedeutung für die mathematische Auswertung der Versuche, etwa das Gewicht, Streckenmaße, Geschwindigkeiten, ihnen kann man Zahlen zuordnen. Sie sind offen für den Königsweg der folgenden Entwicklung der Physik, für eine Darstellung physikalischer Vorgänge in mathematischen Gleichungen. Galilei wertet dementsprechend seine Versuche nicht durch eine qualitative Beschreibung aus, indem er die Dinge, die er beobachtet, in ihrer Individualität erfasst. Er sucht vielmehr nach mathematischen Gleichungen, die die messbaren Größen zueinander in Relation stellen. Dieses Vorgehen war bei der Betrachtung der Himmelskörper etwa zur Berechnung wichtiger kirchlicher Feiertage durchaus auch schon vorher üblich. 12 Aber die Beschreibung der sublunaren Vorgänge mit Hilfe von mathematischen Formeln war ungewöhnlich. Dieser Schritt der Interpretation der Beobachtung bedurfte notwendig einer Abstraktion. Die mathematischen Verhältnisse, die Beschreibung durch Zahlen, reduzieren die Dinge auf einige wenige Eigenschaften. Durch die Anwendung einer mathematischen Darstellung wird eine ältere Differenz in den Mittelpunkt gestellt, die für unsere Kultur sehr folgenreich werden sollte. 13 Es ist die Unterscheidung zwischen subjek11 12 13

Galilei 1638: 57. Vgl. Oberschelp 2009. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Husserls Krisis-Schrift, Husserl 1936 (1).

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tiven und objektiven Eigenschaften eines Dinges, zwischen primären und sekundären Qualitäten. Die Unterscheidung der Qualitäten war schon im Mittelalter bekannt, aber hier nun wird sie zur zentralen Grundlage für die Beschreibung der Wirklichkeit. Die Trennungslinie zwischen den verschiedenen Eigenschaften der Dinge der Wirklichkeit ist exakt bestimmt durch die Frage, ob eine Größe sich mathematisch darstellen lässt oder nicht, ob sie quantifizierbar ist oder nicht. Eigenschaften, die sich mathematisch nicht darstellen lassen, sind subjektiven Qualitäten, sie entziehen sich einer exakten Beschreibung, sie sind, so mutmaßt Galilei, vielleicht durch den Menschen verursacht: »Deshalb denke ich, dass Geschmack, Geruch, Farbe usw. hinsichtlich des Objekts, dem wir dies zuschreiben, nichts anderes als bloße Namen sind und ihren Sitz in unseren Sinneskörpern haben, ja dass all diese Qualitäten, wenn man die Lebewesen wegnimmt, ebenfalls beseitigt und vernichtet werden.« 14 Subjektive oder sekundäre Qualitäten werden in den kommenden Jahrhunderten für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wirklichkeit immer randständig bleiben, der Bereich des Messbaren dagegen wird sich immer weiter ausdehnen. Im 20. Jahrhundert schließlich wird die Behauptung aufgestellt, dass die sekundären Qualitäten ganz durch die Beschreibung primärer Qualitäten ersetzt werden können, Farbwahrnehmungen sind »nichts als« bestimmte messbare neuronale Aktivitäten. Subjektive Qualitäten sind im 17. Jahrhundert nicht genau bestimmbar, deshalb ist es für die naturwissenschaftlichen Innovatoren des 17. Jahrhunderts offenkundig, dass Menschen mit einem nüchternen Verstand sich nicht um sie bemühen sollten. Die Unterscheidung der Qualitäten wird bis heute im Alltag unterschiedlichen Bereichen zugeordnet. Das Sehen von Farben, das Hören von Klängen und das Riechen von Gerüchen gehören dem Subjekt zu, werden als subjektiv klassifiziert. »Subjektiv« meint dann, dass man die Eindrücke nicht verbindlich verallgemeinern kann, sie sind als Eindrücke nicht Teil der objektiven Wirklichkeit. Die Dinge, die die Wirklichkeit ausmachen, fungieren als Träger der Eindrücke (elektromagnetische Wellen, Schallwellen, chemische Verbindungen), ihnen allein kommen die objektiven Eigenschaften zu. Francis Bacon verstand sich ebenfalls ein Mann der Praxis und weniger der Theorie. Doch anders als Galilei war er auch ein Mann der politischen Praxis, in seinem Leben hat er es in die höchsten Stellen 14

Galilei zitiert nach: Bellone 2002: 80.

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des britischen Köngreiches geschafft, er wurde schließlich Lord Chancellor unter James I. Als vielfältig interessierter Zeitgenosse erlebt er den zunehmenden Einfluss der technischen und naturkundlichen Entdeckungen und sieht, welche Möglichkeiten mit ihnen verbunden sind. Deshalb ist es ihm wichtig, die neuen Wissenschaften zu befördern. Auch bei Bacon spielt die Beobachtung der Natur eine zentrale Rolle, auch hier ist die Beobachtung nicht nur passiv, sondern vor allem aktiv, der Mensch hat die Fähigkeit, in die Natur einzugreifen. 15 Doch war dieses Eingreifen vor seiner Zeit nicht systematisch durchgeführt worden und Bacon fordert deshalb mit Nachdruck eine wissenschaftliche, und das heißt methodisch kontrollierte Erforschung der Natur. 16 Diese wissenschaftliche Erforschung muss nach Bacon strikt induktiv angelegt werden. Einzelne Beobachtungen werden methodisch streng zu verallgemeinerten Gesetzen zusammengeführt. 17 Am Anfang hat die Einzelbeobachtung zu stehen, das Experiment, nicht eine vorgegebene allgemeine Meinung darüber, was die Natur im Innersten ausmacht. Nur dann, wenn man sich konsequent an die einzelnen, methodisch kontrollierten Beobachtungen hält und aus diesen Beobachtungen weitere Folgerungen ableitet, wächst auch das Vermögen, die Erkenntnisse für das eigene Handeln zu nutzen. All das, was sich aus den Einzelbeobachtungen nicht ableiten lässt, ist im Zweifel nutzlose Spekulation. In eine moderne Anschauung übertragen heißt das: Nur auf dem Labortisch kann man die Wirklichkeit verstehen lernen. Denn das Verstehen, das hier stattfindet, ist immer auch notwendig mit der Fähigkeit verknüpft, die Bedingungen des Naturvorgangs genau zu beschreiben. Bacon macht verschiedene Quellen für Irrtümer aus, vor denen man sich hüten muss. Illusionen haben vornehmlich vier Quellen: das eigene undurchschaubare menschliche Sein, der Glaube an eine Autorität und das individuelle Geprägtsein durch die Herkunft, die Dominanz 15 »Man is Nature’s agent and interpreter; he does and understands only as much as he has observed of the order of nature in fact or by inference; he does not know and cannot do more.« Bacon 1620: 33. 16 »Even the results which have been discovered already are due more to chance and experience than to sciences; for the sciences we now have are no more than elegant arrangements of things previously discovered, not methods of discovery or pointers to new results.« A. a. O.: 34. 17 Der rechte Weg, die Wahrheit zu finden »elicits axioms from sense and particulars, rising in a gradual and unbroken ascent to arrive at last the most general axioms; this is the true way, but it has been tried.« A. a. O.: 36.

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der gewohnten Sichtweise und die philosophischen Traditionen. Sie alle behindern eine unvoreingenommene Sichtweise der Dinge. 18 Bacon war immer an der Umsetzung von Ideen interessiert: In »New Atlantis« entwirft er sogar nach italienischem Vorbild ein »Forschungsinstitut«, in dem arbeitsteilig Experimente durchgeführt und ausgewertet werden. 19 Die kurzen Bemerkungen zu Galilei und Bacon zeigen schon, dass das Gemeinsame dieser Verfechter der Naturwissenschaften zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Erkenntnis und Bejahung der Fähigkeiten lag, sich mit der Natur auf eine neue, traditionsunabhängige Weise auseinander zu setzen. Es ist, als habe man mit einem Mal neue Möglichkeiten gewonnen, die Natur zu sehen und zu deuten. Die Natur gerät in Distanz zu dem Menschen und wird zu einem möglichen Objekt der Untersuchung und der Manipulation. Die neue Erkenntnis der Natur ist nicht eingebunden in ein metaphysisches Verständnis von der Wirklichkeit, wie dies im Mittelalter und auch noch in der Renaissance der Fall war. Insbesondere die Tradierung von antiken Lehren und Vorstellungen vom Aufbau der Welt wird von den Innovatoren abgelehnt. Die Philosophie der Antike ist nicht mehr Stütze und Garant für ein Verständnis der Wirklichkeit.

2.

René Descartes: Philosophie als Methode

René Descartes hat durch seine Schriften maßgeblich den weiteren Gang der Naturwissenschaften und der Naturphilosophie beeinflusst. Er wird auch deshalb hier ausführlicher dargestellt, weil er stärker als die anderen die philosophische Fundierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gesucht hat und dabei in seinem dualistischen Ansatz scheinbar die eigenständige Existenz des Bewusstseins nachweisen konnte. Nicht zuletzt deshalb hat er als ein stets präsenter imaginärer Gegner, aber auch Gesprächspartner in den Schriften von Maurice Merleau-Ponty fungiert. Deshalb sollen einige wichtige Gedanken Descartes’ in kurzer Form zusammenhängend dargestellt werden. Bei ihm ist der Kampf um eine Ablösung des alten Weltbildes durch ein neues besonders gut zu studieren. Descartes war nicht so polemisch 18 19

Vgl. a. a. O.: 40 ff. Vgl. Bacon 1627: 486 f.

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René Descartes: Philosophie als Methode

und streitlustig wie Galilei, nicht zuletzt auch, weil er etwas jünger als Galilei war und in jungen Jahren die Verurteilung von dessen Lehren erlebte. Sein Bemühen ist es, viel stärker als bei den zuvor Genannten, ein philosophisches System auf sicherem Fundament zu begründen, ein neuer Ansatz mit epochalen Folgen. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass sich viele Generationen von Philosophen an den Vorgaben von Descartes abgearbeitet haben und dass eigentlich bis heute Fragen, die durch ihn erstmals in aller Deutlichkeit aufgeworfen wurden, im Zentrum der philosophischen Debatte stehen. So ist zum Beispiel die Philosophie des Geistes, eine Richtung philosophischer Diskussion, die in den letzten Jahrzehnten vor allem in den USA und in Großbritannien geführt worden ist, durch eine zentrale Frage bestimmt, die erstmals von Descartes gestellt wurde: Wie soll man sich die Existenz von Bewusstsein in einer Welt voll materieller Dinge vorstellen können? 20 Hierauf werden wir noch näher eingehen, da die Frage nach dem Bewusstsein sich für die hier zu entwickelnde Darstellung der Wirklichkeit als zentral erweisen wird. Die leitende Frage von Descartes, die er an den Anfang seiner Untersuchungen stellt, lautet: Wie kann man sich des Wahrheitsgehaltes einer Aussage über die Wirklichkeit vergewissern? Er will sich nicht auf die Autorität traditioneller Lehren und Philosophien verlassen, sondern nimmt den gesunden Menschenverstand in Anspruch. Dies ist jedem möglich, da der gesunde Menschenverstand nach Descartes die bestverteilte Sache der Welt ist. 21 Die traditionellen Lehren scheinen dagegen voller Irrtümer zu sein. Dadurch entsteht für den gegenüber etwa Bacon oder Galilei stärker philosophisch argumentierenden Descartes das konzeptionelle Problem, wie er die zu erarbeitenden neuen Ansichten vor Irrtümern und Fehlschlüssen schützen kann. Das Vorbild der Mathematik ist besonders attraktiv, denn deren Regeln und Gesetze sind sicher und evident. 22 Die Vorstellung, man könne »more geometrico« vorgehen, also nach Art der Geometrie, einer der in der Zeit von Descartes am weitesten ausgearbeiteten Gebiete der Mathematik, leitet die Suche des Philosophen. Descartes forscht nicht nach hilfreichen Regeln für die Praxis oder partikularen Erkenntnissen, sondern nach der einen wahren Methode zur Erkenntnis der Wirklich20 21 22

Einen guten Überblick über die Debatte bieten Metzinger 2001 und Blackmore 2007. Vgl. Descartes 1637: 3. Vgl. a. a. O.: 13; 33.

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2. Der dualistische Ansatz von René Descartes

keit. 23 Es geht ihm um die Etablierung der einen sichere Erkenntnis gewinnenden und methodisch reflektierten Wissenschaft. 24 Die Annahme einer Pluralität von Wissenschaften, die jeweils für unterschiedliche Objektbereiche zuständig sind, lehnt Descartes ab. »Die Vorstellung, es könne unterschiedliche, je nach der Verschiedenheit der Objekte der einzelnen Wissenschaften voneinander abgesonderte Formen und Weisen des Urteilens geben, hält Descartes für falsch.« 25 In seiner berühmten Schrift, dem »Discours de la Méthode« fasst Descartes seine Forderung einer normativen Methode in vier Regeln zusammen, die auch das wiedergeben, was er ausführlicher und differenzierter in einer früheren Schrift erörtert hat. 26 Die erste Regel besagt, dass alle Urteile klar und deutlich einleuchten müssen, sie dürfen nicht auf Vermutungen oder Wahrscheinlichkeitsaussagen beruhen. Die zweite Regel fordert, dass ein Problem, so gut es geht, in Teilprobleme zu zerlegen ist, damit diese einzeln untersucht werden können. Die Analyse, die Zerlegung eines komplexen Problems in einzelne, leichter zu lösenden Teile hat eine zentrale Bedeutung für seine Methode. Die dritte Regel schließt daran an, indem man mit den einfachen Teilproblemen beginnen müsse und die Lösung der komplexeren Probleme sich durch Zusammensetzung der Teillösungen ergibt. Schließlich soll man dann viertens allgemeine Übersichten der Lösungen anfertigen, um einen Überblick zu behalten und die Lösungen in ein konsistentes Ganzes zu integrieren. Den Wert und Gebrauch der Regeln, die Descartes aufstellt, behauptet er nicht nur im Rahmen einer allgemeinen Erkenntnistheorie. Er wendet sie auch auf spezifisch naturwissenschaftliche und medizinische Probleme an, er widmet sich vielen offenen Fragen im Detail und veröffentlicht seine Forschungserkenntnisse in mehreren Schriften. In diesen Untersuchungen versucht er zugleich den Wert seines methodischen Vorgehens, seine Überlegenheit gegenüber alten Vorschlägen des Verständnisses zu belegen. Er veröffentlicht Untersuchungen zu so unterschiedlichen Bereichen wie dem menschlichen Körper, der Optik, der Geometrie, der Meteoritenkunde oder dem Licht. Besonders einflussreich sind seine Innovationen auf dem Gebiet 23 24 25 26

Vgl. a. a. O.: 29. Ausführlich dargestellt in Descartes 1628. Prechtl 2000: 36. Vgl. Descartes 1637: 31 ff.

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Der Weg des Zweifels

der Mathematik, insbesondere der Geometrie, da er eine quantifizierende Methode in diesen Bereich einführt. Das geradlinige orthogonale Koordinatensystem trägt bis heute den Namen kartesisches Koordinatensystem.

3.

Der Weg des Zweifels

Nun ist aber die Entwicklung einer normativen Methode für die wissenschaftliche Betätigung nicht genug, um dem Anspruch Descartes’ zu genügen. Er stellt die weitergehende Frage nach einem Fundament für wahre Erkenntnis, nach einer unerschütterbaren Begründung. Denn die Methode kann helfen, zu wahren Schlüssen zu kommen, aber nur dann, wenn die Prämissen schon als wahr eingesehen sind. Descartes Anspruch zur Begründung einer wahren Welterkenntnis ist also radikaler, fordert nicht nur ein methodisch richtiges Vorgehen, sondern sucht auch nach letzten Prinzipien. 27 Wenn die Voraussetzungen für eine Erkenntnis, von denen man ausgeht, nicht stimmen, helfen auch die folgerichtigsten Regeln nicht, der Fehler lässt die ganze Theorie einstürzen. Welche Annahmen also soll man zugrunde legen, damit die folgende wissenschaftliche Analyse es unzweifelhaft mit wahren Aussagen zu tun hat? Descartes teilt mit seinen Zeitgenossen eine Abneigung gegen die Voraussetzungen der aristotelisch bestimmten Tradition der Naturforschung.28 Weil er gegenüber traditionellen Aussagen über die Wirklichkeit skeptisch ist, kann er sich auf keine der Traditionen verlassen, er muss sozusagen einen Anfangspunkt finden, von dem er ausgehen kann, der seinerseits nicht in Zweifel zu ziehen ist. Deshalb bemüht er sich, ein »fundamentum inconcussum«, ein unerschütterliches Fundament zu finden, von dem aus er dann eine wissenschaftliche Sicht von der Welt entwickeln kann. Descartes beantwortet die Frage nach einer Fundierung der Erkenntnis mit jener folgenreichen Unterscheidung von Bewusstsein auf der einen Seite und ausgedehnter, materieller Welt auf der anderen Seite, die das Denken der Neuzeit maßgeblich beeinflusst hat. Zunächst beginnt Descartes seinen methodischen Weg nicht mit einem Zweifel an diesem oder jenem, sondern mit einem systemati27 28

Vgl. Descartes 1641: 31. Vgl. Perler 2006: 14; 89 ff.

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schen Zweifel an allem, was sich nicht gemäß seiner ersten Regel unmittelbar als evident und einleuchtend erweist. Er hinterfragt dabei die zu seiner Zeit gängigen Annahmen über die Wirklichkeit. All jene Aussagen, die auch auf einem Irrtum beruhen könnten, die bezweifelbar sind, scheidet er aus. Er verlässt sich auf diesem Suchweg allein auf seinen Verstand, der ihm hilft, die kritischen Fragen zu stellen und die Antworten darauf hin zu prüfen, ob sie notwendigerweise einleuchten. Die erste skeptische Vermutung, die am Anfang des Weges steht, ist, dass unsere Vorstellung von der Welt voller Irrtümer steckt. Denn immer wieder müssen wir feststellen, dass wir uns täuschen. Anhand dieser Irrtümer kann man sehen, dass der Mensch trotz der weisen Fügung Gottes nicht ganz so makellos ist. Woher können Irrtümer stammen, was können Quellen für Irrtümer sein? Descartes führt die eigentliche Quelle des Irrtums auf ein Missverhältnis zwischen dem eingeschränkten Geltungsbereich des Verstandes und dem Willen des Menschen zurück, umfassende Schlüsse daraus ziehen zu wollen. 29 Zu den Bereichen, in denen der Verstand nur mit Vorsicht Schlüsse ziehen sollte, gehören in erster Linie die sinnlichen Wahrnehmungen. Optische Täuschungen etwa sind jedem schon einmal begegnet, also zeigt sich, dass man sich auf Eindrücke des Sehens nicht verlassen kann. Doch nicht nur die einzelnen Sinne können täuschen. Auch Träume können Irrtümer hervorrufen. Zum Beispiel kann man den Eindruck haben, sich in einem Traum in einer Situation zu befinden, die gar nicht existiert. Im Traum kann man aber nicht erkennen, dass man träumt, also kann man auch in der Situation des Zweifels mit Sicherheit annehmen, dass man nicht träumt. Das Traum-Argument weitet Descartes noch durch die Vorstellung eines bösen Geistes aus, der die Welt, in der wir leben und die wir zu kennen meinen, teilweise oder ganz vortäuscht. 30 Dieses Argument begegnet übrigens in den aktuellen Debatten in einer modernen Form: Es ist die Vorstellung eines verrückten Wissenschaftlers, der ein Gehirn in einer Nährlösung hält und ihm über elektrische Reizungen eine vollständige Existenz vorgaukelt. 31 Man sieht hier wie auch an anderen Stellen die bleibende Modernität der Fragen des Descartes. Vgl. Descartes 1641: 111. Vgl. Descartes 1641: 39. 31 Bei Putnam hat das Argument die Form »The brain in the vat«, (Gehirn im Tank), vgl. Putnam, 1990, 21 ff. 29 30

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Der Zweifel gewinnt auf diese Weise eine eigentümliche Radikalität. Offensichtlich gibt es nichts in der Wirklichkeit, das sich einem so umfassenden Zweifel entziehen kann. Es gibt nach Descartes in der Tat nichts, was dem Zweifel nicht unterliegt – allein der Zweifel selbst kann nicht gut bezweifelt werden. Der Zweifel ist aber eine Tätigkeit unseres Verstandes und deshalb gilt: An der Tätigkeit des Verstandes kann ich nicht zweifeln. Diese Erkenntnis stellt den Endpunkt des radikalen Zweifelns dar. An seinem Ende steht die berühmte Entdeckung »ego cogito, ergo sum« 32 , »Ich denke, also bin ich«. Descartes hat diese berühmte Formel auch in anderen Varianten ausgedrückt »ego cogito, ergo existo« 33 , deren Kern aber gleich bleibt: Der Akt des Zweifelns ist als Akt des Denkens unbezweifelbar. Damit wird in der philosophischen Suchbewegung von Descartes das Denken in einer bis dahin nicht da gewesenen Weise ausgezeichnet. Das Denken allein ist es, das nicht von mir, also von demjenigen, der zweifelt, getrennt werden kann. 34 Ja, das Denken kann mit dem Ich selbst identifiziert werden: Das Ich zeichnet sich dadurch aus, dass es denkt. 35 Mit dieser Auszeichnung des Denkens vollzieht Descartes gleichzeitig an dem menschlichen Leib eine scharfe Zäsur: Die menschliche Existenz wird gespalten in einen Bereich, mit dem sich das Ich identifiziert, das Denken, und einen Bereich, zu dem das Ich in einem näher zu bestimmenden Verhältnis steht, den Körper. Es gilt, dass das Ich »völlig verschieden ist vom Körper« 36 . Doch widerspricht diese Trennung nicht unserer Intuition, nicht unserem Gefühl, auch körperlich in der Welt zu sein? Descartes selbst stellt sich diesen Einwänden und versucht sie anhand der Betrachtung eines Stückes Wachs zu entkräften. Zunächst vollzieht er hier ebenfalls die Unterscheidung, die wir schon von Galilei kennen: Er sondert sekundäre Qualitäten des Wachses von den primären. Sekundäre Qualitäten sind solche, die keine Beständigkeit haben, wie etwa Form, Farbe und Geruch. Diese können sich nämlich etwa durch ein Schmelzen im Feuer verändern. Nicht die körperbezogenen Sinne können also ein verlässliches Urteil bilden. Allein das Denken hilft dazu und dies erkennt in dem Wachs eine ausgedehnte

32 33 34 35 36

Descartes 1644: 14; Decartes, 1637: 54: »Je pense, donc je suis«. Descartes 1641: 44. Vgl. Descartes 1641: 47. Vgl. Descartes, 1637: 55. Ibid.

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Masse. Das Denken, der Verstand kann auf diese Weise allein als Basis für sichere Erkenntnis gelten. Diese Basis gilt nicht nur für die Gewissheit in der Betrachtung des Denkens selbst, sondern auch für die Erkenntnis der ausgedehnten Dinge. 37 Die Erkenntnis des eigenen, in seiner Existenz unbezweifelbaren Denkens bildet den archimedischen Punkt, von dem aus Descartes die Welt erneut in den Blick nehmen und sie jetzt unter anderen Prämissen neu erschließt. Wenn sein Gedankengang bis zu diesem Punkt davon bestimmt ist, einen unbezweifelbaren Ausgangspunkt zu finden, so macht er sich nun, ausgehend von dem ego cogito auf den Rückweg. Er stellt in einem ersten Schritt fest, dass es nur Vorstellungen in seinem Denken geben kann, deren Verlässlichkeit nicht größer sein darf, als das, was das Denken selbst bereitstellt. Gibt es aber eine Vorstellung die vollkommener ist als die Inhalte des Denkens selbst, dann kann diese Vorstellung nicht aus dem Denken stammen. Wenn es aber etwas gibt, das nicht aus dem Denken stammt, dann folgt daraus auch, dass er, Descartes, nicht allein in der Welt ist. Denn es gibt etwas, das das Denken sich vorstellen kann, das vollkommener als es selbst ist, nämlich die Vorstellung von Gott. Gott ist unendlich, der denkende Mensch dagegen endlich. »Unter dem Namen ›Gott‹ verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, allwissend und allmächtig ist.« 38 Im Gegenüber zu Gott besinnt sich Descartes auf die menschliche Begrenztheit, auf die Endlichkeit des Lebens und auf seine Abhängigkeit von einer Geburt. Allerdings ist diese Endlichkeit nicht von der Art, dass sie sich auf das Erkennen auswirkt: »Was schließlich die Eltern angeht (…) im Dasein erhalten sie mich wahrhaftig nicht, noch haben sie mich, soweit ich ein denkendes Wesen bin, irgendwie erzeugt«. 39 Diese Behauptung lässt sich scheinbar zwanglos aus der Grundlage jeder sicheren Erkenntnis ableiten, aus dem eigenen Denken. Das Denken ist in gewisser Weise herkunftslos, es lässt sich nicht auf die Bedingungen zwischen Geburt und Tod beziehen. Weil der Mensch allerdings auch in dem Denken ein endliches Wesen bleibt, kann er den Gedanken Gottes nicht aus sich selbst geschöpft haben. 40 Indem Descartes die Differenz von Endlichkeit und Unendlichkeit als Gott-Mensch Differenz be37 38 39 40

Vgl. Descartes, 1641: 55. A. a. O.: 83. A. a. O.: 93. Vgl. a. a. O.: 83.

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schreibt, nutzt er ein klassisches theologisches Argument. Doch führt diese metaphysische Bestimmung der Endlichkeit des Menschen im Gegenüber zu Gott nicht zu einer weiteren Einsicht in die Bedingungen des endlichen Erkennens, es dient allein einem indirekten Gottesbeweis. Ist nun der Schritt zum Beweis der Existenz Gottes getan, kann in einem weiteren Schritt auch die Existenz der ausgedehnten Welt durch abgesicherte Schlussfolgerungen beschrieben werden. Man kann sich der materiellen Dinge der Welt nur allein dadurch gewiss werden, dass man erkennt: Gott, von dem wir ja notwendig eine angeborene Vorstellung haben, kann kein Betrüger sein. 41 Damit ist der Weg frei, all jene Dinge, die zuvor dem methodischen Zweifel unterlagen, nun aus den gesicherten Erkenntnissen der Existenz Gottes und des ego-cogito abzuleiten. Descartes muss dazu allerdings bei der Beschreibung der Welt der ausgedehnten Körper Eigenschaften, die klar und eindeutig erkannt werden können von solchen unterscheiden, die unklar und verworren sind. 42 Es ist mit Blick auf die Unterscheidungen Galileis und der Descartes’schen Hochschätzung für die Mathematik nicht überraschend, dass er die quantifizierbaren Eigenschaften, also solche, die man in mathematischen Termini ausdrücken kann, für klar und einleuchtend einschätzt, also Größe, Gestalt, Lage, Bewegung und Dauer. Die sinnliche Erfahrung ist ihm jetzt lediglich eine Quelle von Irrtümern und Täuschungen.

4.

Der Substanzdualismus

Das Denken wie auch die ausgedehnten Dinge haben sich auf diesem Weg der Erkenntnissicherung als zwei grundlegend unterschiedliche Formen der Wirklichkeit gezeigt. Sie sind für sich bestehende Substanz: res cogitans und res extensa. 43 Die Wirklichkeit ist damit nach Descartes aus zwei klar zu unterscheidenden Substanzen aufgebaut, der Substanz des Denkens und der Substanz der ausgedehnten Dinge. Was auch immer in der Welt existiert, es muss aus einer der beiden Substanzen bestehen. Aufgrund der kategorialen Differenz zwischen 41 42 43

Vgl. Descartes 1641: 99. Vgl. a. a. O.: 115. Vgl. zum Beispiel a. a. O.: 80.

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beiden gilt auch: Eine Mischung der Substanzen ist nicht vorstellbar. Wie sollte etwas zugleich Gedanke sein, also auch Eigenschaften haben wie Raumlosigkeit und doch zugleich zu den ausgedehnten Dingen gerechnet werden können, also zu der res extensa? Die beiden Bereiche stehen sich übergangslos gegenüber. Doch Descartes kann es nicht bei dieser einfachen Unterscheidung belassen. Denn es ist ja offenkundig, dass es eine wechselseitigen Beziehung gibt: Das Denken kann die Bewegungen des Körpers bestimmen, die Wahrnehmungen der Sinne wiederum können das Denken anregen. Als Erforscher der menschlichen Anatomie macht er sich auf die Suche, ob nicht doch ein Ort zu identifizieren ist, der einen Übergang ermöglicht. Nun gibt es eine bestimmte Struktur im menschlichen Gehirn, die schon im Altertum als eine ausgezeichnete Region identifiziert wurde, da sie anders als die meisten anderen Areale des Gehirns aufgrund der Symmetrie nicht in einer doppelten Form auftaucht, sondern, in der Mittelachse gelegen, nur einmal, die Zirbeldrüse, ein Teil des Zwischenhirns. Nach Descartes ist diese Stelle besonders ausgezeichnet, das Denken der Seele mit den Bewegungen des Körpers zu verbinden. 44 Ist also diese Struktur des neuronalen Gewebes für Descartes der Ort der Erkenntnis? Nein, die Zirbeldrüse ist nicht der Ort des Erkennens, sondern nur ein Mechanismus, um den imaginären Ort des Erkennens, nämlich die res cogitans, mit den ausgedehnten Dingen, der res extensa zu verbinden. Sie selbst nimmt keinen erkennbaren Einfluss auf das Geschehen des Erkennens. Diese Struktur ist lediglich eine neutrale Schleuse, durch die »Informationen« von der einen Substanz zur jeweils anderen geleitet werden. Allerdings schwanken die Aussagen von Descartes bei der entscheidenden Frage, wie die beiden Substanzen miteinander verbunden sind. Hier deutet sich ein fundamentales Problem an, das durch die scharfe kategoriale Trennung der Substanzen entsteht. Es ist offenkundig, dass das Bestreben, klar und eindeutig zu erkennen, Descartes diese Trennung der Substanzen fordern lässt. Von dieser Annahme könnte er nur um den Preis abweichen, dass er die Absicherung der Erkenntnis aufs Spiel setzt. Deshalb bleibt bei allen folgenden Überlegungen die kategoriale Trennung unangefochten. Doch an einer Stelle innerhalb der »Meditationes de prima philosophia« kann Descartes zugeben, dass die radikale Trennung einige Probleme aufwirft: »Ferner lehrt mich die 44

Vgl. Descartes 1649: 57.

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Natur durch jene Schmerz-, Hunger-, Durstempfindungen usw., dass ich meinem Körper nicht nur wie ein Schiffer seinem Fahrzeug gegenwärtig bin, sondern dass ich ganz eng mit ihm verbunden und gleichsam vermischt bin, so dass ich mit ihm eine Einheit bilde.« 45 Das Verhältnis zum eigenen Körper ist also viel inniger, als es der Ansatz des Substanzdualismus eigentlich zulassen kann. Gerade die durch Gefühle und Empfindungen signalisierte innige Verbundenheit mit dem eigenen Körper widerspricht jener grundsätzlichen Differenz zu der eigenen Identität, die durch das cogito identifiziert worden ist. »(…) ich rede allein von dem, was Gott mir verliehen hat als einem Ganzen aus Geist und Körper.« 46 Doch ist dieses Ganze nicht relevant, wenn es um die Erkenntnis der Wahrheit geht. Bezogen auf die äußeren Dinge sagt er wenige Zeilen später »(…) denn die Wahrheit darüber zu wissen, das geht, wie es scheint, nur den Geist, nicht das Ganze an.« 47 Auch wenn Descartes selbst manchmal unsicher scheint, wie man die Verbindung der beiden Substanzen zu denken habe, so ist doch sein philosophischer Erkenntnisweg eindeutig von jener Zweiteilung beherrscht. Die Probleme und Fragen, die sich durch die kategoriale Zweiteilung ergeben sind so gravierend und, was die Rolle des Körpers angeht, kontraintuitiv, dass sich Descartes auch später immer wieder dem Thema gewidmet hat. In der Schrift »Die Leidenschaften der Seele« beginnt er zunächst wieder mit klaren und radikalen Unterscheidungen zwischen dem Körper und der Seele. Diese Unterscheidung erst verhindere die vielen Irrtümer der überkommenen philosophischen Anschauungen, die Descartes nur summarisch nennt. Die Unterscheidung setzt, »dass alles, von dem wir erfahren, dass es in uns ist und das wir ansehen, als könne es auch in vollkommen unbelebten Körpern enthalten sein, nur unserem Körper zuteil werden kann. Im Gegenteil aber, dass alles, was in uns ist und von dem wir in keiner Weise begreifen können, dass es einem Körper zukommen kann, unserer Seele zugeteilt werden muss.« 48 Eine Unterscheidung ist, wie wir später sehen werden, gut begründet, falsch scheint es jedoch zu sein, aus der Unterscheidung getrennte Substanzen zu folgern. Dies schafft vor allem im Bereich der Sinnlichkeit und der Gefühle erhebliche Probleme. Die Leidenschaften 45 46 47 48

Descartes 1641: 145. A. a. O.: 149. Ibid. Descartes 1649: 7.

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sind nach Descartes nun allein eine Sache der Seele, nicht des Körpers. Um die Leidenschaften konzipieren zu können, die ja offenkundig in einem Spannungsverhältnis zum kühlen Gedanken stehen, braucht Descartes das Konstrukt der Lebensgeister. 49 Diese sind allerdings wiederum körperliche Zustände. 50 Die Leidenschaften definiert Descartes nun »als Wahrnehmungen oder Empfindungen oder Emotionen der Seele, die ihr in besonderer Weise zugehören und die durch die Bewegung der Lebensgeister veranlasst, unterstützt und verstärkt werden.« 51 Es ist offensichtlich, dass es Descartes bei der Analyse der Leidenschaften einige Mühe macht, die von ihm erhobene Forderung nach klarer Trennung zwischen Körper und Seele beizubehalten. Die Lebensgeister sind zwar körperliche Erscheinungen, sie beeinflussen aber deutlich die Leidenschaften der Seele. Es tritt hier eine eigentümliche Verdoppelung der Leidenschaften auf, als Phänomene der res cogitans auf der einen Seite und als »Lebensgeister« im Bereich der res extensa auf der anderen Seite. Und doch handelt es sich um ein und dieselben Leidenschaften. Ihnen kommt eine Zwischenstellung zu, die man letztlich nicht in dem Schema einer strikten Zweiteilung klären kann. Wir werden später sehen, dass diese Erscheinungen, die sich der Aufteilung verweigern, Hinweise geben auf eine ganz anders geartete Sicht auf den menschlichen Leib.

5.

Die Radikalität des Ansatzes

Die Methode des Descartes zur Grundlegung einer sicheren Erkenntnis ist radikal. Ihre Radikalität ist auch beabsichtigt und notwendig, denn Descartes will sich nicht mit ungesicherten Wahrheiten zufrieden geben und braucht die Radikalität, um jede nur denkbare Irrtumsquelle ausschalten zu können. Der Weg zu einem sicheren Fundament des Erkennens führt über die Beseitigung aller nur vordergründigen alltäglichen Gewissheiten und traditioneller Annahmen. Descartes ist zugleich sehr daran gelegen, nicht als philosophischer Märtyrer in die Geschichte einzugehen und ist immer darauf bedacht, sich auch das Ein mechanisches Modell als Regelkreislauf findet sich bei Hammacher 1996: XXXVI. 50 Vgl. Descartes 1649: 19. 51 Descartes 1649: 47. 49

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Die Radikalität des Ansatzes

Wohlwollen der Kirche zu versichern. Er hat den Prozess, der gegen Galilei angestrengt wurde, vor Augen und will einem ähnlichen Verfahren entgehen. Deshalb preist er seine Schrift »Meditationes de prima philosophia« auch als einen guten und vollgültigen Beweis der Existenz Gottes und der Existenz der Seele an. Und er wirbt bei den Professoren der Pariser Fakultät für Theologie, die als besonders konservativ galten, um Zustimmung zu seinen Schriften. Aber die um Zustimmung werbende Haltung geht nicht so weit, dass er Abstriche in der Radikalität seiner Gedanken macht. Das zeigt sich zum Beispiel an der Reihenfolge seines Vorgehens: Der »Beweis« der Existenz Gottes erfolgt erst als ein zweiter Schritt, nachdem er durch die Methode des radikalen Zweifels zunächst die Gültigkeit aller Annahmen suspendiert hatte. Diese Radikalität und das Misstrauen gegenüber falschen Vorannahmen und traditionellen Urteilen ist sicherlich eine historische Innovation. Sie kennzeichnet nicht allein Descartes’ Analysen, sondern auch die vieler Zeitgenossen und Nachfolger in der sich entwickelnden Neuzeit. Die Maxime, sich allein auf die eigenen Verstandeskräfte zu verlassen, wird immer wieder bemüht. Nur so kann man zur Einsicht, zur Weisheit kommen. Die Weisheit wird so zu einem Wagnis, sie ist nicht länger eine mit gelassener Haltung vorzunehmende Sammlung bekannter Aussagen über die Welt, sie wird zu einem Wagnis. Sapere aude, die Weisheit muss gewagt werden, so wird es später auch Kant fordern: Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Damit ist ein philosophischer Anspruch erhoben, der bis heute Gültigkeit hat. Wer etwas behauptet, kann sich nicht unbesehen auf Traditionen berufen, sondern muss Gründe nennen, die stets durch bessere Gründe entkräftet werden können. Die Radikalität des philosophischen Nachdenkens ist kein Selbstzweck, sondern die notwendige Konsequenz der Forderung, dass allein das bessere Argument zu gelten habe. Nun werden wir allerdings später sehen, dass nicht alles, was unsere Wirklichkeit ausmacht, in Argumenten ausgedrückt werden kann. Es gehört deshalb zur konsequenten Anwendung der Radikalität auch die Tradition der argumentativen Radikalität in Frage zu stellen. Diese Einsicht darf nicht leichtfertigen Behauptungen Tür und Tor öffnen, aber sie soll vor einer undurchschauten Abhängigkeit von einer Tradition der Radikalität bewahren, die ihrerseits schnell Dogmen schaffen kann. Gegen Descartes wird man sagen müssen, dass das Denken, auch das radikale Denken, kein fundamentum inconcussum ist, das über jeden Zweifel erhaben ist, sondern dass auch das Denken seiner eigenen 53 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Grenzen bewusst bleiben muss. Auf die Grenzen des Denkens zu verweisen, ist immer eine risikoreiche Angelegenheit, aber gerade einem der Selbstkritik verpflichteten Denken bleibt es nicht erspart, seine eigene Begrenztheit zur Kenntnis zu nehmen.

6.

Die innovativen Aspekte des dualistischen Ansatzes bei Descartes

Es ist heute ein Allgemeinplatz, Descartes einen überzogenen Anspruch vorzuwerfen, den Dualismus zu kritisieren und sich von der Vorstellung einer Fundierung irrtumsfreien Denkens zu distanzieren. Die verbreitete Kritik ist berechtigt, aber sie übersieht das innovative Potential, das die Philosophie von Descartes entfaltet hat. Dies betrifft insbesondere seine Fundamentalunterscheidung von res cogitans und res extensa. Zu der Unterscheidung und zu dem Unterschiedenen sollen hier einige Anmerkungen gemacht werden, bevor dann die kritischen und fragwürdigen Aspekte des Ansatzes erläutert werden. Die Unterscheidung von res cogitans und res extensa hat den Blick auf ein Problem freigelegt, das seitdem nicht wieder verschwunden ist und das auch heute noch viele beschäftigt: die Existenz des Bewusstseins in der materiellen Welt. Descartes hat zwei Substanzen unterschieden und die Verbindung dieser beiden Substanzen im Gehirn angenommen, in der Zirbeldrüse. Von dort aus wirkt das Denken auf den Körper und umgekehrt wirkt der Körper auf das Denken. Solche Vorstellungen sind uns heute fremd geworden. Es ist heute nicht mehr möglich, sich eine Substanz vorzustellen, die körperlos und doch an unserem Körper gebunden ist. Die Neurowissenschaften haben zu deutlich und in vielfacher Weise zeigen können, wie stark das Denken durch körperliche Prozesse bedingt ist. Versuche, diesen Dualismus mit Hilfe von quantenphysikalischen Modellen zu retten, wonach es Quanteneffekte sind, die das Denken mit den Körpern verbinden, lassen viele offene Fragen. 52 Dennoch ist ein Problem heute immer noch virulent: Wir erfahren unser Bewusstsein, wie aber hängt dieses Bewusstsein mit der materiellen Welt zusammen? Welche Antworten auch immer versucht wurden, sie konnten bislang nicht überzeugen. Muss man sich die Entstehung des Bewusstseins als einen »emergen52

So John Eccles, vgl. Goller 2003: 96.

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Die innovativen Aspekte des dualistischen Ansatzes bei Descartes

ten« Prozess vorstellen, als etwas Neues, das aus dem Zusammenspiel von vielen kleinen und beschreibbaren Einheiten sich ergibt? Ist das Bewusstsein einfach nur eine Begleiterscheinung der materiellen Prozesse im Gehirn? Oder ist das Bewusstsein ein biologisches Phänomen, das dem Organ Gehirn zugehört wie die Verdauung dem Organ Darm? 53 Die Differenzen in der aktuellen Diskussion der Philosophie des Geistes zeigen, dass wir auch heute weit von einer klaren und eindeutigen Antwort entfernt sind. Die Frage nach der Existenz des Bewusstseins in einer von materiellen und ausgedehnten Dingen gefüllten Welt ist aber in dieser Klarheit und Radikalität erstmals von Descartes aufgeworfen worden. Es war seine Suche nach einem unerschütterlichen Grund für die Erkenntnis und der radikale Zweifel, die das Bewusstsein so deutlich isoliert haben. Hierin zeigt sich die weitreichende Wirkung des Ansatzes. Wer auch immer heute eine Theorie über die Wirklichkeit entwickelt, kann nicht an dem Problem des Verhältnisses von Bewusstsein und materieller Welt vorbeisehen. Das Problem des Bewusstseins führte zu der besonderen Bedeutung der Epistemologie, der Lehre von dem Erkennen, die in den folgenden Jahrhunderten einen mindestens ebenso wichtigen Stellenwert erlangte wie die Ontologie, die traditionell zentrale Lehre von dem Sein. Die gesicherte Erkenntnis der Dinge ergibt sich nicht schon aus dem Umgang mit den Dingen, sondern nur aus dessen methodisch reflektierter Analyse. Diese Analyse kann sich auch nicht auf traditionelle Erkenntnisse stützen, sondern darf nur das akzeptieren, was sich dem eigenen Verstand als klar und eindeutig erweist. Wenn die Traditionen nicht mehr den Weg zur Wahrheit verbürgen, dann ist, wie Kant es demonstriert hat, die kritische Reflexion auf die eigenen Erkenntniskräfte notwendig. Damit ist ein Standard für eine aufgeklärte Philosophie geschaffen worden, der bis heute Gültigkeit hat. In eins mit der kritischen Begutachtung der eigenen Erkenntniskräfte wuchs auch die Bedeutung der Denkfigur der Reflexion in der Philosophie. Wenn ich verstehen will, was ich erkennen kann, muss ich mich auf meine eigenen Erkenntniskräfte besinnen. Ich kann die Erkenntnissituation, die Bedingungen, unter denen ich etwas in der Welt erkenne, nicht außen vor lassen, ich muss deshalb auch nach meinem Verhältnis zu den Dingen in der Welt fragen. Die Möglichkeiten, aber auch die 53

So John Searle, vgl. Searle 2006: 309.

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Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens standen in den folgenden Jahrhunderten im Mittelpunkt der philosophischen Analysen. Erst im 20. Jahrhundert wendete sich das Blatt in der philosophischen Diskussion wieder und die Aufmerksamkeit richtete sich stärker auf das, was sich der eigenen Reflexionsfähigkeit entzieht, also auf die Vorgaben, die unhintergehbar sind und von denen man ausgehen muss. Deshalb wirkt heute die Vorstellung, man könne ein fundamentum inconcussum finden, veraltet und naiv optimistisch. Wir sind heute viel skeptischer geworden gegenüber einem Versuch, unsere eigenen Erkenntnisbedingungen klar und eindeutig zu durchschauen. Der fundamentale Bruch, der durch die reflexive Figur des Zweifels entsteht, hat zwei Seiten. Auf der einen Seite steht, wie dargestellt, das Bewusstsein in einer Isolierung, wie es vorher nicht denkbar war. Auf der anderen Seite steht die Welt in einer Distanz, die ebenfalls vorher so nicht denkbar war. Die Welt der ausgedehnten Dinge um uns herum wird zur bewusstlosen Ansammlung von Materie. Dies gilt nach Descartes nicht nur für die leblosen Dinge, es gilt auch für alle Lebensformen außer den Menschen. Und selbst der Mensch ist, soweit er nicht denkt, nur eine komplizierte Maschine. Tiere bilden da keine Ausnahme, das Modell, das ein Verständnis der Tiere ermöglichen soll, ist der Automat. Auf diese Weise steht die Welt ohne innere Grenzen dem Versuch einer sukzessiven Vermessung offen. Es gibt keine unklaren Zonen mehr, keine vermischten Substanzen, keine ungeklärten Qualitäten, es gibt nur noch ausgedehnte Gegenstände, die miteinander in einem messbaren Verhältnis stehen. Die Mathematik hilft, sie zu verstehen und die Gesetzesmäßigkeiten zwischen ihnen für jene Größen zu bestimmen, die klar und eindeutig erkannt werden können. Diese Einstellung steht am Anfang des naturwissenschaftlichen Zeitalters und von ihm sind wir auch heute noch maßgeblich geprägt. Es ist klar, dass wir heute soviel dazu gelernt haben, dass wir die Fehler und Mängel einer solchen Haltung erkennen und sie auf uns bedrohlich und fremd wirkt. Doch sollte man auch nicht verschweigen, dass auch als Folge des gewaltsamen Schnitts die Grundlage für viele hilfreiche Entdeckungen gelegt worden ist. Das Bild von der Welt ist so einerseits verarmt, es ist in gewisser Weise wie in einem Röntgenbild auf ein Skelett reduziert, andererseits gibt es eine Möglichkeit, das Skelett wesentlich klarer zu verstehen und zu berechnen. Hierdurch war der Weg bereitet für die Entwicklung der aufkommenden Naturwissenschaften und der ihnen folgenden technischen Anwendungen. 56 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Bleibende Probleme des Dualismus

7.

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Die Probleme des cartesianischen Vorgehens und ihre langfristigen Folgen machen ein zentrales Element der Motivation dieser Untersuchung aus. Denn in diesem Entwurf spiegeln sich Fehlannahmen, die auch unsere heutige Sicht auf die Welt prägen. Wer die Welt in so scharfen Unterscheidungen aufteilt, hat Schwierigkeit, sich selbst darin zu verorten. Die Kritik des Entwurfs von Descartes muss an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Sie muss sich zunächst auf das Bestreben Descartes’ beziehen, eine unbezweifelbare Grundlage für das Erkennen zu finden. Inwieweit ist die große Befürchtung, inwieweit ist die zentrale Stellung der Angst vor Täuschung berechtigt? Woher stammt diese Angst überhaupt? Kann man wirklich so eindeutig, wie Descartes es nahe legt, richtige Erkenntnis von fehlerhaften Einsichten scheiden? Eine Sehnsucht nach einem Purismus kommt hier zum Vorschein, eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Sicherheit, die die Philosophie vielleicht nur bieten kann, wenn sie Eindeutigkeiten generiert und unklare Zustände, die vielleicht notwendig zu unserem Leben gehören, unterdrückt. Ist es nicht weiser, mit Unsicherheiten leben zu lernen, als sie zu verleugnen? Weiterhin ist es lehrreich auf die Art der Gefahrenquellen, die nach Descartes Irrtum generieren können, zu achten. Die Gefährdungen des Zugangs zu der einen Wahrheit sind scheinbar allgegenwärtig: Sie zeigen sich in Träumen, im Wahnsinn, in sinnlichen Täuschungen, sie sind gegeben durch die Möglichkeit eines bösen Geistes, durch Einbildung oder durch die Nähe zu Tieren. Hier entfaltet sich ein Bedrohungspotential, das durch klare Hierarchievorstellungen geprägt ist. Allein das Denken kann Klarheit verbürgen, alle Einbindungen des Menschen in »niedere« Regionen, wie sie sich im Traum zeigen, in Gefühlen, in halbbewussten Zuständen, durch die Einbindung in die Tierwelt gefährden seine Auszeichnung. Die Wahrheit lässt sich allein über das Denken finden. 54 Die Betonung dieser Fähigkeit ist so stark, dass Descartes den Menschen geradezu mit dem Denken identifizieren 54 Link macht darauf aufmerksam, welche Verschiebungen sich zum Beispiel für den Naturbegriff ergeben, wenn die Subjektivität zum Horizont der Wahrheit wird: »Jetzt ist es nämlich nicht mehr möglich, im Sinne einer Definition anzugeben, was das Wort ›Natur‹ überhaupt bedeutet. (…) Es bezeichnet vielmehr die Gesamtheit der logischen beziehungsweise begrifflichen Operationen, aus denen die Wissenschaft von der Natur beruht.« Link 1978: 302.

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kann. Die klassische, auf Aristoteles zurückgehende Definition des Menschen als animal rationale ist dem nur scheinbar ähnlich, tatsächlich aber grundverschieden, da die Begriffe, mit denen Aristoteles operierte, ganz andere Bedeutungsstrukturen haben. Denn hier umfasst die Gemeinsamkeit des Menschen mit dem Tier nicht zuletzt auch die Seele. Die Engführung des Bildes vom Menschen auf die res cogitans ist in hohem Maße fragwürdig. Ja, sie ist so extrem, dass, wie wir sahen, selbst Descartes sie bei der Diskussion von Gefühlen und Leidenschaften nicht ganz durchhält. Descartes erkennt in den Gefühlen und Leidenschaften letztlich nur eine bestimmte Strategie der Seele, Vorgänge im Körper für dessen Erhaltung als besonders wichtig zu kennzeichnen. 55 Dabei kommt es zu skurrilen Vereinfachungen und groben Unterteilungen. Traurigkeit und Freude sind in der Tradition Augustins antipodische Leidenschaften, die entweder das Verlangen erhöhen, das, was dem Körper nutzt, zu suchen oder das, was dem Körper schadet, zu fliehen. Descartes hat nach einer Basis gesucht, die selbst unbezweifelbar ist und die die Grundlage für die eine und wahre Darstellung der Wirklichkeit bildet. Dahinter steckt ein in hohem Maße normatives Interesse: Es soll ein Weg zur Wahrheit schlechthin gefunden werden. Ein Feindbild waren für Descartes die scholastischen Traditionen mit ihren Unterscheidungen, die von den Begriffen der metaphysischen Vorstellungen geprägt waren. Ist aber ein solcher Weg zu der einen Wahrheit für uns Menschen begehbar? Im »Discours de la méthode« wählt Descartes die Metapher des Häuser- bzw. Städtebaus. 56 Dabei sieht auch er, dass es so gut wie nicht vorkommt, dass man eine ganze Stadt auf einmal abreißt und neu erbaut und dass ihm diese Aufgabe auch nicht zukommt. Und doch ist die Negation verräterisch, denn tatsächlich versucht er genau dieses mit seinem philosophischen Entwurf. Kein Stein des traditionellen Gedankenguts soll auf dem anderen bleiben, erst wenn ein wirklich unerschütterlicher Grund gefunden ist, soll man erneut mit dem Bau der Stadt beginnen. Man fühlt sich an die architektonischen Projekte der Moderne erinnert, an die Pläne von Le Corbusier, etwa den plan voisin, große und gewachsene Stadtteile kurzerhand abzureißen und durch neue, von Grund auf neu erdachte zu ersetzen. Der Rigorismus, mit dem Descartes vorgeht, ähnelt diesen Vorhaben der 55 56

Vgl. Descartes 1649: 209. Vgl. Descartes 1637: 19 f.; 37.

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Bleibende Probleme des Dualismus

Moderne. Die alten Vorstellungen müssen seiner Ansicht nach allesamt abgewiesen werden, es kommt darauf an, die Theorie von Grund auf neu zu bauen. Die Isolierung und Überhöhung der res cogitans wird auch durch die modernen Neurowissenschaften ad absurdum geführt. Antonio Damasio hat als Neurowissenschaftler in seinen Veröffentlichungen genau diese Descartes’sche Trennung als Irrtum entlarvt. 57 Viele Einzelinformationen der neueren Neurowissenschaften haben gezeigt, wie stark das Denken tatsächlich mit den Vorgängen im Körper verflochten ist. Nirgendwo zeigt sich eine abgesonderte Struktur des Denkens, überall finden sich Übergänge und verzweigte Netzwerke. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse belegen, dass ein Denken in der isolierten Weise, wie sie Descartes sich vorstellte, gar nicht möglich ist. Tatsächlich spielen die Gefühle eine notwendige und grundlegende Rolle, wenn es darum geht, etwas kognitiv zu verstehen. Kognition und Emotion sind nicht voneinander zu trennen. Das Selbst, das Descartes allein im Denken verankern wollte, ist im Gegenteil in vielfältiger Weise in den Körper eingelassen. Damasio unterscheidet verschiedene Formen des Selbst, die aufeinander angewiesen sind, wenn Denken gelingen soll. 58 Es ist gerade durch Erkenntnisse der modernen exakten Wissenschaften offenkundig, dass einer ihrer Pioniere in fundamentalen Fragen in eine falsche Richtung gewiesen hat. 59 Das zentrale Problem, vor dem dieser radikal dualistische Ansatz steht, ist, wie schon besprochen, die Frage, wie man sich die Beziehung der beiden Substanzen denken soll. Wie soll man sich den Vorgang der Wahrnehmung vorstellen, also die Einwirkung der res extensa auf die res cogitans? Und wie soll man sich bewusstes Handeln vorstellen, also die Einwirkung der res cogitans auf die res extensa? In beiden Richtungen ist also das Verhältnis der Substanzen zueinander ungeklärt. 60 Vgl. Damasio 2007; Damasio 2002; vgl. auch Le Doux 2006. Vgl. Damasio 2002. Damasio unterscheidet das Proto-Selbst, das Kernselbst und das autobiographische Selbst. 59 »Das Subjekt ego-cogito ignoriert seinen ›natürlichen‹ Ort in der Welt, den Ort, an dem es seine Erfahrungen macht.« Link 1978: 319. 60 Damit aber gibt Descartes zu einer zentralen Frage keine Auskunft: »Schließlich hat Descartes selbst – das ist nicht seine geringste Leistung – die Gewaltsamkeit jener Trennung von Subjekt und Objekt sehr wohl gesehen. (…) Die empirisch gegebene Einheit lässt sich nicht denken, sie hat keine philosophische Existenz. Gilsons Urteil, dass ›der gesamte Cartesianismus‹ gleichwohl nur unter der Voraussetzung dieser Einheit ›einen 57 58

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2. Der dualistische Ansatz von René Descartes

Ein letzter schwerwiegender Kritikpunkt ist der, dass der Ansatz in seiner philosophischen Betrachtung von einem einzelnen, isolierten Menschen ausgeht. Der Ansatz ist in seinem Kern solipsistisch, er versichert sich zunächst bei dem Eigensten, dem Denken, und entfaltet erst dann, in einem zweiten Schritt, eine Gegenüberstellung von Ich und Welt. Es geht darum, das kritische und zweifelnde Ich in die Lage zu versetzen, sich, Gott und die Welt zu verstehen. Andere Menschen kommen nur indirekt vor, sie sind Teil der Welt. So geraten die Verbindungen der Menschen untereinander in den Hintergrund, sie spielen höchstens eine sekundäre Rolle. Den Anfangspunkt und auch das Fundament des neuen Erkenntnisweges findet Decartes bei dem isolierten Menschen. Andere Menschen kommen nur in einem abgeleiteten Status in den Blick, seien es die körperlichen Verbindungen durch Geburt und Verwandtschaft oder durch sprachliche und kulturelle Verbindungen. Diese Einschränkung ist aber nicht tragfähig. Kein Mensch kann als isolierte Entität als Mensch verstanden werden oder sich selbst als denkendes Wesen verstehen. Die Betrachtung unterschlägt fundamentale Abhängigkeitsverhältnisse. Kein Mensch ist voll und ganz Herr seiner selbst. Aber eben das ist es, was Descartes mit seinem Theorieentwurf nahelegen will. Mit dem Ansatz von Descartes haben wir den philosophischen Entwurf kennen gelernt, der wie kein anderer zu Beginn der Neuzeit das Denken von der ausgedehnten Welt isoliert hat. Damit waren innovative Wege zur Erforschung der getrennten Bereiche vorgezeichnet, aber zugleich entstand hier erstmals eine radikale Ortlosigkeit des Denkens. Die endliche Existenz des Menschen wird überhöht durch die Behauptung einer Denksubstanz, der res cogitans, die das fundamentum inconcussum, das unerschütterliche Fundament der Erkenntnis des Menschen bildet. Von hier aus kann der Mensch die Welt erobern und vermessen, mit dem Ziel, sie zu verstehen und so zu der einen Wahrheit zu gelangen. Diese Unerschütterlichkeit, die radikale Hervorhebung des Denkens sind Fiktionen, die allerdings sehr reale Folgen hatten. Die Welt wird als res extensa einem distanzierten und prinzipiell unbeteiligten Beobachten zugänglich. Der Substanzdualismus ist heute keine Option mehr, die Folgen der epistemologischen Wende dagegen sind auch heute noch präsent. Sinn habe‹, bezeichnet daher am genauesten das hier gestellte Interpretationsproblem.« Link 1978: 83 f.

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3. Unsere Wirklichkeit als Leonardo-Welt: der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

In den Jahrhunderten seit Descartes, Bacon und Galilei haben die Naturwissenschaften eine beispiellose Entwicklung durchlaufen. Es ist, verglichen mit anderen Zeitspannen innerhalb der Kulturgeschichte der Menschheit, in unglaublich schneller Weise gelungen, viel neues Wissen über die Wirklichkeit zu akkumulieren, erfolgreiche theoretische Modelle zu etablieren und technische Methoden des Eingriffs und der gezielten Veränderung aufzustellen. Es gibt keinen Gegenstandsbereich, der heute nicht durch naturwissenschaftliche Methoden untersucht wird. Die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung ist sicherlich keine eindeutige Erfolgsgeschichte. Mit den rasant angestiegenen Handlungsoptionen wuchsen zugleich auch die Möglichkeiten zum Missbrauch. Die Gefahren sind vielfach beschrieben und viele von Menschen zu verantwortende Katastrophen wie hoch technisierte Kriege oder gewaltsame Umweltzerstörung in vorher nicht vorstellbarem Maße haben sich ereignet. Aber auch diese Katastrophen, auch der Missbrauch des Wissens bestätigt, wenn auch auf negative Weise, welche Handlungsmacht sich der Mensch in den letzten 400 Jahren angeeignet hat. Dieser »Erfolg«, die Steigerung der Handlungsmacht, die auch die Gestaltung unseres Alltags prägt, hat weitreichende Folgen für unser Verständnis von Wirklichkeit nach sich gezogen. Zwischen den Philosophen des frühen 17. Jahrhunderts und den gegenwärtigen Philosophen, die sich mit der naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt befassen, liegen einige Jahrhunderte intensiv diskutierter Interpretationen der neuen Entdeckungen. Wir wollen uns im Folgenden mit einer Position befassen, die für die in unserer Kultur dominante Sicht der Wirklichkeit repräsentativ ist. In der Einleitung ist diese Position als Blick »von außen« auf die Wirklichkeit beschrieben worden. Wieso konnte diese Sichtweise einen so prägenden Einfluss auf unser Alltagsleben gewinnen? Es ist ja erstaunlich, dass trotz der Abwendung von dualistischen Ansätzen, trotz der Tatsache, dass das Bewusstsein oft als 61 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

eine wissenschaftlich zu untersuchende Gegebenheit behandelt wird, der Blick »von außen« nach wie vor die Vorstellungen dominiert.

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Unsere Welt als Leonardo-Welt

Will man diese Frage beantworten, so muss man insbesondere die Entwicklung der angewandten Wissenschaft, der Technik und ihren gravierenden Einfluss auf unser alltägliches Leben in den Blick nehmen. Jürgen Mittelstraß hat unsere moderne Welt auf einprägsame Weise Leonardo-Welt genannt. 1 Es sind weniger theoretische Erwägungen, die unser Verständnis von dem beeinflussen, was wir für wirklich halten, als mehr der alltägliche Umgang mit den technischen Artefakten, unsere tagtäglichen Erfahrungen. Die Technik hat das Leben unserer Zivilisation in den letzten Jahrhunderten von Grund auf verändert. Und die Veränderungen schreiten unaufhörlich weiter voran. Zurzeit hebt eine weitere Basisinnovation, das Internet, an, unsere Lebensgestaltung und die sozialen Strukturen der Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Welche Folgen das haben wird, ist noch nicht absehbar, es scheint aber jetzt schon klar zu sein, dass viele soziale Institutionen sich erheblich mit diesen neuen Technologien wandeln werden. Eine mittelbare Folge der technischen Handlungserfolge ist ein verändertes Verständnis von der Welt. Wir betrachten die Welt in unserer Kultur vor allem danach, inwieweit wir die Dinge in ihr berechnen und beeinflussen, inwieweit wir sie gestalten können. Der Wandel der Einstellung gegenüber der Wirklichkeit ist nicht nur oberflächlich, sondern tiefgreifend. Nicht nur die Deutung der alltäglichen Erfahrungen sind andere geworden, auch die Art und Weise, wie wir Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen, hat sich geändert. In der Neuzeit hat sich gerade der Begriff der Erfahrung selbst gewandelt: »An die Stelle des älteren, phänomenalen oder Alltagsbegriffs der Erfahrung, wie ihn die Aristotelische Physik repräsentiert, tritt ein neuer, ein instrumentaler Begriff der Erfahrung.«2 Der Wissenszuwachs ist eng mit dem Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten, die wissenschaftliche Erkenntnis mit den technischen Fähigkeiten verknüpft. Die Bereiche von Wissen und Handeln, früher gebunden an unterschiedliche Orte wie Schu1 2

Mittelstraß 1992. A. a. O.: 16.

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Unsere Welt als Leonardo-Welt

le und Werkstatt, werden in der Leonardo-Welt zusammen geführt. Die Orientierung in der Welt wie auch der Umgang mit den Dingen der Welt geschieht nach dem Maßstab einer am Handlungserfolg orientierten Rationalität. Die Leonardo-Welt wird zu einer geschlossenen Welt: Überall trifft der Mensch auf die Produkte seines Handelns oder aber zumindest auf das, was er bewusst ausgespart hat, wie etwa die Naturreservate: »Wohin wir in dieser Welt auch gehen, der erkennende, der wirtschaftende, der bauende und der verwaltende Verstand war immer schon da. In ihren ›technischen‹ Strukturen gibt sich die Welt als ein Produkt, als das Werk des Menschen zu erkennen. Eine solche Welt nenne ich die Leonardo-Welt (…).« 3 Die Welt kann hiernach nur noch als Ansammlung von entweder schon gestalteten oder noch zu gestaltenden Dingen verstanden werden. Wie umfassend diese Haltung geworden ist, kann man an der Tatsache ablesen, dass sich auch jene Positionen, die sich kulturkritisch mit unserer Gegenwart auseinandersetzen und die etwa auf die ökologischen Grenzen einer extensiven Nutzung der Ressourcen hinweisen, dies oft allein mit solchen Argumenten untermauern, die wiederum auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Ökosphäre zurückgreifen. Die ökologische Sphäre wird als ein komplexes System beschrieben, dessen Bedingungen beachtet werden müssen, damit sie nicht instabil wird. Das ökologische Problem, etwa die Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur der Erde wird so unter der Hand zu einem technischen Problem des zu regelnden rückgekoppelten und komplexen Systems des Weltklimas. Die alternative Position unterscheidet sich so im Grundsatz nicht von dem naturwissenschaftlich-technischen Zugang der bisherigen Nutzung der Ressourcen. Auch sie sieht die Welt als ein großes, zu beherrschendes System, nur erhebt sie Anklage gegenüber einem fahrlässigen Umgang damit. Wenn aber alles beherrschbar wird, ist es um die Herrschenden eigentümlich gestellt. Denn sie haben das zu Beherrschende »vor sich«, sie sind von ihm getrennt. Das mag in Teilbereichen leicht vorstellbar sein, wird aber umso schwieriger, je umfassender der beschriebene Bereich der Wirklichkeit ist. Hier meldet sich wieder die Ortlosigkeit dessen, der die Welt erkennen und damit unter den Bedingungen der Leonardo-Welt sie zugleich bearbeiten und gestalten will. Die Ortlosigkeit der Beobachtenden und die der Herrschenden erweist sich als ein Sig-

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

num der Leonardo-Welt. 4 Hier liegt auch der Grund für die Kontinuität der Außenperspektive auf die Welt, obwohl doch die Vorstellung des Dualismus einer abgetrennten Existenz des Bewusstseins kaum noch geteilt wird. Die Vorstellungen wissenschaftlich objektiver Darstellung und technischer Verfügbarkeiten sind an ihre Stelle getreten. Es soll schon hier deutlich gesagt werden, dass diese Einstellung einem gravierenden Irrtum unterliegt: »Das heißt, der Mensch hat niemals alle Bedingungen seines Handelns in der Hand, nicht einmal die Faktizität, die sein Leben, seine Gegenwart (…) ausmacht.« 5 Dieses Buch sucht nach einer möglichst schlüssigen Begründung für diese Aussage, ohne die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis zu leugnen. Die Wirklichkeit in der Leonardo-Welt ist dadurch gekennzeichnet, dass sie beherrschbar und gestaltbar wahrgenommen wird. Existieren Elektronen wirklich? Ian Hacking, ein Wissenschaftsphilosoph, sagt dazu klar und bestimmt: Wenn man sie »versprühen« kann, wenn man also eine Vorrichtung bauen kann, mit Hilfe derer diese hypothetischen kleinen Teilchen wie Wassertropfen geschleudert werden können, dann existieren sie wirklich. 6 Nun kann man aber eine Anlage bauen, die dazu in der Lage ist. Jedenfalls geben Messungen zwingende Hinweise für die Richtigkeit der Deutung. Also entsprechen die Elektronen den Vorgaben der Leonardo-Welt, sie existieren wirklich. 7 Nach einem ähnlichen Muster funktionieren auch unsere Annahmen über die Wirklichkeit in unserem Alltag. Etwas existiert wirklich, wenn wir es in einen strengen Zusammenhang mit den Gesetzen und Dingen unseres Alltags setzen können. Die Anschauung, die hier zum AusHier soll die Leonardo-Welt, ausgehend von der Grundhaltung von Konstruktion und Gestaltung, auch in dem Sinne verstanden werden, dass sie die Welt als ein Objekt »vor Augen« stellt. Mittelstraß deutet ex negativo ein ähnliches Verständnis an, wenn er zur Leibniz-Welt als Gegenentwurf sagt: »In einer Leibniz-Welt bildet das Gegenüber des Wissens keine ›objektive Welt‹ und das Gegenüber der Welt kein ›objektives Wissen‹.« Mittelstraß 2001 (2): 20. 5 A. a. O.: 22. 6 Vgl. Hacking 1996: 47. 7 Die Behauptung von Mittelstraß, nicht alles wäre gestaltbar, ist deshalb gravierenden Anfragen ausgesetzt. Hierzu ein kleines Beispiel zu unserem zentralen Thema in den einführenden Kapiteln, dem Bewusstsein. Wir sind gewohnt, zu sagen, dass wir das, was wir gezielt manipulieren können, verstanden haben. Nun aber kann man vielleicht schon in wenigen Jahren Bewusstseins- und Gefühlszustände des Menschen gezielt manipulieren. Haben wir sie deshalb verstanden? Genauer: Was haben wir nicht verstanden? Darum soll es im Folgenden gehen. 4

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Unsere Welt als Leonardo-Welt

druck kommt, hat nicht nur offenkundige Folgen etwa für den Stellenwert von Technik in unserer Gesellschaft. Auch technikferne Bereiche können leicht unter den Maßgaben der Leonardo-Welt interpretiert werden, etwa im Bereich der Pädagogik. In den letzten Jahren macht sich eine gewisse Erleichterung bei einer Vielzahl von Pädagogen breit, dass Erkenntnisse der Neurowissenschaften zu belegen scheinen, dass die traditionellen pädagogischen Regeln zu wünschenswerten Veränderungen im Gehirn beitragen. 8 Schnell ist von einer Neuropädagogik die Rede, deren Ziel es ist, die Bedingungen des neuronalen Gewebes zum Maßstab für eine erfolgreiche Pädagogik zu machen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass viele Aussagen der Neuropädagogik entweder sehr allgemein oder nicht durch einschlägige empirische Untersuchungen und Messergebnisse bewährt sind. Der Grund für die freudige Zustimmung der Pädagogen aber ist unter den Bedingungen der Leonardo-Welt offenkundig: Mit der neurowissenschaftlichen »Bestätigung« ist die Rationalität der pädagogischen Maßnahmen und ihr Wirklichkeitsbezug gesichert. Die angeblich objektiven Ergebnisse der Neurowissenschaften verhelfen zu einem Beweis des Wirklichkeitsbezugs der Pädagogik. Die Leonardo-Welt prägt so auch jene Bereiche der Wirklichkeit, die zunächst mit technischer Verfügbarkeit nicht in Zusammenhang gebracht werden. Ähnliche Debatten gibt es im Bereich der Moral oder der Religion. Die Dominanz der Außenperspektive auf die Wirklichkeit hat weitreichende Folgen. Sie stellt die Relevanz und Eigenständigkeit anderer Perspektiven in Frage. Wenn jemand zum Beispiel eine religiöse Erfahrung macht, hat er oder sie ein bestimmtes, ein so genanntes subjektives Erlebnis. Kann man dieses Erlebnis aber nicht viel besser aus der »Außenperspektive« beschreibt, also etwa mittels exakter wissenschaftlicher Meßmethoden und moderner bildgebender Verfahren, etwa durch einem Computertomographen? 9 In unserer Zeit, in der Leonardo-Welt, hat die Formulierung »subjektiver Eindruck« einen klar abwertenden Beigeschmack. Subjektiv ist, was nicht ganz sicher ist, was auf schwankendem Boden ruht, was durch individuelle Eindrücke bestimmt ist. Doch steckt hinter dieser Vermutung der gleiche Fehler wie hinter der Verabsolutierung der »Außenperspektive«. Die folgende Sie berufen sich auf Veröffentlichungen wie die von Spitzer, Spitzer 2002. Manche Bücher leben allein von der Botschaft, das scheinbar Subjektive in den Bereich des Objektivierbaren zu heben, etwa: Vaas/Blume 2009.

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

Erörterung wird nicht umhin kommen, die Differenzierung zwischen Innen und Außenperspektive grundsätzlich in Frage zu stellen. Ebenso muss auch die Vorstellung der Unterscheidung von sicherer und unsicherer Erkenntnis, die damit verbunden ist, hinterfragt werden. Natürlich können die Eindrücke eines unmittelbar Betroffenen täuschen, wir erleben das immer wieder in unserem alltäglichen Leben. Es ist aber ein Fehlschluss, aus der Möglichkeit von Täuschungen zu folgern, die so genannte »Innenperspektive« sei gegenüber der »Außenperspektive« unsicherer und deshalb besser auszuschalten. Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen beiden: die »Außenperspektive« lässt sich wesentlich besser methodisch normieren und kontrollieren. Diese Möglichkeit gibt es bei der »Innenperspektive« nicht. Wer aber deshalb daraus folgert, die »Innenperspektive« sei irrelevant, zeigt nur die Furcht vor allem, was nicht methodisch abgesichert ist. Schon zu Beginn der Neuzeit spielte diese Furcht eine große Rolle, wie wir bei Descartes sehen konnten. Ob wir aber deshalb gut beraten sind, die Wirklichkeit nur methodisch kontrolliert, also in einem scheinbar objektiven Modus wahrzunehmen, muss nachdrücklich bezweifelt werden. Es geht andererseits hier auch nicht darum, in einer undifferenzierten kulturkritischen Weise die Vorteile einer methodisch abgesicherten Erkenntnis zu leugnen. Eine allzu leicht geäußerte Kritik an dem vorherrschenden Erkenntnismodus in der Leonardo-Welt geht an dem Kern des Problems vorbei. Meine Vermutung ist, dass auch ihre scheinbar radikalen Kritiker sich viel zu sehr in ihr heimisch fühlen, dass sie sich nur noch mit einer oberflächlichen Geste von ihr distanzieren können. Das gilt nicht nur wie erwähnt für die ökologischen Diskussionen, das gilt auch für unsere alltäglichen Intuitionen. Ein Gedankenexperiment soll deutlich machen, wie weit auch wir die Grundauffassungen der Leonardo-Welt uns zu eigen gemacht haben. Angenommen, es kommt jemand auf uns zu und behauptet: vor 5 Minuten sei genau hinter dem Gebäude, in dem wir uns gerade befinden, ein UFO gelandet. Es sei aber gleich wieder abgeflogen, ohne etwas zu hinterlassen. Nehmen wir weiterhin an, dass der Überbringer dieser Nachricht ein ernstzunehmender Zeitgenosse ist, dass er klar bei Sinnen ist und sich nicht in einem Rausch befindet. Wie gehen wir mit dieser Nachricht um? Wir werden nach Anhaltspunkten suchen, die die Aussage bestätigen können. Gab es weitere Zeugen? Hat das UFO Spuren hinterlassen? Gibt es zufällig Fotos? Hat es im Gebäude oder in der 66 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung

Nähe erstaunliche Ereignisse gegeben, etwa dass elektronische Geräte ausfielen oder ähnliches? Gab es solche Vorkommnisse in dieser Gegend schon zuvor, vielleicht gar an demselben Gebäude? Haben die zuständigen Stellen der Flugüberwachung etwas auf ihrem Radar bemerkt? Was tun wir aber nun, wenn all diese Nachforschungen ergebnislos bleiben, wenn es keinerlei Anhaltspunkt unter den Dingen und ihrem Verhalten nach den uns bekannten Gesetzen gibt, der auf etwas Ungewöhnliches schließen lässt? Nun dann werden wir wohl ungläubig bleiben und uns fragen, wieso sich unser sonst so nüchternen Zeitgenosse derart skurril verhält. Damit aber haben wir den Kriterienkatalog der Leonardo-Welt bestätigt: Wirklich ist, was sich messen lässt. Es wäre nun aber absurd, die Leonardo-Welt in diesen bewährten Kriterien der Beurteilung der Wirklichkeit kritisieren zu wollen. Eine oberflächliche Missachtung kann durchaus sogar auch gefährlich werden, etwa dann, wenn obskurante und esoterische Lehren versuchen, die Standards der Aufklärung zu unterminieren. Wir müssen also uns die Mühe machen, genauer hinzusehen, was wir an der Leonardo-Welt kritisieren und was nicht. Eine allzu leichtfertige Kritik kann nur als eine verdeckte Aufforderung verstanden werden, sich leichtgläubig Wundervorstellungen und verschrobenen Weltdeutungen hinzugeben. Eine Kritik der herrschenden kulturellen Strömung muss ein erhebliches Differenzierungsvermögen aufbringen können, will sie nicht in erster Linie destruktiv wirken oder durch ihre offenkundige Oberflächlichkeit wirkungslos bleiben. Es muss erst einmal ein Rüstzeug für präzise Unterscheidungen bereitgestellt werden, das uns hilft, die Kritik an der richtigen Stelle anzusetzen. Darum soll es in dem Folgenden, ab dem nächsten Kapitel gehen. Wir können also für unseren alltäglichen Umgang mit der Wirklichkeit unter den Bedingungen der LeonardoWelt festhalten: Entitäten, die wir als wirklich existierend akzeptieren, müssen in einem unmittelbaren oder einem über wissenschaftliche Theorien vermittelten Zusammenhang mit jener Wirklichkeit stehen, in der wir leben, die wir beeinflussen oder berechnen können.

2.

Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung

Nach dieser Betrachtung der Bedingungen unserer Alltagswelt wollen wir nun den Faden in der theoretischen Diskussion wieder aufnehmen. Wir hatten gesehen, dass das Fundament für unsere Weltsicht im 67 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

17. Jahrhundert gelegt worden ist. Der Dualismus, den Descartes vorgeschlagen hatte, wird allerdings heute kaum noch vertreten. Dennoch ist die Frage nach dem Status des Bewusstseins nach wie vor zentral. In der philosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts geriet immer mehr die naturwissenschaftliche Methodik selbst in dem Mittelpunkt der Diskussion. Wirklich ist in den so genannten szientistischen Theorien nur das, was sich mit naturwissenschaftlicher Methodik erschließen lässt. 10 Diese Denkrichtung ist nicht eine einzelne Schule, vielmehr handelt es sich um eine Theorienfamilie, da sehr unterschiedliche Varianten des zentralen Arguments existieren, der Behauptung, dass allein mit wissenschaftlichen Methoden die Wirklichkeit erkannt werden könne. Der eliminative Materialismus vertritt dabei die radikalste Weise, die wissenschaftliche Methodik zur Norm zu erheben. Eliminativ heißt diese Denkrichtung, weil sie sich radikal gegen die Existenz des Bewusstseins wendet. Die Behauptung des besonderen Status von Bewusstseinsphänomenen ist nach dieser Position nur der kulturell bedingten Alltagspsychologie geschuldet und wird künftig durch bessere Modelle der wissenschaftlichen Forschung eliminiert werden können. 11 Die Frage, wie man die Existenz des Bewusstseins in der materiellen Welt deuten kann, wird auch hier lebhaft diskutiert und ist eine der zentralen Fragen bei dem Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben. Die eliminativen Materialisten behaupten nun weiterhin, dass die materielle Welt ihrerseits vollständig der wissenschaftlichen Beschreibung zugänglich ist. 12 Mit der Existenz des Bewusstseins fechten die Vertreter dieser Richtung auch die veralteten traditionellen Vorstellungen von einer Sonderstellung des Menschen an. Früher nahm man an, dass der Mensch so etwas wie eine Seele habe. Doch man hat, wenn man wissenschaftliche Messmethoden zugrunde legt, keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Größe überhaupt existiert. Alle MesDiese Theorien können gut mit dem Begriff metaphysical realism bezeichnet werden, so wie ihn Hilary Putnam verwendet: »Metaphysical realism can be characterized here as the conjunction of the following theses: (1) the world consists of a fixed totality of mind-independent objects (or, in other words, there is a world in itself), (2) there is exactly one true and complete description of the world, (3) truth is a sort of correspondence (…).« Conant/Zeglen 2002: 90. 11 Vgl. Pauen 2005: 97; auch Goller 2003: 119 f.; oder Brüntrup 2001: 120. 12 Auch schon die Beschreibung der materiellen Welt als einer geschlossenen, empirisch nachgewiesenen Größe, wie sie in manchen Interpretationen der Kosmologie erscheint, ist allerdings hochproblematisch, vgl. Evers 2000: 387. 10

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Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung

sungen und Untersuchungen am Menschen sind konsistent deutbar, wenn man sie allein auf materielle Prozesse zurückführt. Also existiert das Bewusstsein als eigenständige Größe auch nicht, entgegen unserer Alltagsintuitionen. Alle scheinbar nicht materiellen Anteile der Wirklichkeit können bei näherem Hinsehen auf materielle reduziert werden. Ein Erkennungsmerkmal dieser Erkenntnishaltung ist die häufig benutzte Formel »Nichts anderes als«. Die Wirklichkeit ist »nichts anderes als« die mit naturwissenschaftlicher Methodik erfassbaren Zusammenhänge. Diese Haltung verengt die Wirklichkeit auf das mit wissenschaftlichen Methoden Nachweisbare, das wiederum mit dem materiell Gegebenen identisch ist. Nun mag es kulturell hoch voraussetzungsreiche Erscheinungen geben, wie etwa Gemälde oder Gedichte. Diese scheinen ein eigenständiges Dasein zu haben. Doch letztlich, so die Behauptung der eliminativen Theorien, können auch diese Erscheinungen auf biochemische Prozesse zurückgeführt werden. Die Evolutionstheorie und die Neurowissenschaften ragen aus der Menge der wissenschaftlichen Theorien heraus, denn sie sind die entscheidenden Theorien, die dem Menschen als biologisches Wesen mit all seinen Eigenschaften einen bestimmten Ort in dem Ganzen der physischen Natur zuweisen. Die Vertreter dieser Richtung weisen auf die wissenschaftlichen Erfolge der Vergangenheit und erwarten deshalb für die Zukunft, dass die noch verbleibenden traditionellen Vorstellungen mit wissenschaftlichen Mitteln verstanden werden können. Ist damit aber nicht eine zentrale Forderung des phänomenologischen Realismus erfüllt, wie wir sie in der Einleitung erhoben haben? Wenn der Mensch ausschließlich materiell gedeutet wird, eben nicht mehr in einem Gegenüber von res cogitans und res extensa wie bei Descartes, ist er doch voll und ganz in das Bild der Wirklichkeit einbezogen. Es gibt in dieser Konzeption kein Außen mehr, von dem aus man die Wirklichkeit betrachten kann. Der Mensch ist voll und ganz in die beschriebenen materiellen Prozesse einbezogen, er ist »nichts anderes als« eine genetisch bedingte Erscheinungsform der Evolutionsgeschichte. Doch ist hier genau auf die Art der Verortung zu achten. Unsere Forderung an ein endliches, leibgebundenes Erkennen war es ja, dass der Erkenntnisvorgang selbst von der Tatsache beeinflusst ist, dass wir Teil der zu erkennenden Wirklichkeit sind. Das ist beim eliminativen Materialismus gerade nicht der Fall! Hier wird der Mensch als Gattungswesen ganz zum Objekt und die- oder derjenige, die oder der die reine Materialität des Menschen behauptet, gibt sich nicht zur glei69 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

chen Zeit Rechenschaft darüber, von welchem Beobachtungspunkt sie oder er zu diesem Urteil über den Menschen kommen kann, wie ein Teil von Materie als gewissermaßen wissenschaftlich informierte Materie seinerseits von der Materie reden kann. Wenn wir den Menschen zu einem reinen Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung verkürzen, verleugnen wir gerade im Zuge dieser Behauptung unsere eigene Verortung.

3.

Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bewusstsein

In der Diskussion der sogenannten »philosophy of mind«, der Philosophie des Geistes, gibt es andere Positionen, die dem eliminativen Materialisten vehement widersprechen. Zentral ist in der Debatte wiederum der Status des Bewusstseins. Mit der Unterscheidung und Sonderstellung der res cogitans bei Descartes ist die philosophische Diskussion um eine Frage bereichert worden, deren Beantwortung nach wie vor im Mittelpunkt steht. Für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Debatte ist das Bewusstsein eine Größe, die mit den Mitteln und den Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung nicht erfasst werden kann. Jedoch ist es auch nicht trivial, eine solche Sonderstellung des Bewusstseins zu begründen und so gibt es etliche Vorschläge für eine Beantwortung der Frage, aber kein Vorschlag hat sich bislang durchsetzen können. Allein schon die Vehemenz und Dauer der Diskussion weist darauf hin, dass diese Frage keine nebensächliche Frage ist, sondern zu den zentralen in der Orientierung der wissenschaftlich-technischen Welt, der Leonardo-Welt, gehört. Die Rolle des Bewusstseins wird nicht nur von radikalen Positionen wie der des eliminativen Materialismus angefochten. In der Kritik der Sonderstellung des Bewusstseins gibt es mehrere Abstufungen. Manche Autoren akzeptieren die Existenz des Bewusstseins, aber sie versuchen nachzuweisen, dass das Bewusstsein nicht außerhalb des wissenschaftlichen Erkenntnisbereiches liegt. In gewisser Weise ist dies auch die Leitidee der neurowissenschaftlichen Forschung. Was auch immer man als Bewusstsein identifizieren kann, es muss mit den Mitteln der Wissenschaft beschreibbar sein. Es gibt nichts im Bewusstsein, das nicht mit neuronalen Aktivitäten korreliert werden kann. Auch viele Philosophen und Wissenschaftstheoretiker schließen sich dieser Position an. Das Hauptargument ist ein negatives: Wer auch immer 70 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bewusstsein

die Sonderstellung des Bewusstseins behauptet, hat die Beweislast, da nach dem heutigen Stand des Wissens eine solche Sonderstellung völlig außerhalb des üblichen, wissenschaftlich-technisch geprägten Umgangs mit der Welt liegt. Der Philosoph Daniel Dennett etwa kann nicht akzeptieren, dass es etwas geben solle, das dem wissenschaftlichen Zugriff grundsätzlich entzogen sei. 13 Diese Erkenntnishaltung wird auch als Naturalismus bezeichnet, da sie alle wirklichen Prozesse auf den Bereich begrenzen will, die sich grundsätzlich mit naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen lassen. Sie negieren die Existenz anderer Entitäten, die dem wissenschaftlichen Erkennen nicht zugänglich sind. In der ontologischen Frage können diese Positionen offener sein als die eliminativen Materialisten. Dennett etwa besteht nicht darauf, alles auf materielle Prozesse reduzieren zu müssen. Es mag hilfreich sein, die Dinge auch auf ihre Funktion hin zu interpretieren, wie bei technischen Artefakten oder auf ihre Intention hin, wie bei den Menschen. Es ist nach Auffassung der Vertreter dieser Richtung aber abwegig, anzunehmen, dass es Eigenarten des Bewusstseins geben könne, die sich wissenschaftlich nicht erfassen lassen. Diese Gruppe weist, um ihre Position plausibel zu machen, ebenfalls auf den unglaublichen wissenschaftlichen Fortschritt und die Wissensausweitung in den letzten 300 bis 400 Jahren und die damit einhergehende Überwindung traditioneller Vorstellungen. Ein zentrales Argument dieser Position ist erneut die hohe Erkenntnisdynamik der Wissenschaften. Erkenntnisgewinne in der Vergangenheit werden in Hinblick auf die Zukunft fortgeschrieben. Ich glaube, dass hier das Kraftzentrum für das Selbstverständnis der Verfechter einer exklusiven Wissenschaftsmethodik zu finden ist. Wir nehmen Teil an einem ungeheuren Wissenszuwachs. 14 Doch ist das Argument in seinem Kern in hohem Maße spekulativ. Der Schluss von einem vergangenen Erfolg auf einen zukünftigen ist nicht zwingend. Die Annahme, dass auch die 13 So Thompson bezogen auf Dennett: »(…) but he differentiates his view from dualism by claiming that mental and human phenomena can be explained by scientific method.« Thompson 2009: 3. In der deutschen Debatte sind prominente Vertreter einer im weiteren Sinne naturalistischen Position Wolf Singer und Gerhard Roth, vgl. Singer 2002 und Roth 1997. 14 »Looking on the bright side, let us remind oursevels of what has happened in the wake of earlier demystifications. (…) When we understand consciousness – when there will be no more mystery – consciousness will be different, but there will still be beauty, and more room than ever for awe.« Dennett 1993: 25.

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

Zukunft auf diesem Wege Erfolg bringt, bleibt auf unsicherem Boden. Wer etwa den Ärmelkanal durchschwimmen kann, sollte sich davor hüten, gleiches, an der afrikanischen Küste stehend, auch mit dem Atlantik zu versuchen! Dennoch ist die Position äußerst einflussreich und wirkt über die fachphilosophische Diskussion hinaus in den öffentlichen Raum. Die Position von Daniel Dennett, der öffentlich, insbesondere in den USA, viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und der im Kern seiner Argumentation die wissenschaftliche Beschreibbarkeit des Bewusstseins behauptet, soll im Folgenden genauer vorgestellt werden.

4.

Grundannahmen von Daniel Dennett

Dennett ist von der Erklärungskraft der wissenschaftlichen Forschung fasziniert und überzeugt, dass sie grundsätzlich die Wirklichkeit vollständig und umfassend beschreiben kann. Den Anspruch der Wissenschaft leitet er aus einer bestimmten Auffassung der Natur ab. 15 Seine naturalistische Position ist nicht strikt reduktionistisch, deshalb kann er seine Position auch als »milden Realismus« bezeichnen. 16 So kann Dennett betonen, dass nicht alle Vorgänge als kausale Prozesse mikrophysikalischer Teilchen beschrieben werden sollten und dass es deshalb sogar unumgänglich sein kann, eine kausale Betrachtung durch eine funktionale oder gar intentionale zu ergänzen. 17 Wichtig ist jedoch: Jede Art der Betrachtung führt letztlich zu Ordnungsmustern, die uns in der Natur vorgegeben sind und die man mit wissenschaftlichen Methoden, also objektiv, aus einer distanzierenden 3.-Person-Perspektive beschreiben kann. 18 Deshalb ist er auch zutiefst misstrauisch gegen alle Argumente, die sich auf scheinbar natürlich gegebene Intuitionen oder unmittelbare Zugänge berufen und so versuchen, den Aussagebereich der Wissenschaften einzuschränken. Doch sind Intuitionen kein Garant von Wahrheit. Schon einfache Wahrnehmungsexperimente können darlegen, dass sich Intuitionen, auch wenn sie sich hartnäckig halThompson führt dazu aus: »Nature, in constrast, is a realm governed by laws that are regular and impersonal. The naturalist project is the attempt to explain all phenomena by appeal to such natural processes.« Thompson 2009: 4. 16 Vgl. a. a. O.: 103. 17 Vgl. Thompson 2009: 90. 18 Vgl. a. a. O.: 99. 15

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Grundannahmen von Daniel Dennett

ten können, dennoch falsch sind. Um ein Beispiel aus der Vergangenheit zu geben: Bewegung wird immer wahrgenommen relativ zu einem Hintergrund. Dabei wird in der Regel alltagsbewährt der Hintergrund eher als das Ruhende wahrgenommen, das im Wahrnehmungsfeld Kleinere dagegen als das Bewegte. Nun ist die Sonne in unserem Wahrnehmungsfeld aber in der Regel kleiner als das, was wir von der Erde sehen. Also war es aufgrund der Wahrnehmungsregel folgerichtig, anzunehmen, dass sich die Sonne bewegt, nicht aber die Erde. Erst weitere Erkenntnisse der Astronomie konnten zeigen, dass dies eine Täuschung ist. Der Ausspruch, der Galilei zugeschrieben wurde »Und sie dreht sich doch!«, gilt Dennett als Beleg der fundamentalen Überlegenheit wissenschaftlicher Forschung in der Geschichte der Menschheit gegenüber allen geschichtlich bestimmten Traditionen und gegenüber allen prima facie Intuitionen. Wissenschaft, das gibt sogar Dennett zu, ist nicht alles, aber sie ist doch der entscheidende Fortschritt der Menschheit und, wenn überhaupt, dann ist von ihr die Lösung der letzten Rätsel zu erwarten. 19 Dennett möchte nun in seinen Veröffentlichungen diese Erfolgsgeschichte der Wissenschaft unterstützen, indem er die Rückzugsorte und Verteidigungsburgen der Wissenschaftsskeptiker zu schleifen versucht. Er sieht in einer Haltung, die grundsätzliche Barrieren gegen die Erklärungskraft der Wissenschaften aufbaut, eine destruktive Kraft, die den Fortschritt hemmt. Die unheiligen Allianzen zwischen einer naiven Alltagsanschauung und aufklärungsresistenten Milieus, zu denen seiner Ansicht nach vor allem auch die Vertreter der Religionen gehören, schaffen ein Klima, das eine wissenschaftlich geleitete Suche nach Wahrheit erschwert. Die Polemik, die in Dennetts Texten immer wieder zum Zuge kommt, kann nur dann richtig eingeschätzt werden, wenn sie auch vor dem Hintergrund der öffentlichen Auseinandersetzungen in der US-amerikanischen Gesellschaft gesehen wird. Dennett ist einer der Mitinitiatoren der Brights, einer Gruppe von amerikanischen Intellektuellen, die sich einen grundsätzlichen Agnostizismus zu 19 »So science, and the technology it spawns, has been explosively practical, an amplifier of human powers in almost every imaginable dimension, making us stronger, faster, able to see farther in both space and time, healthier, more secure, more knowledgeable about just about everything, including our own origins – but that doesn’t mean it can answer all questions or serve all needs.« Dennett 2006: 370. Die Einschränkung bleibt eigentümlich blass, da Dennett für sie keine Beispiele nennt. Die Existenz des Bewusstseins oder gar Religion fallen aus, was aber dann?

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eigen machen und sich insbesondere polemisch gegen religiöse Deutungen der Welt stellen, damit auch gegen eine religiöse Rechte in den USA, die über staatliche Gesetzgebung etwa anti-evolutionäre Theorien wie das Intelligent Design stärken wollen. Diese Ausgangssituation macht manche Schärfe in den Argumentationen verständlicher, ohne allerdings ihren Wahrheitsgehalt zu erhöhen. So gibt es zwei Gruppen, gegen die Dennett seine Texte vor allem richtet, einerseits gegen jene, die einer kulturellen Dominanz einer konservativen Auffassung von Religion das Wort reden und andererseits gegen solche, die eher mit liberalem Hintergrund behaupten, dass menschlichem Bewusstsein bzw. menschlichem Geist eine besondere Stellung zukommt, dass es niemals durch wissenschaftliche Forschung ergründet werden könne. Die Diskussion um die Rolle der Religion soll hier aber nicht behandelt werden, insofern werden wir uns in der Darstellung auf die Argumente gegen die Befürworter einer Sonderstellung des Bewusstseins beschränken. Dennett hält anders als die Gruppe der Wissenschaftsskeptiker, die er auch Mystiker oder Reaktionäre nennt 20 – hier kommt sein aufklärerischer Pathos zur Geltung –, die grundlegenden Fragen der Interpretation des Bewusstseins für gelöst. So trägt folgerichtig auch sein zentrales Werk in dieser Diskussion den Titel: »Consciousness Explained« 21 . Dieser durchaus unbescheidene Anspruch hat den positiven Effekt, dass er in seiner Argumentation mit offenem Visier kämpfen und begründen muss, wie er das Bewusstsein mit wissenschaftlichen Mitteln vollständig beschreiben kann. Er kann nicht auf künftige Forschungserfolge verweisen, die ihm dereinst Recht geben werden, er muss mit dem gegebenen Wissen seine Behauptung verteidigen können, dass das Bewusstsein im Wesentlichen erklärt sei. Wie geht Dennett vor? Der grundlegende Schritt ist die schon bekannte Behauptung, dass wissenschaftliche Methoden einen vollständigen und umfassenden, ja den einzig wahren Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen. So schlägt er eine umfassende Methode, die Heterophänomenologie vor, die ermöglichen soll, das Bewusstsein auf wissenschaftlichem Wege vollständig zu erschließen. Mit einigen neueren Ergebnissen der Neurowissenschaften und der Computertechnologie entwickelt er dann ein Modell des Bewusstseins, das aus einer Vielzahl paralleler Prozesse be20 21

Dennett 2005: 8. Dennett 1993.

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steht. Dieses Modell nimmt unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse auf und verarbeitet sie zu einer integrierten Theorie. Mit dieser Theorie im Hintergrund wendet er sich dann jenen zentralen Argumenten seiner Gegner, den Mystikern, zu, um sie zu entkräften. Seine Gegner sahen und sehen sich aber durch die Argumente nicht widerlegt. So dauert die Debatte an. Wenn Dennett einen exklusiven Anspruch für die Erschließung der Wirklichkeit über wissenschaftliche Methoden behauptet, ist es entscheidend darauf zu schauen, wie er die Methoden beschreibt.

5.

Die heterophänomenologische Methode

Im Mittelpunkt der Diskussion der Methode der Heterophänomenologie steht die Behauptung, dass sie das Bewusstsein mit wissenschaftlichen Mitteln vollständig erfassen könne. Da Dennett die Eigenständigkeit des Bewusstseins anerkennt, muss er eine Methode etablieren, die in der Lage ist, eine objektive, auf empirische Daten basierende Beschreibung des Bewusstseins zu geben. Denn nur eine solche Methode ist ja auch mit den methodischen Vorgaben der Naturwissenschaften kompatibel. Zunächst einmal ist Dennetts Anspruch ambitioniert, denn er schlägt eine Methode vor, die so unterschiedliche Phänomene wie abstrakte Gedanken, Empfindungen, aber auch Aktivitäten des neuronalen Gewebes und Körperbewegungen erfassen soll. In ihr stehen die naturwissenschaftlichen Methoden, die Experimente und Messvorschriften im Zentrum, jedoch werden diese durch die Analyse von menschlichen Handlungen und von verbalen Äußerungen ergänzt. Der Name »Heterophänomenologie« weist darauf, dass nicht die Eigenbeobachtung eine Rolle spielt, sondern die Fremdbeobachtung, also die Beobachtung aus der wissenschaftskonformen 3.-Person-Perspektive. Um die Methode zu erläutern, macht Dennett ein Gedankenexperiment. Er stellt die Frage, ob es möglich wäre, Besuchern vom Mars genau mitzuteilen, was das menschliche Bewusstsein ist. 22 Die Besucher verfügen über keinen unmittelbaren Zugang zum menschlichen Bewusstsein, da sie ja unserer Spezies nicht angehören. Allerdings verfügen sie, so die Annahme von Dennett, über alle sprachlichen und 22

Dennett 2005: 25 ff.

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wissenschaftlichen Fähigkeiten, über die wir Menschen auch verfügen. Die Einführung der Besucher vom Mars ist nicht einem Faible für Science Fiction geschuldet, sondern hat einen tiefer liegenden Grund, denn sie ermöglicht Dennett in dem Gedankenexperiment jegliche Berufung auf die Alltagsintuitionen von Beginn an zu unterbinden. Die Alltagsintuition setzt bei der unmittelbaren Erfahrung an, jener Erfahrung, die jeder Mensch selbst macht, indem er sein Bewusstsein beobachtet. Hier, das wissen wir schon von Descartes, ist scheinbar jeder Zweifel ausgeschlossen, denn in der eigenen Erfahrungswelt sind alle Menschen nach naivem Urteil, so Dennett, unumstößliche Autoritäten. Die Zielrichtung des Arguments ist klar: Wenn es gelingt, plausibel zu machen, dass diese extraterrestrischen Besucher alle Facetten dessen, was menschliches Bewusstsein ausmacht, nachvollziehen können, dann ist offensichtlich, dass der direkte Zugang zu dem Bewusstsein nicht notwendig ist, um es zu erfassen. Wie auch immer man dann den direkten Zugang zum Bewusstsein deuten mag, er spielt dann für ein grundlegendes Verständnis von Bewusstsein keine tragende Rolle mehr. Gerade der Rückbezug auf die eigenen Erfahrungen, auf die unmittelbaren Erkenntnisse im eigenen Erleben ist für Dennett die Quelle vieler Fehlurteile. 23 Denn wir glauben auf naive Weise Experten zu sein in einem Feld, das wir tatsächlich aber gar nicht beherrschen. Zum Beleg verweist Dennett auf Besonderheiten unseres Wahrnehmungsvermögens, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie uns nicht bewusst sind. Wenn man uns mit diesen Besonderheiten konfrontiert, lehnen wir sie zuerst als unmöglich ab, weil wir von ihnen nichts wissen, bis uns schließlich demonstriert wird, dass sie doch korrekt unsere Wahrnehmung beschreiben. Ein Beispiel sei hier genannt: Wir nehmen selbstverständlich an, dass wir in unserem gesamten Gesichtsfeld alles farbig sehen. Doch das ist nachweislich ein Irrtum, tatsächlich schwindet die Farbigkeit des Gesehenen im Augenwinkel, weil in den Augenwinkeln auf der Retina nur wenige farbsensible Rezeptoren existieren. Alles, worauf wir unseren Blick richten, ist farbig, denn im Umfeld des Zentrums der Retina befinden sich besonders viele farbsensible Rezep»One could attempt just the same sort of project with folk psychology: deducing the implications of whatever is deemed ›axiomatic‹ (…) by the folk. (…) The theory educed should, like naive physics, rule out as flat impossible whatever psychological anomalies draw a stare of disbelief or utter bafflement from the folk.« Dennett 2005: 33.

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toren. Deshalb nehmen wir an, dass das auch für die unscharf wahrgenommenen Dinge in unserem Augenwinkel zutrifft. Einfache Versuche etwa mit farbigen Spielkarten können zeigen, dass das falsch ist. Wenn wir uns schon bei einem so einfachen Effekt unserer Wahrnehmung irren, können wir dann noch eine Autorität sein für das, was wir in unserem Bewusstsein erleben? Deshalb misstraut Dennett allen Behauptungen über das Bewusstsein, die aus dem unmittelbaren Erleben stammen, vor allem aber solchen, die zugleich Gründe für Bewusstseinszustände anzugeben behaupten. 24 Hier ist eine interessante Parallele zur Furcht des Descartes vor naivem Irrtum. Die Figur des Marsmenschen hilft Dennett, nur solche Argumente gelten zu lassen, die aus allgemein zugänglichen Informations- und Datenquellen stammen. Persönliche Beobachtungen sind eher zweifelhafte Quellen, da sie von Annahmen bestimmt sind, die sich vielleicht im Alltag bewährt haben, die aber deshalb nicht richtig sein müssen. Für die Methode, die Dennett vorschlägt, die Heterophänomenologie, ist also der Blick »von außen« grundlegend. 25 Die Forscherin betrachtet nicht ihr eigenes Bewusstsein, sondern stellt sich die Frage nach dem Bewusstsein, indem sie einen Probanden beobachtet und mit allgemein verfügbaren Daten dessen Bewusstsein zu ergründen versucht. Das ist die fundamentale Ausgangsposition der wissenschaftlich-methodischen Beobachtung. Die Forscherin kann als äußere Beobachterin nun alles an ihrem Probanden messen, sie kann die Gehirnströme bestimmen, die Körperreaktionen, sie kann weiterhin zur Bestimmung der Hirnaktivitäten alle verfügbaren bildgebenden Verfahren einsetzen. Doch Dennett beschränkt sich in seiner Methode nicht allein auf die naturwissenschaftlichen Methoden im engeren Sinne. Hier unterscheidet er sich von den eliminativen Materialisten. Sind Lautäußerungen des Probanden nicht auch objektiv festzustellen und können sie nicht ebenso registriert werden, wie Herzschlag oder Hirnströme? Also achtet die Forscherin auch auf das, was der Proband sagt. 26 Der Proband kann also, wenn er gefragt wird, seine Eindrücke und Gedanken schildern, die er während des Versuches hat. Eigenbeobachtungen spielen in diesem Szenario indirekt eine Rolle, insofern der Vgl. Thompson 2009: 16. »Such a theory will have to be constructed from the third person point of view, since all science is constructed from that perspective.« Dennett 1993: 71. 26 Vgl. Dennett 1993: 73. 24 25

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Proband sich selbst beobachtet und die Beobachtungen auch mitteilt. Die Selbstbeobachtung des Probanden findet nur dadurch Beachtung, dass sie transformiert wird in eine objektivierbare Beobachtung der Forscherin. Auf diese Weise werden diese Äußerungen zu einer Anreicherung des Datensatzes der Forscherin und die Berichte über die Erlebnisse können in eine wissenschaftliche Untersuchung einfließen. Der Ausdruck »Heterophänomenologie« nimmt Anleihen bei der philosophischen Tradition der Phänomenologie. Jedoch ist sie gegenüber jener philosophischen Richtung grundsätzlich verschieden. Die klassische Phänomenologie versucht ja gerade die Bewusstseinsereignisse so zu beschreiben, wie sie sich als Teil des Bewusstseins zeigen. Auch sie will sich vor psychologischen Fehlurteilen schützen – die Motivation von Husserl, eine neue philosophische Methode zu etablieren, bestand ja gerade darin, eine Rückführung der Phänomene auf psychologische Zustände zu unterbinden – deshalb gelten ihr nicht Eindrücke und Meinungen als letzte Größen, sondern nur die methodisch scharf herausgearbeiteten Zustände des Bewusstseins. Es gilt, aus dem, was sich zeigt, nicht ohne weiteres sogleich Folgerungen abzuleiten, worauf die Phänomene beruhen, was sie verursacht und wie man sie zu deuten hat. Die Phänomene sollten erst einmal strikt so betrachtet werden, wie sie sich als Phänomene des Bewusstseins zeigen. 27 Dennett dagegen möchte nur solche Daten zulassen, die von wissenschaftlichen, objektivierenden Methoden bearbeitet werden können. 28 Jedoch gibt es mit der traditionellen philosophischen Richtung der Phänomenologie eine gewisse methodische Ähnlichkeit bei der geschilderten Untersuchung eines Menschen, die Dennett bewogen haben mag, seine Methode Heterophänomenologie zu nennen. In beiden Verfahren ist es konstitutiv, sich eines Schlusses von der Erscheinung (dem Phänomen) oder dem Dargestellten (dem, was der Proband in der Heterophänomenologie sagt) auf den dahinter liegenden Grund zu enthalten. 29 In der klassischen Phänomenologie wird dies »epoché« genannt, der Phänomenologe untersucht die Erscheinung als Erscheinung und fragt zunächst nicht nach dem räumlichen oder zeitlichen Dasein, auf das sich das GeVgl. das Prinzip aller Prinzipien bei Husserl, Husserl 1913: 43. Mit einer klaren, wenn auch impliziten Kritik an der klassischen Phänomenologie: »Serious phenomenology is in a even greater need of a clear, neutral method of description«. Dennett 1993:66. 29 Vgl. Dennett 1993: 83; Dennett 2005: 39. 27 28

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sagte bezieht. 30 In dieser eher groben Analogie hört der heterophänomenologisch arbeitende Forscher der Beschreibung der Probandin zu, ohne das Gesagte als Aussage über etwas Gegebenes zu werten, er nimmt die Aussagen als originäre Aussagen der Probandin. Der Forscher muss sein Wissen suspendieren, er enthält sich eines Urteils, ob das Gesagte etwas Reales zum Ausdruck bringt oder nicht. Ebenso wenig bezieht er die Erklärungsgründe der Probandin mit ein. Wenn also die Erzählende sagt, dass ihr Gesichtsfeld im Ganzen farbig ist, dann nimmt der Untersuchende dies zunächst ebenso hin, wie wenn die Erzählende von ihrem Bewusstsein und seiner Besonderheit berichtet. Die Erzählung gehört zu dem Datensatz, wie auch Daten der Computertomographie oder des EEG. Dennetts Methode der Heterophänomenologie will zwei Ziele miteinander verbinden. Auf der einen Seite will sie die Existenz eines Bewusstseins als einer eigenständigen Größe durchaus akzeptieren, sie nutzt die sprachlichen Aussagen eines Probanden als Daten ebenso wie die auf dem Wege der Messung gewonnenen Daten. Die sprachlichen Reaktionen werden in der Heterophänomenologie ebenso wie die gemessenen Daten gesammelt und ausgewertet. 31 Die Methode beschränkt die Untersuchung des bewussten Zustandes nicht allein auf bildgebende Verfahren wie die Messungen durch Computertomographen. Beide Datensätze müssen allein mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Dennett ist hierdurch allerdings nun gezwungen, weitergehende Annahmen zu machen. Wie sollen die sprachlichen Äußerungen ausgewertet werden? Er muss annehmen, dass die sprachlichen Äußerungen nicht zufällig aneinander gereihte Laute sind, sondern dass die sprachlichen Äußerungen des Probanden mit Absicht geschehen. Das ist wichtig, da die Lautäußerungen sonst nicht mehr als semantische Einheiten gedeutet werden können. Wenn der Proband spricht, seine Erfahrungen schildert, dann macht er das bewusst und absichtlich, die Bewegungen des Mundes entsprechen nicht einer absichtslosen Zuckung, sondern sind bewusst und kontrolliert. Dieser Methodenvorschlag wirft allerdings eine Vielzahl von grundsätzlichen Fragen bezüglich der Interpretation des »zweiten Datensatzes«, der sprachlichen Aussagen des Probanden auf. Zunächst und vor allem: Sprachliche Äußerungen müssen sprachlich interpre30 31

Vgl. Husserl 1913: 56. Vgl. Dennett 1993: 76.

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tiert werden. Es gibt hier keine Methode, die in ähnlicher Weise zu objektiven Datensätzen führen könnte, wie die Erhebung von Messdaten aus einem Computertomographen. Kann die Sprache aber die gewünschte Eindeutigkeit produzieren, ist also gesichert, dass der Experimentator und der Proband die Worte gleich interpretieren? Welche Rolle spielen Grenzen des Milieus, der Kultur? 32 Aber noch grundlegender sind kritische Fragen an die Art und Weise zu stellen, wie Dennett die notwendige Annahme berücksichtigt, dass die Handlungen intentional sind. Ist es wirklich ohne ein umfassendes (und nicht diskutiertes) Vorverständnis von Bewusstsein möglich, die ausgestoßenen Laute als absichtsvolle, als intentionale Äußerungen zu deuten? Aus welcher Quelle schöpft der Forscher, wenn er dem Probanden Intentionalität zumisst? 33 Was genau meint Intentionalität in wissenschaftlicher Terminologie? Auf diese Fragen werden wir später zurückkommen, zunächst jedoch wollen wir fragen, wie Dennett das auf diese Weise wissenschaftlich analysierte Bewusstsein konzipiert.

6.

Ein funktionalistisches Modell des Bewusstseins

Wie wir schon gesehen haben, ist Dennett anders als die eliminativen Materialisten durchaus bereit, die Eigenständigkeit der Existenz des Bewusstseins zu behaupten. Das Bewusstsein ist nicht nur ein Epiphänomen, das auf die kausalen Prozesse der neuronalen Aktivitäten reduziert werden kann. Die Heterophänomenologie bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass die Aussagen der Probanden als eigenständige Quelle für die wissenschaftliche Untersuchung genutzt werden. Doch zugleich lehnt Dennett jede Behauptung, das Bewusstsein beruhe letztlich auf einer Größe, die sich der wissenschaftlichen Methode entziehe, kategorisch ab. Wie also beschreibt er das Bewusstsein? Sein Modell stellt er in unterschiedlichen Akzentuierungen vor, einmal als ein Modell vielfacher und zeitgleicher Prozesse (multiple draft model) 34 oder in einer späteren Veröffentlichung als ein Modell konkurrierender GeSo hält Thompson in Bezug auf englische Äußerungen der Probanden fest: »At most, what Dennett has delivered is a local objectivity. (…) Within the context of Chinese, they make no sense.« Thompson 2009: 155. 33 Vgl. Dennett 2005: 37; Dennett 1993: 76. 34 Vgl. Dennett 1993: 111 ff. 32

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Ein funktionalistisches Modell des Bewusstseins

rüchte (fame in the brain model) 35 . Beiden Modellen ist gemeinsam, dass sie von verteilten Prozessen im Gehirn ausgehen, die kein zentrales, koordinierendes Zentrum kennen. Wieder sind es die alltäglichen Intuitionen, die Dennett mit Vehemenz ablehnt. In unserem unmittelbaren Erleben erfahren wir das Bewusstsein als eine zentrierte und homogene Größe. Die Aufmerksamkeit kann wechseln von einem Punkt zu einem anderen. Doch stets ist es das ganze Bewusstsein, das involviert ist. Wir erleben unser Bewusstsein nicht als einen Bienenschwarm paralleler Prozesse, wo Gedanken unkoordiniert miteinander konkurrieren. Deshalb ist auch die Metapher des Cartesianischen Theaters so einleuchtend. 36 Hiernach gibt es ein imaginäres Subjekt, das sich all das anschaut, was das Bewusstsein ihm vorspielt. Das Bewusstsein ist eher wie ein Theater, wobei man selbst im Zuschauerraum sitzt und die Gedanken und Empfindungen die Bühne betreten und verlassen sieht. Jedoch: Wer oder was ist das Subjekt, wenn die Inhalte des Bewusstseins auf der Bühne stehen? Hier stellt sich schnell das Problem einer nicht endenden Iteration wie bei dem klassischen homunculus-Problem: Stets muss das Beobachtete erneut beobachtet werden, wenn denn das Beobachtete als Abbild verstanden wird. Dagegen optiert Dennett für ein funktionalistisches Modell von parallelen Prozessen, die stets latent gegenwärtig und in einem instabilen Verhältnis miteinander verbunden sind. Es gibt keine zentrale Stelle, von der aus alle Prozesse gesteuert werden oder auf die alle Prozesse zulaufen. Eher ist es so, dass nicht vorhersehbare Konstellationen und Allianzen entstehen, so dass manche Gedanken bewusst werden, während andere verborgen bleiben. In Einzelanalysen zeigt Dennett, dass es so zum Beispiel auch keine klare Abgrenzung zwischen einer aktuellen Wahrnehmung und der Funktion des Gedächtnisses gibt. Man kann bei gegebenen Bewusstseinsinhalten nicht auf eine klare zeitliche Abfolge der Prozesse schließen, die die Entstehung der Bewusstseinsprozesse ermöglicht haben. Die Prozesse können nur von ihrer Wirkung her verstanden werden und hier folgt Dennett einem klar funktionalistischen Ansatz: Etwas wird zu dem, was es ist, nur dadurch, dass es in einer bestimmten Weise wirkt und im Gesamtgeschehen eine bestimmte Funktion übernimmt. Das Gehirn könnte so teilweise oder auch ganz ersetzt werden, wenn man denn funktional 35 36

Vgl. Dennett 2005: 160. Vgl. Dennett 1993: 107.

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äquivalente Einheiten etwa mit elektronischen Mitteln zu entwickeln in der Lage wäre. 37 Die Eigenart, die der Funktionalismus für Dennett so attraktiv macht, ist die Tatsache, dass funktionalistische Modelle sehr reduziert sind. Sie konzentrieren sich auf die Eigenschaften und jene Zusammenhänge, die ein System zu seiner Funktionalität und zum Selbsterhalt produzieren muss und lassen alle weitergehenden Annahmen über das System außen vor. Damit fügen sich die funktionalen Modelle der Dennett’schen Maxime, dass sie durch eine objektivierende Beschreibung vollständig erfasst werden können. Die Vorstellungen von Dennett scheinen mit den neueren neurowissenschaftlichen Untersuchungen konform zu gehen. In der Tat gibt es keinen zentralen Ort im Gehirn, von dem aus alles Geschehen kontrolliert wird. 38 Ein solches Zentrum wäre auch keine Lösung, sondern hätte nur eine Verschiebung des Problems zur Folge, denn dann müsste man erklären, wie diese Zentrale wiederum funktioniert und hätte dann dort all die Fragen zu beantworten, denen man durch die Einführung der Zentrale erst einmal hätte ausweichen können. Offensichtlich spielt die zeitliche Kohärenz, in der Signale verarbeitet werden und sich im neuronalen Gewebe fortpflanzen, eine große Rolle, um bestimmte Prozesse aneinander zu binden, sie so »in das Bewusstsein« zu heben. 39 Doch was bedeutet all das für die Frage nach dem Verständnis des Bewusstseins? Auch wenn man nun einige Mikroprozesse kennt und ihre Interaktion besser einzuschätzen weiß, bleibt immer noch die fundamentale Frage, wie all diese biochemischen Prozesse plötzlich so etwas wie ein sich selbst erlebendes Bewusstsein hervorrufen können. Wieso haben diese biochemischen Prozesse mit einem Mal eine Innenseite, die sich selbst erlebt? Wieso sind die zellulären Prozesse als Bewusstsein plötzlich auf etwas aus, statt nur als kausale Prozesse abzulaufen? Hier ist David Chalmers Recht zu geben, einem ständigen Kontrahenten Dennetts in der Debatte der Philosophie des Geistes: Wenn alle Fragen des Zusammenspiels der funktionalen Elemente geklärt sind, bleibt immer noch das eigentliche Problem, das von Chalmers auch »the hard problem« genannt wurde: Wie kann aus all den einzelnen Elementen ein Bewusstsein entstehen, das ich erlebe? 40 Vgl. Dennett 2005: 18. Singer diskutiert die Verdichtung verteilter Aktivitäten als Bindungsproblem, vgl. Singer 2002: 65 ff. 39 Vgl. a. a. O.: 69. 40 Vgl. Dennett 2005: 72; Blackmore 2007: 59. 37 38

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Intuitionen und Gegenintuitionen

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Dieses »harte« Problem führt zu hartnäckigen Fragen, die sich wahrscheinlich nie beantworten lassen. Das Bewusstsein ist, wie wir schon festgestellt haben, nicht irgendeine Größe in unserer Welt, sondern die Voraussetzung dafür, dass die Welt existiert (wie natürlich auch die Welt die Voraussetzung dafür ist, dass Bewusstsein existiert). Das Bewusstsein ist deshalb eine eigentümliche Größe, auf die man sich leicht beziehen kann, die sich aber einem definitorischen Zugriff immer wieder entzieht. Dies ist eine ganz erhebliche Belastung des Diskurses in der Philosophie des Geistes. Es gibt keine von allen streitenden Parteien geteilte Definition dessen, was umstritten ist. Das Bewusstsein ist einerseits bekannt, weil jede und jeder darüber verfügen muss, die oder der an der Diskussion um das Bewusstsein teilnimmt. Andererseits ist ja eben strittig, ob alle dasselbe meinen und welche Beschreibungsformen und Zugänge zur Beschreibung zugelassen werden sollten und welche nicht. Der Mangel an einer verbindlichen Definition führt zu einem Streit um Deutungskompetenz. Als Hilfe bemühen nun beide Seiten, sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer rein wissenschaftlichen Beschreibung des Bewusstseins, allgemein zugängliche Intuitionen. Die Argumente wollen, wenn sie schon sich nicht auf eine gemeinsame, definierte Basis beziehen können, bestimmte Intuitionen wecken, die ihre jeweilige Aussagekraft stärken. Die Argumente haben deshalb oft eine in der philosophischen Tradition unübliche Form – es sind kleine Erzählungen, die auf ein intuitives Einverständnis der Leserin oder des Hörers zielen. Für die Vielzahl von Argumenten, die sich auf Intuitionen berufen und so etwa eine grundsätzliche Unerkennbarkeit des Bewusstsein durch wissenschaftliche Methoden behaupten, hat Dennett einen despektierlichen Begriff geprägt: den der Intuitionspumpe. 41 Solche Argumente leben nach Ansicht von Dennett nicht von der begrifflichen und argumentativen Klarheit, sondern von diffusen Intuitionen, die sie wecken. Doch kann sich Dennett der Kraft der Intuitionen nicht entziehen und arbeitet deshalb selbst mit solchen narrativen, assoziativen »Argumen-

41 Z. B. bezogen auf das Leibniz’sche Bild der Erkenntniskräfte als einer Mühle, Dennett 2005: 3. Dazu ist allerdings zu sagen, dass das Bild einer Intuitionspumpe seinerseits mit Intuitionen arbeitet.

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ten«. Dennett kämpft einerseits gegen diese Form der Auseinandersetzung und eignet sie sich doch zugleich selbst auch an. Dennett nutzt dieselbe Art der Argumentation übrigens nicht nur, um die »Mystiker« abzuwehren. Auch seine ureigenen Argumente appellieren an Intuitionen, so ist etwa seine Einführung des imaginären Marsbewohners, der allein mit wissenschaftlichen Mitteln das menschliche Bewusstsein erforscht, näher betrachtet auch nichts anderes als ein solches intuitives Argument. Möglicherweise ist diese Form der Auseinandersetzung aber auch in gewisser Weise adäquat, weil man über das Bewusstsein bei näherem Hinsehen eigentlich nur metaphorisch reden kann. Die narrativen »Argumente«, die an intuitive Einsichten appellieren, sind deshalb nicht einfach effekthascherisch. Ihre Art weist lediglich auf die Besonderheit der Rede vom Bewusstsein. Bei der Darstellung von gedanklichen Zusammenhängen überwiegen in unserer Alltagssprache Raummetaphern: Gedanken werden »aneinander gereiht«, man macht »Gedankenschritte«, ein Argument »folgt aus« dem anderen, die Argumente »zielen auf« etwas, man nimmt einen Gedanken »in den Blick« usw. Es herrscht eine eigentümliche Begriffsarmut, wenn man die Gedanken als Gedanken auf genuine Weise thematisieren will. Die Teilnehmer der Debatte um den Status des Bewusstseins greifen deshalb ausgiebig auf metaphorische Rede zurück und nutzen narrative Argumente, auch Gedankenexperimente genannt, die den Hörer einbinden und ihn zu einer bestimmten Einsicht führen sollen. Sie werden in der Regel so eingesetzt, dass an die lebensweltlichen Intuitionen appelliert wird, um ein Einverständnis zu erlangen. Wenn wir über das Bewusstsein debattieren, scheint es so gut wie ausgeschlossen zu sein, auf alltägliche Anschauungsmuster verzichten zu können. Woran liegt das? Im Kern, darauf werden wir später noch ausführlich eingehen, wissen wir von dem »Bewusstsein« eben doch nur durch unsere Selbstbeobachtung. Die Identifikation dieser Selbstbeobachtung mit wissenschaftlichen Datensätzen ist nie ursprünglich, sondern immer ein zweiter Schritt als Zusammenführung heterogener Anteile. Niemand erlebt das Bewusstsein wie Erbsen oder Fensterrahmen und kann diese Entitäten mit anderen in Beziehung setzen. Eine nachträgliche Identifikation ist deshalb immer erklärungsbedürftig. Möglicherweise können wir diese missliche Situation nur dann verlassen, wenn wir auf die Vorstellung einer fixen und gegebenen Größe »Bewusstsein« verzichten. Das muss nicht ein reduktionistischer Schritt sein, im Gegenteil, er kann den Weg freimachen für eine we84 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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sentlich vielfältigere Beschreibung unserer Existenz und der Wirklichkeit (Kap. 5 und 6). Ich möchte kurz zwei prominente Beispiele dieser narrativen Argumente vorstellen. Das wohl berühmteste narrative Argument, das die Besonderheit des Bewusstsein bewahren möchte, stammt von Frank Jackson und handelt von dem fiktiven Mädchen Mary: »Mary ist eine brillante Naturwissenschaftlerin, die – aus welchem Grund auch immer – gezwungen ist, die Welt aus einem schwarz-weißen Raum heraus zu erforschen, und zwar mit Hilfe eines schwarzweißen Fernsehmonitors. Sie spezialisiert sich auf dem Gebiet der Neurophysiologie des Sehens. Lassen Sie uns annehmen, dass sie alle physikalische Information darüber erwirbt, was vorgeht, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen und Begriffe wie »rot«, »blau« und so weiter verwenden. Sie entdeckt zum Beispiel, welche vom Himmel ausgehenden Kombinationen von Wellenlängen genau es sind, die die Netzhaut reizen und wie genau dies wiederum auf dem Weg über das zentrale Nervensystem die Kontraktion der Stimmbänder und das Ausstoßen von Luft aus den Lungen auslöst, deren Ergebnis dann schließlich die Äußerung des Satzes »Der Himmel ist blau« ist. (…) Was wird geschehen, wenn Mary aus ihrem schwarz-weißen Raum befreit wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht? Es ist einfach offensichtlich, dass sie etwas über die Welt und unser visuelles Erleben dieser Welt lernt. Dann aber ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass ihr vorheriges Wissen unvollständig war. Sie war jedoch im Besitz aller physikalischer Information. Ergo kann man mehr besitzen als nur diese und der Physikalismus ist falsch.« 42 Das, was hier zur Diskussion steht, ist der Status der so genannten Qualia. Mit dem Begriff Qualia ist die Art und Weise gemeint, wie etwas sinnlich erlebt wird. Das Argument hat wegen seiner intuitiven Überzeugungskraft eine große Bekanntheit und Beliebtheit erlangt. Jedoch ist das Argument auch nicht unproblematisch. Ein grundsätzliches Problem in der so geführten Diskussion um die Qualia besteht meiner Ansicht nach in der Vorstellung, man könnte sich Qualia in

42

Zitiert nach Metzinger 2001: 253.

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einer bestimmten Weise isoliert denken. Demnach »gibt« es so etwas wie das »Blau-Sein« oder besser die »Blau-Erfahrung«. Wir werden später sehen, dass die Qualia nie isoliert auftreten und eine Isolierung deshalb auch innerhalb dieser Argumentation schwierig ist. Der Kern des Arguments von Jackson ist aber davon unberührt, denn, auch wenn Qualia nur eine (unzulässige) Abstraktion aus einer bestimmten Erscheinungsweise der Wirklichkeit sind, so kann man zurecht die Frage stellen, ob das, was mit den Qualia bezeichnet wird, durch wissenschaftliche Beschreibungen erfasst werden kann. Die entscheidende Frage dabei ist: Kann das Erlebnis etwa einer Farbe oder eines Tones oder eines Geschmacks oder eines Geruchs vollständig in der 3.-Person-Perspektive beschrieben werden? In der Debatte der Philosophie des Geistes sind die Rollen klar verteilt: Die »Mystiker« wie Chalmers lehnen dies vehement ab, die »Wissenschaftsreduktionisten« wie Dennett stützen die Behauptung auf der anderen Seite ebenso vehement. Den »Mystikern« ist die Geschichte ein Beleg dafür, dass zu dem Bewusstsein notwendig auch eine nicht beschreibbare unmittelbare Erfahrung gehört. Diese kann vor allem nicht mit objektivierenden wissenschaftlichen Mitteln beschrieben werden und zwar nicht nur nicht mit den Methoden, die uns heute zur Verfügung stehen, sondern auch nicht mit den Methoden, die uns künftig zur Verfügung stehen werden. Wie geht Dennett mit diesem Argument um? Dennett ist natürlich der Meinung, dass das Mädchen Mary nichts Neues lernt. Er stellt sich der Kraft des Arguments und versucht es durch Variation für seine Zwecke zu nutzen. So verlängert er die Geschichte um die Episode, dass man Mary zunächst eine Banane in den Raum reicht, die allerdings blau angemalt ist. Dennetts Mary erkennt sofort den Trick, denn da sie alles über Farbwahrnehmung weiß, ist sie sich auch über die Reaktionen ihres Nervensystems im Klaren und weiß, dass sie nur so reagieren kann, wie sie reagiert, wenn die Banane blau ist. 43 Dieses Argument hat eine ganze Kaskade von Gegenargumenten und auch von weiteren, verfeinerten Verteidigungen des Arguments ausgelöst. Das zentrale Problem der argumentativen Auseinandersetzung ist, dass sie als narrative Argumente auf die Intuition zielen und entweder spontanes Einverständnis ermöglichen oder aber Ablehnung. Dennett ist sich genau bewusst, dass deshalb ein solches Argument in seinem Kern

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Vgl. Dennett 1993: 399 f.

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Intuitionen und Gegenintuitionen

nicht streng widerlegt werden kann. Er gibt offen zu, dass sich hier wie auch bei der Frage, ob die Beschreibung des Bewusstseins ein »hard problem« aufweise, zwei Seiten gegenüber stehen, deren Disput sich nicht über die Klärung einzelner Aussagen lösen lässt. 44 Beide Seiten appellieren an Intuitionen, und das Publikum muss entscheiden, welcher der beiden Seiten es den Vorzug gibt. Deshalb versucht Dennett immer wieder neue, in ähnlicher Weise an die Intuition appellierende Argumente zu finden, die überzeugender sind. Er will stärkere Intuitionen aufbieten, die die ausgelösten konterkarieren. Zu der blauen Banane erfindet er später noch die Roboter-Mary – ein Roboter, der seine eigenen Zustände genau kennt und die fehlenden Farbkameras durch künstliche Veränderung der eigenen Zustände ersetzt – 45 der die Sumpf-Mary – Mary wird durch einen Blitz in genau den Zustand versetzt, als hätte sie schon einmal eine rote Rose gesehen, dann sieht sie erstmals Farbe und ist nicht überrascht. 46 Man sieht, dass es gelingen kann auch in sehr ernsten Debatten nicht den Humor zu verlieren. Letztendlich geht es hier um eine Frage, die schon Thomas Nagel Mitte der 70 Jahre aufgebracht hat. 47 Dort hat er die Frage gestellt, wie es sei, eine Fledermaus zu sein. Seine Antwort war eindeutig: Wir wissen es nicht. Wohl wissen wir viel über die Art und Weise, wie sich eine Fledermaus bewegt, wie sie wahrnimmt und was sie wahrnimmt. Doch ist der Bewusstseinszustand einer Fledermaus uns nicht zugänglich. Das Bewusstsein hat also eine Qualität, eine bestimmte Weise, zu sein, die sich einer identifizierenden Beschreibung von außen entzieht. Dies gilt auch für die Farbwahrnehmung, wie auch für viele andere phänomenale Wahrnehmungen. Das zweite Beispiel auf Intuition zielender Argumente stellt die Frage in den Mittelpunkt, ob man sich vorstellen könne, dass es Zombies gebe. Was sind Zombies? In der Tradition der haitianischen Voodoo-Religion sind es bedrohliche Untote. Als Zombies kehren Tote, die aber durch einen Zauber die zeitlich befristeten Möglichkeiten von Lebenden haben, zu den Lebenden zurück. In der philosophischen Diskussion kommen die Zombies auf eine etwas andere Weise zu einem

44 45 46 47

Vgl. Dennett 2005: 72. Vgl. a. a. O.: 122. Vgl. a. a. O.: 120. Vgl. die Aktualisierung des Arguments in: Nagel 1998.

87 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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neuen Leben: Hier sind es Wesen, die genau so handeln, wie wir selbst und uns bekannte Menschen es auch tun. Es gibt lediglich einen Unterschied zwischen ihnen und uns: Was auch immer sie tun, sie haben keinerlei Bewusstsein. Ihr Verhalten ist rein kausal bestimmt und das reicht als vollständige Bestimmung ihrer Bewegungen. Wenn die Zombies also reden, dann tun sie dies, weil hochkomplexe kausale Prozesse in ihnen ablaufen, aber nicht, weil ihnen irgendetwas bewusst wäre. Wenn Zombies sich etwas zu Essen besorgen, dann nicht, weil sie Hunger verspüren und sich entschließen, etwas zu essen, sondern allein, weil bestimmte Parameter in ihrem Körper andere Einheiten dieses Körpers dazu veranlassen, die Nahrungsaufnahme zu ermöglichen. Wichtig ist bei diesem Argument nun: Was auch immer Zombies tun, sie sind durch keinen Test und durch keinen Trick von lebenden und bewussten Menschen zu unterscheiden. Zombies würden sich also auch über Zombies unterhalten und über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Existenz. Welchen Ertrag sollte ein solches Argument neben einem gewissen Gruseleffekt für die Diskussion des Bewusstseins haben? Wieder wird eine klare Trennung versucht zwischen dem, was man wissenschaftlich über das Bewusstsein sagen kann und dem unmittelbaren Erleben. Wissenschaftlich beschreibbar sind alle kausal bestimmten Körperregulationen, sind etwa die Mechanismen, die ablaufen, wenn wir uns entscheiden, etwas zu essen. Wenn nun das Bewusstsein vollständig wissenschaftlich beschreibbar ist, dann kann es keinen Sinn haben, bei identischem Verhalten und bei identischen Abläufen im Körper zwischen Menschen und Zombies zu unterscheiden. Wenn man jedoch der Meinung ist, dass das Bewusstsein etwas Besonderes ist, das sich nicht mit wissenschaftlichen Mitteln allein beschreiben lässt, dann ist es zumindest denkbar, dass auch dann, wenn alles wissenschaftlich Messbare mit der Existenz von Bewusstsein identisch ist, dennoch etwas Entscheidendes fehlt, eben das, was sich den wissenschaftlichen Methoden entzieht, das Bewusstsein selbst. Die Stellung der beiden Gruppen zu diesem Argument ist klar: Die »Mystiker« anerkennen die Möglichkeit des Arguments, die »Wissenschaftsreduktionisten« dagegen lehnen das Argument als sinnlos ab. Die Position von Dennett ist dementsprechend: Wenn das Gehirn eines angeblichen Zombies die gleichen physiologische Abläufe hat wie die eines Menschen, dann ist der Zombie kein Zombie, sondern ein bewusster Mensch. Ein Zombie in der Weise des Arguments kann unmöglich 88 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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existieren. 48 Das ergibt sich aus dem funktionalistischen Ansatz von Dennett: Wenn alle einzelnen Elemente die gleiche Rolle und Funktion haben wie bei einem bewussten Menschen, dann entsteht notwendig Bewusstsein. Nun mag die Diskussion um Zombies ein wenig abstrus klingen. Aber auf ein anderes Feld transferiert, wird das Argument wesentlich gewichtiger, nämlich auf dem Feld der Diskussion um die künstliche Intelligenz. Sollte es gelingen, Computer zu bauen, die annähernd gleiche Funktionen aufweisen wie das menschliche Gehirn, müssen wir ihnen dann nicht auch ein Bewusstsein zusprechen? Dennett würde diese Frage konsequenterweise bejahen müssen, seine Gegner würden sie vehement ablehnen. Die Debatte um intuitive Argumente hat eine gewisse Popularität erlangt, jedoch ist ihr Ertrag fraglich. Auf Intuitionen zielende Argumente können niemals zwingende Kraft entfalten und so löst ein Argument das andere ab und die jeweiligen Parteien stimmen entweder zu, wenn die Intuition sie stützt, oder sie lehnen ab. 49 Für eine philosophische Diskussion ist der Ertrag dürftig. Doch scheint mir allein schon in der Tatsache, dass die Auseinandersetzung so und nicht anders geführt wird, jene Besonderheit des Bewusstseins zur Geltung zu kommen, die gerade die Verfechter der wissenschaftlichen Analysierbarkeit bestreiten!

8.

Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen

Die Position von Dennett wird über die auf Intuition zielenden Argumente meiner Ansicht nach zu Recht als unplausibel dargestellt, sie kann aber auf diese Weise nicht scharf kritisiert werden. Bevor wir aber nun zur Kritik an Dennetts Position übergehen, soll auf eine particula veri, ein berechtigtes Moment seiner Haltung aufmerksam gemacht werden. Man muss Dennett zugestehen, dass seine Vorbehalte gegenüber einer quasi substantiellen Sonderstellung des Bewusstseins nicht unbegründet sind. Mit diesem Argument einer faktischen Reifizierung 48 Vgl. Dennett 2005: 22. Vgl. auch die breite Diskussion des Problems bei Blackmore 2007. 49 Dennett folgt einem Rat von Hofstadter, die intiutiven Erzählungen zu behandeln wie unbekannte Gegenstände, die man wissenschaftlich untersuchen will. Dazu muss der Gegenstand veränderten Randbedingungen ausgesetzt werden. Dies tut Dennett mit Variationen der narrativen Argumente. Vgl. Dennett 2005: 104.

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des Bewusstseins ist der Dualismus eines Descartes nicht fern, der seinerseits erhebliche Mängel hat. So lautet ja auch der an seine Gegner gerichtete Vorwurf Dennetts: Wenn diese das Bewusstsein zu etwas Besonderem machen, das sich der wissenschaftlichen Erkenntnis entzieht, dann teilt sich das Universum in zwei Bereiche, in einen solchen, in dem Bewusstsein existiert und in einen solchen, in dem Bewusstsein nicht existiert. 50 Damit aber sei eine metaphysische Festlegung getroffen, die wieder zu einem Dualismus tendiere. In der Tat liegt hier eine Gefahr und wir werden später sehen, wie man ihr begegnen kann. Doch sicherlich ist es keine Lösung, die ungeklärten Probleme des Bewusstseins dadurch zu eliminieren, dass man einfach die Behauptung aufstellt, eine wissenschaftliche Analyse könne sie bewältigen. Wichtig sind die Argumente der von Dennett abfällig so genannten »Mystiker«, wie etwa Thomas Nagel, gerade deshalb, weil sie die Frage nach dem Bewusstsein (und damit auch nach der Wirklichkeit im Ganzen) offen lassen. Das Bewusstsein ist allerdings, wenn man sich vollkommen einer weiteren Bestimmung enthält und lediglich seine Unerforschlichkeit behauptet, oft nur noch ein letztes Bollwerk gegen die Übermacht der naturwissenschaftlichen Forschung. Allein die Tatsache, dass es ein Bewusstsein gibt, dass es so etwas wie Absicht, Intentionalität gibt, reicht dann etwa Searle als Beleg dafür, dass die naturwissenschaftliche Forschung mit ihren Mitteln nicht alles in der Wirklichkeit erkennen kann. 51 Das ist sicherlich ein kleiner Erfolg, aber dennoch viel zu wenig, um eine Ahnung für die Dimensionen zu wecken, die dieses Problem in sich trägt. An der Frage des Bewusstseins kann sich letztlich auch eine andere Sicht der Wirklichkeit entscheiden. Wir werden also nach Wegen suchen müssen, die beide Optionen vermeidet: den Weg des Dualismus mit der unhaltbaren Behauptung einer zweiten Substanz und den Weg des methodischen Monismus mit der Einschränkung alles Wirklichen auf den Erkenntnisbereich einer einzigen Methode.

Vgl. Dennett 2005: 16. Searle etwa sieht die intrinsische Intentionalität immer beobachterabhängig und damit der wissenschaftlichen Beschreibungsfähigkeit entzogen, vgl. Searle 2006: 14.

50 51

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A.

Zum Status von Sprache und Intentionalität

Die Heterophänomenologie nutzt in grober Aufteilung die Daten aus zwei Quellen: einerseits die Daten der zur Verfügung stehenden Messmethoden und zum anderen die sprachlichen Ausdrücke des Probanden, mit denen er sein Erleben schildert. Entscheidend ist die Frage, ob beide Datensätze denselben Status haben oder ob hier nicht ganz unterschiedliche Dinge miteinander verbunden werden. Es scheint, als ob Dennett an dieser Stelle die Arbeit ganzer Wissenschaftsbereiche kurzer Hand zusammen zwingen und geisteswissenschaftliche Methoden in naturwissenschaftliche integrieren will. Deshalb ist es ein problematischer Singular, wenn Dennett von der einen Methode der Heterophänomenologie spricht, als sei damit eine exakt umrissene Methode gemeint. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass sich unter dem Begriff der Heterophänomenologie eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Methoden verbirgt, die allein um ihre unbezweifelbare Wissenschaftlichkeit (im naturwissenschaftlichen Sinne) zu belegen, zu einer einzigen zusammengefasst wird. Doch damit bleiben die methodischen Probleme unberücksichtigt, die notwendigerweise entstehen, wenn so unterschiedliche Dinge, wie die Worte eines Probanden und seine EEG Daten, verarbeitet werden sollen. Es sind vor allem zwei Probleme, die ich sehe. Erstens: Wie soll man das Faktum von Intentionalität in objektiver Sprache fassen? Intentionalität ist ja kein banales Faktum unserer Welt, sondern ein philosophisch schwer einzufangendes Verhältnis von bewussten Akten und dem Objektbereich, auf den sie sich beziehen. In gewisser Weise ist das ganze Bewusstseinsproblem in nuce in dem Intentionalitätsproblem enthalten. Dennett konzediert, dass er Intentionalität von einem anderen Beobachtungsstandpunkt aus betrachten muss als etwa kausale Prozesse. 52 Intentionalität ist gekoppelt an Wünsche und Vorstellungen. Doch welchen wissenschaftstheoretischen Status haben diese Wünsche und Vorstellungen? Dennett negiert ihre Existenz nicht, es bleibt aber offen, was sie zu dem macht, was sie sind. Er lässt allein ein pragmatisches Argument gelten – Menschen lassen sich eben besser beschreiben, wenn man ihnen Intentionalität unterstellt – doch warum vermeidet er bei so schwacher Begründung die Folgerung, letztlich sei das Bewusstsein eben doch nichts anderes als biochemische Prozes52

Vgl. Thompson 2009: 90 ff.

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se? Meines Erachtens setzt Dennett die Plausibilität von Intentionalität einfach voraus, ohne ihren Status näher zu beschreiben. Wenn er das täte, müsste er dem Bewusstsein ein größeres Gewicht zukommen lassen, als es ihm recht ist. Wie will er Intentionalität beschreiben, ohne wiederum auf eine eigenartige, besondere Eigenschaft des Bewusstseins Bezug zu nehmen, die sich vielleicht doch nicht in objektivierender wissenschaftlicher Methodik erfassen lässt? Dies ist eine offene Flanke in der Argumentation von Dennett und wie er offen zugibt, weiß er auch darum. 53 Dennett ist bemüht, das Konzept der Intentionalität so einfach wie möglich zu gestalten, damit es nicht die Kraft einer Eigenständigkeit entfalten kann, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht. So kann er Intentionalität auch so einführen, dass Computerspezialisten von Computern wie von intentionalen Wesen reden und dass das seiner Ansicht nach Sinn ergibt. 54 Hier zeigt sich, dass er bemüht ist, die Intentionalität, die er zunächst exklusiv für das Bewusstsein eingeführt hat, als ein Konzept zu werten, dass auch für im herkömmlichen Sinne nicht bewusste Entitäten, wie Computer, angewendet werden können. Schimmert da nicht wieder die Kraft einer Intuition hervor, deren Berechtigung Dennett an anderen Stellen so vehement ablehnt? Man kann die Kritik an dem Intentionalitätsbegriff auch als den folgenden Verdacht formulieren: Die Marsbesucher, die Dennett als eine bildhafte Stütze seiner Argumentation anführt, sind, wenn man genau hinsieht, gar nicht so sehr fremde extraterrestrische Wesen, es sind vielmehr eigentlich Menschen, die lediglich darauf verzichten, ihre eigenen unmittelbaren Eindrücke des Bewusstseins zu nutzen. Wie sollten sie sonst auf die Idee kommen, dass der menschliche Proband mit seinen Lautäußerungen eine Absicht verbindet? Wieso sollten sie überhaupt ein Konzept von Absicht haben? Mit der Intentionalität wird von Dennett eine Größe eingeführt, die tatsächlich gegen Dennetts Absicht allein dadurch begründet werden kann, dass die Beobachtenden selbst bewusste Wesen sind, dass sie wissen, was eine Absicht ist und sich deshalb in die Situation der Probanden einfühlen können. Ich halte deshalb das Argument von Searle, das »Chinese Room«

So fragt er selbst: »Is this neutrality of the intentional stance on the zombie problem a bug or a feature?« Dennett 2005: 38. 54 Vgl. Dennett 2007: 86 f. 53

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genannt wird, nach wie vor für triftig. 55 Hiernach kann man aufgrund sinnvoller Rede- und Antwortverhalten in einem Dialog nicht auf die Bewusstheit der Teilnehmenden schließen. Intentionalität ist eben keine von außen im objektiven Modus detektierbare Größe. Natürlich ist auch dieses Argument narrativ und appelliert an die Intuition. Es kann also nicht die Position von Dennett widerlegen, es kann sie aber unplausibel machen. Der zweite Kritikpunkt schließt unmittelbar an den ersten an. Denn es ist ja nicht damit getan, dass man annimmt, dass Menschen Intentionen haben. Die sprachlichen Äußerungen sind nicht nur absichtsvoll, sie bedeuten auch etwas. Nun ist die Deutung sprachlicher Akte nie eindeutig. Je größer die kulturelle Differenz zwischen dem Sprechenden und dem Hörenden ist, desto größer ist die Herausforderung, das Gesagte zu deuten. In den Geisteswissenschaften hat sich eine vielfältige und ausdifferenzierte Kunst der Auslegung etabliert. Ein Grundwissen um die hermeneutischen Regeln gehört zu jeder Forschung, die sich anderen Kulturen oder anderen Zeiten nähern will. Doch Dennett macht den Anschein, das alles überspringen zu können. Seine einzige, dürftige Konzession an der Möglichkeit von Verständnisdifferenzen ist die, dass mehrere Hörer, die zudem die Sprache beherrschen müssen, in der gesprochen wird, das Gesagte interpretieren sollen. 56 Hier scheint Dennett dieselbe Strategie zu verfolgen wie schon bei der Intentionalität. Er konzediert eine Schwierigkeit, aber zugleich beschreibt er sie so, dass sie möglichst gering erscheint. Das mag für einfache Versuche, in der grundlegende Erfahrungen abgefragt werden, noch möglich sein. Wie aber will Dennett Aussagen über ein Bewusstsein machen, das religiöse Empfindungen hat, das philosophische oder sprachtheoretische Probleme löst? Hier wird das, was der Proband sagt, derart schwer zu interpretieren, dass es völlig unmöglich scheint, die Aussage des Probanden nicht mit größter hermeneutischer Sorgfalt und Raffinesse zu behandeln. Dabei hätte Dennett doch ein ihm ganz bekanntes Anschauungsobjekt, wenn er die Komplexität erkennen will: Was geht im Bewusstsein von Dennett vor sich, was im Bewusstsein seiner Gegner, wenn sie im Streit die Intuitionspumpe bedienen? Sollten die Probleme auf simple Sprachprobleme zu reduzieren sein? 55 56

Vgl. Searle 2006: 98 f. Vgl. Dennett 1993: 75; Thompson 2009: 14 f.

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B.

Die Wirklichkeit als geschlossene Welt

Dennett macht also einen Versuch, die Deutung des Bewusstseins in eine objektive Methode zu zwingen und es so der wissenschaftlichen Forschung vollständig zugänglich zu machen. Deshalb ist seine unhinterfragte Erkenntnisvoraussetzung: Eine Theorie des Bewusstseins muss aus der 3.-Person-Perspektive, also aus einer objektiven Perspektive heraus vorgenommen werden, weil alle Wissenschaft aus dieser Perspektive geschieht. 57 Zuoberst aller Argumente von Dennett steht sein Vertrauen in die umfassende Erkenntniskraft der Wissenschaften. Dieses Vertrauen ist wie viele andere grundlegende Lebenshaltungen nicht empirisch abgesichert, sondern entspringt einem grundlegenden, nicht mehr hinterfragten Ausgangspunkt. Einen solchen, nicht mehr hinterfragbaren Ausgangspunkt der eigenen Orientierung haben alle Menschen, wie wir später sehen werden, wir zehren von Grundannahmen, die sich nicht mehr rational einfangen lassen. In der Entfaltung des phänomenologischen Realismus wird sich zeigen, dass dies unumgänglich ist. Letzte oder besser allererste Annahmen sind nicht begründbar. 58 Auch wer sich entschieden haben mag, nur noch dem rationalen Argument zu folgen, kann dieses wiederum nicht rational begründen. Insofern kann man an der Tatsache eines unbegründeten Grundvertrauen Dennetts schlecht Kritik üben. Dennett erweckt allerdings immer wieder den Eindruck, seine Haltung sei »rational« und damit begründet. Doch dies ist eine Scheinbehauptung. Man muss seine Voraussetzungen nicht teilen. Die Wissenschaft hat uns Zugang zu vielen Bereichen der Wirklichkeit ermöglicht, die uns vorher nicht zugänglich waren. Zudem hat sie uns gelehrt, die Dinge anders, und das heißt auch in vielen Fällen, besser zu sehen. Jedoch lässt sich aus den Bedingungen des zu entwickelnden phänomenologischen Realismus ableiten, dass die Wissenschaften bei weitem nicht alle Erscheinungsweisen der Wirklichkeit erreichen. Das schmälert nicht ihre Verdienste, es überhöht sie aber auch nicht zu der einen und einzigen Weise des Zugangs zur Wirklichkeit. In den Annahmen von Dennett zeigt sich weiterhin ein nicht unbeträchtliches spekulatives Element, nämlich dies, dass der bisherige Erfolg der Wissenschaften unbegrenzt fortVgl. Dennett 1993: 71. Darauf werden wir in Kapitel 8.3. genauer eingehen. Auch der dem Rationalismus so verpflichtete Karl Popper konzediert diese Situation, vgl. Popper 1992: 271.

57 58

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geschrieben werden kann. Er rechnet nicht ernsthaft mit einer Einsicht in ihre Grenzen. Doch ist das wissenschaftliche Projekt ein endliches Projekt von endlichen Menschen. Aus welcher Perspektive sollten wir den ganzen Weg, auf dem wir uns befinden, und auch seinen künftigen Verlauf einsehen können? Hier ist die kritische Frage zu stellen, die unsere Arbeit begleitet: Wir müssen uns immer wieder zurückrufen in die endliche leiblich-existentielle Erkenntnissituation. Nur so können wir Spekulationen über »die Welt«, »den Menschen« und so weiter vermeiden. Die Bevorzugung des einen Zugangs zur Wirklichkeit hat für Dennett auch Folgen für seine Sicht von der Welt. Seine Position ist bei allen Relativierungen dem Naturalismus zuzurechnen. Es gibt eine gültige Sicht auf die Welt und dies ist die objektive. Sein Vertrauen in regelmäßige und feststehende Muster und Strukturen der Welt ist Voraussetzung für die Annahme, dass sie wissenschaftlich erfasst werden können. Nun unterscheidet Dennett durchaus zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die Welt, die er mit den unterschiedlichen Haltungen (stances) zur Wirklichkeit korreliert. 59 Man kann die Dinge unter der Maßgabe sehen, dass sie kausal verursacht sind (physical stance), dass sie Funktionen haben (design stance) oder dass sie intentional agieren (intentional stance). Diese Unterscheidung macht den Realismus, wie Dennett selbst sagt, zu einem milden Realismus, er versucht durch diese Relativierung auf den jeweiligen Beobachterstandpunkt die Reduktion auf einen eliminativen Realismus, der nur noch materielle Prozesse kennt, zu vermeiden. Er strebt danach, menschliche Werte oder die Eigenständigkeit des Bewusstseins zu bewahren. Doch muss man die kritische Frage stellen, inwieweit er mit einer solchen Unterscheidung eine stabile Abgrenzung gegen einen harten Reduktionismus geschaffen hat. Denn wenn es zum Schwur kommt, betont Dennett die eine, nämlich wissenschaftliche Perspektive, aus der die Wirklichkeit in Gänze beschrieben werden kann. Dementsprechend kann Dennett auch von einer gewissen Hegemonie der kausalen und funktionalen gegenüber der intentionalen Betrachtung reden. 60 Dann aber verbleibt er doch in einer Weltsicht, die wir die geschlossene Weltsicht genannt haben, die sich gut in die Konditionen der Leonardo-Welt einfügt. Wirklich ist allein das, was sich unter einer abstrahierenden, aus einer 59 60

Vgl. Dennett 2005: 37; Thompson 2009: 90 ff. Vgl. Thompson 2009: 152.

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objektivierenden Perspektive darstellen lässt. Man muss die Frage stellen, in der eigenen Terminologie von Dennett, wie mild sein »milder Realismus« tatsächlich ist. Unbestritten ist sein Versuch, in der objektiv, wissenschaftlich beschriebenen Welt Fenster zu den Bereichen menschlicher Werte und der Eigenständigkeit menschlichen Bewusstsein zu öffnen. Doch wirken diese Fenster eher wie Zierden, Sichtfenster, nicht wie Erweiterungen der Wirklichkeit. Denn sollte das letztere der Fall sein, müsste sich Dennett mit dem Problem beschäftigen, wie er den Bereich beschreiben will, der sich jenseits des Raumes wissenschaftlicher Beschreibungen öffnet. Diese unklare Haltung bestimmt auch seine Methode der Heterophänomenologie. Einerseits will er mit der Methode eine Erweiterung gegenüber den rein physikalisch-biologischen Messmethoden erreichen. Doch er legt nicht wirklich Rechenschaft darüber ab, wie die Erweiterung methodisch abgesichert werden kann und warum sie sich letztlich von den anderen Methoden unterscheidet. In gewisser Weise, kann man so resümieren, will er den Gewinn einer Eigenständigkeit des Bewusstseins, ohne die Last der Beschäftigung mit den in naturwissenschaftlichen Kontexten nicht zu bewältigenden Fragen nach Deutung sprachlicher Äußerungen oder intentionaler Akte. Dennetts Versuch einer Öffnung der Beschreibung der Wirklichkeit gegenüber der geschlossenen reduktiven Sicht eines eliminativen Materialisten wirkt deshalb halbherzig. Letztlich verbleibt Dennett in der Sphäre eines reduzierenden Naturalismus. Dies ist vor allem dadurch begründet, dass er eine Grundannahme seiner Philosophie nicht in Frage stellen will: dass die Welt vollständig mit wissenschaftlichen Mitteln verstanden und beschrieben werden kann. Schließlich bleibt noch, auf die Armut hinzuweisen, die zwangsläufig in einer Welt herrscht, die mit wissenschaftlichen Mitteln allein, aus einer unpersönlichen Perspektive erfasst werden kann. In dieser Welt spielen Kunst und Poesie nur noch eine marginale Rolle. Wenn sich ein Naturalist verliebt, kann er dieses Erleben aus seiner »subjektiven« Sicht genießen, doch zugleich muss er sich immer Rechenschaft darüber ablegen, dass das Geschehen, das ihn erfasst, von der Heterophänomenologin an der Universitätsklinik besser erfasst werden kann als von ihm selbst. Alles unmittelbare Erleben erhält dadurch eine Klammer mit dem Vorbehalt der Uneigentlichkeit. Es scheint nur so, als ließe die Musik tiefe Ahnungen möglich werden, es scheint nur so, als sei die Liebe zu einem bestimmten Menschen einzigartig, doch tat96 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen

sächlich sind es nichts als biochemische Prozesse und heterophänomenologisch beschreibbare kulturelle Deutungsmuster. Die Welt wird ärmer, wenn man sie in ein Prokrustesbett der reinen wissenschaftlichen Beschreibbarkeit zwängt. Die naturalistischen Annahmen haben einen spekulativen Anteil – nämlich die Identitätsbehauptung von wissenschaftlichen Beschreibungen und der Wirklichkeit –, der sie nicht reicher, sondern ärmer macht. 61 Ich glaube deshalb, dass hier die naturalistischen Positionen eine Einschränkung zur Folge haben, die ihre Verfechter in ihrem eigenen Lebenskontext ignorieren müssen. Damit ist aber bei jeder naturalistischen Position ein pragmatischer Selbstwiderspruch angelegt.

C.

Der Mensch als eingekapseltes Wesen

Mit einer mehr oder minder geschlossenen Weltsicht korrespondiert eine Auffassung vom Menschen, die letztlich auf die Annahme eines isolierten, körperlichen Individuums hinausläuft. Nun kann diese Behauptung auf den ersten Blick unbegründet erscheinen, da es doch gerade Dennett ist, der mit dem Konzept der »Meme« die soziale und kulturelle Eingebundenheit des Menschen zu erfassen versucht.62 Ich glaube jedoch, dass hier eine ähnliche, eher schwach ausgebildete Ergänzung zur biologischen Beschreibung vorliegt wie wir es schon bei der Lehre der unterschiedlichen Haltungen (stances) gesehen haben. Die Dominanz der Vorstellung von isolierten menschlichen Wesen zeigt sich wiederum bei einer genaueren Betrachtung der heterophänomenologischen Methode. Wie genau sieht die Situation aus, in der ein Mensch heterophänomenologisch untersucht wird? Idealtypisch kann man eine Laborsituation annehmen, in der ein Mensch sich als Proband 61 Der Vorwurf, dass eine solchermaßen spekulative Philosophie zu einer Verengung der Weltsicht führt, ist schon alt. Schon Kant schrieb bezogen auf den Nutzen einer durch die Kritik geläuterten Metaphysik: »Dieser aber wird alsbald positiv, wenn man inne wird, dass die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenze hinaus wagt, in der Tat nicht Erweiterung, sondern, wenn man sie näher betrachtet, Verengung unseres Vernunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen.« Kant 1787 (1): 30. 62 Vgl. Thompson 2009: 75.

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

zu Untersuchungen bereit erklärt. Die Wissenschaftler bauen ein experimentelles Szenario auf und untersuchen dann sowohl das, was der Mensch sprachlich äußert als auch das, was sie an Körperreaktionen und -aktivitäten messen können. Nun ist dieser Mensch kulturell eingebunden, doch das spielt in der Situation der Untersuchung nur eine nachgeordnete Rolle. Es hat lediglich Einfluss darauf, wie seine Sprechakte zu behandeln sind. Diese sollten von solchen Menschen ausgewertet werden, die denselben kulturellen Hintergrund haben, damit es möglichst wenig Verständnisschwierigkeiten gibt. Die entscheidende, weil umfassende Betrachtung eines Menschen ist die Betrachtung mittels der heterophänomenologischen Methode und in dieser Methode wird ein menschlicher Organismus untersucht, der in der Lage ist, sprachlich Äußerungen zu machen. Und damit wird eben im Kern der Methode der Mensch als ein in seinen Körper eingekapseltes Wesen verstanden, das in der Lage ist, sprachliche Akte zu vollziehen. Es ist völlig außerhalb dieser Betrachtung, dass vielleicht relevante Anteile dessen, was einen Menschen ausmacht, im Labor nur in der Anwesenheit der Forschenden selbst präsent sind, so dass sich die Forschenden ihrerseits von diesen Anteilen gar nicht mehr wissenschaftlich distanzieren können. Und das Szenario gibt ebenso wenig eine Idee davon, dass das, was den Menschen ausmacht, sich einer räumlich-zeitlichen Fixierung (Laborsituation) entziehen könnte. Hier zeigt sich eines der gravierenden Missverständnisse, die in unserer gegenwärtigen Kultur angelegt sind. Die Annahmen der Methode legen nah, dass wir den Menschen als ein eingekapseltes Wesen, also als einen Organismus mit »Innenleben« deuten und hinreichend beschreiben können. Wie fragwürdig diese Vorstellung aber ist, sollen einige Anmerkungen deutlich machen. Wir werden weitergehende Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, ab dem fünften Kapitel beschreiben. Wir sehen einen Menschen, hören ihn reden und folgern zugleich auf die Gedanken, die wir auf seinen Körper beziehen. Doch wir sehen oder erfahren seine Gedanken gar nicht, wenn wir ihn betrachten! Wir erfahren allein und einzig unsere eigenen Gedanken, die die Bewegungen des Körpers und die Laute interpretieren. Ist es also falsch, dem anderen Gedanken zuzuweisen? Nein, aber es ist falsch anzunehmen, wir könnten die Gedanken genauso wahrnehmen wie die Bewegungen eines Körpers. Fremde Gedanken sind uns nur zugänglich über unsere Gedanken, wir wissen nur, was Gedanken sein können, weil wir selbst denken. Wir folgern aus der Erfahrung mit unseren Gedanken, dass 98 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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auch andere solche Gedanken haben können. So wie ein menschlicher Körper uns erscheinen kann, nur weil wir selbst körperlich neben ihm stehen, so können die Gedanken uns nur erscheinen, weil wir selbst denken. Die Gedanken anderer Menschen werden nur und ausschließlich als Gedanken erkennbar, wenn wir sie selbst denken. Die Gedanken eines anderen Menschen sind also nicht durch seinen Körper und dessen Bewegungen gegeben, so wenig wir unsere Gedanken durch unseren Körper gegeben sind. Wenn man Gedanken behandelt, als seien es zelluläre Prozesse, dann begeht man einen Argumentationsfehler, der in seiner klassischen Form eine metabasis eis allos genos genannt wird, ein Argumentationsfehler, der dadurch entsteht, dass man innerhalb eines Arguments von einem Sachgebiet in ein fremdes springt. Es ist uns aber nicht möglich, ein logisches Verhältnis, das zwischen zwei Gedanken besteht, in ein kausales Verhältnis zweier Erregungsmuster von Neuronen zu überführen. Dass Gedanken sich wie kleine Gegenstände im Kopf befinden, folgt nur dann, wenn man annimmt, dass es sich bei den Gedanken um ähnliche Gegebenheiten handelt wie Zellen. Dann müssen sie die Eigenschaft haben, sich in einem räumlichen Gefäß zu befinden. Gedanken sind allerdings dadurch ausgezeichnet, dass man ihnen kein räumliches Maß zuordnen kann. Ein Gedanke ist nicht so und so lang oder breit. Wie aber kann man etwas, das selbst keinem räumlichen Maß gehorcht, einen Ort im Raum, nämlich den Ort im Gehirn zuweisen? Was überhaupt behauptet man, wenn man etwas Raumloses einem bestimmten Ort im Raum zuordnet? Kommt hier nicht allein ein bestimmtes Ordnungsbedürfnis zum Vorschein? Alles in allem sieht man, dass in dem Anspruch der Heterophänomenologie und ihrem Versuch, Gedanken und körperliche Erscheinungen methodisch zu verbinden, ein fundamentaler Fehler vorliegt. Wir können viele Dinge in unserer Wirklichkeit mit großer Distanz beschreiben, die Vorgänge auf der Erde ebenso wie die im Universum. Jedoch wenn es um Gedanken geht, sind die Verhältnisse andere. Denn wir können uns von unserem Bewusstsein nicht distanzieren. Es gibt keinen Beobachtungspunkt von dem aus wir ein Bewusstsein betrachten könnten. Denn das, was wir beschreiben wollen, ist immer schon Voraussetzung für die Möglichkeit einer Beschreibung. Wir können uns nur als bewusste Wesen über das Bewusstsein Gedanken machen. All diese Probleme versucht die Heterophänomenologie zu ignorieren. Der Gang der Argumentation zeigt, dass man den Menschen eben nicht im Modus der objektiven Betrachtung erfassen kann, sondern 99 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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3. Der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett

nur so, dass man sich selbst als Betrachter als konstitutiv in die Betrachtung einbezieht. Die Methode der Heterophänomenologie ist von einer eigentümlichen Selbstvergessenheit des Betrachters bestimmt. Diese Selbstvergessenheit ist nun andererseits nicht verwunderlich, folgt sie doch der fundamentalen Prämisse Dennetts: Es ist einzig die objektivierende Methode der Wissenschaften, die die Wirklichkeit wahrhaft zu erkennen in der Lage ist.

D.

Dennett als Denker der Leonardo-Welt

Die Kritik hat gezeigt, dass die Position von Dennett weder argumentativ schlüssig ist noch der Vielfalt der Wirklichkeit gerecht wird. Der Preis einer Öffnung zu vielfältigeren Zugängen zur Wirklichkeit wäre eine Relativierung seiner Einschätzung der Wissenschaften. Das Festhalten an der einzig wahren Beschreibung der Welt durch objektivierende Methoden weist Dennett letztlich als Philosophen der LeonardoWelt aus. Es impliziert ebenso die Vorstellung einer geschlossenen Welt wie auch die Idee des Menschen als eines eingekapselten Wesens. Dennett möchte eine »realistische« Position retten, auch wenn er sie ein wenig relativiert, indem er von einem »weichen« Realismus redet. Doch er übersieht dabei die Dialektik, dass auch in dieser Position die eigene Haltung konstitutiv ist. Heisenberg hat das einmal so auf den Begriff gebracht: »Doch schon das Bekenntnis zu dem Glauben (sic!), dass die objektivierbare Schicht der Wirklichkeit die ›eigentliche‹ Wirklichkeit sei, verwandelt oder bestimmt die Wirklichkeit in ähnlicher Weise wie irgendein anderer Glaube, und damit sind wir der subjektiven Bedingtheit der Wirklichkeit wieder ebenso ausgeliefert wie früher.« 63 Eine Hinwendung zu einem offenen Konzept der Wirklichkeit kann nur dann gelingen, wenn wir uns von der Allzuständigkeit der Wissenschaft lösen. Sich von dieser Vorstellung zu lösen, darf nun aber auch nicht heißen, dass die Wissenschaften zu einer Erkenntnisbemühung unter vielen werden. Eine solche relativistische Position ist kaum überzeugend angesichts der vielen Jahrhunderte, in denen die Wissenschaften die Wirklichkeit in neuer Weise zugänglich gemacht und in-

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Heisenberg 1942: 302.

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Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen

terpretiert haben. Die entscheidende Frage wird sein, wie es gelingt, die Erfolge der Wissenschaften zu würdigen, ohne sie zu verabsolutieren. Zu diesem Ziel soll der Ansatz eines phänomenologischen Realismus führen.

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II. Die Bedingungen des phänomenologischen Realismus 4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty 1.

Rückblick auf Descartes und Dennett: Ortloses Erkennen

Mit den philosophischen Ansätzen von Descartes und Dennett haben wir zwei sehr unterschiedliche Wege besprochen, die eine geschlossene Darstellung der Wirklichkeit anstreben. Während Descartes zu Beginn der Neuzeit eine Grundlage für zweifelsfreies Erkennen in der Aufteilung zwischen res cogitans und res extensa sucht, strebt Dennett danach, eine an den Naturwissenschaften angelehnte Methode als die allein gültige zu etablieren, über die sich zweifelsfrei entscheidet, wie die Wirklichkeit zu deuten ist. Beide Ansätze eint der Versuch einer geschlossenen und konzisen Deutung der Wirklichkeit. Sie erheben damit zugleich den Anspruch, unklare Verhältnisse, mögliche Irrtümer durch ihre methodische Grundlegung auszuschließen. Diese Motivation ist für beide Autoren zentral, wie man allein schon an ihren häufigen Beschäftigungen mit Fehlschlüssen sehen kann. Hier zeigt sich ein Signum der europäischen Neuzeit, nämlich der Wunsch einer vollständigen und konsistenten Darstellung der Wirklichkeit, die sich nicht aus Zufallsbefunden ergibt, sondern aus ihren inneren Prinzipien. 1 Eine genauere Analyse der Ansätze hat nun gezeigt, dass sie diesen Anspruch nur aufrechterhalten können, wenn sie zugleich weitreichende Probleme ignorieren. Ihr Kern liegt in der Unfähigkeit, die Situation des Erkennenden angemessen zu berücksichtigen. Sie suggerieren dadurch eine Klarheit des Erkennens, eine widerspruchsfreie Darstellung der Wirklichkeit, die einer kritischen Nachfrage nicht standhält. Der Preis, den sie für die proklamierte Geschlossenheit der »Die Natur, einmal als Buch verbildlicht, soll eben diese Qualität eines Ganzen aus einem Wurf schon haben und sich darin bewähren, die im Begriff vorweg erzwungene Einheit unter Gesetzen als auch nachvollziehbare, erwerbbare Einsicht zu begründen.« Blumenberg 1983: 18.

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Wirklichkeit zahlen, ist hoch. Das zeigt sich jedoch erst einem zweiten Blick. Denn das erkennende Bewusstsein wird eigentümlich ortlos, es verliert als erkennendes Bewusstsein seine Bestimmung innerhalb der Darstellung der Wirklichkeit. Beim Ansatz von Descartes stellt sich die unlösbare Frage, wie sich die beiden getrennten Substanzen aufeinander beziehen. Beim Ansatz von Dennett dagegen ist die angemessene Berücksichtung des Betrachtenden, seine Verbindung mit dem, was er objektivierend betrachtet, gar nicht mehr im Blick. Es wird schlechterdings unmöglich, Rechenschaft darüber abzulegen, wie man selbst, wenn man ein Gehirn beobachtet und analysiert, diese Tätigkeit mit nichts anderem als mit eben einem solchen Gehirn ausführen kann. George Herbert Mead sagt zu Recht unter Berufung auf Bertrand Russell, dass nicht der Kopf interessant ist, den der Physiologe untersucht, sondern der Kopf des Physiologen selbst. 2 Bei genauerer Betrachtung zeigen diese Vorschläge, dass das Erkennen dadurch tatsächlich ortlos geworden ist. Wenn der Erkennende sich auf die eigene Vernunft bezieht, bleibt offen, wie er diese Vernunft, das »Reich der Wahrheit«, wie es Kant nannte, mit der zu erkennenden Wirklichkeit in Relation setzt. Wenn er sich dagegen auf das bezieht, was sich objektiv beschrieben als Bewusstsein eines Probanden zeigt, stellt sich die Frage, wie er sein eigenes Bewusstsein mit dem Bild vom Bewusstsein des Probanden in Beziehung setzt. Neben der Ortlosigkeit des Erkennenden bewirken die Vorschläge außerdem eine Verarmung der Wirklichkeit. Der ortlose Beobachter sieht sich einer gleichförmigen Welt als res extensa oder als mit einer einzigen dominanten Methode zu erschließenden materiellen Wirklichkeit gegenüber. Diese Wirklichkeit wird scheinbar von ihren inneren Prinzipien her erschlossen und eben dadurch gleichförmig. Die wenigen Prinzipien, die Allzuständigkeit einer bestimmten Sprache oder einer Methode schwächen die Fähigkeit, differenzierende Nuancen als solche wahrzunehmen, ihnen ein eigenständiges Recht zuzubilligen und sie nicht nur als subjektive Wahrnehmungen oder als akzidentielle Randerscheinungen zu denunzieren. Wenn aber diese Vorschläge nicht überzeugen, entsteht die Frage, von welchem Punkt aus ein alternativer Weg eines endlichen, leibgebundenen Erkennens begonnen werden kann, das den Ort des Erkennens eine angemessene Beachtung zukommen lässt. Eine ungelöste Schlüsselfrage unserer Zeit, das haben die Diskussionen von Descartes 2

Mead 1934: 78.

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Rückblick auf Descartes und Dennett: Ortloses Erkennen

und Dennett gezeigt, ist die Bestimmung dessen, was wir Bewusstsein nennen. Wie ist es möglich, die Existenz von Bewusstsein mit den Bedingungen einer materiellen Welt zu verbinden? Existiert so etwas wie Bewusstsein überhaupt als eigenständige Größe? Sicherlich nicht so wie die Gegenstände, mit denen wir im Alltag zu tun haben. Was aber meint dann der in der Alltagssprache so geläufige Begriff? Vielleicht ist ja der Übergang von alltäglicher Sprache zu einer philosophischen Frage problematisch. In der Vermutung, dass das Bewusstsein, so wie wir das Wort im Alltag verwenden, kein Explanandum ist, sondern ein Explanans, steckt wohl eine tiefe Einsicht. Das heißt, das Wort Bewusstsein wird nicht benutzt, weil es erklärt werden kann, sondern es ist seinerseits ein Hilfsmittel, das gebraucht wird, um etwas zu erklären. Es erklärt einen vielschichtigen Zustand, in dem intelligente Wesen sein und sich selbst erfahren können. Es hilft, spezifische Erfahrungen zu benennen, die wir mit uns selbst machen und die wir anderen zusprechen können. Ist also das erkennende Bewusstsein der Ort, von dem aus eine Theorie des phänomenologischen Realismus operieren muss? Wir werden sehen, dass das nicht der Fall ist. Es wird zu zeigen sein, dass das Problem der Verbindung von Bewusstsein und materieller Welt nur dann besser beschreibbar wird, wenn wir zunächst einmal sowohl von einem vorgegebenen Konzept des Bewusstseins wie auch von einem vorgegebenen Konzept einer materiellen Welt absehen. Wir werden nur dann fortschreiten können, wenn wir uns zunächst von den Prämissen der Leonardo-Welt trennen. Später wird sich dann zeigen, dass die alltäglichen Konzepte nicht verloren gehen, sondern nur suspendiert werden mussten, um einen neuen Ansatz zu ermöglichen. Unter veränderten Rahmenbedingungen können sie dann wieder eingeführt werden und unter veränderten Interpretationsbedingungen erneut zur Geltung kommen. Kann es ein Konzept von Wirklichkeit geben, das sich jenseits der Alternative von Substanz-Dualismus und methodologischem Monismus befindet? Wenn wir schon die Existenz einer zweiten Substanz anzweifeln, können wir Spekulationen über drei oder mehr Substanzen von vornherein ausschließen. Aber bleiben dann nicht nur diese beiden Wege, entweder unseren alltäglichen Intuitionen zu folgen und eine zweite Substanz anzunehmen oder der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu folgen und von einer einzigen Substanz auszugehen, die sich vollständig allein durch wissenschaftliche Methoden erschließen 105 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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lässt? Wenn wir aus dieser fatalen Alternative heraus wollen, müssen wir einen Weg finden, auf dem die scheinbar zwangsläufige Entscheidung zwischen den beiden einzigen Alternativen vermieden wird. Es muss ein Weg sein, der keine Festlegung, sei es auf eine oder zwei Substanzen, vornimmt. Noch etwas anderes ist zu bedenken. Es gibt eine grundsätzliche Zirkelstruktur zwischen der Wahl der Methode und dem Konzept von Wirklichkeit, das man vertreten will. Beide Entscheidungen befinden sich in einer wechselseitigen Abhängigkeit. 3 Ohne Zweifel entscheidet die Methode der Untersuchung darüber, was sich als wirklich herausstellt und was nicht. Zugleich aber bedingt meine Vorstellung, worum es eigentlich bei der Wirklichkeit geht, die Wahl der Methode. Es gibt also eine unauflösliche Verbindung zwischen der Entscheidung für das, was wir für wirklich halten und der Entscheidung für eine Methode zur Beschreibung der Wirklichkeit. Dieser enge Zusammenhang hat sich ja auch deutlich bei der Grundentscheidung von Dennett gezeigt, nur wissenschaftliche Methoden zur Erkenntnis der Wirklichkeit zuzulassen. Die Folge war eine reduzierte Wirklichkeit, nämlich eine solche, die allein in objektivierender Weise erfasst werden kann. Dieser Zirkel hat mit unserer Erkenntnissituation, mit den Bedingungen des leibgebundenen Erkennens zu tun. Wir sind immer schon Teil dessen, was wir erkennen wollen. Es gibt also nicht zunächst einmal etwas, das von uns unabhängig gegeben wäre, für das wir dann in einem zweiten Schritt eine geeignete Methode suchten. Wenn wir aber fordern, eine Beschreibung der Wirklichkeit könne uns selbst, die Beobachter, die die Wirklichkeit zu erkennen bestrebt sind, nicht außen vor lassen, dann wird es schwierig, die Methoden zu bestimmen, denn streng genommen, gehören ja auch die Methoden zu der zu beschreibenden Wirklichkeit. Untersuchen wir aber die Wirklichkeit mit den Methoden, die wir vorher festgelegt haben, dann schließen wir zugleich mit diesen Methoden all das aus, was durch diese nicht erfasst werden kann. Die Vorstellung von der Wirklichkeit wird verflachen. Wie sollen wir mit diesem Dilemma umgehen? Da uns keine Quelle Auf diese zirkelhafte Struktur weist unter anderem auch Putnam hin: »Die Abhängigkeit unserer Methoden von unserem Weltbild ist etwas, das ich in meinen anderen Büchern betont habe; hier möchte ich die andere Seite der Abhängigkeit hervorheben, die Abhängigkeit der empirischen Welt von unserem Kriterium der rationalen Akzeptierbarkeit.« Putnam 1990: 182. Methoden und Weltbild, empirische Welt und methodische Kriterien bedingen einander.

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Charakteristika der phänomenologischen Methode

zur Verfügung steht, die uns letzte metaphysische Gewissheiten zur Verfügung stellen kann – das war der Weg von Descartes –, bleibt nur eine möglichst offene Suche. Aufgrund dieser gegenseitigen Abhängigkeit sollten wir nicht nur die Frage, was die Wirklichkeit umfassen könnte, offen lassen, sondern auch die Frage, auf welchen Wegen wir uns die Wirklichkeit erschließen können. Damit ist auch schon eine erste Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen. Wir sollten zunächst einmal möglichst offene Methoden verwenden, die möglichst wenig einschränken und sollten weiterhin die Frage nach einem Rahmenkonzept der Wirklichkeit zurückstellen. Das Vorgehen gleicht eher einem Vortasten als einer Erschließung eines bekannten Geländes.

2.

Charakteristika der phänomenologischen Methode

Wo sollen wir also ansetzen? Wir sollten dort ansetzen, wo wir gerade sind und uns dem zuwenden, was sich gerade zeigt. Wir sollten also an dem Ort ansetzen, an dem wir uns gerade befinden und wir sollten uns auf das beziehen, was sich zeigt. 4 Die Entscheidung, das, was sich zeigt, zum Ausgangspunkt zu machen, ermöglicht von Beginn an die Einbeziehung des Beobachters in die Betrachtung dessen, was er beobachtet. Was wir beobachten, wird nicht in einer schon gegebenen Welt verortet, sondern als das genommen, was sich zeigt. 5 Das klingt einfacher, als es ist, denn damit ist nicht gemeint, einfach im Modus der alltäglichen Wirklichkeitserfahrung zu verbleiben. Wir müssen einer Grundregel der phänomenologischen Methode, wie sie Edmund Husserl ausgearbeitet hat, folgen, der epoché, der Einklammerung oder Ausschaltung aller Vermutungen und Urteile über das räumlich-zeitliche Dasein dessen, was sich zeigt. Husserl beschreibt zunächst, dass das alltägliche Erleben von einer Generalthesis, also von einer umfassend gültigen Annahme geprägt ist: »Ich finde beständig vorhanden als mein Gegenüber die eine räumlich-zeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre, wie alle anderen in ihr vorfindlichen und auf sie in gleicher Diese Haltung ist völlig offen und schließt nichts aus, da auch Erinnerungen als Erinnerungen sich hier und jetzt zeigen, ebenso wie imaginäre Vorstellungen oder Zukunftserwartungen. 5 Es wird also nicht die Menge der Phänomene eingeschränkt, wohl aber die Vermutungen über die Hintergründe, vor denen sich die Phänomene zeigen. 4

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Weise bezogenen Menschen.« 6 In diesem Modus des alltäglichen Wirklichkeitserlebens geschieht also schon immer eine Perspektivierung, die die Welt als ein Gegenüber von gegebenen Größen wahrnimmt. 7 Von diesen in der Regel unproblematischen, fraglosen Annahmen soll abgesehen werden, damit die Phänomene als das zum Vorschein kommen, was sie sind: zunächst reine Phänomene. Das, was sich zeigt, sollten wir erst einmal allein in der Weise, wie es sich zeigt, für gegeben halten, ohne gleich die Frage zu stellen, was sich denn dahinter verbirgt. Die Verortung des Phänomens in einer immer schon gegebenen und vertrauten Welt sollen wir also nicht vollziehen. Dieses Vorgehen entspricht der phänomenologischen Methode. »Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in Klammern: also diese ganze natürliche Welt, die beständig ›für uns da‹, ›vorhanden‹ ist (…).« 8 Nun kann man die Frage stellen, ob das Verfahren nicht sehr irrtumsanfällig ist, wenn wir einfach das, was sich zeigt als das nehmen, wie es sich zeigt. Doch ist ja gerade durch die epoché, durch die Zurückhaltung und Einklammerung der Meinung, wie etwas ist, was sich zeigt, noch kein Urteil darüber gefällt, worauf das, was sich zeigt, beruht. Gerade die Geltung dieser Urteile wird suspendiert. Wenn wir also zum Beispiel meinen, unser ganzes Gesichtsfeld sei farbig, dann beziehen wir uns allein darauf, was sich uns zeigt, nicht darauf, was es angeblich »tatsächlich« ist, also etwa die Vermutung, dass das Auge nur Farbiges sieht oder aber das Wissen, dass es in den Winkeln farblose Anteile gibt. 9 Die Zurückhaltung gibt uns die Möglichkeit, Festlegungen, die wir im Alltag der LeonardoHusserl 1913: 52. Damit ist dann zugleich auch eine Aussage über den Beobachter impliziert. Man nimmt sich als ein Teil der Menge der Dinge war, die einen umgeben. Dadurch aber liegt der Schritt nah, genau die falschen Annahmen zu setzen, die wir zu Beginn beschrieben haben: Wir sind als Menschen eingekapselte Wesen in einem vorgegebenen und geschlossenen Raum der Welt. Wir betrachten dieses Szenario und damit auch uns selbst von einem unbestimmten Ort aus. 8 Husserl 1913: 56, Kursives ist im Original gesperrt gedruckt. 9 Nicht nur das alltägliche Wissen darüber, was die Welt ist, wird eingeklammert, sondern auch das wissenschaftliche Wissen: »Also alle auf diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften, so fest sie mir stehen, so sehr ich sie bewundere, so wenig ich daran denke, das mindeste gegen sie einzuwenden, schalte ich aus, ich mache von ihren Geltungen absolut keinen Gebrauch.« A. a. O.: 56 f., Kursives im Original gesperrt gedruckt. 6 7

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Welt immer schon getroffen haben, zu suspendieren, ohne ihnen aber deshalb widersprechen zu müssen. Wir können uns so jedoch neu den Phänomenen zuwenden und sehen nicht immer zugleich auch schon die verursachenden Prozesse innerhalb der angeblich »realen« Welt. Die Fähigkeit, zwischen wahrer und falscher Aussage zu unterscheiden geht nicht verloren, sie steht nur nicht am Anfang der Untersuchung. Zunächst aber sollten wir in radikaler Weise das, was sich zeigt, als das gelten lassen, wie es sich zeigt. In der Adaption der phänomenologischen Methode geht es vor allem um diesen ersten und grundlegenden Schritt, der Außerkraftsetzung der Generalthesis der natürlichen Einstellung. Weitergehende Annahmen und Unterscheidungen, die Husserl getroffen hat, insbesondere die zentrale Stellung des Bewusstseins nach der transzendentalen Wende, wie sie in seiner Ideen-Schrift zum Ausdruck kommt, sollen hier nicht berücksichtigt werden. Wir wollen uns im Folgenden nicht an den Arbeiten von Husserl orientieren, sondern an denen von Maurice Merleau-Ponty. Dieser französische Philosoph hat Husserl besonders in dessen späten Schriften rezipiert und er hat es in seinen eigenen Schriften wie kaum ein zweiter verstanden, sich im Prozess des Erkennens nicht vorschnell festzulegen, sich vielmehr in seinen Arbeiten tastend, um zentrale Begriffe kreisend und vorsichtig formulierend fortzubewegen. Für ihn ist die phänomenologische Methode keine fest gefügte Methode, eher eine bestimmte Weise des Denkens, eine Manier, ein Stil. 10 Denn anders als Methoden, die ein spezifisches Problem lösen, ist die phänomenologische Methode dazu verurteilt, stets vom Neuen zu beginnen, immer wieder ins Staunen zu geraten und auf das Unverstandene zu achten. Das Grundproblem ist, dass wir nach Merleau-Ponty entscheidend dadurch bestimmt sind, dass wir uns immer schon auf die Welt beziehen, dass wir zur Welt sind. 11 Dann aber fällt es natürlich nicht leicht, sich von dieser Bezogenheit zu lösen, sie zu suspendieren. Vor allem aber wird eine solche Zurückhaltung nie ganz gelingen: »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion. (…) Der Philosoph, sagt Husserl in seinen Manuskripten, ist immer neuer Beginner.« 12 Vgl. Merleau-Ponty 1945: 4. Vgl. a. a. O.: 10. Die leibliche Existenz bestimmt Merleau-Ponty auch mit dem zentralen Ausdruck »zur Welt sein« – »d’être au monde«, a. a. O.: 103, vgl. auch MerleauPonty 1942: 142. 12 Merleau-Ponty 1945: 11. 10 11

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

Merleau-Ponty begann seine philosophische Suche in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und er nahm von Beginn an Teil an einer lebhaften Diskussion und Rezeption der phänomenologischen Forschung, die von Deutschland aus junge französische Philosophen wie Jean-Paul Sartre, Emmanuel Levinas und andere in den Bann zog. 13 Auch wenn sich Merleau-Ponty in seinen Schriften immer wieder explizit auf die Phänomenologie berief und sich stets zentrale Forderungen der phänomenologischen Forschung zu eigen machte, hat er sich keiner festen Schule oder Gruppe angeschlossen, seine phänomenologische Methode war stets in gewisser Weise unorthodox. Sein Interesse war geprägt durch eine Suche nach den verschwiegenen und im Alltag übersehenen Dimensionen der Wirklichkeit. Hierzu war ihm die leibliche Existenz des Menschen der zentrale Schlüssel, um diese Dimensionen zu erkunden. Im Laufe der mehrere Jahrzehnte umfassenden philosophischen Sucharbeit änderte Merleau-Ponty viele Elemente seines Instrumentariums, er suchte neue Begriffe, änderte manche Methoden und nahm unterschiedliche Einflüsse aus Sprachphilosophie, Soziologie und Philosophie in seinen Arbeiten auf. Der Bezug auf den Leib aber blieb ebenso, wie die damit verbundene Hoffnung, hierüber ein Verständnis und einen Einblick in das zu gewinnen, was in den einfachen ontologischen Strukturen dualistischer oder monistischer Ansätze nicht zu fassen ist. Es ist angesichts dieser Bemühungen um die Freilegung von verschwiegenen Dimensionen der Wirklichkeit auch nicht verwunderlich, dass sich Merleau-Ponty immer wieder auf die bildende Kunst bezog. Er sah in der bildenden Kunst einen Bündnispartner, der sich mit anderen Mitteln als die Philosophie dem gleichen Ziel widmet. Merleau-Ponty hat sich unter anderem intensiv mit den Arbeiten von Cézanne und Giacometti beschäftigt. 14 Eine entscheidende Bedeutung hatten für Merleau-Ponty die Versuche des späten Husserl, die Lebenswelt als die Basis für das Erkennen, auch für das wissenschaftliche Erkennen, zu qualifizieren. Hierauf bezieht sich Merleau-Ponty immer wieder: »Wenn die Rückkehr zur ›Lebenswelt‹ in den letzten Schriften Husserls als ein erster, absolut notwendiger Schritt angesehen wird, dann sicherlich deshalb, weil sie nicht ohne Auswirkungen auf die Tätigkeit einer universalen KonstiWaldenfels 1998. Vgl. Texte wie »Das Auge und der Geist« oder »Der Zweifel Cézannes« in MerleauPonty 2003.

13 14

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Charakteristika der phänomenologischen Methode

tution ist (…).« 15 Die Lebenswelt ist hiernach ein Reservoir, die Welt anders zu entdecken als es bestimmte Annahmen der Leonardo-Welt vorgeben. Von Beginn an hat Merleau-Ponty die leibliche Existenz des Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt und ist diesem Ausgangspunkt des Denkens bis zu seinem Lebensende treu geblieben. Nun gibt es eine Schwierigkeit mit dem Begriff des Leibes, auf die wir noch ausführlicher eingehen werden, denn wir haben in der alltäglichen Sprache eine Verwendung des Begriffes »Leib«, die die Bedeutungsbreite des Begriffs bei Merleau-Ponty in keiner Weise einholen kann. 16 Nun kann es hier nicht darum gehen, diesen reichen philosophischen Ansatz Merleau-Pontys in allen Facetten systematisierend darzustellen. Vielmehr möchten wir uns hier von seinen Arbeiten und den poetischen Metaphern und Begriffen, die er genutzt hat, zur schrittweisen Erschließung der Wirklichkeit anleiten lassen. Die große Stärke dieses Ansatzes ist es gerade, dass er nicht zu schnell zu einer abschließenden Festlegung der Begriffe und Konzepte drängt, sondern durch seine Offenheit vieles präsent hält, was durch eindeutige Festlegungen verloren gehen würde. Dadurch hat Merleau-Ponty stets die Ahnung wach gehalten, dass wir, die wir die Wirklichkeit erkennen wollen, uns nicht genügend davon distanzieren können, um sie vollständig in den Blick zu bekommen, dass wir also selbst einen Ort in dem zu Erkennenden haben. Insofern hat er die Endlichkeit des Erkennens in besonderer Weise berücksichtigt. Die Texte Merleau-Pontys haben deshalb immer den Charakter einer Suchbewegung, sie arbeiten sich vor, treten dann wieder zurück, nähern sich demselben Punkt aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Dabei nutzt er eine Vielzahl von Metaphern, mit denen er die Dimensionen der Wirklichkeit auszuleuchten versucht. Er entwickelt eine poetische Bildsprache und durch die gleichzeitige Aufnahme vieler einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse und durch die ausbalancierte Systematisierung eine Kraft, die sehr viel mehr von der Wirklichkeit aufscheinen zu lassen kann, als es ihm durch ein definitorisches oder frontales Vorgehen möglich gewesen wäre. Die philosophische Erforschung der Wirklichkeit in diesem Sinne Merleau-Ponty 1960: 129. Auch Merleau-Ponty hat mit der Begriffsfindung Schwierigkeiten und behilft sich im Französischen durch Adjektive, etwa corps propre (übersetzt von Boehm mit »Eigenleib«), Merleau-Ponty 1945: 115; oder phänomenaler Leib, Merleau-Ponty 1942: 180. 15 16

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

beschäftigt sich nicht mit partiellen Anteilen und Einsichten, sie beschäftigt sich auch nicht mit bestimmten exklusiven Methoden, sondern sie versucht, durch möglichst wenige Festlegungen das Bild der Wirklichkeit kreisend zu erschließen. 17 Hierzu macht sie sich alle verfügbaren und begründbaren Varianten der Suchbewegung zu eigen. In diesem Kapitel wollen wir zunächst einmal Anregungen aus den Arbeiten von Merleau-Ponty zusammentragen, die deutlicher machen sollen, wie ein Weg zwischen Dualismus und Monismus möglich ist, ein Weg, der die Existenz und den Einfluss von Bewusstsein nicht negiert und doch ihm keinen eigenständigen metaphysischen Status zukommen lässt.

3.

Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

Merleau-Ponty geht es vor allem darum, eine dritte Dimension zwischen der klassischen Zweiteilung von Subjekt und Objekt, zwischen dem »Sein an sich« und dem »Sein für sich« zu erschließen. 18 Damit ist eine klare Oppositionshaltung zu dem Entwurf von Descartes bezeichnet, dessen Wirklichkeitsdarstellung sich gerade eine vollständige Aufteilung von res cogitans (Subjekt) und res extensa (Materie) behauptete. Aber was soll da sein zwischen einem Subjekt und einem Objekt, wie sollte man es beschreiben, von wo soll man die Untersuchung beginnen? Diese Region der Wirklichkeit entzieht sich einem direkten Zugang, das macht die Erschließung so schwierig. Zunächst einmal geht es darum, die Idee zu bestätigen, dass tatsächlich eine Region zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Bewusstsein und Materie existiert und dass sie in erheblichem Maße die Wirklichkeit bestimmt, in der wir leben. Die Wirklichkeit lässt sich, das ist die These, nicht säuberlich »Fordert Husserl explizit ein ›ZickZack‹ der phänomenologischen Untersuchung, da man ›vermöge der innigen Abhängigkeit der unterschiedlichen Erkenntnisbegriffe, immer wieder zu den ursprünglichen Analysen zurückkehren und sie an den neuen sowie die neuen an ihnen bewähren muss‹, so schreitet auch Merleau-Ponty im Zickzack voran.« Bermes 2003: XLI. 18 Vgl. Merleau-Ponty 1964: 49; siehe auch Waldenfels 1998: 150: »(…) dass sich uns, diesseits des reinen Subjekts und des reinen Objekts, so etwas wie eine dritte Dimension eröffnet, wo unsere Aktivität und unsere Passivität, unsere Autonomie und unsere Abhängigkeit einander nicht mehr widersprechen.« 17

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

aufteilen zwischen Bewusstsein und bewusstloser Materie und sie lässt sich nicht als Gegenüber von Subjekt und Objekt verstehen. Es gibt eine Vielzahl von Indizien und Spuren, die oft übersehen werden, die aber darauf hinweisen, dass die Wirklichkeit sich einer zwanghaften Überstülpung des Schemas von Subjekt und Objekt hartnäckig entzieht. Bei der Vorstellung einiger wichtiger Spuren möchte ich in der Chronologie der Arbeiten von Merleau-Ponty vorgehen. Es sollen in lockerer Folge einige Akzente benannt werden, ohne dass wir seinen differenzierten Analysen gerecht werden können. Im nächsten Kapitel soll dann mit größerer systematischer Strenge ein Versuch unternommen werden, diese Anregungen für eine Erschließung der Wirklichkeit zunutze zu machen.

A.

Die Struktur – Was ist Handeln?

Die erste Arbeit Merleau-Pontys beinhaltet eine eingehende Analyse von Handlungen. 19 In dieser wie auch in der folgenden Schrift über die Wahrnehmung, der »Phänomenologie der Wahrnehmung«, hat er intensiv die damals aktuellen Forschungsergebnisse der Gestaltpsychologie rezipiert. Was ist eine Handlung? Auf diese scheinbar einfache Frage kann es keine einfachen Antworten geben, wie ein kurzer Blick in die Literatur der Handlungstheorien zeigt. 20 Auch Merleau-Ponty hat keine Definition des Begriffes vorgenommen. Wir wollen dementsprechend hier vor allem auf einige besondere Eigenschaften dessen, was man Handlungen nennt, aufmerksam machen. Handlungen unterscheiden sich von unwillkürlichen Bewegungen dadurch, dass sie bewusst geschehen. Wenn ich ein Fenster öffne, unterscheidet sich die Bewegung gerade dadurch von einem Stolpern über einen Stein, dass ich das Öffnen des Fensters zudem mit einer Intention verbinde. Die Unterscheidung liegt nicht in der Art der Bewegung, ein und dieselbe Bewegung kann als unwillkürlich oder auch als beabsichtigt eingeschätzt werden. Und doch gibt es gravierende Unterschiede, die wir in unserer Gesellschaft und ihren Institutionen auch entsprechend bewerSiehe Merleau-Ponty 1942. Neben verschiedenen grundlegenden, philosophisch bestimmten Ansätzen, weisen auch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen unterschiedliche Akzente auf, vgl. Joas 1996: 11. 19 20

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ten. Denn die Simulation des Stolperns geschieht durch und durch bewusst. Die Simulation eines Stolperns wird deshalb völlig anders bewertet als das Stolpern selbst. Führt ein solches Stolpern im Straßenverkehr zu einem Unfall, so ist es von erheblicher Bedeutung, ob man diese Bewegung als unwillkürlich, also als unglückliches Stolpern oder als gewollte und gezielte Handlung wertet. Wenn dies Stolpern ungewollt geschehen ist, wird man diesen Unfall tragisch nennen müssen. Eine Handlung zeichnet sich dadurch aus, dass ich etwas mit einer Intention verbinde. Deshalb aber muss zu einer Handlung nicht notwendiger Weise ein artikuliertes und gedanklich fixiertes Ziel existieren, das durch das Handeln erreicht werden soll. Joas hat nachgewiesen, dass das Handeln durchaus auch kreativ sein kann und die Zwecke und Ziele im Vollzug unter Aufnahme der spezifischen Situation erst entstehen. 21 In und durch Handeln kann etwas Neues geschehen, das noch nicht so vorgedacht war. Dem Handeln kann so eine Unableitbarkeit und Kreativität zukommen. Doch stets ist es so, dass das Handeln mit Bewusstsein geschieht. Eine Handlung ist, entgegen der unwillkürlichen Bewegung, die allein der Schwerkraft gehorcht, nicht ein rein materielles und kausal beschreibbares Geschehen. Sie ist eine Kombination von Bewusstsein und materiellem Prozess, von zielorientierter Absicht und körperlicher Bewegung. Merleau-Ponty schlägt in seiner Analyse die Begriffe Struktur und Gestalt zur näheren Analyse des Handelns (in der Übersetzung von Waldenfels: Verhalten) vor. Das Verhalten bzw. die Handlung hat eine Struktur, die weder in der Ordnung der materiellen Dinge zu finden ist noch in der Abfolge der Gedanken, sondern die erst durch die Verschränkung beider entsteht: »Das Verhalten findet, insofern es eine Struktur hat, in keiner der beiden Ordnungen Platz.« 22 »Das Verhalten ist kein Ding, aber auch keine Idee (…). Genau das meinen wir, wenn wir sagen, es sei eine Gestalt.« 23 Die Handlung hat die Eigenschaft, beide Bereiche, das Bewusste und das Materielle auf das Engste miteinander zu verknüpfen. Es wird unmöglich, sie einer der beiden Bereiche zuzuordnen, sie ist durch eine Doppeldeutigkeit und Ambiguität gekennzeichnet. Eine Handlung, die nur gedacht wird, ist keine Handlung. Eine Körperbewegung, die völlig 21 22 23

Insbesondere Joas 1996: 238. Merleau-Ponty 1942: 141. A. a. O.: 143.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

unbewusst geschieht, ist keine Handlung. Erst beide Komponenten zusammen machen eine Handlung aus. Wie soll man aber das Zusammenspiel von Bewusstsein und Materie denken? Was ist bewusste Materie? Möglicherweise ist es schlüssiger, sie als ein Phänomen zu verstehen, dass sich zwischen Bewusstsein und Materie abspielt. Was aber kann dieses »Zwischen« meinen? Kann das Zwischen als eine räumliche Bestimmung verstanden werden? Man kann die Bestimmung auch als einen Zustand deuten, der nicht eindeutig einer der beiden Seiten zugewiesen werden kann. Die Unterscheidung, die wir getroffen haben, zwischen dem unbewussten Stolpern und der intentionalen Handlung eines simulierten Stolperns, ist bei näherem Hinsehen noch viel zu grob. Man kann sich leicht beliebige Übergangszustände denken, in denen etwa die anfängliche Bewegung tatsächlich ein Stolpern ist, aber in eine theatralischen Handlung, die bewusst übertreibt, überführt wird. Kurzum, sehr oft gibt es nicht die Entscheidung zwischen dem einen oder dem anderen, sondern es liegen Zwischenzustände vor, die beiden oder auch keinem zugeordnet werden können. Es ist dann der Urteilskraft des Beobachters überlassen, im Einzelfall zu prüfen, welcher Interpretation man den Vorzug gibt, dem Stolpern oder einer inszenierten Handlung. Eine Handlungstheorie sollte also in der Lage sein, diese graduellen Verschiebungen zu beschreiben. Joas drückt dies mit dem Begriff der praktischen Vermitteltheit aus: »Das Zweck/Mittel-Schema ist erst dann überwunden, wenn die aller bewussten Zwecksetzung vorausgehende praktische Vermitteltheit des Organismus Mensch und seiner Situationen erkannt ist.« 24 Diese Vermitteltheit wird aber nicht verständlich durch eine Beschreibung des Bewusstseins allein, auch nicht durch eine Beschreibung des materiellen Körpers allein, sondern durch Übergangszustände, auf die beide Seiten einen Einfluss haben. 25 In dieser Weise der Interpretation kann man auch sagen: Die Anerkennung einer Handlung ist Ausdruck der Tatsache, dass es praktische Vermitteltheit gibt. Nun lassen sich Vermitteltheit und Handlung in einer aktivischen Formulierung auch so beschreiben, dass durch die Handlung die Vermittlung stattfindet. Diese Formulierung ist jedoch mit Vorsicht zu gebrauchen, denn Joas 1996: 232. Entgegen einer ausgeprägten Tradition rationalistischer Theorien betont Joas gerade die Beteiligung des Körpers, die er in Anlehnung an Merleau-Ponty über die Konstitution des Körperschemas einführt, vgl. a. a. O.: 262 f. 24 25

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

schnell ist das Missverständnis gegeben, dass die Handlung die Vermittlung gewollt herbeiführt. Doch genau das ist ja nicht gemeint, wenn Handlung gerade die vorgängige Vermitteltheit zum Ausdruck bringen soll. Man kann das Gemeinte so präzisieren, dass der Prozess der Handlung selbst Ausdruck der Vermittlung ist. Wir werden auf diese Vorstellung weiter unten noch näher eingehen.

B.

Die Gestalt – Was ist Wahrnehmen?

Schon bei der Analyse des Handelns hat Merleau-Ponty auch den Begriff der Gestalt verwendet, den er aus den Arbeiten der Gestaltpsychologie aufnahm. Der Begriff der Gestalt ist dem der Struktur sehr nah, bezieht sich aber stärker auf Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie. In der Gestaltpsychologie machte man folgende fundamentale Entdeckung: Die Gestalt dessen, was wir wahrnehmen, lässt sich weder aus den äußeren Reizen ableiten, wie dies Vertreter des Empirismus behauptet haben, noch entspringt die Erkenntnis der Gestalt einem schon vorgegebenen Begriff, wie es Vertreter des Rationalismus behauptet haben. Die Gestalt ist so eine eigenständige Größe, nicht etwas Abgeleitetes. Was genau meint eine Gestalt? »Man wird sagen können, Gestalt gibt es überall dort, wo die Eigenschaften eines Systems sich ändern, wenn sich in einem einzigen Teil etwas ändert, wo sie dagegen erhalten bleiben, wenn sich alle Teile ändern, das Verhältnis zwischen ihnen aber dasselbe bleibt.« 26 Unsere Wahrnehmung kann zum einen nicht so verstanden werden, dass wir Einzelreize, etwa Lichtpunkte, summarisch addieren, bis sie ein Gesamtbild ergeben. Wenn wir ein Haus sehen, dann sehen wir nicht zuerst eine Vielzahl von Punkten und interpretieren diese dann aufsummiert und zusammengefügt als ein Haus, sondern wir sehen erst den Zusammenhang, also das Haus, und können dieses dann im Weiteren genauer analysieren. Die Gestalt hat in der Wahrnehmung Vorrang vor den Einzelpunkten. Wie kann man dies belegen? Es gibt bekannte optische Täuschungen, etwa die berühmte Müller-Lyersche Figur, deren Wirkung sich nur so erklären lässt, dass die Gestalt, das Gesamt einer Struktur gesehen wird, bevor man deren einzelnen Teile wahrnimmt. 27 26 27

Merleau-Ponty 1942: 53. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 24.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

Wir interpretieren die untere Linie als die gegenüber der oberen Linie längere, obwohl beide gleich lang sind, weil wir zuerst die Strukturen, in die die Linien eingebunden sind, als Gestalt im Ganzen wahrnehmen. Würden wir nun die Linien so wahrnehmen, dass wir sie Punkt für Punkt zusammensetzten, dann gäbe es keinen Grund, warum wir gleichlange Linien jemals als unterschiedlich lang wahrnehmen sollten. Das Phänomen der Täuschung wäre nicht zu erklären. Nur dann, wenn wir das Bild der Linien nicht aus einzelnen Punkten zusammensetzen, sondern es von Beginn an als einen Zusammenhang deuten, dann wird verständlich, warum wir uns in der Länge der Linien täuschen können. Die Gestalt hat offenkundig einen Vorrang in der Wahrnehmung. Was aber genau macht die Gestalt aus? Sie ist nicht das materielle Bild, das vor uns liegt, denn dann würde sie die Täuschung nicht erklären, die Linien sind ja auf dem Bild, das vor uns liegt, exakt gleich lang. Die Gestalt ist auch kein reines Phänomen des Bewusstseins, denn es wäre absurd anzunehmen, dass diese besondere Konstellation der Linien zur Ausstattung eines jeden menschlichen Bewusstseins gehört. Zudem wäre dann der Täuschungseffekt noch weniger zu erklären. Die Täuschung ist nicht die Folge eines Urteils, also eines längeren Nachdenkens, sondern ein unmittelbarer Eindruck dessen von dem, was vor uns liegt. Es lässt sich also nicht folgern, dass wir mit unserem Verstand urteilen, dass eine Linie länger sei als die andere. Was sich hier andeutet, arbeitet Merleau-Ponty auch durch die Interpretation weiterer Beobachtungen heraus: Die Gestalt hat in gewisser Weise einen eigenen Status, sie ist nicht einfach »in« dem Bild, also in der materiellen Struktur der Druckerschwärze auf dem weißen Papier, das vor mit liegt, sie ist aber auch nicht »in« meinem Bewusstsein. Sie ist irgendwo dazwischen. Die Gestalt ist also etwas, was nicht der reinen Dingwelt angehört, aber auch nicht der beobachtenden Vernunft. Beide sind notwendig, damit so etwas wie eine Gestalt entstehen kann. Mit der Entdeckung der Relevanz der Gestalt in der Wahrneh117 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

mung ist ein weiterer Schritt in der gesuchten dritten Dimension zwischen Subjekt und Objekt gemacht. Entscheidend ist nun, dass die Gestalt sich nicht reintegrieren lässt in eine Wirklichkeit aus materiellen Dingen, sie zehrt von einer Wirklichkeit, die reicher ist als es die materiellen Dinge sein könnten. Das hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis der Wirklichkeit, eine Konsequenz, die die Gestaltpsychologie gemieden hat: »Die ›Gestalt‹ kann nämlich erst voll verstanden und alle Implikationen des Begriffes können erst entfaltet werden in einer Philosophie, die sich frei macht von den realistischen Postulaten, die jeder Psychologie anhängen.« 28 Hier zeigt sich der Grundimpuls der Phänomenologie, zunächst einmal die Annahmen über die Art und Weise, wie die Wirklichkeit »an sich« gestaltet ist, zurückzustellen. Merleau-Ponty spürt also dem Vorgang der Wahrnehmung nach und stellt dabei fest, dass die Wahrnehmung in relevanten Anteilen nicht beschrieben werden kann als Abbildung in einer Konstellation eines einfachen Gegenübers von Beobachter und Beobachtetem. Wir sind in der Wahrnehmung auf eine bestimmte Weise mit den Dingen im Kontakt, die nicht über die Aufteilung getrennter Sphären beschrieben werden kann. Zentral ist nun für Merleau-Ponty die Analyse des Leibes. Denn wir sind keine Wesen, die der Wirklichkeit gegenüber schweben, sondern die mitten in sie eingelassen sind. Der Leib ist im Verständnis von Merleau-Ponty nicht einfach ein Gegenstand der Welt, sondern meine Weise, »zur Welt zu sein«. Doch wir vergessen dies im Alltag: »Besessen vom Sein und den Perspektivismus meiner Erfahrung vergessend, fasse ich es nunmehr allein noch als Gegenstand und leite es ab aus Beziehungen zwischen Gegenständen. Meinen Leib, der mein Gesichtspunkt für die Welt ist, betrachte ich als einen unter den Gegenständen dieser Welt.« 29 Genau dies ist die Vernachlässigung des Ortes des Erkennens, den wir eingangs eingefordert haben. Diese in unserer Kultur oft geübte Vernachlässigung steht im Gegensatz zu einer selbstkritischen Betrachtung unserer Situation, die eine Einsicht in die fundamentale vorgängige Verbindung von Beobachtendem und Beobachtetem gewinnt. Der Ort des Erkennens ist deshalb nicht direkt erfassbar, er zeigt sich nie frontal, nie objektiv. Erst wenn

28 29

Merleau-Ponty 1942: 150. Merleau-Ponty 1945: 94 f.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

man von den Ordnungen von Subjekt und Objekt lässt und die Sphäre »dazwischen« zu beschreiben versucht, kommt man ihm auf die Spur. Wie also soll man sich dann den Vorgang der Wahrnehmung vorstellen? Man kann sich ihr nur behutsam nähern, indem man auf das achtet, was immer schon da ist und sich von dem vorgegebenen »realistischen« Alltagsverständnis, der Generalthesis der natürlichen Einstellung distanziert: »Aufgabe einer radikalen Reflexion, einer solchen, die sich selbst verstehen will, ist es paradoxerweise, die unreflektierte Welterfahrung wiederzuentdecken (…).« 30 Wahrnehmung ist also nicht eine nachträgliche Beziehung zwischen zwei vorgegebenen Dingen, etwa meines Körpers und eines Gegenstandes, sondern sie geht der Konstitution dieser Dinge voraus: »Doch haben wir gesehen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung nicht-thetische, vorobjektive und vorbewußte Erfahrung ist.« 31 Die Wahrnehmung ist ein »bei den Dingen sein«, das nicht als ein Gegenüber beschrieben werden kann, aber auch nicht als eine einfache Identität mit dem Beobachteten. Die Wahrnehmung hat Teil daran, wie die Welt ist, denn Merleau-Ponty fordert, dass man »wie es das Primat der Wahrnehmung verlangt, dasjenige Welt nennt, was wir wahrnehmen (…).« 32 Wir sind es gewohnt, eher in den Extremen zu denken, also etwas ganz von uns abzuspalten oder uns ganz und gar damit zu identifizieren. Das hier bin ich und das da ist die Welt oder auch: Alles ist eins. Doch es kommt darauf an, des Changierenden, des Nicht-Festgelegten, der unklaren Zwischen- und Übergangszustände gewahr zu werden. Ähnlich wie bei der Handlung können wir folgern, dass die Wahrnehmung der nachträglichen analytischen Spaltung in ein Gegenüber zweier Bereiche vorausgeht, dass sie die ursprüngliche Vermitteltheit zum Ausdruck bringt. Oder wir können wiederum auch im aktiven Modus sagen, dass die Wahrnehmung genau diese Vermittlung herstellt. Die Wirklichkeit ergibt sich dann aus dieser Vermittlung und wir können sie nachträglich deuten als Gegenüber zweier getrennter Sphären.

30 31 32

A. a. O.: 282. Ibid. Merleau-Ponty 2003 (2): 53.

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

C.

Was zeigt sich, wenn sich beide Hände berühren?

Ein Phänomen, das Merleau-Ponty in seinen Schriften mehrfach thematisiert, ist die Beobachtung der beiden Hände, wenn sie sich gegenseitig berühren. 33 Was geschieht, wenn eine Hand die andere berührt, also wenn etwa die linke Hand die rechte ertastet oder umgekehrt, die rechte Hand die linke ertastet? Zunächst erscheint der Vorgang außerordentlich banal, denn berühren sich unsere Hände nicht oft und ist uns dieser Vorgang nicht äußerst vertraut? Es ist aber nicht eine einfache Berührung hier gemeint, sondern die Erkundung der einen Hand durch die andere. Dabei fällt auf: Wenn wir beide Hände mit Aufmerksamkeit einander berühren lassen, dann kann immer nur eine Hand den aktiven Teil übernehmen. Immer gibt es eine Rollenverteilung in eine aktive und in eine passive Seite, so dass »niemals beide Hände zugleich wechselseitig zueinander sich als berührende und berührte verhalten.« 34 Nehmen wir an, dass die rechte Hand die linke berührt und untersucht. So ist die rechte Hand Teil meines aktiven Ichs, meines Bewusstseins, das die Welt erkundet. Die linke Hand dagegen ist Teil der zu erkundenden Welt. 35 Deren Haut mag sich rau anfühlen, warm oder kalt, feucht oder trocken. Die zu untersuchende Hand ist eine weiche Masse, die von der anderen Hand selbstvergessen untersucht wird. Die Aufmerksamkeit geht durch die rechte Hand hindurch und widmet sich allein der linken Hand. Natürlich ist es jederzeit möglich, die Richtung der Aufmerksamkeit zu wechseln. Dann ist es die rechte Hand, die untersucht wird, die linke dagegen, die das Sensorium stellt, um die Untersuchung vorzunehmen. All dies mag zunächst kurios erscheinen, aber nicht weltbewegend. Und doch ist hier ein sehr tiefes Rätsel verborgen, das sich in dieser einfachen Figur besonders gut zeigt und uns entscheidende Hinweise auf ein Verständnis der Wirklichkeit geben kann. Denn es ist ein Leichtes, an diesem Beispiel die Verbindung zwischen dem Subjekt, der rechten Hand im obigen Beispiel, und dem Objekt, der linken Hand, zu verfolgen. Diese Verbindung ist erstaunlich unspektakulär: Von der rechten Hand kann man dem rechten Arm folgen bis zur Brust, diese überqueren, und den linken Arm hinunter bis Vgl. Merleau-Ponty 1945: 118 f.; Merleau-Ponty 1964: 176. Merleau-Ponty 1945: 118. 35 »(…) so lebe ich immer mehr in der einen oder in der anderen Hand.« Waldenfels 2000 (1): 36. 33 34

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

zur linken Hand. So also hängen Subjekt und Objekt im Fall der Berührung der beiden Hände miteinander zusammen! Sie sind durch unseren Leib miteinander verschweißt. Spätestens hier wird deutlich, dass alle Ansätze, die in der Folge von Descartes Subjekt und Objekt fundamental trennen wollen, schwerwiegenden Anfragen ausgesetzt sind. Descartes hätte sich wohl so zu helfen versucht, dass er der Redeform, die rechte Hand sei Subjekt der Untersuchung, widersprochen hätte. Dies sei nur eine uneigentliche Rede, tatsächlich sei allein das Denken Subjekt dieses Prozesses. Doch da hat Descartes viele Ergebnisse der modernen neurowissenschaftlichen Forschung gegen sich, die immer wieder gezeigt hat, dass das Denken nicht vom menschlichen Körper isoliert werden kann. 36 Die beiden Hände und damit auch der menschliche Leib fügen sich nicht in ein dualistisches Schema der klaren Trennung von Subjekt und Objekt. Drücken wir beide Hände einfach zusammen ohne Aufgabenverteilung, dann entsteht eine »zweideutige Organisation« 37 mit unklarer Aufteilung. Gerade diese unklaren Zustände sind es aber, die uns nach Merleau-Ponty mehr über die Wirklichkeit und unser Verhältnis zu ihr lehren können, als die Zustände, die wir clare et distincte zu erfassen vermögen. Erst dann, wenn wir uns auf die Hände und ihre Empfindungen konzentrieren, zeigt sich immer eine Hand beobachtet und die andere beobachtend. Was man aber folgern kann aus der Beobachtung, es zielt auf den gleichen Sachverhalt, wie schon die Beschreibung der Handlung oder die der Gestalt: Tatsächlich befindet sich das, was Merleau-Ponty als Leib beschreibt, in einem Zwischenzustand, weder kann er dem Subjekt zugeschlagen werden noch dem Objekt. Eine klare Unterteilung zwischen dem Ich hier und der Welt dort gibt es nicht, ebenso verweigert sich der Leib einer Aufteilung in die Ordnungen von Subjekt hier und dem Objekt dort.

D.

Gibt es einen Weg zwischen Rationalismus und Empirismus?

Merleau-Ponty hat sich unter anderem auf die großen philosophischen Traditionen von Empirismus und Rationalismus bezogen, um, sich von ihnen abgrenzend, seinerseits eine Verortung seines Ansatzes vorneh36 37

Vgl. Damasio 2002; Damasio 2007. Merleau-Ponty 1945: 118.

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men zu können. 38 Der Streit der beiden philosophischen Richtungen betrifft vor allem die Erkenntnistheorie. Was, so die zentrale Frage, beeinflusst nun die Erkenntnis eines Gegenstandes, etwa eines Baumes auf einer Wiese mehr: die begrifflichen Vorgaben, die der Beobachter schon vor der Beobachtung hatte oder die Signale, die von dem konkret Beobachteten, also dem individuellen Baum ausgehen? In einer vereinfachenden Weise kann man die Positionen von Descartes und Dennett jeweils einer der Richtungen zuordnen: Descartes betont die Rolle der res cogitans bei dem Vorgang der Erkenntnis, der Baum lässt sich nur dadurch als Baum erkennen, weil die res cogitans über die begrifflichen Fähigkeiten verfügt, einen Baum zu identifizieren. Dennett dagegen würde den Wahrnehmungsvorgang als empirisch beschreibbaren Vorgang deuten, bei dem zwar die Intention des Beobachtenden einen Beitrag leistet (intentional stance), die sich aber letztlich in ein Tableau einfügt, das sich unter dem Vorbehalt, dass es sich bei diesem Vorgang um eine intentionale Struktur handelt, mit exakten biologisch-neurowissenschaftlich Methoden vollständig analysieren lässt. Beim Rationalismus hat die Vernunft den aktiven und prägenden Anteil an der Erkenntnis, sie formt in gewisser Weise das, was sie erkennt. So sieht man zum Beispiel Kreise, wo kein Kreis zu sehen ist, denn tatsächlich sind alle realen Linien nie wirklich kreisförmig. Der Kreis als Idealtyp, als reiner Kreis, ist eine reine Konstruktion, nie hat ein Mensch jemals einen wahren Kreis gesehen. Er muss aus einer Quelle geschöpft sein, die nicht von außen aus uns zukommt, sondern unserem Erkenntnisapparat zugehört, also der menschlichen Vernunft. Die Vernunft hat ein Arsenal an Begriffen und Formen, mit denen sie die Wirklichkeit ordnet und kategorisiert. Der Erkenntnisapparat des Menschen hat durch die Vernunft einen aktiven Anteil an der Erkenntnis. Will man verstehen, wie man erkennt, sollte man also zunächst auf die Vernunft und ihr Vermögen achten. Anders dagegen optiert der Empirismus. Dieser sieht das Erkenntnis- und Denkvermögen des Menschen passiv, es wird nur von äußeren Reizen aus seiner Umgebung angeregt und reagiert dann entsprechend. Die Vernunft selbst besitzt keine vorgegebenen Strukturen, diese bilden sich erst durch einen häufigen und wiederkehrenden Kontakt zur Außenwelt. Wenn ein Mensch geboren wird, hat er nicht schon ein festes und gegebenes VerVgl. die Einleitung in der Phänomenologie der Wahrnehmung, Merleau-Ponty 1945: 19 ff.

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nunftvermögen, sondern alles, was er zu erkennen in der Lage ist, muss aus den Informationen stammen, die von außen auf ihn zukommen. Hier wird die Wahrnehmung im Sinne der Analogie anhand von Modellen zu verstehen versucht. Allerdings sollte man sich vor allzu schematischen Aufteilungen der Traditionen hüten. Die genannte Aufteilung ist eher als heuristische Hilfe zu verstehen, die Merleau-Ponty genutzt hat, aber nicht als philosophiegeschichtliche Aufteilung. Denn tatsächlich ist die Wahrnehmung ein zu komplexes Geschehen, das sowohl die Sinne umfasst wie auch das begriffliche Auffassungsvermögen, als dass die einzelnen Autoren der jeweiligen Traditionen sich einfach den Kategorien zuordnen ließen. Man kann also in einer ersten Unterteilung Wahrnehmung über den Weg der Reflexion zu verstehen versuchen,39 oder über den Weg von Modellen und Analogien. 40 Doch ist es gerade einer der Begründer der rationalistischen Tradition, Descartes, der die Wahrnehmung auch über das klassische Modell der camera obscura genutzt hat. 41 Auch hier geschieht die Erklärung von Wahrnehmung über die Darstellung von kausal determinierten Vorgängen. Wiesing hat darauf hingewiesen, dass diese Zweiteilung auch philosophiegeschichtlich noch ergänzt werden muss, weil weiter gehende Ansätze noch zusätzliche Annahmen über unbewusste Anteile machten. 42 Wichtig ist nun, wie sich Merleau-Ponty gegenüber den grob umrissenen epistemologischen Positionen verortet. Es ist nach dem bisher Gesagten aufgrund seines steten Bemühens, die Region zwischen Subjekt und Objekt auszuleuchten, verständlich, dass er sich keiner der beiden Traditionen anschließt, sondern gegenüber beiden Seiten Kritik erhebt. Er bemängelt bei beiden in gleicher Weise, dass sie nicht wirklich die Wahrnehmung, jenen intimen Kontakt zur Wirklichkeit, erfassen können. »Beide wahren der Wahrnehmung gegenüber Abstand, Vgl. Wiesing 2002: 16. Vgl. a. a. O.: 20. 41 Mit dem Modell der camera obscura für das Sehen geht auch die Behauptung einher, optische Gesetze könnten das Sehen vollständig erklären. Für die Malerei folgt daraus, dass diese Gesetze etwa über eine Zentralperspektive nachgeahmt werden müssen. Das ist aber nicht ohne weitreichende Folgen; »Die Perspektive ist also kein geheimer Kunstgriff zur Nachahmung einer gemeinsamen Wirklichkeit, sie bedeutet vielmehr die Erfindung einer beherrschten Welt, wo alles zusammengeht, was der ungezwungene Blick vergebens zusammenzubringen versucht.« Waldenfels 1986: 150. 42 Vgl. Wiesing 2002: 46. 39 40

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anstatt sich auf sie einzulassen.« 43 Sie betonen einen angeblich existierenden Abstand zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten, indem sie die Ausgangssituation als ein Gegenüber konstruieren. So lassen sie sich nicht wirklich auf den Vorgang der Wahrnehmung ein, sondern schaffen Ersatzmodelle, die aber nicht in der Lage sind, für alle Phänomene, die sich zeigen, eine Erklärung zu liefern. Merleau-Ponty fordert aber in der Betrachtung vor aller Modellbildung und vor aller Reflexionsarbeit das Primat der Wahrnehmung. 44 Die Wahrnehmung ist kein Vorgang, den man reflexiv zu einer Vorstufe zurückverfolgen kann und auch kein Vorgang, der sich durch ein Modell in einzelne Elemente zerlegen lässt. Wahrnehmung baut sich weder aus Sinnesempfindungen auf, noch ist sie vornehmlich ein kognitiver Erkenntnisakt. 45 Die Wahrnehmung ist ein Grunddatum. Seine Kritik gilt insbesondere der Beschreibung der Ausgangssituation: Ist eine Beobachtung richtig beschrieben, wenn man einen Beobachter dem gegenüber denkt, was er beobachtet? Möglicherweise ist schon Entscheidendes verloren, wenn man die Situation der Beobachtung so darstellt. Weder möchte er sich der Descartes’schen Tradition anschließen, die in der Vernunft den Hort der Wahrheit sieht, noch aber auch bestimmten angelsächsischen Traditionen, die die menschliche Erkenntnis allein auf eine gegebenen Außenwelt beziehen. Der eigene Weg setzt bei unserer leiblichen Existenz in der Wirklichkeit an. Wir haben nie eine unbelastete Ausgangssituation, vorgängig und untergründig sind wir mit der Wirklichkeit, die uns umgibt und die wir beobachten wollen, immer schon verwoben.

E.

Die Zeichen – Was ist Sprechen?

In den 50er Jahren hat Merleau-Ponty sich intensiv dem Studium der Sprache zugewendet. Formal hat die Sprache eine Strukturähnlichkeit zu den schon beschriebenen Vorgängen von Wahrnehmen und Handeln. Sie ist zunächst ein empirisch-materielles Geschehen, sie besteht aus Lauten, die Menschen ausstoßen. Doch gleichzeitig sind diese Laute deutbare Zeichen, Träger von Bedeutung. Sie haben also wie die ge43 44 45

Merleau-Ponty 1945: 47. Vgl. Merleau-Ponty 2003 (2); Wiesing 2002: 48. Vgl. Merleau-Ponty 2003 (2): 35.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

schilderten Vorgänge Wahrnehmen und Handeln an beiden Ordnungen Anteil, an dem Subjektiven und dem Objektiven. Eine Reduktion des Sprechens auf die eine oder andere Seite würde ihm nicht gerecht. In der weiteren Analyse des Sprechens beruft sich Merleau-Ponty auf Untersuchungen von Ferdinand Saussure. Dieser hat die Zeichen der Sprache als diakritisch bezeichnet, die Sprache ist nicht zusammengesetzt aus einer Kette von unabhängig existierenden Einzelelementen, sondern »diese Elemente bilden in dem Sinne in der Synchronie ein System, dass jedes von ihnen nur seinen Unterschied gegenüber den anderen bedeutet« 46 . Einem Zeichen der Sprache kommt folglich nicht aus sich selbst heraus eine Bedeutung zu, das Zeichen hat nicht »an sich« eine Bedeutung. Diese Bedeutung entsteht erst durch die Unterscheidung des Zeichens von anderen Zeichen. Die Sprache wird nicht zur Sprache dadurch, dass ein Wort an das andere gereiht wird, dass die Worte schon zuvor eine bestimmte Bedeutung haben, die dann eine über syntaktische und semantische Strukturen vermittelte Summe ergeben. Vielmehr schwankt die Bedeutung der Zeichen, ein Zeichen hat nur eine bestimmte Bedeutung, wenn es in diesen oder jenen Zusammenhang zu anderen Zeichen gesetzt wird. Deshalb gibt es eine Unverzichtbarkeit der Analyse der gesprochenen Sprache, es reicht nicht eine abstrakte Sprachlehre. Diese Einsicht hat hohe philosophische Relevanz, denn die gesprochene Sprache, also die Sprache im Vollzug der Artikulation, erhält ebenso wie der Leib eine Vermittlungsfunktion. 47 Wiederum bewährt sich die schon bekannte Denkfigur: Nicht erst sind Dinge da, wie der menschliche Körper, und dann kommt eine Fähigkeit hinzu, wie das Handeln oder das Wahrnehmen oder hier das Sprechen. Ironisch urteilt Merleau-Ponty über eine solche Vorstellung: »Der Mensch kann demnach sprechen, wie eine elektrische Birne glühen kann.« 48 Der Mensch ist kein Ding, das durch eine besondere Eigenschaft in den Zustand des Redens versetzt wird. Das Denken gibt es zudem nicht in Reinform als sprachloses Denken, das dann in Sprache übersetzt wird. Nur in und durch die Sprache kann man denken. Das Sprechen ist hier auch der Ort, an dem sinnhafte Strukturen erst entstehen. Sinnhafte Strukturen sind also nicht zuvor in der Welt und werden dann sekundär sprachlich artikuliert, vielmehr ist die Sprache 46 47 48

Merleau-Ponty 1960: 122. Vgl. a. a. O.: 130. Merleau-Ponty 1945: 208.

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der Ort, an dem der Sinn erst entsteht. Damit erweist sich auch die Sprache als ein weiterer Ort in der gesuchten dritten Dimension. In ähnlicher Weise wie schon beim Handeln und beim Wahrnehmen ist auch die Sprache ein aktiv-passiver Prozess, der nicht Vorgegebenes umsetzt, sondern der erst einmal etwas wirklich werden lässt. Jenseits der Ordnungen von Subjekt und Objekt richtet sich die gesprochene Sprache in einer Spontaneität ein, in der Bedeutung entsteht, ohne sich einer festgelegten Ordnung zu fügen. »Man kann die Sprache weder als Verstandesleistung, noch als motorisches Phänomen deklarieren: sie ist durch und durch Motorik und durch und durch Intelligenz.« 49 Anders als in seinen frühen Schriften ist Merleau-Ponty hier in der Lage, ohne zwischen vorgegebenen Extremen zu schwanken, gleich in die Mitte der Vermittlung zu weisen. Die gesprochene Sprache erschließt sich nicht, weil man sie mit zwei Extremen deutet, die man dann sekundär aufeinander bezieht, sie erschließt sich nach Saussure, weil sie ein diakritisches Geschehen ist, dass sich von Beginn an weder der Ordnung des Objektiven noch der Ordnung des Subjektiven fügt. »Die Eigenart einer phänomenologischen Philosophie scheint uns also darin zu liegen, dass sie sich definitiv in der Ordnung der lehrenden Spontaneität einrichtet (…) Unter all diesen Lehren ist allein die Phänomenologie der gesprochenen Sprache in der Lage, uns diese Ordnung zu enthüllen.« 50 Die Bedeutung entsteht erst im Akt des Sprechens. »Wenn das zentrale Phänomen der Sprache tatsächlich der gewöhnliche Akt des Bezeichnenden und des Bezeichneten ist, dann würden wir ihm seine Wirksamkeit nehmen, indem wir das Ergebnis der Ausdruckshandlungen vorab in einem Ideenhimmel realisierten, wir würden den Schritt aus den Augen verlieren, den sie zwischen den bereits verfügbaren Bedeutungen, die wir gerade erst konstruieren und erwerben, getan haben.« 51 Wenn wir das Sprechen als einen Teil des Erkennens werten, dann ist mit diesen Ausführungen gesagt, dass der Vorgang des Erkennens an dem, was man erkennt, Anteil hat. Der Ort des Erkennens, der einzelne Sprechakt ist zu berücksichtigen, wenn wir darüber nachdenken, was Erkennen, was Sprechen meint. Dieser Ort fügt sich nicht den vorgegebenen Strukturen einer Begriffslehre und auch nicht einer Ordnung der Laute. Wie schon bei 49 50 51

A. a. O.: 230. Merleau-Ponty 1960: 136. A. a. O.: 133.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

Wahrnehmung und beim Handeln, so kann man auch hier sagen: Das Sprechen ist ein aktiv-passiver Akt der Vermittlung, der nicht Wirklichkeit abbildet oder mitteilt, sondern der Wirklichkeit erst einmal zum Vorschein bringt, Wirklichkeit erscheinen lässt.

F.

Späte Begriffe zur Bestimmung der Wirklichkeit: Wahrnehmungsglaube, Fleisch, wildes Sein

Man kann an den Schriften von Merleau-Ponty eine Veränderung im Laufe der Zeit beobachten. Tendierte er in den frühen Schriften noch dazu, dem Leib, trotz aller Betonung seiner Verbundenheit mit der Umwelt, einen besonderen Status, eine Distanz, als ein Gegenüber zu konstruieren, so sind seine späteren Versuche radikaler. 52 Der Leib ist in gewisser Weise noch viel stärker in die Wirklichkeit einbezogen, so dass sich seine Grenzen zur Wirklichkeit hin auflösen. Das, was er für den Leib feststellt, gilt jetzt auch in gleicher Weise für die Wirklichkeit im Ganzen. Die Begriffe, mit denen er nun das leibliche Geschehen beschreibt, weiten ihre Bedeutungssphären, sie greifen aus auf den Raum um den Leib, ja auf die ganze Wirklichkeit. Der Begriff der Natur bekommt ein größeres Gewicht. 53 Der Leib ist ein Ansatzpunkt zum Verständnis der Wirklichkeit, aber es geht gleich um die Wirklichkeit selbst, nicht so sehr um ein davon abgrenzbares Territorium. Merleau-Ponty ist es weiterhin in den späteren Schriften nicht mehr so wichtig wie in den früheren, sich über die Abgrenzung gegen etablierte philosophische Traditionen zu definieren. Seine Strategie ist es nicht länger, eine duale Struktur der Tradition zu beschreiben und dann von den Extremen in den Mittel- bzw. Zwischenbereich vorzudringen. Nun beginnt er, so wie er es schon bei der Rezeption der Sprachphilosophie von Saussure praktiziert hat, direkt im Mittelbereich, in jenem Raum zwischen Subjekt und Objekt. Er will sich auf diese Weise unmittelbar einen eigenständigen Zugang innerhalb der Wirklichkeit erarbeiten. Merleau-Ponty versucht mit einer neuen Begrifflichkeit das direkt zu erfassen, was sich als dritte Dimension oder dem Zwischensein beschreiben lässt. Selbstkritisch erkennt er, dass der frühere Bezug auf eine duale Vorgabe zu einer schlechten Ambiguität 52 53

Vgl. Bermes 1998: 139 f. Merleau-Ponty 2000.

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

führte: »Das Studium der Wahrnehmung konnte uns lediglich eine schlechte ›Ambiguität‹, eine Mischung von Endlichkeit und Universalität, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit offenbaren.« 54 Bermes kommentiert diese Einsicht »Und überdies läuft eine Philosophie der Ambiguität resp. der Zweideutigkeit Gefahr, zu einer zweideutigen Philosophie zu verkommen, wenn die eine Seite jeweils gegen die andere gestellt wird oder beide gar gegeneinander ausgespielt werden. Erst wenn beide Seiten als Einheit begriffen werden, ohne in eine Identität gesetzt zu werden, ist die Gefahr gebannt (…).« 55 Der Bezug auf die duale Struktur als Vorgabe ist wichtig, um die Zwischendimension oder die dritte Dimension zwischen Subjekt und Objekt zu entdecken, aber wenn die duale Struktur nicht ihrerseits überwunden wird, droht in der Tat ein unentschiedenes Hin und Her, das vor allem weiß, was es nicht ist, nicht aber in der Lage ist, konstruktiv einen eigenen Weg zu gehen. Merleau-Ponty versucht in seinem Spätwerk genau das zu tun und dazu prägt er Begriffe mit einer stark metaphorischen Aufladung. Sie sollen ihm helfen, direkt inmitten der Wirklichkeit anzusetzen, wo Subjekt und Objekt noch nicht geschieden sind und nicht sich ihr von den Rändern, also vom Subjekt oder vom Objekt nach ihrer Unterscheidung zu nähern. Wo aber sollte man ansetzen, wenn man weder beim Subjekt, noch beim Objekt ansetzen möchte, sondern irgendwo dazwischen? Ein neuer zentraler Begriff ist der des Wahrnehmungsglaubens. Dieser Wahrnehmungsglaube ist eine unmittelbare Gewissheit, die wir haben, die aller kritischen Prüfung voran geht und auf die sich alle Prüfung ihrerseits beziehen muss. Der Wahrnehmungsglaube ist zu unterscheiden von einer bestimmten Auffassung, wie die Wirklichkeit gestaltet ist, etwa der, dass sie aus materiellen Dingen besteht. Der Wahrnehmungsglaube entspringt dem allerersten Kontakt. »Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen: Formulierungen dieser Art sind Ausdruck eines Glaubens, der dem natürlichen Menschen und dem Philosophen gemeinsam ist, sobald er die Augen öffnet; sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die in unserem Leben inhärent sind.« 56 Unsere Erfahrungen selbst also können uns den Weg zu ihm weisen! Wir empfinden doch, ohne Nachdenken 54 55 56

Merleau-Ponty 1973: 11. Bermes 1998: 59. Merleau-Ponty 1964: 17.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

direkt mit den Dingen in Kontakt zu sein, wenn wir sie sehen oder hören, mit ihnen handeln oder über sie sprechen. Erst eine nachträgliche Reflexion lässt uns an den Abstand dazwischen denken, an Lichtstrahlen oder Schallwellen, die die Informationen über sie vom Beobachteten zum Beobachter transportieren. Unser unmittelbarer Eindruck ist die Gewissheit: Da ist das Ding und wir sind mit ihm in einem unbezweifelbaren, unmittelbaren Kontakt, es ist vor uns. Wir sind dem Ding in gewisser Weise ganz nah. Diese Gewissheit offenbart eine Tiefenschicht unseres Selbst- und Weltverständnisses, die Merleau-Ponty mit dem Begriff des Wahrnehmungsglaubens bezeichnet. Doch dieser Glaube ist in gewisser Weise stumm, denn sobald wir ihn zu artikulieren versuchen, verschwindet er und macht der Beschreibung der Beobachtung Platz, die immer zwei getrennte »Akteure« kennt, den Beobachter und das Beobachtete. Der Wahrnehmungsglaube besteht aus stummen, das heißt unartikulierten, intuitiven Meinungen, und es ist die Aufgabe der Philosophie diesen Meinungen zu einem sprachlichen Ausdruck zu verhelfen. Die Philosophie beginnt also nicht in einer Abstraktion, sie beginnt auch nicht mit einem theoretischen Konstrukt, sie beginnt vielmehr mit einer Erfahrungsgewissheit, die sich aber nur schwer reflektieren lässt, da die Gewissheit, sobald wir über sie nachzudenken beginnen, sobald wir versuchen, sie zu beschreiben und clare et distincte darzulegen, sofort verschwindet. Wenn man versucht, die Erfahrung in Begriffe zu überführen, ist man schnell mit Widersprüchen und Unklarheiten konfrontiert. »Nun, diese nicht zu rechtfertigende Gewissheit einer gemeinsamen sinnlichen Welt, ist der Sitz der Wahrheit in uns.« 57 Der Wahrnehmungsglaube unterscheidet sich aber deutlich von der alltäglichen Interpretation, von unserem reflektierenden Verständnis darüber, wie wir etwas wahrnehmen, denn letzteres ist alles andere als ursprünglich. Hier kommt es zu Deutungen und Interpretationen, die verzerren: »Der ›natürliche‹ Mensch hält sich an die beiden Enden der Kette, er denkt zugleich, dass seine Wahrnehmung in die Dinge eindringt, aber auch, dass sie sich diesseits seines Körpers abspielt.« 58 Damit bleibt auch hier MerleauPonty der phänomenologischen Methode treu: Es geht darum, unser Weltwissen, die Generalthesis erst einmal auszuschalten, wenn wir dem Wahrnehmungsglauben auf die Spur kommen wollen. Die Vor57 58

A. a. O.: 28. A. a. O.: 24.

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

stellungen von Wahrnehmung sind, wie wir schon gesehen haben, kulturell überformt, in unserer Zeit besonders durch eine naturwissenschaftlich-technisch beeinflusste Weltsicht, durch die Leonardo-Welt. In anderen Zeiten, in anderen Kulturen hat man anders über die Wirklichkeit nachgedacht und doch war der Wahrnehmungsglaube, dieser unmittelbare Erstkontakt, gleich geartet (vgl. Kap. 7.5). Die ursprüngliche Sphäre, die in dem Wahrnehmungsglauben aufblitzt und auf die Merleau-Ponty immer wieder in neuen Anläufen zu sprechen kommt, beschreibt er auch als das rohe oder wilde Sein. 59 Es ist die Sphäre der dritten Dimension, die noch nicht geteilt ist in eine dingliche Welt und ein beobachtendes Denken. Diese Sphäre ist »roh« (brut) und »wild« (sauvage), weil sie sich keinen Ordnungen fügt, weil sie vor allen Ordnungen gegeben ist. 60 Ordnungen sind zum Beispiel solche der Tatsachen, also der empirischen Befunde, wie Gewichte, Maße und räumliche Zuordnungen oder solche der Begriffe, der Klassifikation von Kreisen und Quadraten, von Farben oder Tönen. Wer das wilde Sein aufspüren möchte, muss von diesen Ordnungen lassen, darf nicht zuerst annehmen, dass es wie im Rationalismus eine Erkenntnisstruktur gibt, die mir das Erkennen ermöglicht, noch eine Struktur der Dinge, wie es der Empirismus fordert. Das wilde Sein liegt zwischen diesen Versuchen, eine Ordnung herzustellen. Es ist dort, wo Beobachter und Beobachtetes noch ungeteilt sind, wo unsere Kultur, die eine oder die andere Ordnung begründen möchte, noch nicht zum Zuge gekommen ist. Das rohe Sein ist so etwas wie die Quelle, aus der alle uns bekannten Dinge und Erkenntnisse hervorkommen, es ist die Nabelschnur des Wissens und die Quelle des Sinns. Selbst die Ordnung der Welt der Dinge und die Logik sind für Merleau-Ponty keine Ordnung, die aus irgendeinem Jenseits des Ursprünglichen stammt, sondern die ihren Ursprung mitten in diesem rohen Sein haben. 61 Aber das rohe Sein ist eben darin roh, dass unsere Erkenntnis keinen unmittelbaren Zugang zu ihm hat. Was auch immer die Erkenntnis sich aneignet, das ist schon interpretiert und es verstellt als solches den Weg zu seinem Ursprung. Die Rede vom rohen Sein versucht die Erinnerung an den Ursprung aufrecht zu erhalten, es versucht zu zeigen, dass nicht die

59 60 61

Vgl. zum Beispiel Merleau-Ponty 1964: 133. Vgl. Waldenfels 1998: 203. Vgl. Merleau-Ponty 1964: 206.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

Teilung von Subjekt und Objekt das Ursprüngliche ist, das, woher der Wahrnehmungsglaube stammt, sondern das Ungeteilte. Schließlich ist das Fleisch eine weitere Metapher, die MerleauPonty einführt, um sich der Dimension zwischen Subjekt und Objekt zu nähern. Dieser Begriff schließt unmittelbar an den zentralen Begriff der frühen Phase, dem des Leibes an. Auch das Fleisch weist auf das Gemeinsame, das zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen dem Beobachteten und dem Beobachtenden herrscht. »Und ebenso, wie wir dazu aufgefordert sind, hinter dem Sehen, als unmittelbarer Gegenwart zum Sein, das Fleisch des Seins und das des Sehenden wiederzuentdecken, müssen wir das gemeinsame Milieu wieder aufsuchen (…).« 62 Das Fleisch hat als »lebende« Form die Fähigkeit, zu affizieren und zugleich die Fähigkeit, affiziert zu werden. Das Fleisch ist also ein Ausdruck dafür, was das Sehende und das Gesehene umfasst, was sie gemeinsam haben, es ist zu den Dingen hin ebenso geöffnet wie zum Bewusstsein. 63 Der Ausdruck Fleisch hat etwas Amorphes, es ist kein klar gegliederter Körper, es ist etwas Gegenwärtiges, das in seiner Undifferenziertheit überall präsent und verteilt ist. Das Fleisch ist weiterhin ein Begriff, der das Denken erden soll. Wir sind fleischliche Wesen und auch unsere Gedanken können die Herkunft nicht leugnen. Unser Denken ist stets darum bemüht, sich als Denken selbst zu begründen. Dadurch strebt es notwendiger Weise auf eine Totalität, die auf den Begriff gebracht werden soll. Dies führt aber zu einer Verabsolutierung des Denkens und führt das Denken weg von seinem Ursprung. »Unser Ausgangspunkt wird nicht sein: das Sein ist, das Nichts ist nicht – und nicht einmal: es gibt nur Sein – das sind Formulierungen eines totalisierenden, eines überfliegenden Denkens –, sondern: es gibt Seiendes, es gibt Welt (…).« 64 Es gibt also keinen reinen Ausgangspunkt des Denkens, wir fangen immer schon mitten in der Wirklichkeit zu denken an. Nirgendwo ist das Denken bei sich selbst, immer ist es schon verbunden mit der Wirklichkeit, das es erkennen möchte. Statt also danach zu streben, von einem reinen Ort des Denkens aus zu beginnen, sollte es vielmehr darum gehen, bescheiden bei dem zu beginnen, was sich zeigt. Nicht das überfliegende, totalisierende Denken ist uns Menschen 62 63 64

A. a. O.: 121. Vgl. a. a. O.: 173. A. a. O.: 121.

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gemäß, das zunächst als »Kosmotheoros« 65 einen Überblick über den Kosmos erlangt, um sich dann der eigenen Situation irgendwo in seiner Mitte zuzuwenden, sondern ein Denken, das mit dem Unmittelbaren beginnt, auch wenn es nicht allein dort verbleiben kann. Dieses Denken, dass, wie es der späte Husserl anstrebte, seinen Ursprungsort in der Lebenswelt hat, das, wie Merleau-Ponty es in immer wieder neuen Variationen ausführt, sich nicht auf Ordnungen einlässt, dieses Denken berücksichtigt die Bedingungen des leibgebundenen Erkennens. Ein Denken, das sich auf das Fleisch einlässt, auf das Milieu also, dem es entstammt, ist das radikale Denken der Endlichkeit. Es entsagt sich, aus eigener Kraft eine große Weltthese zu denken, es sucht den strikten Bezug auf sein eigenes Herkommen und auf das, was es dort vorfindet. Doch weit entfernt davon, sich nun einem Relativismus hinzugeben, ist dieses Denken sich dessen bewusst, dass es nur aufgrund von Ordnungen existiert, die es selbst nicht geschaffen hat. Und selbstverständlich ist es so, dass auch dieses ominöse Fleisch kein exakter, definierter Nullpunkt ist, auf den das Denken sich nur zu beziehen habe, um zu seinem Ursprung zu kommen. Der Ursprung, wenn man diese eher gefährliche Metapher nutzen möchte, ist nicht identifizierbar, wir können uns seiner nicht bemächtigen. Es geht Merleau-Ponty eher um ein Kreisen um diesen Punkt, um eine Wahrnehmung im Augenwinkel. Wir finden immer schon Ordnungsstrukturen vor und können uns gar nicht ganz von ihnen lösen. Es gibt also Ordnungsstrukturen, wir gehen immer schon von ihnen aus, auch dann, wenn wir zurück wollen an den Ort, an dem sie noch nicht existieren. Doch die Ordnungsstrukturen, das zeigt der Hinweis auf das, was dem distinkten Denken voraus liegt, sind nicht allumfassend. Das, was das Denken vorfindet, ist weder völlig sinnlos, noch ist es vollkommen sinnvoll, auch das wären wieder große Thesen, vielmehr gilt die schlichte Feststellung: Es gibt Sinnvolles. In einer ganz schlichten Bemerkung berührt Merleau-Ponty etwas ungeheuer Tiefes und Elementares, das vielleicht die Grenze des menschlich Erkennbaren bezeichnet: »Es gibt Sinn.« 66 Das ist allerdings für ein Denken, das zu umfassenden Lösungen strebt, unbefriedigend, da es sich mit dem partikular Sinnhaften nicht zufrieden geben möchte, sondern es einzubinden versucht in ein großes Ganzes, in die 65 66

A. a. O.: 32. So auch Merleau-Ponty 1945: 344.

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Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt

These von dem einen und absoluten Sinn. Dieses Ziel ist aber einem Denken, das sich seinem endlichen Ursprung verpflichtet weiß, unmöglich. Erkennt das hochfliegende Denken, das sich nicht vollständig selbst begründen kann, dann schwenkt es lieber um in das Gegenteil, in die Annahme, wenn es nicht einen absoluten Sinn gäbe, dann sei eben alles sinnlos. Doch die Lebenserfahrung ist anders, es gibt bei allen Erfahrungen von Sinnlosigkeit auch immer wieder Erfahrungen von Sinn, die sich selbst tragen und nicht auf irgendeine große These angewiesen sind. Das endliche Denken weiß um diese begrenzte Erfahrung und die Kraft, die es trägt. Weiterhin gilt analog zum Sinn: Es gibt eine Ordnung, weil das, was sich zeigt, eine Ordnung präsentiert, ohne dass wir wissen oder belegen können, inwieweit das in eine umfassende, universale Ordnung eingebunden ist. Sich mit den vorläufigen, nicht abgeschlossenen Antworten zu begnügen, ist die große Kunst des Denkens, das sich auf die Endlichkeit einlässt. Viel zu stark sind die Denktraditionen unserer Kultur darauf aus, umfassende Ordnungen zu proklamieren. Die geschlossene Weltsicht der Leonardo-Welt ist dieser Versuchung erlegen. Umso schwerer ist es, sich zu bescheiden und den Schritt zu verweigern, eine solche Ordnung an den Anfang des Nachdenkens zu stellen. Aber das ist der einzige Weg zu der Einsicht, dass die Wirklichkeit nicht geschlossen, sondern offen ist. Dies erklärt auch, warum Merleau-Ponty die eigentümlich poetischen Metaphern in seinen Schriften einführt. Sie sollen bewusst sperrig sein, sie sollen sich dem Denken öffnen und auch gleich wieder entziehen, sie dürfen sich nicht dem Denken verfügbar machen, da sonst unmittelbar wieder eine große These über die Wirklichkeit, die Welt, das Sein entstehen würde. Aussagen der Art, das Sein ist dieses oder jenes, oder, die Welt sei so oder so gestaltet, wandeln das Denken sofort wieder in das überfliegende Denken, das seinen Ursprung leugnet. Die Metapher des Fleisches hat zudem die Aufgabe, eine angeblich klare Vorstellung von den Dingen an sich zu verhindern. Es ist eben nicht so, wie es sich das Alltagsbewusstsein vorstellt, dass es zunächst die Dinge gibt, dass dann ein Beobachter hinzutritt und sie mit diesen oder jenen Verzerrungen wahrnimmt, sondern umgekehrt: Zunächst ist da das Fleisch, das zwei Seiten besitzt, eine die sich zu den Dingen hin öffnet und eine zu dem Bewusstsein.

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

4.

Was ist der Leib?

Nachdem wir uns in einigen Anläufen der dritten Dimension zwischen Subjekt und Objekt genähert haben, wollen wir nun jenen Begriff näher betrachten, der bei allen Argumenten Merleau-Pontys mehr oder weniger deutlich im Hintergrund steht: der Leib. Wenn Merleau-Ponty den Begriff des Leibes in das Zentrum seiner Philosophie stellt, wäre es eigentlich nahe liegend, zunächst mit diesem Begriff und seiner Definition zu beginnen. Doch eine explizite Definition wird man bei ihm nicht finden. Es scheint so, als ob Merleau-Ponty sie nicht einmal angestrebt hätte, als hätte er eine klare Definition bewusst vermieden. Denn damit beachtet er ein zentrales Interesse seines Ansatzes: Der Leib ist durch seine Stellung in seiner Philosophie kein Gegenstand unter anderen. Man kann sich die Schwierigkeit, die sich zeigt, deutlich machen, indem man die klassische Form der Definition erprobt. Diese Form für eine Definition lautet: genus proximum, differentia specifica. Erst ist die nächsthöhere Art zu bestimmen, dann dasjenige, was das zu Definierende von anderen Exemplaren der so bestimmten Art unterscheidet. So lautet etwa die klassische Definition des Menschen, dass er ein vernunftbegabtes Tier sei, der Mensch ist ein Tier (genus proximum), das vernunftbegabt ist (differentia specifica). Wie also kann die Definition des Leibes lauten? Wenn man davon ausgeht, dass die Leiblichkeit zunächst dem Menschen allein zukommt, etwas, das sich in den Schriften von Merleau-Ponty nahe legt, dann kann man sich eine sehr ähnliche Fassung wie bei der Definition des Menschen vorstellen: Der Leib ist ein vernunftbegabter Körper. Der Leib ist zunächst ein Körper, wie ihn andere Wesen auch haben. Aber er ist ein bestimmter Körper, nämlich ein solcher, der ihn von allen anderen Körpern unterscheidet: Er ist vernunftbegabt. Diese einfache Definition kann scheinbar einiges von dem wiedergeben, was Merleau-Ponty wichtig war. So bringt sie zum Ausdruck, dass der Leib zugleich materiell verankert und bewusst ist. Doch ist mit dieser Definition ein entscheidendes Moment des Philosophierens Merleau-Pontys verloren. Denn auf diese Weise ist der Leib in einen vorgegebenen Ordnungsrahmen einsortiert. Die Welt besteht aus Körpern, es gibt verschiedene Arten von Körpern und der Leib ist nun in der spezifischen Weise dadurch ein besonderer Körper, dass er vernunftbegabt ist. Der Mensch bleibt so ein eingekapseltes Wesen, eine Entität unter Entitäten. Aus einer solchen Definition des Leibes, die ihn 134 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Was ist der Leib?

ganz in die alltägliche Anschauung einordnet, können wir keinen Gewinn ziehen. Die Konsequenzen, wenn man wirklich jene Dimension zwischen Subjekt und Objekt erreichen will, müssen umfassender sein. MerleauPonty bemängelt in diesem Sinne an den Arbeiten der Gestaltpsychologie, dass sie, obwohl sie die Gestalt als eine eigenständige Größe erkannt hat, es vermeidet, ontologische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen. 67 Die Psychologen dieser Schule beziehen sich auf psychische Gegebenheiten, die sie als Besonderheiten in einer materiell gegebenen Welt deuten, sie bleiben innerhalb des ontologischen Rahmens der gegebenen Dinge, sie haben also letztlich Menschen mit ihren psychischen Eigenschaften vor Augen, wie wir sie auch in der alltäglichen Einstellung sehen. Nun muss man eingestehen, dass Merleau-Ponty selbst sich nicht von Beginn von der Vorstellung eines »gegebenen« Leibes, den es wie andere Dinge auch gibt, in der notwendigen Radikalität distanziert hat. Man kann die Abfolge seiner Schriften auch verstehen als eine schrittweise Ablösung von der Vorstellung, der Leib sei so etwas wie ein konkretes Ding und er sei eine bestimmte, wenn auch gesondert zu bestimmende Entität unter Entitäten. In seiner ersten Schrift geht er zum Beispiel noch von dem allerdings deutlich veränderten Begriff des Organismus aus. 68 Zwar ist alles Spätere schon hier angelegt, aber noch scheint er davon überzeugt zu sein, dass man den Begriff des Organismus nur modifizieren müsse, um zu dem Begriff des Leibes zu gelangen. Der Organismus ist eine biologisch beschreibbare Gegebenheit, er setzt sich aus den Organen und ihrem Zusammenspiel zusammen. Auf der Ebene des Organismus taucht etwas Neues auf, das nicht nur die Summe der vielen physikalischen Prozesse in den Teileinheiten des Organismus ist. Dieses Neue wird mit dem Begriff »Bedeutung« oder auch mit dem Begriff »Sinn« bezeichnet. »Die Einheit des physikalischen Systems ist die Korrelationseinheit, die des Organismus eine Bedeutungseinheit.« 69 Die Bedeutung ist nun keine zusätzliche Eigenschaft, die gegebenenfalls auch fehlen könnte. Ebenso ist der Sinn ein 67 »Die ›Gestalt‹ kann nämlich erst voll verstanden und alle Implikationen des Begriffes können erst entfaltet werden in einer Philosophie, die sich frei macht von den realistischen Postulaten, die jeder Psychologie anhängen.« Merleau-Ponty 1942: 150. 68 Vgl. Merleau-Ponty 1942: 14. 69 A. a. O.: 178.

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konstitutiver Bestandteil des Organismus: »Das ›natürliche‹ Ding, der Organismus das fremde und das eigene Verhalten existieren nur aufgrund ihres Sinnes (…).« 70 Der Sinn ist nach Merleau-Ponty hier ein Begriff aus der oben angedeuteten dritten Dimension: »Eine »Gestalt« (…) ist ein Ganzes, das einen Sinn hat (…).« 71 Der Sinn entspringt nicht einer Tätigkeit der Vernunft und ist auch nicht aus der physikalischen Interpretation der Dingwelt zu gewinnen, der Sinn hat notwendigerweise an beidem Anteil. Der Begriff des Leibes ist zentral in der Schrift »Phänomenologie der Wahrnehmung«. Am Anfang steht eine eher negative Abgrenzung: Der Leib ist auf jeden Fall nicht das, was das objektive Denken festhalten möchte, wenn es den Körper betrachtet: »Wir werden sehen, wie der Eigenleib sich in der Wissenschaft selbst der Behandlung entzieht, der sie ihn unterwerfen will.« 72 Und schon bald zeigt sich auch, dass eine abstrakte, objektive Beschreibung des Leibes nicht ausreicht. Die Beschreibung des Phantomgliedes, also der Tatsache, dass Amputierte das amputierte Gliedmaß in manchen Situationen spüren können, weist darauf, dass ein Gliedmaß nicht nur eine körperliche Entität, sondern in einen größeren Sinnkontext eingebunden ist. Der Schmerz ist ja nicht in der Wunde, die die Amputation hinterlassen hat, sondern in jenem Gliedmaß, das nicht mehr existiert. Wie kann etwas schmerzen, was nicht mehr existiert? Die Phänomene, die beim Phantomglied sich zeigen, lassen sich nur verstehen, wenn sie von der Sinngebung des amputierten Leibes aus verstanden werden. Und hier gehört das amputierte Gliedmaß nach wie vor zum Sinnganzen des Körpers. Durch diese Analyse ist Merleau-Ponty in der Lage, den Begriff des Körperschemas zu entfalten: »In gleicher Weise ist auch mein ganzer Körper für mich kein Gerüst räumlich zusammengestellter Organe. Ich habe ihn inne, wie einen unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema.« 73 Darüber hinaus zeigt sich eine weitere Eigenart des Leibes: Es gibt keinen vorgegebenen objektiven Raum, innerhalb dessen auf abstrakte Weise sich der Leib orientiert, vielmehr ist der Leib selbst an der Kon70 71 72 73

A. a. O.: 259. A. a. O.: 258. Merleau-Ponty 1945: 96. A. a. O.: 123, vgl. auch die Aufnahme des Begriffs bei Joas 1996: 262 ff.

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Was ist der Leib?

stitution des Raumes beteiligt. Der Leib ist die Art und Weise, wie wir »zur Welt« (Zur-Welt-sein; être au monde) 74 sind, er ist an der Entstehung der Phänomene beteiligt, von dem sich alles andere ableitet. »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.« 75 Merleau-Ponty variiert in vielen Formulierungen diese eine zentrale Erkenntnis, dass sich der Leib nicht in die Vorstellung einer objektiven Welt fügt. Es ist nicht so, dass erst die Welt mit den Dingen gegeben ist und dann zu fragen wäre, welche Besonderheiten der menschliche Leib als eines dieser Dinge aufweist. Der Leib ist also in gewisser Weise uneinholbar vorgängig, er ist präreflexiv. Was auch immer wir sehen, wie auch immer wir mit der Welt in Kontakt treten, wir tun es stets so, dass der Leib die grundlegenden Koordinaten schon gesetzt hat. So ist er auch der Ort der Sinnstiftung. 76 Was auch immer wir von der Welt sehen, es ist nie unabhängig davon möglich, dass wir mit und durch unseren Leib auf die Welt ausgerichtet sind. Wir sehen die Welt nur so, wie sie sich aus der Vermittlung durch den Leib ergibt. »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.« 77 Die Vorstellung eines Gegenübers, auf der einen Seite der beobachtende Mensch, auf der anderen Seite die beobachtete Welt, beruht auf einer nachträglichen Abstraktion. Die Vorstellung unterschlägt, dass der Mensch als leibliches Wesen schon zu der Welt gehört, die er angeblich von außen, als Gegenüber betrachten will. Mit diesem Begriff des Leibes, der von dem Umstand bestimmt ist, dass der Mensch immer schon auf die Welt ausgerichtet ist, gelingt es Merleau-Ponty die dritte Dimension wesentlich umfangreicher auszuleuchten, als das mit seinem ersten Ansatz, der Betrachtung des Verhaltens möglich war. Der Leib erweist sich als eine integrale Beschreibungsform unserer Existenz, die nicht in der Weise analysiert werden kann, dass eine Eigenschaft von der anderen getrennt wird. Vielmehr ist der Leib ein bestimmter Gestus, der alle Weisen einer bestimmten Existenz zusammenfasst. Dieser Gestus ist mit der Wirklichkeit, die 74 Vgl. a. a. O.: 103. Dieser Ausdruck steht in enger Verbindung mit dem der Intentionalität, die sich in der Theorie von Dennett so sperrig gezeigt hat. Wir werden später (Kap. 7.2.) noch ausführlicher darauf eingehen. 75 A. a. O.: 176. 76 Vgl. a. a. O.: 177. 77 A. a. O.: 239.

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wir erleben, eng verbunden, es gibt nicht erst die Wirklichkeit und dann unseren Zugang zu ihr. Zu dem, was sich erst über den Leib erschließt, gehört neben dem Handeln und dem Wahrnehmen auch das Sprechen. Das Sprechen ist ebenso eine grundlegende Form unseres Bezuges auf die Welt. Auch hier gilt: Da ist nicht zunächst ein Exemplar einer bestimmten Spezies, des homo sapiens sapiens, das dann auch noch sprechen kann (wie es eine Glühbirne gibt, die, wenn Strom fließt, leuchtet), sondern: Die leibliche Existenz, durch die wir uns die Welt überhaupt erst einmal erschließen können, diese leibliche Existenz ist immer schon sprachliche Existenz. Merleau-Ponty wendet sich so auch der wahrgenommenen und immer schon durch die leibliche Präsenz vermittelten Welt zu. Der Leib als Schlüssel zum Verständnis der Welt hat von Beginn an nicht nur einen Bezug zur Welt, insbesondere auch zu anderen Menschen. Hier unterscheidet sich der Ansatz fundamental vom cogito des Descartes, denn dieses war notwendiger Weise in einem ersten Schritt abgetrennt von der Welt, an deren Existenz und Ausgestaltung man ja zweifeln kann. Merleau-Pontys Konzept des Leibes ist von Beginn an offen und durchlässig, ja es ist geradezu angewiesen auf eine Verbindung nach außen. Der andere Mensch ist in diesem leibphilosophischen Ansatz nicht möglich, sondern notwendig. Ein Leib in diesem Verständnis ist niemals eine abgeschlossene Gegebenheit. Er ist immer schon konstitutiv auf die Umgebung bezogen und immer auch auf die anderen Menschen. Anhand der Analyse des Leibes wird auch deutlich, warum wir andere Menschen überhaupt erkennen können. Meinen eigenen Leib erkenne ich nicht direkt und klar, er ist mir immer schon gegeben und kann nur mühselig erst nachträglich von mir erahnt werden, ohne dass eine völlige Transparenz möglich wäre. Aber gerade das ist auch die Voraussetzung zur Erkenntnis eines anderen Menschen. Wären wir uns selbst völlig transparent, würden wir die Fähigkeit verlieren, Andere zu erkennen. Dann würden wir uns selbst völlig verstehen, wir ruhten in völliger Transparenz in uns selbst, einen anderen Menschen aber könnten wir nicht mehr erreichen. Gerade aber weil wir uns selbst nicht völlig durchschauen können, haben wir auch die Fähigkeit, den Anderen, der uns allerdings noch fremder ist als wir uns selbst, in Ansätzen zu verstehen. Ich kann mich dem anderen Menschen zuwenden, weil ich mir selbst nicht eine völlig genügende, in sich ruhende und transparente Entität bin. »Zwischen meinem Bewusstsein und meinem Leib, so wie ich ihn erlebe, zwischen diesem meinem phä138 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Was ist der Leib?

nomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als die Vollendung des Systems erscheinen lässt. Möglich ist die Evidenz des Anderen dadurch, dass ich mir selbst nicht transparent bin (…).« 78 Das Verhältnis zu mir selbst ist von einem Geheimnis durchzogen, das ich bei dem Anderen auch ahne. Deshalb aber bin ich dem Anderen in besonders inniger Weise verbunden. Auch in den späteren Schriften ist der Andere in den Schriften Merleau-Pontys immer präsent. Der Andere ist so wenig ein Gegenstand wie es der eigene Leib ist: »Weder in ihrem Leib noch nirgendwo sehe ich die Anderen. Der Blick des Anderen nimmt seinen Anfang nicht von einem bestimmten Punkt des Raumes aus. Der Andere entsteht an meiner Seite als eine Art Ableger von mir oder durch eine Art von Verdoppelung (…).« 79 Diese Bezogenheit auf den Anderen soll in den folgenden Betrachtungen erst einmal zurückgestellt werden. An die damit verbundenen Einsichten werden wir aber später wieder anknüpfen, wenn wir nach der sozialen Konstitution des Leibes fragen. Bislang haben wir uns auf die früheren Schriften von MerleauPonty bezogen, in denen er den Leib auch explizit thematisiert. In den späteren Texten von Merleau-Ponty erschließt sich die Rolle des Leibes nicht sofort. Wir haben ja schon angedeutet, dass er dort immer stärker zu gewagten Metaphern greift und die ganze Wirklichkeit in eins mit dem Leib zu erfassen sucht. Er löst sich von den empirisch orientierten Ausgangspunkten seiner früheren Betrachtungen und strebt danach, direkt in der dritten Dimension anzusetzen. Wir haben die neu geschaffenen Begriffe des rohen Seins und des Fleisches genannt. Allerdings stehen die Begriffe nicht losgelöst, sondern sind strikt rückgebunden an einen bestimmten Ausgangsort, nämlich dem Wahrnehmungsglauben. Dieser Wahrnehmungsglaube aber zeugt von einem unmittelbaren Kontakt des Beobachters mit der Welt, der allen späteren Trennungen vorgängig ist. Der Ort dieses Kontaktes aber wiederum ist der Leib. Und nur dann, wenn man den Leib mit in die Betrachtung einbezieht, wird sich zeigen, dass die ontologisch ausgerichteten Metaphern nicht willkürlich gewählt sind. Unser Leib ist unser Gesichtspunkt für die Welt. 80 Nur durch den 78 79 80

Merleau-Ponty 1945: 403 f. Merleau-Ponty 1964: 86. Vgl. Merleau-Ponty 1945: 95.

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Leib gewinnt die Welt eine Perspektive, wird sie sichtbar. Der Leib ist aber kein Instrument, er ist keine optische Einrichtung, mit Hilfe derer man etwas sehen kann. Der Leib sind wir selbst. Durch den Leib haben wir an dem Anteil, auf das wir schauen, wenn wir Dinge der Welt betrachten. Durch den Leib geraten wir mitten unter die Dinge der Welt. Für den Leib herrscht also eine gewisse Uneindeutigkeit: Auf der einen Seite gehört er notwendig zum Subjekt, ich kann ohne meine Augen nicht sehen, zum anderen gehört er zum Objekt, ich kann meine Augen im Spiegel untersuchen. Der Leib ist in dieser Weise doppeldeutig, er gehört beiden Regionen an. Der Leib ist als Sehender mitten in dem Sichtbaren eingerichtet. Wenn man also den Leib in seiner konstitutiven Rolle bei der Erkenntnis der Wirklichkeit berücksichtigt, dann kann man den Ursprung des Denkens nicht vergessen, dann bleibt das überfliegende und totalisierende Denken abgewehrt. Weil der Leib der Ursprung und stete Bezugspunkt des Denkens ist, kann das Denken sich nicht von dem endlichen Herkunftsort innerhalb der Welt lösen. Von diesem Verständnis des Leibes erschließt sich die Metapher des Fleisches. Da der Leib selbst an der Welt teilhat, mit der wir in Kontakt treten, hat die Welt auch etwas von dem Leib. In dem Leib ist beides, Beobachter und Beobachtetes, also können die Dinge der Welt nicht völlig anders sein als der Leib selbst. Das würde auch der Ansatz von Descartes mittragen können, der ja nicht leugnet, dass der Leib als Körper zu der res extensa gehört. Doch Merleau-Ponty will auf etwas anderes weisen. Ihm ist es wichtig, zu zeigen, dass die Trennung zwischen res extensa und res cogitans einer nachträglichen Abstraktion geschuldet ist und dass es aber darauf ankommt, auf das zu schauen, was der Trennung vorangeht. Das Ungetrennte ist aber sowohl res extensa, also materielle Welt als auch res cogitans, also Bewusstsein. Dies ist aber genau das, was sich über den Leib sagen lässt. »Auf eine allgemeine Weise gesehen / ist das Sichtbare weder Tatsache noch Summe ›materieller‹ oder ›geistiger‹ Tatsachen. Und ebenso wenig ist es Vorstellung für einen Geist: ein Geist könnte nicht in seinen Vorstellungen befangen sein, er würde sich sträuben gegen diese Einfügung in das Sichtbare, die dem Sehenden eigen ist. Das Fleisch ist nicht Materie, es ist nicht Geist, nicht Substanz. Um es zu bezeichnen bedürfte es des alten Begriffes ›Element‹ (…).« 81 Merleau-Ponty greift die altgriechische

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Merleau-Ponty 1964: 183.

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Was ist der Leib?

Vorstellung von den »Elementen« auf, weil diese Lehre vor der »Entdeckung« eines Subjektes entstand, sie war eine Darstellung der Wirklichkeit, in der ein Gegenüber von Subjekt und Objekt noch keinen Platz hatte. Eine Idee davon, was mit dem Fleisch als jenem Ungeteilten gemeint sein kann, kann man nur an dem eigenen Leib gewinnen. In diesen späten Texten also überträgt Merleau-Ponty die Erkenntnisse, die er in den frühen von dem Leib gewann, auf die ganze Wirklichkeit. Das Fleisch ist dann so etwas wie der auf die ganze Wirklichkeit aufgeblähte Leib. Natürlich gibt es zwischen beiden Unterschiede. Aber der Leib ist der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit als Fleisch. »Die Dichte des Leibes wetteifert nicht mit der Dichte der Welt, sondern ist im Gegenteil das einzige Mittel, das ich habe, um mitten unter die Dinge zu gelangen, indem ich mich Welt und sie Fleisch werden lasse.« 82 Der Leib ist für Merleau-Ponty nicht ein Element einer Menge, nicht ein wie auch immer zu bestimmendes Ding innerhalb einer gegebenen Wirklichkeitsordnung, der Leib ist vielmehr selbst dasjenige, mit dem sich die Wirklichkeit erst konstituiert. Eine Analyse des Leibes erst führt uns auf den Weg, auf dem wir Wirklichkeit verstehen lernen. Wir stehen hier vor einem unvermeidlichen Zirkel. Wir können den Leib nur verstehen, wenn wir seinen Bezug auf die Wirklichkeit verstehen. Dies ist aber nur möglich, wenn wir die Struktur der Wirklichkeit kennen, die wiederum sich nur über ein Verständnis des Leibes erschließen lässt. Kann diese Form der Argumentation sinnvoll sein? Statt eines Problems, nämlich der Erschließung der unbekannten Wirklichkeit, mit der wir unsere Erkundungen begonnen haben, haben wir nun zwei Probleme, nämlich die Erschließung der Wirklichkeit und die Erschließung des Leibes. Verschärfend kommt ein weiteres hinzu: Die Einführung des Leibes verlässt die methodische Maxime, die Descartes in den Mittelpunkt seiner Analysen gestellt hat: Jede Erkenntnis müsse klar und deutlich sein. Ist es dann nicht Mutwillen, wenn man in der Philosophie scheinbar ohne Not einen Begriff einführt, der die Strukturen eher unklarer werden lässt als klarer? Ohne Zweifel ist Klarheit der Erkenntnis ein hohes Gut, das man nicht gefährden sollte. Möglicherweise ist es aber so, dass die Wirklichkeit eben nicht in der Descartes’schen Analyse bearbeitet werden kann, also als ein Komple-

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A. a. O.: 178.

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xes, das in einzelne Teilprobleme zergliedert werden kann, die dann Schritt für Schritt einer Lösung zugeführt werden. Möglicherweise ist die Wirklichkeit gerade durch ein Zusammenspiel und eine Verbindung bestimmt, die nur dann klar und eindeutig dargestellt werden kann, wenn sie in entscheidender Weise beschränkt und wichtiger Eigenschaften beraubt wird. Wollen wir die Wirklichkeit aber in möglichst umfassender Weise darstellen, so dürfen wir uns nicht zu früh beschränken.

5.

Resümee: Der Leib als Schüssel zum Verständnis der Wirklichkeit

Der Leib spielt so eine zentrale Rolle in dem Denken von Merleau-Ponty. Doch ist der Begriff auch in unterschiedlichem Gebrauch in unserer Zeit. Deshalb soll gleich zu Beginn eine Warnung vor Verwechselungen und Missverständnissen stehen, welche darin resultieren, dass der Begriff des Leibes in vielen Diskussionen in einer Weise besetzt ist, die die Rezeption des Ansatzes von Merleau-Ponty erschwert. Der Leib ist kein Ort von Identität und es ist auch kein Ort von Unmittelbarkeit. Der Leib avancierte in gewisser Weise in der öffentlichen Diskussion oft zu einem Gegenbegriff zum Körper, der von den Naturwissenschaften beschrieben wird. Die klassische, naturwissenschaftlich orientierte Medizin hat es dementsprechend mit dem Körper zu tun. Der Körper ist eine biologische Gegebenheit, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln analysiert werden kann. Ein kranker Körper wird auf kranke Organe hin untersucht. Ist ein solches Organ identifiziert, wird der Körper in der Medizin auf die Heilung dieses Organs hin behandelt. Der Körper wird als eine teilbare und in ihren Teilen analysierbare Gegebenheit verstanden. Es gibt tatsächlich große Einflüsse der naturwissenschaftlichen Analyse in der etablierten Medizin, auch wenn es eine Verkürzung wäre, nicht zu erwähnen, dass die Medizin immer schon auch andere Pfade integriert hat, wie etwa in der psychosomatischen Ausrichtung Viktor von Weizsäckers, der zu ganz ähnlichen Formulierungen finden konnte wie Merleau-Ponty. 83 Diejenigen, die sich auf den Leib als einen Alternativbegriff beziehen, pro-

83

Vgl. Link 1976: 323.

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Resümee: Der Leib als Schüssel zum Verständnis der Wirklichkeit

testieren gegen den dominanten analytischen Zugang. Sie reklamieren, dass der Leib eine Ganzheit sei, die man auch als solche erkennen müsse. Wer sie zergliedert, missachtet die besondere Seinsweise des Leibes. Doch diese Berufung auf den Leib als einer Ganzheit geht in eine ganz andere Richtung als die von Merleau-Ponty. Der Leib in seinem Verständnis ist nicht eine wie auch immer geartete Ganzheit im Sinne einer in sich ruhenden, mit sich identischen Gegebenheit. Diese Auffassung würde wiederum den Leib in die Menge der Dinge einreihen. Der Leib ist dann nämlich ein mit sich identisches Ding, wenn auch ein besonderes Ding, da hier die Identität eines Menschen mit ihm verbunden ist. Im Sinne Merleau-Pontys dagegen ist der Leib eher ein offener Gesichtspunkt, der darauf ausgerichtet ist, die Wirklichkeit zu erschließen. Ebenso ist der Leib auch kein Ort der Identität. Das Konzept von Merleau-Ponty ist zu dialektisch, es berücksichtigt ebenso die Erfahrungen des unmittelbar Beteiligten wie auch die Objektivierungen als Teil ein und desselben Geschehens. Es ist von der Gebrochenheit jeder Erkenntnis des Leibes durchdrungen. Die Leibphilosophie von Merleau-Ponty ist keine Ursprungsphilosophie. Das Denken wird daran gemahnt, dass es sich immer wieder auf seinen Ursprung beziehen muss, um ihn nicht zu verleugnen, ohne dass es aber möglich wäre, diesen Ursprung durch das Denken einzuholen und ohne dass geleugnet würde, dass das Denken auch eine eigenständige Bedeutung hat. Das Denken ist mit seinen Abstraktions- und Analysefähigkeiten eine wichtige Auszeichnung des Menschen. Merleau-Ponty hat zeit seines Lebens im Austausch mit der wissenschaftlichen Forschung unterschiedlicher Fakultäten gestanden. Jedoch darf die Fähigkeit zur Abstraktion und zur distanzierten Analyse nicht absolut gesetzt werden. Daran erinnert der Rückbezug auf den endlichen Ausgangspunkt. Auch das abstrakte Denken ist und bleibt ein Vermögen des Leibes. Dieses Konzept lässt sich also nicht als ein Gegenentwurf gegen eine abstrakte oder entfremdete Naturwissenschaft verstehen, wohl aber als eine ständige Mahnung an den bescheidenen und endlichen Anfang allen Denkens, der auch für die Wissenschaften gilt. Weiterhin ist die Tatsache, dass der Leib sich vom Körper unterscheidet, nicht trivial. Die alltägliche Annahme in der Leonardo-Welt, die Welt bestehe aus Körpern und die menschlichen Körper seien eine Teilmenge der Körper, ist sehr dominant und prägend. Hierdurch ist aber schon ein Rahmen gegeben, der die folgenden Überlegungen in unvermeidbarer Weise in eine bestimmte Perspektive presst. Man 143 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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könnte nun die Gegenfrage stellen, was denn der Mensch sei, wenn nicht ein Körper in einer Ansammlung von Körpern. Genau diese Frage muss offen bleiben, wenn wir uns auf die Leibphilosophie von Merleau-Ponty einlassen wollen. Dies erscheint für unsere alltägliche Intuition zunächst unverständlich oder zumindest gewöhnungsbedürftig, es führt uns aber in der Konsequenz in jene Region, auf die all die genannten begrifflichen Versuche weisen wollen: in die dritte Dimension zwischen Subjekt und Objekt, die in der Kultur der Leonardo-Welt kaum noch einen Ort hat. Ein Körper ist immer schon etwas eindeutig Getrenntes, eine Entität, die ihre eigene Existenz neben der Existenz anderer Körper hat. Wir wollen aber jenen Bereich erkunden, in dem das im alltäglichen Bewusstsein Getrennte noch ungeschieden ist. Wenn wir also das Problem, wie wir die Wirklichkeit beschreiben können, in der wir leben, neu angehen und dabei die geschilderten Sackgassen vermeiden möchten, dürfen wir nicht vorschnell durch konventionelle Annahmen den weiteren Weg verbauen. Die zunächst schwer nachvollziehbaren Schritte müssen sich allerdings am Ende dem Praxistest stellen: Gelingt es mit ihrer Hilfe, eine umfassendere und vielfältigeres Verständnis von der Wirklichkeit zu erlangen? Das soll im dritten Teil dieser Arbeit geschehen. Der Leib ist mehr, weil er zugleich Gesichtspunkt zur Welt ist – das heißt der Leib ist nie einfach irgendein Leib in einer abstrakten Vielzahl von Leibern, sondern zuerst immer erst einmal mein Leib, durch den ich erst Zugang zur Welt habe – mein Leib ist aber nicht nur auf der Seite des Objekts, sondern auch auf der Seite des Subjekts. Der entscheidende erste Schritt ist dabei, uns nicht als eine Seinseinheit, als eine Entität unter anderen Seinseinheiten, Entitäten zu begreifen. Denn mit der Isolierung unseres Bewusstseins als Innenseite unseres Körpers gegenüber der Welt ist schon eine Unterscheidung vollzogen, ein Schnitt gesetzt, der alle weiteren Probleme des Wirklichkeitsverständnisses vorgibt. Dies meint die eingangs gebrauchte Formulierung des eingekapselten Menschen. In dem Moment, in dem wir uns in Gänze als eine zu beschreibende Entität begreifen, sind wir schon auf die Außenperspektive reduziert, befinden wir uns in einer Aufzählung der Dinge dieser Welt. Die Bereitschaft, die gewohnte Sicht einmal hintan zu stellen, ist der Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir dem Weg Merleau-Pontys folgen wollen. Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt. Wenn wir nicht bereit sind, die Intuition zurückzustellen, dass wir ein Körper unter vielen ohne 144 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Resümee: Der Leib als Schüssel zum Verständnis der Wirklichkeit

Unterschied sind, verortet in einem objektiv gegebenen Raum, wenn wir nicht bereit sind, die Geltung dieser Vorstellung vorübergehend auszusetzen, dann bleiben wir dem vorgegebenen Rahmen der Interpretation der Wirklichkeit verhaftet und werden kaum neue Perspektiven erschließen können. Die Außerkraftsetzung dieser alltäglichen Annahme ist mühevoll, weil ungeübt. In diesem Schritt, sich zunächst einmal auf den eigenen Leib zu beziehen und nicht voreilig auf einen abstrakten Gesichtspunkt einzulassen, der alle menschlichen Leiber von einem undefinierten Punkt aus betrachtet, ist die Erkenntnis des endlichen, leibgebundenen Erkennens von Merleau-Ponty aufbewahrt. 84 Wenn wir das endliche Denken einüben wollen, das seinen Ursprung nicht vergisst, müssen wir bei uns selbst und unserer leiblichen Existenzform beginnen. Das heißt, jede und jeder muss bei sich beginnen. Die hier geschriebenen Argumente dürfen nicht nur als Argumente verstanden werden, sondern sie sollten jede Leserin und jeden Leser auf sich selbst verweisen und die eigene Leibwahrnehmung verweisen. Das heißt, der Ausgangspunkt für die Erschließung der Wirklichkeit ist immer zunächst einmal mein je eigener Leib. Eine Beschreibung der Wirklichkeit, die den eigenen Leib im dargestellten Sinne nicht verleugnet, ist sich stets ihrer Endlichkeit bewusst. Dieser Ausgangspunkt ist nicht zugleich der Endpunkt der Erkenntnis. Um es deutlich zu sagen: Die Betonung des eigenen Leibes ist keine Entscheidung gegen eine Abstraktionsfähigkeit des Menschen, es ist nur ein erster Schritt, der, das werden die folgenden Überlegungen zeigen, in der Lage ist, erst die Vielfalt der Erscheinungsweisen der Wirklichkeit zu öffnen. Der eigene Leib ist der Index, der stets auf das weist, was sich zeigt und mit dem Index »mein« verbunden werden kann. Das Erkennen wird so an seinen Ursprungsort gebunden und kann nicht als überfliegendes Denken, das beim Ganzen der Welt ansetzt (nichts ist leichter als das Ganze der Welt zu denken), die Bodenhaftung verlieren.

84 Der Anspruch, bei einem offenen Konzept des Leibes zu beginnen und ihn nicht mit einer objektivierbaren Entität zu verwechseln, kann auch als Grundlage für eine lebenspraktische Orientierung sein: »(…) als was sich der Leib zeigt, ist abhängig von der jeweiligen Weise, Leib zu sein.« Böhme 2003: 9.

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4. Der leibphilosophische Ansatz von Maurice Merleau-Ponty

6.

Das Verhältnis zu Descartes

Zum Schluss soll ein Blick zurück geworfen werden auf den geheimen Kontrahenten, der in allen Schriften von Merleau-Ponty gegenwärtig ist, auf René Descartes. Das philosophische Schaffen Merleau-Pontys steht, wie wir gesehen haben, unter dem Ziel, den Dualismus von Bewusstsein und Materie, von Subjekt und Objekt zu überwinden. Der Leib erfasst sowohl das Bewusstsein wie auch die materielle Körperlichkeit des Menschen. Nun ist es ja so, dass auch Descartes auf den so verstandenen Leib stieß, als er nach einem sicheren Fundament für die Erkenntnis suchte. Nur sind gerade an diesem Ort die Ansätze von Descartes und Merleau-Ponty diametral verschieden: Der eine nimmt eine analytische Trennung vor, die tiefer nicht sein kann, der andere dagegen sucht nach Übergängen und einem für alle Erscheinungen der Wirklichkeit gemeinsamen Ausgangspunkt. Der eine sucht nach einem sicheren Fundament, der andere lässt sich möglichst unvoreingenommen auf die ganze Bandbreite der Phänomene ein. Interessant ist es gleichwohl festzustellen, dass trotz der Unterschiede beide genau das gemeinsam haben, dass sie sich beide in besonderer Weise auf die Region des Leibes beziehen. Mit dem Leib wird das Verhältnis von materieller Welt und Bewusstsein thematisiert. Er gehört so für beide Philosophen zum Kern der Frage, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Deshalb sucht ein Ansatz, der den Leib in den Mittelpunkt stellt, nicht willkürlich an irgendeinem Ort innerhalb der Wirklichkeit, sondern an einem solchen, an dem sich von Beginn der Neuzeit an entscheidende Fragen stellen, die bis heute nicht beantwortet sind: Wie ist die Existenz des Bewusstseins in einer materiellen Welt zu denken? Der Ansatz beim Leib bietet gerade die Chance, diejenigen Übergangsphänomene zu benennen, die in der Descartes’schen Analyse verloren gingen und die bei der Beantwortung der Frage gar nicht mehr in den Blick kommen können, wenn man denn die Frage in dieser Form stellt. Dann ist das Bewusstsein das Besondere, die materielle Welt das Vorgegebene. Der von Descartes zu Beginn der Neuzeit inaugurierte Dualismus hat in eine Sackgasse geführt, dies ist die nicht nur von Merleau-Ponty, sondern von den meisten zeitgenössischen Philosophen geteilte Meinung. Doch eine einfache Verwerfung des Ansatzes stellt die Verhältnisse nicht angemessen dar. Unbestreitbar hat Merleau-Ponty in fast allen Arbeiten gerade von dieser fundamentalen Unterscheidung ge146 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Das Verhältnis zu Descartes

zehrt, von der Unterscheidung zwischen der res extensa und der res cogitans. Wir sahen die Schwächen der Unterscheidung und die guten Gründe für Merleau-Ponty in den späteren Schriften, einen Weg jenseits der Unterscheidung zu finden. Doch ist auch ein Weg, der sich als Weg jenseits einer Unterscheidung definiert, von dieser Unterscheidung noch abhängig. Kurz gesagt: Ohne die Unterscheidung, die Descartes postuliert hat, wäre es nicht möglich, das zentrale Projekt von Merleau-Ponty zu formulieren: einen Weg zwischen diesen beiden Extremen zu suchen, die dritte Dimension zwischen Subjekt und Objekt, zwischen res cogitans und res extensa freizulegen!

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Die fundamentalen Einsichten von Merleau-Ponty, die wir im letzten Kapitel kennen gelernt haben, insbesondere die stete Erinnerung des Nachdenkens über die Wirklichkeit an seinen endlichen Ausgangspunkt, den Leib, sollen in den folgenden Überlegungen bewahrt werden. Gleichzeitig ist es das Ziel, eine Basis zu schaffen für eine erweiterte Beschreibung der Wirklichkeit, die auch ihre abstrakten Beschreibungsformen wie die Naturwissenschaften umfasst. Um dieses Vorhaben mit der zweifachen Zielsetzung umsetzen zu können, müssen wir auch einen kritischen Blick auf die späte Entwicklung des Denkens vom Merleau-Ponty werfen. Die Berücksichtigung der leiblichen Existenz von Beginn an unterbindet eine einseitige Bevorzugung und letztlich eine Verabsolutierung der Sphäre des Bewusstseins oder die der Dingwelt. Der Leib ist eine Fixierung inmitten der Wirklichkeit, die einer Tendenz hin zur Welt der Dinge oder hin zum Bewusstsein widersteht, ein Anker zwischen der Skylla des Bewusstseins und der Charybdis der materiellen Welt. Als solcher fungiert er als Ausgangsort des endlichen Erkennens. Es ist ja eben eine Kritik des späten Merleau-Ponty an seinen frühen Schriften, dass er diese noch zu stark beeinflusst sieht von bestimmten traditionellen Vorstellungen des Bewusstseins oder der materiellen Welt. Hierdurch entstand eine schlechte, weil ständig changierende Ambiguität, ein Schwanken zwischen den Extremen, auch ein Schwanken zwischen den unterschiedlichen Zugangsweisen zur Wirklichkeit. 1 Diesen Nachteil versucht er durch einen konzeptionellen Neuansatz in seinen späteren Schriften zu verhindern, der inmitten der Wirklichkeit beginnt, eben dort, wo der Wahrnehmungsglaube immer schon ist. Hier entsteht aber die Schwierigkeit, dass er an einem Punkt ansetzen muss, der außerhalb der logischen und kausalen Ordnungen steht und deshalb nicht direkt beschrieben werden kann. Er sucht immer wieder neu angemessene Ausdrucksformen für das, wovon der Wahrneh1

Vgl. Merleau-Ponty 1973: 11; auch Bermes 1998: 49.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

mungsglaube ausgeht, das allen Unterscheidungen vorangeht, das noch ungeschieden ist, woraus aber die Unterscheidungen entspringen. Es bleibt ihm nur, in immer wieder neuen Anläufen diesen Punkt anzustreben, ihn zu umschreiben, zu umkreisen. Dieses Vorgehen ist nicht methodisch mangelhaft, sondern sachgerecht. Jedoch hat es zugleich einen gravierenden Nachteil. Denn es droht die Anschlussfähigkeit an andere Zugangsformen der Wirklichkeit zu verlieren. Dadurch aber gerät meiner Ansicht nach die alltägliche wie auch die wissenschaftliche Sichtweise in den späteren philosophischen Schriften in den Hintergrund.2 Zugleich entsteht die Gefahr, dass die richtige Erkenntnis, nach der wir uns weder auf dualistische noch auf monistische Wirklichkeitsbeschreibungen verlassen können, sich stets negativ von dem Alltagserleben und der wissenschaftlichen Erkenntnis abgrenzt. Nun ist der Schritt einer Abgrenzung gerade unter den Vorzeichen der LeonardoWelt notwendig, aber er darf den Weg nicht verbauen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse konstruktiv mit der Leibphänomenologie zu verbinden. Die Rede vom Fleisch, vom wilden und rohen Sein, von dem Wahrnehmungsglauben wird ansonsten zu einem negativen Reservoir, mit dem man bestehende dualistische oder monistische Annahmen durch Hinweise auf die Verbundenheit mit der Wirklichkeit dekonstruieren kann, die aber ihrerseits kaum in der Lage sind, den bestehenden Ordnungen in der Wissenschaft oder im Alltag eine angemessene Würdigung zukommen zu lassen. Die im Wesentlichen skeptische Haltung des späten Merleau-Ponty den Wissenschaften gegenüber wird an einigen Stellen besonders deutlich. In den früheren Schriften kann Merleau-Ponty wissenschaftliche Ergebnisse in seine gedankliche Entwicklung seiner philosophischen Schriften konstruktiv aufnehmen, 3 in den späteren dagegen bleiben die Wissenschaften eher außen vor, sie können nicht viel zu seinem zentralen Projekt, mitten in der Wirklichkeit zu beginnen, beitragen, da sie ihrerseits von ganz anderen Prämissen starten: »Die WissenIch beziehe mich hier auf die zentralen Aussagen von »Das Sichtbare und das Unsichtbare«. Es ist deutlich, dass sich Merleau-Ponty zeitlebens intensiv mit den Wissenschaften auseinander gesetzt hat, wie die Mitschriften auch seiner Vorlesungen der Jahre 1956–1960 belegen, vgl. Merleau-Ponty 2000. Doch geht seine begriffliche Strategie des systematischen Entwurfs eher in eine andere Richtung. 3 Vgl. die breite Rezeption behavioristischer und gestaltpsychologischer Forschungen, Merleau-Ponty 1942, I. Abschnitt und II. Abschnitt oder Merleau-Ponty 1945, Einleitung und I. Teil. 2

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schaft setzt den Wahrnehmungsglauben voraus und klärt ihn nicht.« 4 Zwar erinnert er in dem Text »Das Auge und der Geist« an die klassische Wissenschaft, die noch ein Gefühl für den transzendenten Grund ihrer Operationen gehabt habe, 5 und auch die späten Vorlesungen beweisen ein großes Interesse an neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber es wird nicht deutlich, wie diese Erkenntnisse den philosophischen Ansatz unterstützten können. In den philosophischen Schriften bleibt die Kritik, auch die neuere Wissenschaft beschränke sich allein auf das, was sie mit ihren Operationen und Methoden finden könne: »Die Wissenschaft experimentiert mit den Dingen und verzichtet darauf, ihnen beizuwohnen.« 6 Welchen Stellenwert hat aber dann die Wissenschaft im philosophischen Entwurf? Die Kritik an den Wissenschaften ist nun gegenüber bestimmten szientistischen Positionen auch nicht unberechtigt, sie ähnelt der, die wir schon bei der Behandlung der Position von Dennett formuliert haben. Jedoch ist es eines, eine bestimmte philosophische Interpretation der Wissenschaften wegen ihrer Verengung der Sichtweise zu kritisieren, es ist ein anderes, dies den Wissenschaften selbst anzulasten. Hier deutet sich eine Haltung an, die in der späteren postmodernen Philosophie dominant werden sollte: Der Akzent des Strebens nach Erkenntnis lag dort eindeutig auf jenen Aspekten der Wirklichkeit, die sich der diskursiven Rede und der wissenschaftlichen Methodik entziehen. Merleau-Ponty konzentriert sich in den philosophischen Schriften stärker auf die Mitte der dritten Dimension, beschrieben in dem Wahrnehmungsglauben, dem Fleisch, dem Chiasmus. Die poetische Begabung von Merleau-Ponty und die Kraft seiner Metaphern verhelfen ihm zu immer neuen Einsichten, die kurz aufblitzen, die sich aber nicht konservieren lassen, sondern notwendigerweise wieder verlöschen. Die dritte Dimension kann so in ihrer Verästelung und in ihrer Reichweite in die Ordnungen hinein immer nur kurzzeitig ausgeleuchtet werden, Merleau-Ponty 1964: 31. »Aber die klassische Wissenschaft bewahrte noch ein Gefühl für die Undurchdringlichkeit der Welt, der sie durch ihre Konstruktionen gerecht zu werden suchte.« Merleau-Ponty 2003 (1): 275. 6 Ibid. Ähnlich heißt es: »Der Philosoph bemüht sich darum zu sehen; der Wissenschaftler darum, Zugriffe zu finden. Sein Denken ist nicht von dem Bestreben geleitet zu sehen, sondern einzugreifen.« Merleau-Ponty 2000: 126. Hier bestätigt MerleauPonty bezogen auf den Erkenntnismodus der Wissenschaften die Bedingungen, die unter dem Begriff Leondardo-Welt zusammengefasst wurden. 4 5

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Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen Realismus«

sie wird immer wieder von einem aufflackernden Licht beschienen, das aber keine grundlegende Orientierung oder systematische Arbeit zulässt. So bleibt dem Philosophen nur der Gestus des Hinweisens, er macht auf die dritte Dimension aufmerksam, die sich durch den Leib erschließt, sie zeigt sich und entzieht sich aber auch zugleich wieder. Damit lässt Merleau-Ponty aber meiner Ansicht nach große Möglichkeiten seines Ansatzes ungenutzt, die in viel breiterer und umfassender Weise sich der Erschließung der Wirklichkeit widmen könnten. In diesem Kapitel wollen wir versuchen, durch den Vorschlag der Entwicklung eines phänomenologischen Realismus eine Perspektive zu entwickeln, die das Anliegen von Merleau-Ponty aufnimmt und mit dem wissenschaftlichen Erkennen verbindet. Die Mitte der dritten Dimension wird uns damit nicht einfacher zugänglich, es ist aber wichtig, die dort gewonnenen Erkenntnisse und Intuitionen auch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis in Beziehung zu setzen.

1.

Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen Realismus«

Die Textgrundlage, auf der wir uns dieses Urteil über die letzte Schaffensphase von Merleau-Ponty gebildet haben, ist nur sehr begrenzt. Es gibt auch hier Hinweise, dass die weiteren Arbeiten Merleau-Pontys, wenn sie ihm denn möglich gewesen wären, in die Richtung gewiesen hätten, in die wir nun auch im Weiteren gehen wollen. Merleau-Ponty wollte sich in den letzten Monaten seines Lebens verstärkt ontologischen Fragen zuwenden und dabei konzeptionell innovative Wege gehen. Davon zeugen auch Neologismen wie zum Beispiel der Begriff der Intra-Ontologie. 7 Er beabsichtigte, seinen Ansatz zu einer Ontologie auszubauen und griff damit jenen Anspruch auf, der schon in seinen Frühschriften deutlich wurde, dass eine konsequente Phänomenologie ontologische Konsequenzen haben müssen. In der Tat kann man beides nicht voneinander trennen. Dazu ist es vor allem notwendig, die Vorstellung fallen zu lassen, es gäbe ein Ansich hinter den Phänomenen, hinter den »Ansichten« der Wirklichkeit. »Es muss verständlich werden, dass die ›Ansichten‹ (…) nicht Projektionen eines unzugänglichen Ansich auf bildschirmartige Körperlichkeiten sind, dass sie mit ihren 7

Vgl. Merleau-Ponty 1964: 288.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

lateralen Implikationen untereinander die Realität ausmachen, präzise: dass die Realität ihr gemeinsamer Gliederbau, ihr Kern und nicht etwas hinter ihnen ist (…). Das Reale ist zwischen ihnen, diesseits von ihnen.« 8 Von hier aus motiviert sich auch die Bezeichnung »phänomenologischer Realismus« für den hier vorzustellenden Ansatz. Es ist sicherlich unstrittig, dass ein Vorschlag, der sich Merleau-Ponty anschließt, in der Methode phänomenologisch vorgehen muss. Doch wie kann ein solcher Vorschlag zugleich die Bezeichnung »Realismus« tragen? Hier besteht das Risiko eines gewissen Missverständnisses. Der Realismus ist nicht der im klassischen Sinne verstandene Realismus. 9 Die Behauptung, es gäbe solche Dinge, die unabhängig vom Bewusstsein existieren, also »Dinge an sich« ist spekulativ, unnötig und auch unbegründet. Genau dies lehnt ja auch die gerade zitierte Aussage von Merleau-Ponty strikt ab. Die Selbstverständlichkeit, mit der diejenigen behaupten, die größeren Realisten zu sein, die im klassischen Sinne eines metaphysischen Realismus eine bewusstseinsunabhängige Realität der Dinge behaupten, ist vordergründig und es gilt, diese »Realisten« an die Realität ihres eigenen Bewusstseins und ihrer leiblichen Existenz zu erinnern, die sie mit ihren eigenen Methoden wie gezeigt nicht berücksichtigen können. Der Begriff Realismus darf also nur mit dem präzisiserenden Adjektiv »phänomenologisch« verwendet werden. Wenn es Sinn macht von einer Realität zu reden, dann von der Realität der Phänomene selbst. In der phänomenologischen Tradition wiederum ist eine solche, modifizierte Vorstellung von Realismus nicht ausgeschlossen, auch wenn dies nicht immer das Ziel war. 10 Die Phänomenologie antwortete von Beginn an auf die Herausforderung einer naturwissenschaftlich orientierten Philosophie. Eine Losung der frü-

A. a. O.: 287. In der klassischen Definition ist entscheidend, dass die bewusstseinsunabhängige Existenz der Dinge gesichert ist. Vgl. Conant/Zeglen 2002: 90. 10 Dies steht natürlich im Gegensatz zu der Auffassung, die Husserl in der Ideen I vertreten hat: »Es wird sich weiter zeigen, dass alle transzendental gereinigten ›Erlebnisse‹ Irrealitäten sind, gesetzt außer alle Einordnung in die ›wirkliche Welt‹. Eben diese Irrealitäten erforscht die Phänomenologie (…).« Husserl 1913: 4. Merleau-Ponty allerdings unterscheidet zweierlei Tendenzen in den Arbeiten Husserls. So gibt es neben der genannten Tendenz, die die Natur vom Bewusstsein umhüllt sein lässt, auch eine andere: »Die Rolle der Phänomenologie besteht weniger darin, das Band zu zerreissen, das uns mit der Welt verbindet, sondern vielmehr darin, es aufzudecken und zu explizieren.« Merleau-Ponty 2000: 109. 8 9

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Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen Realismus«

hen phänomenologischen Schule hieß: »Zurück zu den Sachen selbst!« 11 Nun soll der Ausdruck »phänomenologischer Realismus« zweierlei anzeigen: Zum einen nimmt er die Herausforderungen der Naturwissenschaften auf und akzeptiert, dass deren Beschreibungen tatsächlich etwas von der Wirklichkeit widergeben. Es geht hier um die eine Realität, in der wir leben, diese Wirklichkeit, wie sie uns umgibt, die sich auch in bestimmten Ordnungszusammenhängen zeigt, die nur in geringem Maße von dem Beobachtenden bestimmt sind. Zum anderen aber rechnet der phänomenologische Realismus zugleich mit Bereichen der Wirklichkeit, in denen der Einfluss des Beobachtenden unvermeitlich und wesentlich größer ist und die mit objektivierenden Methoden nicht erfasst werden können. Auf diese Weise verhindert eine grundlegende phänomenologische Analyse frühzeitige methodische oder metaphysische Abschließungen. Es gibt eine Realismus-Auffassung, die dem sehr nahe kommt, was wir hier als phänomenologischen Realismus bezeichnen: der internal realism von Hilary Putnam. Wir werden seinen Ansatz bei der Frage nach der Wahrheit im dritten Teil dieser Arbeit genauer vorstellen. Ein zentraler Satz von Putnam zeigt auf das hier Gemeinte: »Kurz, ich werde eine Auffassung vortragen, wonach der Geist nicht bloß eine Welt ›abbildet‹, die die Beschreibung durch EINE WAHRE THEORIE zulässt. Meine Ansicht besagt jedoch auch nicht, dass der Geist die Welt erschafft (…). Wenn man sich schon einer metaphorischen Sprache bedienen muss, dann sollte die Metapher lauten: Der Geist und die Welt zusammen erschaffen den Geist und die Welt.« 12 Damit grenzt sich Putnam zugleich gegen Positionen des metaphysischen Realismus wie auch gegen einen kontruktivistischen Relativismus ab. Der Realismus, den Putnam vertritt, ist mit der Einsicht vereinbar, dass, was auch immer wir als real erleben, zugleich bestimmt ist durch konzeptionelle Schemata, mit Hilfe derer wir die Welt zu verstehen suchen. 13 Das, was man über die Wirklichkeit behauptet, ist immer auch abhängig von der Theorie, also der Sprache, von dem handelnden Umgang und von den Waldenfels 1992: 17. Putnam 1990: 11. 13 »Internal realism is, at bottom, just the insistence that realism is not incompatible with conceptual relativity. One can be both a realist and a conceptual relativist.« Putnam 1995: 17. »Although out sentences do ›correspond to reality‹ in the sense of describing it, they are not simply copies of reality.« Putnam 1992: 122 f. 11 12

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Wahrnehmungen, durch die die Wirklichkeit in Erscheinung tritt. Zugleich kann man nicht Beliebiges über die Wirklichkeit behaupten. Weil diese Position die Behauptung aufstellt, dass die Wirklichkeit konstitutiv Anteile hat, zu denen wir ein passives, kein aktives Verhältnis haben, kann man sie als eine Form des Realismus bezeichnen. Wirklich ist immer auch das, was uns zustößt, es findet eine Begegnung statt, es gibt ein Gegenüber. 14 Da dieselbe Wirklichkeit aber wiederum nie ganz und gar ohne unsere Beteiligung wirklich ist (jedenfalls können wir darüber nichts wissen) und wir damit nur das als Grundlage für die Beschreibung der Wirklichkeit nutzen können, was uns in irgendeiner Weise als Phänomen zugänglich ist, kann man diesen Ansatz einen »phänomenologischen Realismus« nennen. Dieser Realismus ist sich von Beginn an bewusst, dass wir keinerlei Möglichkeit haben, ein »An sich« der Wirklichkeit zu beschreiben und dass alle unsere Beschreibungen stets davon geprägt sind, dass sich die Wirklichkeit uns leiblich existierenden Wesen in den Phänomenen als wirklich zeigt. Für die folgenden Überlegungen ist nun eine gewisse Zäsur in begrifflicher Hinsicht notwendig. Bislang ergab sich durch die Diskussion verschiedener Autoren, dass Begriffe wie Bewusstsein, Materie, Subjekt und Objekt, Leib, Welt, Perspektive und Wirklichkeit kontextabhängig gebraucht wurden, ohne eine Rechenschaft über die Kompatibilität der unterschiedlichen Konnotationen abzulegen. Die folgenden Gedanken versuchen nun eine Erschließung der Wirklichkeit von der dargelegten Auffassung des Leibes aus schrittweise zu ermöglichen. Damit dieses nicht mit unklarer Begrifflichkeit geschieht, ist nun eine präziser gefasste Terminologie unumgänglich. Nur so ist es möglich, zu prüfen, ob der vorgeschlagene Weg konsistent ist. Damit gilt der Vorbehalt: Wenn es widersprüchliche Verwendungen eines Begriffes in den folgenden Kapiteln gegenüber den bisherigen gibt, so geht das zu Lasten des wechselhaften Gebrauchs in den ersten drei Kapiteln, die durch die Rezeption unterschiedlicher Ansätze verursacht waren. Diese Kapitel haben die Funktion einer Hinführung, sie sind nicht Teil des vorzuschlagenden systematischen Weges.

»The idea that most of mundane reality is illusion (an idea which has haunted Western philosophy since Plato in spite of Aristotle’s valiant counterattack) is given up once and for all.« Putnam 1995: 37.

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Die Phänomene des Leibes

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Die Phänomene des Leibes

Die Einstellung gegenüber der Wirklichkeit ist in unserem Alltag geprägt von Vorannahmen, was die Wirklichkeit »eigentlich« sei, die Generalthesis der natürlichen Einstellung, wie Husserl die Vorannahmen genannt hat, 15 oder das Welt-Vorurteil nach Merleau-Ponty 16. Diese müssen in einem ersten Schritt so weit als möglich ausgeschaltet oder eingeklammert werden. Es geht zunächst darum, das Phänomen als solches wahrzunehmen, auf das zu achten, was sich zeigt und nicht auf das, von dem man annimmt, dass es das Phänomen ausgelöst habe. Es gilt das von Husserl so genannte Prinzip aller Prinzipien: »dass jede originär gegebene Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt (…).« 17 Wir wollen dieses Vorgehen auf den Leib anwenden und auf diese Weise den Begriff der Erscheinungsweise einführen. Die Betrachtung beginnt mit meinem eigenen Leib. Damit ist die zentrale Anforderung einer Theorie des endlichen Erkennens gewahrt, nicht einem überfliegenden Denken zu verfallen, einem »kosmotheoros« 18 , der den Ort des Erkennens verleugnet. Der Index »mein Leib« führt zu dem Ort des Denkens über die Wirklichkeit und dem Ort des Erlebens der Wirklichkeit zurück. Mein Leib meint auf keinen Fall ein Abstraktum wie den Körper eines homo sapiens. Mein endlicher Leib ist immer der bedürftige Leib, der sich mir zeigt. 19 Nur wenn wir sen15 Vgl. Husserl 1913: 52. Hier hat die Bestimmung der Anschauung eine Weite, die Husserl bei der Behandlung der Phänomene wieder zurück nimmt: »richten wir auf das reine Bewusstsein in seinem absoluten Eigensein. Also das ist es, was als das gesuchte »phänomenologische Residuum« übrig bleibt (…).« Husserl 1913: 94 (Kursives im Original gesperrt gedruckt). 16 Vgl. Merleau-Ponty 1945: 23. 17 Husserl 1913: 43 f. Kursives im Original gesperrt gedruckt. 18 Merleau-Ponty 1964: 32. 19 Schmitz bindet den Ausgangspunkt seiner phänomenologischen Untersuchungen weiterhin an die Indizies »Hier« und »Jetzt«. Diese Indizes zeichnen die primitive Gegenwart aus, vgl. Schmitz, 2007: 49; auch Schmitz 2009: 34. Diese primitive Gegenwart, darauf weist Schmitz hin, erreicht der Mensch aber nur in einem besonderen Zustand, etwa durch einen Schreck oder einen Schmerz. Damit ist der Ausgangspunkt bei Schmitz in einer Weise festgelegt, die meiner Ansicht bestimmte Phänomene gegenüber anderen bevorzugt. Wir werden später sehen, dass bestimmte Erscheinungsweisen der

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

sibel für unsere augenblickliche leiblich-existentielle Situation werden, kann es gelingen, uns auf diesen Ausgangspunkt zu konzentrieren. 20 Wenn wir unseren Leib verstehen wollen, müssen wir zunächst einmal bei den Phänomenen beginnen, in denen er sich zeigt. Die Phänomene lassen sich in verschiedene Arten gruppieren, Erscheinungsweisen bzw. Erscheinungsformen des Leibes. Wir werden uns also nach der Beschreibung dessen, was als Phänomen gelten kann, mit dem Begriff der Erscheinungsweise befassen. Dann soll ein Schema vorgestellt werden, das die Erscheinungsweisen des Leibes in eine hypothetische Ordnung stellt. Dieses Schema ist von der Metapher des Chiasmus inspiriert, die Merleau-Ponty eingeführt hat. Damit eine solche Ordnung möglich ist, müssen wir zumindest minimale hypothetische Annahmen machen, die keiner übergeordneten Erkenntnis entstammen, sondern deren Gebrauch allein von der Fruchtbarkeit zu weiteren Einsichten abhängt, die man durch sie gewinnen kann. Wirklichkeit durch ein »Hier« und »Jetzt« ausgezeichnet sind, andere dagegen nicht. So ist es einigermaßen schwierig, einen Gedanken, etwa eine logische Regel, mit diesen Indizes auszuzeichnen. Der Gedanke zeigt sich in gewisser Weise ohne Bezug auf ein bestimmtes »Hier« und »Jetzt«. Allein die Korrelation mit einer, einem Denkenden, die oder der hier und jetzt den Gedanken denkt, kann eine auf Verbindung mit dem »Hier« und »Jetzt« als sekundäre Bestimmung ermöglichen. 20 Wiesing hat zu Recht die phänomenologische Methode eine Protreptik genannt, eine Mahnrede, die die Lesenden einlädt, selber Erfahrungen zu machen. Wer phänomenologisch argumentiert, weiß, dass die Einsichten nicht als Aussagenwahrheiten allein verkündet werden können, sondern dass sie notwendig ihre Valenz von den Phänomenen ableiten. Der Hinweis auf das, was sich zeigt, soll nicht nur Rede über das sein, was sich zeigt, sondern hat allein dann Sinn, wenn sich auch das zeigt, was sich zeigen soll. Wir werden hier die Erscheinungsweisen Gedanke, Gefühl und Körper unterscheiden. Diese drei sind in ihrer Verschiedenheit nur zu erfassen, weil sie sich auch in ihrer Unterschiedenheit zeigen, ihre Unterschiedenheit aber ist nicht mehr argumentativ einholbar. Vgl. Wiesing 2009: 95 ff. Die eigene Erfahrung spielt deshalb für das Folgende eine entscheidende Rolle. Es lassen sich immer wieder Erfahrungen hypothetisch vermuten, die die hier vorgestellten Befunde konterkarieren etwa durch pathologische Störungen oder durch neurologische Manipulationen. Doch geht der hier gewählte Weg strikt von der oder dem aus, die oder der dies liest. Jede und jeder sollte die Plausibilität der Phänomene bei sich selbst prüfen und es nicht auf andere übertragen, wie diese oder jener es erleben könnte. Der hier vorzuschlagende Ansatz des phänomenologischen Realismus geht notwendiger Weise von den Phänomenen aus, die sich der- oder demjenigen zeigen, die oder der sich auf diese Theorie einlässt. Eine Ausweitung der Betrachtung kann erst später (Kap. 7) erfolgen, aber auch sie muss so geschehen, dass der Ausgangspunkt nicht durch Abstraktion verloren geht.

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Die Phänomene des Leibes

Die folgenden Überlegungen stehen unter einem Vorbehalt. Auf der einen Seite versuchen sie auf die Phänomene des Leibes aufmerksam zu machen, so wie sie sich zeigen. Das Ziel der Beschreibung ist es, auf die Evidenz dieser Phänomene und ihrer je unterschiedlichen Besonderheiten und Eigenarten aufmerksam zu werden. Um die Unterschiedlichkeit der Phänomene beschreiben zu können, sollen gemäß dem Husserl’schen Prinzip so wenig weitere Annahmen gemacht werden wie möglich. Wir simulieren also in gewisser Weise einen Anfangszustand. Nun ist es aber klar, dass ein solcher Anfangszustand gar nicht möglich ist. Wir sind immer schon irgendwo, haben einen beträchtlichen Lebensweg zurückgelegt, haben Sprach- und Reflexionsvermögen erworben. Dem Versuch, voraussetzungslos zu argumentieren, kommt eine Künstlichkeit zu. Hier bewahrheitet sich die Einsicht Merleau-Pontys, dass es keinen wahren Anfangspunkt gibt, dass jeder Anfang zum Scheitern verurteilt ist, weil er schon zu viel voraussetzt. 21 Also sollen diese Gedanken nicht als ein Fundament gelesen werden, sondern als eine notwendig unvollkommene Hinführung, als ein Aufmerksammachen auf Phänomene und Zusammenhänge, die wir sonst leicht übersehen. Diese mögen helfen, das, was wir immer schon strukturiert erleben, in neuem Licht zu sehen. Es kommt hier zunächst darauf an, die Phänomene von den weitergehenden Annahmen zu trennen, was wir leichthin mit ihnen verbinden. Ein vorsichtiges Vortasten kann es möglich machen, die Phänomene erst einmal nicht zu schnell in eine umfassende Vorstellung einzubinden, sondern in ihrer Vielfältigkeit zu belassen. Ein Phänomen ist das, was sich zeigt. Das, was sich zeigt, erscheint uns als unmittelbar gegeben und evident. 22 Die Tatsache, dass es sich zeigt, ist eine letzte Größe, die wir als solche zunächst unhinterfragt lassen. Den Phänomenen kann also weder ein materielles Korrelat noch ein psychisches noch ein solches des Bewusstseins zugesprochen werden. Jeder dieser Rück-Schlüsse würde über das Phänomen hinausgehen und es auf eine vorgegebene Sphäre projizieren, sei es das Bewusstsein, die Psyche oder die materielle Welt. Wenn wir aber zu21 »Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen (…). Da aber auch sie nur in der Geschichte ist, macht auch sie von der Welt und von konstituierter Vernunft Gebrauch.« Merleau-Ponty 1945: 18. 22 »Das ist das Besondere an Phänomenen: Im Erleben eines Phänomens gibt es keine Differenz zwischen dem Sein und dem Zu-sein-scheinen.« Wiesing 2009: 73.

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nächst bei dem Phänomen als solchem bleiben, dann lassen wir es offen, ob es einer bestimmten, näher charakterisierbaren Sphäre entstammt beziehungsweise einer solchen zuzurechnen ist. Ein Phänomen hat als Phänomen zunächst eine Eigenständigkeit, auf die man aufmerksam werden muss. Ein Phänomen zeigt sich. Erst dann kann man danach fragen, wie sich ein Phänomen zu einem anderen Phänomen verhält, ob zwischen ihnen Ordnungen existieren, ob sie etwa durch logische Schlussfolgerungen oder durch kausale Ableitungen näher bestimmt werden können. Aber auch selbst dann müssen wir uns einer weitergehenden Schlussfolgerung der Art enthalten, die Gedanken seien Repräsentanten des Bewusstseins. Ein Phänomen als solches hat zunächst einmal eine eigenständige Existenz allein dadurch, dass es erscheint. Nun gibt es Phänomene, die wir unmittelbar mit dem Index »mein« versehen. Ein Gedanke erscheint. Es ist unmittelbar einsichtig, dass es mein Gedanke ist. Ein Gefühl zeigt sich. Es ist unmittelbar einsichtig, dass es mein Gefühl ist. Ein Körperteil, etwa eine Hand, zeigt sich. Es ist unmittelbar einsichtig, dass es meine Hand ist (wenn es denn meine Hand ist; interessanter Weise ist schon der eigene Körper nicht mehr so eindeutig mit dem Ich verbunden, wie es die Gedanken sind). Diese Phänomene, die unmittelbar mit dem Index »mein« versehen werden können, sollen nun alle beschrieben werden als Phänomene des Leibes, als Phänomene meines Leibes. Die Zugehörigkeit zum eigenen Leib ist nicht gekoppelt an eine bestimmte Vorstellung, was denn nun der Leib sei. Es ist gegenüber der einfachen Aufzählung von Phänomenen lediglich gesagt, dass es bestimmte Phänomene gibt, die den Index »mein« tragen. Die Gesamtheit der Phänomene sollen als Phänomene »meines Leibes« verstanden werden. Diese Phänomene, die wir genannt haben, lassen sich von anderen Phänomenen abgrenzen, etwa von der Farbigkeit des Lichtes in dem Raum, in dem ich bin, oder von dem Stuhl, auf dem ich sitze. Die Abgrenzung der Phänomene, die mit meinem Leib in Verbindung gesetzt werden, geschieht durch die unmittelbare und unausweichliche Verwendung des Index »mein«. Damit wird aber zunächst nichts Zusätzliches über das Phänomen behauptet. Die Tatsache, dass das Bein mein Bein ist, ist unmittelbar evident. Der Index »mein« bezieht sich also nicht auf ein wie auch immer gegebenes »Ich«. Denn dieses Ich wäre schon eine solche, zunächst zu vermeidende hypothetische Gesamtheit. Der Ausdruck »mein Leib« ist in diesem ersten Schritt nur eine Namensgebung der 158 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Phänomene des Leibes

Menge der Phänomene, die sich zeigen und die unbezweifelbar den Index »mein« bekommen. 23 In einem zweiten Schritt formulieren wir nicht von den Phänomenen her, sondern von dem Leib her. »Mein Leib zeigt sich.« Er zeigt sich in den Phänomenen. Er zeigt sich als Hand, als Hunger, als Gedanke. Gegenüber diesem Schritt mag man nun einwenden, dass nun diese Einführung des Leibes, wenn er über den Ausdruck einer Sammlung von Phänomenen hinausgeht, die man unmittelbar mit dem Index »mein« versehen kann, der Bestimmung des Phänomens widerspricht, wie wir sie gerade vorgenommen haben. Das Phänomen ist das, was sich zeigt und als solches ist es eine letzte Größe, die nicht wieder auf eine umfassendere Ordnung zurückgeführt werden soll. Dann zeigt sich ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Körperteil. Doch wie können wir zugleich und über das unmittelbar sich Zeigende hinaus behaupten, es sei unser »Leib, der sich zeigt«? Mit dieser Formulierung ist ja doch unausweichlich die Behauptung verbunden, dass es etwas gibt, das sich auf so unterschiedliche Weise zeigt. Zudem zeichnet sich mit dem so verstandenen Leib eine geschlossene Sphäre ab, die wir zunächst vermeiden wollten. In dieser Formulierung ist der Leib nicht nur ein Index wie »mein«. Hier liegt in der Tat eine Schwierigkeit vor. Haben wir hier eine zusätzliche unabgesicherte, also spekulative Annahme hinzugefügt, nämlich die, dass es jeweils unser wie auch immer definierte Leib sei, der so sich zeigt? Ja, doch in einer Weise, die möglichst zurückhaltend ist, die nur minimalistische Annahmen macht. Zunächst soll in diesem zweiten Schritt also nur behauptet werden, dass die Phänomene, die ohne Zögern den Index »mein« bekommen können, Phänomene von etwas sind, was wir Leib nennen. Diese erste Bestimmung des Leibes ist also notwendiger Weise sehr spröde, der Leib ist nichts als die Summe der Phänomene, die den Index »mein« tragen. Es gibt also keine unabhängige Definition des Leibes, auch keinen von den Phänome23 Man könnte nun einwenden, dass dies ja auch auf meine Kleidung zutrifft, die ich gerade trage. Auch hier kann ich einfach den Index »mein« hinzufügen. Dieser Einwand weist auf etwas Richtiges hin. Die Unterscheidung Leib-Nichtleib ist keine absolute, sondern eine graduelle. Anderenfalls würde so in die Vorstellung vom Leib eine erneute Spaltung eingetragen, die der Subjekt-Objekt-Spaltung gleich käme und unseren Ansatz von Beginn an zerstören würde. Es soll hier zunächst nicht das Augenmerk auf diffizile Übergänge gelegt werden, sondern auf die pragmatische Einsicht, dass wir in der Regel sehr gut unterscheiden können, welche Phänomene den Index »mein« bekommen und welche nicht.

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nen unabhängigen Zugang. Der Leib ist lediglich Ausdruck der Intuition, dass die Phänomene einen innigen Zusammenhang haben, der sich allerdings innerhalb der Phänomene selbst nicht direkt zeigt. Nun können wir zum Beispiel nicht daraus weitergehend folgern, dass die Phänomene durch den Leib in einer bestimmten und darstellbaren Weise verursacht worden sind. Denn die Vorstellung der Verursachung etwa analog zu der Verursachung, wie wir sie aus der Physik kennen, hat weitreichende Implikationen. Der Leib ist nichts anderes als die Summe der Phänomene. Auch können wir nicht schlussfolgern, was der Leib über das hinaus sei, dass er die Summe der Phänomene ist, denen wir mühelos den Index »mein« zuweisen können. Das, was der Leib ist, was ihn ausmacht, ist nicht schon im Vorhinein gesetzt, etwa ein materieller Teil der Welt oder dergleichen. Der Leib als Ganzer ist nicht in vorgegebene Ordnungen eingebunden. Er ist nur Repräsentant der starken Intuition, dass meine Gedanken, meine Gefühle und mein Körper sich in einem zusammen finden. Der Leib lässt sich nicht erfassen als etwas Gegebenes, als etwas in der Welt, dem ich mich dann zuordnen kann. Auch lässt er sich nicht erfassen durch ein bestimmtes Verständnis von dem, was der Mensch im Allgemeinen ist. Hier greift die methodische Zurückhaltung des phänomenologischen Vorgehens. Deshalb bleiben wir auch jetzt bei dem, was sich zeigt. Wir sagen lediglich, dass wir die Summe jener Phänomene, die sich zeigen und zugleich den Index »mein« tragen, Leib nennen können. Der Leib ist also nicht etwas schon Bekanntes, sondern er ist etwas, dessen Bestimmung immer nur von den Phänomenen her möglich ist. Keine der beiden Optionen, weder eine Ausweitung der Definition der Phänomene noch eine von den Phänomenen unabhängige Bestimmung des Leibes sind also möglich, wenn wir nicht frühzeitige Festlegungen in Kauf nehmen wollen. Wie also kann mein Leib erscheinen, wie zeigt er sich? Der Leib kann als Gedanke erscheinen. Ich denke zum Beispiel: »1 und 1 ist 2.« oder »Der Himmel ist klar.« oder »Ich will das Fenster öffnen.«. Was zeichnet einen Gedanken als Gedanken aus? Er zeigt sich mir in einer spezifischen Art und Weise, die ich nicht präzise fassen kann, da die Weise, in der er sich zeigt, einzigartig ist. Es gibt einige grobe Bestimmungen, die unmittelbar auffallen. Gedanken lassen sich nicht verorten. So lassen sich auch zwei Gedanken nicht dadurch unterscheiden, dass man sie auf zwei unterschiedliche Orte bezieht. Wenn der Gedanke »Ich mag die Farbe Blau« an zwei verschiedenen Orten gedacht wird, so ist es doch derselbe Gedanke, der eben an zwei verschiedenen 160 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Phänomene des Leibes

Orten gedacht wird. Gedanken kann man weiterhin keine räumlichen Maße zuordnen, sie sind nicht so und so lang, breit oder hoch. Sie nehmen keinen definierten Raum ein. Man kann Gedanken ebenso wenig durch Zeitpunkte unterscheiden, derselbe Gedanke zu zwei verschiedenen Zeiten gedacht, ist immer noch derselbe Gedanke. Man kann ihm auch keine bestimmte Zeitdauer zuordnen, denn Gedanken sind zu unterscheiden von dem Denken, also dem Prozess, den wir uns selbst als Akteure zuschreiben. Wenn Gedanken sich zeigen, sind sie als solche, als Phänomen, nicht zeitgebunden. Ein Zeitmaß ergibt sich erst dann, wenn wir die Gedanken als »Tätigkeit« des »Bewusstseins« deuten. Diese Tätigkeit ist durch wechselnde Verhältnisse, durch ein Vorher, Jetzt und ein Noch-Nicht geprägt. Doch dieses Geschehen geht über das Phänomen der Gedanken hinaus, transzendiert sie hin auf eine Einheit, der die Gedanken sekundär zugeordnet werden. Ein Gedanke hat als sinnhafte Einheit in gleicher Weise die Eigenschaft, abgeschlossen zu sein, wie auch bezogen zu sein auf einen nicht eingrenzbaren Bereich weiterer Gedanken. Um einen Gedanken zu verstehen, muss er auf andere Gedanken bezogen werden können, sich in einem Netzwerk anderer Gedanken befinden. Diese Netzwerke sind strukturiert, sie gehorchen bestimmten Regeln. Wir analysieren allerdings unsere Gedanken, wenn sie sich zeigen, nicht nach sprachlichen Regeln, sie haben einfach einen bestimmten Sinn, eine bestimmte Evidenz. Die Analyse von Gedanken als sprachliche oder mathematische oder theoretische Aussagen, die Regeln unterworfen sind, ist wiederum ein zweiter, sekundärer Prozess. Der Weg hier besteht also darin, eine möglichst weitgehende Reduktion vorzunehmen, die von umfassenden Verweisungszusammenhängen absieht und zunächst allein auf einzelne, eben noch abgrenzbare Phänomene achtet und herausarbeitet, welche grundlegenden Eigenschaften diese haben. Die Existenz analytisch erfassbarer Strukturen, die einen klaren Gedanken kennzeichnen, ist ein wichtiges Charakteristikum dieser Phänomene, aber sie ist nicht konstitutiv. Auch konfuse Gedanken sind erst einmal Gedanken und wir können sie auch mühelos als solche identifzieren. Der Leib kann auch als Vorstellung erscheinen. Dann erscheint ein Bild. Wir stellen uns etwa den Eiffelturm vor oder ein Einhorn als ein Pferd mit einem Horn auf der Stirn. Ein solches Bild als Vorstellung ist in der Einfachheit eines Bildes gegeben. Es ist nur als Ganzes gegeben, wir können uns auf keinen Teilausschnitt konzentrieren, vielmehr entsteht dann ein neues Bild. Das Bild als Vorstellungsphänomen hat au161 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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ßerdem keine Tiefe. Das unterscheidet eine Vorstellung von einer sinnlichen, einer visuellen Wahrnehmung. Vorstellungen können ebenso wie den Gedanken keine Raum- oder Zeitmaße zugeordnet werden. Das lebendige Traumbild hat keine definierte Größe, eine Vorstellung hat keine durch das Phänomen selbst gegebene Zeitdauer. Auch Vorstellungen kann man auf einen Strom des Bewusstseins beziehen und ihren steten Wechsel beschreiben. Doch auch hier verhält es sich wie bei den Gedanken: Ein die einzelnen Phänomene versammelnder »Strom des Bewusstseins« als Gesamterscheinung geht über die Phänomene hinaus und soll hier erst einmal außen vor bleiben. Wegen der fundamentalen Gemeinsamkeiten in den Eigenschaften sollen Gedanken und Vorstellungen gemeinsam behandelt werden. Doch der Leib kann sich auch auf andere Weise zeigen. Der Leib kann als Bein erscheinen. 24 Mein Bein ist angewinkelt, mein Bein liegt auf dem Stuhl auf, mein Bein hat eine bestimmte Wärme und Schwere. Mein Bein zeigt sich in solchen Fällen als eine begrenzte, vorgegebene Größe. Auch hier gilt wieder, dass die begrenzte und vorgegebene Größe nur verständlich wird, wenn man sie einbezieht in ein größeres, umfassendes Umfeld. Das erste Umfeld, auf das sich das Bein bezieht, ist der Körper. Wir erleben den Körper nicht zuerst und vor allem als abstrakten Körper, sondern als den Körper, den wir leben, der unsere lebendige Form ist. Merleau-Ponty hat mit dem Körperschema wichtige Charakteristika dieser Phänomene herausgearbeitet. Doch steht das Bein nicht nur in Beziehung mit meinem Körper, sondern auch mit anderen Dingen der Umgebung. Der Bezug auf mein Bein wird präzisiert, wenn ich das Bein in einem Feld unterschiedlicher Dinge lokalisieren kann. Ich nehme das Bein als einen Teil meines Körpers wahr, aber als jenen Teil des Körpers, der auf dem Stuhl aufliegt. Das Bein kann auf andere, formalere Ordnungen bezogen werden, wenn es zu den räumlichen Dingen in ein Verhältnis gesetzt wird. Das Bein liegt auf einem Stuhl auf. Der Stuhl wiederum ist in einem Raum, in dem ich mich befinde. Mein Bein erscheint als begrenzte Größe in einem umfassenderen Kontext von räumlich situierten Dingen. Wegen dieser Zusammenhänge und Bestimmungsmöglichkeiten ist es möglich, dass das Bein als eine abgegrenzte Größe erscheint, die sich durch den Körperzusammenhang Séglard zitiert Merleau-Ponty im Vorwort von »Die Natur«: »Was uns in der Phänomenologie widerstrebt, das natürliche Sein […], kann nicht außerhalb der Phänomenologie bleiben, sondern muss in ihr selbst seinen Platz finden.« In: Merleau-Ponty 2000: 12.

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nicht so einfach zeigt. Das macht das Bein zu einem Phänomen. Das, was hier über das Bein gesagt ist, kann man auch auf andere Teile des Körpers übertragen, auch auf Teile des Beins oder den Körper im Ganzen. Der Körper und Teile von ihm sind Phänomene des Leibes in einer spezifischen Weise, die Merleau-Ponty mit dem Körperschema und mit dem Bezug zu einer Ordnung der Dinge beschrieben hat. Schließlich kann der Leib sich auch in einer dritten Weise zeigen. Der Leib kann als Gefühl, als Empfindung erscheinen. Ich empfinde eine Behaglichkeit. Oder ich empfinde eine Anspannung, eine Enge, die mich bedrückt oder ich empfinde Freude, die mich weit macht. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Phänomenen ist hier aber eine klare Begrenzung der Phänomene wesentlich schwieriger. Offenkundig gibt es in der Sphäre der Gefühle keine so fest gefügten Ordnungen, sondern offenere und strukturärmere Konstellationen. Dennoch macht es uns keine Schwierigkeiten, Gefühle als eigenständige Phänomene zu identifizieren. Sie sind klar von den Gedanken zu unterscheiden und sie sind ebenso klar von Körperphänomenen zu unterscheiden. Die Fähigkeit, sie von den beiden anderen zu unterscheiden, ist gerade darin begründet, dass sie zu beiden eine Nähe haben. Das aber genau unterscheidet sie sowohl von den Gedanken wie auch vom Körper, die ihrerseits klar zu unterscheidende Phänomengruppen sind. Einerseits sind Gedanken untergründig verbunden mit den Gefühlen, andererseits sind Körperphänomene verbunden mit den Gefühlen. Weil also Gefühle mit beiden verbunden sind, deshalb kommt ihnen als Phänomen eine Eigenständigkeit zu. Die Gefühle werden hier stellvertretend für etwas genannt, was sehr vielgestaltig ist und mit basalem Spüren, Empfinden und auch Intuitionen zu tun hat. Es ist schwierig, diese Phänomene genauer zu beschreiben oder untereinander abzugrenzen. Wir werden später noch genauer auf die sich hier zeigenden Verhältnisse eingehen. Es ist in diesen ersten Schritten wichtig, die Bestimmung der Phänomene zunächst einmal nicht auf größere, scheinbar bekannte und umfassende Einheiten zu beziehen wie etwa das Bewusstsein oder die materielle Welt. Nur so ist es möglich, mit dieser Definition in den Bereich zwischen Subjekt und Objekt vorzustoßen, den MerleauPonty ausgewiesen hat. Deshalb dürfen wir auch nicht eine voreilige Definition des Leibes suchen, von der dann die Phänomene als zugehörig abgeleitet werden könnten. Denn dann wäre die Frage unausweichlich, in welcher Weise, das heißt, in welcher Ordnung das Verhältnis des Leibes zu den Phänomenen zu deuten sei. Man sieht: Bei jedem 163 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

Versuch, die missliche Situation zu beseitigen, verlieren wir die Offenheit der Phänomene oder engen wir den Begriff des Leibes ein. Die Phänomene des Leibes sind verbunden mit dem Index »mein«. Der Index »mein« dagegen grenzt die Phänomene weiter ein, bezeichnet also eine Teilmenge aller Phänomene, die sich zeigen. Zeigt sich das, was sich zeigt, auch »jetzt« und »hier«? Diese Indizes verweisen auf zeitliche und räumliche Bezüge, die in diesem ersten Zugang nicht weiter entfaltet werden sollen. Doch erweisen sich diese erst einmal unproblematisch erscheinenden Indizes bei einer näheren Betrachtung der Phänomene als schwierig und missverständlich. Das »hier« eines Gefühls ist sicherlich von ganz anderer Art als das »hier« meines Beins. Ob man einem Gedanken den Index »hier« beifügen kann, ist zu bezweifeln. Es zeigt sich also, dass unterschiedliche Phänomene ganz unterschiedliche Bestimmungen von Raum und Zeit mit sich führen. Deshalb sollte man nicht alle Phänomene mit den Indizes »jetzt« und »hier« versehen. Der tiefere Grund für die Annahme, der Index »mein« sei unmittelbar mit den Indizies »hier« und »jetzt« verknüpft, liegt in einem psychologisierenden Missverständnis. Danach sind Gedanken das Ergebnis von Denken, also das Produkt der Tätigkeit einer bestimmten Größe, der Psyche. Man nimmt mit einer solchen Bestimmung an, es gäbe in einem vorgegebenen Raum und einer vorgegebenen Zeit ein Subjekt, das bezogen auf diesen Raum und diese Zeit Phänomene erlebt. Doch dann ist die Existenz des Subjekts vorgeordnet und die Phänomene werden von dort aus näher bestimmt. Auf dem eingeschlagenen Weg sollen dagegen umgekehrt Raum und Zeit aus den Phänomenen abgeleitet werden.

3.

Die Erscheinungsweisen des Leibes

Mit der Aufzählung sind die unterschiedlichen Phänomene, durch die sich der Leib zeigt, nicht abgeschlossen. Aber wir haben zunächst einmal drei leicht identifizierbare Arten von Phänomenen beschrieben, in denen sich der Leib zeigt. Nun deutet schon diese Einteilung in Arten und ihre exemplarische Nennung darauf hin, dass wir ähnliche Phänomene in Gruppen ordnen können. Die Phänomene stehen ja schon aus eigener Dynamik in einem Verweisungsverhältnis zueinander, sie weisen über sich hinaus, Gedanken folgen Gedanken, das Bein wird von der Hand berührt, die Gefühle wogen hin und her und lösen einander 164 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Erscheinungsweisen des Leibes

ab. Die hierdurch entstehenden Gruppen der Phänomene sind nicht durch eine eigene, vorgegebene Definition bestimmt (etwa der Art: Alle Gedanken sind Teil des Bewusstseins), sondern sie ergeben sich durch den Bezug zueinander und durch die Unterscheidungen, die man zwischen den Phänomengruppen machen kann. Nun wollen wir uns auf diese unterschiedlichen Gruppen beziehen. Wenn sich der Leib als ein bestimmter Gedanke zeigt, etwa als eine mathematische Formel, dann macht es für uns keine Mühe, dieses Phänomen von dem Gefühl der Wut zu unterscheiden oder dem Phänomen der linken Hand. Die Phänomene, in denen der Leib sich zeigt, sind damit unterschiedlich, aber nicht Elemente einer in sich unstrukturierten Menge, sondern einer Menge, die durch Teilmengen bestimmt ist. Gleichartige Phänomene lassen sich mühelos einander zuordnen. Ich werde nicht den Gedanken mit einem Körperteil verwechseln. Die dritte Teilmenge, die der Gefühle, ist wiederum schwieriger zu bestimmen, denn sie haben eine gewisse Nähe zu Gedanken und zugleich auch zu Körperphänomenen. Aber auch ganz und gar sprachferne Empfindungen wie basale Körperempfindungen, etwa der Gleichgewichtssinn, gehören hierher. Es gibt eben die Besonderheit dieser Teilmenge von Phänomenen, die sie aber zugleich auch als eigenständige dritte Menge gegenüber den beiden anderen ausweist: Nur die Phänomene der Gefühle können zugleich Aspekte von Gedanken aufweisen wie Aspekte körperlicher Phänomene. Sie können sich nicht auf die beiden erstgenannten Phänomene reduzieren, da sie ja stets an beiden anderen partizipieren, die beiden anderen Gruppen aber keine gemeinsame Schnittmenge haben. Nicht nur ist durch den Leib eine Teilmenge aller möglichen Phänomene überhaupt bestimmt, auch diese Teilmenge jener Phänomene, die den Index »mein« trägt, lässt sich wiederum in die geschilderten weiteren Teilmengen strukturieren. Diese Teilmengen der Gesamtheit der Phänomene, als die mein Leib erscheinen kann, sollen nun Erscheinungsweisen oder Erscheinungsformen heißen. Wir haben drei Typen von Phänomenen unterschieden und damit auch drei Erscheinungsformen bzw. Erscheinungsweisen des Leibes. Von nun an sollen diese charakteristischen Erscheinungsweisen des Leibes als »Gedanke«, »X (Gefühl)« oder »Körper« bezeichnen werden. Diese Bezeichnungen stellen nur eine Hilfe dar, die Erscheinungsweisen in einer kurzen Form zu benennen. Die drei Bezeichnungen oder Etikettierungen der Erscheinungsweisen haben eine assistierende Funktion, sie helfen, die Phänomene zuzuordnen. Die Bezeichnung ist in vieler Hinsicht unvollkom165 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

men. Wir sahen ja schon, dass zu den Gedanken auch Vorstellungen und mathematische Formeln gehören können. Eine besondere Schwierigkeit besteht in der Bezeichnung der Erscheinungsform »X (Gefühl)«. Diese Erscheinungsform wird nicht direkt einfach »Gefühl« genannt, weil sie eine Vielzahl sehr verschiedenartiger Phänomene beinhaltet. Hier scheint mir die Schwierigkeit der Benennung am größten. Zum einen ist die Erscheinungsform selbst nicht so klar gegenüber den anderen beiden abgegrenzt, zum anderen ist der Begriff des Gefühls unklar und durch eine unglückliche Begriffsgeschichte verzerrt. 25 Die tiefer liegende Ursache für diese Schwierigkeit ist aber in der Erscheinungsweise selbst zu suchen. Wir werden später sehen, dass in dieser Erscheinungsweise der Grad der sprachlichen Vermittelbarkeit am geringsten ist (Kap. 7.2.). Die Schwierigkeit der Definition dieser Erscheinungsweise ist dadurch unumgänglich und spiegelt die Schwierigkeiten Merleau-Pontys, jenen Punkt genauer zu umschreiben, den er mit den Metaphern wildes Sein oder Wahrnehmungspunkt zu erfassen versucht hat. Ein Neologismus würde also auch nicht mehr Klarheit schaffen. Deshalb soll die Erscheinungsweise mit einem X als Statthalter benannt werden, jedoch zur Erleichterung eines ersten Verständnisses mit dem Begriff Gefühl verbunden, auch wenn dieser Begriff möglicherweise Missverständnisse produziert. Was hier gemeint ist, kann sich erst erweisen, wenn wir diese Erscheinungsform genauer analysieren. Dass es mindestens drei Erscheinungsweisen des Leibes gibt, bedeutet, dass der Leib auf verschiedene Weisen erscheinen kann. Wir erleben ihn aber nie in mehreren Erscheinungsweisen zugleich. Eindeutig ist das wiederum für die Erscheinungsweisen Gedanke und Körper. Diese Erscheinungsweisen sind leicht als disjunkte Teilmengen zu erkennen. Dies ist auch ein Grund, warum die Theorie zweier Substanzen nach Descartes soviel Plausibilität beanspruchen konnte. Stets können wir ohne Mühe Gedanken von Körperteilen unterscheiden. Der Leib kann sich als Körper zeigen, wenn ich etwa meine Hand an dem Vgl. etwa Schmitz 2008: 19. Schmitz fasst die Entwicklung so zusammen: »Für diese jahrtausendelange Schule des Sich-Abfindens mit dem Gefühl ist dreierlei charakteristisch: Die Einteilung des Menschen in Körper und Seele, die Hineinverlegung (Introjektion) der Gefühle in die Seele und die Verteilung der Gefühle innerhalb der Seele auf einer Skala zwischen Sinnlichkeit und Geist.« A. a. O.: 20. Die Skalierung der Gefühle scheint mir allerdings nicht abwegig zu sein, wir werden darauf später noch näher eingehen.

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Die Erscheinungsweisen des Leibes

Fenstergriff sehe. Der Leib kann sich auch als Gedanke zeigen, wenn sich meine Gedanken zeigen, die dem Wunsch Ausdruck geben, dass ich das Fenster öffnen möchte. Die jeweilige Erscheinungsweise ist begrenzt. Wenn sich meine Gedanken zeigen, wenn mein Leib als Gedanke erscheint, dann erscheint er nicht zugleich auch als Hand. Hier gilt eine ähnliche Einschränkung, wie wir sie auch schon bei den sich berührenden Händen beobachtet haben. Es ist uns nicht möglich, die berührende Hand ebenso zu spüren wie die berührte. Der Leib zeigt sich nie zugleich in seiner Erscheinungsvielfalt. Wir erleben ihn immer nur in den jeweiligen begrenzten Erscheinungsweisen. Zur genaueren Bestimmung des Begriffs Erscheinungsweise muss er von dem Begriff der Perspektiven abgegrenzt werden. Der Begriff Erscheinungsweise bezieht sich allein auf die Phänomene. Das, was erscheint, ist als Erscheinung eine fundamentale Größe. Der Begriff der Perspektive ist dagegen wesentlich voraussetzungsreicher. Er setzt die Unabhängigkeit zweier Größen, des Beobachters und des Beobachteten voraus. Das Beobachtete sieht der Beobachter in einer bestimmten Perspektive. Die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachteten konstituiert die Perspektive. Dieser Begriff zehrt von der eindeutigen Unterscheidung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten. Ersterer ist unabhängig von dem Beobachteten und kann die Position verändern, so dass er den beobachteten Gegenstand aus einer anderen Perspektive in den Blick nehmen kann. Hier liegt eine schon weitgehende Vorstellung von der Welt und unserer Verortung in ihr vor, wir sind körperliche Wesen innerhalb einer raumzeitlich strukturierten Welt von Dingen. Die Erscheinungsweisen des Leibes sind aber kein Gegenüber, auf die der aus der Optik abgeleitete Begriff der Perspektive angewendet werden könnte. Der Leib hat, wenn man ihn gemäß Merleau-Pontys als Teil der dritten Dimension zwischen Subjekt und Objekt versteht, an beidem Anteil. Wie das Beispiel der sich berührenden Hände zeigte, ist der Leib auf beiden Seiten zu finden, auf der des Subjekts und zugleich auf der des Objekts. Daher die gewählte Formulierung: »Der Leib zeigt sich.« Wie wir später sehen werden, erstreckt er sich genauer gesagt zwischen beiden Extremen von »Subjekt« und »Objekt«. Aber kann ich meinen Körper nicht im Spiegelbild perspektivisch sehen, kann ich nicht Teile meines Leibes perspektivisch sehen, etwa die Hände, die vor mir auf dem Tisch liegen? Das kann ich in der Tat, doch das ist eine Besonderheit der Erscheinungsweise des Leibes als Körper, auf die wir später noch eingehen werden. Die Per167 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

spektivität ist also eine Eigenschaft einer bestimmten Erscheinungsweise, der Leib zeigt sich aber in mehreren Erscheinungsweisen. Wenn der Leib etwa als Gefühl sich zeigt, gibt es die Möglichkeit einer Perspektivierung nur noch sehr eingeschränkt, vollends wird die Anwendung einer Perspektive unmöglich bei der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke. Doch das, was wir hier allgemein zu den Erscheinungsweisen sagen, muss auf alle Erscheinungsweisen in gleicher Weise zutreffen. Ich kann also nicht den ganzen Leib perspektivisch sehen. Es ist eine Eigenschaft meines Leibes, die Dinge der Welt perspektivisch zu sehen, aber ihn selbst kann ich niemals in einer bestimmten Perspektive sehen. Deshalb soll hier auch nicht von Perspektiven auf den Leib die Rede sein, sondern von den Weisen, in denen der Leib sich zeigt. Wem oder was zeigt sich aber der Leib? Hier wird eine weitere von dem alltäglichen Sprachgebrauch abweichende Eigenschaft des Phänomens offenkundig. Wir haben schon gesagt, dass es nicht auf ein dahinter liegendes Etwas bezogen werden kann. Denn mit dieser Einordnung würde sofort die Vorstellung von vorgegebenen Dingen importiert, die so oder so erscheinen. Das gleiche gilt aber auch in der anderen Richtung. Üblicherweise erscheint etwas jemandem. So gibt es also nicht nur etwas Beobachtetes, sondern auch einen Beobachter. Im Hintergrund zeichnet sich wiederum die uns so bekannte und gewohnte Struktur der Aufteilung von Subjekt und Objekt ab. Doch wir wollen ja in dem ersten Schritt die Erkenntnis Merleau-Pontys berücksichtigen und bei dem Leib in der Zwischenzone zwischen Subjekt und Objekt, also vor der Aufspaltung ansetzen. Konsequenter Weise kann es keinen anderen Beobachter der Erscheinungsweisen des Leibes geben als er selbst. Der Leib erscheint sich also selbst. Der Leib zeigt sich sich selbst. Der Leib ist sowohl Beobachter als auch Beobachtetes. Das ist nur denkbar, wenn wir den Leib nicht als Verursacher »hinter« den Phänomenen verstehen, sondern den Leib als das verstehen, was »sich sich selbst« in der jeweiligen Erscheinungsweise zeigt. 26 An dieser Stelle gibt es eine klare Differenz zu der Schlussfolgerung, die Kant zieht, wenn er die Existenz eines Dinges an sich fordert: »Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muss, doch dabei immer vorbehalten, dass wir eben dieselben Gegenstände auch als Ding an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, dass Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.« Kant 1787 (1): 30 f. (Kursives im Original gesperrt gedruckt). Doch diese Folgerung ist wie auch die Lehre vom Ding an sich ihrer26

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Der Begriff der Erscheinungsweise hat damit noch einen weiteren Akzent, er vermittelt zwischen Aktiv und Passiv. Der Ausdruck: »Der Leib erscheint sich selbst.« schwankt zwischen einem aktiven und einem passiven Zustand. Der Leib ist zugleich aktives Subjekt und passives Objekt. Insofern ist die Grundstruktur bei der Betrachtung des Leibes grundlegend reflexiv: Der Leib betrachtet sich selbst, der Leib zeigt sich sich selbst. Nicht gilt, dass wir etwas, den Leib, sehen, nicht gilt, dass der Leib etwas sieht, sondern allein gilt der Ausdruck, dass der Leib sich sich selbst zeigt. Die sprachliche Form, in der das Phänomen gefasst werden muss, ähnelt dem des Mediums der klassischen griechischen Sprache, das sich zwischen aktiv und passiv bewegt. Es beschreibt die Beteiligung des Subjektes bei der Handlung, in der es sich selbst zugleich zum Objekt macht. Das Medium drückt aus, dass entweder das Subjekt besonders mit der Handlung, die das Verb bezeichnet, verbunden ist oder selbst von der Handlung betroffen ist. Das Subjekt ist zugleich Objekt. Wir können dann ein Verständnis der Erscheinungsweisen des Leibes gewinnen, wenn wir eine analoge Sprachform zu der des griechischen Mediums nutzen. Diese grenzt sich ab von dem Aktiv – der Leib als Handelnder, als Bewusstsein steht im Vordergrund – oder von dem Passiv – der Leib, an dem die Handlung vollzogen wird, steht im Vordergrund. In dem Medium, der reflexiven Form, ist eine Mittelposition zwischen beiden eingenommen, hier zeigt sich der Leib sich selbst. Dies ist das Genus der Phänomene. Der Leib als ganzer ist nicht allein Subjekt sondern ebenso Objekt. Subjekt und Objekt sind zwei nachträgliche Abstraktionen aus dem einen Geschehen, in dieser Schilderung ist der Bezug zu dem noch ungeteilten Erscheinen des Leibes gewahrt. Die Erscheinungsweise ist also etwas, das einem Geschehen vor der Aufteilung zwischen Subjekt und Objekt entstammt. Das gilt für alle Erscheinungsweisen des Leibes, es gilt für den Gedanken ebenso wie für die Hand. Mit der so verstandenen Erscheinungsweise des Leibes ist in dem ersten Teil ein Ausgangspunkt der Erschließung der Wirklichkeit beschrieben, den wir in den folgenden Vertiefungen nicht wieder verlieren dürfen. Nur dann, wenn wir den Ausgangspunkt beseits fragwürdig und in keiner Weise zwingend, weil das Argument auf ein Letztes zielt und doch zugleich dieses mit den Mitteln der alltäglichen Anschauung begründet. Hier wie auch in den schon angedeuteten anderen Möglichkeiten, sich auf letzte umfassende Größen zu beziehen, sollten wir vorsichtiger sein.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

halten, kann es uns gelingen, das Denken über die Wirklichkeit konsequent auf seinen leibgebundenen Ort innerhalb der Wirklichkeit zu beziehen. Nur dann kann eine »Innensicht« der Wirklichkeit, also ein Ansatz eines phänomenologischen Realismus gelingen. Allerdings können wir bei diesen Erkenntnissen nicht stehen bleiben. Bislang spaltet sich der Leib in verschiedenen, scheinbar nicht zusammenhängende Erscheinungsweisen auf, wie etwa Gedanken und Gliedmaßen des Körpers. Deshalb ist nun ein weiterer Schritt vonnöten, der einen Vorschlag anbietet, die Erscheinungsweisen einander zuzuordnen.Letztlich sollen diese Erkenntnisse ja auch mit den Ordnungen, wie sie etwa die Wissenschaften herausgearbeitet haben, verbunden werden. Wie kann es gelingen, den ursprünglichen Ausgangspunkt so zu bewahren, dass er nicht gleichsam von den Ordnungen »verschluckt« wird und doch die Ordnungen als begrenzte Sichten auf die Wirklichkeit bestätigt werden? Dies soll nun mit der Einführung eines Schemas geschehen, dessen Struktur auf eine Metapher zurückgeht, die wir schon bei Merleau-Ponty kennen gelernt haben, nämlich auf die Metapher des Chiasmus.

4.

Der Chiasmus als regulatives Schema

Den Notizen zu der Schrift »Das Sichtbare und das Unsichtbare« kann man entnehmen, dass sich Merleau-Ponty eigentlich erst in den letzten Monaten seines Lebens intensiver mit dem Begriff Chiasmus und den damit verbundenen Gedanken beschäftigt hat, eine dichte Folge von Notizen ergeben sich erst ab November 1960. 27 Es fällt auf, dass der Begriff Chiasmus in der Überschrift eines Kapitels der letzten geplanten Veröffentlichung (»Das Sichtbare und das Unsichtbare«) auftaucht, in dem zugeordneten Text selbst aber gar nicht erwähnt wird. 28 Hier

Vgl. Merleau-Ponty 1964: 274. In einer der ersten Erwähnungen des Begriffes leitet er ihn von der physiologischen Sonderstellung der Augennerven ab. Dor gebraucht er auch den Begriff »das Chiasma«. Im Folgenden sollen aber die späteren Formen der Nutzung aufgenommen werden, vgl. a. a. O.: 326; 344; 176. 28 Dieses Kapitel hat eine zentrale Stellung in dem Werk von Merleau-Ponty, wie Low konstatiert: »In this chapter, more than in any other of Merleau-Ponty’s writings, the author attempts to develop a new descriptive terminology, a terminology that does not represent the old dichotomies of Western philosophy or Western culture, that will more 27

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Der Chiasmus als regulatives Schema

zeigen sich Spuren eines Schaffensprozesses, die darauf deuten, dass der Begriff in der endgültigen Gestalt des Buches eine wesentlich zentralere Rolle gespielt hätte, als das der vorliegenden Textfassung zu entnehmen ist. Der Chiasmus ist eine Metapher, die Merleau-Ponty geprägt hat, um die gegenseitige Verschränkung, das Ineinander von Berührendem und Berührtem, von Sehendem und Gesehenem im Leib zu beschreiben. 29 Der Begriff Chiasmus ist abgeleitet aus dem griechischen Buchstaben Chi und meint eine Struktur, in der sich zwei Linien überkreuzen. Die Verwendung des Begriffs ist allerdings in den hinterlassenen Notizen nicht festgelegt, so kann er ihn auch auf das Verhältnis zu dem Anderen anwenden. 30 Wenn man den genauen Weg der Entstehung des Begriffes nachgehen wollte, müsste man auch andere Begriffe in den Blick nehmen, die eng an ihn geknüpft sind, wie der Begriff der Überkreuzung, der Reversibilität, der Reziprozität und so weiter. Der Begriff Chiasmus führt nicht etwas völlig Neues in das Merleau-Ponty’sche Denken ein. Er kann aber als eine Hilfe verstanden werden, um die dritte Dimension, den Leib zwischen Subjekt und Objekt, in ihrer Diversität erschließen zu können. Denn die Metapher des Chiasmus ist in besonderer Weise geeignet, die Verschränkung bzw. die Verflechtung der beiden Seiten als solche vor Augen zu führen. 31 Hier ist der Chiasmus stärker als andere Metaphern, mit denen Merleau-Ponty arbeitet, etwa der der Zweiblättrigkeit des Leibes. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass der Leib an beiden partizipiert, er ist Erkennendes, Beobachtendes und Erkanntes, Beobachtetes: »Wir behaupten also, dass unser Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der einen Seite ist er Ding unter Dingen und auf

fully integrate subject and object, but without the complete immersion of one into the other.« Low 2000: 29. 29 Damit wird ein Grundgedanke Merleau-Pontys zum Ausdruck gebracht. Auch die schon weiter oben angeführten Metaphern wie etwa chair (Fleisch) deuten auf dasselbe Geschehen: »Im Kern bezeichnet er das Phänomen der gleichzeitigen Verschränkung bzw. Kreuzung von Ergreifen und Ergriffenwerden oder der gleichzeitigen Verflechtung von Empfundenem und Empfindendem.« Bermes 2003: XXXI. 30 Vgl. Merelau-Ponty 1964: 274. 31 Der Chiasmus kann sehr gut darstellen, dass es eine Verbindung und ein Getrenntsein zugleich gibt: »There is a chiasm: the inside passes or crosses into the outside as the outside passes into the inside. And yet, this chiasm cannot be complete. There cannot be total fusion, for then the experiencer and the experienced would conflate (…).« Low 2000: 25.

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der anderen Seite sieht und berührt er sie.« 32 Doch schon ein wenig später im Text muss er sich korrigieren und das Bild wieder zurück nehmen, denn das Schichtenmodell der Zweiblättrigkeit ist zu statisch und ruft die Gefahr hervor, wiederum eine Trennung zu manifestieren, wie im dualistischen Ansatz. »Noch die Rede von Blattseiten oder von Schichten bedeutet, / dass man das, was im lebendigen und aufrechten Körper zusammenbesteht, vor dem reflexiven Blick verflacht und nebeneinanderstellt.« 33 Nun lässt Merleau-Ponty eine Beschreibung folgen, die man ohne Mühe auf den Begriff des Chiasmus münzen kann, auch wenn er den Begriff an dieser Stelle nicht explizit nutzt: »Aber mein sehender Leib unterhält diesen sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.« 34 Bewusstsein und Körper, Aktives und Passives, so die Metapher des Chiasmus, sind also wechselseitig miteinander verflochten. Der Leib wird zu einem Ort der Überkreuzung von Beobachter und Beobachtetem. Auf diese Weise hat der Leib an beidem Anteil. Es ist nicht so, dass das Subjektsein auf das Bewusstsein, das Denken allein beschränkt werden könnte und es ist weiterhin nicht so, dass das Objektsein allein auf den Körper beschränkt werden könnte. Vielmehr partizipiert der ganze Leib am Subjektsein und ebenso auch am Objektsein. Der Leib ist zugleich der Berührende, der, der sieht, wie auch der, der berührt wird, der, der gesehen wird. MerleauPonty kann dieses Verhältnis auch als Reversibilität beschreiben, der Leib ist der Ort, an dem sich die Verhältnisse jederzeit umkehren können. 35 Hierauf kann die Metapher des Chiasmus in besonderer Weise aufmerksam machen. In diesem Sinne wollen wir sie im Folgenden aufgreifen. Wir wollen den Impuls von Merleau-Ponty allerdings nun so aufgreifen, dass wir uns gleichzeitig von seiner Methode, seinem Arbeitsstil entfernen, um eine größere systematisierende Stringenz zu gewinnen und Zugang zu den von Ordnungen geprägten Sphären zu gewinnen, die die Wissenschaften explorieren.

32 33 34 35

Merleau-Ponty 1964: 180. A. a. O.: 181. A. a. O.: 182. Vgl. a. a. O.: 331.

172 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Chiasmus als regulatives Schema

A.

Rückblick auf den dualistischen Ansatz von Descartes

Wir haben schon einen metaphysischen Vorschlag kennen gelernt, der unter anderem das Ziel hatte, zwei dominante Erscheinungsweisen des Leibes, nämlich Gedanken und Körper zu ordnen: der Entwurf von René Descartes. Allerdings verfolgte diese Theorie ein ganz anderes Vorgehen, sie war eine metaphysische Theorie im klassischen Sinne. Descartes hat ein fundamentum inconcussum, eine letzte, unumstößliche Wahrheit gesucht und sie in dem »cogito, sum« gefunden. Er hat dann der Erscheinungsweise der Gedanken, dem cogito eine Substanz zugewiesen, die res cogitans. Schließlich hat er über die Hilfsannahme der Existenz Gottes die Erscheinungsweise des Körpers erschlossen und sie einer anderen Substanz zugeordnet, der res extensa. Damit war eine klare und saubere Trennung der Erscheinungsweisen definiert. Jede wurde durch eine eigenständige und völlig unabhängige Substanz verursacht. Den einzigen Ort des Übergangs sah er in der Zirbeldrüse, die in gewisser Weise ein Tor zwischen beiden Substanzen darstellt. In der Skizze sieht die Aufteilung also etwa so aus:

Bevor wir auf die Deutung der Graphik eingehen, soll eine Zwischenbemerkung gemacht werden, die grundsätzlich die Nutzung von graphischen Darstellungen betrifft. Da wir hier wie auch im Folgenden immer wieder auf solche Darstellungen zurückgreifen wollen, soll dieses in der Philosophie ungewöhnliche Vorgehen kurz reflektiert wer173 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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den. Die Darstellung philosophischer Gehalte in einer veranschaulichenden Skizze kann nur dann eine Hilfestellung sein, wenn man genau zwischen der dargestellten graphischen Form und den darzustellenden begrifflichen Gehalten unterscheidet. Die Einschränkung gilt in beide Richtungen, die graphische Darstellung darf nicht in allen ihren Aspekten philosophisch gedeutet werden, und umgekehrt sind die philosophischen Gehalte stets wesentlich reicher als es eine graphische Skizze zum Ausdruck bringen könnte. Einerseits gibt es also nur bestimmte Aspekte einer solchen Skizze, die interpretiert werden können, nicht aber alle Eigenschaften der Darstellung. So kann die obige Skizze zum Ausdruck bringen, dass res cogitans und res extensa keine Gemeinsamkeit haben und es nur die eine Stelle der Zirbeldrüse gibt, die nach Descartes als Übergang gelten kann. Die beiden Flächen überlappen nicht, allerdings gibt es einen Übergang von der Zirbeldrüse aus, die ein identifizierbarer Teil des menschlichen Körpers ist. Eine weitergehende Interpretation wäre nun, die beiden Flächen einzeln zu interpretieren. Doch hier gerät die Deutung der Skizze schnell an eine Grenze. Denn die res cogitans ist keine ausgedehnte Substanz. In der Skizze werden beide, res cogitans und res extensa in gleicher Weise ausgedehnt dargestellt. Dieser Aspekt der Skizze kann also nicht gedeutet werden, sonst kommt es zu Fehlschlüssen. Andererseits kann eine Graphik aufgrund der für sie geltenden Gesetzmäßigkeiten viele Aspekte einer philosophischen Begrifflichkeit nicht erfassen. Es sind immer nur wenige Aspekte, die in einer graphischen Darstellung hervorgehoben werden, andere finden keinen Ausdruck. Trotz dieser Einschränkungen kann man einen reduzierten Gebrauch von einer graphischen Darstellung machen, weil sie bestimmte Gehalte des philosophischen Ausdrucks hervorheben können. Sie dienen als Vereinfachung einer ansonsten sehr komplexen begrifflichen Beschreibung. Die Anschaulichkeit einer Graphik darf weiterhin nicht zu der Meinung verleiten, das Verhandelte sei selbst als etwas Gegebenes, als ein durch die Graphik dargestelltes Objekt anschaulich. Dieser Vorbehalt ist für unser Vorhaben elementar. Das Verhandelte bildet sich nicht in der Graphik ab, aber die Graphik kann bestimmte Aspekte deutlicher und in einer vorbehaltlichen Weise anschaulich machen. Graphische Darstellungen sind Hilfen, die der Orientierung dienen, aber selbst keinen distinkten philosophischen Anspruch erheben können. Sie haben eine dienende Funktion, sie helfen, die Phänomene in ihrer Vielzahl und Unterschiedlichkeit bezüglich einiger Aspekte zu ordnen, 174 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Chiasmus als regulatives Schema

ohne deshalb ihre Eigenständigkeit und ihre Unableitbarkeit zu negieren. Wir haben die Schwierigkeiten kennen gelernt, die mit dem Entwurf von Descartes verbunden sind. Der für uns zentrale Vorwurf ist der, dass eine solche Konstruktion die Verankerung in der Wirklichkeit, in die wir ganz und gar eingelassen sind, nicht zum Ausdruck bringen kann. Das Denken wird in gewisser Weise als res cogitans extraterritorial zur res extensa und steht den ausgedehnten Dingen unvermittelt gegenüber. Hieraus ist in späteren Zeiten die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt abgeleitet worden. Beide Bereiche scheinen in sich völlig klar und distinkt beschreibbar zu sein, doch verleugnen sie ihren Herkunftsort im endlichen Leib. Dagegen hat Merleau-Ponty protestiert und eine anderen Weg gesucht. Sein Anliegen wollen wir nun aufnehmen, indem wir das Schema des Chiasmus vorschlagen.

B.

Das Verhältnis zwischen dem Chiasmus zu den Erscheinungsweisen

Als erstes muss das Verhältnis zwischen dem vorzuschlagenden Schema und der Erscheinungsweise geklärt werden. Auch wenn wir keine metaphysische Setzung vornehmen werden, weicht der nächste Schritt, also die Einführung eines ordnenden Schemas, offenkundig von der Orientierung an den Phänomenen ab, die die Einführung der Phänomene und Erscheinungsweisen des Leibes geprägt hat. Denn nun beziehen wir uns nicht auf das, was sich zeigt, sondern machen einen Vorschlag, der die unterschiedlichen Erscheinungsweisen in eine mögliche Ordnung zueinander stellt, die sich aus einigen Aspekten der in den Erscheinungsweisen zusammengefassten Phänomene ergeben. Dies lässt sich aber nur dann erreichen, wenn wir hypothetische Vermutung äußern, wie es dazu kommen kann, dass die Erscheinungsweisen so sind, wie sie sind und daraus Ordnungskriterien ableiten. Wir machen also hypothetische Annahmen, wir formulieren Vermutungen, die plausibel machen sollen, in welcher Weise die Erscheinungsweisen einander zugeordnet werden können. Das geschieht so, dass die Hypothesen scheinbar darüber Auskunft geben, wie die Erscheinungen zustande kommen, was »hinter« ihnen steckt, was sie »verursacht«. Das Schema sieht in seiner Grundform aus wie auf S. 177 abgebildet. 175 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Zwei Linien überkreuzen sich in der Weise, wie es der griechische Buchstabe Chi nahe legt. Diesen Linien sind zwei Größen zugeordnet, das Bewusstsein* und der Körper*. Die von links nach rechts abfallende Linie mag nun die Bezeichnung Bewusstsein* zugeordnet werden, der von rechts nach links abfallenden Linie die Bezeichnung Körper*. Hier und im Folgenden sind die Größen Bewusstsein* und Körper* mit einem Asterisk versehen. Damit soll angedeutet werden und stets in Erinnerung bleiben, dass es sich dabei nicht um bekannte Größen handelt. Der Chiasmus ist ein hypothetisches Schema, die in ihm verwendeten Größen sind uns nicht anschaulich, sie tauchen niemals in einer der Erscheinungsweisen des Leibes auf. Täten sie das, hätten wir auch gleich mit ihnen beginnen können. Um sie von den Größen zu unterscheiden, die innerhalb des phänomenalen Bereichs, also Teil von Erscheinungsformen sind, ist der Asterisk notiert. Dieses Schema wollen wir nun nutzen, um es auf die Erscheinungsweisen des Leibes zu beziehen und den Erscheinungsweisen damit eine hypothetische Ordnung zu geben. Das Schema lässt sich aus dem Descartes’schen Schema ableiten, wenn man die getrennten Blöcke, die sich in dem Descartes’schen Schema starr gegenüber stehen, in eine Verschränkung überführt. Der Vorschlag ist, die Skizze von Descartes’ Entwurf in der folgenden Weise weiter zu entwickeln und dabei grundlegend zu verändern. Die beiden Größen Bewusstsein* und Körper* stehen sich nicht mehr wie Blöcke gegenüber, sondern verschränken sich, sie überkreuzen sich analog zu dem Buchstaben Chi. Bewusstsein* und Körper* sind nicht getrennte Substanzen, sondern zwei Größen, die in der Verschränkung eine Verbindung eingehen. Welches Phänomen des Leibes auch immer erscheint, es erscheint nach dieser Skizze als Folge der Verschränkung. Die Größen des Schemas haben eine Funktion analog der, die Kant den transzendentalen Ideen der Vernunft zugewiesen hat, sie haben einen regulativen Charakter. Kant hat in der Dialektik der reinen Vernunft die Aussagekraft derjenigen Ideen geprüft, die von der Vernunft nahe gelegt werden. Diese Ideen lassen sich in drei Klassen untergliedern, die jeweils auf eine absolute Einheit zielen, nämlich auf die der Seele, auf die der Welt und auf die Gottes. 36 Dabei stellte er fest, dass diesen Ideen nicht dieselbe Aussagekraft zukommt wie den Begriffen des Verstandes. So kann zum Beispiel die Vernunft die Vorstellung na36

Vgl. Kant 1787 (1): 336

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Der Chiasmus als regulatives Schema

he legen, dass die Seele eine Substanz habe. Die rationale Psychologie tut dies auch unter Berufung auf Descartes und stellt die Behauptung auf, dass es für das cogito eine Substanz geben müsse, die die Eigenständigkeit des cogito gewährleistet. Doch beruht diese Annahme auf einem Fehlschluss, einem so von Kant genannten Paralogismus, den dieser widerlegen kann. 37 In diesem Fall wie auch in vielen anderen Behauptungen, die bei naivem Gebrauch aus den Ideen der Vernunft abgeleitet werden können, zeigt sich immer wieder der Scheincharakter dieser Ideen. Denn ihr Anwendungsbereich geht über das Feld möglicher Erfahrungen hinaus. Anders sind die Verhältnisse, wenn die Begriffe des Verstandes auf Gegenstände der Erfahrung anwendet werden. Für die Ideen der Vernunft aber gibt es kein analoges Verhältnis zu erfahrungstranszendenten Gegenständen. 38 Jedenfalls können wir darüber nichts mit Mitteln des Verstandes in Erfahrung bringen. Also ist es nicht möglich, die Ideen in dergleichen Weise zu behandeln wie die Begriffe des Verstandes, als Hilfen für sichere Schlüsse und Erkenntnisse. Wer dies unternimmt, öffnet der Spekulation Tür und Tor und kommt, wie Kant nachweist, zu Fehlschlüssen. Doch ist der Gebrauch der Ideen nicht nur eine Gefahrenquelle, man kann auch einen begrenzten Nutzen aus ihnen ziehen. Kant stellt 37 38

Vgl. Kant 1787 (2): 362 ff. Vgl. a. a. O.: 563 f.

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sich die Frage, ob und, wenn ja, welche positive Rolle diese so genannten transzendentalen Ideen der Vernunft haben können. Es gibt einen immanenten Gebrauch dieser Ideen, also einen Gebrauch, der nicht auf angebliche Entitäten jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeiten zielt, sondern auf endliche Dinge in den Erfahrungen selbst. Der positive Gebrauch der transzendentalen Ideen der Vernunft ist es, im Bereich der Erfahrung regulativ zu wirken. Die Ideen sind nicht konstitutiv wie die Begriffe des Verstandes, sie konstituieren also nicht bestimmte Gegenstände und deren Eigenschaften, sondern sie ordnen die unterschiedlichen Erfahrungen von Gegenständen und unterstützen so den Gebrauch der Begriffe des Verstandes. Es ist dabei stets notwendig, auf die Art der Anwendung der Ideen zu achten, denn nur zu schnell sitzt man einer Täuschung auf und verwendet die Ideen als Begriffe von angeblichen Entitäten jenseits der Erfahrung. Diese Behauptungen, das hat Kant in seiner Kritik gezeigt, sind aber allesamt nicht haltbar oder aber willkürlich gesetzt und manche können ebenso gut bejaht wie auch verneint werden. Der regulative Gebrauch der Ideen ist deshalb weiterhin hypothetisch und nicht apodiktisch.39 Apodiktisch sind solche Aussagen, von deren Wahrheit man von Beginn an gewiss sein kann. Das gilt aber nicht für die Ideen der Vernunft. Zu Anfang steht nicht eine Gewissheit der Wahrheit der Idee, sondern eine Vermutung, eine Hypothese. Diese muss sich und kann sich nur in dem Feld der Erfahrung selbst bewähren, dort muss sie eine Anwendung finden, die die Verstandeskräfte bei der Erkenntnis unterstützt. »Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln.« 40 Die Ideen haben damit eine indirekte Aufgabe, sie helfen dem Verstand bei der Ordnung seiner Gehalte. Die Ideen der Vernunft nehmen diese regulative Aufgabe so wahr, dass sie eine möglichst große, umfassende Menge von unterschiedlichen, zerstückelten Erkenntnissen des Verstandes auf eine Einheit hin ausrichten: »Die Vernunft (…) schafft also keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur, und gibt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer größtmöglichen Ausbreitung haben können (…).« 41 Die transzendentalen Ideen haben

39 40 41

Vgl. Kant, 1787 (2): 567. Ibid. Kursives ist im Originaltext gesperrt gedruckt. A. a. O.: 564. Kursives ist im Original gesperrt gedruckt.

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Der Chiasmus als regulatives Schema

die doppelte Aufgabe, eine Ordnung und eine Einheit der Begriffe des Verstandes herzustellen. Beide, Ordnung und Einheit, sind nicht selbst in der Erfahrung gegeben, sie lassen sich aber als hypothetische Annahmen auf die Erfahrung beziehen. Wie kann man nun die Aufgabe, die Kant für die Ideen der Vernunft beschrieben hat, auf das Schema des Chiasmus übertragen? Auch dieses Schema, seine Größen und die Zuordnung der Größen können nicht den Anspruch erheben, etwas abzubilden, sie erschließen sich nicht in der gleichen Weise wie die Erscheinungsweisen und deren Gehalte. Ihnen kommt keine unmittelbare Evidenz zu. Weder meint Bewusstsein* etwas Gegebenes noch Körper*, noch ist die Verschränkung ein erfahrbarer oder auch nur vorstellbarer Vorgang. Sie sind strikt hypothetische Größen, die eigentlich immer in der Sprachform benutzt werden müssten: »Wenn man annimmt, dass es so etwas wie das Bewusstsein* gibt und so etwas wie den Körper* und wenn man weiterhin annimmt, dass beide sich in der abgebildeten Weise verschränken, dann ließe sich daraus folgern, dass …«. Der Wert der Folgerung muss dann geprüft werden in ihrem Gebrauch, in einer Verbesserung des Verständnisses der Phänomene und Erscheinungsweisen selbst. Diese sind und bleiben also letzter Maßstab dafür, was man über die Wirklichkeit aussagen kann. Die Erkenntnisse über die Erscheinungsweisen müssen weiter geführt und gefestigt werden, wenn wir sie mit Hilfe des regulativen Schemas des Chiasmus interpretieren, sonst hat das Schema keinen Nutzen. Die Phänomene und Erscheinungsweisen sind also der Probierstein des Nutzens des Schemas und seiner Hilfsgrößen. Diese partielle Übernahme einer Konstruktion von Kant heißt nicht, dass damit weitgehende Übernahmen des Kant’schen Ansatzes impliziert sind. Schon darin besteht ein Unterschied zu der Vorstellung der regulativen Idee bei Kant, dass sich das hier vorzustellende Schema nicht zwangsläufig aus den Erkenntniskräften ergibt. Das gilt jedoch nach Kant für die Ideen der Vernunft, sie erscheinen als notwendig. 42 Das Schema dagegen ist eine Konstruktion, die jederzeit durch eine bessere ersetzt werden kann, wenn es denn einen solchen Vorschlag gibt. An dem Schema selbst hängt nichts, die entscheidende Frage ist, inwieweit es gelingt, die unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Leib und Wirklichkeit zu ordnen und sie so zueinander in ein Verhältnis zu setzen. 42

Vgl. Kant 1787 (1): 331.

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Auch die Elemente des Schemas sind Annahmen, die sich immer wieder neu bewähren müssen. In gewisser Weise ist das Schema eine sehr karge Ordnung, die lediglich durch einige ausgewählte Kriterien die Bestimmung der Relationen der Erscheinungsweisen zueinander ermöglicht. Ein Erkennen, das die Bedingungen des phänomenologischen Realismus beherzigt, muss sich auf die Phänomene und Erscheinungsformen begrenzen und kann das Schema nur als Hilfsgröße nutzen, um diese besser zu verstehen. Es zeigt sich eine klare Vor- und Nachordnung. Zuerst gelten die Erscheinungsweisen des Leibes. Sie sind in gewisser Weise ein erstes Datum. Das Schema des Chiasmus ist dann ein zweites, ein Hilfsmittel, bekannte Größen miteinander in ein Verhältnis zu setzen. Die Tradition der Metaphysik hat zumeist in umgekehrter Reihenfolge argumentiert: Zunächst ist eine letzte, umfassende Größe gesucht oder definiert worden, das Sein, die Substanz, das Bewusstsein, das Werden, das Gute oder Ähnliches und dann hat man von dort aus alles andere deduktiv abzuleiten versucht. Doch aus dem Gesagten sollte klar sein: Die Erscheinungsweisen des Leibes ergeben sich aus dem vorbehaltlosen sich Einlassen auf das, was sich zeigt, sie werden nicht aus den metaphysischen Annahmen abgeleitet. Nun geht es darum, ausgehend von der Grundintuition von Merleau-Ponty eine Erweiterung der Betrachtung zu suchen, durch die der Ort des Erkennens, der Wahrnehmungsglaube, mit alltäglichen und wissenschaftlichen Weisen der Wirklichkeitsbetrachtung verbunden werden kann. Das Schema des Chiasmus hat damit eine doppelte Aufgabe: Es bewahrt den Bezug auf unsere Verbundenheit mit der Wirklichkeit, die Verortung des Leibes zwischen Subjekt und Objekt, die Berücksichtigung des Leibes als Ort des Erkennens und zugleich erfasst es auch die uns bekannten Ordnungen von Logik und Kausalität in den unterschiedlichen Erscheinungsformen.

C.

Der Chiasmus als Ordnungsschema der Erscheinungsweisen

In einem nächsten Schritt kommt es darauf an, die Erscheinungsweisen des Leibes dem Schema des Chiasmus zuzuordnen. Um das Schema besser vor Augen zu haben, soll uns die folgende Skizze weiter helfen. Die Größen Bewusstsein* und Körper* verändern ihr Verhältnis in diesem Schema graduell und kontinuierlich, wenn man der Grund180 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Chiasmus als regulatives Schema

linie von links nach rechts oder umgekehrt folgt. Dennoch lassen sich drei qualitativ verschiedene Bereiche innerhalb des Schemas unterscheiden. In dem ersten Bereich ist die Linie, die mit Bewusstsein* bezeichnet ist, höher als die Linie Körper*. In einem zweiten Bereich überkreuzen sich die Linien, hier sind beide Linien etwa gleich hoch, in dem dritten Bereich dagegen ist die mit Körper* bezeichnete Linie höher als die mit Bewusstsein* bezeichnete Linie. Aus den unterschiedlichen Verhältnissen der Größen Bewusstsein* und Körper* lässt sich eine Ordnung für die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Leibes ableiten. Die Ordnungsfunktion ergibt sich aus folgender Regel: Je höher die Linie einer der beiden Größen Bewusstsein* oder Körper* ist, desto mehr ist die Erscheinungsweise des Leibes, die dieser Stelle zugeordnet werden kann, von der entsprechenden Größe bestimmt. Wenn also die Linie Bewusstsein* sehr hoch und die Linie Körper* sehr niedrig ist, dann wird dieser Stelle die Erscheinungsweise des Leibes zugeordnet, die dem entspricht, was wir alltäglich als Bewusstsein bezeichnen, also Gedanken, Bilder, Theorien, mathematische Formeln und so weiter. Wenn die Linie Körper* sehr hoch und die Linie Bewusstsein* dagegen sehr niedrig ist, 181 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

dann wird dieser Stelle eine Erscheinungsweise des Leibes zugeordnet, die eher durch körperliche Charakteristika bestimmt ist, also Gewicht, Bewegung, die sichtbare Hand, der Fuß und so weiter. Im mittleren Bereich, in dem sich die beiden Linien überkreuzen, sind beide Anteile in gleicher Weise ausgeprägt. In diesem Bereich kann man die Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl) zuordnen. 43 Auf diese Erscheinungsweise werden wir noch einmal gesondert eingehen, denn es ist offensichtlich, dass hier das Anliegen von Merleau-Ponty, der Bezug auf den Wahrnehmungsglauben in besonderer Weise zum Ausdruck kommen muss. In gewisser Weise sind es also beide Größen, Bewusstsein* und Körper*, die zusammen die Erscheinungsweisen des Leibes als Gedanke und als Körper generieren. Dies kann vielleicht als Visualisierung der schon zitierten, schönen, aber enigmatischen Formulierung von Putnam dienen: »Wenn man sich schon einer metaphorischen Sprache bedienen muss, dann sollte die Metapher lauten: Der Geist und die Welt zusammen erschaffen den Geist und die Welt.« 44

D.

Interpretation der wichtigsten Eigenschaften des Chiasmus

Das Schema des Chiasmus soll schrittweise interpretiert werden. Dabei ist stets zu prüfen, ob dieses Schema auch eine erhellende Kraft zur Interpretation der Erscheinungsweisen des Leibes hat. I.

Die Größen Bewusstsein* und Körper*

Der Leib ergibt sich in dem Schema aus der Verschränkung der beiden Größen Bewusstsein* und Körper*. Das Schema ist so angelegt, dass es Das X als Kürzel für diese Erscheinungsweise hat noch einen weiteren, eher graphischen Aspekt: die mittlere Erscheinungsweise umschließt gerade den Ort des Chiasmus, an dem sich die Linien überkreuzen. Auch hier liegt ein vollständiger Chiasmus vor. Die Bezeichnung mit dem Buchstaben X nimmt dies in seiner Form auf. 44 Putnam 1990: 11. An anderer Stelle sagt er: »Wenn die ›Gegenstände‹ selbst, wie ich behaupte, ebenso sehr Erzeugtes wie Entdecktes, ebenso sehr Produkte unseres begrifflichen Erfindungsvermögens wie ›objektiver‹ – also willensunabhängiger – Faktor unserer Erfahrung sind, dann gehören sie natürlich intrinsisch unter bestimmte Etiketten, denn diese Etiketten waren ja die Werkzeuge, mit deren Hilfe wir zunächst einmal eine Version der Welt konstruiert haben.« A. a. O.: 81. 43

182 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Chiasmus als regulatives Schema

keinen Ort gibt, an dem das Bewusstsein* oder der Körper* isoliert, außerhalb der Verschränkung mit dem jeweils anderen vorkommen. Das heißt aber, dass bei jeder Erscheinungsweise des Leibes beide Größen sich auf die Erscheinungsweise auswirken, es gibt also keine Erscheinungsweise, die allein durch eine Größe bedingt wäre. In keiner der Erscheinungsweisen können der Körper* oder das Bewusstsein* von der jeweils anderen Größe unbeeinflusst wirken. Damit sind die beiden Größen auch nie wirklich direkt erkennbar, sie machen sich nur indirekt bemerkbar durch die Veränderung der Erscheinungsweisen, in dem Unterschied zwischen den Phänomenen. Das Schema gibt damit auch einen Hinweis darauf, dass es uns nicht gelingen wird, die Fragen nach den letzten Größen, nach dem, was den Leib eigentlich konstituiert, zu beantworten. Deshalb müssen wir uns auch davor hüten, von den Größen Bewusstsein* oder Körper* zu reden, als kennten wir sie. Daran erinnern die Asteriske. Damit trifft die Zurückhaltung auf eine Skepsis, die sich schon in der wissenschaftlichen, aber auch in mancher alltäglichen Betrachtung des Bewusstseins ergibt. Wir haben die breite Diskussion um die Bestimmung des Bewusstseins dargestellt. Es ist in der Tat wohl unmöglich, je zu sagen, was das eine, als geschlossene Größe existierende Bewusstsein sein soll, jenseits einer imaginären Menge aller je gegebenen Bewusstseinsmomente. Wir kennen wohl einzelne Gedanken, Phantasiebilder und mathematische Formeln. Aber die Menge, die alle vereint, ist eine abstrakte Größe, denn sie muss sehr unterschiedliche und heterogene Elemente umfassen und der Umfang der Menge steht nicht fest. In der Praxis gibt es wohl eine gute Definition davon, ob »jemand bei Bewusstsein ist«, doch ist damit in erkennbarer Weise etwas anderes gemeint als mit der Frage nach dem Bewusstsein selbst. Wir haben gesehen, dass in der Diskussion der Philosophie des Geistes die Frage nach dem Status des Bewusstseins nicht gelöst werden kann, es ist das von Chalmers so genannte »hard problem«. Weiterhin haben wir dort die erhellende Vermutung erwähnt, dass das Bewusstsein kein Explanandum ist, also nichts, das erklärt werden kann, sondern ein Explanans, also ein Begriff, den man nutzt, um etwas zu erklären. Genau in diesem Sinne wollen wir die Größe Bewusstsein* hier nutzen. Wenn man den Begriff im Sinne des Schemas nutzt, ist offenkundig, dass man sich vergeblich bemüht, wenn man die Größe Bewusstsein* näher bestimmen will. Erst recht gilt ein solcher Vorbehalt für die dem Bewusstsein nahe stehenden Größen wie den Geist oder die Seele. Der Verdacht von 183 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

Gilbert Ryle, dass eine bestimmte Vorstellung des Geistes sich auf eine Entität bezieht, über das man eigentlich keine Auskunft geben kann, findet hier seine Bestätigung. Dennoch aber darf man deshalb nicht den Fehler machen, aus der Schwierigkeit der Bestimmung einer Größe ihre Inexistenz abzuleiten, denn das wäre ein ebenso spekulativer Schluss wie die Behauptung der Existenz oder gar Anschaulichkeit einer solchen Entität. Die Aussagen zum Bewusstsein* kann man auch analog auf den Körper* übertragen. So wenig wie wir ein Gegebenes kennen, das wir mit dem Bewusstsein identifizieren können, so wenig kennen wir ein Gegebenes, das nur und ganz und gar Körper* ist. Ist der erste skeptische Vorbehalt gegenüber dem Bewusstsein* vielleicht noch nachvollziehbar, so scheint doch die Übertragung auf den Körper* ein willkürlicher Vergleich zu sein. Kennen wir nicht unseren Körper, können wir uns da nicht aufgrund unmittelbarer Evidenz darauf verlassen, dass er existiert? Hier macht sich die Voreinstellung unserer Kultur bemerkbar, die wir unter dem Begriff Leonardo-Welt beschrieben haben. Wir halten im Gegensatz zu Descartes die materiellen Gegebenheiten für die verlässlichere Seite unserer Wirklichkeit. Tatsächlich aber haben wir unseren Körper immer nur so, wie er uns erscheint. Das setzt aber, wenn man von der Dichotomie Körper und Bewusstsein ausgeht, Bewusstsein schon voraus. Wir werden später sehen, dass wir möglicherweise den materiellen Dingen, die uns so untrügerlich gegeben zu sein scheinen, ihren »Widerstand«, der ein entscheidender Ausweis für objektive Wirklichkeit ist, nur deshalb zusprechen, weil wir in einer frühkindlichen Phase unsere eigene Körpererfahrung auf sie übertragen. Genau besehen ist der Körper als reiner Körper uns ebenso sehr ein Rätsel wie das Bewusstsein. Das soll auf keinen Fall einem Konstruktivismus das Wort reden. Unser Körper als Erscheinungsweise und ihre Phänomene sind Teil der phänomenologisch bestimmbaren Wirklichkeit. Hier zeigen sich klare Ordnungen, die sich vielen Wünschen und Projektionen widersetzen. Auch im wissenschaftlichen Sinne ist das Körpersein, also zum Beispiel die Materialität des Körpers keineswegs ein gelöstes Problem. Die Wissenschaften gehen von der Existenz von Materie aus, jedoch haben wir uns weit von der Annahme einer letzten Substanz, wie bei Descartes noch angenommen, entfernt. In welcher Weise der Leib sich auch immer zeigt, wenn er sich als Körper zeigt, er bleibt stets der von uns wahrgenommene Körper. Wir können diese Erscheinungsweise nicht auf den Körper* hin transzendieren. Wir mö184 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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gen unseren Körper zum Beispiel in einen Computertomographen legen und seine Gehirnzustände untersuchen. Doch dann untersuchen wir nicht einfach den Körper* oder einen imaginären Körper an sich, sondern nutzen bestimmte Methoden, bei denen sich unser Leib in der Erscheinungsweise als Körpers zeigt. Wie der Körper* beschaffen sein soll, bleibt trotz aller naturwissenschaftlichen Fortschritte spekulativ. Das Schema kann diese skeptische Betrachtung der Größen von Bewusstsein* und Körper* gut wiedergeben. Wir haben uns weit entfernt von der Gewissheit des Descartes im 17. Jahrhundert, der für beide Erscheinungsweisen gleich unterschiedliche, aber je in sich völlig homogene Substanzen angenommen hat. Das Schema zeigt dagegen eine Anordnung, die nicht von Trennung, sondern gerade von Verschränkung geprägt ist. Die Anordnung der hypothetischen Größen kann helfen zu verstehen, warum die Erscheinungsweisen des Leibes sich so unterscheiden, wie sie es tun. Sie helfen die Charakteristika der Erscheinungsformen besser zu verstehen, ohne sich je »selbst« zu zeigen. Mir scheint, dass dieser reduzierte Gebrauch von Bewusstsein* und Körper* der einzige ist, der sich philosophisch halten lässt. Sie bleiben Teil eines lediglich hypothetischen Schemas, dessen Tauglichkeit sich allein daran bemisst, ob mit seiner Hilfe die Phänomene des Leibes einander zugeordnet, ihre Eigenständigkeit in der Unterschiedlichkeit begründet und ihre Eigenschaften besser verstanden werden können. Nun kann mit Blick auf die Theorie von Kant die Frage gestellt werden: Hat das Schema im Ganzen nicht genau die Stellung des »Ding an sich« im Kant’schen System? Das »Ding an sich« ist außerhalb der Erscheinungen, die sich uns zeigen. Die Architektur der kritizistischen Theorie verhindert, mehr zu behaupten als die reine Existenz dieser Größe. Mit dem »Ding an sich« hat Kant sich ein Gegenüber zu den Erkenntniskräften des Subjekts geschaffen, das er brauchte, um zu verhindern, dass seine Analyse der Erkenntniskräfte in ein idealistisches System übergeht. »Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen können, so können wir wohl sagen, dass der Raum alle Dinge befasse, die uns äußerlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an sich selbst (…).« 45 Würde man die Bedingungen der Sinnlichkeit zugleich zu den Bedingungen der Möglichkeit der Sachen 45

Kant 1787 (1): 76.

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machen, ginge alles, so die Befürchtung Kants, in der sinnlichen Empfänglichkeit auf. Damit ist die Konstruktion des transzendentalen Ansatzes noch durch und durch von der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt geprägt. Das »Ding an sich« ist für Kant eine Konzession, die er machen muss, um die Gegenüberstellung zu retten. Deshalb kann man nicht viel darüber sagen, seine Existenz ist nach Kant aber notwendiger Weise zu behaupten, weil anderenfalls die Erscheinungen auf nichts weisen. Der Verstand richtet seine Erkenntniskraft auf etwas Bestimmtes, nicht auf nichts. Gegenüber der Kant’schen Konstruktion des »Ding an sich« ist vielfache Kritik erhoben worden. Bei Kant kommt es etwa zu dem Problem, dass er die Kausalität auf die Erscheinungen begrenzt als eine a priori Erkenntnisfunktion des Verstandes. Wie aber soll das »Ding an sich« dann auf die Erscheinungen wirken? Das »Ding an sich« offenbart die Problematik bei Kant, eine vollständige Rechenschaft über die Erkenntniskräfte geben und ihnen zugleich eine gegenüber dem Ding an sich gesonderte Existenz in der Wirklichkeit zusprechen zu wollen. Die Verhältnisse beim Schema des Chiasmus sind aber andere. Es gibt keine Erkenntniskräfte jenseits der Größen des Schemas. Es gibt also kein Vermögen, das sich auf die Größen des Schemas von außen bezieht. Im Gegenteil, in dem Schema selbst konstituiert sich Erkenntnis, denn es umfasst Erkennendes und Erkanntes. Das Schema des Chiasmus nimmt den Grundgedanken von Merleau-Ponty auf, dass der Leib zugleich affiziert wie auch affiziert wird, Subjekt und Objekt ist. Kants Fundamentalunterscheidung zwischen dem, was sich für den Betrachter aufgrund seines Erkenntnisvermögens zeigt und dem »Ding an sich« hatte ihre Zielrichtung in der genauen Bestimmung und kritischen Analyse der Erkenntniskräfte. Der Vorteil der Absonderung des »Ding an sich« ist die Fähigkeit, Verstand und Vernunft in ihren Eigenarten als »geschlossene Sphären« besser beschreiben zu können. Das Schema des Chiasmus umfasst dagegen beide Seiten. Dadurch zwingt es zu einer noch bescheideneren Haltung, da es hier eine doppelte Unbekannte gibt. Nicht nur ist der dem »Ding an sich« analoge Körper* unbekannt, unbekannt ist ebenso das den Erkenntniskräften von Verstand und Vernunft analoge Bewusstsein*. Es gibt noch einen anderen Unterschied. Das »Gegenüber« ist in die Struktur des Chiasmus hineingezogen, aber so, dass es, abhängig von den Erscheinungsweisen in graduellen Abstufungen erscheint. Das einfach strukturierte, aber kategorial getrennte »Gegenüber« wird so zu einem changierenden 186 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Verhältnis von einem mehr oder weniger stark ausgeprägtem »Gegenüber«. Mit seinem Vorschlag hatte Kant die Möglichkeit gewonnen, ein weitreichendes Konzept für die Vernunft zu entwickeln. Nun hat sich in den vielen Diskussionen der Sprachphilosophie, der Hermeneutik, der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch durch die neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Einsicht durchgesetzt, dass eine solche Darstellung einer »reinen Vernunft« nicht möglich ist, dass wir ein derartig anspruchsvolles und aber auch statisches Konzept von Vernunft, wie es Kant in der transzendentalen Logik entfaltet, 46 nicht mehr aufrechterhalten können. Die Folge ist allerdings nicht ein destruktiver und absoluter Relativismus. Die Erscheinungsweisen zeigen ja, wie wir sehen werden, ihrerseits regelgemäße Strukturen. Es gibt Ordnungen in den Erscheinungsweisen, die nicht einer Willkür unterliegen. Allerdings haben auch die Ordnungen und Strukturen in den Erscheinungsweisen den Vorbehalt, dass sie niemals eine letztgültige Größe sein können. Sie sind, wie sich noch zeigen wird, eingebunden in den biographischen und kulturhistorischen Wandel. Die Bestimmung des Chiasmus als hypothetische Größe hat eine grundsätzliche Bedeutung: Sie ist die Anerkennung einer Leerstelle in der Theorie, die man nicht füllen kann. In dieser präzisen Funktion kann das Schema allerdings mit dem »Ding an sich« von Kant verglichen werden. Das »Ding an sich« ist als unklares Residuum verworfen worden, jedoch war der Preis für eine Alternative, die eine solche Leerstelle vermeidet, hoch. Zumeist wurden die philosophischen Ansätze spekulativ, sie überdehnten den Anwendungsbereich ihrer Aussagen und missachteten so auch die zentrale Einsicht der Theorie MerleauPontys, nämlich in dem Erkenntnisvorgang stets den leiblichen Ort des Erkennens zu berücksichtigen. Kierkegaard hat diese Kritik in Bezug auf die Philosophie von Hegel auf die Formel gebracht: Er erschuf einen Palast (das spekulative System) und wohnte doch in der Hütte 46 Vgl. die Ausführungen zur transzendentalen Analytik, Kant 1787 (1): 107. Auch im Chiasmus gibt es die zeitlose Geltung logischer Gesetze. Jedoch kann man vor allem nicht behaupten, dass diese Gesetze vollständig sind. Vgl. ibid. Für die heutige Erkenntnis gilt, bezogen auf die Zeit nach Kant: »Die Logik hat sich in der kurzen Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis heute in einem solchen Ausmaß weiterentwickelt wie in noch keiner anderen Phase ihrer 2300 Jahre langen Geschichte. Es ist unmöglich, vorherzusagen, welche neuen Wege sie noch beschreiten wird.« Strobach 2005: 145.

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daneben (als existierender Mensch). So mag es unbefriedigend erscheinen, ein System zur Deutung der Wirklichkeit nicht zu schließen, eine Leerstelle offen lassen zu müssen, aber anders ist offenkundig eine Philosophie sub conditione humana nicht möglich. Der phänomenologische Realismus wird diese Bedingung beachten müssen, denn sie ist eine Folge der Berücksichtigung des Ortes des Erkennens im Erkenntnisvorgang selbst. II.

Eigenschaften der Erscheinungsweisen im Chiasmus

An jeder Stelle des Chiasmus gestaltet sich das Verhältnis von Bewusstsein* und Körper* variabel, in der Graphik symbolisiert durch die unterschiedlichen Verhältnisse der Linien zueinander. Für die Beziehungen der Phänomene und Erscheinungsweisen zueinander kann man zwei fundamentale Aussagen machen. Erstens gilt, dass die Eigenschaften der jeweiligen Erscheinungsweisen sich entlang der Grundlinie kontinuierlich ändern. Bislang haben wir uns auf jene Erscheinungsweisen konzentriert, die markanten Orten des Schemas zugeordnet werden können. Doch es lassen sich Verfeinerungen dieser Unterscheidung denken und dann ist es nicht einsichtig, warum es zwischen Erscheinungsweisen zu fundamentalen Brüchen kommen sollte. Das Schema bietet so die Möglichkeit zu einer Vielzahl von differenten Phänomenen des Leibes, sie können sich innerhalb des Schemas von Ort zu Ort ändern. Es gibt, anders als in der Descartes’schen Gegenüberstellung von res cogitans und res extensa keine absolute Grenze innerhalb des Schemas. Die benachbarten Erscheinungsweisen sind in Bezug auf die Einflüsse von Bewusstsein* und Körper* durch ein Mehr und Weniger gekennzeichnet. Dennoch gilt zugleich zweitens, dass die Erscheinungsweisen nicht zusammengefasst werden können, zu einer kohärenten und homogenen Erscheinungsweise des gesamten Leibes. Der Leib fügt sich als Ganzer keiner Ordnung, wie es etwa der Körper als Phänomen tut oder ein Gedanke als Phänomen. Auch das Verhältnis der Phänomene und Erscheinungsweisen untereinander, an den verschiedenen Stellen des Chiasmus, bleibt für uns unanschaulich. Wäre der Leib ein Objekt, wie der Körper ein Objekt ist, dann wäre das Schema seine anschauliche Darstellung und die Verankerung zwischen Subjekt und Objekt, wie wir sie in der Folge der Gedanken von Merleau-Ponty zu erhalten versuchen, wäre verloren. Eine vollständige Anschaulichkeit des Leibes 188 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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wäre identisch mit einer vollständigen Transparenz unserer selbst. 47 Sie wäre auch identisch mit der Figur der Bewusstseinsphilosophie einer vollständigen Reflexion. Die Erscheinungsformen, die gleiche bzw. ähnliche Phänomene des Leibes in Ordnungsstrukturen vereinen, haben im Verhältnis zum Chiasmus einen nur begrenzten Umfang, das heißt, es gibt keine Erscheinungsform mit ausgeprägter Ordnung, die den ganzen Chiasmus umfassen könnte. Das heißt aber auch: Es gibt keine Erscheinungsform des ganzen Leibes, in der dieser als bestimmbares Phänomen erscheinen würden. Der Leib als Ganzer bleibt deshalb grundsätzlich jenseits der jeweiligen Erscheinungsweisen und zeigt sich in einzelnen Erscheinungsweisen auf je unterschiedliche Weise. In dieser Einschränkung steckt natürlich auch das fundamentale Ärgernis unserer Erkenntnissituation. Denn wir wünschen uns eine konsistente und verständliche Gesamtsicht des Leibes und auch der Wirklichkeit im Ganzen. Doch dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn wir zugleich den Ansatz des endlichen Erkennens als Ausgangspunkt eines phänomenologischen Realismus aufgeben. Dann verlieren wir aber durch eine scheinbare Eindeutigkeit die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Wirklichkeit und die Berücksichtigung unserer eigenen Verortung in der zu betrachtenden Wirklichkeit. Es bleibt eine Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsweisen des Leibes. Diese können wir sehr grob in die drei schon genannten typischen Bereiche unterteilen. Hier wird schon darüber hinaus klar, dass die klassische Unterteilung in zwei Erscheinungsweisen, wie dies das Schema von Descartes vorgibt, unzureichend ist. Die Tatsache, dass der Leib nicht als Phänomen sich zeigt, ist gleichbedeutend damit, dass es eine fundamentale Unterscheidung von Schema und Erscheinungsweisen gibt. Wer die Struktur des Chiasmus und die Phänomene der Erscheinungsweisen verwechselt, begeht unweigerlich einen Fehler. Wir haben, wie Kant in Bezug auf die Ideen sagt, »von dem Objekt, welches einer Idee korrespondiert, keine Kenntnis, obzwar einen problematischen Begriff (…).« 48 Der Chiasmus stellt nur eine abstrakte Struktur dar, die Erscheinungsformen einander zuordnet, ohne selbst Teil einer Erscheinungsform zu sein. Was auch immer die Identität des Leibes ist, es ist notwendiger Weise eine 47 Deren Unmöglichkeit ist gerade die Voraussetzung für Merleau-Ponty, dass wir nicht zu solipsistischen Wesen werden, vgl. Merleau-Ponty 1945: 403 f. 48 Kant 1787 (1): 339.

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solche, die nicht in eine konsistente Beschreibung überführt werden könnte. Wir müssen lernen, uns zu bescheiden. Es wird nach den Erkenntnissen im Anschluss an die Philosophie von Merleau-Ponty nicht möglich sein, eine wie auch immer geartete Letztbestimmung des Leibes vorzunehmen. 49 Weil der Leib unser Gesichtspunkt zur Welt ist, kann er nie selbst vollständig in unser Blickfeld geraten. Wäre der Leib in seiner Gänze bestimmbar, dann würde das nur von einem anderen »Ort« möglich sein. Welcher sollte nun der andere »Ort« sein? Der Leib als »Ort« 50 des Erkennens ist in diesem Sinne des phänomenologischen Realismus von fundamentaler Bedeutung. Die Verwechselung des regulativen Schemas mit einer Erscheinungsweise kann man auch mit dem Begriff der Perspektive erläutern. Die Verwechselung von Erscheinungsweise und Perspektive haben wir ja schon ausgeschlossen. Der Begriff der Perspektive ist aber auch nicht auf das Schema des Chiasmus im Ganzen anwendbar. Man könnte das Schema ja auch so lesen, als biete es eine Perspektive auf den Leib. Eine Instanz, wir, das Subjekt, blicken auf den Leib, der sich als Verflechtung von Bewusstsein und Körper darstellt. Zwei elementare Fehler weist eine solche Deutung des Schemas auf: Zum einen identifiziert sie die sich überkreuzenden Linien mit einem anschaulichen Bild vom Leib, zum anderen führt sie eine neue Subjekt-Objekt-Trennung ein, der Leib wird zu einem Objekt, wir, die wir aus den jeweiligen Perspektiven auf den Leib schauen, sind das Subjekt. Doch dann wäre nichts gewonnen. Denn dann müssten wir definieren, was das Subjekt sein soll, woraus es besteht, wenn wir doch auf den Leib schauen, der in seiner Gänze Objekt ist. Das Schema des Chiasmus hat eine enge Verbindung mit der Intuition, die Merleau-Ponty bei der Betrachtung der sich berührenden Hände hatte. Hier zeigte sich der Leib sowohl als Subjekt wie auch als Objekt. Dieses Verhältnis ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis unserer eigenen Leiblichkeit, sie gilt für jede Perspektive, die wir bislang besprochen haben. Dies ist auch der eigentliche Grund dafür, warum wir die Erscheinungsformen nicht zu einem vollständigen Bezogen auf die phänomenologische Reduktion sagt er: »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist also die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion. Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem.« Merleau-Ponty 1945: 11. 50 Es ist aus dem Gesagten deutlich, dass der Begriff »Ort« hier metaphorisch gemeint ist. Der Leib ist also kein ausgezeichneter Ort in dem Raum, in dem wir uns befinden. Der Ort ist vielmehr das »unmotivierte Entspringen« von Welt, wie Merleau-Ponty sagt, ibid. 49

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und anschaulichen Bild von dem Leib fügen können. Der Leib ist stets Subjekt und Objekt zugleich. Es gibt kein Subjekt, das sich außerhalb des Leibes befände und ihn zum Objekt nehmen könnte. Dennett hatte die Behauptung aufgestellt, dass durch die Methode der Heterophänomenologie alles in der Wirklichkeit beschrieben werden kann. Diese Methode ist um ein möglichst großes Maß an Objektivität bemüht, will also die eigene Verflochtenheit mit der Wirklichkeit, die man betrachtet, weitgehend ausschalten. Die Theorie der Haltungen (stances) gegenüber dem menschlichen Leib führt zwar zu einer Differenzierung, sie ist aber nicht so groß, dass die unterschiedlichen Beobachtungshaltungen nicht noch immer auf das Eine, Gegebene weisen würden. Deshalb betrachtet Dennett, bedingt durch die methodische Verengung den Leib aus einer Perspektive. Der zu untersuchende Mensch steht idealtypisch vor dem Menschen, der ihn untersucht. Mit allen verfügbaren Informationen über den Körper und sein auch sprachliches Verhalten ausgestattet, kann man, so Dennett, mit der heterophänomenologischen Methode den Leib vollständig erschließen. Der Mensch ist ein eingekapseltes Wesen, ein komplexes Wesen mit Innenleben. Nur unter der Annahme, dass es eine einzige Methode gibt, die darüber entscheiden kann, was wirklich ist und was nicht, ist eine solche Reduktion plausibel. Doch das Schema des Chiasmus gibt hier einen Hinweis, welche Folgen eine solche Reduktion hat. Das Schema zeigt, dass diese methodische Verengung eine einzige Erscheinungsweise des Leibes in den Mittelpunkt stellt, nämlich die Erscheinungsweise des Leibes als Körper, die anderen Erscheinungsweisen werden in ihrer Selbständigkeit in Frage gestellt, unser Bild vom Leib verarmt unweigerlich. Am deutlichsten ist Irreduzibilität der Erscheinungsweisen natürlich an den gegenüberliegenden Rändern des Schemas: Die Gedanken lassen sich nicht auf die Beschreibung neuronaler Aktivitätsmuster reduzieren und diese wiederum nicht auf Gedanken. Hier liegt eine sehr begrenzte Berechtigung der Annahmen von Descartes. III. Subjekt und Objekt im Verhältnis zum Chiasmus Das Schema kann man weiterhin zu den Begriffen Subjekt und Objekt ins Verhältnis setzen. In der Interpretation des Entwurfes von Descartes sind die Verhältnisse klar: Die res cogitans kann dem Subjekt, die res extensa dem Objekt zugeordnet werden und beide »stehen sich ge191 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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genüber«. Wie kann eine Übertragung dieser Verhältnisse auf den Chiasmus aussehen? Wenn man nun Subjekt, res cogitans, mit der Größe des Bewusstseins* identifiziert und Objekt, res extensa, mit der Größe des Körpers*, dann zeigt sich, dass eine klare Aufteilung zwischen diesen Größen in dem Schema nicht mehr möglich ist. Die Gleichsetzung von Subjekt mit Bewusstsein* einerseits und Objekt mit Körper* andererseits zeigt lediglich, dass alle Erscheinungsformen durch beide bestimmt sind, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Subjekt und Objekt werden zu unbestimmten Größen, die keinen eindeutigen Ort innerhalb des Schemas mehr haben. In gewisser Weise entstammen die Phänomene aller Erscheinungsweisen der Vermittlung von Subjekt und Objekt. Dies ist nur eine andere Ausdrucksform für das Zwischen, das wir bei der Darstellung der Gedanken von Merleau-Ponty in den Mittelpunkt gestellt haben! Eine derart unspezifische Zuordnung legt den Gedanken nah, ganz auf die Begriffe »Subjekt« und »Objekt« zu verzichten. Allerdings bleibt die Frage zu klären, warum diese Begriffe über einen doch recht langen Zeitraum so prägend gewesen sein konnten und es heute auch noch sind. Sie scheinen trotz einer diffizilen Uneindeutigkeit Inhalte zu transportieren, die bestimmte starke Intuitionen zum Ausdruck bringen. Man kann zwei Intuitionen unterscheiden und dementsprechend auch zwei unterschiedliche Verwendungen der Begriffe: die Intuition, dass wir uns im Gegenüber zur Welt befinden, und die Intuition, dass Wissen über die Wirklichkeit umso sicherer ist, je stärker Ordnungsstrukturen vorherrschen und begriffliche Präzision möglich ist. In dem ersten Fall bringen die Begriffe Subjekt und Objekt den Sachverhalt zum Ausdruck, dass wir uns von der Wirklichkeit differenzieren können, dass wir sie als ein Gegenüber erleben können. Wir haben selbst, um das Vorhaben von Merleau-Ponty beschreiben zu können, immer wieder Formulierungen wie »zwischen Subjekt und Objekt« oder »jenseits von Subjekt und Objekt« gewählt. Wieso haben diese Formulierungen eine erläuternde Kraft? Die Aufteilung zwischen Subjekt auf der einen Seite und Objekt auf der anderen Seite knüpft an eine tief sitzende Intuition an, die unser Verhältnis zur Welt als ein Gegenüber beschreibt. Wir haben Erfahrungen mit den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gedanke und als Körper und wir wissen um die Unterschiede zwischen den Erscheinungsweisen. Wir leben in einer Kultur, die die Absonderung des Bewusstseins von der zu beobachtenden Welt zu einem Grundpfeiler ihrer Interpretation der Wirklichkeit 192 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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gemacht hat. Beide Faktoren zusammen, also die richtige Beobachtung und die kulturell vorgegebene Deutung führen zu der sehr großen Überzeugungskraft der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke sprechen wir dann unserem »inneren« Ich zu, die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Körper dagegen der »äußeren« Welt. In gleicher Weise werden die Eigenschaften »subjektiv« für jene Phänomene genutzt, die wir dem »inneren« Ich zuordnen, »objektiv« dagegen für die Phänomene der »äußeren« Welt. Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt findet also eine Begründung in der Unterschiedlichkeit dieser Erscheinungsweisen. In unserer Kultur ist nun die Unterscheidung in eine Trennung übergegangen. Ihre kategoriale Trennung bei Descartes aber ist eine dramatische Verkürzung in der Beschreibung der Wirklichkeit, die zu Fehlinterpretationen führt und die in der Regel dazu neigt, der Ortlosigkeit des Subjekts Vorschub zu leisten. 51 Das Schema des Chiasmus lässt dennoch einen eingeschränkten Gebrauch der Begriffe von »Subjekt« und »Objekt« weiter zu. Auf der einen Seite ist eine kategoriale Trennung der Wirklichkeit in zwei Sphären unmöglich. Auf der anderen Seite aber legt das Schema nah, dass es Differenzen zwischen den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit gibt nach der Maßgabe, in welchem Verhältnis die Größen Bewusstsein* oder Körper* zueinander stehen. Deshalb bleibt es möglich, die Adjektive subjektiv und objektiv auf das Schema nicht in einer absoluten, aber in einer komparativen Weise zu verwenden. Die Erscheinungsformen des Leibes haben nach dem herkömmlichen Gebrauch dieser Begriffe einen mehr subjektiven oder einen mehr objektiven Charakter. Meine Gedanken sind eher subjektiv, mein Fuß ist eher objektiv. Der Status des Objektiveren ist dadurch gegeben, dass die Erscheinungsform weniger durch das Bewusstsein* geprägt ist. Der Status des Subjektiveren ist dadurch gegeben, dass das Bewusstsein* die Erscheinungsform dominiert. So gibt der Chiasmus einen Ausdruck für ein Gefälle zwischen subjektiveren Erscheinungsformen und objektiveren Erscheinungsformen. Die hypothetische Ordnung, die der Chiasmus für die Erscheinungsweisen des Leibes bietet, kann deshalb auch auf die folgenden 51 »Denn das Subjekt, das derlei Theorien entwirft, befindet sich seit den cartesischen Meditationen sozusagen außerhalb der Natur. Es kann auf seinen eigenen Ort in der von ihm entworfenen Theorie nicht reflektieren.« Link 1978: 302.

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Art gelesen werden: Es gibt hier ein Gefälle zwischen solchen Erscheinungsweisen des Leibes, die in der Regel ein größeres Identifikationspotential bieten und solchen, bei denen dieses Identifikationspotential üblicherweise nicht so stark ausgeprägt ist. Gedanken nehmen wir als unsere Gedanken wahr. Wir erleben uns, sofern wir nicht schweren pathologischen Störungen oder Bewusstseinstrübungen ausgesetzt sind, als diejenigen, die die Gedanken aktiv gestalten. Hier ist der Grad der Identifizierung größtmöglich. Allerdings ist sie auch hier nicht vollständig und nicht unumgänglich, auch dafür kann der Chiasmus einen Hinweis geben. Die Gedanken sind ja nie reines Bewusstsein* sind, sondern unterliegen stets noch anderen Einflüssen, dem des Körpers*, sie sind immer ein Produkt der Verschränkung. In der alltäglichen Wahrnehmung können wir beobachten, dass wir uns über unsere eigenen Gedanken wundern, dass wir ungeahnte Gedanken als einen »Einfall« wahrnehmen. Also sind wir auch in die Gedanken nicht ganz bei uns selbst. Auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich die Erscheinungsweise des Körpers. Hier ist es uns möglich, uns weitestgehend von ihm zu unterscheiden. Wir können den Körper als eine Masse wahrnehmen, der von bestimmten, messbaren Masseeigenschaften bestimmt ist. Das geschieht schon in der einfachen Form dann, wenn wir uns auf die Waage stellen. Die Fähigkeit, sich vom eigenen Körper zu distanzieren, findet auch in dem Zweifel Descartes’ einen Ausdruck. Sein Eindruck, dass er sich über seinen Körper auch täuschen kann, ist eben bestimmt durch unsere Fähigkeit, uns von unserem Körper zu distanzieren. 52 Aber das Schema des Chiasmus zeigt mit größerem Realismus, dass eine Unterscheidung nie vollständig gelingen kann. Es ist immer auch möglich, sich in hohem Maße mit dem eigenen Körper zu identifizieren. So kann der Körper zu dem »Subjekt« werden, das die Welt untersucht. Im Ganzen zeigt sich im ganzen Spektrum ein Gefälle von größtmöglicher Identifizierung bis hin zur geringsten Identifizierung mit den Erscheinungsweisen des Leibes, von einem hohen Beteiligungsgrad bis hin zu einem sehr geringen Beteiligungsgrad. Die Wirklichkeit des Leibes ist nicht homogen, unterschiedliche Erscheinungsweisen zeigen unterschiedliche Ausprägungen. Die zweite Intuition, die durch die Begriffe subjektiv und objektiv zum Ausdruck kommt, ist die, dass es Erscheinungsformen der Wirklichkeit gibt, die eher sprachlich schwer zu vermitteln sind und solche, 52

Vgl. Descartes 1641: 35.

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die durch begriffliche Ordnungen klar gegliedert und strukturiert sind. Diese zweite Bestimmung von subjektiv und objektiv nimmt eine Beobachtung von Popper auf, der sich seinerseits auf Kant bezieht: »Kant verwendet das Wort ›objektiv‹, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse als (unabhängig von der Willkür des einzelnen) begründbar zu charakterisieren (…).« 53 Entsprechend gilt umgekehrt: »Das Wort ›subjektiv‹ bezieht sich bei Kant auf unsere Überzeugungserlebnisse (verschiedenen Grades).« 54 Dies entspricht auch einem weit verbreiteten Gebrauch der Worte, nach denen das Subjektive schwer nachprüfbar, idiosynkratisch ist und deshalb in seiner verallgemeinerbaren Aussagekraft als fragwürdig zu gelten hat. Bei dem hier vorgeschlagenen Schema des Chiasmus kann das Wort »subjektiv«, so wie es Popper verwendet, allein auf die mittlere Erscheinungsform bezogen werden. In dieser Erscheinungsform ist der Grad der sprachlichen Vermittlung gering, wie wir später noch sehen werden. Die Verbindung von Objektivität mit wissenschaftlicher Erkenntnis ist eng und insbesondere im 19. Jahrhundert ausgebaut worden: »Die Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität ist überraschend kurz. Sie begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts und etablierte sich im Laufe weniger Jahrzehnte nicht nur als wissenschaftliche Norm, sondern auch als Instrumentarium für Praktiken einschließlich des Entwerfens und Herstellens von Bildern für wissenschaftliche Atlanten.« 55 In der Diskussion des wissenschaftlichen Erkennens werden wir auf diesen Gebrauch der Worte subjektiv und objektiv wieder zurückkommen (Kapitel 11.3.). Auch wenn die Diskussion in der Wissenschaft über einfache Vorstellungen von Objektivität weit hinausgegangen ist, ist die Unterscheidung von alltäglichem Erkennen und wissenschaftlichem Erkennen nach wie vor durch den Grad von Objektivität gut zu beschreiben. Die Gleichsetzung der beiden Weisen des Gebrauchs von subjektiv mit innerlich und unsicher bzw. von objektiv mit äußerlich und gewiss manifestiert eine Vorstellung, die unseren Alltag beherrscht. Hiernach ist die Welt geteilt, in eine innere Sphäre, die subjektiv ist, und eine äußere Sphäre, die objektiv ist. Wie wir in der Einleitung schon festgestellt haben, ist mit dieser Aufteilung und der damit einhergehenden Verkürzungen der Vorstellungen von der Wirklichkeit ein Kernpro53 54 55

Popper 2005: 21. Ibid. Daston, Galison 2007: 28.

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blem bezeichnet, worum es uns hier geht. Eine starre Verbindung der beiden Intuitionen von Gegenüber und sprachlich mitteilbaren Ordnungsstrukturen führt auch zu Widersprüchen. In Hinsicht auf die sprachliche Vermittelbarkeit ist die Erscheinungsform X (Gefühl) sicherlich am geringsten ausgebildet, in der zweiten Hinsicht der Unterscheidung von subjektiv und objektiv also am »subjektivsten«. In Hinsicht auf die Positionierung als Gegenüber zur Welt sind die Gefühle dagegen in einer Mittelstellung zwischen den Gedanken und dem Körper, die Gefühle sind in dieser Hinsicht also »objektiver« als die Gedanken, sie sind viel stärker in die Welt der Dinge eingebunden und von ihr bestimmt. Eine absolute Ordnung von objektiv und subjektiv ist also nach dem Chiasmus nicht möglich. Vielmehr haben die Begriffe einen relationalen Charakter und man muss genau darauf achten, in welchem semantischen Kontext die Begriffe verwendet werden. Folglich sollten wir die Begriffe subjektiv und objektiv mit großer Sorgfalt verwenden. Andererseits ist ein völliger Verzicht kontraproduktiv, da viele Aussagen sonst umständlich in andere Worte gefasst werden müssten. Es kommt also darauf an, den Kern der beiden Intuitionen, der sich ja auch über den Gebrauch des Chiasmus erschließen lässt, zu bewahren, ohne die Differenzen von Innen und Außen und von »sicher« und »unsicher« durch quasi metaphysische Überhöhungen absolut zu setzen. Wir nutzen die Begriffe objektiv und subjektiv im Sinne von graduellen Unterschieden. Die substantivierte Form als »Subjekt« oder »Objekt« ist wegen der genannten Doppeldeutigkeiten und Gefahren der Reifizierung außerhalb grammatikalischer Verwendungen besser zu vermeiden. IV. Zur Interpretation des Chiasmus im Ganzen Das Schema des Chiasmus kann dadurch ein zentrales Anliegen des Ansatzes von Merleau-Ponty, die Dimension zwischen Subjekt und Objekt auszuleuchten, berücksichtigen und zugleich kann es einen Zugang zu den Ordnungen bieten, die wir in der Wissenschaft und im Alltag erleben. Die Erscheinungweise X (Gefühl) in der Mitte des Chiasmus ist, wie noch zu zeigen sein wird, für die Interpretation des Wahrnehmungsglaubens dabei von besonderer Bedeutung. Neben der Zone der Überschneidung der Linien gibt es in demselben Schema aber auch die Regionen an den Rändern, in denen bei den zugeordneten Erscheinungsweisen des Leibes ohne allzu große Fehler der Einfluss der 196 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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jeweils anderen Größe der Verschränkung (Körper* oder Bewusstsein*) vernachlässigt werden kann. Hier sind ausgeprägte Ordnungen möglich, wie sie in der naturwissenschaftlichen Beschreibung des Körpers oder in der Mathematik oder der Logik ihren Ausdruck finden. Damit ist der Chiasmus in der Lage, Erscheinungsformen des Leibes, die scheinbar unabhängig von dem Wahrnehmungsglauben gegeben sind, mit diesem in eine Verbindung zu setzen. Wenn ich von meiner leiblichen Existenz, in der sich das ganze Spektrum der Erscheinungsweisen zeigt, absehe und gleich bei den Entitäten der Wirklichkeit beginne, die sich mir in der Wirklichkeit als Gegenüber zeigen, verstellt sich der Weg, das ganze Spektrum der Erscheinungsweisen zu erschließen. Ist dann einmal die Welt als Referenzrahmen definiert, gelingt es nicht mehr die Erscheinungsweisen des Leibes außer jener als Körper noch angemessen zu berücksichtigen. Die Bindung an den eigenen Leib ist damit die notwendige Voraussetzung für ein Erkennen, das die leiblichen Bedingungen des Erkennens berücksichtigt. Zugleich ist dieser Ansatz kein Solipsismus. Doch das lässt sich erst in einem späteren Schritt in Kapitel 7 zeigen, der dann auch offen legt, dass all das, was wir bisher über die Erscheinungsweisen des Leibes gesagt haben, nicht einfach immer und überall in unmittelbarer Weise gegeben, sondern in hohem Maße kulturell und biographisch vermittelt ist. Es gehört auch zu der Endlichkeit des Erkennens, dass wir, wenn wir über dieses Erkennen nachdenken, uns nicht aus der Kultur und unserem Standpunkt innerhalb der Geschichte lösen können. Die Erscheinungsweisen des Leibes stehen in einer kontinuierlichen Geschichte der leiblichen Existenz der Menschen. Doch diese spätere Erkenntnis darf nicht am Anfang stehen, weil wir uns sonst zu schnell von unserem Ausgangsort distanzieren und über »die Menschheit«, »die Geschichte« oder die Konstitution »des Menschen« im Allgemeinen nachdenken und in der Gefahr stehen, die eingangs skizzierte Perspektive der Leonardo-Welt aufzunehmen. Damit verleugnen wir aber unsere Verhaftetheit in der Wirklichkeit, unseren »Erkenntnisort« im eigenen Leib. Der Leib ist in seiner Gänze nach MerleauPonty unser Gesichtspunkt zur Welt. Auf diese existentielle Situation bezieht sich das Schema des Chiasmus. Zur umfassenden Bestimmung der Wirklichkeit kann es nicht genügen, die Leiblichkeit allgemein definierter Menschen zu berücksichtigen, es muss zunächst darum gehen, mit der je eigenen Leiblichkeit zu beginnen. Die Formulierung, die wir bei der Beschreibung der Erscheinungs197 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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formen gefunden hatten, dass der »Leib sich sich selbst zeigt«, entspricht einer Bestimmung der menschlichen Existenz, die von Sören Kierkegaard stammt. In der Schrift »Krankheit zum Tode« findet Kierkegaard für die menschliche Existenz folgenden Ausdruck: »Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« 56 Dieser Ausdruck kann mit den hier eingeführten Begriffen interpretiert werden. Auch bei dem Ansatz Kierkegaards kann die Existenz als ein Inter-esse, als ein Zwischensein zwischen Denken und Sein interpretiert werden. Deuser notiert zu der Existenzauffassung Kierkegaards: »Nicht mehr tritt die Existenz aus ihrer vorrangigen Wesensbestimmung bloß hervor – wie die philosophische Tradition bis zu Hegel es aufgefasst hatte (…) – sondern umgekehrt ist das faktische Existieren und mein Interesse zwischen Denken und Sein, Denken und Handeln dem Erkenntnisakt gegenüber ontologisch vorausliegend.« 57 So lässt auch manche Formulierung bei Merleau-Ponty, die die leibliche Existenz näher bestimmt, diese Kierkegaard’sche Formulierung anklingen: »So kann man sagen, dass der Leib ›eine verdeckte Form unseres Selbstseins‹, oder umgekehrt, dass die persönliche Existenz Übernahme und Bekundung eines schon gegebenen Seins in der Situation ist. (…) Und auf diese Weise ist der Leib Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie sich in ihm realisiert.« 58 In und durch den Leib also realisiert sich die menschliche Existenz, die nach Kierkegaard nur paradoxal beschrieben werden kann. Er ist ein aktiv-passives Verhältnis. 59 Der Leib erscheint stets selbstbezüglich, er erscheint als Teil der Wirklichkeit sich selbst, er ist ein Verhältnis, das auf sich selbst bezogen ist. Im Kern dieser Bestimmung des Leibes steht das reflexive Verhältnis, der Leib erscheint nur als Selbstverhältnis, als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. 60 Es gibt nach dem Chiasmus keine klare Trennung zwiKierkegaard 1849: 13. Deuser 1985: 111. 58 Merleau-Ponty 1945: 198. 59 Böhme betont insbesondere den aktiven Aspekt, wenn er das Leibsein als Aufgabe versteht. Dabei betont aber auch er in Analogie zu Kierkegaards Existenzbegriff die Dialektik von Gabe und Aufgabe, vgl. Böhme 2003: 72. 60 Der Leib hat einen konstitutiven Selbstbezug. Ihn zu erfassen, bedeutet, seiner selbst gegenwärtig zu werden. Dies ist eine Grundvoraussetzung für das endliche Erkennen. 56 57

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schen einem »Subjekt« und einem »Objekt«, der Leib wird nicht von einer anderen Instanz wahrgenommen, er nimmt sich selbst wahr, er ist ein Verhältnis (von Bewusstsein* und Körper*), das sich zu sich selbst verhält (in der Verschränkung des Chiasmus). Die Bestimmung des Leibes kann im Kern deshalb an die grundlegenden Erkenntnisse von Sören Kierkegaard anknüpfen, ohne allerdings in der Paradoxie verharren zu müssen, da das Selbstverhältnis als Verschränkung innerhalb des Schemas eine Ausdehnung hat und so unterschiedlichen Orten unterschiedliche Erscheinungsweisen zugewiesen werden können. Die hier erläuterte Auffassung des Chiasmus als Schema der Erscheinungsweisen des Leibes soll bei den folgenden Betrachtungen vorausgesetzt werden. Dabei wollen wir uns schrittweise von einfacheren Strukturen zu komplexeren vorarbeiten. Zunächst wenden wir uns in einer ausführlicheren Betrachtung den Erscheinungsformen des Leibes an den Rändern des Chiasmus zu. Dann folgt eine Begründung, warum so unterschiedliche Erscheinungsweisen überhaupt als Erscheinungsweisen ein und desselben, des Leibes nämlich, gedacht werden können. In einem letzten Schritt dann versuchen wir eine Interpretation der mittleren Erscheinungsweise.

5.

Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

Die Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke ist in der Folge der Philosophie von Descartes über eine lange Zeit in das Zentrum des philosophischen Nachdenkens gestellt worden. Dabei haben sich im Laufe der Philosophiegeschichte bestimmte begriffliche und logische Ordnungen etabliert, die immer wieder unterschiedlich interpretiert und neu akzentuiert wurden. Gedanken können als Aussagen in einem logischen Verhältnis zueinander stehen. Die Logik ist ein Komplex von Regeln, die den Zusammenhang von Aussagen zueinander (Aussagenlogik) und innerhalb von Aussagen (Prädikatenlogik) ordnen. Es gibt nicht nur eine einzige Form der Logik, im Laufe der Zeit sind verschiedene Formen etabliert worden: Aussagenlogik, Prädikatenlogik, Modallogik, zwei- und mehrwertige Logiken usw. Weitere Regelwerke Hierin gleicht es dem sokratischen Wissen: »Dieses Wissen ist nicht ein Denken, auch nicht das Denken des Denkens, es hat keinen Gegenstand, sondern es ist eben, wie Sokrates selbst sagt, nur eine Art innerer Helligkeit, ein waches Sich-Selbst-Begleiten, Bewusstheit.« Böhme 2002: 114.

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dieser Erscheinungsweise sind etwa die Mathematik in ihren verschiedenen Teilbereichen wie Geometrie, Algebra, Analysis. Weiterhin haben sich in den Wissenschaften viele theoretische Gebilde herausgeformt, in denen Begriffe eine fest definierte Ordnung haben. Hier zeigen sich feste Strukturen, denen die Gedanken genügen müssen, wenn sie zueinander in ein kohärentes Verhältnis gesetzt werden sollen. Die hier mögliche Klarheit der Unterscheidungen zwischen richtig und falsch hat das Leitbild des klaren und eindeutigen Erkennens genährt. Nicht von ungefähr haben die Neuerer der Interpretation der Wirklichkeit im 17. Jahrhundert die Welt nach dem Vorbild der Mathematik verstehen wollen. 61 Hier zeigt sich, dass diese Erscheinungsweise die Möglichkeit zu einer starken Ordnung bietet. Aufgrund unserer bisherigen Überlegungen aber können wir folgern, dass die Ordnungsvorstellungen, die hier gelten, nicht einfach auf andere Erscheinungsweisen übertragen werden können. Würde eine solche Übertragung möglich sein, ließe sich eine zusammenhängende Darstellung aller Erscheinungsweisen unter Beachtung dieser gemeinsamen Regeln denken und dann wäre auch eine geschlossene Darstellung der Summe aller Erscheinungsweisen möglich. Doch nicht nur die Gedanken gehören zu dieser Erscheinungsweise, auch die Vorstellungen und Bilder. Wir können Bilder imaginieren, wir können Vorstellungen entwickeln. 62 Wenn wir das tun, zeigt sich die Wirklichkeit ebenfalls in der Erscheinungsweise als Gedanke. Wir kennen zweierlei Arten von »Bildern«: jene, die wir imaginieren können oder solche, die etwas abbilden, und zum anderen unsere optische Wahrnehmung der Dinge. Ein Teil der philosophischen Tradition hat das Sehen als Abbilden interpretiert. 63 Das Sehen darf aber nicht mit gemalten oder imaginierten Bildern verwechselt werden. Wir werden dies so deuten, dass wir keine Bilder von den Dingen sehen, sondern schlicht Phänomene der Wirklichkeit, die sich als Dinge zeigen. 64 Vgl. Descartes 1637: 33. Angesichts der Tatsache, dass auch Vorstellungen zu dieser Erscheinungsweise gehören, ist, wie wir schon festgestellt haben, die Wahl fragwürdig, dieser Erscheinungsweise den Index »Gedanke« zu geben. Doch ist es leider so, dass es kein eindeutiges und umfassendes Kürzel gibt, das die Erscheinungsweise erfassen könnte. Der Begriff »Bewusstsein« ist zu sehr belastet und gibt Fehldeutungen zu leicht Anlass, denn hier steht eine lange Geschichte der Fehlinterpretation im Weg. 63 Vgl. Wiesing 2002: 22 f. 64 Ähnlich plädiert Colin McGinn für die klare Unterscheidung von Wahrnehmen und 61 62

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Hier verhält es sich ähnlich wie mit dem Gebrauch der Sprache. Die Sprache bildet nicht die Dinge ab (vgl. Kap. 6.3.). Die Fähigkeit, Bilder zu imaginieren, ist sehr rätselhaft und scheint einer der Fähigkeiten zu sein, die für die Menschwerdung zentral war. 65 Insofern, das nimmt Ergebnisse der phylogenetischen Entwicklung aus Kap. 7.5. vorweg, kann man die Vorstellungen innerhalb der Struktur des Chiasmus weiter innen positionieren, während die Gedanken weiter außen angesiedelt sind. Auch die Vorstellungen und Imaginationen haben wie die Gedanken keine definierte räumliche Ausdehnung. Dies ist eines der entscheidenden Kennzeichen der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke. Die Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke erleben wir als aktiven Pol innerhalb der Welt. Hier sind wir am ehesten mit uns selbst in Kontakt, hier können wir uns nicht distanzieren. Darin liegt die Motivation für die Interpretation von Descartes begründet, die Identität im Denken zu verankern: cogito sum. Der Leib ist in dieser Erscheinungsweise als Zentrum von Handlungen gedeutet worden, als Instanz, die sich Ziele setzt, die sie erreichen will. Wenn man nun diese Erscheinungsweise als Bewusstsein im traditionellen Sinne deutet, dann führt das schnell zu Fehlschlüssen, denn dann wird das Bewusstsein etwa in einen vorgegebenen Raum der Erscheinungsweise des Leibes als Körper eingeordnet. Das Bewusstsein ist dann an jenem Ort, bei dem die Linien konvergieren, die seit der Renaissance die Maler anleiten, die Gegenstände auf den Bildern perspektivisch darzustellen. In gewisser Weise zeigen diese Linien als Linien des dreidimensionalen Vorstellen. Allerdings unterscheidet er ebenso Vorstellen und Gedanken: »Meine Schlussfolgerung ist mithin, dass Vorstellungen geistige Gebilde sui generis sind; sie sollten als dritte große Kategorie der Intentionalität neben die Zwillingssäulen von Wahrnehmung und Kognition gestellt werden.« McGinn 2007: 49. Allerdings muss er auch konzidieren, dass »Vorstellungen und Gedanken einander in ihren Eigenschaften überraschend ähnlich« (a. a. O.: 47) sind. 65 Lewis-Williams stellt in seiner Studie »The Mind in the Cave« dar, dass über das Anfertigen von Bildern in der Höhlenmalerei sich die Menschengruppen von den Neanderthalern zu unterscheiden begannen. Vgl. Lewis-Williams London 2002. Seiner Ansicht nach darf man die Fähigkeit zu Vorstellungen nicht unterschätzen und möglicherweise ist sie höher zu bewerten als der Werkzeuggebrauch. Die Fixierung auf technische Rationalität kommentiert er ironisch »they (scil western sientists) regard rational intelligence, as they themselves experience it, as the defining characteristic of human beings. (…) As they see it, early people were becoming more and more like western scientists.« Lewis-Williams 2002: 111.

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Raumes scheinbar auf das Zentrum unserer Welt, nämlich den Ort, von dem aus wir die Welt als Gegenüber betrachten. 66 Durch die Verortung des Beobachtungspunktes als Bewusstsein haben wir die Intuition, dass wir uns der Welt gegenüber befinden. Das Bewusstsein im traditionellen Sinne erfährt sich weiterhin als eigenständige und geschlossene Sphäre, ein Tatbestand, der eine Distanzierung von dem unmittelbar Gegebenen ermöglicht. Das hat darin seine Berechtigung, dass man nachvollziehen kann, wie sich Gedanken auf Gedanken beziehen, dass aber keine Wirkmechanismen erlebt werden können, wie sich Gedanken auf Körper beziehen. Hier scheint ein fundamentales Andersein, eine kategoriale Trennung vorzuliegen. Das Schema des Chiasmus lässt eine Einordnung der Phänomene der Gedanken in die Erscheinungsweise des Leibes als Körper nicht zu. Andererseits: Die Erscheinungsweise als Gedanke ist kein isolierbares und geschlossenes Gegenüber, sondern ist schlicht eine Menge von Phänomenen mit bestimmten Eigenschaften. Ob man diese Erscheinungsweise als »Gegenüber« zu anderen Erscheinungsweisen verstehen kann, kann nicht geklärt werden, weil es keinen Ort gibt, von dem aus diese Frage beantwortet werden könnte. Doch schon die räumliche Metapher des Gegenübers ist fragwürdig, denn es ist ungeklärt, wie man Phänomene, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie keinen definierten Raum zugeordnet werden können, wiederum mit räumlichen Größen in Beziehung setzt. Hier beginnt ein weites Feld der Spekulation. Das Schema des Chiasmus verhält sich hier zurückhaltender. Es ordnet aufgrund gewisser Charakteristika lediglich die Phänomene in unterschiedliche Erscheinungsweisen und verbindet diese nicht in einer umfassenden konsistenten Vorstellung, die alles zueinander erklärend in ein Verhältnis setzt. Die Erscheinungsweise am entgegengesetzten Ende des Chiasmus zeigt den Leib als Körper. Der Körper erscheint als Teil der beobachteten Welt. Er ist passiv und unterliegt einer Vielzahl von Kräften und Einflüssen. Er kann seinerseits in einer wechselnden Perspektive erscheinen, er zeigt sich nie ganz, sondern so wie auch die materiellen Dinge nur mit einer zugewandten Seite. Mit Hilfsmitteln wie Spiegeln oder Fotographien oder anderen Projektionstechniken können wir uns unseren Leib als Körper im Ganzen ansichtig machen. Wir können ihn Diese Perspektive ist eine Ordnungs- und Herrschaftsperspektive, nicht aber die erlebte Perspektive, vgl. Merleau-Ponty 2003 (1): 10.

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auch mit allen zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Messmethoden erkunden. Er führt uns mitten in die Welt der Dinge hinein und macht deutlich, dass der Körper als Beobachter ein endlicher Teil der Wirklichkeit ist, die er beobachtet. Wir haben gesehen, dass in der Folge der Etablierung der naturwissenschaftlichen Methoden die Welt als res extensa in einer sehr umfassenden Weise messund gestaltbar wurde. Hierzu gehört insbesondere auch der Leib in seiner Erscheinungsform als Körper. Er ist bestimmten Gesetzen unterworfen, die im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung immer deutlicher werden. Zunächst ist der Körper ein physikalisches Objekt, dem man eine bestimmte Masse zuweisen kann, die zum Beispiel der Schwerkraft, aber auch der Trägheit unterworfen ist. Weiterhin kann der Körper mit den chemischen Methoden untersucht werden. So zeigt sich, dass er zum größten Teil aus Wasser besteht, dass sich in ihm aber besonders wichtige organische Verbindungen, insbesondere die Aminosäuren, befinden, die in den vitalen Abläufen eine entscheidende Rolle spielen. Der Körper lässt sich schließlich auch als biologische Entität, als Organismus analysieren. Hier lassen sich die Mechanismen der Fortpflanzung und der Vererbung wie auch der komplexe Zellaufbau mit der Spezialisierung vieler einzelner Zellen beschreiben. Der Körper ist alles andere als eine regellose Ansammlung von Phänomenen. In all den Gesetzen wirkt wie eine »Metaregel« die Annahme, dass alle Phänomene miteinander in einem kausalen Zusammenhang stehen. Alle Prozesse sind ohne Ausnahme determiniert: Kein Zustand des Körpers ist unableitbar einfach aus dem Nichts entstanden, jeder Zustand ist abgeleitet aus dem vorigen Zustand, der ihn eindeutig festlegt. 67 Im Fazit gilt: Auch in der Erscheinungsweise des Körpers kann man also für die Phänomene klare Ordnungen identifizieren. Wiederum sind die Ordnungen beschränkt auf die Erscheinungsweise, denn sie sind mit den Methoden korreliert, die den Körper als Körper untersuchen. Diese Methoden aber setzen voraus, dass wir uns von dem Körper distanzieren können und ihn in quasi »objektiver« Weise betrachten. Erst diese Methoden der Distanzierung und Objektivierung haben in mühsamer empirischer Kleinarbeit die Ordnungen erforschen können, die für den Leib in seiner Erscheinungsform als Körper gelten. 67 Die Besonderheiten quantentheoretischer Betrachtungen kann man mit Heisenberg vielleicht so lösen, dass diese Phänomene Teil einer leicht verschobenen Erscheinungsweise sind, vgl. Kap. 11.3.D.

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Mit der Unterscheidung der Erscheinungsformen des Leibes an den Enden des Spektrums, mit dem Leib in der Erscheinungsweise als Gedanke und dem Leib in der Erscheinungsweise als Körper sind wir sehr nah an unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Wir gehen ständig mit beiden Erscheinungsformen um und wechseln mühelos zwischen ihnen hin und her. Wir achten auf unsere Gedanken oder wir achten auf Teile unseres Körpers. Immer wieder, von Augenblick zu Augenblick, kann die eine Erscheinungsweise einer anderen Erscheinungsweise folgen. 68 Der Leib zeigt sich in jeder der beiden hier besprochenen Erscheinungsweisen radikal anders. Und doch handelt es sich um ein und denselben Leib. Dessen sind wir gewiss und kennzeichnen das dadurch, dass wir sowohl die Gedanken als auch den Körper mit dem Index »mein« versehen. Im alltäglichen Umgang haben wir eine deutliche Vorstellung, dass beide Erscheinungsformen eine eigenständige Existenz haben und dass nicht die eine auf die andere reduziert werden kann, auch wenn sie sich natürlich aufeinander beziehen lassen. Diese Intuition der »Identität« des Leibes in den je verschiedenen Erscheinungsformen ist der einzige Grund dafür, von einem Leib zu reden und die verschiedenen Erscheinungsformen als solche eines Leibes zu werten. Die Gleichzeitigkeit von Unanschaulichkeit im Ganzen und Zusammengehörigkeit führt zu der bleibenden Akzeptanz überlieferter Begriffe, wie den der Seele oder der grundlegenden intuitiven Unterscheidung von Innen und Außen. Hierdurch ist es möglich, das eine vom anderen zu trennen, ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu

Eine wichtige Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Erscheinungsweisen gewählt werden, ob das Erscheinen mit der Intention verknüpft ist. Wer aber sollte nach dem bisher Erörterten zwischen den Erscheinungsweisen wählen? Es ist an dieser Stelle entscheidend, dass die Zwischenstellung in der Beschreibung des Geschehens nicht aufgegeben wird. Der Leib zeigt sich sich selbst, er ist sich zugleich Subjekt und Objekt. Das Geschehen ist aktiv und passiv zugleich. Es gibt kein Ich, das den Erscheinungsweisen gegenüber ist oder über sie verfügt. Die Tatsache, dass wir Ordnungen erleben, dass sich nicht alles in ein Kaleidoskop von Phänomenen auflöst, kann von uns bestätigt, aber nicht begründet werden. Diese Ordnungen entstammen einer fungierenden Intentionalität. (Merleau-Ponty 1945: 15) (vgl. Kap. 7.2.) Waldenfels bietet in der Diskussion um den Begriff Aufmerksamkeit die Vorstellungen von Habitualitäten und Einstellungen an, die Stabilität und Ordnung ermöglichen. Denn sonst gälte: »Die Erfahrung würde sich einer Erfahrung ohne Erfahrenden und ohne Erfahrenes annähern.« Waldenfels 2004: 118. Diese Ordnungen lassen sich aber weder einem »Erkennenden« noch einem »Erkannten« zuschlagen, sondern entstehen aus der Verschränkung beider.

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müssen, auf welche Weise denn das eine mit dem anderen zusammenhängt. Damit ist in den alltäglichen Vorstellungen eine Einsicht bewahrt, die die Auslegung des Schemas des Chiasmus bestätigt. Nur dann, wenn man beide Erscheinungsformen des Leibes in ihrer Eigenart bewahrt, verfällt man nicht falschen ontologischen Konsequenzen. Wenn man das monistische Weltbild zugrunde legt und den empirisch ausgerichteten Wissenschaften die alleinige Kompetenz zuspricht, darüber zu entscheiden, was wirklich ist und was nicht, dann muss die Pluralität der Erscheinungsformen des Leibes zwangsläufig aus dem Blick geraten und der materielle Körper als »eigentliche« Wirklichkeit allein übrig bleiben. Schon in der Arbeit »Struktur des Verhaltens« hat Merleau-Ponty die Gestaltpsychologen kritisiert, dass diese in ihren Arbeiten nicht bereit seien, die entsprechenden Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen und statt dessen die Erkenntnisse über die Gestalt, die ja in die dritte Dimension zwischen Subjekt und Objekt weist, in eine quasi naturalistische Anschauung zu reintegrieren. 69 Wenn man den Leib in einem vorgegebenen ontologischen Rahmen identifizieren und insofern anschaulich als Objekt bestimmen will, ist das nur auf Kosten der einen oder der anderen Erscheinungsform, der des Bewusstseins oder der des Körpers, möglich. Wenn es also nun das zentrale Anliegen ist, beide Weisen des Erscheinens gleichberechtigt darzustellen, in unverminderter und in nicht hierarchischer Weise, dann bleibt nur, die beiden Darstellungen nebeneinander stehen zu lassen. Beschreibungen des Leibes, die den Descartes’schen Dualismus vermeiden wollten, waren stets in der Gefahr, eine der beiden Seiten so hervorzuheben, dass dies in der Tendenz die eigenständige Existenz der jeweils anderen Seite verneinte.

6.

Der Leib als Einheit

Man kann angesichts der Differenzen zwischen den Erscheinungsweisen die Frage stellen, warum wir den Leib überhaupt als eine Einheit ansehen. Nun hatten wir ja den Leib gerade als Ausdruck für den Um69 »Mit der Einführung strukturaler Betrachtungsweisen glaubt die Gestaltpsychologie nicht über den Begriff einer physikalischen Welt als der omnitudo realitatis hinauszugehen (…).« Merleau-Ponty 1942: 152.

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stand eingeführt, dass den unterschiedlichen Phänomenen, die sich zeigen, mühelos der Index »mein« zugewiesen werden kann. Doch stellt sich nun die Frage, ob es angesichts dieser Gewissheit nicht verfehlt ist, ein Schema für die Erscheinungsweisen des Leibes vorzuschlagen, dass nur hypothetische Auskunft über die Einheit des Leibes geben kann. Denn wir können gemäß des Schemas gar nichts über eine Verbindung zwischen den Erscheinungsweisen wissen. Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass es in der neuzeitlichen Philosophie immer schon eine Schwierigkeit gab, die Einheit des Leibes zu begründen. Die Einheit unseres Leibes ist uns so gewiss, dass explizit dualistisch argumentierende Ansätze Schwierigkeiten haben, ihren Ansatz zu begründen. Descartes sieht sich einer Vielzahl von Schwierigkeiten gegenüber, die klare Aufteilung zwischen res cogitans und res extensa aufrechtzuerhalten. Es geht nur, wenn er recht eigenartige Zuordnungen vornimmt: Die Empfindungen gibt er folglich nicht als Phänomene des Körpers aus, sondern als Phänomene des Denkens, die lediglich auf die Wichtigkeit des Körpers weisen. Wir haben das bei der Diskussion um die Interpretation von Hunger- oder Schmerzempfindungen gesehen. 70 Descartes wusste um die Schwierigkeit des dualistischen Ansatzes: »Denn sicher sind diese Hunger-, Durst-, Schmerzempfindungen usw. nichts anderes als verworrene Bewusstseinsbestimmungen, die aus der Vereinigung und gleichsam Vermischung des Geistes mit dem Körper entstanden sind.« 71 Die Empfindungen sind letztlich Modi des Denkens, allerdings solche, die undeutlich aus einer Vermischung mit dem Körper hervorgehen. Es bleibt bei ihm also gerade im Bereich der Gefühle, der Empfindungen und Leidenschaften eine offene Stelle, die er mit den Möglichkeiten des Dualismus nicht recht erfassen kann. Die Tatsache aber, dass etwas nur undeutlich erkannt werden kann, ist zugleich auch eine Abwertung und damit eine Marginalisierung innerhalb der Descartes’schen Erkenntnishaltung. Wenn es darum geht, clare et distincte zu erkennen, alles Wahre klar und deutlich herauszuarbeiten, dann darf man den Empfindungen keine große Bedeutung beimessen. Eine Einheit des Leibes zu behaupten, auch wenn dies nicht als Objekt anschaulich gemacht werden kann, war auch in der Zeit nach Descartes eine große Herausforderung, die immer wieder traktiert 70 71

Vgl. Descartes 1641: 145. A. a. O.: 145 f.

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wurde. War einmal die Besonderheit des Bewusstseins, der Vernunft, der Erkenntniskraft erkannt, blieb die Frage nach ihrer Verbindung mit der materiellen Welt. Wir haben gesehen, dass die Frage auch heute noch in der philosophy of mind intensiv diskutiert wird. Es hat in der Tradition sehr unterschiedliche Strategien gegeben, die Einheit des Unterschiedlichen in der menschlichen Existenz zu begründen. Zwei klassische Begründungen der prekären Einheit sollen kurz paradigmatisch skizziert werden. Es sind dies die Argumentationen von Arthur Schopenhauer und die von Immanuel Kant. Dabei kommt es weniger auf die begrifflichen und theoretischen Hintergründe an, vor denen die Unterschiede benannt werden, es geht allein um die Weise der Argumentation, die die Einheit begründet. Die Behauptung der Einheit der menschlichen Existenz bei völlig unterschiedlichen Beschreibungsformen ist das zentrale Argument in der Architektur der Philosophie von Arthur Schopenhauer. Auch er setzt zur Beantwortung der Frage, wie die Welt beschaffen sei, beim menschlichen Leib an. Auch er beginnt den Erkenntnisweg mit der fundamentalen Erkenntnis, dass der Leib sich nicht nur in einer Perspektive zeigt, sondern in zweien, die nicht miteinander in Deckung gebracht werden können: »Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.« 72 Vorstellung und Wille sind gänzlich anderer Natur und doch macht es auch nach Schopenhauer keine Mühe, die Identität beider im eigenen Leibe festzustellen. Die Identität ist für ihn der Angelpunkt, mit dem er die beiden Weisen, wie die Welt gegeben ist, nämlich als Wille und als Vorstellung, zusammengehalten sieht. Der Leib verbürgt auf diese Weise die Einheit der Welt. Die Ausführungen der Schopenhauer’sche Willensmetaphysik beruhen nicht auf evidenten Erfahrungen oder Argumentationen, sondern werden in apodiktischer und damit zwangläufig in schlecht spekulativer Form vorgetragen. Dennoch ist die Ähnlichkeit des Ausgangsproblems dem hier vertretenen Ansatz offenkundig: Der Weg, die Wirklichkeit zu bestimmen, beginnt beim menschlichen Leib und die grundlegende Er72

Schopenhauer 1819 (1): 143.

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kenntnis über diesen Leib ist, dass er, der unbezweifelbar einer ist, aus zwei fundamental verschiedenen Erscheinungsweisen gesehen werden muss. Schopenhauer bezieht diesen Hauptgedanken seines Systems aus einer Rezeption der Lehre des Dings an sich bei Kant. 73 Ein wichtiges Scharnier, das die beiden Kritiken der Vernunft, die der reinen Vernunft wie die der praktischen Vernunft zusammenhält, ist die Bestimmung der Seele und die Frage, ob der Wille frei sei oder nicht. Wir haben schon gesehen, dass Kant die Seele als eine regulative Idee der transzendentalen Vernunft gewertet hat. Doch kann man die Seele nach Kant auch in einem ganz anderen Kontext behandeln, nämlich als ein »Ding an sich«. Die Denkfigur, derer sich Kant bedient, ist die folgende: Er behauptet die unanschauliche Identität zweier grundverschiedener Betrachtungsweisen der Seele, die Seele als transzendentale Idee bzw. ihr Wille als Erscheinung und die Seele bzw. der ihr zugehörige Wille als Ding an sich. So sagt Kant in der Vorrede der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnotwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu geraten (…). Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst; (…) so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Ding an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne dass hierbei ein Widerspruch vorgeht.« 74 Das entscheidende Argument ist, dass bei der Betrachtung der menschlichen Existenz in unterschiedlicher Hinsicht, diese sich völlig anders darstellt. Die Beschreibungen der Seele und ihres Willens, einerseits als frei und andererseits als unfrei, liefe auf einen eklatanten Widerspruch hinaus, wenn nicht erkannt werden könnte, dass hier dasselbe in ganz unterschiedlicher Hinsicht unterschiedlich beschrieben werden muss. Das Argument von Kant steht und fällt mit der Einsicht, dass die solcherweise völlig unterschiedlich beschriebene Seele, nämlich einmal als frei und einmal als unfrei, tatsächlich ein und dieselbe Seele ist. »Da73 74

Schopenhauer 1819 (2): 514. Kant 1787 (1): 31. Kursives ist im Original gesperrt gedruckt.

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her ist es die unnachlaßliche Aufgabe der spekulativen Philosophie: wenigstens zu zeigen, dass ihre Täuschung wegen des Widerspruchs darin beruhe, dass wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch, als notwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen (…).« 75 Weiterhin stellt Kant ein wenig später fest: »Denn, dass ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch (…).« 76 Das zentrale Argument Kants ist, dass die menschliche Existenz nicht in einer Weise allein erfasst werden kann und es sich doch um die eine Existenz handelt. Auch dieses Argument ist ähnlich wie bei Schopenhauer ein spekulatives Argument, das notwendig über den Gebrauch der Verstandeskräfte hinausgeht, jedoch wird es hier nicht apodiktisch, sondern hypothetisch vorgetragen. Die Freiheit der Seele ist eine bloße Idee und doch notwendige Voraussetzung der praktischen Vernunft. 77 So lässt Kant unbeirrt den Widerspruch zweier so unterschiedlicher Beschreibungen ein und derselben Größe, der Seele, zu. Der Preis dieser Sichtweise ist, dass die Vereinigung wohl aus den Erfordernissen der praktischen Vernunft und der theoretischen Vernunft gewonnen werden kann, dass sie aber unanschaulich bleibt: Kant sieht, dass die Begriffe wie der Begriff der Freiheit »real sind, und wirklich ihre (mögliche) Objekte haben, dabei aber uns nichts von Anschauung derselben gegeben wird (…)« 78 Die Seele in dem Kant’schen Ansatz und das Schema des Chiasmus in dem hier besprochenen Sinne haben eine analoge Stellung. Beide haben die Funktion einer regulativen Idee, beide haben aber auch unaufgebbar spekulative Anteile, wie sie dem »Ding an sich« zukomKant 1785: 93. Kursives ist im Original gesperrt gedruckt. A. a. O.: 94. 77 Vgl. a. a. O.: 96. 78 Kant 1788: 267. Hier verteidigt sich Kant allerdings, dass die so vorgenommene Erweiterung der theoretischen Vernunft kein spekulativer Schluss sei, weil er nicht in theoretischer Absicht, sondern in praktischer vollzogen worden sei. Wenn es allerdings um die Frage der Erkenntnis der Seele geht, wird man nicht umhin kommen, die Betrachtung in seiner Terminologie gemäß seiner eigenen Terminologie spekulativ zu nennen. 75 76

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men. Das Schema des Chiasmus muss eben wegen des unaufgebbaren spekulativen Anteils immer hypothetisch bleiben und auch immer so bezeichnet werden. Hypothetisch formuliert entsteht die Einheit des Leibes und damit die Einheit der unterschiedlichen Erscheinungsweisen aus dem einen Verschränkungsgeschehen von Bewusstsein* und Körper*. Die Identität des Leibes bleibt deshalb jenseits einer Anschauung als Objekt. Eine solche Anschauung vermittelt auch das Schema des Chiasmus nicht. Es bietet aber eine gute Möglichkeit, die erlebte Einheit der beiden so unterschiedlichen Erscheinungsformen hypothetisch deutlicher zu machen und sie auf eine formale Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen, in denen sich der Leib einmal als körperlicher Leib und einmal als bewusster Leib zeigt, werden als die eines Einzigen nahegelegt, wenn der Leib als Verschränkung von Bewusstsein* und Körper* gedeutet wird.

7.

Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)

Wir haben bislang vor allem die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus interpretiert. Die unanschauliche Einheit des Leibes ist in der neuzeitlichen Philosophie immer wieder vertreten worden, jedoch waren die Argumente hierzu spekulativ. Das widerspricht aber unserer Intuition und Mühelosigkeit, Phänomene des Körpers oder der Gedanken unserem Leib zuzurechnen. Descartes schuf aufwändige Konstruktionen, um die Einheit zu beschreiben, Schopenhauer hat eine spekulative Behauptung apodiktisch an den Anfang seiner Untersuchungen gestellt. Kant war da vorsichtiger, er führte die Einheit der Seele trotz ihrer so unterschiedlichen Bestimmungsweisen hypothetisch ein. Diese Haltung ist dem Schema des Chiasmus insofern gemäß, als wir von ihm auch nur einen hypothetischen Gebrauch machen. Doch ist dies nicht alles, was durch den Chiasmus bezüglich der Einheit des Leibes abgeleitet werden kann. Bislang haben wir die dritte Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus vernachlässigt, die Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl). Hier zeigt sich aber, dass man in der Konsequenz des Ansatzes von Merleau-Ponty gegenüber den beschriebenen neuzeitlichen philosophischen Traditionen, einen erheblichen Schritt weiter kommt. Die Vorstellung der Einheit des Leibes erhält ein eigenständiges Gewicht, wenn wir uns der Erscheinungswei210 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)

se in der Mitte des Chiasmus zuwenden. Denn diese Erscheinungsweise bestätigt schon durch ihre Verortung im Chiasmus die Existenz einer übergreifenden Einheit des Leibes, auch wenn sie nicht als Objekt anschaulich wird. In dieser Erscheinungsweise findet sich die Struktur des Chiasmus in nuce wieder. Diese Struktur ist von ihrer Form her selbstähnlich, das heißt, wenn man auf die Mitte zugeht und von den Rändern her immer größere Teile vernachlässigt, bleibt die Struktur in ihrer Form erhalten. Es gibt aber einen qualitativen Unterschied in der Zuordnung der Erscheinungsweisen zu dieser Teilstruktur des Chiasmus. Nur in der Mitte des Chiasmus erfasst eine Erscheinungsweise beide Seiten der Struktur und damit auch beide so unterschiedlichen Verhältnisse der Größen Bewusstsein* und Körper* in gleicher Weise. Dies ist ein eigenständiger und gewichtiger Hinweis darauf, dass es eine Einheit des Leibes gibt, die sich aus den äußeren Erscheinungsweisen wie dargestellt nur hypothetisch ableiten lässt. Die Begründung, warum diese Erscheinungsweise die Einheit des Leibes verbürgen kann, werden wir in Kapitel 7.2. vertiefen. In einem ersten Zugang haben wir dieser Erscheinungsweise die Phänomene der Gefühle zugeordnet. Solche Phänomene sind alles andere als trivial, da ihre Beschreibung erheblichen Einschränkungen unterworfen ist, die sich aus der Besonderheit, dass sie beide Seiten umfasst, abgeleitet werden können. Die Einschränkungen lassen sich durch das Schema wie folgt beschreiben: Die Erscheinungsform des Leibes als Gefühl ist durch ihre Zwischenstellung analytisch nur schwer zu fassen. In dieser Erscheinungsweise hat keine der beiden Größen Bewusstsein* und Körper* einen dominierenden Einfluss. Offensichtlich können hier Ordnungen, wie wir sie von den Rändern des Chiasmus kennen, nicht etabliert werden. Es ist wesentlich schwieriger, die Weise, wie der Leib hier erscheint, in Worte zu fassen, geschweige denn formale Ordnungen zu finden, wie mathematische Formeln, logische Schlüsse oder empirisch begründete Gesetze. Beschreibungen sind oft bildhaft und metaphorisch, sie entlehnen Bilder anderen Erscheinungsweisen. Mit diesen Schwierigkeiten hängt zusammen, dass dieser Erscheinungsweise in der philosophischen Diskussion der Neuzeit eine gegenüber der Analyse der Vernunft deutlich geringere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Hier wirken all jene Einflüsse, die wir schon behandelt haben, besonders deutlich. Der cartesische Dualismus hat dieser Erscheinungsweise ihre Eigenständigkeit abgesprochen. Das Kon211 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

zept sah keine Zwischenzustände oder Übergänge zwischen beiden vor, tertium non datur. Gefühle werden wiederum in naturalistischen Ansätzen letztendlich auf körperliche Zustände zurückgeführt. Die Argumentation ist hier analog zu der Behandlung des Bewusstseins. Ebenso wie wir keinen Gedanken denken können, ohne dass es einen adäquaten hirnphysiologischen Prozess gibt, ebenso können wir auch kein Gefühl erleben. Es gibt also keinen Anlass für diese Ansätze, bei den Gefühlen von ihrer Orientierung am naturwissenschaftlichen Methodenideal abzulassen. Dennoch ist gerade in den letzten Jahrzehnten, angestoßen durch eine Diskussion in der Philosophie wie auch durch neuere Erkenntnisse in den Neurowissenschaften, eine sehr rege Debatte über das Verständnis und die Interpretation der Gefühle entstanden. Für andere Bereiche der Kultur, insbesondere für die Künste ist dieser Bereich dagegen zentral. Dies gilt ebenso für die Poesie und die Literatur überhaupt, aber auch für die Filmkunst, die bildenden Künste und für die Musik. All diese Kulturbereiche sind weder hinreichend beschrieben durch die Gedanken, die sie zum Ausdruck bringen, noch durch die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, mit Hilfe derer Kunstwerke beschrieben und gemessen werden können. Die Künste fügen sich nicht den Ordnungen, die wir in den ersten Erscheinungsweisen erlebt haben. Sie brauchen einen Resonanzraum, der in der leiblichen Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus zu finden ist.

A.

Zum Ertrag des Chiasmus als Schema

Es ist gerade diese mittlere Erscheinungsform, bei der der Chiasmus seine innovative Kraft entfalten kann. Durch seine Darstellung wird plausibel, dass alle monistischen oder dualistischen Versuche, diese eigenständige Erscheinungsform zu reduzieren, letztlich scheitern müssen. Sie können es nur tun um den Preis einer sträflichen Vereinfachung und konzeptionellen Verarmung. Der Chiasmus kann keinen Weg bieten, um den Bereich in Ordnungen zu überführen, ihn also zu »rationalisieren«, er verhilft so der übersehenen oder ignorierten Erscheinungsform des Leibes zu ihrem eigenständigen Status. Es ist letztlich der phänomenologische Weg von Merleau-Ponty, der die Freilegung möglich macht. Es gibt eine leibliche Wirklichkeit jenseits der Unterscheidung von Gedanken und Körpern. In seinen spä212 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)

ten Arbeiten hat Merleau-Ponty mit den Begriffen »rohes« bzw. »wildes Sein« oder »Fleisch« operiert, Metaphern, mit denen er übersehene Anteile der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen wollte (vgl. Kap. 4.3). Die Wirklichkeit ist hier noch ungeteilt und unteilbar zwischen Subjekt und Objekt. Hier gibt es noch keine festen Ordnungen, aber alle Ordnungen, die wir kennen, ob die der empirischen Welt oder die Ordnungen der Logik oder der Mathematik, haben hier ihren Ausgangsort. 79 Wir werden später sehen, dass diese Erscheinungsform in der Tat den Anspruch erheben kann, die erste zu sein, die den anderen genealogisch vorangeht. Es ist zu erwarten, dass diese Sphäre, auch wenn sie nicht einfach zu beschreiben ist, hilfreich sein wird, die anderen Erscheinungsformen besser verstehen zu lernen. In der Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl) ist auch der Wahrnehmungsglaube zu verorten, also jene eigentümliche Verbundenheit und Gewissheit, von der wir immer schon herkommen, die wir aber begrifflich und analytisch nicht einholen können. 80 Gefühle haben einen eigentümlichen Status. Sie sind elementare Phänomene des im klassischen Sinne verstandenen Bewusstseins auf der einen Seite, sie sind aber, anders als die Gedanken, gleichzeitig im Körper ausgedehnt und dort identifizierbar. Gefühle suchen sich ihren Ausdruck, so sagt man. Sie sind so etwas wie räumlich ausgedehnte Bewusstseinszustände und befinden sich deshalb genau zwischen den Bewusstseinsphänomenen wie den Gedanken und dem Leib als materiellem Körper. Es ist offenkundig, dass bestimmte Körperzustände und bestimmte Gefühlsregungen in einem sehr engen Wechselverhältnis stehen. Wenn jemand ein bestimmtes starkes Gefühl hat, so erlebt er seinen Körper auch in einer spezifischen Weise und umgekehrt: Wenn man den Körper in einer spezifischen Weise erlebt, ist das eng mit einem Gefühl verknüpft. So kann ein plötzlicher Schweißausbruch, der durchaus durch die Umgebungswärme physiologisch bedingt sein 79 »Eine vorkonstituierte Welt und eine Logik kommen für uns nur in Betracht, sofern wir ihre Entstehung aus der Erfahrung des rohen Seins verfolgen (…).« Merleau-Ponty 1964: 206. 80 »Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen; Formulierungen dieser Art sind Ausdruck eines Glaubens (…) sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserem Leben inhärent sind. Aber seltsam an diesem Glauben ist, dass wir – sobald wir versuchen, ihn als These oder als Aussage zu formulieren, sobald wir uns fragen, was dieses Wir, dieses Sehen, das Ding oder die Welt sei, – in ein Labyrinth von Schwierigkeiten und Widersprüchen geraten.« Merleau-Ponty 1964: 17.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

mag, bei dem Betroffenen gleichzeitig ein Gefühl der Angst auslösen, so dass für ihn unerkennbar ist, welches aus welchem resultiert: Entsteht der Schweißausbruch aus der Angst heraus oder ist die Angst eine Begleitung des Schweißausbruches? Der Chiasmus weist dieser Erscheinungsweise des Leibes eine Mittelstellung zu. Eine direkte Analyse der Erscheinungsweise steht offenkundig nicht zur Verfügung, weil Ordnungen, wie sie an den Rändern existieren, hier nicht etabliert werden können. Angesichts dieser Ausgangssituation ist es nahe liegend, die Erscheinungsweise indirekt zu erschließen, indem man sich von den Rändern, von jenen Erscheinungsweisen mit den ausgeprägteren Ordnungen her dem mittleren Bereich nähert. Dabei muss natürlich die grundlegende Regel beachtet werden, die wir schon benannt hatten, dass wir eine Erscheinungsweise nicht auf eine andere reduzieren können. Dennoch gibt es zugleich keine fundamentalen Grenzen zwischen den Erscheinungsweisen und so mag es möglich sein, ein je partielles Verständnis der Erscheinungsweise von den bestehenden Ordnungen an den Rändern her zu gewinnen. Die bestehenden Ordnungen sind die logische und semantische Ordnung der Gedanken und die kausalen und regelmäßigen Prozesse, denen der Körper unterworfen ist. Tatsächlich lässt sich nun die aktuelle philosophische Diskussion um die Gefühle genau in dieser Hinsicht ordnen, nämlich, ob sich die Argumentationsvorschläge den Phänomenen eher von der semantischen Ordnung der Gedanken her nähern oder von der kausal bestimmten Ordnung des Körpers.

B.

Zur Philosophie der Gefühle

Die Philosophie der Gefühle hat in den letzten Jahrzehnten eine kräftige Renaissance erlebt, nachdem sie über eine sehr lange Zeit ein Schatten- und Randdasein gefristet hat. 81 Schon die schwankende Terminologie zeigt, dass es offenkundig nicht einfach ist, eindeutige und klare Konzepte für Gefühle zu entwickeln. So sind in der deutschsprachigen Behandlung des Themas bei unterschiedlicher Akzentuierung auch die Begriffe Emotion, Empfindung, Stimmung und Affekt im Ge-

81

Vgl. Hartmann 2005: 12.

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brauch.82 Weiterhin zeigt die Debatte um die unterschiedlichen Entwürfe, Gefühle konzeptionell zu fassen, dass die meisten etablierten Ansätze nur Teilaspekte betonen und es so schwer ist, die Phänomene der Gefühle vollständig zu erfassen und damit methodisch konkurrierende Ansätze überflüssig zu machen. »Fast alle Gefühlstheorien neigen dazu, einzelne Aspekte des Gefühlslebens hervorzuheben und zu verallgemeinern. Das führt zu verengten Erklärungsmodellen.« 83 Wir haben schon bei der Beschreibung der Phänomene gesehen, dass die Bestimmung der mittleren Erscheinungsform des Leibes in der Tat sehr schwierig ist und nicht zu eindeutigen Ergebnissen führt. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in der großen Schwierigkeit, die Gefühle genauer zu bestimmen. Die unterschiedlichen Ansätze lassen sich in einem Spektrum darstellen, bei denen die einen Gefühle als kognitive Phänomene fassen wollen, andere sie als körperliche Erscheinungen verstehen und wiederum andere eine Mittelposition zwischen diesen beiden Gruppen einnehmen. In dieser Dreiteiligkeit zeigt sich eine Ähnlichkeit zu der Struktur des Chiasmus. Wenn man sich der Erscheinungsform des Leibes als X (Gefühl) nähern will, so gibt es zunächst den Zugang von der Ordnung der Gedanken her, wie es die kognitivistischen Theorien tun, oder den Zugang von der Ordnung des naturwissenschaftlich beschreibbaren Körpers her, wie dies die neurowissenschaftlichen Theorien tun. Beide Wege können den jeweils anderen nicht ersetzen. Schließlich kann man auch versuchen, direkt in der Erscheinungsweise selbst anzusetzen. Das gelingt aufgrund der geringen Strukturiertheit aber nur so, dass man über eine poetische Sprache oder über die Anleitung von Wahrnehmungsübungen die Sensibilität für die eigenständige Existenz der Erscheinungsweise eröffnet. Sie ist bei jedem Menschen immer schon da, doch die Frage ist, ob und wie sie in ihrer Eigenständigkeit erkannt werden kann. Ihre Zwischenposition verhindert die Möglichkeit, die Erscheinungsform klar und eindeutig zu fassen. Eben dies aber war bekanntlich die methodische Maxime von Descartes, also musste er diese Erscheinungsform enger definieren und sie einer der beiden Seite zuschlagen. In den kognitivistischen Theorien nähert man sich der Erscheinungsweise von der Seite der Erscheinungsweise der Gedanken her. In 82 83

Vgl. Engelen 2007: 8 ff. Hartmann 2005: 154.

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der analytischen Philosophie ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Arbeiten erschienen, die den kognitiven Gehalt von Gefühlen erschlossen und beschrieben haben. 84 Sie haben die Gefühle so untersucht, wie man ihre Verbindungen zu Gedanken analysierte. Auf diese Weise konnte man nachweisen, dass die Gefühle einen semantischen Gehalt haben. Die Angst etwa, die entsteht, wenn man beim Spaziergang auf dem Weg eine Schlange entdeckt, hat den semantischen Gehalt, dass die Schlange möglicherweise eine Gefahrenquelle darstellt und dass die Situation, in der man gerade ist, verändert werden muss. Nun hebt das Gefühl zusätzlich die Dringlichkeit dieser Information hervor, so dass etwa ein zeitgleiches Gespräch oder die Suche nach Pilzen in den Hintergrund treten. Die grundlegende Einsicht in den semantischen Gehalt von Gefühlen weicht deutlich von den frühneuzeitlichen Traditionen der Erkenntnistheorie ab, in denen den Gefühlen diese Komponente abgesprochen wurde. Gefühle, so war und ist das gängige Vorurteil auch in unserer Alltagswelt, sind rein »subjektive« Erscheinungen, deren Bedeutung sich auf den, der die Gefühle empfindet, beschränkt und die wenig zu der geteilten Wirklichkeit beitragen können. Gefühle sind nach diesem verbreiteten Vorurteil individuelle Erfahrungsaspekte, die eine große Bandbreite aufweisen und von allgemeinverbindlich mitteilbaren und semantische Gehalte transportierenden Gedanken scharf getrennt werden müssen. Dieses Vorurteil konnten die kognitivistischen Theorien widerlegen, indem sie die fundamentale Nähe zu Gedanken herausgearbeitet haben. Auch in den kognitivistischen Theorien geht es aber nicht allein um semantische Gehalte in der Weise, dass Gefühle auf sie reduziert werden könnten. Bei de Sousa zum Beispiel weisen die Gefühle mit ihren Möglichkeiten auch über die begrifflichen Erkenntniskräfte hinaus: »Die Leitidee ist, dass bei Organismen, die komplex genug sind, um Intentionalität zu zeigen, die reine Vernunft – sei sie kognitiv oder strategisch, einer Ergänzung bedarf. (…) Gefühle bewahren uns vor der Erstarrung, die durch diese Situation entstehen könnte, indem sie die Vordringlichkeit von Merkmalen der Wahrnehmung und des Schlussfolgerns kontrollieren.« 85 Gefühle haben hier also die Funktion, über die starren Strukturen des Verstandes hinaus eine Abweichung Eine gute Übersicht mit aktuellen, nicht nur kognitionstheoretischen Beiträgen bietet Döring 2009. 85 De Sousa 2009: 284 f. 84

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des Verhaltens zu bewirken. Hier wird der Differenz Rechnung getragen, dass Gefühle bei aller Fähigkeit, semantische Gehalte repräsentieren zu können, doch noch in entscheidenden Aspekten davon unterschieden sind. Diese Interpretation der Gefühle, die ein besonderes Gewicht auf den kognitiven Aspekt legen, hat trotz der partiellen Relativierung viel Kritik auf sich gezogen. Gefühle haben gegenüber den semantischen Gehalten unleugbar eine überschießende Qualität: Sie fühlen sich in bestimmter Weise an. Zudem sind Gefühle widerständig, lassen sich nicht in ein rationales Konzept vollständig eingliedern, es gibt durchaus auch Gefühle, die rationale Prozesse unterminieren, statt sie zu ergänzen. 86 Gefühle haben eine viel zu große Ambiguität, als dass sie sich rational oder funktional verrechnen ließen. So muss sich eine Beschreibung der Gefühle als kognitive Phänomene der kritischen Frage stellen, ob die Bindung an die Kognition nicht zu stark einschränkt. Haben nicht auch Menschen, deren Kognition nur gering ausgebildet ist, Gefühle, wie steht es mit kleinen Kindern, wie mit Tieren? 87 In den körperbezogenen Theorien nähert man sich den Gefühlen von der Erscheinungsweise des Leibes als Körper. Manche Autoren dieser Richtung stehen dem Pragmatismus oder der philosophischen Anthropologie nahe. Hier ist zunächst William James zu nennen. Seine Theorie der Gefühle basiert auf der Erkenntnis, dass Gefühle notwendigerweise körperliche Erscheinungen sind. Nun hat er die zugespitzte These vertreten, dass Gefühle nichts anderes darstellen, als die Wahrnehmung körperlicher Zustände. Im Hintergrund der Interpretation von James steht ein umfassender Erfahrungsbegriff, der Erfahrungen nicht auf bestimmte Methoden normativ eingrenzt. Eine Wahrheit muss sich immer wieder neu bewähren und bei der Bewährung sind wir, die wir nach der Wahrheit fragen, immer mit einbezogen: »Rein objektive Wahrheit, die nicht frühere Teile der Erfahrung mit neuer Erfahrung vermählt, eine Wahrheit, bei deren Befestigung die subjektive Befriedigung über diese Vermittlung keine Rolle gespielt hätte, ist nirgends zu finden.« 88 So spielen die individuelle und subjektive An86 »Zu Recht hat Jon Elster in der Diskussion solcher Positionen wie der von Damasio und de Sousa darauf hingewiesen, dass dann, wenn Emotionen Rationalität ergänzen können, sie ebenso Rationalität unterlaufen können.« Demmerling/Landweer 2007: 8. 87 Vgl. Hartmann 2005: 116 f. 88 James 1907: 40 f.

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eignung und der Handlungsrahmen der Aneignung eine konstitutive Rolle bei der Frage, was als Erfahrung von Wirklichkeit gelten kann und was nicht. Das hat eine größere Offenheit gegenüber einer großen Bandbreite von Erfahrungen zur Folge, auch introspektiven Erfahrungen gehören dazu. 89 In diesem Sinne untersucht James die Gefühle und beschreibt sie als »feeling«, sie lassen sich nicht reduzieren auf Denken und Wollen. 90 James versteht Gefühle als die introspektive Wahrnehmung der körperlichen Zustände: »Entscheidend für James’ Definition der Gefühle ist aber noch ihr Charakter als subjektive Wahrnehmungserfahrung, die nicht über wissenschaftliche Messungen, sondern über eine Rückwendung des Bewusstseins auf sich selbst entschlüsselt wird.« 91 Diese Interpretation hat jedoch erhebliche Folgen für das Verständnis der Gefühle. Man fürchtet sich dann nicht vor einer Schlange, sondern man fürchtet sich, weil das Herz rast und man einen Schweißausbruch erlebt. Die Angst ist nach James keine Angst vor der Schlange, sondern ein Ausweis eines bestimmten Körperzustandes. Das heißt, der Ansatz von James ist kaum in der Lage, die semantischen Gehalte, also den Bezug der Gefühle zur Umwelt, adäquat aufzunehmen. In der Folge sind deshalb Theorien, die sich konzeptionell der körperorientierten Deutung anschließen, stärker darum bemüht, auch die kognitiven Gehalte besser zu berücksichtigen. Die neurowissenschaftliche Forschung arbeitet mit Hilfe des rasant wachsenden Wissens um spezifische neuronalen Zustände des Körpers auch eine neue Interpretation der Gefühle heraus. In diesem empirisch-wissenschaftlichen Kontext wird jedoch weniger von Gefühlen als von Emotionen geredet. Hier möchte ich stellvertretend für einen großen Forschungsbereich den Entwurf von Antonio Damasio nennen. 92 Er hat in mehreren einflussreichen empirisch fundierten Veröffentlichungen überzeugend dargelegt, dass Emotionen und kognitive Prozesse im körperlichen Prozess nicht zu trennen sind. 93 DaDiese Weite des Erfahrungsbegriffs stellt die Theorie von James in die Nähe zu dem hier vertretenen eines phänomenologischen Realismus. 90 Vgl.Hartmann 2005: 41. 91 Hartmann 2005: 41. 92 Damasio 2007; Damasio 2002. 93 Hier ist die deutliche Warnung auszusprechen, dass sowohl Emotionen wie auch kognitive Prozesse im hier gemeinten Sinn von der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke oder als Gefühl unterschieden werden muss. Kognitive Prozesse und Emotionen sind solche Prozesse in dem beobachteten Körper, die mit der Gedankentätigkeit 89

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mit hat er dualistische Ansätze in der Tradition von Descartes empirisch widerlegt. 94 Im Zentrum seiner Argumentation steht die Erkenntnis, dass das Gehirn keine isolierte Entität im menschlichen Körper, sondern in vielfacher und sehr enger Weise mit dem Körper und seinen Prozessen verknüpft ist. Emotionale Prozesse wie auch kognitive Prozesse sind aufeinander bezogen. 95 Mit dieser Erkenntnis greift Damasio nicht nur Descartes an, sondern auch all jene neurowissenschaftlichen Forschungen, die sich allein auf das Gehirn konzentrieren. 96 Das neuronale System ist auf vielfache Weise mit den Körperfunktionen verknüpft und damit ist auch das neuronale Netz des Präfrontalcortex, der im Besonderen für die kognitiven Denkprozesse zuständig ist, in die umfassenderen Körperzustände einbezogen. Damasio erweitert so die Betrachtung auch über die der Emotionen hinaus, indem er auch die vielen Informationen der basalen Körperzustände, etwa der Viszera oder der Signale aus der Blutbahn, mit in die Betrachtung einbezieht. 97 Er führt aus, dass diese Verbundenheit zugleich über das Gehirn zu einer Veränderung der kognitiven Zustände führt. Die empirische Forschung, die den Leib als Körper analysiert, stößt hier also auf eine enge Verbindung von Emotionen und Kognition. Damasio wie auch andere folgern aus den Ergebnissen, dass die Sphäre der Gefühle erheblichen Einfluss auf die Intelligenz eines Menschen hat. Es ist bei weitem nicht so, wie man im Alltagsdenken vielleicht annehmen könnte, dass der denkende Mensch von Gefühlen eher gestört wird. Gefühle sind ein notwendiger Bestandteil des Denkprozesses selbst. oder Gefühlsregung eines Probanden korreliert werden können. Sie bleiben als solche aber innerhalb der Erscheinungsweise des Leibes als Körper. Von daher, als Neurowissenschaftler, versucht Damasio sich der Erscheinungsweise zu nähern. Diese Warnung gilt für den Ansatz von James nicht, da er ja die Introspektion als eine Erfahrung zulässt. 94 Widerlegt ist genauer die Behauptung Descartes’, dass das Denken vollständig getrennt vom Körper zu denken sei. Wir haben schon gesehen, dass Descartes in der Durchführung nicht so eindeutig ist, wie es sein eigener Substanzdualismus fordert. Doch Damasio wendet sich mit seinem Argument nicht nur gegen Descartes, sondern gegen jede Form des Dualismus von Denken und Körper, vgl. Damasio 2007: 328. 95 So sind wir gewissermaßen von einer Leidenschaft für die Vernunft besessen, einem Trieb, der dem Kernbereich des Gehirns entspringt, andere Ebenen des Nervensystems überschwemmt und schließlich in Gestalt von Empfindungen oder unbewussten Tendenzen die Entscheidungsfindung leitet.« A. a. O.: 325. 96 Vgl. a. a. O.: 331. 97 Vgl. Damasio 2002: 172.

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Die empirischen Ansätze können allerdings aufgrund ihrer Methodik nicht die Gefühle als eigenständige Erscheinungsweise des Leibes deuten. Ebenso wenig können sie die Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke erschließen. Sie haben also nicht die Möglichkeit, tatsächlich eine Verbindung zu den dargestellten kognitivistischen Ansätzen der Philosophie herzustellen. Deutlich wird dies in der Art der Behandlung kognitiver Prozesse. Sie erscheinen als Ausdruck eines Organismus, sich erfolgreich in der Welt zu bewegen. Damit sind sie aber stark eingeschränkt beschrieben, denn die innere Logik der Gedanken und ihr Reichtum können so gar nicht erfasst werden. »Schließlich ermöglicht das Bewusstsein jedem Objekt, erkannt zu werden – dem ›Objekt‹ Emotion genauso wie jedem anderen Objekt –, und verbessert damit die Fähigkeit des Organismus, angepasst zu reagieren, das heißt, auf seine besonderen Bedürfnisse einzugehen. Die Emotion ist – ebenso wie das Bewusstsein – dem Überleben eines Organismus verpflichtet.« 98 Hier zeigt sich, dass die Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl) in ihrer Differenziertheit nur dann gewürdigt werden kann, wenn man auch bereit ist, unterschiedliche Zugangsweisen und Methoden anzuwenden.

C.

Der Ansatz von Hermann Schmitz

Gefühle werden in der aktuellen Diskussion sowohl von der Erscheinungsweise des Leibes als Körper, wie in der neurowissenschaftlichen Forschung, oder von der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke, wie in den kognitivistischen Ansätzen der Philosophie, erschlossen. Auf beiden Wegen zeigen sich wichtige Zusammenhänge, doch bleiben die Vorschläge unvollständig und ergänzungsbedürftig. Nun stellt sich die Frage, ob es nicht möglich ist, Beschreibungsformen zu entwickeln, die die Erscheinungsform des Leibes als X (Gefühl) direkt beschreiben und Konzepte für ihre Deutung bereitstellen kann. Wie soll man sich einem Terrain nähern, für das es offenkundig keine ausgeprägten Ordnungsstrukturen gibt? In dem Ansatz von MerleauPonty erfasst die Erscheinungsform des Leibes als X (Gefühl) jenen Wahrnehmungsglauben, der stets allen distinkten Erscheinungen und Gedanken vorausgeht. Das Besondere der Erscheinungsform der Ge98

Damasio 2002: 74.

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)

fühle ist es, dass sie stets gegenwärtig, aber gerade deshalb nur sehr schwer zu erfassen ist. Der Philosoph Hermann Schmitz hat sich in seinem umfassenden Werk an zentraler Stelle jener Erscheinungsform genähert, die er als eigenleibliches Spüren zu erfassen sucht.99 Das eigenleibliche Spüren als affektives Betroffensein ist nach Schmitz allerdings deutlich zu unterscheiden von seiner Auffassung der Gefühle. 100 Die Methode, mit der er sich dieser Aufgabe nähert, nennt er Neue Phänomenologie. Diese grenzt sich von den alten Strömungen der Phänomenologie dadurch ab, dass sie sich einerseits nicht mehr auf eine überzeitliche Größe wie das Bewusstsein oder die Vernunft bezieht, also auch keine apodiktischen Gewissheiten möglich macht, und andererseits nicht mehr glaubt, zu den Sachen selbst vordringen zu können. 101 In gewisser Weise richtet Schmitz ähnlich wie der späte Merleau-Ponty seine Aufmerksamkeit von den Erscheinungsformen am Rand des Chiasmus weg, um so den mittleren Bereich besser in den Blick nehmen zu können. Die fundamentale Fehlentwicklung des europäischen Denkens beginnt für Schmitz schon in der Antike und besteht in der Etablierung einer Innenwelt, in der der Mensch Teile seines Erlebens verortet. »Diesem Schema gemäß wird der Mensch in Körper und Seele zerlegt, wobei der Körper als Stoff und Diener, die Seele als dessen formende Kraft und Steuerung fungiert.« 102 Mit der Innenwelt etabliert sich eine gestaltbare Außenwelt. Das Schema, mit dem wir die Neuzeit nachzuzeichnen versucht haben, ist nach Schmitz also schon in der Antike angelegt. Mit der Trennung geht eine eindeutige Bevorzugung der objektiven Tatsachen einher. Doch nach Schmitz ist die Wirklichkeit nur zu verstehen, wenn wir auch der subjektiven Tatsachen gewahr werden. Hier liegt die eigentliche Aufgabe der Philosophie: »Auf der anderen Seite ist die subjektive, persönliche Färbung philosophischer Perspektiven und Lösungsvorschläge mit der Folge von Konkurrenz und 99 Kurze Einführungen in die Thesen zum Leib finden sich in Schmitz 1998, Schmitz 2009; eine ausführlichere Beschreibung der Philosophie von Schmitz findet sich in Schmitz 2007; die Rolle der Gefühle wird besonders ausführlich besprochen in Schmitz 2008; eine Einführung und kritische Auseinandersetzung mit Schmitz findet sich bei Soentgen 1998. 100 Schmitz 2008: 21. 101 Vgl. Schmitz 2009: 12 f. 102 A. a. O.: 22.

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wechselseitiger Bestreitung nicht bloß ein Makel, sondern in der wesentlichen Aufgabe der Philosophie angelegt (…).« 103 Die grundlegende Erkenntnis ist für Schmitz die, dass Philosophie nicht von einem archimedischen Punkt aus starten kann, sondern die Situation reflektieren muss, in der sie sich immer schon befindet. »Philosophie ist nur im Ganzen möglich, weil sie ein Sichbesinnen des Menschen auf ein Sichfinden in seiner Umgebung ist und mit dem ganzen Menschen, der als er selbst unteilbar ist, auch die ganze Umgebung in Anspruch nehmen muss (…).« 104 Hier kann man eine große Nähe dieses Ansatzes mit der hier vertretenen Position feststellen: Die Philosophie beginnt als eine Besinnung auf das, was sich zeigt, indem sie das Ganze des Menschen ernst nimmt (den Leib) und von dort aus die Umgebung (die Wirklichkeit) exploriert. Schmitz hat auf diese Einsicht einen vollständigen Abriss einer Philosophie aufgebaut, dem wir hier nicht im Einzelnen nachgehen können. Vielmehr wollen wir uns auf die Beschreibung des Leibes und der Gefühle beschränken. Einer der zentralen Thesen von Schmitz lautet nun, dass in der europäischen Geschichte der Philosophie mit der Aufteilung zwischen der Innen und der Außenwelt der spürbare Leib als ein eigenständiger Bereich verloren ging. Der Leib selbst kann weder aus der Innenwelt noch aus der Außenwelt abgeleitet werden, sondern hat einen Zugang sui generis: »Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d. h. aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenen Körper) zu stützen.« 105 Nach Schmitz finden wir einen Zugang zum Leib nicht durch die äußere Wahrnehmung und auch nicht durch die Gewohnheit mit dem eigenen Körper, sondern allein durch ein unmittelbares Spüren der leiblichen Regungen wie zum Beispiel Angst, Hunger, Schmerz, Wollust, Müdigkeit usw. 106 Zur Beschreibung der leiblichen Regungen entwickelt Schmitz eine eigenständige Nomenklatur, die mehrere dynamische Dimensionen deutlich macht, in denen sich der Leib immer befindet, nämlich 103 104 105 106

Schmitz 2007: 13. A. a. O.: 15. Schmitz 1998: 12. Vgl. Schmitz 2009: 34 f.

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Weite und Enge, Richtung, Spannung und Schwellung, protopathische und epikritische Tendenz. 107 All diese Bestimmungen sind dazu gedacht, das leibliche Spüren zu beschreiben, ohne auf gängige Vorstellungen zurückgreifen zu müssen, denn diese Vorstellungen sind bestimmt von der alten kulturellen Trennung zwischen Innen und Außen. Es kommt aber darauf an, erst einmal wieder die verschütteten Dimensionen der Leiblichkeit herauszuarbeiten. Da Schmitz von Beginn an direkt bei dem Spüren ansetzen möchte, bleibt ihm nichts anderes, als eine eigene Begrifflichkeit zu entwickeln, deren Anschlussfähigkeit an alltägliche und wissenschaftliche Vorstellungen immer wieder erst hergestellt werden muss. Der Leib, der sich so zeigt, ist, wie die Begriffe schon andeuten, ein durch und durch dynamisches System. Alle Begriffe beschreiben Veränderungen, also Regungen, die man am eigenen Leib spüren kann. Nur bilden die Begriffe nichts ab, sondern weisen nur auf bestimmte Regungen hin. Die Sprache kann nur sehr begrenzt zu dem eigenleiblichen Spüren Zugang finden. »Das Leben aus primitiver Gegenwart ist erfüllt von Situationen, aus deren Bedeutsamkeit keine einzelnen Bedeutungen abgerufen werden können.« 108 Dieser Bedeutsamkeit sind Schreie oder unwillkürliche Laute eher angemessen als fest gefügte Begriffe der Sprache. Die primitive Gegenwart hat nach Schmitz 5 Indizes, die auch dann ihre Gültigkeit behalten, wenn man sich der sozial gestalteten Welt öffnet: »hier, jetzt, Sein, dieses, ich« 109 . Mit diesen Indizes bezeichnet Schmitz einen Ort, der nach Böhme eine besondere Auszeichnung erfährt: »Für Schmitz sind die fundamentalsten Beunruhigungen Angst und Schmerz, und sie lassen zugleich den in die Enge getriebenen Menschen sein fundamentum inconcussum auffinden. Es ist die von Hermann Schmitz Gegenwart genannte undifferenzierte Einheit von Ich, Hier, Jetzt, Dieses und Dasein.« 110 In den Arbeiten von Schmitz bestätigt sich, dass die Erscheinungsweise des Leibes, der wir in einem ersten Zugang die Gefühle zugewiesen haben, eine erhebliche Tiefendimension hat. Es reicht also bei weitem nicht, dieser Erscheinungsweise allein die Gefühle im konventionellen Sinne zuzuschreiben, vielmehr muss man wesentlich stärker 107 108 109 110

Vgl. Schmitz 2007: 121 ff. Vgl. auch Soentgen 1998: 26 ff. Schmitz 2009: 49. A. a. O.: 55. Böhme 2003: 24.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

differenzieren. Neben den mit kognitiven und identifizierbar körperlichen Anteilen ausgestatteten Gefühlen sind auch solche leiblichen Regungen erfasst, die aller sprachlichen Mitteilungsfähigkeit vorweg gehen. Wie beschreibt Schmitz nun die Gefühle? Da er mit Vehemenz gegen das Schema der Innen-Außen-Differenz kämpft, ist deutlich, dass Gefühle keine inneren Zustände sind. Tatsächlich sind Gefühle nach Schmitz »räumlich, aber ortlos ergossene Atmosphären.« 111 Er definiert also Gefühle über den Raum, jedoch über einen spezifischen Raum, nämlich den flächenlosen Raum. Dieser Raum entspricht nicht dem mathematisch berechenbaren Raum der res extensa des Descartes, sondern korrespondiert mit den leiblichen Regungen und ihrer Dynamik und auch den Erfahrungen der Elemente Wasser und Luft. 112 Dieser Raum erschließt sich von den leiblichen Regungen her und nicht umgekehrt, die leiblichen Regungen werden also nicht in einen vorgegebenen abstrakten Raum integriert. Gefühle sind eher von außen die Menschen erfassende Mächte als innere Zustände. 113 Von diesen Gefühlen werden die Menschen erfasst, sie schaffen sie nicht. Die Schmitz’sche Definition der Gefühle weist über den Leib hinaus und soll deshalb an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen werden. In einem kurzen Fazit zeigt dieser Ansatz den Versuch, die Erscheinungsweise des Leibes in der Mitte des Chiasmus auf eine eigenständige Weise zu beschreiben. Die Arbeiten von Schmitz machen deutlich, dass diese Erscheinungsweise einen großen Bereich unserer erlebten Wirklichkeit umfasst, aber in unserer Kultur eher missachtet oder durch die Vorstellung innerer, privater Zustände fehl interpretiert worden ist.

D.

Der Dualismus als ein Reduktionismus

Zu einer genaueren Bestimmung der Erscheinungsform des Leibes als X (Gefühl) sind umfangreiche und diverse Untersuchungen möglich und auch nötig. Zugleich bestätigt sich ihre Eigenständigkeit und Nichtreduzierbarkeit auf die anderen Erscheinungsweisen. Von hier aus wollen wir noch einmal auf die Debatte der Philosophie des Geistes, die wir im dritten Kapitel vorgestellt haben, blicken. Sie beschäftigt 111 112 113

Schmitz 1998: 22. Vgl. Schmitz 2009: 74. Vgl. Soentgen 1998: 177.

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (das Gefühl)

sich vor allem um die Frage, welchen Status man dem Bewusstsein zuweisen sollte. Hat das Bewusstsein eine Eigenständigkeit oder hat es sie nicht? Es gibt, grob aufgeteilt, zwei Gruppen der Diskussionsteilnehmer. Die erste Gruppe behauptet, dass man das Bewusstsein als eigenständige Größe fallen lassen könne und dass sich alle Phänomene aus einer übergeordneten Methode erschließen lassen. Die Position dieser Gruppe wird als reduktionistisch bezeichnet. Dagegen kämpft eine zweite Gruppe, die die Eigenständigkeit des Bewusstseins zu verteidigen versucht. Hierdurch ist sie genötigt, in der einen oder anderen Weise eine dualistische Struktur zu behaupten. Nun zeigt sich in der Folge der Analyse des Chiasmus, dass auch diese zweite Gruppe ihrerseits noch reduktionistisch ist! Denn auch eine Zweiteilung kann dem Spektrum der Erscheinungsformen des Leibes nicht genügen, da zumindest drei Erscheinungsformen differenziert werden müssen, die je qualitativ unterschiedlich sind. Der Dualismus erscheint also seinerseits als ein Reduktionismus! In jeder der drei Erscheinungsweisen zeigt sich der Leib in einem spezifischen Aspekt. Da wir nicht alle Erscheinungsweisen zugleich berücksichtigen können, ist eine partielle Betrachtung des Leibes nicht nur legitim, sondern sogar unumgänglich. Jedoch ist es für eine Betrachtung des Leibes unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus absolut notwendig, stets um die nicht reduzierbare Vielzahl von Erscheinungsweisen zu wissen und so die jeweilige Erscheinungsweise nicht kurzschlüssig für eine vollständige Beschreibung zu halten. Die Anhänger reduktionistischer Theorien, seien sie dualistisch oder monistisch, bedienen sich einer bestimmten Strategie, die sie beide eint. Sie setzen eine oder zwei Erscheinungsweisen pars pro toto und begründen die Reduktion mit alltäglichen Erfahrungen. In der eingeschränkten Betrachtung erscheint in der Tat das Bild des Leibes auf den ersten Blick geschlossen und anschaulich, der Leib ist ganz Körper oder der Leib ist eine Zusammensetzung von Körper und Bewusstsein. Deshalb hat es immer Versuche gegeben, sich wie auf einen Aspekt oder auf zwei Aspekte zu konzentrieren und das, was sich da zeigt, für den ganzen Leib zu halten. Doch das ist eine sträfliche Verkürzung. Der Leib wäre nur dann in allen Aspekten erkannt, wenn man das ganze Spektrum der Erscheinungsweisen zugleich berücksichtigte. Doch ist dies außerhalb der menschlichen Möglichkeiten.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

8.

Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältnis zu Descartes

In diesem Kapitel ist der Chiasmus als hypothetischer Ordnungsstruktur der Erscheinungsweisen des Leibes nun in einigen wichtigen Elementen beschrieben worden. Er ruht auf Grundeinsichten von Maurice Merleau-Ponty und schlägt darauf aufbauend einen systematisierenden Ansatz vor. Es ist nun ganz aufschlussreich, die Argumentation mit der von Descartes zu vergleichen. Das Verhältnis zu Descartes ist vielschichtig. Es ist offensichtlich, dass grundsätzliche Entscheidungen von Descartes verworfen werden, aber zugleich geht es auch nicht um eine simple Verurteilung von Descartes. In gewisser Weise benötigt die Argumentation den Descartes’schen Dualismus, um ihr eigenes Anliegen deutlich machen zu können. Auch das Schema des Chiasmus führt den Descartes’schen Dualismus nicht einfach ad absurdum, er überwindet ihn vielmehr, in dem er ihn gleichzeitig voraussetzt. Einerseits zehrt Merleau-Ponty noch von der epochalen Erkenntnis des Descartes, von seiner Trennung zwischen res cogitans und res extensa, andererseits führt er zugleich eine fundamentale Wende durch, indem er weg von dem Getrennten auf das schaut, was sich als Verschränkung des Getrennten ergibt. Der Chiasmus ist geprägt von Übergängen, nicht von fundamentalen Grenzen. Und doch gibt es auch in dieser Struktur Differenzen, die nicht aufgehoben werden können, nämlich die zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Leibes. Der Chiasmus kann so verstehen helfen, warum die Trennung zwischen Körper und Bewusstsein so wirkmächtig geworden ist, warum wir im Alltag eine Unterscheidung von »innen« und »außen« für nahezu unumstößlich halten. Die getrennte Darstellung beider beruht nicht auf einer Fiktion, sondern auf handfesten und jeder Zeit nachvollziehbaren Erfahrungen. Es zeigen sich die Gedanken ebenso, wie sich der Körper zeigt. Es ist uns aber unmöglich, beides zugleich und als eines zu erleben. Der Chiasmus zeigt, dass eine Substantiierung dieser Erfahrungen in die Irre geht, dass diese Erfahrungen vielmehr Extreme von Erscheinungsweisen darstellen, zwischen denen weitere Erscheinungsweisen existieren. Statt einer Überhöhung der Erscheinungsweisen an den Extremen beschreibt der Chiasmus nach Merleau-Ponty den Prozess der Verflechtung oder auch Verschränkung von Bewusstsein* und Körper*: »Was als Ding

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Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältnis zu Descartes

beginnt, endet als Bewusstsein des Dinges, was als ›Bewusstseinszustand‹ beginnt, endet als Ding.« 114 Wenn man diese Unentwirrbarkeit der Verhältnisse des Leibes akzeptiert und zugleich den Leib als eine zentrale Größe in die Argumentation übernimmt, bleibt ein Unbehagen. Verwerfen wir mit diesem Ansatz die grundlegende Forderung einer einfachen und klaren sowie widerspruchsfreien Darstellung, die Descartes zur Grundforderung des Erkennens erhoben hat? Merleau-Ponty sah die Problematik des Leibansatzes genau. Er stellt mit einer Anspielung auf die Descartes’schen Forderungen nach einer klaren und deutlichen Erkenntnis fest: »Der Leib ist also kein Gegenstand. Aus demselben Grunde aber ist auch mein Bewusstsein des Leibes kein Denken, ich kann den Leib nicht auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, um eine klare Vorstellung von ihm zu gewinnen. Seine Einheit ist eine beständig nur implizite und konfuse.« 115 Die Maxime der Deutlichkeit und Klarheit im Erkennen ist nun aber keine willkürliche Forderung und man darf sie nicht leichtfertig aufgeben. Sonst sind einer unkontrollierten Spekulation Tor und Tür geöffnet. Andererseits ist es ebenso zu verwerfen, klare und eindeutige Aussagen zu erzwingen, auch wenn dabei ungelöste Probleme kaschiert werden müssen. Eine oft verwendete Strategie von Weltanschauungen, die den Anspruch erheben, das Ganze widerspruchsfrei darzustellen, ist es, die ungelösten Probleme zu negieren, auch wenn dies die Folge hat, dass in der Konsequenz auch wichtige Aspekte der Wirklichkeit negiert werden müssen. Es entsteht ein verengter Blick auf die Wirklichkeit, der sich gegen alle Vorwürfe dadurch wehrt, dass er die weitergehenden Beschreibungen der Wirklichkeit als Irrationalismen abtut. Die Maxime der Vermeidung von unklaren Darstellungen ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch eingelöst werden kann. Descartes wollte nur solche Erkenntniswege akzeptieren, die von Beginn an den Kriterien von Eindeutigkeit und Klarheit genügen. Aber gelang ihm das? Die Verbindung einer Welt bestehend aus ausgedehnten Objekten mit der Substanz des reinen Denkens ist nicht widerspruchsfrei darstellbar. Hier stehen eher Behauptungen als klare und konzise Ableitungen aus den ersten fundamentalen Erkenntnissen. Die Analyse der Zirbeldrüse, die Lebensgeister und andere Hilfsgrößen zeugen nicht von großer 114 115

Merleau-Ponty 1964: 274. Merleau-Ponty 1945: 234.

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5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen

Klarheit. Darüber hinaus aber folgt aus dem Ansatz eine dramatische Verengung des Blickes auf die Welt der ausgedehnten Dinge, der res extensa. Bei aller Anerkennung für den hoch innnovativen und fruchtbaren Ansatz dürfen die gravierenden Folgen der eingeschränkten Sicht nicht verschwiegen werden. Die Folge einer sauberen, klaren und eindeutigen Trennung von res extensa und res cogitans war es, dass zum Beispiel Tiere nur noch als Automaten angesehen werden konnten. 116 Der auf Eindeutigkeit und Operationalisierbarkeit ausgerichtete Erkenntnisweg verlor notwendiger Weise eine Vielzahl wichtiger Aspekte der Wirklichkeit aus dem Blick, die wir jetzt erst wieder mühsam wieder entdecken müssen. Tatsächlich ist aber eine vollständige Klarheit und Transparenz der Erkenntnis auch für die Erscheinungsweisen an den Rändern immer eine Fiktion gewesen. Sie entstand durch die Erfahrungen, die man bei den evidenten Erkenntnissen in Mathematik und Logik gemacht hatte. So ergab sich die Devise, more geometrico erkennen zu wollen. Das Schema des Chiasmus zeigt, dass die leibliche Wirklichkeit sich in jeder Erscheinungsweise aus einem Zustand der Verschränkung ableitet. Also ist in keiner Erscheinungsweise eine vollständige Transparenz möglich. Dieses gilt sogar auch für die Mathematik! Der Grundlagenkrise der Mathematik im 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass auch die Mathematik nicht von einem platonischen Himmel herunter schwebt und sich auch nicht selbst begründen kann. Für jede Erscheinungsweise des Leibes besteht die Unmöglichkeit, einen letzten Grund zu finden, von dem aus dann sukzessive wahre Aussagen systematisch erschlossen werden könnten. In gewisser Weise ist die Haltung von Descartes, von Dennett und vieler anderer, die die Forderung nach Klarheit und Eindeutigkeit absolut setzen, gut in einer kurzen Geschichte des islamischen Weisen Nasruddin wiedergegeben: Eine Gruppe von Leuten stieß eines späten Abends auf Nasruddin Mullah als er auf seinen Händen und Knien unter einer Straßenlaterne herumkroch. »Was suchst du?«, fragten sie ihn. »Ich habe die Schlüssel zu meinem Haus verloren«, antwortete er. Alle gingen sie auf die Knie, um ihm bei der Suche zu helfen. Aber nach einer Zeit, nachdem keiner die Schlüssel finden konnte, fragte ihn jemand, wo genau er denn die 116 Für Descartes war die Beurteilung der Tiere ein wichtiges Problem, vgl. Hagencord 2009: 58.

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Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältnis zu Descartes

Schlüssel verloren habe. »Da drüben, irgendwo im Dunkeln«, antwortete Nasruddin. Darauf fragte ein anderer erstaunt: »Warum suchst du dann hier unter der Laterne?« »Weil hier mehr Licht ist«, antwortete Nasruddin. Eine willkürliche Verengung des zu Betrachtenden und seiner Phänomene um des Zieles willen, auf diese Weise klare und konsistente Theorien und Systeme bilden zu können, rächt sich mit einer zunehmenden Unfähigkeit, die Fülle der Wirklichkeit wahrzunehmen.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Das Schema des Chiasmus hat uns in die Lage versetzt, eine Systematik für die unterschiedlichen Erscheinungsformen unseres Leibes zu erarbeiten. Durch Adaption wichtiger Erkenntnisse von Merleau-Ponty ist die Betrachtung des Leibes so ein Weg, auf Erscheinungsweisen aufmerksam zu werden, die sich nicht mit Hilfe der klassischen Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Bewusstsein und Materie erfassen lassen. Nun gilt es, die Untersuchung vom Leib auf das Größere der Wirklichkeit auszuweiten. Dies kann natürlich nur so geschehen, dass zugleich die bisherigen Erkenntnisse über den Leib bewahrt bleiben. Für den Leib, dessen Erscheinungsformen durch das Schema des Chiasmus geordnet werden, zeigen sich zwei wichtige Randbedingungen: Der Leib kann nicht seinerseits zu einem anschaulichen Objekt gemacht werden. Andererseits bietet das Schema insbesondere durch die mittlere Erscheinungsweise einen Ausdruck für unsere Intuition, dass unser Leib ein einziger ist, dass unsere Existenz nicht zerfällt in unterschiedliche Erscheinungsweisen wie Gedanken oder Körperteile. 1 Wie können uns die Beobachtungen, die wir an unserem Leib gemacht haben, helfen, die Wirklichkeit zu verstehen? Der Leib ist zunächst unbestreitbar ein Teil der Wirklichkeit, in der wir leben. Das führt zu einer einfachen Einsicht: Da der Leib Teil der Wirklichkeit ist, müssen die Aussagen über die Wirklichkeit so gestaltet sein, dass sie mit den Aussagen über den Leib kompatibel sind. Eine Vorstellung von der Wirklichkeit, die eine Erscheinungsform des Leibes unmöglich machen würde, ist damit von vornherein ausgeschlossen. Die Frage nach der Wirklichkeit kann also nicht auf eine Weise beantwortet werHier ist noch einmal eine Mahnung zur Vorsicht angebracht. Der Erkenntnisweg gibt keine Beschreibung des Menschen an sich, es ist die Beschreibung des modernen Menschen, der wir sind. Feyerabend hat etwa nachdrücklich darauf hingewiesen, dass »die Welt für den archaischen Menschen in der Tat ein Aggregat von Teilen und nicht eine organische Einheit war, dass etwa der archaische Mensch seinen Mitmenschen als eine lose zusammenhängende Gliederpuppe sah (…).« Feyerabend 2009: 122.

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Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

den, dass ihre Antworten die schon erlangten Erkenntnisse über den Leib konterkarieren. Weiterhin ist aber der Leib nicht nur ein Teil der Wirklichkeit, er ist auch, in den Worten von Merleau-Ponty »mein Gesichtspunkt für die Welt« 2 . Durch ihn sind wir Teil der Wirklichkeit und zugleich stehen wir der Wirklichkeit gegenüber. Erst unsere leibliche Verfasstheit ermöglicht es uns, uns als Teil der Wirklichkeit zu verstehen und zugleich als Gegenüber, also die Wirklichkeit auf eine gewisse Distanz zu bringen. Wir haben dieses ambivalente Verhältnis bei der Betrachtung des Leibes selbst kennen gelernt, denn auch ihm gegenüber können wir uns distanzieren und sind doch zugleich mit ihm identisch. Damit scheint unser Verhältnis zur Wirklichkeit der Grundstruktur des Leibes sehr ähnlich zu sein. Dies ist ein guter Grund für die Annahme, dass für die Wirklichkeit ähnliche Strukturen gelten wie für den Leib.

1.

Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

In einem ersten Schritt soll es darum gehen, drei grundsätzliche Auffassungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit auf ihre Kompatibilität mit den bisherigen Erkenntnissen zu prüfen. Die erste Auffassung ist dadurch geprägt, dass sie dem Leib eine ausgezeichnete Position innerhalb der Wirklichkeit einräumt, von der aus die Wirklichkeit erschlossen werden kann. Der Leib ist hiernach der Ausgangspunkt, dessen Analyse klare und gewisse Folgerungen für die Erschließung der Wirklichkeit zulässt. Dies war in der philosophischen Tradition dadurch möglich, dass man den Leib als Ort des in sich selbst klaren Bewusstseins, der Vernunft auffasste. Ist der Leib also so etwas wie ein archimedischer Punkt, von dem aus eine klare und sichere Sicht auf die Wirklichkeit gewonnen werden kann? Eine andere Auffassung ordnet den Leib voll und ganz in die Wirklichkeit ein. Hier ist der Leib nur noch ein Element unter anderen in einer ihn weit übersteigenden Wirklichkeit, so dass wir beim Leib selbst nur einen marginalen Einblick auf die Wirklichkeit bekommen, nur wenig über die Wirklichkeit im Ganzen sagen können. Hier schwindet die Bedeutung des BewusstMerleau-Ponty 1945: 95; an anderen Stellen auch immer wieder beschrieben als »être au monde«.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

seins und der Leib wird zunächst mit dem Körper identifiziert. Das Bewusstsein ist dann ein zusätzliches, zu klärendes partikulares Problem einer bestimmten Spezies, des homo sapiens sapiens. Während also der erste Ansatz das Gegenüber des Leibes zur Wirklichkeit betont, so betont der zweite Ansatz die Eingebundenheit. Schließlich soll noch eine dritte Auffassung des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit beschrieben werden, bei der der Leib Ausgangspunkt zur Erschließung der Wirklichkeit ist, weil der Leib bestimmte Eigenschaften zeigt, von denen behauptet wird, dass diese der Wirklichkeit im Ganzen zukommen. Hier wird der Übergang durch nur eine spekulative Schlussfolgerungen gewährleistet. Am Ende werden wir sehen, warum alle drei Ansätze die bisherigen Erkenntnisse über den Leib nicht aufnehmen können. Beim Übergang unserer Untersuchung vom Leib auf die Wirklichkeit grenzen wir uns einerseits gegen die beiden schon früher behandelten Alternativen ab, gegen einen Dualismus ebenso wie gegen die modernen Formen des Monismus wie auch andererseits gegen einen spekulativen Zugang zur Wirklichkeit.

A.

Die Suche nach einem archimedischen Punkt

In der Einleitung hatten wir schon festgestellt, dass bei der Frage nach der Wirklichkeit zwei Größen unentwirrbar miteinander verbunden sind. Die Methode, mit der wir die Frage beantworten wollen, hat einen Einfluss darauf, was wir als Wirklichkeit erkennen und umgekehrt, das, was wir für wirklich halten, bestimmt die Methoden, die wir für geeignet halten, um die Wirklichkeit zu erfassen. Es fehlt in diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis auf den ersten Blick ein unabhängiges Kriterium, das uns helfen könnte, einen begründeten Anfang zu setzen. Deshalb wäre es sehr wünschenswert, es gäbe einen archimedischen Punkt, von dem aus die Wirklichkeit bestimmt werden könnte, einen Ort also, der eine absolute Geltung hat und der deshalb in der Lage ist, als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit zu dienen. Es war das Bestreben von Descartes, sich aus einer misslichen philosophischen Situation zu befreien, die von unklaren Vorannahmen und ungesicherten Schussfolgerungen bestand. 3 Er radikalisierte die 3

Vgl. Descartes 1641: 43.

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Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

Suche nach einem gewissen und sicheren Anfangspunkt durch den methodisch angewendeten Zweifel. Es ist in der Diskussion des Dualismus deutlich geworden, dass dieser Anfangspunkt eine epochale Entdeckung war, die die Isolierung des Bewusstseins ebenso zur Folge hatte wie die Auffassung der Dinge als reine res extensa. Das cogito wurde zu einem archimedischen Punkt der philosophischen Suche nach sicherer Welterkenntnis. Hier herrscht jene unmittelbare Gewissheit, an der jeder Zweifel verstummen muss. Die Dinge der Welt zeigten sich dann auf diesem Weg zur Erschließung der Wirklichkeit in einem neuen Licht: Sie bekommen die Aura des Unbezweifelbaren, da sie mittels klarer und eindeutiger Schlussfolgerungen von dem unbezweifelbaren Ausgangspunkt abgeleitet werden können. Die Trennung von res cogitans und res extensa führte aber, wie wir gesehen haben, tatsächlich zu einer defizitären Auffassung von der Wirklichkeit. Gerade Phänomene, die sich der Aufteilung zwischen res extensa und res cogitans nicht fügen, konnten mit diesem Ansatz nicht mehr dargestellt werden. Auch der kritizistische Ansatz von Kant hat strukturell hier eine Ähnlichkeit zu dem von Descartes. Kant schafft durch die Unterscheidung des Ding an sich und den Erscheinungen, die den Verstandeskräften zugänglich sind, eine Differenzierung, die ihm einen gesicherten Anfangspunkt seiner Analyse durch eine Konzentration auf die reine Vernunft ermöglicht. 4 Ist es nun denkbar, einen solchen Ort der Zweifelsfreiheit zu finden, wenn wir bei der Betrachtung des Leibes beginnen? Könnte nicht der Leib selbst als ein solcher Ausgangspunkt dienen? Denn in der Tat gab es in der Betrachtung des Leibes eine nicht mehr zu begründende, weil unmittelbar gewisse Aussage: Der Leib ist einer, obwohl er sich in unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren Erscheinungsweisen zeigt. Doch ist diese Einheit, das war zugleich eine weitere grundlegende Erkenntnis, lediglich als intuitive unmittelbare Gewissheit gegeben. Eine unanschauliche Einheit kann aber nicht der Ausgangspunkt für unbezweifelbare Schlussfolgerungen sein. Der Chiasmus selbst ist wiederum nur ein formales Schema, ein regulatives Prinzip im Sinne Kants, mit Hilfe dessen wir uns etwas besser orientieren und die verschiedenen Erscheinungsweisen zueinander in ein Verhältnis setzen können, aber er ist keine unbezweifelbare Erkenntnis. Sollte es gelingen, ein besseres Schema anzubieten, so verliert der Chiasmus seinen Wert. Schlussfolgerungen lassen sich sehr wohl inner4

Vgl. Kant 1787 (1): 69.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

halb der Ordnungen der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke oder als Körper ziehen, nicht jedoch für das übergeordnete Schema. Deshalb kann diese Vorstellung des Leibes nicht in ähnlicher Weise Ausgangspunkt für die Erschließung der Wirklichkeit sein, wie dies das cogito für Descartes war.

B.

Der Leib als partikulares Problem – Emergenztheorien

Nun kann man bezweifeln, ob man bei der Frage nach der Wirklichkeit überhaupt bei dem Leib ansetzen sollte. Ist es wirklich sinnvoll, die Erkenntnisse, die wir beim Leib gewonnen haben, auf die Wirklichkeit im Ganzen zu übertragen? Wir hatten doch betont, dass der Leib immer schon Teil der Wirklichkeit ist. Kann man dann nicht so ansetzen, dass der Leib einfach ein Element unter anderen in einer ihn weit übersteigenden Wirklichkeit ist? Die Folgerung wäre dann, dass wir aus der Betrachtung des Leibes nur partikulare Einsichten über die Wirklichkeit gewinnen können. Wenn wir die Wirklichkeit verstehen wollen, müssten wir uns dann nicht sogar in einem in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Gang der Überlegung von dem Leib zunächst weitestgehend distanzieren, damit wir keinem Anthropozentrismus verfallen? Der Leib ist ein spezifischer Gegenstand innerhalb der Wirklichkeit, Folgerungen von dem Leib auf andere Bereiche der Wirklichkeit sind hiernach sehr enge Grenzen gesetzt. Die Zufälligkeiten unserer Ausstattung als homo sapiens sapiens dürfen nicht zum Maßstab für die Erfassung der Wirklichkeit gemacht werden. Erst ein besseres Verständnis der Wirklichkeit und ihrer Gesetzmäßigkeiten kann uns helfen, auch unseren Leib besser zu verstehen. Diese Vermutung ist ein wichtiger Bestandteil einer Sicht der Welt, die von dem geschilderten Außenblick, einem ortlosen Blick geprägt ist. Die leibverhaftete Perspektive auf die Wirklichkeit muss durch eine umfassendere Perspektive, durch eine objektive Darstellung aller Teile der Wirklichkeit ersetzt werden. Die Dinge sollen möglichst objektiv und das heißt, beobachterunabhängig dargestellt werden. Wir haben schon gesehen, dass eine derart objektive Sicht auf die Welt aus guten Gründen nicht den Anspruch erheben kann, eine vollständige Darstellung der Wirklichkeit zu bieten. Auf diese Weise muss man den Menschen von außen betrachten, er ist ein Wesen unter vielen auf dieser Erde und nur zufällig sind die Betrachter aus dieser Perspek234 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

tive ihrerseits Menschen. Nun ist eine distanzierende, selbstkritische Erkenntnishaltung sogar notwendig, wenn wir die Wirklichkeit mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben wollen. Der Gang der Wissenschaften hat die Fruchtbarkeit dieser Erkenntnisform unter Beweis gestellt. Tatsächlich kann man ja den Leib als Körper untersuchen. Doch darf man das, was sich hier zeigt, nicht als die einzige Erscheinungsweise der Wirklichkeit verstehen. Es ist bei einer Verabsolutierung dieser Erscheinungsweise nicht mehr möglich, zu erkennen, dass man selbst zu dem gehört, was man betrachtet. Ein phänomenologischer Realismus aber, der unser endliches, leibgebundenes Erkennen berücksichtigt, kann die uneinholbare Verbindung von leiblicher Existenz und Wirklichkeit nicht ignorieren. Aber auch wenn man den Leib als ein partikulares Problem innerhalb der Wirklichkeit versteht, stellt sich das eigentlich gravierende Problem des Verständnisses der Wirklichkeit genau an dem Ort des Leibes. Wie kann man das Bewusstsein in eine materielle Welt integrieren? Ich möchte kurz auf eine Strategie eingehen, die in den letzten Jahren viel Zuspruch gefunden hat, die Emergenztheorie. Der Vorteil dieses theoretischen Ansatzes ist, dass man recht gut an den Stand der wissenschaftlichen Forschung anknüpfen kann. 5 Schon bevor man sich dem Problem des Bewusstseins zuwendet, existieren ausgebaute und erfolgreiche Beschreibungen der Wirklichkeit mit den Methoden der Physik, der Chemie und der Biologie. Die große Herausforderung entsteht, wenn der Mensch mit seiner Eigenschaft, ein sprachfähiges Bewusstsein auszubilden, in dieses Gesamtbild integriert werden soll. Der wissenschaftliche Ort, an dem dieses Problem lokalisiert ist, ist die Evolutionstheorie und ihre Beschreibung der Entwicklung des Menschen in dem Gesamt der Entwicklung aller Lebewesen. In dieser wissenschaftlichen Perspektive ist der Mensch Teil der Tierwelt und des ihn umgebenden ökologischen Systems. Als solcher ist er voll und ganz Teil der Entwicklung des Lebens auf der Erde, wie sie die Evolutionstheorie beschreibt. Wie aber kam es in dieser Entwicklung zur Ausbildung des sprachfähigen Bewusstseins? Da offenkundig die Primaten das Vermögen der begrifflichen Vernunft nur in sehr eng bemessenen Grenzen haben, kann man das Problem der Wirklichkeit des Menschen untergliedern in die Bestimmung der Wirklichkeit eines Primaten plus Allerdings gibt es unter vielen Naturwissenschaftlern eine nicht unerhebliche Skepsis, wenn man die Theorie auf das Bewusstsein anwendet, vgl. Stephan 2007: 247.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

der zusätzlichen Eigenschaften des homo sapiens sapiens. Der Unterschied soll durch das Phänomen der starken Emergenz erklärt werden. Die klassischen Emergenztheorien bilden ein verzweigtes System und erfassen sehr unterschiedliche Phänomene. 6 Die ersten Theorien wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt und versuchten einen Weg zur Beschreibung von Lebensphänomenen zu finden, der weder dem Extrem eines rein mechanistischen Denkens folgte noch dem Extrem einer vitalistischen Spekulation über unreduzierbare Lebenskräfte. 7 Eindeutig ist besonders die Abgrenzung der Theorien gegenüber vitalistischen oder übernatürlichen Ansätzen: »Das erste Merkmal ist die uneingeschränkte Akzeptanz eines naturalistischen Ansatzes.« 8 Das Phänomen der Emergenz antwortet auf die Frage, wie genuin Neuartiges, etwa das Leben oder das Bewusstsein, in der Natur entstehen kann. Nun ist es schon nicht trivial zu definieren, was man als genuin neu bezeichnen kann. Zumeist wird auf die systemische Bedingtheit des zu Untersuchenden hingewiesen und darauf, dass die Eigenschaften nicht nur durch die Elemente, sondern auch durch die Strukturen bestimmt sind. Stephan hält fest, »dass das Entstehen neuer Strukturen eine notwendige Bedingung für das Auftauchen neuer Entitäten und neuer Eigenschaften ist.« 9 Neben der Neuartigkeit werden weitere Merkmale mit unterschiedlichem Anforderungsgrad genannt, wie etwa der Unvorhersagbarkeit der neuen Eigenschaften oder ihre Irreduzibilität auf schon gegebene Eigenschaften. Nun gibt es unter der Vielzahl der emergenten Eigenschaften in der Natur manche, die eigentlich keine Herausforderung für die naturwissenschaftlichen Theorien darstellen. Diese beschreibt der Begriff der schwachen Emergenz. Der Begriff besagt, dass Systeme Eigenschaften entwickeln können, die keinem der einzelnen Elemente innerhalb des Systems oder den Relationen zukommen. Hier sind die neuen Eigenschaften keine Überraschung, es liegt keine absolute Neuartigkeit Stephan unterscheidet in einer instruktiven Schematisierung »schwacher Emergentismus«, »schwacher diachroner Emergentismus«, »synchroner Emergentismus«, »starker diachroner Emergentismus«, »diachroner Strukturemergentismus« und »starker diachroner Strukturemergentismus«, vgl, Stephan 2007: 71. 7 Vgl. a. a. O.: 11. 8 A. a. O.: 14. Der Begriff naturalistisch wird hier so verstanden, dass nur das als Teil einer Theorie akzeptiert werden kann, was sich wissenschaftlicher Erkenntnis erschließt. 9 A. a. O.: 19. 6

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vor. So können in einer modernen Interpretation Phänomene der Selbstorganisation als Beispiele von Emergenz dargestellt werden. 10 Wenn man den Begriff in diesem Sinne ausweitet, wird eine Vielzahl von eher einfachen physikalischen oder chemischen Effekten mit erfasst. So ist die Kinetik zuständig, um die Bewegungen einiger Gasmoleküle zu beschreiben, die Größen Druck, Volumen und Temperatur aber, wenn es sich um sehr viele Gasmoleküle auf engem Raum handelt. Dies ist aber nicht das eigentliche Anwendungsgebiet des Emergenzbegriffes. Die klassischen Emergenztheorien sahen sich besonders durch die Evolutionstheorie veranlasst, über das natürliche Entstehen von überraschend Neuem nachzudenken, insbesondere die Phänomene von Leben und Bewusstsein. Wie kann es sein, dass aus natürlichen, physikalisch und chemisch beschreibbaren Prozessen Leben entsteht und weiterhin so etwas wie Bewusstsein? Die Evolutionstheorie bietet nun hier die Rahmentheorie, innerhalb derer die Frage nach der Emergenz von Neuem lokalisiert werden kann. Hier findet der Begriff der starken Emergenz seine Anwendung. Starke Emergenz ist durch die Eigenschaften Neuartigkeit und Irreduzibilität gegeben. 11 Wenn man der zeitlichen Entwicklung der Evolution folgt, dann zeigt sich insbesondere mit dem Auftauchen des Bewusstseins eine überraschende neue Eigenschaft. Die Emergenztheorie unterscheidet sich von einem strikten Reduktionismus: Die Behauptung der starken Emergenz verhindert eine Reduktion des Bewusstseins auf rein materielle Prozesse und ermöglicht doch eine Integration der Entstehung des Bewusstseins in die übergeordneten naturwissenschaftlichen Theorien, insbesondere in die Evolutionstheorie. 12 Mittels des Begriffs der Emergenz ergibt sich damit ein Bild der Wirklichkeit, das sich auf den ersten Blick sehr solide ausnimmt. Es zeigt, dass komplexere Gebilde aus einfacheren Gebilden zusammengesetzt sind, so dass ein Stufenbau entsteht. Die einfachsten und am besten zu verstehenden Anteile der Wirklichkeit bilden das Fun10 Vgl. a. a. O.: 238 f. Der Autor kritisiert diesen Gebrauch des Begriffs Emergenz, da er eine klare Charakteristik vermissen lässt. 11 Stephan weist auch auf die weitere Spezifizierung einer neuartigen Struktur hin und nennt diese Emergenzform »starker diachroner Strukturmergentismus«. 12 Stephan sieht hier eine große argumentative Nähe der klassischen Emergenztheorien mit den Ansätzen in der philosophy of mind-Debatte, die die Irreduzibilität des Bewusstseins etwa über das Qualia-Argument nachweisen wollen, vgl. a. a. O.: 186.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

dament. Darauf aufbauend lagern die stets komplexer werdenden Wirklichkeitselemente. Zuoberst kommt dann der Mensch zu stehen, mit Bewusstsein oder Geist begabt. Der Sprung von der Tierwelt zu dem sprachfähigen Bewusstsein des Menschen ist eine schwer zu erklärende Stufe. Das Bild bietet also keine vollständige Erklärung der Wirklichkeit, jedoch ist der Gesamtaufbau scheinbar plausibel und die wichtigsten Zusammenhänge sind verstanden. Möglicherweise steht im Hintergrund auch die Erwartung, starke Emergenz wie auch schon die anderen schwachen Emergenzphänomene durch genauere Untersuchungen verstehen zu können. Der Aufbau folgt in seiner Logik der Maxime von Descartes, dass man komplexe Probleme in einfachere zerlegen und zunächst die einfacheren lösen sollte, um sich dann zum Schluss den komplexen erneut zuzuwenden. 13 Diese Strategie hat sich in sehr vielen Arbeitsbereichen der Naturwissenschaften bewährt. Warum sollte sie nicht auch auf das Verständnis des Bewusstseins anwendbar sein? Doch der mit dem Phänomen der starken Emergenz gesicherte harmonische und vollständige Aufbau ist tatsächlich von einer starken spekulativen Annahme getragen. Die spekulative Annahme ist die, dass wir alle Phänomene der Wirklichkeit verstehen können und das Hauptproblem als ein Problem einer bestimmten Spezies eingrenzen können. In dieser Darstellung wird die nicht unerhebliche Tatsache ignoriert, dass das so als noch unverstanden gekennzeichnete Bewusstsein zugleich die Voraussetzung aller Erkenntnis ist! Ein näherer Blick zeigt deshalb, dass die Solidität nur stimmt, wenn tatsächlich die Erkenntnisse über die Wirklichkeit verlässlich sein könnten, ohne dass wir aber ein hinreichendes Verständnis vom Bewusstsein haben. Hier kommt wieder eine Grundannahme der Leondardo-Welt zur Geltung, nämlich die, dass der Mensch ein eingekapseltes Wesen ist. Was auch immer die Probleme im Verständnis des Menschen sein mögen, sie lassen sich lösen, wenn man das körperliche Wesen mit seinen Eigenschaften analysiert. Das Unverstandene, die Existenz des Bewusstseins in der Welt wird gleichsam eingekapselt und als Teil des körperlichen Systems des Menschen verstanden. Das Problem des Bewusstseins wird nur relevant, wenn wir den Menschen untersuchen, der Bewusstsein hat. Es ist aber nicht relevant, wenn wir alle anderen Elemente der Wirklichkeit untersuchen.

13

Vgl. Descartes 1637: 31 ff.

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Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

Dieser Schluss ist jedoch erkenntnistheoretisch in hohem Maße fragwürdig. Den Eindruck eines harmonischen Aufbaus ermöglicht die Emergenztheorie weiterhin dadurch, dass sie mit einem weiten Begriff von Emergenz sehr unterschiedliche Zusammenhänge terminologisch eint. Stephan sieht dieses Problem und unterscheidet deshalb verschiedene Formen der Emergenz: starke Emergenzen und schwache Emergenzen. Aber auch dies suggeriert, als ob es bei beiden um ein und dasselbe Phänomen gehe, wenn auch die Bedingungen sich ändern mögen, so dass man zwischen einer starken und einer schwachen Art unterscheidet. Die Adjektive legen nah, dass es sich bei den Emergenzen um ein und dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Zusammenhängen handelt. Es ist aber meiner Ansicht nach nicht möglich, derart unterschiedliche Phänomene mit einem Begriff zu belegen. 14 Die Überzeugungskraft der Emergenztheorien lebt weiterhin von der grundlegenden Behauptung, es sei möglich, die Wirklichkeit auf eine Weise zu verstehen, als ob man selbst, der Beobachter, nicht beteiligt wäre, als ob man sie von außen betrachten könnte. So ergibt sich ein fast geschlossenes Bild von der Wirklichkeit, eben jene schon beschriebene geschlossene Weltsicht, letztlich bleibt allein das Phänomen der starken Emergenz unverstanden. Dieses letzte Rätsel aber wird zumindest terminologisch abgemildert, weil man es scheinbar einreihen kann in eine Vielzahl weiterer, verständlicher Emergenzphänomene. Das Ziel der Emergenztheorie ist es offenkundig, einerseits die Unableitbarkeit des Bewusstseins und seiner Eigenschaften zu bewahren, andererseits aber ansonsten der wissenschaftlichen Erklärung der Wirklichkeit einen möglichst großen Raum zu geben. Ist nicht, so könnte man kritisch fragen, der Begriff des Leibes im Schema des Chiasmus in ähnlicher Weise etwas Unverstandenes, das einen Namen bekommt und damit unschädlich wird? Ich glaube, dass hier eine erhebliche Differenz besteht. Denn das Unverstandene des Leibes wirkt sich für das Verständnis aller einzelnen Erscheinungsformen des Leibes aus und sorgt dort für einen umfassenden und unausweichlichen Vorbehalt, der für alle Erkenntnisse gilt. So entsteht eine 14 Stephan fragt seinerseits, ob es nicht möglich sei, einen mittleren Begriff der Emergenz zu prägen. Sein Resümee in dieser Frage lautet aber: »Mir selbst scheint es eher so zu sein, dass sich zwischen starkem und schwachem Emergenzbegriff kein wirklich interessanter Begriff des Emergenten ansiedeln lässt.« Stephan 2007: 249.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

theorieimmanente Unruhe, und es ist zu erwarten, dass es eine produktive Unruhe ist, die Theorieangebote immer wieder in Bewegung bringt. Letzte Festlegungen sind innerhalb dieses Schemas nicht möglich. Dagegen scheint es die Strategie der Emergenz zu sein, das bisher Erkannte als solide und methodisch abgesichert darzustellen. Das, was wir erkannt haben, ist richtig und fundiert. Der Vorteil dieser Strategie für die wissenschaftliche Produktivität ist sicherlich diskussionswürdig. 15 Die Theorie der Emergenz ist mit den schon erarbeiteten Bedingungen des phänomenologischen Realismus nicht vereinbar. Der menschliche Leib, das ist der Kern der Argumentation, ist nicht ein partielles spezifisches Problem innerhalb der Wirklichkeit, sondern die Voraussetzung für den Zugang auf das Ganze der Wirklichkeit. Der Leib ist zur Welt, wie Merleau-Ponty sagt. Nur dann, wenn wir von den verschiedenen Weisen, wie sich der Leib uns präsentiert, abstrahieren und ihn in der objektiven Sicht der Wissenschaft als ein gattungsspezifisches Problem des homo sapiens sapiens deuten, kann es so scheinen, als sei das Problem der Leiblichkeit ein Partikularproblem innerhalb der wissenschaftlich beschriebenen Welt der Lebewesen. Doch dem ist nicht so. Der Impetus von Merleau-Ponty war es gerade, die konstitutive Rolle unserer leiblichen Existenz für jede Form der Erkenntnis von Wirklichkeit darzustellen.

C.

Schopenhauers Schluss vom Leib auf die Wirklichkeit

Es gibt neben der Vorstellung des Leibes als Fundament zur Erschließung der Wirklichkeit und der Vorstellung des Leibes als eines partikularen Problems innerhalb der Wirklichkeit noch einen dritten Typus: der spekulative Schluss vom Leib auf die Wirklichkeit. Schopenhauer hat für ein Verständnis der Wirklichkeit plädiert, bei dem man aufgrund der Erkenntnisse, die man beim Leib gemacht hat, auf die Wirklichkeit schließen kann. So kommt er nach einer Darstellung der zweifachen Weise, in der uns der Leib gegeben ist, als Wille und als Vorstellung, zu dem Schluss, dass diese Erkenntnis auf alles Weitere übertragen werden muss. »Wir werden demzufolge die nunmehr zur Deutlichkeit erhobene doppelte, auf zwei völlig heterogene Weisen ge15

Diese Kritik am Emergenzbegriff ist schon älter, vgl. a. a. O.: 135 ff.

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Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib und Wirklichkeit

gebene Erkenntniß, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen und alle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellung unserem Bewusstseyn gegeben sind, eben nach Analogie jenes Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem innern Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen.« 16 Schopenhauer vollzieht hier einen direkten Schluss von der Beschreibung des Leibes auf die Beschreibung der Wirklichkeit. Man kann seiner Ansicht nach die Wirklichkeit nur dann adäquat verstehen, wenn man die Weisen, wie sie sich am eigenen Leibe zeigt, auf die Wirklichkeit überträgt. Die Dinge in der Welt sind genau so zu verstehen wie der Leib. Wenn man jedoch, in der Schopenhauerschen Terminologie ausgedrückt, allein auf jene Vorstellungen achtet, die man von der Welt hat, wird man zu vielen Schlussfolgerungen kommen können, jedoch nie die Dimension auch nur berühren, die sich allein in der Existenz des Willens im eigenen Leibe zeigt. Der eigene Leib ist also jener Ort in der Wirklichkeit, in der man auf die unterschiedlichen Perspektiven aufmerksam werden kann. Hierin besteht, wie schon gezeigt, eine gewisse Nähe zu unserem Vorgehen. Nun ist allerdings die Art des Schlusses, den Schopenhauer nun vollzieht, für eine an den Regeln des phänomenologischen Realismus orientierte Theorie keine Möglichkeit. Er hat einen in hohem Maße spekulativen Schluss gezogen, indem er die »Innenseite«, die er aus der eigenen Beobachtung seines Leibes kannte, nun auf alle Dinge der Welt überträgt. Wir hatten die Einführung des Schemas des Chiasmus in der Terminologie Kants auch spekulativ genannt, jedoch ist dieses hypothetisch spekulativ. Es ist jederzeit deutlich, dass es sich nicht um einen notwendigen, sondern nur um einen möglichen Schluss handelt. Schopenhauer dagegen verwendet die Schlussfolgerung von dem Leib auf die Welt in apodiktischer Weise. Dieser metaphysische Schluss ist apodiktisch, er versteht sich als eine notwendige Schlussfolgerung. Von hier aus werden von Schopenhauer weit reichende Aussagen über die Kohärenz der Wirklichkeit abgeleitet. Wir sind dagegen nach wie vor 16

Schopenhauer 1819 (1): 148 f.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

dem methodischen Ansatz verpflichtet, nur so viel metaphysische Annahmen als Hypothese zuzulassen, als unbedingt notwendig sind, um die Erscheinungsformen, die sich zeigen, besser ordnen zu können. Damit sind metaphysische Spekulationen über das Eigentliche, eine letzte Substanz oder ähnliches unterbunden. Schopenhauer aber vollzieht den Schluss vom Leib auf die Wirklichkeit in einer Weise, die die Erkenntnisse über den Leib einfach mit den Behauptungen über die Wirklichkeit im Ganzen gleichsetzt. Dieser Schluss ist nicht notwendigerweise falsch, er ist aber in hohem Maße spekulativ und legt die Betrachtung der Wirklichkeit auf unnötige Weise fest. Damit verliert er aber die Freiheit, auf die Differenzen zu achten, die sich der Festlegung nicht fügen. Sein Fehler ist, dass er mit Gewissheit Zusammenhänge behauptet, die nicht gesichert sein können, wenn man auf den eigenen Ort der endlichen Erkenntnis achtet. Da auch Schopenhauer selbst leibliches Wesen ist, dem sich die Welt als Wille und Vorstellung zeigt, kann er diesen Ort nicht verlassen und aus einer imaginären Perspektive das innere Wesen der Dinge der Welt der Vorstellung bestimmen und sie mit dem Willen identifizieren. Der phänomenologische Realismus fordert nun aber, dass stets der Ort dessen, der erkennt, bei der Formulierung von Behauptungen über die Wirklichkeit berücksichtigt wird. Über den Ort, an dem er Gewissheit über den spekulativen Schluss erlangt, kann Schopenhauer keine Auskunft geben.

2.

Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

Das bisherige Ergebnis zeigt: Der phänomenologische Realismus, der den Regeln des endlichen Erkennens verpflichtet ist, kann weder wie der Dualismus auf einen festen Ausgangspunkt hoffen, noch ist er in der Lage, das Verstandene von dem Unverstandenen säuberlich zu trennen, noch ist es hilfreich, weitreichende spekulative Aussagen zu machen. So bleibt die Frage, wie wir dann von der vorgenommenen Beschreibung des Leibes auf die Wirklichkeit schließen können. Die erste und wichtigste Erkenntnis dieser Theorie ist die Unmöglichkeit, sich der Wirklichkeit von außen zu nähern. Die in der angelsächsischen Literatur so genannte »Perspektive Gottes« können wir nicht einnehmen, wenn wir die Bedingungen unserer leiblichen Existenz ernst nehmen. Wir sind immer schon viel zu innig mit der Wirk242 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

lichkeit verwoben. Der Begriff des Leibes umschreibt die Weise, in der wir mitten unter den Dingen sind. Die Metaphern »rohes Sein«, »Fleisch« etc. des späten Merleau-Ponty sind Bestimmungen der Wirklichkeit, die Eigenschaften, die in der Analyse des Leibes gewonnen wurden, aufnehmen und über den Leib hinaus auf die Wirklichkeit ausdehnen. 17 Merleau-Ponty hat in seinen Arbeiten den Begriff Wirklichkeit nicht explizit benutzt, er gebrauchte eher die Begriffe Sein 18 oder Natur 19, ihm war es aber von Beginn an wichtig, die ontologischen Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir leiblich in die Wirklichkeit eingebunden sind. Es ging ihm um eine Reflexion der Situation des Erkennens, die die Verwobenheit mit der Wirklichkeit anerkennt. Dementsprechend ist es notwendig von der Beschreibung des Leibes aus die Bestimmung der Wirklichkeit vorzunehmen. Der Leib erweist sich so als der entscheidende Schlüssel zur Beantwortung unserer Ausgangsfrage nach der Wirklichkeit. Es ist auch nicht so, dass wir den Leib als ein Sonderproblem innerhalb der Wirklichkeit deuten können, vielmehr ist der Leib diejenige exemplarische Zone der Wirklichkeit, an der sich erst zeigt, wie die Wirklichkeit strukturiert ist. Der Leib ist der Ort, an dem wir in die Wirklichkeit »hineingegossen« sind und zugleich ist der Leib der Ort, von dem aus wir der Wirklichkeit gegenüber stehen. Es gibt also eine doppelte Bestimmung von Gegenübersein und Insein. In dieser doppelten Bestimmung spiegelt sich ein Verhältnis, das wir schon beim Leib selbst kennen gelernt haben: Der Leib ist sich zugleich Subjekt und Objekt, er berührt und wird berührt, sieht und wird gesehen. Die Wirklichkeit im Ganzen hat damit also Anteil an dieser doppelten Bestimmung. Deshalb ist auch all das, was wir je über die Wirklichkeit in Erfahrung bringen können, geprägt von dieser doppelten Bestimmung, die wir für den Leib herausgearbeitet haben. Die Wirklichkeit sollte folglich ebenso wie der Leib als Produkt einer Verschränkung, also innerhalb des Schemas des Chiasmus dargestellt werden können.

17 18 19

Vgl. Merleau-Ponty 1964: 121; 133. Vgl. a. a. O.: 121. Vgl. a. a. O.: 216; vgl.auch Merleau-Ponty 2000.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

A.

Die Erscheinungsweisen in der Wirklichkeit

Der Leib ist ohne Zweifel Teil der Wirklichkeit, die wir erkennen wollen. Wenn wir uns also der Bestimmung der Wirklichkeit zuwenden, dann müssen wir darauf achten, dass wir diese Erkenntnisse über den Leib nicht wieder dadurch verlieren, dass die Bestimmung der Wirklichkeit ihnen auf verdeckte Weise widerspricht. Bei der Betrachtung des Leibes ist deutlich geworden, dass es eine Pluralität von Erscheinungsweisen des Leibes gibt und dass es einer unzulässigen Verkürzung des Spektrums des Chiasmus gleichkommt, wenn man einigen Erscheinungsweisen nur einen uneigentlichen, abgeleiteten Status zuerkennt und sich auf solche allein bezieht, die man aus methodischen Gründen zuvor zur Norm erklärt hat. Die Offenheit von Erscheinungsweisen muss dementsprechend auch die Analyse der Wirklichkeit auszeichnen. Es ist geboten, dass wir darauf achten, dass der Leib nicht durch die Beschreibung der Wirklichkeit einer eindeutigen Fixierung unterworfen wird, die einer Definition von außen gleich kommt und die die Vielfalt der Erscheinungsweisen, in der der Leib sich zeigt, reduziert. Es wird also nicht möglich sein, eine Beschreibung der Wirklichkeit zu entwickeln, die eine der möglichen Erscheinungsweisen des Leibes nicht zu umfassen in der Lage wäre. I.

Wirklichkeit ist unanschaulich

Wenn der Leib Teil der Wirklichkeit ist, dann lässt sich sofort die Schlussfolgerung ziehen, dass auch die Wirklichkeit eine Einheit von Erscheinungsweisen ist, die in notwendiger Weise unanschaulich bleiben muss. Denn wenn man die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit zu einem konsistenten und vollständigen Gesamtbild vereinen könnte, müsste zwangsläufigerweise auch jener Teil der Wirklichkeit, den der Leib ausmacht, von dem Gesamtbild erfasst sein. Wenn das Gesamtbild der Wirklichkeit aber konsistent und vollständig ist, muss notwendiger Weise auch ein vollständiges und konsistentes Bild des Leibes existieren. Damit aber entstünde ein Widerspruch zu unserer bisherigen Analyse. Wir können also ohne weitere Informationen über die Wirklichkeit schon die Feststellung treffen, dass die Wirklichkeit nicht als Objekt anschaulich wird, dass es kein vollständiges Gesamtbild von ihr geben kann. Es gibt keine ausgezeichnete und privilegierte Erscheinungsweise, deren Teil die Wirklichkeit im Ganzen wäre. Keine einzel244 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

ne Methode des Erkennens kann den Anspruch erheben, allein in normativer Weise Wirkliches von Unwirklichem unterscheiden zu können. Jede Methode sieht nur etwas Spezifisches, durch sie selbst Begrenztes. Keine Methode ermöglicht eine umfassende Erkenntnis. Es gibt keine normative Methode zur Bestimmung der Wirklichkeit im Ganzen. II.

Der Umfang der Erscheinungsweisen

Das Schema des Chiasmus zeigte, dass sich die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Leibes in einer hypothetischen Ordnung des Chiasmus darstellen lassen. Sie unterschieden sich durch den unterschiedlich starken Einfluss der beiden Größen Bewusstsein* und Körper*. Die Extreme sind bestimmt durch die Dominanz des Bewusstseins* oder durch die Dominanz des Körpers*. Die Erscheinungsform des Leibes als Gedanke umfasst raumlose Phänomene wie mathematische Formeln, logische Schlussfolgerungen, Begriffsbestimmungen, Theorien und so weiter. Nun ist der Leib Teil der Wirklichkeit. Die Erscheinungsform des Leibes als Gedanke ist also auch Erscheinungsform der Wirklichkeit. Deshalb muss eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit auch in der Lage sein, diese raumlosen Erscheinungsweisen zu berücksichtigen, in denen sich der Leib als Gedanke zeigt. In gleicher Weise aber muss die Wirklichkeit auch jene Erscheinungsformen berücksichtigen, in denen sich der Leib als Körper zeigt. Diese Forderung ist uns sofort plausibel, da sie mit den Vorstellungen unserer Alltagswelt, der Leonardo-Welt, kompatibel ist. III. Gibt es weitere, neue Erscheinungsweisen der Wirklichkeit? Die Frage nach den Erscheinungsweisen in der Wirklichkeit ist bislang noch nicht hinreichend beantwortet, die Bedingungen, die wir hier gefunden haben, sind nur eine Minimalbedingung für die Darstellung der Wirklichkeit: die Vorstellungen über die Wirklichkeit müssen kompatibel sein mit den Vorstellungen über den Leib. Doch kann es auch weitere Erscheinungsweisen geben, in denen sich der Leib nicht zeigt, nicht zeigen kann? Es wäre ja zunächst denkbar, dass es Erscheinungsweisen der Wirklichkeit gibt, die ganz anders geartet sind als die Erscheinungsweisen des Leibes, die wir bisher kennen gelernt haben. Denn die Wirklichkeit ist insbesondere in der Erscheinungsweise als 245 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Körper größer und umfassender, sie transzendiert die Sphäre des eigenen Leibes. Die entscheidende Frage ist nun, ob wir mit dem begrifflichen Rüstzeug aus der Analyse des Leibes auch etwas über die Wirklichkeit im Ganzen sagen können. Tatsächlich ist der Umfang der Erscheinungsweisen ja nicht statisch. Wir werden in Kapitel 7 sehen, dass in der Kulturgeschichte eine Ausweitung der Erscheinungsweisen beschrieben werden kann. Gerade an den Rändern gibt es eindeutig Ausweitungen. Im Bereich der Mathematik und der Logik ist heute zum Beispiel der Umfang der Theorien wesentlich größer als etwa im Jahre 1600. Und noch stärker hat sich die Erscheinungsweise der Wirklichkeit im Bereich der Körper durch immer abstraktere Darstellungen ausgeweitet. Doch sind dies sukzessive Veränderungen und Ausweitungen der schon bestehenden Erscheinungsweisen. Es ist aber nicht so, dass völlig andersartige Erscheinungsweisen hinzugekommen wären. Sollte die Frage also so verstanden werden, ob es gänzlich andere Erscheinungsweisen der Wirklichkeit gibt als die des Leibes, so wird man diese Frage verneinen können. Außerdem lassen sich jene Erweiterungen in den Erscheinungsformen, die wir der wissenschaftlichen Entwicklung zu verdanken haben, immer auch auf den Körper beziehen. Wenn es gelingt, den Aufbau der Materie aus Elementarteilchen zu beschreiben, so kann diese Beschreibung auch auf den Körper übertragen werden. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Spektrum der Erscheinungsweisen der Wirklichkeit größer ist als das des Leibes. IV. Begegnungen in der Wirklichkeit: der Andere, Gott Wenn aber in dem Spektrum der Erscheinungsweisen keine fundamentalen Veränderungen zu erwarten sind, so heißt das nicht, dass damit die Wirklichkeit innerhalb der vom Leib her bekannten Erscheinungsweisen vollständig erfasst ist. Denn es gibt noch etwas in der Wirklichkeit, was wir bislang nicht bedacht haben: die Existenz anderer Menschen und die Existenz Gottes. 20 Diese klassische Zweiteilung genügt eigentlich nicht. Denn auch den Tieren begegnet man in der Wirklichkeit und es ist keine Begegnung mit einer Sache. Es gibt in der Begegnung mit dem Tier eine »cognitio experimentalis« (Hagencord 2009: 222), die einen nicht unwichtigen Anteil an der Menschwerdung selbst hatte. Es geht darum, den Menschen »als Im-Blick-auf-die-Tiere menschwerdend« (a. a. O.: 223) zu verstehen. Dies ist insbesondere wichtig für die Deutung der Höhlenmalereien. Doch auch heute gilt nach Hagencord unter Berufung auf Martin Buber: »Sie sprechen uns an, dieses –

20

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

Wie aber erscheinen andere Menschen? Wenn wir unsere Vorstellung vom Leib zugrunde legen und annehmen, dass auch andere Menschen in gleicher Weise leiblich existieren, dann müssen wir folgern, dass die leibliche Existenz anderer Menschen uns ebenso wenig zugänglich ist wie anderen unsere eigene Existenz. Die leibliche Existenz der Anderen, des Anderen erscheint ebenso in allen der möglichen Erscheinungsformen zugleich. Nur erscheint sie nicht uns, sondern dem Anderen. Das ist einerseits ein völlig hypothetischer Schluss, wie wir es in der Diskussion um die Zombies gesehen haben, aber es ist zugleich ein notwendiger Schluss. In der sprachlichen Kommunikation erhalte ich indirekt eine Ahnung von den Gedanken der Anderen, des Anderen. Ich kann nur mit einem lebenspragmatischen Selbstwiderspruch annehmen, die Sprache von Menschen seien nichts als Schallwellen und dann das Gespräch mit ihnen ernst nehmen. Die Gefühle anderer Menschen sind ebenso erfahrbar, wenn ich mich auch da immer noch täuschen kann. Der Körper des Anderen ist mir als Körper ebenso zugänglich wie mein eigener Körper. Die bisherige Beschreibung des Erkennens ist also dringend ergänzungsbedürftig. Offenkundig reicht es nicht aus, wenn wir uns unseres eigenen Leibes versichern, ihn als eine letzte Größe, hinter die wir nicht zurückgehen können, werten und allein von seiner Existenz aus die Wirklichkeit erschließen. Wir müssen unsere Beziehung zu anderen Menschen beschreiben können, die Einbindung in die soziale Welt, die uns umgibt, durchdringt und prägt, die kulturgeschichtliche Entwicklung, innerhalb derer wir zu verorten sind. Wir haben diese Seite des Merleau-Ponty’schen Denkens bislang sträflich vernachlässigt und das ist nur entschuldbar durch das Bemühen, die Argumentation möglichst stringent zu halten, mit der wir den Leib und die Wirklichkeit Schritt für Schritt erschließen wollen. Auch hier müssen wir in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werden wir danach fragen, was geschieht, wenn wir auf einen anderen Menschen treffen. Diese Frage ist auf eine Begegnung mit der Anderen, dem Anderen ausgerichtet. In Kapitel 7 dann werden wir nach der wesentlich grundlegenderen, konstitutiven Beziehung fragen, die der andere Mensch immer schon zu uns hat. Hier werden wir uns dem Thema also noch einmal auf viel umfassendere Weise nähern. als ›Stammeln der Natur unter dem ersten Griff des Geistes‹ – erreicht (…) den Menschen«. A. a. O.: 203.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Zunächst also zur Begegnung mit dem anderen Menschen. Wie identifiziere ich nun den Anderen als menschliches Gegenüber, als Du? Hier gibt es eine erstaunliche Antwort: Der andere Mensch ist als leibliche Existenz nicht eindeutig zu identifizieren. Hier zeigt sich eine Besonderheit des Verhältnisses zum anderen Menschen, die erst später deutlicher werden wird. Erst einmal kann die Bemerkung von Waldenfels als Warnung gelten, die die Begegnung in gewisser Weise zugleich relativiert: »Die Anderen treten nicht zusätzlich in meine Eigenheitssphäre ein, sondern ich gehöre mir nie ganz selber.« 21 Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist also kein völlig neuer Kontakt. Dennoch ist diese Begegnung zugleich unanschaulich und unverfügbar. Diese Unanschaulichkeit macht zweierlei möglich: Der andere Mensch ist in allen Dimensionen der leiblichen Existenz wirklich und zugleich ist er auf die Anerkennung durch einen Menschen angewiesen. Es ist eine traurige Erfahrung der Menschheitsgeschichte, dass es immer wieder geschehen konnte, dass Menschen sich gegenseitig ihr Menschsein und so ihre wechselseitige Achtung und ihren Anspruch auf Menschenwürde aberkannt haben. Offenkundig ist es so, dass von der Erscheinung eines anderen menschlichen Körpers nicht unmittelbar ein Zwang ausgeht, diesen anderen Menschen auch als Menschen zu achten. 22 Die Unterscheidung zwischen »Jemand« und »Etwas« kann jederzeit aufgebaut, aber auch negiert werden. Der andere Mensch ist nie eine vorgegebene Größe, die in einer Art objektiver Gegebenheit existiert. 23 Spaemann führt dazu aus: »Der Andere muss mir in der sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen ›Mensch‹ gegeben sein, in der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges gegeben ist. Sein Personsein aber ist wesentlich das nie Gegebene, sondern in freier AnerkenWaldenfels 2000 (1): 44. Levinas macht darauf aufmerksam, dass die reine Gegebenheit des Anderen noch nicht ausreicht, um Achtung, Verbindung bis hin zur Liebe auszulösen: »Vielleicht liegt das geistige Band in der Nicht-Indifferenz der Menschen gegeneinander; man nennt dies auch Liebe; sie verzehrt aber nicht die Differenz der Fremdheit und ist nur möglich im Ausgang von einem Wort oder einer Weisung (ordre), die durch das menschliche Antlitz hindurch aus dem hoch Erhabenen außerhalb der Welt kommt.« Levinas 1986: 54. 23 Husserl macht in den Cartesianischen Meditationen deutlich, dass andere Menschen einen eigentümlichen, nicht auf anderes reduzierbaren Status haben: »So mit Leibern eigenartig verflochten, als ›psychophysische‹ Objekte sind sie ›in‹ der Welt. Andererseits erfahre ich sie zugleich als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend (…).« Husserl 1931: 93. 21 22

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nung Wahrgenommene. Der Doppelsinn des Wortes ›wahr-nehmen‹ kommt hier zum Tragen.« 24 Das Personsein ist die vollgültige Anerkennung der leiblichen Existenz des anderen Menschen. Das bedeutet: Erst die Unanschaulichkeit der leiblichen Existenz des anderen, erst die gefährliche Möglichkeit, ihn oder sie jederzeit auch zu verkennen, schafft die Möglichkeit und damit auch die Notwendigkeit der Anerkennung. Der Mensch findet bei einem anderen Menschen Anerkennung als Person, wenn seine körperliche Anwesenheit zugleich als Spur seiner umfassenden leiblichen Existenz gewertet wird. 25 In der Anerkennung aber kann eine tiefe Verbindung entstehen, die weit über alle anderen Verbindungen hinausgeht. Merleau-Ponty nennt diese Verbindung auch »Zwischenleiblichkeit.« 26 Die Anerkennung der Anderen, des Anderen hat einen ganz wichtigen Aspekt, der sich von dem methodischen Szenario bei Dennett deutlich unterscheidet. Man kann dies auf die Formel bringen: Es gibt keine objektive Methode, durch welche ich einen Menschen als Menschen beschreiben könnte. Ich kann möglicherweise jemanden als Exemplar der Gattung homo sapiens sapiens identifizieren. Doch ist da immer noch nicht die Entscheidung zwischen einem »etwas« und einem »jemand« gefallen. Ich kann nur dadurch einen Menschen als Menschen erkennen, indem ich mich selbst in die Betrachtung mit einbeziehe. Jeder Versuch, sich in der eigenen leiblichen Existenz dabei außen vor zu lassen, also einen Menschen in einen Glaskasten zu setzen und ihn dann mit objektivierenden Methoden zu beschreiben, vernichtet diese Möglichkeit, denn dann geschieht eine Reduktion des Menschen auf seine Erscheinungsweise als Körper. Nur bei mir selbst erlebe ich das ganze Spektrum der Erscheinungsweisen, also kann ich auch nur unter Einbeziehung meiner selbst einen Menschen als Menschen erkennen. Schließlich bleibt noch die Frage nach der Wirklichkeit Gottes. Wenn es beim Menschen so ist, dass seine leibliche Existenz nur in Spuren erfahrbar wird, so gilt dies auch für Gott, der sich in dem Menschen Jesus Christus offenbart hat. Gottes Existenz ist nicht zu denken als Körper unter Körpern. Wir können zu Gott kein objektivierendes Verhältnis haben. 27 Gott erscheint in Erfahrungen von Sinn und Ver24 25 26 27

Spaemann 2006: 194. Vgl. zum Ganzen: Vogelsang 2011. Merleau-Ponty 1964: 185. Hierauf weist das Diktum von Dietrich Bonhoeffer: »Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

trauen. 28 Er erscheint, das belegen viele neutestamentliche Stellen, gerade in alltäglichen Gestalten, in der Gestalt des bedürftigen Nächsten. Und doch ist er nie mit einer der Gestalten oder Erfahrungen zu verwechseln. Doch stellen sich hier vielfältige Fragen und Probleme, für die hier nicht der Ort ist. Dies soll an einer anderen Stelle weiter ausgearbeitet werden.

B.

Der Leib in der Erscheinungsweise als Körper und seine Umgebung

Der entscheidende Unterschied zwischen dem Leib und der Wirklichkeit besteht darin, dass die Wirklichkeit umfassender ist als der Leib. Dies erweist sich vor allem in der Erscheinungsweise des Leibes als Körper. Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die sich außerhalb des Körpers befinden. Zwischen den Dingen, die uns umgeben und unserem Körper gibt es charakteristische Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Was unterscheidet meinen Fuß von einem Stein? Mein Fuß kann als Teil des Leibes der aktive Pol des Geschehens werden, er kann als »Subjekt« auftreten, ähnlich wie wir das bei der Analyse der berührenden Hände gesehen haben. Der Fuß kann sich an dem Stein stoßen, der vor mir liegt. Beim Leib kann jeder Teil zugleich aktiv sein wie auch passiv, kann Subjekt sein wie auch Objekt. Durch diese Auszeichnung kommt dem Leib eine Schlüsselstellung in der Beschreibung der Wirklichkeit zu. Der Leib ist jener Ort, an dem ich unverkürzt die Erscheinungsformen der Wirklichkeit entdecken und systematisieren kann. Diese Unterscheidung von Leib und Wirklichkeit ist jedoch nicht so eindeutig, wie sie erscheint. Erstens müssen wir auf einen Aspekt des Leibes zu sprechen kommen, den wir bislang nur kurz erwähnt haben. Der Leib hat in seiner Erscheinungsweise als Körper durchlässige Grenzen. Der Körper ist kein scharf umrandeter Container, dessen Wände eine eindeutige Grenze ziehen zwischen dem Innen und dem Außen. Es gibt wohl eine Grenze, der Körper kann sich ohne Verlust nicht.« Bonhoeffer 1931: 112. Fast in gleicher Weise argumentiert Heisenberg: Heisenberg 1942: 302. 28 »Die Wahrheit, die Gott ist, lässt sich nicht ablösen von der Beziehung, wie sie im Gebet in den Sprachformen der ersten und zweiten Person wahrgenommen wird. Die Gotteserkenntnis, die sich auf dem Weg der Argumentation herbeiführen lässt, weist über sich selbst hinaus auf die Gottesbegegnung (…).« Von Lüpke 2009: 84.

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

seiner Existenz nicht in seine Umgebung hin auflösen. Die Grenzen als Kompartimentierung sind sogar ein notwendiger Bestandteil jeder lebendigen Form, doch sind die Grenzen nicht undurchlässig. Elementare Lebensprozesse wie der Metabolismus erfordern geradezu Durchlässigkeit. Es kann deshalb im Einzelfall viele unklare Übergangssituationen geben, in denen nicht eindeutig ist, ob etwas dem Körper zugehört. Ein Körper kann nur leben, wenn er sich in einem ständigen Austausch mit seiner Umwelt befindet. Dazu gehört der Atem, in den meisten menschlichen Kulturen das Kennzeichen für Leben, der Wärmeaustausch, dann die Nahrungsaufnahme, die Ausscheidung, schließlich die sinnliche Wahrnehmung und zielgerichtete Bewegungen. Durch dieses pulsierende Hin und Her entstehen wechselhafte Verhältnisse, in denen nicht immer eindeutig ist, welche materiellen Anteile zu dem Körper gehören. Ein Körper ist nur in einem ihm zugehörigen Biotop lebensfähig. Zu sagen, es gäbe den Körper auf der einen Seite und seine Umgebung auf der anderen Seite, beruht auf einer Idealisierung. Deshalb darf man die Unterscheidung des Körpers nicht in der radikalen Weise verstehen, dass der Körper von seiner Umgebung eindeutig zu trennen sei. Sogar die Einbeziehung in das aktiv-passive Verhältnis, das der Bezug zum Bewusstsein* konstituiert, ist in Grenzen auch für leibferne Dinge möglich. Ein einfaches Beispiel ist ein Stock, mit dem man die Tiefe eines trüben Teiches ausloten möchte. Ist es nur eine metaphorische Redeform, dass wir mit der Spitze des Stockes den Teichboden spüren? Weitere Beispiele undeutlicher Übergänge zeigen sich bei Implantaten, die Organe ersetzen. So kann ein Cochlea-Implantat Schallwellen verarbeiten und direkt in das neuronale Gewebe übertragen. Wenn ein vorher absolut tauber Mensch mit einem solchen technischen Hilfsmittel nun hört, ist das Implantat nicht in gleicher Weise von dem Bewusstsein* erfasst wie der Fuß oder eine gesundes Ohr? Nun kann man von hier aus eine Reihe weiterer materieller Entitäten aufzählen, zwischen denen niemals eine fundamentale Grenze zu diagnostizieren ist: der Körperschmuck, Kleidung, die Wohnung, das Automobil und so weiter. In der Summe kann man festhalten, dass der Leib in der Erscheinungsweise des Leibes als Körper sich in einem vielfältigen kontinuierlichen Austausch mit der Umwelt befindet. 29 Keineswegs ist der Leib 29

Weiterhin gibt es auch viele Übergänge in der Erscheinungsform des Leibes als X

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

eine geschlossene Entität, ein Container, der in sich selbst abgeschlossen existiert. Die Grenzen zwischen dem Leib und seiner Umgebung sind in vielen Fällen notwendigerweise undeutlich. Der Leib ist also als Körper seinerseits mit der ihn umgebenden Wirklichkeit verflochten.

C.

Die Wirklichkeit im Schema des Chiasmus dargestellt

Das Spektrum der Erscheinungsweisen des Leibes hat also in etwa den gleichen Umfang wie das Spektrum der Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. Am deutlichsten sind die Unterschiede in der Erscheinungsweise des Leibes als Körper. Doch auch hier gibt es mannigfache Übergänge und keine klaren Grenzen. Damit ist noch keine Aussage über die Wirklichkeit gemacht, es ist aber ein weiterer Schritt für die Verhältnisbestimmung von Leib und Wirklichkeit getan. Nicht nur gilt die Feststellung, dass beide, Leib und Wirklichkeit, in ihrer Gesamtheit nicht als Objekte gegeben sind, es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Erscheinungsweisen des Leibes und die der Wirklichkeit denselben systematischen Umfang haben. Damit können wir das Schema des Chiasmus auch für die Darstellung der Wirklichkeit übernehmen. Die Veränderung gegenüber der Darstellung des Leibes besteht einerseits darin, dass in der Bezeichnung der Erscheinungsweisen der Ausdruck »Körper« durch den allgemeinen Ausdruck »Ding« ersetzt wird. Der Ausdruck »Ding« soll gewisse Unterscheidungsmöglichkeiten anzeigen, die wir bei der Erscheinungsform als Körper gesehen haben. Der Ausdruck »Ding« führt keine qualitativ neuen Aspekte hinzu, er weist aber darauf hin, dass es in jener Erscheinungsweise Dinge gibt, die sich von dem Körper unterscheiden lassen. Um die innere Kohärenz des Schemas zu wahren, wird nicht nur die Erscheinungsform umbenannt, sondern auch die hypothetische Größe Körper* durch die hypothetische Größe Ding* ersetzt. Weiterhin wird der Ausdruck »Gefühl« durch den Ausdruck »Atmosphäre« ersetzt. Dies deutet an, dass bei der Ausweitung der Betrachtung auf die Wirklichkeit die Phänomene in dieser Erscheinungsweise (Gefühl). Wir werden weiter unten sehen, dass Gefühle in einem engen Zusammenhang zu sehen sind mit Atmosphären, die aber »räumlich« über den Körper hinweg ausgedehnte Konstellationen darstellen.

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

über die Korrelation zur Erscheinungsweise des Leibes als Körper hinausgehen, ohne jedoch ganz und gar unabhängig davon zu werden. Bevor wir nun die Bestimmung der Wirklichkeit weiter verfolgen, müssen wir noch einmal auf den Gebrauch des Wortes Erscheinungsweise bzw. Erscheinungsform eingehen. Es war bei der Behandlung des Leibes verständlich, dass wir allein von Erscheinungsweisen reden konnten, nicht aber von Perspektiven. Doch ist das nun bei der Betrachtung der Wirklichkeit nicht ganz anders? Tatsächlich sind die Verhältnisse in den wichtigsten Bestimmungen nicht anders. Nicht nur für den Leib gilt, dass er zwischen Subjekt und Objekt zu verorten ist, es gilt auch für die Wirklichkeit im Ganzen. Auch sehr entfernte Dinge in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding sind noch mitbestimmt durch das Bewusstsein*, was sich einfach durch die Tatsache erweist, dass sie erscheinen. Diese Erkenntnis war ein Anlass für MerleauPonty den Begriff des Fleisches zu prägen, 30 denn durch diese Metapher wird in besonderer Weise sinnfällig, dass sich auch die Wirklich30 »Diese Sichtbarkeit, diese Generalität des Empfindbaren an sich, dieses mir selbst eingeborene Anonyme haben wir vorhin Fleisch [chair] genannt (…). Das Fleisch ist

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

keit im Ganzen zwischen den Polen von Subjekt und Objekt, zwischen Bewusstsein und Materie befindet. Die Wirklichkeit kann in ihrer Vielfältigkeit nur verstanden werden, wenn man beherzigt, dass man selbst als Beobachter ganz und gar Teil dessen ist, was man beobachtet. Wir können natürlich innerhalb der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding perspektivisch auf bestimmte Dinge schauen, genau so, wie wir Teile unseres eigenen Körpers perspektivisch schauen können. Wir können aber nicht die Wirklichkeit im Ganzen perspektivisch schauen. Und auch innerhalb der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding sind alle Phänomene durch das Bewusstsein* bestimmt. Dies ist innerhalb des Schemas daran abzulesen, dass an keiner Stelle die Größe Bewusstsein* verschwindet, alles, was erscheint, erscheint als Verschränkung von Bewusstsein* und Ding*. Man kann deshalb für die Wirklichkeit dieselben reflexiven Formeln verwenden, wie wir dies für den Leib getan haben. Ebenso wie wir eine Formel für den Leib gefunden haben, »der Leib zeigt sich sich selbst«, ebenso müssen wir auch für die Wirklichkeit festhalten: »Die Wirklichkeit zeigt sich sich selbst.« Nur so kann es gelingen, die Erkenntnisse des endlichen, leibgebundenen Erkennens zu bewahren, dass wir, die Beobachter, voll und ganz Teil dessen sind, was wir beobachten. Auch für die Wirklichkeit gilt, dass der Beobachter nicht etwas völlig von ihm Getrenntes beobachtet. Ebenso wie wir uns von unserem Körper distanzieren können, so können wir uns auch von den Dingen distanzieren. Damit gilt die gleiche Erkenntnissituation wie beim Leib und insofern müssen wir auch bei der Behandlung der Wirklichkeit auf den Begriff der Perspektive verzichten und den Begriff der Erscheinungsweise oder Erscheinungsform nutzen.

D.

Ist der phänomenologische Realismus ein verdeckter Anthropozentrismus?

Die Erweiterung der Argumentation von der leiblichen Existenz des Menschen auf die Wirklichkeit lässt nun eine Frage unvermeidlich werden: Stellen wir nicht auf diesem Weg in unzulässiger und naiver Weise wieder den Menschen in den Mittelpunkt der Wirklichkeit? Der nicht Materie, es ist nicht Geist, nicht Substanz. Um es zu bezeichnen bedürfte es des alten Begriffs ›Element‹ (…).« Merleau-Ponty 1964: 183.

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Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Wirklichkeit

Mensch wird heute in der Regel als eine Lebensform unter vielen wahrgenommen, als Teil eines komplexen großen Ganzen, etwa als Teil der Evolution des Lebens oder als Teil des Ökosystems der Erde. Er ist nicht in dessen Mitte, sondern ein Element, ein Wesen unter vielen. Die drei großen Kränkungen, die Freud beschrieben hatte, haben dazu beigetragen, den Menschen aus dem Zentrum des Weltbildes herauszudrängen. Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, der Mensch ist nach der Evolutionstheorie nicht Krone der Schöpfung, sondern in die Welt der Lebensformen voll und ganz einbezogen und das menschliche Bewusstsein ist nicht sich selbst völlig transparent, sondern seinerseits von dem Unbewussten, von Trieben und Ängsten bestimmt. Zu diesen Kränkungen kamen seitdem viele andere wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu, die stets zeigten, wie sehr die Stellung des Menschen in der wissenschaftlich beschriebenen Welt relativiert werden muss. Damit ist ihm eine Selbstüberschätzung verwehrt, sich in naiver Weise ins Zentrum des Geschehens zu setzen. Ist nun aber ein Ansatz, der exklusiv bei dem menschlichen Leib beginnt, nicht doch wieder so etwas wie ein Anthropozentrismus, ein Versuch, den Menschen in den Mittelpunkt aller Dinge zu stellen? Man muss nun aber zweierlei unterscheiden: das Bestreben, den Menschen zum Mittelpunkt des Universums zu machen und das Bestreben, die Frage nach der Wirklichkeit, in der wir leben, zu beantworten. Das zweite, unser Bestreben, die Frage nach der Wirklichkeit zu beantworten, setzt notwendigerweise den Menschen als leibliche Existenz in den Mittelpunkt der Untersuchung. Doch führt das in gewisser Weise gerade zu dem Gegenteil des ersten Anliegens. Aufgrund der Rückbesinnung auf die Erkenntnissituation, von der wir uns nicht lösen können, unsere unaufgebbare Verwobenheit mit der Wirklichkeit durch unsere leibliche Existenz, sind wir zu einer Philosophie der Endlichkeit gezwungen. Wir können uns nicht über uns selbst erheben, wir können unsere eigene leibliche Begrenztheit und Intransparenz nicht ignorieren. Von hier aus können wir uns weder eine anschauliche Vorstellung von dem Ganzen der Wirklichkeit noch von dem Ganzen des Leibes machen. Eigentümlicher Weise partizipiert gerade der Ansatz, der scheinbar ganz nüchtern im Namen einer unerschütterlichen Objektivität auftritt und dem Menschen nur einen Randplatz in unserem Universum zuspricht, 31 in seiner Erkenntnishaltung an einer versteck31

Vgl. Monod 1970.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

ten Hybris. Man möchte erstaunt fragen, woher denn diejenigen, die diese distanzierte Perspektive auf unsere Wirklichkeit als die einzig wahre proklamieren, die Fähigkeit nehmen, aus einer solchen Fernperspektive auf den Menschen zu schauen? Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Perspektive nur möglich ist, wenn man verschwiegene zusätzliche Annahmen zur Hilfe nimmt, die aber in hohem Maße spekulativ sind. Wie legen die Verfechter dieser Position Rechenschaft über ihren eigenen Standpunkt ab, von dem aus sie ihre umfassenden Aussagen über die Wirklichkeit machen? Wir haben gesehen, dass es methodisch vollkommen einwandfrei ist, die Wirklichkeit mit Methoden zu betrachten, die eine Objektivität der Erkenntnis anstreben. Doch ist diese Erscheinungsweise der Wirklichkeit eine von vielen möglichen und die Anerkennung der anderen Erscheinungsweisen relativiert einen umfassenden und absoluten Gültigkeitsanspruch jeder umfassenden »objektiven« Erkenntnis. So ist die Bescheidenheit derer, die dem Menschen einen bestimmten, begrenzten Platz in dem objektiven Bild von unserer Wirklichkeit einräumen, tatsächlich nur die Kehrseite einer Hybris des Erkennens, durch die eine scheinbar objektive Sicht auf die Dinge verabsolutiert wird. Nur durch diese Absolutsetzung gelingt es dieser Position, dem Menschen überhaupt einen bestimmten objektiven Ort in der Wirklichkeit zuzusprechen. Unsere leibliche Existenz setzt die Rahmenbedingungen für alles Erkennen. Was bedeutet das für eine Ortszuweisung des Menschen innerhalb der Wirklichkeit? Nun, es bedeutet schlicht, dass wir eine solche Ortsbestimmung nicht vornehmen können. Der Mensch wird weder über sich noch über das Ganze der Wirklichkeit abschließend urteilen können. Helmuth Plessner hat in der philosophischen Anthropologie für diese Situation den Ausdruck »Exzentrische Positionalität« gefunden. »Wie angegeben, ist diese exzentrische Position im Menschen verwirklicht. (…) Er bildet den Punkt der Vermittlung zwischen ihm und dem Umfeld und er ist in diesen Punkt gesetzt, er steht in ihm.« 32 Eben deshalb ist es uns auch unmöglich, uns selbst einen definierten Ort in einem gegebenen Ganzen der Wirklichkeit zuzuweisen. Wir sind Teil dessen, was wir erkennen wollen. Aus diesem grundlegenden circulus vitiosus können wir nicht ausbrechen. Aber wir können Unterscheidungen vornehmen. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit und das Schema des Chiasmus als 32

Plessner 1928: 325.

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Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

Ordnungshilfe ermöglichen trotz dieser unauflöslichen Verflechtung eine begrenzte Einsicht und Erkenntnis. Innerhalb der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding können wir uns von den Dingen distanzieren und ihre Beschreibung durch verallgemeinerte naturwissenschaftliche Gesetze vornehmen. Ja, wir können uns von uns selbst in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding distanzieren. Wir können uns auch in dieser Erscheinungsweise als Körper einen definierten Ort innerhalb des gegebenen Raumes zuordnen. Wir können uns in dieser Erscheinungsweise auch von einer Sonde am Ende der Galaxie beobachten. Doch ist diese Erscheinungsweise nie das Ganze der Wirklichkeit. Nur wenn wir um diese Grenzen wissen, kann es uns gelingen, ein unverkürztes und auf unsere eigene endliche Ausgangssituation bezogenes Bild von der Wirklichkeit zu gewinnen. Innerhalb des Schemas des Chiasmus können wir nicht durch unsere Erkenntnis auf etwas Absolutes beziehen, wir können uns nicht auf eine Letztinstanz, auf eine absolute Perspektive oder einen grundlegenden Standpunkt beziehen. Was unsere Aufgabe sein wird, ist angesichts dieser Verhältnisse stets die Balance zu wahren, keiner der Erscheinungsformen einen absoluten Wert zuzusprechen, stets bereit sein, sich wieder korrigieren zu lassen, wohl wissend um die Vorläufigkeit aller Erkenntnis.

3.

Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

Ähnlich wie bei der Analyse des Chiasmus des Leibes wollen wir auch beim Chiasmus der Wirklichkeit wieder schrittweise vorgehen und zunächst wiederum die äußeren Erscheinungsformen im Schema des Chiasmus betrachten. Die Erscheinungsweise ganz links im Schema ist stark durch das Bewusstsein* geprägt. Die Phänomene der Wirklichkeit, die man hier betrachten kann, werden dessen Sphäre zugeordnet, es sind Gedanken, Bilder, Worte, es sind logische Zusammenhänge und mathematische Ausdrücke. Es gibt keine Differenz zu der Erscheinungsweise des Leibes als Gedanke. Wir erfahren die Gedanken nur und ausschließlich zugleich als Erscheinungsweise unseres Leibes. Beide sind identisch. Kommunikation zwischen Menschen ist außerordentlich wichtig, wir werden später sehen, dass das Sprechen sogar die Erscheinungsweisen konstituiert. Doch erscheinen Gedanken uns nur als Gedanken in der Erscheinungsweise des Leibes. Alles andere 257 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

sind Spuren, die Gedanken auslösen können, aber dies nicht tun müssen. Eine solche Spur kann ein Buch sein. Wenn ich es lese, löst dies einen sprachlichen Prozess aus in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke. Wenn das Buch aber in einer mir völlig fremden Sprache geschrieben ist, kann ich nur die Verteilung der Druckerschwärze betrachten. Ich betrachte dann einen Gegenstand vor mir, Teil der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding. Ähnliches gilt für Schallwellen von Sprechakten anderer Menschen. Materielle Spuren können zu Gedanken führen, können sprachliche Prozesse sein, müssen es aber nicht. Die Erscheinungsform ganz rechts in dem Schema dagegen befasst sich mit jener Erscheinungsweise der Wirklichkeit, in der innerhalb des Verschränkungsverhältnisses die Größe Ding* dominant ist. Hier begegnen wir den Dingen dieser Welt, Körpern im Raum, die wir wissenschaftlich beschreiben und messen können, die wir durch die Technik verändern und bearbeiten können. Wir sind Körper unter Körpern und verhalten uns zu Körpern. Dies ist die Erscheinungsform, in dem die naturwissenschaftliche Erkenntnis ihr Selbstverständnis als objektive Wissenschaft gewonnen hat. Die Wissenschaft, die hier über Jahrhunderte den Standard wissenschaftlicher Erkenntnis vorgab, war die klassische Physik. Wir finden uns ihr gemäß in einem Raum vor, in dem die Dinge zueinander in einem klaren, nach allgemeinen Gesetzen strukturierten Verhältnis zueinander stehen. Die physikalischen Gesetze gelten scheinbar völlig unabhängig von einem Beobachter. 33 Sie sind stabil und nicht beobachterabhängig. Der menschliche Beobachter hat die Möglichkeit, die Gesetze zu beschreiben, nach denen die Dinge sich aufeinander beziehen. Der Raum ist in der klassischen Physik Newtons ein cartesianischer Raum, die Zeit hat eine lineare Struktur. Hier hat sich in den letzten 150 Jahren sehr viel entwickelt. Die Erscheinungsweise ist weit ausgedehnt worden. Wir wissen heute von Gesetzmäßigkeiten und von Entitäten, von denen wir lange zuvor nichts ahnten. Ob dieses Wissen stabil bleibt, können wir nie mit Eindeutigkeit bejahen oder verneinen. Aber wir haben eine klare Einsicht darin, welche Vorstellungen über die Welt der Dinge in den zurückliegenden Jahrhunderten falsch waren und aufgegeben werden mussten.

Natürlich gilt das nicht für die Quantenphysik, die viel Diskussion um ihre Interpretation ausgelöst hat, vgl. Heisenberg 1933. Vgl. auch Kap. 11.3.

33

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Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

A.

1.-Person-Perspektive und 3.-Person-Perspektive

Mit der Einführung des Begriffs der Erscheinungsweise hat sich zugleich gezeigt, dass sich für die Betrachtung der Wirklichkeit der Begriff der Perspektive nicht eignet. Doch nun kommen wir an einen Punkt, der eine gewisse terminologische Schwierigkeit aufwirft. Denn ich möchte nun auf eine etablierte Diskussion eingehen, in der sich die Unterscheidung zwischen 1. Personen Perspektive und 3. Personen Perspektive eingeprägt hat. Der Begriff der Perspektive hat sich insbesondere in der Philosophie des Geistes zu einem oft genutzten Standard entwickelt. 34 Wir kommen also nicht umhin, diesen Begriff zumindest hier wieder aufzunehmen. Deshalb soll an dieser Stelle für den folgenden Text die Warnung ausgesprochen werden, dass dieser Begriff nur uneigentlich verwendet wird, da die Erkenntnis, dass die Perspektive mit seiner Annahme der Trennung von Beobachter und Beobachtetem für ein Verständnis der Wirklichkeit nicht tauglich ist, auch jetzt Gültigkeit behält. Die 1.-Person-Perspektive meint die nicht verallgemeinerbare Perspektive eines bewussten Lebewesens. Da das Lebewesen an einem bestimmten Ort innerhalb der Welt ist, also einen Ort einnimmt, den kein anderes Lebewesen einnehmen kann, hat es eine bestimmte Sicht auf die Welt, die auch nur von diesem Ort aus möglich ist. Dies hat zunächst einmal die triviale Bedeutung, dass die Orte im Raum je nur von einem Lebewesen zur gleichen Zeit eingenommen werden können und dass deshalb jedem Lebewesen eine besondere Perspektive zukommt. Weiterhin ist jedes Lebewesen einzigartig, hat eine je verschiedene Prägung. Angesichts der Komplexität des neuronalen Systems muss genau besehen sogar jeder Erlebniszustand als ein einzigartiger gewertet werden (token-identity) 35 . Das Besondere, auf das die 1.-Person-Perspektive nun aber hinweisen soll, geht über diese verallgemeinerbaren Beschreibungen hinaus. Sie weist auf die Art und Weise, wie sich die Welt im Bewusstsein des Lebewesens zeigt. Sie will darauf hinweisen, dass jedes Erlebnis als bewusstes Erleben eine einzigartige Qualität hat. Natürlich können Menschen über den erlebten Zustand reden und versuchen, ihn anderen Menschen mitzuteilen. Doch zeigen 34 Vgl. zum Beispiel: Varela/Shear 2002; Dennett 2005: 28 f.; Pauen 2005: 23; Blackmore 2007; Metzinger 2001. 35 Vgl. Pauen 2005: 118.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

sich hier schnell auch Grenzen: Wie sollte es gelingen, das Gespürte, das Erlebte in der Qualität des Erlebens wirklich getreu mitzuteilen, so dass der andere Mensch genau das nachempfinden kann? Ist es überhaupt möglich, eine Situation nachzuempfinden oder ist es nicht vielmehr so, dass im besten Falle wichtige spezifische Aspekte eines Erlebnisses bei anderen bewusst werden können? Die klassische Schwierigkeit, die immer wieder diskutiert wurde, ist die Wahrnehmung von Farben, von Gerüchen oder Tönen, verallgemeinert, die Wahrnehmung von Qualia. Überschreiten wir die Grenze unserer Spezies und versuchen uns etwa die Erfahrungswelt von Tieren zu erschließen, verschärft sich das Problem. Wir stehen von fundamentalen Hindernissen. Berühmt geworden ist die Frage des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel, wie es wohl sei, eine Fledermaus zu sein. 36 Die skeptische Antwort von Nagel ist es, dass wir es niemals wissen werden, da wir keinen Zugang zum Bewusstsein einer Fledermaus haben. Der Ausdruck 1.-Person-Perspektive steht für eine Perspektive auf die Wirklichkeit, die sich nur über die Erscheinungsformen der Wirklichkeit erschließen lässt, in denen die Größe Bewusstsein* nicht klein ist. Unsere Erlebnisse haben immer Qualitäten, von denen wir nie sicher sagen können, ob andere sie auch haben. Die 3.-Person-Perspektive dagegen meint die objektive Betrachtung der Welt unabhängig von der Partikularperspektive eines bewussten Lebewesens. In der allgemein akzeptierten Bedeutung dieses Begriffs ist die 3.-Person-Perspektive mit den objektiven Aspekten der Wirklichkeit identisch, die über naturwissenschaftliche Methoden erfasst werden können. Die 3.-Person-Perspektive »entpersönlicht« und verobjektiviert den Zugang zur Wirklichkeit. In dieser Perspektive erscheint nur das, was sich in allgemeinen Begriffen oder etwa mit mathematischen Kalkülen beschreiben lässt. Entscheidend ist hier die Allgemeinheit des Ausdrucks. War es in der 1.-Person-Perspektive so, dass das, was sich in dieser Perspektive zeigt, nicht eindeutig in begriffliche Sprache übertragen lässt, so stellt hier die begriffliche Darstellung keine grundsätzliche Schwierigkeit dar. Die Allgemeinheit der Gesetze führen notwendigerweise zu einer Abstraktion von den jeweilig individuell gegebenen Bedingungen. Die Abstraktionsleistung ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Entdeckung der allgemeinen Gesetze. Doch diese Fähigkeit darf über eine fundamentale Grenze dieser 36

Vgl. Nagel 1998.

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Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

Perspektive nicht hinweg täuschen: Sie ist nur für jene Geschehnisse möglich, in denen eine verallgemeinerte Beschreibung von den je einmalig individuellen Vorkommnissen überhaupt möglich ist. Damit ist sie auf die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding begrenzt. 37 Es ist in der philosophischen Diskussion der Perspektiven umstritten, ob man nicht eine der beiden Perspektiven, nämlich die 1.-PersonPerspektive, durch die andere, die 3.-Person-Perspektive, ersetzen kann. Manche wie etwa Francisco Varela versuchen in ihren Arbeiten nachzuweisen, dass die 1.-Person-Perspektive unaufgebbar ist und dass man deshalb versuchen müsse, sie ähnlich wie dies im Buddhismus geschehen ist, zur Grundlage einer systematischen Erkenntnis zu machen. 38 Nun ist die Diskussion um die beiden Perspektiven nicht unmittelbar kompatibel mit der Rede von den Erscheinungsweisen. Meiner Ansicht nach gibt es neben dem inhaltlichen Streit um die Aussagekraft der Perspektiven auch importierte Schwierigkeiten, die durch den verwendeten Begriff der »Perspektive« entstehen. Welche Implikationen hat der Begriff der Perspektive, wenn wir ihn mit Hilfe des Schemas des Chiasmus interpretieren? Der Gebrauch der 3.-Person-Perspektive ist offenkundig zunächst einmal unkritisch. Er bezieht sich auf jene Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die durch starke Ordnungsstrukturen bestimmt sind und die am ehesten in allgemeiner Form beschrieben werden kann. Die Welt als Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ist in stark objektiver Weise gegeben und kann vom Beobachter in verallgemeinernden Methoden untersucht werden. Der Begriff der 3.-Person-Perspektive bewahrt darüber hinaus und wohl gegen die Intention mancher Verfechter dieser Perspektive, aber im Einklang mit dem Schema des Chiasmus auf eine dezente Weise noch die Erinnerung an einen nicht vernachlässigbaren Einfluss des Beobachters. Denn auch die 3.-Person-Perspektive ist zunächst einmal eine Perspektive! Nur einem endlichen Beobachter zeigt sich die Welt perspektivisch und die Perspektive ist gebunden an einen bestimmten Ort innerhalb der Wirklichkeit. Mit diesem Begriff ist eine Erkenntnis aufbewahrt, dass es eigentlich unmöglich ist, eine konsequent beobachterunabhängige Dar37 In der Regel wird in diesem Zusammenhang die Allgemeinheit von Gedanken (Logik, Mathematik) nicht gesondert thematisiert. Aber wir wissen, dass nach den genannten Kriterien die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke auch hierzu gehört. 38 Vgl. Varela/Shear 2002; Varela/Thompson 1992.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

stellung zu beschreiben. Er weist darauf hin, dass auch in den wissenschaftlichen Darstellungen es also eine verschwiegene Verflochtenheit mit den Bedingungen menschlicher Existenz gibt. Diesen Einfluss kann man sich auch unter den Bedingungen einer »Perspektive« auf einfache Weise vor Augen führen. Alle Darstellungen der Wirklichkeit beziehen sich auf vorgegebene Größenskalen und eindeutig festgelegten Betrachtungsrichtungen. Was aber sollte eine Darstellung zeigen, wenn sie die Dinge ganz und gar objektiv, also »an sich«, unabhängig von jeder Beobachterrichtung und jeder Skalierung zeigen wollte? Wenn man keinen Ort bestimmen will, von dem aus die Beobachtung geschieht, wenn man keine Größenskala hervorheben will, mit der das Geschehen beschrieben wird, verschwindet das Bild in einer unendlichen Vielzahl sich überlagernder Bilder. Tatsächlich bezeichnet deshalb der Begriff der 3.-Person-Perspektive nur eine Abstraktion und Verallgemeinerung aus einer endlichen menschlichen Beobachtung. Diese Abstraktion und Verallgemeinerung entspricht genau den methodischen Schritten, die die naturwissenschaftliche Forschung unternimmt, um die Welt möglichst beobachterunabhängig zu beschreiben. Sie eliminiert all jene Anteile der Wahrnehmung, die sich methodisch nicht genau beschreiben lassen, die sich also nicht quantifizierbar protokollieren lassen. Nur das, was über Messungen oder Abbildungen zugänglich ist, findet Niederschlag in dieser Perspektive. Es handelt sich also um eine, in einem bestimmten Sinne objektivierte, aber nicht die schlechthin objektive Darstellung der Welt. Wesentlich schwieriger ist dagegen die Beurteilung der 1.-PersonPerspektive. Auf erstem Blick sollte es so scheinen, als ob wir mit unserem Anliegen ganz auf der Seite der Vertreter einer 1.-Person-Perspektive stehen. Denn es ist ja das gemeinsame Anliegen, die Vorstellung einer vollständigen beobachterunabhängigen Darstellung der Wirklichkeit zu hinterfragen. Doch ist der Ausdruck 1.-Person-Perspektive, gedeutet mit Hilfe des Schemas des Chiasmus, in mehrfacher Weise ungenau und mehrdeutig. Zum einen legt die Verwendung des Begriffs wiederum eine duale Struktur nahe, in der die 1.-Person-Perspektive und die 3.-Person-Perspektive sich diametral gegenüber stehen. Dieser Eindruck ist aber sehr unglücklich, da wir wiederum eine zweigeteilte Struktur erhalten, in der beide Seiten durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Das Schema des Chiasmus möchte dagegen gerade für die vermittelnden Erscheinungsformen plädieren, möchte also aufzeigen, dass sich die verschiedenen Erscheinungsfor262 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

men der Wirklichkeit nur vordergründig so fundamental unterscheiden, dass sie vielmehr sich als Formen eines strukturellen Zusammenhangs deuten lassen. Zum anderen erweckt die 1.-Person-Perspektive den Eindruck, als sei sie eine klar bezeichnete Perspektive. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Vielmehr ist es so, dass das, was man für sie reklamiert, ein breites Spektrum von Erscheinungsweisen der Wirklichkeit umfasst. Hier sind ebenso die Gedanken angesprochen wie Körperempfindungen, bestimmte Wahrnehmungen der Umwelt genau so wie unmittelbare Impulse des eigenen Körpers. Die 1.-Person-Perspektive ist also eigentlich gar keine Perspektive, sondern ist Ausdruck der Tatsache, dass viele Erscheinungsformen der Wirklichkeit immer auch entscheidend von dem Beobachter beeinflusst sind. Aber gerade hier eignet sie sich nicht zu einer Gegenüberstellung zur 3.-Person-Perspektive, denn auch diese ist niemals ganz frei von dieser Beeinflussung. Das, was mit der Bezeichnung 1.-Person-Perspektive jedoch verloren geht, ist eine Differenzierung der Erscheinungsweisen, die Erkenntnis der Pluralität. Die Stärke des Begriffs der 1.-Person-Perspektive ist es allein auf jenes Phänomen aufmerksam zu machen, auf das Beispiel Thomas Nagel weisen wollte: Es ist jene Erscheinung des Leibes in der Mitte des Chiasmus, der wir die Gefühle und Empfindungen zugewiesen hatten. Aber der Begriff der 1.-Person-Perspektive ist viel zu grob und undifferenziert, um die von naturalistischen Vorstellungen verschütteten Erscheinungsweisen der Wirklichkeit wieder zu erschließen.

B.

Zur sprachlichen Form der Erscheinungsweisen

Bei der erweiterten Betrachtung der Wirklichkeit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen entsteht nun ein Problem, das bei der Betrachtung des Leibes nicht so offensichtlich war, das aber bei der Betrachtung von Dingen in der Wirklichkeit gravierende Verwirrungen auslösen kann. Um dieses Problem besser beschreiben zu können, müssen wir Ergebnisse des folgenden Untersuchungsschrittes voraussetzen (insbesondere Kap. 7.2.). Die folgenden Gedanken sind aber an dieser Stelle in den Text eingefügt, weil sie gut die uns hier beschäftigende zentrale Frage beantworten können, wie nämlich die Erscheinungsformen an den Rändern des Chiasmus zu deuten sind. Es geht um die Tatsache, dass beide Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus 263 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

in hohem Maße sprachlich geprägt sind, nicht nur die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke, sondern auch die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. Natürlich lassen sich die visuellen Eindrücke und die Erfahrungen, die man beim Umgang mit den Dingen macht, nicht auf das Sprechen reduzieren. Dennoch hat das Sprechen einen großen Anteil daran, dass die Dinge als solche erscheinen. Die sprachliche Gestalt unserer Gedanken macht uns zunächst keine Schwierigkeit. Wir erkennen den Gedanken als Gedanken, gerade auch weil er sprachlich strukturiert ist, also weil er eine semantische Geschlossenheit aufweist. Wie aber grenzen wir dann diese sprachliche Verfasstheit der Gedanken von der sprachlichen Geprägtheit der Phänomene der Dinge ab? Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass ein Gegenstand, also ein Phänomen in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding, »wirklich« ein Gegenstand ist und nicht auf seine sprachliche Vermitteltheit reduziert werden kann. Denn ebenso kann man mit ihm handeln und ihn wahrnehmen. Die Dinge lösen sich also nicht wie etwa in radikalen konstruktivistischen Theorien in sprachliche Vermittlungsformen auf. Und doch gibt es diese Dinge nicht ohne Vermittlung durch das Sprechen. Wann immer wir uns auf ein Ding beziehen, ist dieses durch ein Sprechen, ein Handeln oder ein Wahrnehmen vermittelt. 39 Wir werden im nächsten Kapitel dafür plädieren, diese drei Formen der Vermittlung als ein Kontinuum zu betrachten. Die Dinge erscheinen uns also immer nur vermittelt und zu der Vermittlung gehört auch die sprachliche Vermittlung. Die Wirklichkeit wird in der Erscheinungsweise als Ding auch deshalb nicht zu einer rein begrifflichen Konstruktion, denn es gehört zu den Grundannahmen des Chiasmus, dass es eine nicht auflösbare Differenz zwischen den Erscheinungsformen gibt. Wenn nun beide Erscheinungsweisen sprachlich vermittelt erscheinen, dann kann das auch helfen, den Prozess wissenschaftlicher Forschung zu beschreiben. Die Unterscheidung der Erscheinungsweisen kann die von Popper geforderte Unterscheidung zwischen Theorieaussagen und Basissätzen unterstützen.40 Die Unterscheidung ist nach Popper eine Grundlage für den möglichen empirischen Gehalt einer Theorie. Basissätze sind solche, die bestimmte Ereignisse zum AusEinige wichtige Charakteristika von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln haben wir schon im Kapitel 4.3. unter den Unterpunkten A, B und E behandelt. 40 Vgl. zum Beispiel Popper 1934: 60 f. 39

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Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus

druck bringen: »In realistischer Ausdrucksweise kann man sagen, dass ein besonderer Satz (Basissatz) ein [singuläres] Ereignis darstellt oder beschreibt.« 41 Basissätze sind Teil eines Prüfverfahrens der Theorie, in dem sie als falsifizierende Hypothese auftreten können. 42 Es muss nun möglich sein, Basissätze mit Sätzen einer wissenschaftlichen Theorie in ein logisches Verhältnis setzen zu können, sonst ist eine Theorie nicht falsifizierbar. Doch, was macht einen Basissatz zu einem solchen, wie erlangt er als Hypothese eine Anerkennung? Dies kann nicht wieder durch Bezug auf andere Sätze geschehen, da sich sonst das Ausgangsproblem wiederholen würde. Zugleich sind auch Basissätze Sätze, das heißt, sie haben eine sprachliche Form. Das ist schon deshalb unausweichlich, wie auch Popper sieht, weil es keine sprachunabhängige Beobachtung gibt. Beobachtungen sind sprachlich verfasst und sie sind immer auch theorieabhängig. 43 Es besteht also die Schwierigkeit, den besonderen Status der Basissätze zu begründen. Die Basissätze können nun in dem Schema des Chiasmus auf einfache Weise identifiziert werden. Es sind solche Sätze, die Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding angehören. Basissätze haben als Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ein anderes Prüfverfahren. Sätze der Theorie in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke müssen mit anderen Sätzen der Theorie kohärent sein, dürfen also in keinen logischen Widerspruch geraten. Einzelne Basissätze dagegen werden nicht auf logische Kohärenz geprüft, sondern auf Bewährung im Handlungszusammenhang. Nun kann ein Satz, der sich etwa im experimentellen Handlungszusammenhang bewährt hat, zugleich als bestätigte Hypothese als Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke verstanden werden. Dann ist es möglich, ihn auf logische Konsistenz mit den Sätzen der Theorie zu prüfen, um gegebenenfalls die Theorie zu falsifizieren. Verdeutlichen wir die Verhältnisse an einem Beispiel: »Der Baum dort ist drei Meter hoch!« Diesen Satz kann man sowohl als Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke werten wie auch als Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding und doch besteht zwischen beiden im Schema des Chiasmus ein fundamentaler und unaufhebbarer A. a. O.: 64. Vgl. a. a. O.: 62 f. 43 »Unsere Sprache ist von Theorien durchsetzt: es gibt keine reinen Beobachtungssätze. (…) Es gibt keine reinen Beobachtungen: sie sind von Theorien durchsetzt.« Popper 2005: 89. 41 42

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Unterschied. Wir können diesen Unterschied am leichtesten dadurch erschließen, dass wir uns dabei auf unseren Leib zurück beziehen. Zunächst möchte ich die Beobachtung von Merleau-Ponty in Erinnerung rufen, der die beiden sich berührenden Hände analysiert hat. Wir sind in der Lage jederzeit zwischen den Beobachtendem und Beobachtetem zu wechseln und doch ist die Zuordnung immer eindeutig. Genau dies können wir auch bei den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit erwarten. Die Erscheinungsweisen sind nicht unterschiedliche Bereiche, zwischen denen wir wechseln, indem wir von dem einen in den anderen eintreten. Beide Bereiche sind eher wie zwei Seiten einer Münze, jederzeit können wir zwischen ihnen wechseln. Mit dem Satz »Der Baum dort ist drei Meter hoch!« kann ich einen Baum bezeichnen, der sich vor mir befindet. Ich selbst befinde mich als Körper in einem Verhältnis zu einem anderen Körper. Erst dieses Verhältnis ermöglicht es mir, den anderen Körper als Körper zu identifizieren. Nun ist aber der andere Körper mir nicht einfach unmittelbar gegeben. Mein Körper ist stets handelnd, wahrnehmend und sprechend Teil einer sozial verfassten Wirklichkeit (vgl. Kap. 7.2.). Selbst meinen eigenen Körper nehme ich als Körper nicht einfach direkt wahr, vielmehr ist dieser Körper, etwa wenn ich auf eine Waage steige, schon ein in hohem Maße kulturell vermitteltes Etwas. Ebenso gilt dies für einen Baum, dem man die Höhe von drei Metern zuspricht. Nur durch sprachliche Vermittlung zeigt sich mir der Körper als Körper, das Ding als ein spezifisches Ding. Ohne die sprachliche Vermittlung würde das Ding, etwa der Baum, zu einem amorphen Etwas, kaum zu unterscheiden von der Erde, auf dem er steht und in die er hineingewachsen ist. Das Ding »Baum«, insbesondere in seiner spezifischen Gegebenheit, als ein gesondertes Phänomen ist also nicht unabhängig von dem artikulierten Sprechakt. Dieser Satz geht also, anders als es die Alltagspsychologie vermuten würde, nicht auf eine Wahrnehmung zurück, sondern konstituiert das Ding zusammen mit der Wahrnehmung und dem Handeln. Die Zuordnung zu den jeweiligen Erscheinungsweisen ist nun aber nicht unbestimmt, sondern in dem jeweiligen Kontext genau erfasst. Wir müssen darauf achten, wie wir uns auf die Aussage beziehen, etwa, wenn wir die Aussage kritisieren. Dann zeigt sich nämlich, welcher Erscheinungsweise er zugehört. Ein Mensch, der den Satz »Der Baum ist drei Meter hoch!« hört, kann zum Beispiel antworten: »Aber gerade hast Du doch gesagt, er sei nur zwei Meter hoch!« Dann adres266 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Wirklichkeit als Einheit

siert er den Satz als Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke, denn er weist auf den Kontext zu einem anderen Satz und kritisiert, dass aufgrund des Satzes vom Widerspruch beide Aussagen unmöglich gelten können, folglich einer der Sätze falsch sein muss. Er reklamiert für seine Kritik die Regeln der Aussagenlogik, hier die der Widerspruchsfreiheit. Anders ist es, wenn derselbe Mensch auf die Aussage so reagiert, dass er einen Maßstab an den bezeichneten Baum anlegt und nachmisst. Dann bezieht er sich auf die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding und versucht das Ding »Baum« empirisch genauer zu bestimmen. Hier hat sich die Wirklichkeit auf eine ganz andere Weise. Sie zeigt sich als ein Ding, nämlich als der Baum, der durch bestimmte Eigenschaften bestimmt ist, etwa durch seine Höhe. Weiterhin zeigt sich die Wirklichkeit in der Aussage als eine räumliche Wirklichkeit, die durch Messungen erschlossen werden kann. In der Art und Weise, wie sich die Wirklichkeit durch den Satz zeigt, ist sie zugleich erschlossen als eine messbare, als eine Größe, für die bestimmte Messvorschriften gelten. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus sind also beide sprachlich vermittelt und doch sind sie klar zu unterscheiden, so klar, wie bei den sich berührenden Händen stets klar ist, welche Hand berührt und welche berührt wird. Wir haben hier die Sprache nur deshalb hervorgehoben, weil durch sie eine scheinbare Uneindeutigkeit der Erscheinungsweisen entsteht. Tatsächlich ist das Sprechen untrennbar mit zwei weiteren Vermittlungsformen verbunden, dem Wahrnehmen und dem Handeln. Darauf werden wir in dem nächsten Untersuchungsschritt eingehen.

4.

Die Wirklichkeit als Einheit

Der nächste Schritt besteht darin, wiederum die Einheit der Wirklichkeit zu begründen, die sich in so unterschiedlichen Erscheinungsweisen zeigt. Erneut stellt sich die Frage, wie wir die Einheit der Wirklichkeit begründen, die sich in derart unterschiedlichen Erscheinungsweisen zeigt. Das Schema des Chiasmus legt eine solche Einheit nah, doch ist das Schema eine Konstruktion, die sich bewähren muss. Wenn es so unterschiedliche Phänomene in der einen Wirklichkeit gibt, wie Gedanken, imaginäre Bilder, logische Schlussfolgerungen, aber auch Felsen, Nadelbäume und Ozeane, dann ist es zunächst fraglich, ob all diese 267 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Erscheinungen auf eine ungeteilte Wirklichkeit reduziert werden können. Ist die Einheit der Wirklichkeit nicht dann eine spekulative Setzung, die man mit ebenso guten Gründen behaupten wie auch bezweifeln kann? Wir stellen die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit nicht unvorbereitet. Wir haben gesehen, dass wir die Wirklichkeit nur dann angemessen erfassen und umfassend darstellen können, wenn wir von den Erkenntnissen des Leibes ausgehen. Alternativen, die über die Wirklichkeit im Ganzen Aussagen machen, enden in metaphysischen Festlegungen (wie beim Dualismus oder bei Schopenhauer) oder in methodisch-normativen Einschränkungen (wie bei dem auf die Wissenschaften fixierten Naturalismus). Nun gilt: Allein am eigenen Leib ist die Einheit der so unterschiedlichen Erscheinungsweise der Wirklichkeit nachvollziehbar. Die Intuition der Einheit des Leibes ist auch ein gutes Argument für die Einheit der Wirklichkeit. Eine letzte Sicherheit aber gibt es nicht. Wir verfügen über keinen anderen Ort der Erkenntnis, von dem aus wir einen besseren Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen könnten. Bei der Begründung der Einheit der Wirklichkeit sind wir nun ganz und gar auf die Erfahrungen und Intuitionen, die wir mit unserem Leib machen, angewiesen. Es gibt nur einen Schluss, der uns die Einheit der Wirklichkeit nahe legt: Weil sich der Leib als einer erwiesen hat, so gilt das auch für die Wirklichkeit, deren Teil er ist. Der Preis der so verstandenen Einheit der Wirklichkeit ist ihre Unanschaulichkeit als Objekt. Die größte Herausforderung für uns heute, die wir von den Erkenntnisidealen der Leonardo-Welt geprägt sind, liegt in der Zumutung, die Wirklichkeit nicht auf die Existenz von gegebenen Dingen zu reduzieren und die Beschreibung der Wirklichkeit nicht auf Kosten ihrer Differenziertheit allein auf eine Erscheinungsweise einzuschränken. Die scheinbar objektiven Dinge sind nicht Formen einer in sich ruhenden Substanz, sondern entstammen ebenso derselben schwebenden Verschränkung von Bewusstsein* und Körper* wie auch die Gedanken oder Gefühle. 44 Die Dinge sind nicht in einem Wenn auch aus einer ganz anderen theoretischen Herleitung hat Popper hier Richtiges gesehen: »(…) die Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund. Es ist eher ein Sumpfland, über dem sich die kühne Konstruktion ihrer Theorien erhebt, sie ist ein Pfeilerbau, dessen Pfeiler sich von oben her in den Sumpf senken (…).« Popper 2005: 88. In dieser Bemerkung wird zweierlei verbunden: Die Strenge reproduzierbaren und empirisch bewährten Wissens und die gleichzeitige Erkenntnis, dass es dafür keine absolute Verankerung gibt. Die Strukturen der Wirklichkeit schweben in gewisser Weise. Im Chiasmus

44

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)

»an sich« gegeben, stets hat die hypothetische Größe Bewusstsein* einen Einfluss. Es gibt keine letzte Substanz in der mit Hilfe des Schemas des Chiasmus dargestellten Wirklichkeit. Ebenso wenig wie in den Dingen eine Substanz ruht, so wenig sind sie allein Konstruktion eines Bewusstseins. Die Wirklichkeit ist immer auch dadurch wirklich, dass sie uns durch den Einfluss der Größe Ding* »einen Widerstand bietet«, selbst in der Erscheinungsform der Gedanken. Es gibt keinen Ort der Wirklichkeit, an dem man nicht auch einen Widerstand, das heißt die Auswirkungen der Größe Ding* erfahren kann, selbst in den eigenen Gedanken gibt es diese Auswirkungen, etwa darin, dass die logischen Strukturen und die Mathematik nicht einfach aus sich selbst begründet werden können. Nie ist das Bewusstsein* rein gegeben, nie ist der Geist bei sich selbst, stets ist alles Wirkliche Produkt der Verschränkung und damit haben alle Erscheinungsformen Widerständiges. Die Verschränkung von Bewusstsein* und Ding* eint die Wirklichkeit und macht sie trotz aller Unterschiedenheit der Erscheinungsformen zu einer Sphäre, die von Kontinuitäten geprägt ist, eine Sphäre ohne absolute Brüche oder fundamentale Grenzen.

5.

Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)

Nachdem wir nun wieder zunächst die Erscheinungsformen an den Rändern betrachtet haben, soll nun auch der mittlere Bereich des Spektrums der Erscheinungsformen beschrieben werden. Bei der Besprechung der Erscheinungsformen des Leibes haben wir der mittleren Region die Gefühle zugeordnet. Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass der Ausdruck Gefühl nur eine sehr grobe Bezeichnung sein kann, da er sehr unterschiedliche Aspekte umfasst, etwa Gefühle als kognitive Zustände, wie der Angst vor einer Schlange, Gefühle als Beschreibung bestimmter körperlicher Zustände oder auch die basalen Empfindungen, die wir haben und kaum in Worte fassen können, die Schmitz leibliche Regungen nennt. 45 Aus diesem Grunde haben wir auch die gibt es Ordnungen, aber keine Substanz, keine letztgültige Struktur, auf die sie sich beziehen können. Die Wirklichkeit ist hier wie die schwingende Saite eines Musikinstruments, von der wir nicht wissen, ob und wie sie an den Enden fixiert ist. 45 Vgl. Schmitz 2007: 115.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

etwas umständliche Bezeichnung X (Gefühl) gewählt. In ähnlicher Weise ist auch bei der mittleren Erscheinungsform der Wirklichkeit zu erwarten, dass wir uns ihr nur auf verschiedenen Wegen nähern können, ohne sie über einen ausgezeichneten Weg umfassend erschließen zu können. Es wird zu zeigen sein, dass in dieser Erscheinungsweise der Wirklichkeit eine enge Verbindung mit der Erscheinungsweise des Leibes besteht. Hat sie dort die Bezeichnung X (Gefühl), so soll die Erscheinungsweise der Wirklichkeit im mittleren Bereiche des Chiasmus die Bezeichnung X (Atmosphäre) erhalten.

A.

Der Schatten eines Baumes

Es geht bei dieser Erscheinungsweise um grundlegende Wahrnehmungen von Räumen, von Konstellationen der Dinge oder anderer Menschen. Um diese basalen Wahrnehmungen von einem verengten Ästhetik-Begriff unterscheiden zu können, wird von Böhme der Begriff der Aisthetik verwendet. 46 Die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus ist nicht von ausdifferenzierten Wahrnehmungen geprägt, etwa derart, dass wir nicht nur einen Baum erkennen, sondern ihn auch in seiner Art, etwa als Ginkobaum bestimmen können. Diese Weise der Wahrnehmung geschieht vielmehr in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. Dort ist alles, da auch sprachlich vermittelt, mit differenzierten Kategorien beschreibbar. In der mittleren Erscheinungsform dagegen geht es um die Anwesenheit von Bäumen, um ihre eigentümliche Präsenz, die wir nicht mehr recht in Worte fassen können. Böhme führt dazu aus: »Zurück zu der Frage, ob es Wahrnehmungen gibt, die sinnenspezifisch nicht ausdifferenziert sind. Nun, eine solche Erfahrung haben wir bereits genannt, nämlich die Wahrnehmung, die man von einem Baum hat, wenn man in seinen Schatten tritt. Zu dieser Erfahrung gehört sicherlich das Sehen. Aber es ist ein anderes Sehen, sicherlich nicht das übliche, distanzierte Sehen. Das, wohinein es integriert ist, nämlich das Spüren der leiblichen Anwesenheit des Baumes, ist aber nicht von der Art, dass es eine Ausdifferenzierung in Richtung anderer Sinneswahrnehmungen zuließe.« 47 Böhme macht auf eine Weise der Wahrnehmung aufmerksam, zu deren 46 47

Vgl. Böhme 2001. A. a. O.: 40 f.

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)

Verständnis man die eigene leibliche Präsenz nicht außen vor lassen kann. Hier zeigen sich statt der klar umrissenen Dinge, wie sie sich in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding zeigen, diffusere Eindrücke, ein Gegenüber, das weniger scharf konturiert ist. 48 Die mittlere Erscheinungsform des Chiasmus kann nur auf eine solche Weise erschlossen werden, dass in ihr die Präsenz des eigenen Leibes eine konstitutive Rolle spielt. Es ist erstens notwendig, dass man selbst leiblich präsent ist und es ist zweitens notwendig, dass man sich in das Geschehen mit einbeziehen lässt, die Situation also nicht distanziert beobachtet. Während die Analyse der Dinge möglich ist, als ob man selbst nicht beteiligt wäre, so ist die mittlere Erscheinungsform nur zugänglich, wenn wir die Präsenz unseres Leibes zugleich berücksichtigen. Weil das aber in den Hauptströmungen der neuzeitlichen Philosophie so schwer zu konzipieren war, hat man diese Form meist ausgelassen oder nur randständig behandelt.

B.

Atmosphäre und Raumkonzept

Die Betrachtung zeigt hier eine enge Verbindung der mittleren Erscheinungsweise des Leibes und der Wirklichkeit. Nun können wir den Faden aufnehmen, den wir bei der Rezeption des Ansatzes von Hermann Schmitz nicht weiter verfolgt haben. Schmitz weist zum Verständnis der Gefühle gerade auf die Atmosphären. Denn Gefühle sind seiner Ansicht nach keine inneren Zustände, im Gegenteil, Schmitz beschreibt sie als räumliche Phänomene: »Die These der Räumlichkeit der Gefühle ist eine harte und fast unglaubliche Zumutung, weil Gefühle als private Seelenzustände gelten.« 49 Schmitz dagegen bringt die Gefühle grundlegend mit Atmosphären in Verbindung. »Eine Atmosphäre im hier gemeinten Sinn ist die randlose Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird.« 50 48 Ausgehend von der Diskussion der Quantenmechanik stellt Merleau-Ponty in Bezug auf die natürliche, nicht wissenschaftliche Wahrnehmung fest: »In diesem natürlichen Feld werde ich zweideutige Wesen finden, die weder Welle noch Teilchen sind. Was ist der wahrgenommene Wind? Jemand, eine Sache, ein Phänomen? Er ist diese drei Dinge zugleich (…).« Merleau-Ponty 2000: 143. 49 Schmitz 2009: 78. 50 Ibid.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Was meint Schmitz mit dem Begriff des »flächenlosen Raumes«? Der Chiasmus und die Anordnung der Erscheinungsweisen zeigen uns, dass wir der Wirklichkeit in der Vielzahl ihrer Erscheinungsformen nicht einen eindeutigen Raum zuordnen können. Die Gedanken sind bekanntlich raumlos, die Atmosphäre erstreckt sich nach Schmitz in einem »flächenlosen Raum«, nur die Welt der Dinge lässt sich mit der uns vertrauten Raumvorstellung in Einklang bringen. Der »flächenlose Raum« unterscheidet sich von jenem Raum, der dreidimensional durch ein cartesisches Koordinatensystem beschrieben werden kann. Ein solches Raumverständnis ist der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding gemäß. Den »flächenlosen Raum« leitet Schmitz aus seiner Analyse des Leibes ab. Zunächst zeigt er, dass auch der abstrakte Raum nicht aus sich selbst begründet ist, sondern leiblicher Erfahrungen bedarf. So fragt er danach, wie man einen Ortspunkt, einen wesentlichen Bestandteil des bekannten abstrakten Raumkonzeptes definieren kann. Offenkundig ist es so, dass der Ortspunkt einen genau bestimmten Ort beschreibt, der sich im Laufe der Zeit nicht ändert. Der Ortspunkt kann also mit Hilfe von zeitlicher Invarianz, von »Ruhe« definiert werden. Dabei erkennt Schmitz in dieser Bestimmung des Ortspunktes einen Zirkelschluss, denn Ruhe wiederum lässt sich nur durch Ortsstabilität beschreiben. Schmitz durchbricht diesen Zirkel, indem er Ruhe nicht über die übliche Raumvorstellung definiert, sondern sich auf den Leib bezieht, für den ein flächenloser Raum existiert: »Bewegung gibt es in flächenlosen Räumen allemal, aber auch Ruhe z. B. in feierlicher Stille und im als sanft tragend gespürten Wasser, und das ist die Ruhe, die schon bekannt sein muss, um sagen zu können, was ein relativer Ort und Ruhe als Beharren an ihm ist.« 51 Der Gedanke ist hier erneut, wie schon in der Bestimmung der Präsenz eines Baumes nach Böhme, dass erst die Beteiligung der eigenen leiblichen Existenz einen Zugang zu dem Gemeinten ermöglicht. Was Ruhe ist, erschließt sich nur, weil wir leiblich existieren, ein schwebender »Weltgeist« wäre dazu nicht in der Lage. Ruhe erschließt sich uns, weil wir sie als leiblich Existierende erleben. Die Eigenständigkeit dieser Erscheinungsweise im Chiasmus zeigt: Eine Atmosphäre ist nicht ein besonderer Zustand, der sich von A. a. O.: 76. Wir werden später in Kapitel 10 sehen, dass man Wissenschaft durchaus allgemein als Abstraktion aus leiblichen Bezügen, als »Hochstilisierung« (Janich 1997: 23) lebensweltlicher Erfahrungen verstehen kann.

51

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)

einem neutralen Ausgangszustand abhebt. Jeden Moment unseres Lebens sind wir von Atmosphären umgeben und eingenommen, es gibt für uns, die wir leiblich gebunden existieren, keine Wirklichkeit, die nicht auch als Atmosphäre erscheinen kann. Die Wirklichkeit als Verschränkung von Bewusstsein* und Ding* zeigt sich in der mittleren Erscheinungsweise immer als Atmosphäre. Damit ist allerdings nicht jede Erscheinungsweise durch sie bestimmt, in der Erscheinungsweise an den Rändern des Chiasmus kommen sie nicht vor. Wissenschaftliche Erkenntnis schließt aufgrund der methodischen Restriktionen Atmosphären und Gefühle aus. Das ist ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche. Atmosphären korrespondieren mit Dingen, hier nicht die abstrakten physikalischen Entitäten, sondern die stofflichen, raumhaften Gestalten, Atmosphären korrespondieren aber ebenso durch die Dominanz des Wahrnehmens mit Vorstellungen und Bildern. Das Erinnerungsbild eines Urlaubes umgibt eine bestimmte Atmosphäre, die von dem vergangenen Erlebnis bestimmt ist. Es ist, wenn man sich die Allgegenwart von Atmosphären und ihre Wirksamkeit für unser Leben vor Augen führt, eine absurde Reduktion des Naturalismus, diese Erscheinungsweise der Wirklichkeit nicht ein eigenes Recht zusprechen zu wollen.

C.

Atmosphäre und Gefühl

Es gibt also Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die maßgeblich durch die Anwesenheit des Leibes gekennzeichnet sind. In diesen zeigt sich die Wirklichkeit auf eine ganz andere Weise, als in der ausdifferenzierten Wahrnehmung von Dingen. Die Wirklichkeit erscheint als X (Atmosphäre) und ist eng mit einem leiblichen Spüren und Fühlen verknüpft. 52 Aber sie ist nicht mit dem leiblichen Spüren identisch. »Die eigene Stimmung kann, wie wir schon sagten, lediglich als der subjektive Pol der Atmosphäre erfahren werden. Die Atmosphäre dagegen als ein Etwas, das auch von mir zu unterscheiden ist, wird erst in anderen 52 Merleau-Ponty weist das leibliche Spüren auf die ursprüngliche Verbundenheit mit der Wirklichkeit: »Darum konnten wir mit Herder sagen, der Mensch sei ein sensorium commune. In dieser Urschicht des Empfindens, in die man zurückfindet, wenn man wahrhaft mit dem Akt der Wahrnehmung koinzidiert und von jeder kritischen Einstellung sich löst, gehe ich in der Einheit des Subjekts und der intersensorischen Einheit des Dinges erlebend auf, ich denke nicht, wie reflexive Analyse und Wissenschaft es tun.« Merleau-Ponty 1945: 279.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Erfahrungen entdeckt.« 53 Zu den Erfahrungen, die uns helfen, die Atmosphäre trotz intimer Verbindung mit uns, von uns auch zu unterscheiden, gehört etwa die Erfahrung der Ingression. 54 Wir können nämlich erleben, dass wir in Atmosphären hineingehen und auch wieder aus ihnen herausgehen können. Atmosphären sind offenkundig auch mit dem dreidimensionalen Raum verknüpft. Wir können einen Raum betreten, in dem sich einige Menschen befinden, die im hohen Maße bestürzt und traurig sind. Unmittelbar sind wir von der vorgegebenen Stimmung erfasst, sie kommt auf uns zu, wir lassen uns erfassen, sie umhüllt uns. Die Wirkung dieser Versammlung spüren wir sofort, auch dann, wenn wir vielleicht zuvor fröhlich und aufgeräumt waren. Die Atmosphäre entspricht dann nicht unserer Stimmung und doch ist sie da und wir spüren ihren Einfluss, auch ohne irgendetwas zu wissen. Diese Atmosphäre ist auch nicht die Summe der Verhaltensweisen der einzelnen Menschen, denn auch ein verlassener oder auch nie betretener Raum hat eine Atmosphäre. Sie ist ein Drittes, das wir nur schwer benennen können, das sich uns aber unmittelbar mitteilt. Wenn wir diesen Ort wieder verlassen, mag es möglich sein, die alte Stimmung schnell wieder zu gewinnen. Die Atmosphäre ist also einerseits räumlich erstreckt, sie ist aber nur erfahrbar, wenn wir sie leiblich spüren, wenn wir selbst mit ihr in Kontakt kommen. Die Atmosphäre ist so Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit in der Mitte des Chiasmus.

D.

Anmerkungen zur Qualia Diskussion

Die Bestimmung der Erscheinungsweise als X (Atmosphäre) kann auch helfen, die Diskussion um die Qualia noch einmal differenzierter aufzunehmen. Qualia sind ja keine Leibeszustände, sondern gehören zu der Art und Weise, wie Wirklichkeit erscheint. Wie erleben wir Farben, wie erleben wir Töne, wie erleben wir Musik? Offenkundig ist an dem Beispiel von Mary, die in einem schwarzweißen Raum aufwuchs, die leibliche Anwesenheit bei der Erfahrung von Farbe wesentlich. Die Qualia haben die Eigenschaft, sich einer Beschreibung zu entziehen, denn sonst wäre es ja möglich, sie auch in einer allgemeinen Sprache 53 54

Böhme 2001: 46. Vgl. a. a. O.: 46 f.

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Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus (die Atmosphäre)

auszudrücken. Man kann natürlich den Klang einer Symphonie beschreiben und viele Musikkritiker tun dies auch. Aber niemanden würde einfallen, dass die sprachliche Beschreibung von Musik das Hörerlebnis ersetzen könnte. Qualia müssen erlebt werden, sie sind Anteile der Wirklichkeit, die wir nicht auf eine sprachliche Beschreibung reduzieren können. Hier können wir nun sehen, warum die Qualia tatsächlich nicht in wissenschaftlicher Sprache vollständig beschrieben werden können. Wäre dies möglich, würde die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) ihre Eigenständigkeit verlieren. Es ist ja auch das erklärte Ziel von Kritikern des Jackson-Arguments wie etwa Dennett, genau das zu tun: die Beschreibung der ganzen Wirklichkeit mit einer wissenschaftlichen Methode, mit der Heterophänomenologie. Wenn die narrativen Argumente an die Intuition appellieren, so kommt es zu einer unlösbaren Situation, Intuition und Gegenintuition stehen sich gegenüber. Wir können aber nun aufgrund der Bedingungen des phänomenologischen Realismus sehen, dass eine vollständige wissenschaftliche Beschreibung der Qualia aus grundlegenden Erwägungen nicht durchgeführt werden kann. Diese Behauptung wäre nicht vereinbar mit unserer leiblichen Existenz als Ausgangspunkt aller Wirklichkeitserkenntnis. Eine abschließende Bemerkung sei gegenüber der Tragfähigkeit des Qualia-Arguments gemacht. So zielführend es ist, um einen bestimmten Anspruch der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit zurückzuweisen, so unglücklich ist aber die Isolierung der Qualia als Qualia. Dies ist auch der Grund, warum wir die Diskussion hier aufgreifen und nicht bei der Besprechung der Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl). Angesichts der Diskussion um die Atmosphären als räumlich ergossene Gefühle ist zu fragen, ob die QualiaDiskussion nicht zu einer zu starken Behauptung einer Isolierbarkeit von Qualia führt. Gibt es so etwas wie ein einzelnes Quale überhaupt? Existieren nicht Qualia immer in einem umfassenden Umfeld von Eindrücken, also den Atmosphären? Schon Merleau-Ponty hat auf diesen Sachverhalt hingewiesen: »Eine Farbe ist niemals einfach nur Farbe, sondern immer Farbe eines bestimmten Gegenstandes; das Blau eines Teppichs wäre nicht dieses Blau, wäre es kein wolliges Blau.« 55 Die Diskussion um die Qualia erweist sich so als denkbar ungeeignet, weil sie eine Abstraktion in eine Erscheinungsweise einführt, die diese Abs55

Merleau-Ponty 1945: 362.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

traktionen kaum zulässt. Wahrscheinlich wird man die Pointe der Erzählung von Mary nur verstehen, wenn man bedenkt, dass sie zugleich auch zum ersten Mal einen scheinbar unendlich ausgedehnten Raum erlebt, dass sie bewegte Luft erlebt und räumliche Weite. Nur in Verbindung mit diesen Eindrücken, nur innerhalb dieser Atmosphäre erlebt sie auch die Farbe blau. Die Erscheinungsform der Wirklichkeit im mittleren Bereich des Chiasmus erfasst gerade solche Eigenschaften der Wirklichkeit, die einen Einfluss auf uns ausüben, ohne dass wir sagen können, ob sie einem Gegenüber entstammen oder ob sie von uns selbst erzeugt sind. Alles scheint miteinander zu verschmelzen. Dies ist auch der Grund, warum Erkenntnishaltungen, die nur und ausschließlich clare et distincte erkennen wollen, diesen Bereich als eine Marginalie abgetan haben.

6.

Bemerkungen zu Raum und Zeit

Am Ende der Besprechung der Erscheinungsweisen der Wirklichkeit sollen ein paar unsystematische Beobachtungen zu den Größen von Raum und Zeit stehen. Beide sind immer wieder schon im vorangegangenen Text thematisiert worden. Hier soll ein kurzer Überblick über ihre Bestimmungen gegeben werden, der für eine ausführlichere Diskussion der Größen weitere Schlüsse zuließe. Offenkundig gibt es je andere Formen von Raum und Zeit in den Erscheinungsweisen. Ein zeitlicher Index lässt sich der Erscheinungsweise der Gedanken nicht zuordnen. 56 Gedanken gehorchen bestimmten syntaktischen, lexikalischen, logischen oder mathematischen Bestimmungen. Der Gedanke »1 + 1 = 2« hat keinen Zeitindex. Das soll nicht heißen, dass er ewig gilt, denn das kann man dem Phänomen nicht entnehmen. Wenn der Gedanke gilt, dann kann man aber auch nicht sagen, dass die Geltung irgendeine Dauer hätte, eine zeitliche Begrenzung ist aus dem Phänomen ebenso wenig abzuleiten. Die Zeit in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) ist stark durch das Jetzt bestimmt. Eine ähnliche Betonung haGedanken sind nicht mit dem Denken zu verwechseln. Wir werden weiter unten sehen, dass das Denken eine Unterart des Sprechens ist. Denken als Vollzug ist die Weise, dass etwas erscheint, nicht aber, was erscheint. Es erscheint aber ein Gedanke.

56

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Bemerkungen zu Raum und Zeit

ben wir ja auch schon bei der Schmitz’schen Bestimmung des eigenleiblichen Spürens gesehen. Hier ist es hilfreich, das Hören von Musik zu betrachten. Die Musik erklingt im Jetzt. Die Tonschwingungen sind ein Geschehen, das beide verbindet, die Musizierenden und die Hörenden. Doch ist nicht nur das Jetzt, der gerade erklingende Ton präsent, sondern auch die gerade verklungenen und die zu erwartenden Töne. Die Zeit in dieser Erscheinungsweise ist also nicht punktuell, vielmehr undeutlich ausgebreitet zwischen dem gerade Vergangenen, dem Jetzt und dem gleich Kommenden. 57 Diese Beschreibung der Zeit entspricht in etwa der, die Husserl in phänomenologischen Analysen bestimmt hat, in denen er die Zeit von Protention und Retention bestimmt sieht. 58 Allerdings bezieht sich dieser dabei auf einen Bewusstseinsfluss, also ganz auf das Bewusstsein. Merleau-Ponty deutet die Zeit der leiblichen Erfahrung als Präsenzfeld: »In meinem Präsenzfeld im weitesten Sinn (…) lerne ich den Lauf der Zeit kennen.« 59 In der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding dagegen ist die Zeit eine abstrakte Größe, die als lineare Struktur vorgestellt wird und aus Zeitpunkten, Intervallen und ähnlichem besteht. Hier ist die Differenz zweier Zeitpunkte allein von den Kriterien früher oder später bestimmt, da die linear vorgestellte Zeit eine solche Ordnung vorgibt. Diese Zeit ist messbar, weil sie sich über ein ähnlich abstraktes Raumverständnis mit den bewegten Dingen korrelieren lässt. Messungen beruhen dann auf physikalischen Prozessen, die eine bestimmte Regelmäßigkeit und Wiederholung ausweisen. 60 Analoge Betrachtungen kann man auch für den Raum vornehmen. Die Phänomene der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke sind ebenso wenig durch eine räumliche Größenordnung beschreibbar, wie durch eine zeitliche. Gedanken haben keinen definierten Raum, sie sind in gewisser Weise raumlos. In der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) dagegen kann man, wie wir gesehen haben, raumähnliche Strukturen identifizieren. So hebt Böhme etwa in der Analyse des Schattens eines 57 Die Unterscheidung vergangen-gegenwärtig-zukünftig wird auch als Modalzeit bezeichnet, vgl. Evers 2000: 350. 58 Vgl. Lembeck 1994: 59. 59 Merleau-Ponty 1945: 472. Hier wird die Zeit nicht als Bewusstseinsgegenstand verstanden, vgl. a. a. O.: 471. 60 Diese wird im Unterschied zur Modalzeit auch Lagezeit genannt, vgl. Evers 2000: 350.

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6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit

Baumes die räumlichen Aspekte einer Situation hervor, die durch leibliche Präsenz geprägt ist. Auch der Effekt der Ingression ist raumbezogen, jedoch nicht auf einen gegebenen, vermessbaren Raum, sondern auf fließende Raumstrukturen, die nicht klar konturiert sind. Schmitz definiert die »leibnahen« Raumerfahrungen als flächenlose Räume. Diese Räume sind keine abstrakten Räume, sondern leibbezogene Ausdehnungen, die nur schwer in einer objektivierenden Sprache zu erfassen sind. Diese leiborientierte Räumlichkeit hat Merleau-Ponty auch durch das Körperschema beschrieben: »Und in der Tat ist seine Räumlichkeit (die des Körperschemas, FV) nicht, wie die äußerer Gegenstände oder auch die der ›Raumempfindungen‹, eine Positionsräumlichkeit, vielmehr Situationsräumlichkeit.« 61 Wenn ich etwa meinen Hinterkopf kratzen will, so muss ich keine Bestimmung des Kopfes im abstrakten Raum vornehmen, sondern verfüge in gewisser Weise unmittelbar über ein Wissen der leiblichen Situation. So wie die zeitlichen Strukturen in dieser Erscheinungsweise durch ein Jetzt dominiert werden, so werden die räumlichen Strukturen durch ein Hier, durch das Hier der Präsenz des Leibes bestimmt. Ebenso wie die Zeit dieser Erscheinungsweise »verschmiert« mit Vor- und Rückbezug, so »verschmiert« der Raum als undeutliche Struktur. 62 In der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ist der Raum ebenso abstrakt wie die Zeit. Der Raum ist der cartesische Raum oder auch ein Raum mit sphärischen Koordinaten. Er kann ganz abstrakt bestimmt werden »als die Bedingung der Möglichkeit eines koexistenten, relationierten Beieinanders von Verschiedenem.« 63 Das Beieinander von Verschiedenem ist das Beieinander der räumlich erstreckten Dinge. 64 In jedem Fall ist der Raum in dieser Erscheinungsweise mathematisch bestimmbar und so für Messungen geeignet. Raum und Zeit lassen sich als unterschiedliche Dimensionen eines mathematischen Zusammenhanges deuten. Merleau-Ponty 1945: 125. Undeutlich ist die Situation allerdings, wie das Körperschema zeigt, nur in der objektivierenden Darstellung, nicht aber durch den spontanen Handlungsvollzugs des Leibes. 63 Evers 2000: 111. 64 Der Raum ist nach Husserls Untersuchungen von der Ordnung der Dinge abhängig, der Raum ist somit eine Ordnung, die sich aus der Ordnung der Dinge ableiten lässt: »(…) erwächst das Bewusstsein von der fest geordneten Dingmannigfaltigkeit und schließlich der Welt. Die festgehaltene Identität des Dinges ist festgehaltene Identität seines so und so erfüllten Raumes.« Husserl 1907: 217. 61 62

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Bemerkungen zu Raum und Zeit

Eine Besonderheit innerhalb der Erscheinungsweise X ist für das Verständnis der Ausdrücke »Hier« und »Jetzt« von großer Bedeutung. Sowohl für die räumliche als auch für die zeitliche Bestimmung gilt, dass in dieser Erscheinungsweise unkonturierte Übergänge existieren, dass also das »Jetzt« und das »Hier« eine gewisse Ausdehnung haben. Man kann sich vorstellen, dass man den Fokus innerhalb dieser Erscheinungsweise immer stärker konzentriert, bis auf den in keiner Weise mehr zu vermittelnden und nicht mehr vermittelten Punkt der Überkreuzung in der Mitte des Chiasmus. Hier brechen alle Mitteilungen zusammen, hier fällt die Möglichkeit einer sprachlichen Darstellung und auch die Möglichkeit eines handelnden Eingriffs vollständig aus, wie dies die Interpretation des Chiasmus nach Kap. 7.2. noch zeigen wird. Diesen Ort kann man als jenes Ziel bezeichnen, um das die Wege der Mystik ringen. An diesem Ort gibt es nur noch das reine »Jetzt« und »Hier«. Doch ist nun ganz entscheidend, dass dieses »Jetzt« und »Hier« keinerlei Gemeinsamkeit hat mit der punktförmigen Bestimmung eines »Jetzt« oder »Hier« auf einem abstrakten Zeitstrahl oder in einem abstrakten Raum. Das »Jetzt« ist als nunc stans beschrieben worden, es ist eher eine Form von Ewigkeit, ebenso ist das »Hier« eine Bestimmung, die zugleich alles umfasst. Viel kann man zu diesem »Jetzt« und »Hier« nicht mehr sagen, doch zeigt dieses Extrem in der Erscheinungsweise X, wie unterschiedlich die Bestimmungen von Raum und Zeit in dieser Erscheinungsweise gegenüber der Bestimmung in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ist. In dieser kurzen Übersicht präsentiert sich eine Vielfalt der Bestimmungen von Raum und Zeit, die aber nicht beliebig sind. Kann man über diese Tendenz hinaus etwas Allgemeines, die Erscheinungsweisen Übergreifendes sagen? Nein, das ist nicht der Fall, aber das ist auch nicht erstaunlich. Wenn die Wirklichkeit als Ganze unanschaulich ist, dann ist es nahe liegend, dass es auch kein gemeinsames, übergreifendes Konzept von Raum und Zeit gibt. Möglicherweise ist hier auch der Schlüssel für die Schwierigkeiten bei den philosophischen Bestimmungen von Raum und Zeit zu suchen. Wenn man die Differenzierung nicht berücksichtigt, ist es kaum möglich, ein umfassendes Konzept anzubieten. In der einen oder anderen Weise wird jeder Versuch, die Zeit oder den Raum in allen ihren Facetten zugleich und anschaulich darstellen zu wollen, Einschränkungen in seiner Erklärungskraft hinnehmen müssen.

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7. Die soziale Dimension der Wirklichkeit. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

Unsere bisherigen Erkundungen zu dem Schema des Chiasmus haben den eigenen Leib an den Anfang gestellt und nach der Art und Weise gefragt, wie man von ihm aus auf die Wirklichkeit schließen kann. Der Leib zeigt sich in verschiedenen Erscheinungsformen und kann nicht auf eine einzige Erscheinungsform reduziert werden. Diese Erkenntnisse haben eine spezifische Voraussetzung: Es geht stets um das Verständnis meines Leibes und um meine Situation innerhalb der Wirklichkeit. Die Darstellung des Leibes ist zunächst strikt auf mich, auf meinen Leib beschränkt, da ich nur bei mir die Gedanken ebenso beobachten kann, wie ich meinen Körper betrachten kann. Nur so ist es möglich, die Bedingungen des endlich-leibgebundenen Erkennens zu beachten. Wir haben in einem zweiten Schritt gesehen, dass die Erkenntnisse des Leibes eine Bestimmung der Wirklichkeit im Ganzen möglich machen. Die Wirklichkeit ist durch den Leib so stark mit dem Beobachter verflochten, dass eine Loslösung oder Verleugnung der Einbindung nur um den Preis eines partiellen Wirklichkeitsverlustes geschehen kann. Wir können deshalb auch nur so von der Wirklichkeit sprechen, dass wir das ganze Spektrum ihrer Erscheinungsweise berücksichtigen. Eine Reduktion auf eine oder zwei Erscheinungsweisen ist durch die Bedingungen unserer leiblichen Existenz verwehrt. Nun ist dieses Vorgehen aber einer grundsätzlichen Frage ausgesetzt. Führt der beschrittene Weg nicht dadurch in die Irre, dass wir uns stets so, wie wir sind, voraussetzen, dass wir uns in gewisser Weise absolut setzen und nicht in der Lage sind, uns unsererseits als begrenzten Standpunkt innerhalb eines kulturellen Vermittlungszusammenhangs zu relativieren? Ist diese Auffassung des endlichen, leibgebundenen Erkennens nicht dadurch zugleich eine verschwiegene Anmaßung, weil wir uns selbst gar nicht mehr in Frage stellen können, sondern uns als den Ort, an dem unser Leib erscheint, verabsolutieren? Müssen wir uns nicht, gerade dann, wenn wir unsere Endlichkeit hervorheben wollen, unseren relativen Ort in der Kulturgeschichte, in der sozialen Gemeinschaft der Menschen, unsere Abhängigkeit von ande280 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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7. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

ren Menschen betonen? Wir haben schon an anderer Stelle den nahe liegenden Vorwurf erwähnt, dieser Ansatz tendiere zu einem Solipsismus, weil er von dem je eigenen Leib ausgeht und ihn zur Grundlage nimmt, um die Wirklichkeit zu erschließen. Blieben wir bei diesem Stand der Untersuchung stehen, könnte dieser Ansatz mit einer Robinsonade verwechselt werden, mit einer kategorialen Einsamkeit, bei der keine Aussicht bestünde, je einem Freitag zu begegnen. Die sozialen Verhältnisse und die anderen Menschen spielen bei Merleau-Ponty von Beginn an in allen Schriften eine wichtige Rolle. Das haben wir schon festgestellt, als wir kurz die Begegnung mit anderen Menschen dargestellt haben (Kap. 6.2.). Doch denkt MerleauPonty die Verbindung zwischen mir und den anderen Menschen noch viel fundamentaler, als es das Nachdenken über die Begegnung mit anderen zum Ausdruck bringen könnte. Der andere Mensch ist in der Form der Begegnung, wie wir ihn schon thematisiert haben, immer noch ein Hinzukommender. Es gibt so eine gewisse Kontingenz in der Beschreibung der oder des Anderen. Für Merleau-Ponty ist der andere Mensch nicht kontingent anwesend in der Weise, dass er auch abwesend gedacht werden könnte. Die oder der Andere als der Repräsentant aller sozialen Kontakte ist aber nicht kontingent, sondern konstitutiv. Die soziale Welt, die Existenz anderer Menschen, hat bei Merleau-Ponty einen wichtigen Stellenwert durch den Begriff des Anderen, also des paradigmatisch anderen Mensch. 1 Der andere Mensch ist kein Anhängsel meiner eigenen Existenz, sondern gehört zu ihren Grundbedingungen: »Zwischen meinem Bewusstsein und meinem Leib, so wie ich ihn erleben, zwischen diesem meinem phänomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als Vollendung des Systems erscheinen lässt. Möglich ist die Evidenz des Anderen dadurch, daß ich mir selbst nicht transparent bin (…).« 2 Die soziale Welt ist nicht ein Zusätzliches zur Konstitution des Leibes, sie ist Teil dieser Konstitution, sie ist eine Dimension dieser Konstitution. »So gilt es denn, nach der Naturwelt, auch die Sozialwelt neu zu entdecken nicht als Objekt oder Summe von Gegenständen, sondern als beständiges Feld und DiDie Diskussion des Anderen zieht sich durch fast alle Schriften Merleau-Pontys an prominenter Stelle: Merleau-Ponty 1942: 196 ff.; 1945: 397 ff.; 1964: 84 ff.; 1964: 108 ff.; 1969: 147 ff.; 2003 (1): 263 ff.;. 2 Merleau-Ponty 1945: 403 f. 1

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mension der Existenz: wohl kann ich mich von ihr abwenden, aber nie aufhören, in Bezug zu ihr situiert zu sein.« 3 Die soziale Dimension unserer Existenz ist Teil der leiblichen Existenz und Merleau-Ponty formuliert sein Vorhaben, das unseren weiteren Überlegungen leiten sollen: »Es gilt auf das Soziale zurückzugehen, so wie wir mit ihm durch unser bloßes Existieren schon in Berührung sind und ihm verbunden sind vor aller Objektivierung.« 4 Der soziale Einfluss muss mit den Erscheinungsweisen selbst in Verbindung gebracht werden. Es muss darum gehen, manche Erscheinungsweisen des Leibes und der Wirklichkeit als Ausdruck sozialer Interaktion verstehen zu lernen. Die sozialen Interaktionen sind also nicht etwas Zusätzliches, die zu den Erscheinungsweisen hinzukommen, nicht sind zuerst die Erscheinungsweisen da und dann erscheint ein Mensch, die soziale Interaktion drückt sich vielmehr ihrerseits als Erscheinungsweise aus. Mit der Bestimmung dieses Verhältnisses wird zugleich eine bisher vernachlässigte Dynamik aufgedeckt. Die Erscheinungsweisen des Leibes sind in zwei fundamentale Entwicklungsprozesse eingebunden. Einerseits entwickeln sich die Erscheinungsweisen im Laufe der Biographie eines einzelnen Menschen, also in der Ontogenese, und zugleich entwickeln sie sich im Laufe der sozio-kulturellen Geschichte, also der Phylogenese. Wir müssen in der Beschreibung der Ontogenese Rechenschaft ablegen über unsere eigene, individuelle Entwicklung, die ja eine erhebliche Bedeutung für unser Verstehen und Erkennen hat. Die bisherige Darstellung ließ außer Acht, dass unser Leib sich ja im Laufe unseres Lebens in seinen Erscheinungsweisen änderte. Wir alle haben die ein oder andere Erinnerung an unsere Kindheit, in der deutlich wird, dass wir unseren Leib auch schon ganz anders erfahren haben. Die Erscheinungsweisen des Leibes, wie wir sie als Ausgangspunkt analysiert haben, sind auf die Situation eines erwachsenen Menschen bezogen, der in einer bestimmten Kultur lebt. Nun kann die bisherige Darstellung die Vorstellung nicht ausschließen, mit diesem Bezug auf den Leib und der anschließenden Erkundung der Wirklichkeit würde etwas Vorgegebenes erkundet, das einfach so da ist. Doch das wäre ein grobes Missverständnis. Der Leib ist auch in dieser Hinsicht kein fundamentum inconcussum, er ist nichts einfach Gegebenes, vielmehr muss er 3 4

A. a. O.: 414. Ibid.

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sich stets neu konstituieren, er ist in einem steten Wandel begriffen. Der Leib, das hatten wir schon festgestellt, ist kein fester Anfangspunkt für die Analyse einer davon zu unterscheidenden Welt, sondern er ist stets eingebunden in eine transitorische Situation, er ist selbst ein ständiger Übergang, eine Verschränkung, ein dynamisches Verhältnis von Bewusstsein* und Körper*. Der Leib ist, so sahen wir es ja schon bei der Interpretation des Chiasmus, in seinen Erscheinungsweisen stets in einem aktiv-passiven Verhältnis. Seine Erscheinungsweisen sind in einem ständigen Wandel befindlich. Kein Leib ist, was er ist, durch sich selbst, er ist geboren, geprägt, verändert sich ständig und wird vergehen. In all dem ist er auf die soziale Welt, auf die Existenz anderer Menschen angewiesen. Wir wurden durch unsere Nächsten in die soziale Welt eingeführt. Wir haben eine Sprache gelernt und vollziehen das Denken wie auch das Fühlen zumeist nach kulturell vorgegebenen Mustern. Weiterhin gelten unsere biographischen Determinanten: Wir sind als leibliche Wesen geprägt von Geburt und Tod. Wir sind endliche Wesen, eingebunden in ein Werden und Vergehen inmitten der Wirklichkeit und eingebunden in ein vielfältiges soziales Beziehungsnetz. Es kommt nun darauf an, die soziale Dimension in der Entwicklung der Erscheinungsweisen zu entdecken. Unsere individuelle leibliche Existenz ist also in hohem Maße voraussetzungsreich und zehrt von vielen Vorgaben, die wir nicht vollständig transparent machen können. Wir müssen schließlich auch in der Beschreibung der Phylogenese Rechenschaft ablegen über die geschichtliche kulturelle Entwicklung, in die wir eingebunden sind. Kein Mensch beginnt das Nachdenken an einem Punkt, der unabhängig wäre von jeder Voraussetzung. Auch der Endpunkt des Weges von Descartes, das »cogito sum« kann und muss bezweifelt werden. Weder die Erscheinungsweise des Leibes noch die der durch ihn erschlossenen Wirklichkeit sind zeitlos und kulturinvariant. Es ist völlig abwegig, anzunehmen, unser bisheriger Gedankenweg sei eine fundamentale menschliche Betrachtung, die zeit- und ortsunabhängig von allen anderen Menschen auch so gesehen werden könnte. Eine Verendlichung des Erkennens, seine Verortung bei dem eigenen Leib führt notwendiger Weise auch zu einer Relativierung der eigenen kulturellen Vorgaben und der Anerkennung unserer Abhängigkeit von ihnen. Tatsächlich sind in die Betrachtungen vielfältige kulturelle Vorgaben eingeflossen. Wir haben selbst auf eine bestimmte kulturgeschichtliche Entwicklung Bezug genommen, als wir die Wirkung der Philosophie von Descartes in der Neuzeit, als wir die Entwick283 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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lung der Leonardo-Welt schilderten. Bei Descartes ist zum ersten Mal in dieser Klarheit der Versuch gemacht worden, das Bewusstsein von der materiellen Welt zu trennen, eine Trennung die in den traditionellen Konzepten der Seele vor Descartes undenkbar gewesen wären. Die Betrachtungen von Merleau-Ponty wiederum zehrten in erheblichem Maße von der Unterscheidung Descartes’, wenn auch nur darin, dass mit dieser philosophischen Vorgabe eine Negativfolie gegeben war, vor deren Hintergrund der eigene Ansatz deutlicher werden konnte. Kurzum: Die Betrachtungen, die wir bislang angestellt haben, sind nicht zeitlos, sondern eingebunden in eine Geschichte des Nachdenkens über die Wirklichkeit und in hohem Maße kulturrelativ. Über beide dargestellten Abhängigkeiten müssen wir also innerhalb des Ansatzes eines phänomenologischen Realismus Rechenschaft ablegen können. Beide lassen sich erfassen durch eine Berücksichtigung der sozialen Existenz von uns Menschen. Wir stehen hier vor einer grundlegenden Herausforderung. Wie können wir nun die vielfältigen und fundamentalen Einflüsse der sozialen Welt so aufnehmen, dass wir nicht die bisher etablierte Bindung des Erkennens von dem spezifischen Ort lösen, sondern von dort aus die sozialen Beziehungen zu erkunden? Es läge ja nah, uns von außen zu betrachten, so wie man sich alte Kinderfotos anschaut, und uns in eine abstrakte Reihe von Menschen in einer abstrakten Geschichte der Menschheit einzugliedern. Aber dann verlieren wir den Ort des Erkennens, den wir eingenommen hatten und der uns half, die Vielfalt der Erscheinungsformen des Leibes und der Wirklichkeit zu erkunden. Dann führen wir die Betrachtung von einem Irgendwo aus weiter, von einem unbekannten Mitmenschen aus oder gar von außerhalb der Menschheit, wenn wir die Entwicklung derselben betrachten. Die sozialen Interaktionen haben dann einen sekundären Status, sie verbinden eine Menge von einzelnen Elementen, die man sich als eine geschlossene und gegebene Größe vorstellen darf. Diese Vorstellung wäre wiederum geprägt von dem Blick »von außen« und von Menschen als eingekapselte Wesen. Hier wiederholt sich also der Fehler, den wir durch die Einführung des Begriffs des Leibes vermeiden wollten. Wenn wir also im bisherigen Modus über soziale Kontakte nachdenken wollen, dann können wir das nur so tun, dass wir immer schon in soziale Kontakte einbezogen sind. Unser Ort des Erkennens beginnt innerhalb der sozialen Welt. Es ist eine unzulässige Abstraktion, sich die soziale Welt als Verbindung von einzelnen Elementen vorstellen zu wollen, die zusätzlich hin284 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Der sozialphilosophische Ansatz von George Herbert Mead

zukommt. Wie können wir aber die soziale Welt von innen her erschließen? Die sozialen Prozesse werden in der Regel über den Handlungsbegriff beschrieben, der sich in der Regel am rationalen Handeln orientiert. Hans Joas hat die Engführung auf einen rationalistischen Handlungsbegriff kritisiert und stattdessen mit Hilfe der Rezeption der Arbeiten von Merleau-Ponty und des Sozialphilosophen George Herbert Mead eine andere Begriffsstrategie vorgeschlagen. »Meads ganze Begriffsstrategie ist auf einen nicht-individualistischen Begriff sozialen Handelns ausgerichtet. (…) ist Meads Ausgangspunkt der ›social act‹, was bei ihm eben nicht ein auf Andere bezogenes individuelles Handeln, sondern eine komplexe Gruppenaktivität bedeutet (…).« 5

1.

Der sozialphilosophische Ansatz von George Herbert Mead

A.

Mead deutet die soziale Welt von »innen« her

Mead sah sich in einer ganz ähnlichen dilemmatischen Ausgangslage wie Merleau-Ponty, wenn er auch in einem ganz anderen philosophischen Kontext nach einer Lösung suchte. Auch ihm ging es darum, die auseinander fallenden Beschreibungen der Wirklichkeit durch empirisch wissenschaftliche Forschung und durch eine Analyse des Bewusstseins zu überbrücken. Joas formuliert das Vorhaben von Mead in der folgenden Weise: »Meads Arbeit lässt sich als Versuch charakterisieren, in die Konstitution der wissenschaftlichen Psychologie einen unverkürzten Subjektivitätsbegriff einzubringen (…)« 6 . Die Subjektivität wiederum hängt eng mit der Existenz von Bewusstsein in dieser Welt zusammen. Wie also kann man das Bewusstsein in die wissenschaftlich beschriebene Welt reintegrieren? Die Ähnlichkeit der Projekte von Mead und Merleau-Ponty sind auch schon an anderer Stelle ausführlicher diskutiert worden. 7 Beide Autoren lehnen ein substantielles Verständnis von Bewusstsein ebenso ab, wie sie auch eine Reduktion der Beschreibung der menschlichen Existenz auf das wissenschaftlich Objektive für ungenügend halten.

5 6 7

Joas 1996: 277 f. Joas 1989: 71. Vgl. a. a. O.: XVI.

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I.

Akzeptanz der parallelistischen Erfahrungen

Mead hat zunächst Einsichten des Psychologen Wilhelm Wundt aufgegriffen, der eine parallelistische Konzeption von Bewusstsein und Körper vertrat, also ein Konzept, nachdem es die beiden Größen Bewusstsein und Körper gibt, die aber nicht aufeinander reduziert werden können. »Wenn wir nun einerseits den Organismus und seine Umwelt als gemeinsames Objekt nehmen und andererseits alles übrige, wobei wir diesen Rest in die Erfahrung des einzelnen Menschen einfügen, so ergibt sich daraus ein Parallelismus: auf der einen Seite die physische Welt und auf der anderen Seite das Bewusstsein.« 8 Es gibt für ihn eine gewisse Berechtigung für die Eigenständigkeit der beiden Erfahrungsbereiche. Doch muss man nach Mead darauf achten, diese parallele Struktur nicht in eine metaphysische Teilung und Trennung zu verwandeln. 9 Denn dann entstehen sofort die alten erkenntnistheoretischen Dilemmata. Die parallelistische Struktur darf nicht zu einem metaphysischen Substanzdualismus werden. Deshalb strebte Mead danach, nicht bei dieser parallelen Struktur und der Sonderstellung des Bewusstseins stehen zu bleiben. Es kommt darauf an, beide Bereiche, das Bewusstsein und die Welt der physischen Dinge, mit einem Ansatz, mit einer gemeinsamen Sprache zu beschreiben. 10 So wie MerleauPonty sucht auch Mead nach Phänomenen, die dieser Teilung vorgelagert sind und findet sie in der Analyse der sozialen Prozesse. Das Grundelement, bei dem Mead seine Untersuchung beginnt, ist die Handlung. »Die Handlung und nicht der Nervenstrang ist also das grundlegende Datum sowohl der Sozial- wie der Individualpsychologie, wenn sie unter behavioristischen Vorzeichen steht.« 11 Die Handlung hat Aspekte, die in beide Richtungen weisen, in die des Bewusstseins ebenso wie in die der physischen Welt. Die Handlung hat eine Mittelstellung zwischen beiden, von ihr aus ist es möglich, die beiden Bereiche zu erschließen. Auf diese Weise gelingt es Mead zum einen die Unterschiedenheit von Bewusstsein und physischer Welt zu bejahen, ohne sie in einen metaphysischen Dualismus übergehen zu lassen. Er stellt eine Größe an den Anfang der Betrachtung, die sich nicht dieser Aufteilung fügt. Dies eint Mead wiederum mit Merleau-Ponty. Mead 1934: 70. Vgl. a. a. O.: 71. 10 Vgl. a. a. O.: 79. 11 A. a. O.: 46. 8 9

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Doch während dieser die Wahrnehmung in den Vordergrund seiner Analysen stellt, versteht jener die Handlung als das grundlegende Phänomen. 12 Das geschieht in viel radikalerer Weise als bei Merleau-Ponty. Dort spielt der Andere immer auch eine Rolle, aber es ist eben doch oft der Andere, der hinzukommt. Bei Mead kommt nichts hinzu, ganz zu Beginn steht die Handlung als soziales Phänomen. II.

Der Ausgangspunkt beim Behaviorismus

In dem Buch »Geist, Identität und Gesellschaft«, das die Theorie des späten Mead nachzeichnet, wird zunächst eine nicht nur ablehnende Haltung Meads gegenüber dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten populären Behaviorismus dargestellt. Mead bezieht sich zunächst auf empirische Studien der Psychologie, die ausschließlich von der äußeren, messenden Beobachtung des Handelns ausgehen. »Die Sozialpsychologie ist in diesem Sinn behavioristisch, dass sie mit einer beobachtbaren Handlung beginnt (…).« 13 Doch schnell werden auch die Unterschiede deutlich, denn die behavioristischen Autoren vollziehen in der Beschreibung des Psychischen eine radikale Reduktion: Nur jene Vorgänge sind relevant, die von einem äußeren Beobachter erkannt und gemessen werden können. Als Indikator für psychische Vorgänge wird dann nur noch das resultierende Verhalten beobachtet. Introspektive Methoden werden zugleich als unwissenschaftlich verworfen. Grundlegend ist für den Behaviorismus also ein Individuum, das mit seiner Umgebung in einem bestimmten Kontakt steht. Nun kann man die Reize beobachten, mit denen die Umwelt auf das Individuum einwirkt. Den Reizen folgt eine Reaktion, ein Verhalten oder eine Verhaltensänderung, die wiederum beobachtet und gemessen werden kann. Das Verhältnis von Reiz und Reaktion ist dann Grundlage für die wissenschaftliche Beobachtung. Reiz und Reaktion stehen in einem engen Zusammenhang, dem so genannten Reflexbogen. Die Folge dieser methodischen Einschränkung ist offenkundig: All das, was nicht messbare Spuren im Verhalten zurücklässt, ist auch außerhalb dieser sich streng wissenschaftlich verstehenden Psy12 Dies ist, wie wir noch sehen werden, allerdings nur eine Frage der Akzentuierung und nicht einer klaren Differenz. Deshalb werden wir später beide Formen, das Handeln ebenso wie das Wahrnehmen, als Teil derselben Vermittlung verstehen. 13 Mead 1934: 46.

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chologie. Doch gab es schon früh eine fundamentale Kritik dieser Ansichten in der philosophischen Schule des Pragmatismus, der Mead angehörte. Insbesondere der Mentor und Freund Meads, John Dewey, hat die Vorstellung des Reflexbogens verworfen. 14 Denn die behavioristische Beschreibung lässt den Organismus zu passiv erscheinen. Gegenüber einer einfachen passiven Struktur von Reiz und Reaktion wies Dewey auf einen unauflösbaren Zirkel, also eine wechselseitige Beeinflussung von Organismus und Umwelt, in dem die Organismen immer schon einbezogen sind. 15 Diese Ansichten hatten wir auch schon bei Merleau-Ponty kennen gelernt, der das aktiv-passive Verhältnis, das den Leib bestimmt, unverkürzt darstellen möchte. 16 Mead stellt fest, dass die klassisch behavioristische Beschreibung nur einen Teil der Handlung erfasst: »Es gibt innerhalb der Handlung selbst einen nichtäußerlichen Bereich, der aber zur Handlung gehört (…).« 17 Die Handlung lässt sich, mit anderen Worten, nicht in Messvorschriften verobjektivieren. Die Kritik am Behaviorismus ist deutlich, Mead fordert ein umfassenderes Verständnis einer Handlung, das nicht durch eine bestimmte Methode verengt wird. Dabei lehnt er aber die behavioristischen Erkenntnisse nicht einfach ab, sondern versucht sie in einer erweiterten Beschreibung aufzunehmen. 18 Denn auch er teilt das wissenschaftliche Ideal einer »objektiven« Beobachtung. Um beide Ansätze miteinander vereinen zu können, ist Mead gezwungen, den Behaviorismus in entscheidender Weise zu verändern. Hier setzt seine radikale und revolutionäre Veränderung der Argumentation an. 19 Er nimmt nun nicht mehr das Individuum, also den einzelnen Organismus, als gegeben an, um an ihm das Handeln zu beobachten, sondern Vgl. Joas 1989: 67 ff. In ähnlicher Weise argumentiert der grundlegende Ansatz von Viktor von Weizsäcker, den dieser Gestaltkreis nennt. Vgl. Link 1976: 320 ff. 16 Vgl. auch Joas 1989: 70. 17 Mead 1934: 44. 18 »Instead of simply ignoring the existence of these elements of experience (scil. subjective or private elements, FV), Mead wants to understand them by locating them within the conduct of the individual and by relating their structure to the larger social process of behavior, in which the individual is typically involved.« Cook 1993: 67. 19 Mit dieser Wende aber wendet sich Mead auch zumindest implizit deutlich gegen den Behaviorismus: »While Mead does not directly attack the classical behaviorist modell of conduct, we can easily demonstrate that his approach to conduct in Mind, Self and Society is in fundamental opposition tho that model.« A. a. O.: 75. 14 15

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umgekehrt, er setzt das Handeln voraus, um dann die Entstehung dessen, was wir »Individuum« nennen, als eine Folge des sozialen Handelns zu beschreiben. 20 Er löst die Anforderungen also so, dass er eine Theorie der uneinholbaren Vorgängigkeit der sozialen Prozesse entwirft. Wenn wir über soziales Handeln nachdenken, können wir das nicht von einem neutralen Ort aus, sondern immer nur so, dass auch das Nachdenken schon vollständig in soziales Handeln eingebunden ist. Hier ist die Argumentationsfigur ganz ähnlich zu der hier vertretenen Leibphilosophie und kommt unseren oben formulierten Anforderungen sehr nah: Es gibt keinen neutralen Anfangspunkt, von dem aus soziales Handeln in den Blick genommen werden könnte. Vielmehr ist das Nachdenken über das soziale Handeln unauflöslich durch soziales Handeln schon immer geprägt. In der Terminologie von Merleau-Ponty ausgedrückt erobert Mead so die Dimension zwischen Subjekt und Objekt, ohne eine der beiden Seiten oder gar beide zu verleugnen. III. Der neue Ansatz: Sozialbehaviorismus Diese in ihren Grundannahmen veränderte Theorie des Handelns bezeichnet Mead in Abgrenzung zu dem klassischen Behaviorismus als Sozialbehaviorismus. Wenn im Behaviorismus der Organismus und seine messbaren Reaktionen ein letztes Datum sind, so sind es im Sozialbehaviorismus die Interaktion, die Handlung im sozialen Raum. Es ist nach Mead nicht möglich, die sozialen Beziehungen so zu entwickeln, dass man sich zunächst einen Organismus vorstellt, dann weitere Organismen hinzudenkt und dann fragt, welche Beziehung die Organismen zueinander haben. In diesem Fall sind die sozialen Beziehungen immer ein Hinzukommendes, die einzelnen Organismen dagegen können auch ohne soziale Kontakte verstanden werden. Das Verhältnis von Organismus und sozialer Beziehung dieser klassischen Sicht gleicht der Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz. Die Organismen sind das, was wirklich gegeben ist, die sozialen Bezie20 Joas zeigt, dass Mead die Umkehrung der Perspektive schon in den Texten ab 1909 vornimmt: »Was er (Mead, FV) mit dieser Argumentation gegen Royce erreichen will, ist die Dimension sozialer, kollektiver Handlungsprozesse, die der bedeutungskonstituierenden sprachlichen Verständigung zugrunde liegt. Die Nachahmungstheorie ist in diesem Zusammenhang eine individualistische Ausflucht, da sie von ursprünglichen individuellen Handlungsintentionen ausgeht oder kollektives Handeln auf bloße Reihungen individueller Handlungen reduziert.« Joas 1989: 99 f.

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hungen sind eine weiter gehende Beschreibung, sie können hinzukommen, müssen es aber nicht. Mead hält dagegen: Die Organismen können nicht verstanden werden, wenn man nicht schon ihre Konstitution in das soziale Geschehen verlegt: »Der Körper als solcher ist keine Identität; er wird erst dazu, wenn er innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhangs Geist entwickelt hat.« 21 Anders gesagt: Es gibt keinen Blick auf die Organismen, der nicht schon von der sozialen Interaktion der Organismen bestimmt wäre. Hier gibt es eine systematische Parallele zu dem schon diskutierten Verhältnis von Körper und Bewusstsein. Das, was wir als Körper verstehen, ist schon durch unser Bewusstsein bestimmt, und in gleicher Weise ist das, was wir als Individuum verstehen, schon durch das soziale Handeln bestimmt. Insofern wendet sich Mead auch gegen eine verkürzte Darstellung gesellschaftlicher Prozesse. »Das heißt also, dass wir das Verhalten des Individuums im Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe erklären, anstatt das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklären zu wollen. Für die Sozialpsychologie ist das Ganze (die Gesellschaft) wichtiger als der Teil (das Individuum) (…)«. 22 Nun kann man erstaunt einwenden, es sei doch möglich, einen einzelnen Menschen auch ohne soziale Beziehungen zu denken. Dieser Blick auf den einzelnen Menschen ist aber kein unmittelbar Gegebener, sondern er setzt seinerseits schon eine vorgängige soziale Interaktion voraus und zwar beim Beobachtenden! Deshalb ist es auch eine folgenreiche Verkürzung des Menschen, wenn man ihn zunächst als einen isolierten Organismus sieht. Der Einwand zehrt wieder von dem kulturell dominanten Bild des eingekapselten Menschen. Mead beantwortet die Frage, wie ein Kopf Bewusstsein habe, so: »Der Kopf, von dem man spricht, kann nicht durch den Kopf, den man beobachtet, erklärt werden. Bertrand Russell sagt, der Kopf, den er meine, sei nicht der vom Physiologen untersuchte Kopf, sondern der Kopf des Physiologen selbst.« 23 Wir müssen aber der Denkweise von Mead folgen, wenn wir die Bedingungen des phänomenologischen Realismus beachten wollen. Es geht darum, in der Theorie stets auch darüber Rechenschaft ablegen zu können, wie es um die oder den steht, die oder der beobachtet. Wir 21 22 23

Mead 1934: 89. A. a. O.: 45. A. a. O.: 78.

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aber, die wir einen Menschen beobachten, sind immer schon selbst sozial determinierte Wesen, wir kommunizieren miteinander zum Beispiel über die Frage, ob Menschen auch isoliert gedacht werden können. Wir sind immer schon in eine soziale Welt eingebunden, die uns die Beobachtungen gelehrt hat und die Sprache vermittelt hat, mit der wir die Beobachtungen machen und diskutieren können. Ebenso wenig wie wir unsere leibliche Existenz suspendieren können, können wir unsere soziale Existenz suspendieren und sie aus anderen, etwa biologischen Determinanten ableiten. Natürlich ist es möglich, sich einen Menschen zu denken, ihm einen oder mehrere Menschen hinzuzugesellen und die so entstehende Konstellation zu untersuchen. Die fundamentale Bedeutung sozialer Strukturen bekommen wir aber deshalb nicht in den Blick, weil wir unsere eigene Situation als Beobachter vergessen. Wir sind aber immer schon Teil einer Vielzahl sozialer Beziehungen, die verhindern, dass wir soziale Beziehungen grundsätzlich von außen, als etwas Neues oder Fremdes in den Blick bekommen könnten. Nach Mead muss man also die gewohnte Reihenfolge umkehren: Aus den sozialen Prozessen entwickelt sich mit der Zeit durch die kulturelle Entwicklung die Vorstellung von Individuen. Wir müssen unsere Betrachtungen von einer vorgegebenen sozialen Situation aus beginnen, in der wir immer schon sind. Mead muss, weil er die sozialen Beziehungen als ein vorgegebenes Ganzes versteht, das sich nicht analytisch in seine Teile auflösen lässt, die gesellschaftliche Existenz des Menschen folglich von innen her erschließen. 24 Mead sucht offenkundig in ähnlicher Weise wie Merleau-Ponty einen Weg, der die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt vermeidet. Wir können die soziale Welt deshalb nicht zu einem Objekt machen, weil wir selbst immer schon durch sie bestimmt sind. Mead ist sich bewusst, dass die soziale Wirklichkeit, wie sie sich uns zeigt, nicht so verstanden werden kann, dass man sie analytisch in einzelne Entitäten zergliedert und dann sukzessive nacheinander beschreibt. Wer direkt bei einem Organismus ansetzt und dann versucht von dort aus die sozialen Prozesse zu beschreiben, hat das Problem, dass soziale Phänomene entweder wie im 24 »Die Struktur der vollständigen Identität ist somit eine Spiegelung des vollständigen gesellschaftlichen Prozesses.« Mead 1934: 186. Wir werden von dieser Definition nicht unerheblich abweichen, indem wir auf die Erscheinungsformen des Leibes weisen, die in nur geringem Maße sprachlich vermittelt sind, die Erscheinungsweise X (Gefühl).

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Behaviorismus verkürzt erscheinen oder aber wie im Parallelismus als eine doppelte Struktur von Bewusstsein und physischer Welt. 25 Die Ansätze von Mead und Merleau-Ponty weisen entscheidende systematische Parallelen auf. Es ist aufgrund dieser Parallelen nun in einem weiteren Schritt möglich, die beiden Ansätze stärker aufeinander zu beziehen. Aufgrund der Entwicklung der Mead’schen Gedanken kann man folgern, dass die Erscheinungsweisen im Chiasmus selbst durch soziale Kontexte erst zu dem werden, was sie sind. Es wird also zu zeigen sein, in welcher Weise und in welchem Umfang die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit sozial vermittelt sind. Doch es gibt auch Unterschiede. Wir werden sehen, dass nicht alle Erscheinungsformen der leiblichen Existenz in gleicher Weise sozial vermittelt sind. Es gibt Erscheinungsformen, die stärker sozial vermittelt sind, und solche, die es weniger stark sind.

B.

Die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gedanke und als Ding

Wie nähert sich Mead diesen Erscheinungsformen, also den Gedanken auf der einen und den Dingen auf der anderen Seite? Mead hat dem parallelistischen Ansatz von Wilhelm Wundt in Grenzen zustimmen können, weil mit der Unterscheidung von Bewusstsein und physischer Welt sehr unterschiedlichen Erfahrungen Rechnung getragen werden kann. Doch zugleich darf diese Unterscheidung nur vorläufig sein, damit sie sich nicht zu einem Dualismus verfestigt. Nun ist aber die Frage, wie Mead die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die sich in der Tradition als Bewusstsein und physische Welt aufteilten, aus seinem Grundelement des gesellschaftlichen Handelns ableitet. Beide Bereiche des Parallelismus muss man »in einer so weit wie möglich gemeinsamen Sprache beschreiben, und der Behaviorismus ist nur ein Versuch in diese Richtung.« 26 Zunächst zum Bewusstsein. Introspektive Ansätze, die bei einem unmittelbaren Kontakt zum Bewusstsein ansetzen, führen nach Mead in eine falsche Richtung. Das Bewusstsein ist nicht Ursache des Verhaltens, sondern Produkt des Verhaltens. Der Keim des Bewusstseins liegt 25 26

Vgl. A. a. O.: 70. A. a. O.: 79.

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in der sozialen Interaktion und muss von da her entfaltet und erschlossen werden. 27 Nicht nur ist es unmöglich, dass eine Handlung von der Interaktion von Individuen her verstanden werden kann, auch Bedeutungen, die mit dem Handeln verknüpft sind, lassen sich nur aus der Beschreibung von gesellschaftlichen Handlungen ableiten. Bedeutung entsteht erst im Verlauf der sozialen Handlung. Mead beginnt seine Analyse mit der Beschreibung einer Geste. Eine Geste ist ein analytisch zu gewinnender Teil eines Interaktionszusammenhangs. Gesten schaffen eine primäre Kontinuität, die dann nachträglich als Austausch zwischen Einzelnen gedeutet werden kann. Mead veranschaulicht das durch die Beschreibung von tierischem Verhalten. Eine Geste ist hier der Reiz, den das Verhalten eines Tieres für ein anderes darstellt, so dass dieses darauf wieder reagiert. Bei der Geste ist die Darstellung »von außen« im Sinne des klassischen Behaviorismus offenkundig noch möglich. Man kann einzelne Individuen betrachten und die wechselseitigen Reiz-Reaktions-Mechanismen. Die Gesten haben die Menschen mit den Tieren gemeinsam, auf Gesten reagiert auch der Mensch unwillkürlich. Die eigentlich menschliche Kommunikation beginnt aber erst dann, wenn signifikante Symbole eine Rolle spielen. 28 Signifikante Symbole sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die gleiche Bedeutung für die an der Interaktion Beteiligten haben. Gesten dagegen werden in der Regel perspektivisch wahrgenommen, eine Geste ist eine räumliche Bewegung, die von unterschiedlichen Orten unterschiedlich gesehen wird. Deshalb entstehen signifikante Symbole nach Mead erst in dem Gebrauch der akustischen Sprachzeichen. Denn beim Ertönen sprachlicher Laute werden diese Laute von dem Sprechenden ebenso gehört wie von allen Zuhörenden. Sprache wird von Mead als Teil der sozialen Interaktion gewertet. Mead entwickelt sein Verständnis der Sprache von ihrer Verwendung in Handlungskontexten her. 29 Die Sprache ist eine Form der Kommunikation, sie ist kommunikatives Handeln, die eine entscheidende Weiterentwicklung der Gesten darstellt. Akustische Äußerungen sind nämlich anders als Gesten von dem, der spricht, genauso zu erleben, wie

27 »Wir müssen Geist daher so verstehen, dass er aus dem gesellschaftlichen Prozess erwächst (…).« A. a. O.: 174. 28 Vgl. a. a. O.: 100 ff. 29 Vgl. Habermas 1987 (2): 14.

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von dem, der das Gesprochene hört. Sprache und Handeln konvergieren hier als zwei Facetten des sozialen Geschehens in Sprechhandlungen. Damit hat Mead aber die Möglichkeit gewonnen, das Bewusstsein aus sozialen Handlungen abzuleiten. Signifikante Gesten und Symbole repräsentieren zugleich äußere Bewegungen und psychische Prozesse, nämlich Denkvorgänge: »Wenn aber die Geste, wie im Fall des Menschen, eine Parallele zu einem bestimmten psychischen Zustand aufweist – nämlich der Idee darüber, was eine Person tun wird –, und wenn diese Geste eine gleiche Geste und eine gleiche Idee im anderen Menschen auslöst, wird sie zu einer signifikanten Geste. Sie steht für die Idee im Denken beider.« 30 Über die Einführung der signifikanten Geste kann Mead den Geist, die Sphäre der Bedeutungen und Symbole, aus sozialen Interaktionen ableiten. Die sozialen Prozesse sind den introvertierten Erfahrungen vorgängig. Nicht ist es so, dass der Mensch zunächst denkt und dann zu sprechen beginnt, umgekehrt, das Denken kann nur verstanden werden als die »Innenseite« eines Prozesses, der sich von der »Außenseite« als Handlung darstellt. 31 »Innenseite« und »Außenseite« werden nicht substantialistisch gedacht, sondern als zwei Seiten eines Vermittlungsprozesses, in dessen Zentrum die soziale Handlung als Form einer Kommunikation steht. »Geist entsteht aus der Kommunikation durch die Übermittlung von Gesten innerhalb eines gesellschaftlichen Prozesses oder Erfahrungszusammenhanges – nicht die Kommunikation durch den Geist.« 32 Die Sprachäußerungen sind als signifikante Symbole zugleich Reiz und Reaktion. 33 Der Sprechende ist sich zugleich der Reaktion des Hörenden bewusst und bezieht dies

Mead 1934: 87. Habermas bestimmt im Gegensatz dazu einen Sprechakt so, dass das Verstehen eine konstitutive Rolle spielt: »Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.« Habermas 1987 (1): 400. Es geht bei dem Verstehen um keinen objektiven Vorgang, sondern um die »Bedingungen für die intersubjektive Anerkennung eines sprachlichen Anspruchs (…).« Habermas 1987 (1): 401. Daher resultiert auch eine gewisse Kritik an Mead, indem er ihm vorwirft, dass er »die Verständnisleistung und die internen Strukturen der Sprache vernachlässigt.« Habermas 1987 (2): 14. 31 Merleau-Ponty bringt diesen Sachverhalt so auf den Punkt, indem er sich ironisch gegen eine verkürzte Sichtweise wendet: »(…) der Mensch kann demnach sprechen, wie eine elektrische Birne glühen kann (…).« Merleau-Ponty 1945: 208. 32 Mead 1934: 89. 33 Vgl. a. a. O.: 111. 30

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in das Sprechen mit ein. Aus diesem wechselseitigen Verweis entsteht eine Bedeutung des Lautes, die alle miteinander teilen. Bedeutung ist also nicht etwas, das schon zuvor »in« den Individuen da wäre, sondern etwas, das sich allein aus dem Wechselspiel der sozialen Interaktion ergibt. Das Denken findet damit, wie Mead pointiert formulieren kann, im Verhalten, also im kommunikativen Handeln selbst statt. 34 Das hat erhebliche Folgen für das Verständnis des Bewusstseins: »Bewusstsein oder Erfahrung, im Rahmen des gesellschaftlichen Prozesses erklärt oder dargestellt, kann aber nicht im Gehirn lokalisiert werden (…)« 35 , das heißt, es ist keine Reduktion der sozialen Interaktion auf Organismen oder das Organ Gehirn möglich. Das, was als Bewusstsein erscheint, kann weder von einzelnen Organismen abgeleitet werden, noch kann es von einer völlig unbeteiligten Perspektive verstanden werden. Deshalb kann auch in der Nachahmung nicht der Kern sprachlicher Entwicklung liegen. Denn eine Geste nachahmen kann auch ein unbeteiligter Beobachter, der aber durch diese Tätigkeit nicht deren Bedeutung erfährt. Die Bewegungen und Gesten lassen sich zwar von einem objektiven Beobachter messen, ihre Bedeutung, sofern sie zugleich signifikante Symbole sind, ist ihm aber nur dann zugänglich, wenn er selbst an dem Sprachraum, an der Kommunikation teilhat. Sinn und Bedeutung ergeben sich erst aus dem Verhältnis, das mehrere soziale Handlungen zueinander haben. 36 Wiederum kommt hier zum Ausdruck, dass nur eine Perspektive »von innen«, also aus dem Handlungszusammenhang heraus, der Bedeutung habhaft werden kann. Denn eine Perspektive »von außen«, die in einem künstlichen Schritt jeden Zugang zum Kommunikationsraum leugnet, kann wohl der Abfolge der beobachtbaren und messbaren Konstellationen nachgehen, sie kann aber nicht das Verhältnis der signifikanten Symbole als Bedeutungen, die aufeinander verweisen, erfassen. In diesem Verständnis von Kommunikation, das Mead entwirft, hätten die Dennett’schen Marsmenschen keine Chance der Verständigung, wenn sie nicht in die sozialen Beziehungen der Menschen inkul-

Vgl. a. a. O.: 146. A. a. O.: 153. 36 Mead hält fest, »dass Sinn diese dreiseitige Beziehung zwischen den Phasen der gesellschaftlichen Handlung als den Zusammenhang voraussetzt, innerhalb dessen er entsteht und sich entwickelt (…). So ist zum Beispiel die Reaktion des Küken auf das Glucken der Henne eine Reaktion auf den Sinn des Gluckens (…).« A. a. O.: 116. 34 35

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turalisiert würden. Es ist deutlich, dass wir mit den Mitteln der Analyse von Mead die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke neu interpretieren können. Die Erscheinungsweise ist kein Letztes, sondern die Folge einer sozialen Vermittlung. Ebenso wie Mead das Bewusstsein aus dem sozialen Handeln ableitet, so konstituieren sich auch die Dinge, die Gegenstände der Welt erst durch soziale Interaktion. Das Handeln geht beiden Seiten der parallelen Struktur, die Mead als vorläufige Unterscheidung akzeptierte, dem Bewusstsein und der physischen Welt voraus. Das heißt, dass das soziale Handeln nicht nur die Grundlage ist, von der aus das Bewusstsein abgeleitet werden kann, sondern auch die Grundlage für die Ableitung der Welt der distinkten physischen Objekte. Wenn Mead auch die Konstitution der Dinge auf das soziale Handeln bezieht, dann verfolgt er damit allerdings nicht einen konstruktivistischen Ansatz, demzufolge die Dinge allein Folge sozialen Handelns sind. Mead ist viel zu sehr dem Wissenschaftsideal seiner Zeit orientiert und sieht neben Wundt vor allem in Darwin ein Vorbild für seinen Ansatz. 37 Es geht ihm um eine objektive Beschreibung der Welt, die Welt ist nicht einfach eine Folge der Handlungen, sie hat eine Existenz jenseits des Handlungskontextes: »Unser Verhalten übersetzt die Objekte, auf die wir reagieren, in physische Objekte, die über den tatsächlichen Vollzug unserer unmittelbaren Handlungen hinausreichen.« 38 Doch wie sollten wir uns über die physischen Dinge verständigen können, wenn wir sie nicht auf einen schon gegebenen sozialen Kontext beziehen könnten? Deshalb muss eine Beschreibung der physischen Objekte beim Handeln ansetzen, und das heißt, bei dem Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt. Joas erläutert dazu: »Wir vergessen, dass die Welt begrifflicher Objekte nicht ursprünglich ist, sondern Abstraktionsprodukt, dass deshalb die scheinbar objektive Welt physikalischer und physiologischer Tatsachen als ›gemeinsame Welt‹, als intersubjektiv mit hohem Gültigkeitsanspruch auftretende ›These‹ über eine objektive Welt aufzufassen ist.« 39 Der Organismus bildet die Umwelt nicht einfach ab, so wenig, wie es ein vorgängiges Bewusstsein gibt, in das hinein die Umwelt abgebildet wird. Objekte existieren in der Weise für

37 38 39

Vgl. a. a. O.: 81. A. a. O.: 295 Joas 1989: 82 f.

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den Organismus, dass sie innerhalb eines Handlungsvollzugs Bedeutung haben. »Bestimmte Objekte existieren nur aufgrund der Eigenschaften des Organismus. Nehmen wir zum Beispiel die Nahrung. Wenn ein Tier, wie etwa das Rind, Gras verdauen kann, so wird das Gras zur Nahrung. Das Objekt, das heißt, Gras als Nahrung, gab es vorher nicht.« 40 Doch dieses Verhältnis mag auch noch »von außen« betrachtet werden können. Wir betrachten den Organismus Rind und Dinge wie etwa das Gras und können beide zueinander in ein Verhältnis setzen. Wie aber steht es mit unserem eigenen Umgang mit den Dingen? So wie das Bewusstsein auf dem kommunikativen Handeln mit anderen Menschen beruht, so beruhen die Dinge auf ihrem sozial vermittelten technischen Umgang mit ihnen. Das können wir besser verstehen, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass unser Körper immer schon in einem handelnden Umgang mit den Dingen begriffen ist. Dabei muss man sich davor hüten, anzunehmen, dass zunächst der eigene Körper in einer Art von unmittelbarer Selbstwahrnehmung konstituiert ist und dann sich erst die Dinge durch die Handlungen ergeben: »Es ist aber doch gerade das Ziel von Meads Intersubjektivitätstheorie, die Möglichkeit einer ursprünglich gegebenen Selbstwahrnehmung zu widerlegen« 41 . Auch das Verständnis des eigenen Körpers als Körper ergibt sich erst durch den Umgang mit den Dingen. Hier findet also ein wechselseitiger Prozess statt: Durch das Handeln gewinne ich ebenso ein Verständnis für die Dinge wie auch ein Verständnis für meinen eigenen Körper. Unser Umgang mit den Dingen ist nicht ursprünglich technisches Handeln, sondern leitet sich nach Mead seinerseits wiederum aus dem sozialen Handeln ab: »Der Durchbruch für Meads Theorie der Dingkonstitution kam nun, als er erkannte, dass die Kooperation von Hand und Auge erst dann ›Dinge‹, permanente Objekte bilde, wenn die im sozialen Umgang entwickelte Fähigkeit der Rollenübernahme auf den Umgang mit nicht-sozialen Objekten ausgedehnt wird.« 42 Wenn wir einen schweren Gegenstand schieben wollen, sprechen wir dem Gegenstand ein Inneres zu, das uns einen Widerstand entgegenstellt. Das Kind erlebt die Dinge um sich herum als ein sozia-

40 41 42

Mead 1934: 170. Joas 1989: 152. A. a. O.: 151.

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les Ensemble, der erste Erlebnisraum ist deshalb ein sozialer Raum und erst nach einer Zeit der Gewöhnung und Abstrahierung werden die Dinge zu abstrakten Gegenständen, die sich als unbelebte Objekte scharf vom Bewusstsein trennen lassen. 43 Wenn man das soziale Handeln primär setzt, dann entstehen Organismus und Umwelt in einem wechselseitigen Prozess, der Körper wird nicht in eine vorgegebene Umwelt hineingesetzt: »Diese enge Beziehung zwischen der Umwelt und dem jeweiligen Individuum müssen wir uns sehr klar vor Augen führen, da wir dazu neigen, die ganze Situation vom Standpunkt der schon gegebenen Umwelt aus zu betrachten, die einfach da ist, in die die Lebewesen eintreten (…).« 44 Die Umwelt und ihre Dinge konstituieren sich wie auch der Körper des Handelnden immer zugleich mit der Handlung. 45 Weder hat die Umwelt noch hat der eigene Körper eine Priorität. 46 Vielmehr gibt es zwischen beiden einen wechselseitigen Interpretationsprozess. So wie wir unserem Körper ein Inneres zuweisen, so auch den Dingen. Und umgekehrt gilt auch: Mit der Zeit lernen wir den eigenen Körper in einer ebenso abstrakten Weise zu sehen wie ein Ding. Die Entwicklung ist also ein wechselseitiger Abstraktionsprozess. 47 So ist letztlich auch die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding kein unmittelbar gegebenes Letztes, sondern kann mit den Mitteln der Mead’schen Analyse verstanden werden als das Resultat des gesellschaftlichen Handelns. In der bisherigen Darstellung der Genese der Erscheinungsformen der Wirklichkeit am Rande des Schemas des Chiasmus stand durch den Ansatz von Mead das Handeln im Zentrum. Aber schon bei der Herleitung der Phänomene des Bewusstseins ist Mead auf das Sprechen eingegan-

Vgl. a. a. O.: 155. Mead 1934: 292. 45 Auch der phänomenologische Ansatz von Böhme weist auf die soziale Genesis des eigenen Körpers: »Wichtig dabei ist, dass die Distanzierung, die im Körper-Haben liegt, nicht ein Produkt der Reflexion ist, sondern vielmehr der Vermittlung körperlicher Erfahrung durch den Blick des anderen.« Böhme 2003: 29. 46 Unser Einsatz beim Leib hatte ja auch keinerlei fundierende Bedeutung. Der Leib war immer schon, von Beginn der Analyse an, ein Produkt der Vermittlung, nämlich der hypothetischen Vermittlung von Bewusstsein* und Körper*. 47 »It ought to be sufficiently evident, though it is in fact quite generally overlooked, that we become physical things no sooner than do the objects that surround us (…).« Mead 1932: 135. 43 44

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gen. Ich möchte nun zum Abschluss der Betrachtung des Mead’schen Ansatzes die Bedeutung von Sprechen und Wahrnehmen bei den geschilderten Vermittlungsprozessen hervorheben. Die Sprechakte weisen die Besonderheit auf, dass sie immer auch mit einer Selbstwahrnehmung des Sprechenden einhergehen. Schon bei der Herleitung des Geistes wurde ja deutlich, dass symbolische Akte nur deshalb möglich sind, weil die Laute in gleicher Weise die Sprechende erfassen wie den Hörenden. Die Sprechende stellt eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und dem Hörenden her. Einen größeren Verallgemeinerungsgrad erreicht Mead, indem er den »verallgemeinerten Anderen« 48 einführt. Diese Kunstfigur repräsentiert das Gesamt der gesellschaftlichen Kontakte. Die Analyse des Sprechens führt Mead auch zu einem Verständnis des Denkens, das aus dem Sprechen abgeleitet ist und nicht über das Sprechen hinausgeht. Das abstrakte Denken entsteht, indem der einzelne sich selbst gegenüber die Rolle des »verallgemeinerten Anderen« annimmt. 49 Damit wird das Denken zu einer Sonderform des Sprechens. Wenn man also eine Analyse des Sprechens vornimmt, kommt durch den Wechsel zum Denken nichts Neues hinzu. Das Sprechen spielt schließlich sogar im Umgang mit den Dingen eine Rolle. So kann Mead die mathematische Beschreibung eines Artefaktes als sprachlichen Umgang deuten. Sprechen wird auch in technischen Handlungen mit Dingen identifiziert. »Der Techniker, der eine Brücke konstruiert, spricht mit der Natur genauso wie wir mit dem Techniker sprechen.« 50 Natürlich ist die mathematische Berechnung einer Brücke ein handelnder Umgang mit dem Konstrukt. Doch ist dieser Umgang sekundär und auch er entstammt letztlich dem Raum sozialer Handlungen. Das Wahrnehmen spielt bei Mead keine so dominante Rolle wie das Handeln oder das Sprechen. Doch auch das Wahrnehmen wird von ihm auf die grundlegende Vermittlungsform des Handelns zurückgeführt, es ist ebenso mit dem Handeln verbunden wie das Sprechen. »Der Prozess des Wahrnehmens ist selbst eine Tätigkeit. Beim Sehen ist das am deutlichsten der Fall. Hier erfordert die Bewegung der Augen, die Zentrierung der Linsen und die Koordination der optischen

48 49 50

Mead 1934: 196. A. a. O.: 198. Mead 1934: 229.

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Achsen beider Augen eine komplizierte Aktivität (…).« 51 Das Wahrnehmen ist nach Mead also ebenso wenig ein Vorgang innerhalb eines schon Gegebenen, wie das Handeln ein Umgang mit gegebenen Dingen ist. Stets handelt es sich um einen aktiv-passiven Vorgang, der nicht säuberlich in seine Einzelteile aufgetrennt werden kann. Die Wahrnehmung ist also nicht die Außenbeziehung eines vorgegebenen Individuums, vielmehr gestaltet das Wahrnehmen das Individuum ebenso mit wie auch seine Umwelt. Der Prozess des Wahrnehmens vermittelt zwischen dem Bewusstsein und dem Wahrgenommenen: »Es gibt innerhalb des Organismus eine definitive und notwendige Struktur oder ›Gestalt‹ der Empfindlichkeit im Organismus, die selektiv und relativ die Beschaffenheit des externen, von ihr erfassten Objektes bestimmt. Was wir Bewusstsein nennen muss gerade in diese Beziehung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt hineingestellt werden.« 52 Wahrnehmen und Handeln sind eng miteinander verflochten. Das Handeln erfasst und gestaltet das mit, was wahrgenommen wird. So sind also für Mead ausgehend von der Analyse des Handelns in der Summe drei Prozesse im Spiel, die sich wechselseitig beeinflussen: Handeln, Sprechen und Wahrnehmen. In einer kurzen Darstellung der Gedanken Meads haben wir die Entwicklung der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke wie auch der Dinge aufgezeigt, wie sie sich aus dem sozialen Handeln ergeben. Die zentrale Größe, aus der nach Mead die beiden Seiten die wir als getrennt erleben, resultieren, ist das Handeln. Aus dem sozialen Handeln und den signifikanten Symbolen entstehen die Phänomene, die wir dem Bewusstsein zurechnen, aus dem sozialen und technischen Handeln entstehen ebenso die Phänomene abstrakter Ding- und Körperkonzepte. Beide Erscheinungsformen an den Rändern des Chiasmus können nun nach der Theorie von Mead neu interpretiert werden. Sie sind nicht ursprünglich gegebene Erscheinungen, sondern sie sind das Produkte eines längeren gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses, der durch das Handeln, aber auch durch Wahrnehmen und Sprechen beschrieben werden können. Die Erscheinungsweisen, mit denen wir in Kapitel 5 und 6 begonnen hatten, sind dann nicht originär einfach da, sondern Weisen, die eine Entstehungsgeschichte haben. Weder »gibt« Mead, Die einzelnen Phasen der Handlung (Philosophy of the Act), zitiert bei Joas 1989: 146. 52 Mead 1934: 170. 51

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es einfach die Welt der objektiven Dinge, zu der der Mensch hinzukommt, noch gibt es einfach ein menschliches Bewusstsein, das das aufnimmt, was dem Menschen begegnet.

2.

Die Medien Wahrnehmen Sprechen und Handeln

Wir wollen uns nun die drei Formen der Vermittlung, also das Sprechen, das Wahrnehmen und das Handeln noch einmal in einem Zusammenhang darstellen. Dazu ist es zunächst hilfreich, diese drei Prozesse innerhalb eines kurzen Theorievergleichs zwischen Mead und Merleau-Ponty genauer zu bestimmen. Es ist ja offenkundig, dass beide Autoren diese drei Prozesse in besonderer Weise hervorgehoben haben. Im folgenden Text wollen wir die Prozesse Wahrnehmen, Handeln und Sprechen »Medien« nennen, da ihre Leistung gerade in dem Vermittlungsprozess besteht, durch den die Phänomene und Erscheinungsweisen des Leibes und der Wirklichkeit generiert werden.

A.

Wahrnehmen, Sprechen und Handeln bei Mead und Merleau-Ponty

Die Medien Sprechen, Wahrnehmen und Handeln spielen sowohl bei Mead als auch bei Merleau-Ponty eine zentrale Rolle. Beide verfolgen das Ziel, mit ihrer Hilfe, die Dimension zwischen Subjekt und Objekt zu erschließen und in der Tradition vorgegebene Dichotomien außer Kraft zu setzen. In einem kurzen Überblick sollen wichtige Aussagen der beiden Theorien zu den Medien gegenübergestellt werden. Es gibt weitreichende Gemeinsamkeiten zwischen beiden, aber auch Unterschiede in der Darstellung des jeweiligen Mediums. Mead nennt seinen Ansatz Sozialbehaviorismus, bei ihm steht das Handeln im Mittelpunkt. Das Handeln nicht als singuläre soziale Erscheinung, sondern als Ausdruck für das Gesamt der sozialen Welt ist für Mead der Schlüssel zur Beschreibung nicht nur der kulturellen Verhältnisse, sondern auch der physischen Welt. Mit dem Begriff des Handelns gelingt es Mead, beide Seiten der parallelistischen Darstellung von Bewusstsein und physischer Welt, wie er sie bei Wundt vorfand, in einem einzigen Ansatz zu erfassen. Dabei darf die Handlung aber nicht wie im klassischen Behaviorismus in einzelne analytische Teile 301 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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zergliedert werden: »Die gesellschaftliche Handlung ist nicht schon dadurch erklärt, dass man sie aus Reiz und Reaktion aufbaut; sie muss als ein dynamisches Ganzes – als etwas in Fluss Befindliches – angesehen werden, von dem kein Teil in sich allein betrachtet oder verstanden werden kann (…).« 53 Diese Beschreibung des Handelns durch Mead ist der von Merleau-Ponty sehr nahe. Auch bei ihm ist das Handeln nicht allein über eine analytische Beschreibung zu erfassen. Merleau-Ponty unterstreicht dies mit dem Verweis auf die Gestalt oder Struktur, die einer Handlung zukommt. Diese Strukturen sind nicht analytisch bestimmbare Größen, sie gehören weder zu der Ordnung der Erscheinungsweisen als Gedanken noch zu der Ordnung der Erscheinungsweisen als Dinge, sondern weisen auf die Situiertheit des Handelnden, auf die Gesamtsituation, in die der Handelnde einbezogen ist: »Das Verhalten findet, insofern es eine Struktur hat, in keiner dieser beiden Ordnungen Platz.« 54 Wir haben die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bestimmung bei der Analyse von Merleau-Ponty darauf zurückgeführt, dass Handlungen stets sowohl körperliche, materielle als auch bewusste Anteile haben, über deren Zuordnung wir nicht genau Rechenschaft ablegen konnten. Man kann mit ihnen innerhalb des alltäglichen Umgangs eine bestimmte Bedeutung verbinden, aber wenn man sie näher analysiert, weichen sie vor klaren Definitionen zurück. Ihnen haftet etwas an, was sich innerhalb einer einzelnen Erscheinungsform nicht identifizieren lässt. Allerdings gibt es bei aller Nähe zwischen beiden Philosophen einen großen Unterschied: Wo Merleau-Ponty in der phänomenologischen Tradition vornehmlich das Handeln einzelner Menschen (Ich, Anderer) im Blick hat, bezieht sich Mead auf das umfassendere gesellschaftliche Handeln. Das Handeln hat seiner Ansicht nach immer eine soziale, gesellschaftliche Dimension, auch dann, wenn ein einzelner Mensch mit technischen Artefakten umgeht, ohne dies mit anderen Menschen zu kommunizieren. Der klassische Behaviorismus setzt beim physisch gegebenen Individuum an. Mead dagegen entwickelt den Handlungsbegriff aus der immer schon vorgegebenen sozialen Welt und kann so einerseits in die dritte Dimension zwischen Subjekt Mead 1934: 45 f. Merleau-Ponty 1942: 141. Die beiden Ordnungen sind an dieser Stelle ausgewiesen als die Ordnung des »an sich« (Dinge) und die Ordnung des »für sich« (Bewusstsein).

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und Objekt vordringen und andererseits eine zeitliche Entwicklung berücksichtigen. Dies hat einen großen Vorteil: Durch den gesellschaftlichen Bezug kann Mead von Beginn an die historische und kulturelle Veränderungen von Handlungen in den Blick nehmen. Das Wahrnehmen ist dagegen bei Merleau-Ponty von grundlegender Bedeutung. Die Zentralität der Wahrnehmung gilt aber nicht nur für seine frühen Schriften, sondern, wie die Metapher des Wahrnehmungsglaube nahe legt, auch in den späten Texten. Das Wahrnehmen beschreibt einen grundlegenden Bezug des Leibes zur Welt. In ihm ist der Grundzug des Leibes, sein Sein zur Welt (être au monde) verarbeitet, die Wahrnehmung kann man nur unter Berücksichtigung der leiblichen Existenz verstehen. 55 In einer genaueren Analyse der Wahrnehmung zeigt Merleau-Ponty, dass der Vorgang selbst nicht zu begreifen ist, wenn man entweder empiristischen oder rationalistischen Theorien folgt. Wir sind immer schon auf eine solche Weise in Kontakt mit der Wirklichkeit, dass wir sie nicht in bekannte Ordnungsstrukturen einbeziehen können. Deshalb gilt: »Die Wahrnehmung ist nicht zu beschreiben als eines unter den Fakten, die in der Welt vorkommen (…).« 56 Auch der Wahrnehmungsglaube seiner posthum veröffentlichten Schrift »Das Sichtbare und das Unsichtbare« weist auf eine vorgängige Vertrautheit mit der Welt, die sich nicht erklären lässt, wenn man den Leib als ein Ding unter Dingen versteht. Bei Mead spielt das Wahrnehmen keine so dominante Rolle wie Handeln oder Sprechen. Das Wahrnehmen wird von ihm auf die grundlegende Vermittlungsform des Handelns zurückgeführt: »Wahrnehmung ist ein Teil der Handlung und dieser funktional zugeordnet – dies ist einer der Kernsätze des Meadschen und jedes anderen Pragmatismus.« 57 Mead bestimmt auch die Sprache in einem engen Zusammenhang mit dem Handeln. Sprechen und Handeln stehen in einem engen Wechselverhältnis, welches in dem Werk »Geist, Identität und Gesellschaft« bei Mead eine zentrale Rolle spielt. Nachdem er seinen eigenen Ausgangspunkt als Sozialbehaviorismus charakterisiert hat, entwickelt er, wie der Geist, das heißt, wie das reflexive Bewusstsein beim Menschen aus dem Handeln abgeleitet werden kann. Wir haben den Weg

55 56 57

Vgl. Merleau-Ponty 1945: 242. A. a. O.: 244. Joas 1989: 145.

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von der Geste hin zum signifikanten Symbol in den wichtigsten Zügen beschrieben. Die Sprache wird so zur Keimzelle des Bewusstseins. Was auch immer wir als Bewusstsein erleben, es ist nach Mead sprachlich vermittelt. Sprechen und Handeln bilden eine so enge Einheit, dass eine umfassende, integrative Theorie der Sprechakte nahe liegt. Wer spricht, handelt zugleich auch, wenn auch in einer spezifischen Weise, nämlich so, dass signifikante Symbole das soziale Miteinander gestalten. Bei Merleau-Ponty ist das Sprechen nicht direkt mit dem Handeln und auch nicht mit dem Wahrnehmen verknüpft, sondern wird in einem eigenständigen Ansatz erschlossen. Die Sprache wird in seinen späteren Schriften zu einer eigenen Sphäre, die sich einer Zuordnung zu bestimmten Ordnungen verweigert. So kann man nicht die Bedeutung von dem Zeichenträger abstrakt ablösen, die Sprache ist in ihrem Kern gesprochene Sprache: »Es gibt also eine erste Reflexion, durch welche ich die Bedeutung von den Zeichen ablöse, aber diese erste Reflexion ruft nach einer zweiten Reflexion, die mich hinter dieser Unterscheidung das wirkliche Funktionieren der lebendigen Rede wieder finden lässt.« 58 Er ist wiederum stärker an der Entstehung und Vermittlung von Bedeutung interessiert, die sich aus dem Sprachgeschehen selbst ergibt, nicht so sehr an der Sprache als sozialem Phänomen. Allerdings sieht auch Merleau-Ponty die fundamentale Bedeutung des Sozialen: »Wenn ich spreche oder wenn ich verstehe, erfahre ich die Präsenz des Anderen in mir oder meine Präsenz in ihm, was zugleich der Stein des Anstoßes in der Theorie der Intersubjektivität ist (…), und ich verstehe schließlich, was der rätselhafte Satz Husserls sagen will: ›Die transzendentale Subjektivität ist Intersubjektivität.‹« 59 In der Summe kann man zunächst zwei Gemeinsamkeiten festhalten, die sowohl die Bestimmungen der drei Medien nach MerleauPonty als auch nach Mead prägen: Beide sehen die drei Medien in einem engen Zusammenhang und beide erkennen, dass sich die Medien nicht den uns bekannten Ordnungen fügen. Die Medien lassen sich weder hinreichend als Phänomene wie die Dinge analysieren noch als Phänomene wie die Gedanken.

58 59

Merleau-Ponty 1969: 52 f. Merleau-Ponty 1960: 136.

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Die Medien Wahrnehmen Sprechen und Handeln

B.

Verortung der Medien im Chiasmus

Wie sollen wir dann Handeln, Sprechen und Wahrnehmen innerhalb des Chiasmus verorten? Es gibt dort eine klare Unterscheidung zwischen den Erscheinungsformen und den Größen im Schema des Chiasmus Bewusstsein* und Körper*, die wir eingeführt hatten, um die Erscheinungsformen zueinander in ein Verhältnis zu setzen. Das Schema selbst hat einen ganz anderen Status als die Erscheinungsweisen. Während die Erscheinungsweisen die Phänomene und ihre Ordnungen darstellen, ist das Schema eine hypothetisch eingeführte Größe, die die Aufgabe erfüllen soll, die Kant den regulativen Ideen zugesprochen hat. Welchen Status haben dann vermittelnde Prozesse wie das Handeln, Sprechen und Wahrnehmen? I.

Die Medien sind nicht nur Teil der Erscheinungsweisen

Offensichtlich sind die Medien nicht einfach Teil der Erscheinungsweisen. Wie wir bei Mead kennen gelernt haben, ist das Handeln eine Fundamentalkategorie, die bestimmt, was uns wie erscheint. Das so verstandene Handeln beschreibt also nicht nur, wie bestimmte einzelne Phänomene innerhalb der Erscheinungsweisen miteinander im Verhältnis stehen und wird auf diese Weise selbst zu einem Phänomen innerhalb der Erscheinungsweise. Vielmehr ist es so, dass das Handeln die Erscheinungsweise zugleich erst hervorbringt. Was ein Individuum ist, was ein Gegenstand ist, was ein Gedanke ist, ist nicht vor dem Handeln schon gegeben, sondern entwickelt sich in der Meadschen Analyse erst mit und durch das soziale Handeln. Handeln in diesem Sinne ist nicht eine einfache Erfahrungsgröße. Zwar gibt es auch alltägliche Erfahrungen von Handlungen, aber das hat Mead nicht im Sinn, wenn er den Begriff als Grundgröße seiner Theorie einführt. Das Medium Handeln hat also die Eigenschaft, an die Ordnungen in den Erscheinungsweisen anzuknüpfen und diese zugleich zu transzendieren. Das Mead’sche Handeln ist ebenso wie der Wahrnehmungsglaube bei Merleau-Ponty den analytischen Denken, die nach Descartes klar und eindeutig erkennen sollen, vorgängig und kann deshalb von jenem nicht eingeholt werden. Das soziale Handeln bei Mead konstituiert in gewisser Weise auch die einzelnen Gedanken wie es auch die Dinge konstituiert, es entzieht sich als Fundamental-

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kategorie auf diese Weise jedem analytischen Versuch ebenso wie einer Modellbildung. 60 Dementsprechend dürfen wir hier die Kategorie des Handelns nicht zu eng fassen und sie auf die Ordnungen innerhalb der Erscheinungsweisen reduzieren. Schon gar nicht reicht es, das Handeln in den Erscheinungsformen an den Rändern des Chiasmus verorten zu wollen und es so in den dort vorhandenen Ordnungen als teleologisches, zweckbestimmtes oder rationales Handeln zu integrieren. 61 Vielmehr müssen wir auf die Vorgängigkeit des Handelns achten, das erst diese Ordnungen schafft. Diese Beobachtungen zum Handeln können in analoger Weise auch für die beiden Medien Sprechen und Wahrnehmen gemacht werden. Es ist gerade der Impetus der frühen Arbeiten von Merleau-Ponty, auf die Vorgängigkeit des Wahrnehmens hinzuweisen. Dem Wahrnehmen kommt das Primat zu, noch vor der Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt. 62 Nur so gelingt es ihm, über das Wahrnehmen die Spur der Dimension dazwischen aufzunehmen. Analoges gilt für das Sprechen, es entzieht sich als gesprochene Sprache hartnäckig einer begrifflichen oder modellorientierten Bestimmung. Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert kann zeigen, wie groß die Potentiale sind, diese Zwischenstellung zwischen Bewusstsein und Körper bzw. materiellem Substrat auszudeuten. Dieser Vorbehalt gegenüber einer eindeutigen Identifizierung der Größen Sprechen, Handeln und Wahrnehmen muss im Schema des Chiasmus dadurch aufgenommen werden, dass sie nicht als Phänomene Teil der Erscheinungsweisen sind, sondern als Medien die Vermittlung von Bewusstsein* und Ding* erst herstellen und damit auch konstitutiv sind dafür, was überhaupt erscheint. II.

Die Medien als Vermittlung von Bewusstsein* und Ding*

Das Schema des Chiasmus eröffnet die Möglichkeit einer Verortung der Medien, die zugleich einen Anhaltspunkt dafür liefert, wieso es Es gelten für die Fundamentalkategorie Handeln die gleichen Einschränkungen wie für das Wahrnehmen: Für letzteres hat Wiesing festgestellt, dass sie sich sowohl der Reflexion wie auch den Modellbildungen entzieht, vgl. Wiesing 2002. Analoges gilt natürlich auch für das Sprechen. 61 Vgl. Joas 1996: 213 f. 62 Vgl. Merleau-Ponty 2003 (2). 60

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nicht gelingt, die drei Medien innerhalb einer Erscheinungsform zu fixieren. Sie gehen über die Erscheinungsformen hinaus, da sie die Größen Bewusstsein* und Ding* miteinander vermitteln und somit die Erscheinungsformen erst erzeugen. Die Medien Wahrnehmen, Sprechen und Handeln bezeichnen im Sinne der aktiv-passiven Auffassung vom Leib und Wirklichkeit das basale Vermittlungsgeschehen, das die Erscheinungsweisen des Leibes und der Wirklichkeit konstituiert. Wenn sie so umfassende Kategorien sind, die auch die geordneten Strukturen innerhalb der Erscheinungsweisen ihrerseits erst schaffen, dann bestimmen sie die Regeln der Erkenntniskräfte und sind nicht ihrerseits durch sie bestimmt. In dieser theoretischen Verortung können die Medien nicht ohne eine verzerrende Engführung in die Erscheinungsweisen integriert werden. Die Medien prägen die äußeren, von Ordnungen bestimmten Erscheinungsformen, sie sind nur indirekt selbst Teil der Ordnung. Man kann diese Unterscheidung auch so fassen: Sprechen, Wahrnehmen, Handeln, wie wir sie in unserem Alltag kennen, sind nur Spuren, Reflexe der Medien, die die Erscheinungsweisen konstituieren. Die drei Medien Handeln, Wahrnehmen und Sprechen können in dieser Interpretation als ein Teil des Schemas verstanden werden, sie helfen das Schema weitergehend zu interpretieren. Sie vermitteln die Größen Bewusstsein* und Ding* innerhalb des Schemas des Chiasmus. Die Größen Bewusstsein* und Ding* wurden in der Weise eingeführt, dass sie kein Gegenstand der Erfahrung sind, die Hypothese ihrer Existenz und ihrer graphisch dargestellten Verschränkung hilft, die Erscheinungsweisen zu ordnen. Mit Hilfe der Medien kann man nun die Verschränkung genauer charakterisieren. Es sind die Medien, die beide Größen miteinander vermitteln bzw. verschränken, so dass die Phänomene der unterschiedlichen Erscheinungsweisen sich zeigen. Die Medien können weiterhin als eine Präzisierung des Satzes verstanden werden: Der Leib zeigt sich sich selbst. Der Leib zeigt sich sich selbst durch Wahrnehmen, Sprechen und Handeln. Völlig analog gilt: Die Wirklichkeit zeigt sich sich selbst durch Wahrnehmen, Sprechen und Handeln. Die Medien sind also die Weisen, durch die sich der Leib als Leib erkennbar macht. Die Medien vermitteln den Leib mit sich selbst, in gleicher Weise vermitteln sie die Wirklichkeit mit sich selbst. Allerdings besteht ein gewisser Unterschied zwischen den Größen Bewusstsein* und Ding* und den Medien. Denn wir wissen deutlich besser, was Wahrnehmen, Sprechen und Handeln meint, als dass wir 307 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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wissen, was die Größen Bewusstsein* oder Ding* repräsentieren. Wenn wir nicht wüssten, was diese drei Prozesse meinen, hätten weder Mead noch Merleau-Ponty sie als eine Hilfe nutzen können, um zu den programmatischen Aussagen ihrer Ansätze gelangen zu können. Nur weil wir eine Vorstellung davon haben, was eine Handlung ist, nur weil wir erahnen, was mit Wahrnehmung gemeint ist, können wir diese Vorgänge nutzen, um eine Idee davon zu entwickeln, was die dritte Dimension zwischen Subjekt und Objekt meint. Sie unterscheiden sich also von den abstrakteren Konzepten von Bewusstsein* und Ding*, weil sie selbst auch in einer gewissen Weise in den Erscheinungsweisen identifizierbar werden. Doch darf das aus den genannten Gründen nicht dazu führen, Wahrnehmen, Handeln und Sprechen vollständig in die Erscheinungsweisen zu integrieren. Sie sind immer auch Teil eines Vermittlungsgeschehens, eines Verschränkungsvorgangs, der die Erscheinungsweisen und ihre Ordnungen transzendiert. Es ist zum Beispiel möglich, eine Theorie des rationalen Handelns aufzustellen, jedoch sollte man sich dabei bewusst bleiben, dass diese Theorie nur angemessen behandelt werden kann, wenn man bedenkt, dass die Rationalität des Handelns nur ein Teil eines umfassenderen Prozesses ist. 63 III. Unterschiedliche Grade der Vermittlung in den Erscheinungsweisen Die Vermittlung von Bewusstsein* und Ding* geschieht in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen in einer unterschiedlichen Intensität. Die Mead’sche Herleitung der Dinge und auch der Phänomene abstrakter Gedanken weisen auf die Erscheinungsformen an den Rändern des Chiasmus. Hier kann man feststellen, dass sie in erheblichem Maße von der Vermittlung durch die Medien bestimmt sind. Sie sind kulturell und technisch und sprachlich vermittelt. So waren zum Beispiel die Vorstellung abstrakter Gedanken wie auch das Konzept von rein materiellen Dingen nicht immer schon für die Menschen zugänglich, diese Konzepte selbst haben eine Geschichte. Aufgrund der Gesamtanlage des Ansatzes des phänomenologischen Realismus ist es deutlich, dass die kulturelle Prägung der Erscheinungsweisen nicht die Gefahr zur Folge hat, dass es sich hierbei ausschließlich um soziale Konstrukte 63

Vgl. Joas 1996: 16.

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handelt. Die Vermittlung ist immer ein aktiv-passiver Prozess, der Chiasmus löst sich nicht auf in reines Bewusstsein, das Bewusstsein* ist immer mit einer anderen Größe verschränkt, dem Ding*. Die Erscheinungsformen sind aber über die Medien vermittelt, man kann also weder den passiven, aber auch nicht den aktiven Teil der Vermittlung vernachlässigen. Doch was kann man zu der Erscheinungsform in der Mitte des Chiasmus sagen? Wir wissen schon: Diese Erscheinungsform öffnet sich der sprachlichen Beschreibung nur im begrenzten Maße, ebenso wie sie sich einem gezielten Handeln entzieht und auch einer differenzierten Wahrnehmung nicht mehr zugänglich ist. Die Gefühle, die wir hier lokalisiert haben, sind nur in einem sehr begrenzten Maße gestaltbar, sie erscheinen in einer Weise, die sich einem planenden Handeln, differenziertem Sprechen oder Wahrnehmen entziehen. Hier scheinen die Verhältnisse also völlig anders zu sein als an den Rändern des Chiasmus! Die Unterschiede in der Intensität, in der die Erscheinungsformen durch die Medien vermittelt werden, können aber innerhalb des Schemas des Chiasmus lokalisiert werden: Der Abstand zwischen den auseinanderstrebenden Linien von Bewusstsein* und Ding* gibt einen Indikator für das Ausmaß, mit der die Erscheinungsformen durch die Medien bestimmt sind. Dies sieht in dem Schema also aus wie auf S. 311 abgebildet. Wiederum zeigt das Schema kontinuierliche Übergänge. Nicht jede Erscheinungsform ist in gleicher Weise durch die Medien bestimmt. Die Erscheinungsformen in der Mitte des Schemas sind am geringsten durch die Medien gestaltet, die Erscheinungsformen an den Rändern dagegen am stärksten. Hier, an den Rändern, entstehen feste Ordnungen.

C.

Genauere Charakterisierung der Medien

Einige erläuternde Bemerkungen zur weitergehenden Bestimmung der Medien sollen hier folgen. Es ist offenkundig, dass dies nur erste Andeutungen sein können. Es kann im Rahmen dieses Buches nur darum gehen, den systematischen Ort innerhalb des Ansatzes des phänomenologischen Realismus zu benennen, an dem die weiter zu bearbeitenden Fragen platziert sind.

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I.

Einheit der Medien

Wenn man drei Medien unterscheidet, sie als die Vorgänge Sprechen, Wahrnehmen und Handeln identifiziert, dann mag der Eindruck entstehen, es handele sich um voneinander eindeutig separierbare Prozesse. Das ist aber nicht der Fall. Sie sind Abstraktionen aus einem einzigen Vermittlungsgeschehen, die unter verschiedenen Hinsichten vorgenommen werden. Sie sind also unterscheidbar, aber nicht scheidbar. Auf eine kurze Formel gebracht kann man sagen: Eine Vermittlung geschieht, eine Verschränkung, die aber in dreierlei Form erscheint. Die Medien sind Aspekte dieses Geschehens, die wesentlich zusammen gehören. Die Sprachphilosophie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Sprechvorgang selbst schon eine Handlung ist. Hierauf basiert die Theorie der Sprechakte. Auch das Wahrnehmen geschieht immer auch so, dass der Wahrnehmende aktiv seine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes richtet, auch sie ist somit als Handeln interpretierbar. Eine Handlung ganz ohne Wahrnehmung ist ebenso wenig vorstellbar. Um eine Handlung durchführen zu können, ist eine gewisse Orientierung in der Umgebung und damit eine zumindest rudimentäre Wahrnehmung notwendig. Das Handeln generiert Bedeutung, wie wir bei Mead gesehen haben. Also ist das Handeln völlig ohne signifikante Symbole, also ohne einen Bezug zur Sprache kaum vorstellbar. Schließlich sind auch Sprechen und Wahrnehmen eng aufeinander bezogen. Das, wofür ich keine Worte habe, das kann ich auch nicht differenziert erkennen. Die Sprache erst eröffnet mir die Möglichkeit, die Dinge in meiner Umgebung als bedeutungsvolle Gegenstände wahrzunehmen. Gleichzeitig ist das Sprechen immer auch auf das Wahrnehmen angewiesen.

II.

Unterschiede zwischen den Medien

Es ist aufgrund unserer alltäglichen Erfahrungen andererseits nahe liegend, dass die Medien auch in Bezug auf die verschiedenen Erscheinungsweisen nicht ein gleich verteiltes Gemisch darstellen, dass es überall in gleicher Weise in seine Anteile Wahrnehmen, Sprechen und Handeln differenziert werden kann. Tatsächlich zeigt eine genauere Betrachtung schnell, dass die unterschiedlichen Medien bei den jeweiligen Erscheinungsweisen unterschiedlich ausgeprägt sind. In der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding überwiegt das Medium des Handelns. Wir erfahren die Dinge im Alltag gerade in der Weise 310 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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ihrer abstrakt gedeuteten technischen Verfügbarkeit. Die Akzentuierung des Handelns ist natürlich nicht als Abwertung der anderen Medien zu verstehen, natürlich spielen das Medium des Sprechens und das Medium des Wahrnehmens ebenfalls eine einflussreiche Rolle. Mit der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) ist das Medium des Wahrnehmens stärker verknüpft. Wenn wir einen Raum betreten, so ist es zunächst die Wahrnehmung, die uns die Atmosphäre vermittelt. Doch auch hier sind das Handeln (In welcher Weise betrete ich den Raum?) und das Sprechen (Welche Informationen habe ich über den Raum, wie fasse ich die Situation begrifflich?) nicht unwichtig, wenn auch nicht so ausgeprägt. Schließlich ist die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke stark geprägt durch das Sprechen. Aber auch hier haben Handeln und auch Wahrnehmen einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss. So gibt es also bestimmte Akzentuierungen in der Stärke der drei Medien in den jeweiligen Erscheinungsformen. Der Charakter der Vermittlung durch die Medien ändert sich auch. Dazu soll nur ein Beispiel gegeben werden. Ein Handeln mit abstrakten Dingen etwa in einem labortechnischen Zusammenhang ist anders zu deuten, als ein Handeln 311 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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im handwerklichen Umfeld, im künstlerischen Schaffen oder im Alltag. Hier zeigt sich die Stärke des Chiasmus, denn diese ohne Zweifel bestehenden Unterschiede kann man gut als graduelle Veränderungen fassen, ohne zu völlig neuer Terminologie greifen zu müssen. Mit der Reihung der folgenden Handlungsformen schwindet die Abstraktion, die die Erscheinungsweise ausmacht: Labortechnik, Handwerk, künstlerisches Handeln, alltägliches Handeln, Handeln im Kontext des Körperschemas 64. Man kann sich gut vorstellen, dass sich diese unterschiedlichen Vermittlungsformen entlang der Achse des Chiasmus beginnend bei der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding bis hin zur Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Gefühl) aufreihen lassen. 65 Bislang haben wir unterschiedliche Akzentuierungen in dem Einfluss der Medien benannt. Dennoch mag die Frage entstehen, ob bei der Einheitlichkeit ihrer Wirkung, der Vermittlung von Bewusstsein* und Ding* es nicht auch eine größere Einheitlichkeit gibt, ob nicht tatsächlich eine der drei Größen basal ist, die andere dagegen abgeleitet. Bei Mead ist offenkundig, dass er das Handeln als die grundlegende Größe wertet, Merleau-Ponty spricht sich für das Primat der Wahrnehmung aus. 66 Beispiele der verschiedenen Erscheinungsweisen zeigen schnell, dass keine der drei Vermittlungsformen auf die anderen reduziert werden kann. Im Bereich der Erscheinungsweise als Gedanke kann man das Beispiel der Logik nennen. Die Logik ist weder mit Wahrnehmung in Verbindung zu bringen, noch mit Handeln (ein Computer setzt Logik voraus und schafft sie nicht). Im Bereich der Erscheinungsweise als X (Atmosphäre) kann man die Farbwahrnehmung nennen. Wir haben schon in der Qualia-Diskussion gesehen, dass es Wahrnehmungselemente gibt, die weder sprachlich zu fassen sind noch durch Handeln beeinflussbar sind (nicht das Erscheinen von Blau, die Bläue des Blaus ist gemeint). In der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ist es

So beschreibt Merleau-Ponty das spontane Kratzen etwa der Nase: »Die ganze Handlung spielt sich im phänomenalen Bereich ab und nimmt durch die objektive Welt keinen Durchgang (…).« Merleau-Ponty 1945: 131. 65 Das Zuhandene bei Heidegger befindet sich dann durch sein Charakteristikum der Nähe eher in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gefühl als in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. Vgl. Heidegger 1927: 102. Doch kann das Zuhandene in ein abstraktes Ding übergehen, vgl. a. a. O.: 112. 66 Vgl. Merleau-Ponty 2003 (2). 64

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ebenso offenkundig, dass weder Wahrnehmungsprozesse noch sprachliche Prozesse einen Stein aus dem Weg räumen. III. Intentionalität Die Medien lassen sich nicht einfach in die Erscheinungsweisen integrieren und doch können wir ihrer in den Erscheinungsweisen in gewisser Weise habhaft werden. Diese eigentümliche Zwischenstellung der Medien betrifft auch die Intentionalität. Allen drei Vermittlungsformen, dem Sprechen, dem Wahrnehmen und den Handeln kommt die Eigenschaft zu, intentional zu sein. In der klassischen Analyse wird die Intentionalität dem Bewusstsein zugeordnet. Allerdings war das klassische Verständnis von Intentionalität von einem anspruchsvollen Bewusstseinskonzept geprägt, das dieses als eine fest umrissene Fundamentalgröße innerhalb der Wirklichkeit wertete. Das Bewusstsein hat hiernach eine grundlegende Eigenschaft, nämlich die, dass die bewussten Akte sich auf etwas ausrichten. Wenn man nun die Medien allein dem Bewusstsein zuschreibt, kann man aus dem Befund folgern, dass durch die Intentionalität das Bewusstsein nicht einfach in die materiellen Prozesse eingegliedert werden kann. Dieser Hinweis war auch in der Diskussion der Theorie von Daniel Dennett wichtig. Gerade die Intentionalität, so hatten wir festgestellt, bietet eine unüberwindliche Hürde, die Sprechakte durch die Methode der Heterophänomenologie in umfassender Weise zu erfassen. Nun haben wir aber ein solches umfassendes Bewusstseinskonzept vermieden, denn es zwingt die Phänomene der verschiedenen Erscheinungsweisen in eine Ordnung, nämlich die des Bewusstseins. Diese Konsequenz hat Husserl in der Schrift »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« ausgeführt, auch wenn er sich später wieder davon distanzierte. Wir sind dagegen dem Weg Merleau-Pontys gefolgt, der statt des Bewusstseins den Leib als die grundlegende Größe einführte. Bewusstsein hat in dem bisherigen Ansatz nur indirekt eine Rolle gespielt, nämlich als Größe des hypothetischen Schemas des Chiasmus. Die Beschäftigung mit den Medien zeigt nun, dass die Intentionalität aber auch in diesem Setting wichtige Hinweise über die Struktur der Wirklichkeit geben kann. Denn alle drei Medien können innerhalb der Erscheinungsformen nur bei solchen Vorgängen identifiziert werden, bei denen man dem Vorgang Intentionalität zuspricht. Ohne Intentionalität wird das Handeln 313 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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zu kausal determinierten Bewegungen, das Sprechen zu einer bestimmten Konstellation von Geräuschen, das Wahrnehmen zu einer einfachen passiven Registrierung von Reizen. Durch die Intentionalität werden der aktive und damit auch der gestaltende Anteil der Vermittlung berücksichtigt. Die Intentionalität kann als das Charakteristikum der Medien gewertet werden, das verhindert, dass die Medien einfach Teil der Erscheinungsformen sind. In ihr kommt eine fundamentale Beziehung zur Geltung, die sich innerhalb der Erscheinungsweisen nicht identifizieren lässt. Damit bestätigt sich der Status der Medien, den wir schon von der Mead’schen Theorie abgeleitet hatten. Die Vermittlungsleistung der Medien zielt nicht auf von außen gesetzte Zwecke, sie sind kein Instrument, die zu einem bestimmten Zwecke eingesetzt werden. 67 Also können Sprechen, Wahrnehmen und Handeln als intentionale Prozesse nicht vollständig als Prozesse innerhalb der Erscheinungsweisen erfasst werden. Die Intentionalität »ragt« in gewisser Weise über die Erscheinungsweisen hinaus. Deshalb kann man sie auch nicht allein mit den für die Erscheinungsweisen spezifischen Erkenntnismethoden beschreiben. Vielmehr konstituieren sie erst die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. So sind die Medien also zugleich außerhalb der Erscheinungsformen wie auch Teil der Erscheinungsformen. Die Zwischenstellung der Medien fügt sich nicht unseren bisher gebrauchten Unterscheidungen und Zwischenbestimmungen. Das Zwischen der Medien ist ein Zwischen zweiten Grades, das nicht mit der Grundstruktur des Chiasmus zwischen Subjekt und Objekt verwechselt werden darf. Denn die letztere Bestimmung trifft auf die Erscheinungsweisen selbst zu. Wäre das Zwischen der Intentionalität also eine Bestimmung zwischen Subjekt und Objekt, so müssten sich die Medien ganz in die Erscheinungsweisen einordnen lassen. Genau so aber hat man im klassischen Sinne die Intentionalität verstanden: Sie ist ein Ausdruck für das Ausgerichtetsein des Bewusstseins auf die Dinge bzw. des Subjekts auf das Objekt. Die Bestimmung der Medien zwischen Subjekt und Objekt entspräche der klassischen Definition von Intentionalität. Durch sie entsteht eine grundlegende Beziehung des Bewusstseins auf den Gegenstand. Doch der späte Husserl und Merleau-Ponty haben diese Bestimmung der InJoas sieht in der Fixierung auf Zweck-Mittel-Relationen in der Interpretation des Handelns noch die alten cartesianischen Dichotomien von Ich und Welt und Körper und Geist wirksam. Vgl. Joas/Knöbl 2004: 711.

67

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tentionalität als zu eng kritisiert. Sie haben festgestellt, dass man von dieser Intentionalität eine vorgängige Beziehung unterscheiden muss, die die genannte Intentionalität erst konstituiert. Diese Intentionalität haben sie die »fungierende Intentionalität« genannt: »(…) die Husserlsche Unterscheidung zwischen der Intentionalität der Akte, der unserer Urteile und willentlichen Stellungsnahmen, die in der Kritik der reinen Vernunft ausschließlich zur Sprache gebracht ist, und der fungierenden Intentionalität, in der die natürliche, vorprädikative Einheit der Welt und unseres Lebens gründet (…).« 68 Die Medien vermitteln die Größen Bewusstsein* und Ding* und sind zugleich Teil dessen, was erscheint. Die Medien sind also in einem Zwischen zweiter Ordnung: Sie sind nicht auf der Ebene von Subjekt und Objekt, sie sind nicht zwischen Subjekt und Objekt, sie sind vielmehr zwischen der Konstituierung der Subjekt/Objekt-Unterscheidung und dem, was zwischen Subjekt und Objekt sich befindet. Die Medien gehören nicht den Erscheinungsweisen an, aber auch nicht den rein hypothetischen Größen des Chiasmus Bewusstsein* oder Ding*. Insofern sind sie, das bestätigt die Betrachtung der Intentionalität, sowohl innerhalb der Erscheinungsformen als auch darüber hinaus. Ein zentraler Begriff von Merleau-Ponty hat hier seinen systematischen Ort: das être au monde. Diese Formel, die ja als Kürzel für das gelten kann, was den Leib in seiner Theorie bestimmt, lässt sich durch die Konstruktion eines Gegenübers nicht erfassen. »Être au monde«, »Der Leib ist zur Welt« meint ein Grundverhältnis, das mit der hier beschriebenen Intentionalität erfasst werden kann. Es liegt den Erscheinungsweisen voraus und kann nicht durch sie eingefangen werden und ist doch zugleich Teil unserer Erfahrungen. Die fungierende Intentionalität als Ausdruck für das Vermittlungsgeschehen zwischen Bewusstsein* und Ding* geht insofern über die Intentionalität innerhalb der Erscheinungsweisen hinaus, als es hier nicht mehr sinnvoll erscheint, mit ihr eine Richtung zu verbinden. Damit fällt das Ausgerichtetsein eines Subjekts auf ein Objekt aus, stattdessen gibt es ein reziprokes wechselseitiges Beziehungsgeschehen. 69 Merleau-Ponty 1945: 15. Wiesing macht diesen Vorschlag und beschreibt die Intentionalität als Teilhabe-Relation, in der Wahrnehmender und Wahrgenommenes in eine symmetrische Beziehung treten. Dies lässt sich gut mit einem allgemeinen Vermittlungsgeschehen verbinden, das die Medien in einem aktiv-passiven Prozess auszeichnet. Vgl. Wiesing 2009: 151. 68 69

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Damit zeigt sich eine verallgemeinerte Form von Intentionalität gegenüber einem engeren Intentionalitätsverständnis, das sich allein über Zwecke und Ziele definiert. Nun besteht die Schwierigkeit, dass wir uns selbst im alltäglichen Umgang nicht so erleben. Wir erleben vielmehr, dass wir uns auf eine bestimmte Wahrnehmung konzentrieren. Also wollen wir die rechte Hand durch die linke Hand wahrnehmen oder umgekehrt die linke Hand durch die rechte. Dieser Eindruck ist bestimmt durch eine Subjekt-Objekt-Trennung und meist verbunden mit der Behauptung, es gäbe ein inneres Ich, das sich entscheidet, das eine oder andere am Leib wahrzunehmen. Die Erscheinungsformen des Leibes sind aber nicht auf solche Prozesse aus einer Subjekt-Objekt-Trennung zurückzuführen, die Vermittlungsleistung der Medien Sprechen, Handeln und Wahrnehmen setzen schon viel früher an. Sie konstituieren das Vermittlungsgeschehen und damit auch den Leib. Dann allerdings, erst sekundär, als spätere Interpretation innerhalb der Erscheinungsformen, sind die Medien deutbar als Handlung, Wahrnehmung oder Sprechvorgang. Diese drei Vorgänge geschehen dann intentional, das heißt, sie haben eine Ausrichtung, eine Fokussierung auf etwas.

3.

Erfahrungen von Sinn

Durch die Vermittlung der Medien geschieht etwas, was für unsere Erfahrung von Wirklichkeit außerordentlich wichtig ist: Durch sie wird Sinn generiert. Sinn entsteht einerseits da, wo sich Vorgänge oder Dinge in Zusammenhänge einfügen. In der Regel macht etwas Sinn, weil es eingebunden ist in die Ordnungsstruktur eines größeren Ganzen. Durch die Medien entstehen auf diese Weise vor allem in den äußeren Erscheinungsformen Ordnungsstrukturen. Doch Sinn hat nicht nur mit Ordnung zu tun. Es gibt aber auch davon zu unterscheidende Sinnerfahrungen, die für sich stehen können, die nicht in einen größeren Verweiszusammenhang einmünden. Man kann den Sinnbegriff, der sich auf Ordnungen bezieht, mit drei unterschiedlichen Größen korrelieren: erstens mit Prozessen und Artefakten innerhalb einer Kultur, zweitens mit Lebensprozessen und drittens mit dem Umfassenden, der Existenz der Welt. 70 70

Vgl. ausführlicher Vogelsang 2008 (1).

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Erfahrungen von Sinn

Zum ersten Bezug: Innerhalb eines bestimmten kulturellen Zusammenhangs werden Dinge, Prozesse, Verhaltensformen als sinnvoll ausgewiesen. Das Reserverad im Auto macht Sinn, weil es verwendet werden kann, wenn einer der Reifen zerstört wird. Ein religiöses Ritual macht Sinn, weil es einen bestimmten Ort innerhalb des Deutungsund Inszenierungsraums der Religion hat. Politische Meinungsbildungsprozesse auf komplexe Art über parlamentarische Verfahren zu organisieren, macht Sinn, weil so eine demokratische Willensbildung sichergestellt werden kann. Jede Sinnzuschreibung innerhalb einer Kultur ist kulturrelativ und kann auch in Frage gestellt werden. Es zeichnet gerade die Lebendigkeit von Kulturen aus, wenn sie dies auch immer wieder selbstkritisch tun. Sinn ist in diesem Kontext eine relative und temporäre Größe. Zum zweiten Bezug: Lebewesen versuchen zu überleben. Von dieser übergeordneten Orientierung her können viele Prozesse dann als sinnhaft verstanden werden, wenn sie dem Ziel des Überlebens dienen. Lebendige Wesen generieren auf eine Weise Sinn. Hier ist nicht an unmittelbare Eindrücke in der Begegnung mit Lebewesen gedacht, sondern an die ökologischen Ordnungen, in denen sich die Formen des Lebens in wechselseitigem Bezug stabilisieren. Der Sinn bezieht sich dann nicht auf einzelne Lebewesen, sondern auf die größeren Ordnungen. Diese können auch fordern, dass bestimmte Individuen sterben müssen zum Wohle der Erhaltung der Art. Unter der Voraussetzung des übergeordneten Strebens nach Überleben, kann die Funktionalität der biologischen Strukturen als sinnhaft erlebt werden. Das Streben zu überleben wird so zur Quelle für Sinnzuschreibungen im Bereich der Biologie. Zum dritten Bezug: Schließlich kann man auch nach dem Sinn der Wirklichkeit im Ganzen fragen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist noch nicht alt, erst mit der Neuzeit ist sie nachweisbar. 71 Diese Sinnsuche muss nach den Vorgaben eines phänomenologischen Realismus zwangsläufig scheitern. Unser Erkenntnisweg war von Beginn an bestimmt durch die Endlichkeit der eigenen leiblichen Existenz. Die Wirklichkeit, die sich zeigt, ist als Ganzes nicht zugänglich und kann sich in keiner Erscheinungsweise vollständig zeigen. Deshalb ist es auch unmöglich, sich des Sinns dadurch zu versichern, dass man einen Bezug zu dem Ganzen herstellt. Versuche dieser Art sind eigentümlich 71

Vgl. Thies 2008: 26.

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instabil: Sie schwanken zwischen absoluter Sinnfülle und absoluter Sinnleere. Die Vorstellung, man könne die Welt in ihrem Innersten verstehen, schafft einerseits Sinn, weil nun alles in einen Ordnungszusammenhang einzubinden ist und zugleich Sinnlosigkeit, weil diese Ordnungsstruktur wiederum keinen äußeren Bezug hat, der sie ihrerseits hält. Die Leibniz’sche Vorstellung etwa, die Welt sei die beste aller möglichen mag zugleich trösten, wenn man auf das Gelingende achtet und tief frustrieren, wenn man auf das Leiden achtet. Das anthropische Prinzip und die Erfahrung von völliger Verlassenheit sind nah beieinander. Bislang haben wir uns auf die Sinnerfahrungen beschränkt, die mit Ordnungsstrukturen in einem Zusammenhang stehen. Hier zeigt sich ein gewisses Ungenügen. Denn diese relativen Sinnerfahrungen sind immer auch jederzeit negierbar, weil sie sich nicht auf eine umfassende, auf eine absolute Ordnung beziehen können. Alle Ordnungen sind relativ und endlich und damit auch die Sinnzuschreibungen, die sich aus ihnen ableiten lassen. Da es keine Anbindung an ein Absolutes gibt, bleibt die Möglichkeit offen, die Sinnangebote abzulehnen. Doch nicht alle Sinnerfahrungen sind so geartet. Merleau-Ponty schreibt als ein Fazit der Untersuchung des Leibes: »Die Erfahrung des Leibes aber gibt uns Einblick in eine Form der Sinnstiftung, die nicht die eines universalen konstituierenden Bewusstseins ist (…).« 72 Jeder Mensch erlebt Momente, in denen sich die Sinnhaftigkeit im Erleben zeigt. Diese Erfahrung lässt uns dann nicht nach dem Großen und Ganzen fragen, sondern ist in sich gesättigt. Es gibt etwa erfüllte Augenblicke, den Anblick eines geliebten Menschen, die helfende Geste, den dankbaren Blick. Bei weitem nicht alles ist sinnhaft. Aber Sinn kann immer wieder aufscheinen, auch dort, wo wir es inmitten von Sinnlosigkeit nicht erwartet würden. Merleau-Ponty hat sich immer wieder auf die Frage nach dem Sinn bezogen. Er hat dabei einen der tiefgründigsten Sätze überhaupt formuliert: Es gibt Sinn. »Rationalismus und Skeptizismus nähren sich gleichermaßen aus einem von beiden uneingestandener Maßen vorausgesetzten faktischen Bewusstseinsleben, ohne welches sie selber weder gedacht noch erlebt zu werden vermöchten, von dem her aber weder zu sagen ist, alles habe einen Sinn, noch alles sei Unsinn, son-

72

Merleau-Ponty 1945: 177.

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dern allein: es gibt Sinn.« 73 Hier wird zugleich deutlich, dass die Frage nach dem Sinn des Großen und Ganzen in der Philosophie MerleauPontys abschlägig beantwortet werden muss. Darüber kann man aus seiner Sicht nichts sagen: »Unser Ausgangspunkt wird nicht sein: das Sein ist, das Nichts ist nicht – und nicht einmal: es gibt nur Sein – das sind Formulierungen eines totalisierenden, eines überfliegenden Denkens –, sondern: es gibt Seiendes, es gibt Welt, es gibt etwas (…) es gibt Sinn.« 74 So sind also beide großen Gesten durch eine Beachtung des Leibes als Ort des Erkennens unterbunden: die große Weltbejahung ebenso wie die große Weltverneinung. Woher aber kommt der Sinn, von dem man sagen kann, dass es ihn gibt? Er stammt nicht aus den Ordnungen, die wir in den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit erschließen können. 75 Dieser Sinn ist uns immer schon vorgängig. Schon wenn wir die Frage stellen, tun wir das nicht von einem externen Punkt aus, sondern von einem bestimmten Standpunkt innerhalb der Wirklichkeit. Es gehört zu einer weisen und offenen, achtsamen Lebenshaltung, diese immer schon gegebenen endlichen und in sich gesättigten Sinnstrukturen entdecken zu können, es gibt einen »Logos der Antwort« 76 . Es ist also letztlich nach obiger Unterscheidung die zweite Form der Sinnzuschreibung, auf die sich Merleau-Ponty bezieht. In ihr gibt es einen gewissen Spalt, der das Identische im Nicht-Identischen sucht. Merleau-Ponty redet nicht einfach von der Sinnerfahrung, als sei sie etwas Gegebenes. Waldenfels fasst dies mit dem Terminus der Responsivität, einer Haltung des Antwortens. »Ein Denken, das nur bei sich ankommt, indem es von woanders her auf sich selbst zurückkommt (…), können wir als antwortendes Denken bezeichnen.« 77 Mit anderen Worten: Die Sinnerfahrungen sind nie das Eigene des Denkens, sie sind immer auch Zu-

Merleau-Ponty 1945: 344. Merleau-Ponty 1964: 121, ähnlich auch Merleau-Ponty 2003 (2): 46. 75 Waldenfels zeigt schön in einer Betrachtung über die phänomenologische Ethik, dass Merleau-Ponty hier einem Dilemma entgeht, entweder von objektiv feststellbaren, aber relativierten (Sinn)Erlebnissen zu sprechen oder von dem normativ vorzugebenden Sinn, indem er einfach feststellt, dass es Sinn gibt, ohne dies auf zureichende Gründe stützen zu können. Diese Zurückhaltung ist essentiell, da die Sinnerfahrungen sonst in eine so oder so geartete feste Ordnung eingebunden werden und innerhalb des Dilemmas bleiben. Vgl. Waldenfels 2000 (2): 307. 76 A. a. O.: 313. 77 A. a. O.: 312. 73 74

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7. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

stoßendes, über das man lediglich berichten kann. Die Sinnerfahrung, von dem wir immer schon herkommen, ist nicht auf größere Verweise, auf Ordnungen und auf Strukturen angewiesen. Die Beschränkung auf endliche und ephemere Erfahrungen von Sinn entspricht auch dem phänomenologischen Realismus, der von der Endlichkeit des Erkennbaren ausgeht. Weil wir das große Ganze nicht erkennen können, bleibt nur, die unverfügbaren, aber existenten Sinnepiphanien im Endlichen ernst zu nehmen.

4.

Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen

Mit der Aufnahme der Mead’schen Analyse können wir dem Chiasmus eine neue Dimension der Interpretation hinzufügen. Wir stoßen auf eine Möglichkeit, die Erscheinungsformen selbst in eine dynamische Perspektive zu rücken, ohne deshalb eine Größe von Außen einführen zu müssen, die außerhalb der Vermittlung von Bewusstsein* und Ding* stünde. Die Erscheinungsweisen selbst können verstanden werden als Ausdruck sozialer Interaktion, als Weisen der Vermittlung durch Sprechen, Wahrnehmen und Handeln. Damit erhält das Schema eine geschichtliche Dimension, eine Entwicklung der Erscheinungsweisen wird darstellbar. Der Ausgangspunkt der Untersuchung waren die Erscheinungsweisen unseres Leibes im Hier und Heute. Wir sind erwachsene Menschen, die zu einer bestimmten kulturellen Epoche gehören und die immer schon in gesellschaftliches Handeln eingebunden sind. Wenn wir die Bedingungen des phänomenologischen Realismus akzeptieren wollen, können wir uns auch nachträglich nicht daraus lösen und die Geschichte von außen betrachten, vielmehr können wir uns nur innerhalb dieser Geschichte vermittelt durch die Bestimmungen der Erscheinungsweisen verorten. Die Einsicht darin, dass die sozial bestimmten Medien die Erscheinungsweisen gestalten, führt zu der Erkenntnis ihrer Variabilität. Diese Variabilität kann man nun in zwei unterschiedlichen Dimensionen der Entwicklung beschreiben. Zum einen kann man auf die biographische Veränderung des Leibes achten. Diese ontogenetische Entwicklung führt zu einer Kontinuität von den frühesten Stadien eines Lebens bis ins hohe Alter. Zum anderen kann man auf die Veränderung der Kultur achten, in der man sich befindet. Dies führt in deren geschichtliche Entwicklung und über die Kultur 320 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen

hinaus in die Geschichte der Menschheit bis zu deren Anfängen, sofern diese ausgedeutet werden können. Diese Entwicklungen kann man auch in dem Schema des Chiasmus darstellen. Sie beginnt an dem unmittelbaren Zentrum der Struktur, der Überkreuzung von Bewusstsein* und Körper*, bzw. Bewusstsein* und Ding*. Der Chiasmus wächst dann vermittelt über die Medien Handeln, Wahrnehmen und Sprechen von der Mitte aus zu seinen Rändern. So werden sukzessive immer wieder neue Erscheinungsweisen an den Rändern möglich, die, je weiter sie nach außen rücken, immer abstrakter werden und immer mehr die Fähigkeit zu verallgemeinerten Aussagen haben. Die Ausweitung geschieht über die Medien vom Zentrum in beide Richtungen, sowohl in die Richtung zu immer abstrakteren und Distanz wahrenden Vorstellungen von den Dingen wie auch zu immer abstrakteren und durch Gesetze geprägten Vorstellungen von den Gedanken. Dabei zeigt sich nun erneut die Eigenschaft der Struktur des Chiasmus, dass sie bei Verkleinerungen oder Vergrößerungen selbstähnlich ist. Auch ein kleiner Teil des Chiasmus ist ein Chiasmus, wenn denn die Mitte der sich überkreuzenden Linien gewahrt bleibt. Auch wenn sich die Spanne der Ausdehnung ändert, so bleibt doch die Struktur immer selbstähnlich, also stets ein Chiasmus als Überkreuzung der beiden Linien. Allerdings ändert sich die Vielfalt der Erscheinungsweisen, je weiter man die Entwicklung zurückverfolgt. Die abstrakten Erscheinungsweisen sind immer weniger zugänglich. Zuletzt bleibt allein die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus übrig. Hier ist allerdings die Vermittlungsfähigkeit der Medien gering und ebenso auch ein kultureller Einfluss. Keine leibliche Existenz ist von dieser Struktur ausgenommen. Stets werden die Erscheinungsweisen des Leibes durch den Chiasmus geprägt. Man kann eine weitere Folgerung aus der Struktur des Chiasmus ziehen, wenn man ihn unter dem Aspekt der Entwicklung untersucht: Wenn wir auf frühere Zustände blicken, bleibt unsere Erkenntnis stets auf den Chiasmus als Grundstruktur bezogen. Im biographischen Rückblick können wir uns also nicht zum Schluss als Fötus sehen. Natürlich können wir Bilder von uns im Stadium eines Fötus sehen, wenn denn solche existieren, aber wir müssen berücksichtigen, dass diese nur die abstrakte Erscheinungsweise des Leibes als Körper wiedergeben und wir diese nicht als das Ganze unserer leiblichen Existenz ausgeben dürfen. Auf diese Weise droht es nämlich, dass wir die Perspektive des 321 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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7. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

endlichen Erkennens verlassen und einen verobjektivierten Blick auf die Wirklichkeit (in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding) absolut setzen. In diesem Blick sind wir dann ein Mensch unter vielen Menschen, wir sind aber als Betrachter dieses Szenarios ortlos. Die Bedingungen des phänomenologischen Realismus erfordern es, dass wir berücksichtigen, dass diese Außenperspektive, repräsentiert durch ein Foto, nicht das ganze Bild darstellen kann. 78 Gleiches gilt für die Entwicklung unserer Kultur. Wir können nicht unsere Kultur verlassen und im Rückblick die Geschichte der Menschheit an uns in einem quasi objektiven Blick vorbeiziehen lassen und gleichzeitig behaupten, wir sähen so das Ganze. Nur »durch unsere Kultur hindurch«, nur von den Erkenntnisbedingungen unserer Kultur her können wir die Menschheits- und Kulturgeschichte betrachten. Ähnliches gilt schließlich auch für die Geschichte der Natur. Wiederum ist es unsere leibliche Existenz, die einen objektiven Blick auf das Ganze der Natur verhindert. Der Blick zurück, die geschichtliche Betrachtung unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus, ähnelt einem Blick in einen Trichter. Sowohl in der biographischen Entwicklung wie auch in der kulturgeschichtlichen Entwicklung gibt es zumeist eine Ausweitung der Erscheinungsformen, eine zunehmende Ausdifferenzierung. Doch im hohen Alter bei beginnender Demenz mag es sich umkehren: Dann bleibt nur noch eine diffuse Erinnerung an den Zustand der ausdifferenzierten Erscheinungsweisen. Natürlich ist es möglich, eine verallgemeinerte Natur- oder Kulturgeschichte zu schreiben, die von den strengen Bedingungen des endlichen Erkennens absieht. Aber wir sehen jetzt deutlicher, dass dies eine Abstraktion voraussetzt, die notwendigerweise mit dem Verlust der Eigenständigkeit von Erscheinungsweisen der Wirklichkeit einhergeht. Wir haben aufgrund unserer endlichen Verankerung in der Wirklichkeit keine Möglichkeit die Entwicklung der Welt, wie sie »an sich« stattgefunden hat, objektiv zu betrachten. Die objektive Geschichte der Natur als lineare Entwicklung in der Zeit ist ein Modell, das sich aus den Strukturen der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ableiten lässt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ihre BeschreibunIn der Regel gehen wir mit Erinnerungsfotos auch anders um: Die objektive Fixierung durch das Foto ist nur Anlass zu einer Erinnerung, mit der wir viel mehr verbinden: Gefühle, Gedanken, Stimmungen und so weiter.

78

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Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen

früheres Stadium der Entwicklung

späteres Stadium der Entwicklung

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gen müsste immer den Vorsatz haben: »Unter der Maßgabe, dass wir die Wirklichkeit betrachten, als seien wir nicht beteiligt, zeigt sie sich wie folgt: …«, »Unter der Maßgabe, dass wir die Welt als physikalisches Objekt sehen, ergibt sich das folgende …« Diese Betrachtungen können viele partielle Einsichten in unsere Wirklichkeit geben, sie sind aber nicht die eine normative und wahre Darstellung.

A.

Die biographische Entwicklung

Eine Erinnerung an unsere je eigene Lebensgeschichte zeigt: Der Leib, den wir jetzt, im Moment des Nachdenkens erleben, gab es nicht schon immer so, er ist mit den aktuellen Erscheinungsweisen kein Erstes und immer schon Gegebenes. Wir sind Gewordene, wir waren einmal anders, das betrifft unseren Leib in all seinen Erscheinungsweisen. Die Erscheinungsweisen des Leibes durchlaufen eine Entwicklung. Wir können uns erinnern an Zeiten, in denen sie in einem viel geringeren Maße ausdifferenziert waren. Wir haben Erinnerungen an kindliche Szenen, in denen die Dinge um uns herum atmosphärisch gebunden waren, in denen Spielzeuge auf uns wirkten wie eine große und vertraute Familie, Zeiten, in denen Spielzeuge und vertraute Gegenstände der elterlichen Wohnung weit mehr waren als Gegenstände, in denen sie vielmehr Nähe zuließen. Diese Erscheinungsweisen sind für uns Erwachsene nicht völlig verloren, wir können sie noch erleben, insbesondere dann, wenn wir Umgang mit Kindern haben und uns in ihre Situation versetzen. Wir können uns also erinnern an eine Entwicklung der Erscheinungsweisen des Leibes. Doch die Entwicklungsgeschichte geht weiter zurück als bis zu den Erinnerungen der Kindheit. Kein Leib ist aus sich selbst heraus Leib. Jeder Leib ist in einen ständigen Kommunikationsprozess mit anderen Leibern eingebunden und gestaltet als Leib diesen Prozess gleichzeitig mit. Wir sind als Leib abhängig von anderen Leibern, wir stammen von anderen Leibern und sind in unserem Leben stets auf andere Leiber angewiesen. Die Aussage lässt sich ebenso auf die beiden dominanten Erscheinungsweisen des Leibes übertragen: Kein Körper ist aus sich selbst heraus Körper. Und ebenso wenig sind Gedanken aus dem Nichts sich selbst schaffend, sondern immer in Abhängigkeit von Gedanken, die schon da waren. Jeder Leib verweist in seiner Existenz auf die Existenz anderer Leiber. Deshalb ist der eigene Leib auch kein Anfangs324 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen

punkt, bei dem man unmittelbar beginnen kann, ohne dass man nicht zumindest implizit schon den Verweis auf andere Leiber gesetzt hätte. Die Kultur der Leonardo-Welt legt jedoch eine andere Betrachtung nah. Hier dominieren die Extreme. Auf der einen Seite wird die Wirklichkeit unter objektivierbaren Bedingungen wahrgenommen, auf der anderen Seite entzieht man sich als Betrachter der leiblichen Kontinuität. Mit einer solchen Absolut-Setzung, also der Ortlosigkeit des erkennenden Geistes geht zwangsläufig eine Abwertung des Geschehens von Zeugung, Geburt und Erziehung von Menschen einher. Der Mensch, um den die Gedanken kreisen, ist zunächst der fertige Mensch und selbständige Mensch. Doch das übersieht die Bedürftigkeit und die Abhängigkeit, in der jeder Mensch auf fundamentale Weise immer lebt, auch als erwachsener und scheinbar völlig unabhängiger Mensch. Eine Philosophie des Leibes kann so auf diese Defizite aufmerksam machen und die Forderung begründen, das Verhältnis und die Beziehung zu anderen Menschen nicht als sekundäre Phänomene abzuwerten. Man kann den Prozess der Menschwerdung mit einer biologischen Methode beschreiben, indem man den Menschen auf seine Körperlichkeit hin reduziert. Mit der Konzentration auf den Körper allein droht aber die Gefahr, dass das umfassendere Geschehen des Lebens aus dem Blick gerät. Leben entsteht aus Leben, Leben wird von lebenden Wesen an andere weitergegeben. Man kann sich nicht allein auf die objektivierende Sicht berufen, die etwa die Methoden der Fortpflanzungsmedizin bereitstellen. Dann ist der Prozess des Entstehens eines Menschen durch einige analytisch beschreibbare Phasen bestimmt, über die man eine Vielzahl von Informationen besitzt. Hiernach folgen aufeinander die Befruchtung der Eizelle, ihre Teilung, die Einnistung in der Gebärmutter und ihre weitere Reifung durch biochemische und zelluläre Prozesse. Diese Informationen sind auch für die öffentliche Diskussion um strittige Techniken, etwa die embryonale Stammzellforschung oder die Präimplantationsdiagnostik bestimmend. Die Darstellung des Leibes durch den Chiasmus zeigt aber, dass hier nur partikulare Informationen eines wesentlich umfassenderen Prozessen gewonnen werden. Das Werden eines Menschen ist aber das Werden eines Leibes und damit nicht allein über die objektive Betrachtung eines Körpers zu erfassen. Darauf weist das Unverstandene im Werden eines Menschen als leibliches Wesen. Zeugung und Geburt als rätselhafte Voraussetzung unserer Existenz ist in unserer Kultur und insbesondere in der Philoso325 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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phie fast durchgehend vernachlässigt worden. Wenn eine Grenze der körperlichen Existenz angesprochen wurde, dann war es der Tod. 79 Mit dem Tod spätestens endet das Denken. Doch das Denken beginnt nicht mit der Geburt. Die Geburt wurde deshalb einfach als Voraussetzung hingenommen. Der Mensch, der philosophiert, hatte weniger Probleme mit seiner Geburt als mit der Angst vor dem Tod. Doch ist die Frage nach der Wirklichkeit ebenso eine Frage nach dem Herkommen. Denn das Herkommen prägt auch unsere gegenwärtige Existenz. Eine rühmliche Ausnahme bildet Hannah Arendt, die in ihrem Buch »Vita activa« die menschliche Existenz auf ihre Geburtlichkeit bezieht. In der Geburt eines Menschen liegt die unhintergehbare Voraussetzung seines Daseins, die sich auch in dem weiteren Leben auswirkt. »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln. Im Sinne von Initiative – ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als dass diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen.« 80 Die Geburt in diesem Sinne ist weit davon entfernt, allein ein biologisches Geschehen zu sein. Durch die geburtliche Existenz ist der Mensch ein handelndes Wesen. Sein Handeln ist etwas, das ihn bestimmt, wie er es bestimmt. Anders gesagt: Schon von Geburt an ist der Mensch ein vermitteltes Wesen, das sich durch die Struktur des Chiasmus darstellen lässt. Tatsächlich ist die Geburt und damit das Werden eines Menschen schon von Beginn an von der Überkreuzung von Bewusstsein* und Körper* geprägt und damit durch und durch unanschaulich und geheimnisvoll.

Berühmt ist die Bestimmung von Heidegger des Daseins als Seins zum Tode. So schreibt er: »So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand. Dessen existenziale Möglichkeit gründet darin, dass das Dasein ihm selbst wesenhaft erschlossen ist und zwar in der Weise des Sich-vorweg. Dieses Strukturmoment der Sorge hat im Sein zum Tode seine ursprünglichste Konkretion. Das Sein zum Ende wird phänomenal deutlicher als Sein zu der charakterisierten ausgezeichneten Möglichkeit des Daseins.« Heidegger 1927: 250 f. 80 Arendt 1958: 15 f. 79

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Die biographische und kulturelle Entwicklung der Erscheinungsweisen

B.

Die kulturelle Entwicklung

Wenn wir die kulturgeschichtliche Entwicklung unserer sozialen Welt unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus bestimmen wollen, müssen wir wiederum bei unserem Leib, wie er sich zeigt, beginnen. Auch hier gilt: Wir können nicht einfach von einem undefinierten Ausgangspunkt starten und im Sinne eines geschichtsjenseitigen Standpunktes danach fragen, wie sich denn die Menschheit oder wie sich eine bestimmte Kultur entwickelt hat. Wir müssen unseren Leib, wie er sich zeigt, und unsere Kultur, die sich in den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit darstellt, zur Ausgangslage nehmen. Dann können wir jene Zeugnisse der Vergangenheit zu Rate ziehen, die uns Aufschluss darüber geben, wie die Wirklichkeit den Menschen in den Jahrhunderten zuvor sich zeigte. Wir sind Teil einer kulturellen Entwicklung und damit eines ständigen Veränderungsprozesses. Es hat sich in der Entwicklung der kulturellen Phänomene eine sukzessive Ausweitung der Erscheinungsformen, angefangen bei der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) bis hin zu den uns heute bekannten abstrakten Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus, ereignet. In der Vorstellung einer Ausweitung des Chiasmus ist aber nur eine sehr grobe Richtung vorgegeben, die einzelnen Entwicklungsschübe sind wahrscheinlich sehr komplex, nicht immer aufeinander aufbauend, Sprünge oder Ungleichzeitigkeiten zulassend. Doch nach dem Gesagten ist zu erwarten, dass die Entwicklung der Kulturgeschichte innerhalb des Schemas eine Dynamik von innen nach außen hat. Indizien hierfür lassen sich besonders bei den Erscheinungsformen der Wirklichkeit an den Rändern des Chiasmus ausmachen. Dies soll kurz für den Wechsel zur Neuzeit, den wir in Kapitel 2 schon angesprochen hatten, angedeutet werden. Die Frage nach dem Bewusstsein ist nicht in allen Kulturen in gleicher Weise gestellt worden. Erst Descartes hat die Existenz eines eigenständigen und abgelösten Bewusstseins denkbar gemacht. Zuvor wurden offenkundig die Gedanken nicht in einer solch abstrakten und von anderen Bereichen der Wirklichkeit getrennten Weise erlebt. Allerdings war das Denken immer schon eine große Herausforderung für die Philosophie. Schon in der griechischen Klassik spielten Abstraktionen im Bereich der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke eine große Rolle. Das platonische Konzept der Ideen zeugt davon. Aristoteles wiederum hatte erhebliche Schwierigkeiten, das Denkvermögen 327 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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7. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

des Menschen in seine umfassendere Lehre von der Seele zu integrieren. Das Denken als ein innerer Zustand, der von der äußeren Welt losgelöst ist, ist später auch bei Augustinus zu finden. 81 Dennoch galt es erst für die Zeit nach Descartes, dass die Vorstellung eines Bewusstseins als Gegenüber zur Welt eine kulturprägende Kraft erhielt. Zugleich entstand ein neuer, ein stärker abstrahierender Blick auf die Welt. Die Beschreibung der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding erfuhr als Welt der res extensa eine Abstraktion, die bis dahin unbekannt war. Die kulturellen Veränderungen gelten also in ähnlicher, in korrespondierender Weise zur Entstehung der Vorstellung eines Bewusstseins für den Körper. Denn der Körper als »roher« oder »nackter« Körper, als materielle Entität, so wie er uns jetzt erscheint, ist ebenfalls eine Folge der Neuzeit. Zuvor war der menschliche Körper immer der von Geist und Seele geformte Körper, der nicht aus sich heraus zu dem werden kann, was er ist. Den Körper allein als materielles Substrat wahrnehmen zu können, setzt eine umfassende kulturelle Entwicklung voraus. Die Erscheinung des Leibes als Körper, das heißt in der Extremform als physikalische Masse, war noch vor einigen Jahrhunderten undenkbar. Eigentlich war es wiederum erst der Ansatz von Descartes, der dazu führte, den Leib in einer Erscheinungsform als Körper, als reine res extensa zu deuten. Das, was als Körper erscheint, ist also sprachlich vermittelt und hoch voraussetzungsreich.

5.

Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

Durch die Theorie von Mead konnten wir das Schema des Chiasmus, dessen Erscheinungsweisen durch die Medien Sprechen, Wahrnehmen und Handeln vermittelt sind, weitgehend dynamisch deuten. Insbesondere die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus wurden so als späte Produkte einer individuellen oder auch kulturellen

»Erst Augustinus hat im Rückgriff auf die Tradition des stoischen logos endiathetos die Vergegenwärtigung der zeitlich sinnenfälligen Erscheinung der Welt aus dem ›forum internum‹ des Gewissens verwiesen und damit die neuzeitliche Traditionslinie philosophischer Selbsterkenntnis begründet.« Link 1978: 90.

81

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Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

Entwicklung verständlich. Doch wie ist es um die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus als X (Gefühl) oder X (Atmosphäre) bestellt? Bei der Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus, in der der Leib als Gefühl oder als Empfinden, wie es ist, in diesem oder jenem Zustand zu sein, erscheint, kommen die drei Medien in geringem Maße zur Geltung. Das unmittelbare körperliche Empfinden wie etwa der Gleichgewichtssinn oder auch das Erlebnis der Qualia ist durch die Medien kaum vermittelt. Es entsteht nicht durch Handeln, es ist nicht durch Sprechen geformt und es ist nicht unmittelbar an eine ausdifferenzierte Wahrnehmung im obigen Sinne gebunden. Schmitz hat das unmittelbare, kaum vermittelte körperliche Empfinden als »eigenleibliches Spüren« eingehend untersucht. Ähnliches gilt auch für Atmosphären, das unbegründbare Aufscheinen von Sinn und anderem. Ist die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus ein reines Numinosum? Zunächst ist sie nicht auf Sprachenferne einzuschränken. Die Struktur des Chiasmus legt ja nah, dass auch erste, wenn auch nur schwach vermittelte kulturelle oder biographische Einflüsse sich geltend machen können. Denn schon innerhalb dieser Erscheinungsweise steigt zu den Rändern der Vermittlungsgrad durch die Medien Sprechen, Wahrnehmen, Handeln an. All das, was uns unmittelbar angeht, was uns »berührt« wird auch in dieser Erscheinungsweise zu verorten sein. Beispiele findet jede und jeder im alltäglichen Umgang zuhauf: Eine überraschend freundliche Geste, die Nähe eines Schwindel erregenden Abgrunds, ein Hilferuf, der Anblick des geliebten Menschen oder unmittelbar empfundenes Mitleid können solche Phänomene sein. Hier spüren wir, dass wir unmittelbar betroffen sind. Uns fällt es schwer, dieser unmittelbaren Betroffenheit Ausdruck zu geben. Diese Gefühle sind trotz eines nicht zu verleugnenden Einflusses nur in begrenztem Maße kulturell gestaltbar, sie haben ein »Eigenleben«, das durch eine Verbindung mit dem Gesehenen, dem Erlebten, dem Gehörten entsteht. Zugleich sind sie aber auch nicht automatisiert, sondern immer auch ansatzweise schon kulturell geformt und abhängig von der jeweiligen biographischen Erfahrung, wie etwa der unterschiedliche Umgang mit Tieren, aber auch musikalische Vorlieben, Ekel- oder Angstreaktionen zeigen können. Gefühle bilden ein breites Spektrum, an dessen Enden auch komplexe soziale Phänomene stehen können. Ihnen liegen dann sehr voraussetzungsreiche kulturelle Vorgaben zugrunde, die auch schon die mittlere Erscheinungsweise ansatzweise strukturieren können, zum Beispiel, wenn die Ehre verletzt wird und 329 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Scham entsteht. Wer und was den Ehrenkodex verletzt, ist nicht nur sehr kulturrelativ, sondern auch situationsabhängig und kann von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich erlebt und gestaltet werden. Diese komplexeren Gefühle sind nicht nur der Vermittlung durch die Medien fähig, sie sind auch der Vermittlung bedürftig. Liebe drängt nach Ausdruck im Handeln und im Sprechen, Liebe verändert die bekannten Wahrnehmungsmuster. Für die mittlere Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) gilt Analoges. Hier ist die Differenz zur leiblichen Existenz etwas größer, wenn auch hier die Verbindung noch sehr eng ist. Gefühle und Atmosphären sind eng miteinander verknüpft. Schmitz hat ja auch den Vorschlag gemacht, beide Phänomenbereiche als räumliche Gegebenheiten zu fassen. Auch die Atmosphären affizieren und provozieren unwillkürliche Regungen. Der Unterschied zu den Gefühlen ist der, dass sie in wesentlich größerem Maße gestaltbar erscheinen, also durch das Handeln beeinflussbar sind. Moderne Architektur und Raumgestaltung nutzen ein umfangreiches Wissen, um einen bestimmten, gewünschten Einfluss auf die Atmosphäre zu nehmen. Doch für den oder diejenige, die oder der sich in die Atmosphäre hineinbegibt, bleibt die Atmosphäre immer auch unverfügbar: Der schönste Sommerabend kann mit einem Mal schal und leer werden, in der hoffnungslosesten Situation kann mit einem Mal tiefe innere Freude aufscheinen. In der Atmosphäre zeigt sich die Wirklichkeit in einer großen Nähe und Intimität, aber auch Unverfügbarkeit. Die alltägliche Präsenz dieser Erscheinungsweise ist damit deutlich. Aber diese Erscheinungsweise hat darüber hinaus weitere Charakteristika, die aber für ein adäquates Verständnis der menschlichen Existenz von großer Wichtigkeit sind. Zum ersten kann diese Erscheinungsform in der Mitte des Chiasmus wichtige Hinweise für das Verständnis von Handeln, Sprechen und Wahrnehmen liefern. Zwar ist die mittlere Erscheinungsform der Wirklichkeit nicht mehr in starkem Maße durch die Medien bestimmt, dennoch sind hier nicht zu vernachlässigende Komponenten, die Einfluss auf das nehmen, was als Handeln, Sprechen oder Wahrnehmen erscheint. Es zeigt sich hier, dass das lebensweltliche Handeln nicht auf rein zweckrationales Handeln reduziert werden darf. Hans Joas plädiert in seiner Theorie der Kreativität des Handelns dafür, das Handeln nicht aufzuteilen in rationales Handeln und in eine Residualkategorie, die unableitbare und unverständliche Handlungen umfasst: »Die wirkliche Alternative zum Ausgang bei der rationalen Handlung und der 330 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

daraus folgenden Erzeugung einer Residualkategorie scheint mir deshalb in der rekonstruktiven Einführung des Begriffs rationalen Handelns zu liegen.« 82 Es geht also darum, zunächst ein umfassenderes Verständnis von Handeln zu etablieren, dem von Joas so genannten kreativen Handeln, das nicht nur dessen rationalisierbare Anteile, sondern auch grundlegendere mit umfasst. Nur so kann man seiner Ansicht nach der cartesianischen Engführung entgehen, zwischen Rationalität, Geist und dem rein Körperlichen zu unterscheiden.83 Sein Argument zielt darauf, dass erst eine umfassendere Kategorie des Handelns jene Phänomene in den Blick bekommt, die durch eine zu frühe Rationalisierung unbeachtet blieben: »Jede Handlungstypologie, die offen oder verdeckt mit einer Residualkategorie arbeitet, in der sich alle Phänomene einbeziehen lassen, die nicht explizit kategorial erfasst werden, ist in einem formalen Sinne vollständig. Das bedeutet aber keineswegs, dass einer solchen Typologie tatsächlich phänomenerschließende Kraft zukommt.« 84 Genau dies haben wir bei der Diskussion der Erscheinungsweisen des Leibes sehen können: Nur wenn man von Beginn an das methodische Raster nicht zu eng wählt, kann man auch jene Phänomene erfassen, die sonst allerhöchstens noch als Störgröße eine Rolle spielen. Die mittlere Erscheinungsform ist zwar nur in einem geringen Maße durch die Medien, also auch durch das Handeln vermittelt, doch spielt es eine nicht zu vernachlässigende Rolle, will man nicht das Handeln zu einer abstrakten Konstrukt machen. Joas fordert: »Eine Handlungstheorie, die sich des voraussetzungsreichen Charakters dieser Annahmen bewusst ist, muss in den ›dionysischen‹ Grund aller Rationalität und Sozialität hinuntertauchen. Sie kann dafür belohnt werden mit einem Verständnis gegenwärtiger Strukturen individuellen und kollektiven Handelns, das auf dem kurzen Wege der direkten Anknüpfung an die etablierte Auffassung rationalen Handelns nicht erreichbar ist.« 85 Man kann das rudimentäre Handeln in der Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus als ein tiefer liegendes Streben verstehen. Hierdurch ist der Begriff besser mit den Phänomenen in den Erscheinungsweisen zu verknüpfen. Das Streben und die damit verbundene, unartikulierte Intentionalität kann als ein grund82 83 84 85

Joas 1996: 216. Vgl. a. a. O.: 231. A. a. O.: 213 f. A. a. O.: 285.

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legendes Vermittlungsgeschehen des Lebens gedeutet werden. Die Intentionalität des Zweck setzenden Handelns entwickelt sich dann daraus durch zunehmende Abstraktion und durch eine zunehmende Verobjektivierung. Alles gezielte und beabsichtigte Handeln, Sprechen und Wahrnehmen befindet sich in einem Kontinuum dieses grundlegenden Strebens. Auch das komplexe und artikulierte Handeln in ausdifferenzierten Institutionen speist sich immer auch aus den grundlegenden und noch amorphen Lebensenergien, die in der Erscheinungsweise X zum Ausdruck kommen können. Erst in den abstrakteren Strukturen der Erscheinungsweisen am Rande des Chiasmus können wir intentionale Prozesse von nicht intentionalen Prozessen unterscheiden, indem wir sie auf einen Akteur, eine bewusste Person hin reflektieren. Joas beschreibt das Streben, das sich nicht einem vorgegebenen Zweck-Mittel-Schema fügt: »Wo aber ist der Ort dieser Strebungen? Ihr Ort ist unser Körper: seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt stellen den Hintergrund aller bewussten Zwecksetzung, unserer Intentionalität dar.« 86 Damit ist die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus in ihren äußeren Teilen der biographischen, aber auch der kulturellen Entwicklung zugänglich, in ihrem innersten Kern jedoch nicht. Zum zweiten soll ein Hinweis auf jenen Bereich innerhalb der Erscheinungsweise gegeben werden, der unmittelbar an dem Überkreuzungspunkt im Chiasmus sich befindet. Dieser Ort ist dadurch geprägt, dass fast keine Vermittlung mehr gegeben ist. Hier sind die Erfahrungen zu suchen, auf die die Mystiker weisen. In der sehr rudimentären Erscheinungsweise gilt das ungeteilte und einfache »Hier«, »Jetzt« und »Dieses«. Über dieses, das ungeteilt und hermetisch ist, kann man nicht viel sagen. Auch kann man auf es nicht wirklich deuten, schon gar nicht lassen sich (rationale) Handlungsformen angeben, wie diese eingeschränkte Erscheinungsweise erfahrbar wird. Was man auch immer über diese Phänomene sagen kann, man muss es indirekt tun. Dort, wo die beiden Linien sich treffen, herrscht ein punktuelles Ungeteiltsein. Wenn es schon so ist, dass wir im Alltagsbewusstsein, der mittleren Erscheinungsweise ihre Eigenständigkeit rauben, so haben wir keinerlei beschreibbaren Anhaltspunkt, um auf das »Jetzt« und »Hier« aufmerksam zu werden. Schmitz weist ja auch auf den spitzen Schmerz, auf den Zusammenbruch der entfalteten Gegenwart, um auf 86

Joas 1996: 232.

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Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

die, wie er es nennt, primitive Gegenwart aufmerksam zu werden. 87 Anhand der so gedeuteten Struktur des Chiasmus zeigt sich das Dilemma aller Meditationstechniken: Als Techniken, sprachlich vermittelt, verbunden mit bestimmten Handlungsanleitungen, bewegen sie sich in ganz anderen Erscheinungsweisen, sollen aber den Zugang zu jenem Punkt ermöglichen, der sich aller Vermittelbarkeit entzieht. So bleiben für die Meditationsanleitungen nur paradoxe Aussagen, die ihre eigenen Aufforderungen zugleich negieren müssen. Zum dritten lässt sich aus der Deutung der biographischen Entwicklung des Chiasmus eine wichtige Beobachtung ableiten. Die unmittelbar um den Überkreuzungspunkt angesiedelte Erscheinungsweise ist engstens mit der Kontinuität unserer leiblichen Existenz verknüpft. Unsere Existenz kann geradezu als das »Dass« der Überkreuzung von Bewusstsein* und Körper* gedeutet werden. Hier ist angelegt, dass wir ein Verhältnis sind, das sich zu sich selbst verhält. Wir verlieren durch das weitere Leben, die Akkumulation von Fähigkeiten, durch die Medien, durch Teilnahme an unserer Kultur, diese Erscheinungsweise nie, auch wenn ihre Phänomene kaum von uns wahrgenommen werden. Kleinen Kindern ist die Wirklichkeit allerdings ausschließlich in dieser Erscheinungsweise gegeben. Damit müssen wir aber eine der wichtigsten Regeln in der Interpretation des Chiasmus nun partiell revidieren. Denn bislang galt stets die Aussage, dass der Leib sich immer in mindestens drei, nicht aufeinander reduzierbaren Erscheinungsweisen zeigt. Keine Erscheinungsweise kann hiernach die leibliche Existenz vollständig erfassen. Nun kann man vermuten, dass dies aber bei einem kleinen Kind (oder einem dementen Menschen) durchaus der Fall ist. Doch das Ziel, um dessen willen die Regel aufgestellt worden ist, ist auch in diesen Fällen gewahrt. Der Leib des Menschen wird auch in diesem Fall nicht zu einem anschaulichen Objekt. Denn die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus, die dann die leibliche Existenz ganz erfasst, bietet keine Grundlage für Strukturen und ist durch die Medien nur im sehr geringen Maße vermittelt. Diese Spekulation hat darüber hinaus eine klare Grenze: Wir müssen wie schon zu Beginn des Erkenntnisweges so auch jetzt immer von der eigenen Existenz ausgehen, wenn wir der phänomenologischen Methode folgen wollen. Dann aber können wir nicht in der Situation

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Vgl. Schmitz 2007: 49.

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7. Die sozialphilosophische Theorie von George Herbert Mead

eines Kindes sein, denn diese betreiben keine philosophisch reflektierte Phänomenologie. 88 Also gilt die Regel für all jene, die Regeln nachvollziehen können und für diese gilt sie dann auch notwendigerweise und ohne Ausnahme.

Allerdings: Die unreflektierte und vorsprachliche Weise des Erkennens von Kindern mag allerdings eine Weisheit haben, die uns verloren gegangen ist und der wir uns nur mühsam in aufwändigen Methoden annähern können.

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III. Vertiefungen

Unsere Kultur ist in der Leonardo-Welt durch den naturwissenschaftlich-technischen Umgang mit der Wirklichkeit geprägt. Diese Prägung führt zu zwei Charakteristika der Vorstellungen über die Wirklichkeit: Die Welt ist ein geschlossenes Gegenüber und der Mensch ist ein eingekapseltes Wesen, ein Körper mit der Eigenschaft, Bewusstsein zu erzeugen. Dies können wir nun innerhalb der Struktur des Chiasmus so interpretieren: Die großen Erfolge und Ausweitungen in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding haben zu einer einseitigen Betonung dieser Erscheinungsweise geführt. Der Naturalismus ist bestimmt durch die Vorstellung, dass alles, was wirklich ist, letztlich auf die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding zurückgeführt werden kann. Dies hat sich als eine nicht haltbare Behauptung erwiesen, da wir auch heute bei aller Technik und Naturwissenschaft die analysierten Bedingungen unserer leiblichen Existenz nicht verlassen können. Es kommt also darauf an, in unserer Kultur jene Kräfte zu stärken, die die durch unsere leibliche Existenz gegebenen und vom phänomenologischen Realismus analysierten Bedingungen besser berücksichtigt werden können. Es ist mit anderen Worten ein gegenüber den Vorstellungen der Leonardo-Welt größerer Realismus gefordert! Denn die Ignoranz unserer leiblichen Existenz entspricht nicht der Wirklichkeit und kann deshalb auch nur zu einem verzerrten Verständnis führen. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die Grundzüge dieses phänomenologischen Realismus dargestellt. Vieles konnte nur angedeutet und nur knapp ausgeführt werden. Aber die Hauptlinien sind deutlich. Wenn wir diese Bedingungen ernst nehmen, dann müssen die dominanten Vorstellungen der Leonardo-Welt stark relativiert werden. Die Wirklichkeit kann erstens nicht mehr als abgeschlossene Welt gedeutet werden. Sie ist vielmehr eine offene Sphäre, von der wir nur endlich viel wissen und auch immer nur endlich viel wissen werden. 1 Es stellt Das Zitat von Popper, das als Motto der Arbeit vorangestellt ist, muss nun an einem entscheidenden Punkt korrigiert werden: Wenn wir immer nur von unserem endlichen

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III. Vertiefungen

sich uns ein Spektrum von Erscheinungsweisen der Wirklichkeit dar, das mindestens drei charakteristische, nicht aufeinander reduzierbare Erscheinungsweisen kennt: Die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke, als X (Atmosphäre), als Ding. Die Wirklichkeit ist also weit vielfältiger als monistische oder auch dualistische Ansätze es darstellen können. Diese Vielfalt zeigt sich aber erst, wenn wir die Unterschiede der Erscheinungsweisen sehr sorgsam behandeln und sie nicht vorschnell durch spekulative Schlüsse aufeinander reduziert werden. Dann wird zugleich deutlich: Unsere leibliche Existenz ist ebenso unanschaulich wie das Ganze der Wirklichkeit. Diese Bedingungen machen ernst damit, dass wir als endliche Wesen voll und ganz in das einbezogen sind, was wir erkennen wollen. Welche Konsequenzen können wir aus dem Erkannten ableiten? Die Beschreibung der Wirklichkeit im Sinne des phänomenologischen Realismus hat unmittelbar Konsequenzen für das Verständnis von Wahrheit. Anhand der Theorie von Hilary Putnam kann dies dargestellt werden. Dessen Ansatz soll auch deshalb hier Erwähnung finden, weil hier aus einer ganz ähnlichen Motivation heraus, aber mit anderen philosophischen Mitteln ein Zugang zur Wirklichkeit gesucht wurde, der sich den Verkürzungen einer Sicht von außen widersetzt und statt dessen einen »internen Realismus« behauptet. Im Zentrum des dritten Teils soll dann aber die Frage stehen, wie wir in einer wissenschaftlich-technisch geprägten Kultur die Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) einen größeren Einfluss zukommen lassen können. Denn die eigenständige Existenz dieser Erscheinungsform ist durch die Methode des phänomenologischen Realismus klar bestätigt. Diese Frage weist zurück auf den Ausgangspunkt und nimmt zugleich unser zentrales Vorhaben wieder auf. Die Leonardo-Welt ist maßgeblich durch wissenschaftlich-technische Erkenntnisweisen geprägt. Wie können wir dem Anliegen von Merleau-Ponty, der Dimension unserer leiblichen Existenz zwischen Subjekt und Objekt und zugleich dem wissenschaftlichen Erkennen gerecht werden? Hierzu werden wir uns dem von Husserl vorgeschlagene Konzept der Lebenswelt zuwenden. Es geht hier also um die Frage des Verhältnisses der Wissen ausgehen können, dann ist es in einer offenen Wirklichkeit sogar unmöglich, von dem verbleibenden, unendlichen »Rest« zu sprechen. Denn hierüber, was und wie der »Rest« beschaffen ist, können wir schlechterdings keine Aussagen machen. Vgl. Popper 1963: 38.

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III. Vertiefungen

Lebenswelt zu den Wissenschaften. In diese Richtung weist auch Mutschler, indem er fordert: »Eine Phänomenologie der Natur müsste zeigen, inwieweit die lebensweltliche Einstellung zur Natur primär ist und inwiefern alles experimentelle Herrichten sekundär auf dieser Einstellung aufruht.« 2 Bei aller Betonung von Lebenswelt, Atmosphäre und Gefühl, eines ist deutlich: Der Ansatz des phänomenologischen Realismus führt nicht zu einer neuen Theorie der Unmittelbarkeit, er ist kein Versuch, einen Identitätsort zu definieren, von dem aus die Welt neu zu deuten sei. Alles bleibt eingespannt zwischen den Extremen Subjekt und Objekt und gerät dadurch in eine gewisse Schwebe. Dies gilt auch für die Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre). Die Betonung von Gefühl und Atmosphäre führt weiterhin nicht zu einer Abkehr von Argumenten und verlässt nicht den Anspruch eines vernunftorientierten Diskurses. Auch hierin folgen wir Merleau-Ponty, der auf die Frage, ob seine Position nicht nur gelebt statt gelehrt werden könne, antwortete: »Ich meinte, beiläufig jene Vorstellung angedeutet zu haben, dass die Beschreibung keine Rückkehr zum Unmittelbaren ist: Man kommt dadurch nicht zum Unmittelbaren zurück. Es geht nur darum, ob man sich vornimmt, es zu verstehen. Mir scheint, dass die Suche nach einem Ausdruck des Unmittelbaren keinen Verrat an der Vernunft darstellt, sondern im Gegenteil zu ihrer Erhöhung beiträgt.« 3

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Mutschler 2002: 60. Merleau-Ponty 2003 (2): 59.

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8. Die Frage nach der Wahrheit: die Theorie des Internal Realism von Hilary Putnam

Das philosophische Nachdenken war immer schon von dem Bestreben bestimmt, Irrtümer und Täuschungen über die Welt und die Situation des Menschen in ihr zu beseitigen. In den Arbeiten von Descartes und von Dennett steht dieser Wunsch im Mittelpunkt: Täuschungen sollen durch eine strenge Orientierung an Methoden ausgeschlossen werden. Der Ansatz des phänomenologischen Realismus, den wir hier vertreten, hat jedoch von Beginn an eine sehr weite Methode gewählt und mehrere Erscheinungsweisen zugelassen, ohne diese auf eine einzige und normative zurückführen zu können. Mit der Diskussion von Täuschungen und Irrtümern ist die Frage nach der Wahrheit verbunden. Descartes noch konnte auf die klassische Form der Wahrheitsbestimmung zurückgreifen: Wahr ist die Übereinstimmung einer Vorstellung mit der Sache, adaequatio rei et intellectus. Doch mit unserem leiborientierten Ansatz, der die Wirklichkeit von »innen« erkundet, fällt die Möglichkeit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit. Denn anders als im Dualismus gibt es keine zwei in sich geschlossenen Sphären mehr, die auf einander bezogen werden könnten. 1 Wie können wir dennoch einen Anspruch aufrechterhalten, dass Wahrheit und Irrtum unterschieden werden können? Denn sollte diese Unterscheidung nicht mehr möglich sein, dann ließen sich beliebige Dinge über die Wirklichkeit sagen. Müssen wir folgern, dass jede Erscheinungsweise wahr ist, einfach nur, weil sie erscheint? Ist etwa der gebogen erscheinende Löffel im halbvollen Wasserglas auch in Wahrheit ein gebogener Löffel?! Offenkundig sind auch leicht zu durchschauende Täuschungen Teil einer Erscheinungsweise der Wirklichkeit. Auch innerhalb des Ansatzes eines phänomenologischen ReaAus den bisherigen Ausführungen ist deutlich, dass man nicht die Erscheinungsweisen, etwa die als Gedanke und die als Ding, direkt aufeinander beziehen kann, denn entweder erscheint das eine oder das andere, nie aber beides zugleich. Sie sind beide Erscheinungsweisen der einen Wirklichkeit und nicht zwei selbständige Mengen. Die Erscheinungsweisen sind keine feststehenden Größen, sondern bestehen aus dem, was sich je und je zeigt.

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8. Die Theorie des Internal Realism von Hilary Putnam

lismus müssen wir also die Differenz zwischen Wahrheit und Irrtum beschreiben können. Nicht alles, was erscheint, ist, nur weil es erscheint, deshalb auch wahr. Das Erkennen, das die Endlichkeit und das Beteiligtsein des Erkennenden berücksichtigt, hat aber keine Möglichkeit, ein »Original« jenseits der Erscheinungsweise, ein »an sich« als Korrektiv zu erschließen. Damit gibt es auch kein unabhängiges normatives Kriterium mehr dafür, welches Phänomen wahr ist. Die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum kann sich nur innerhalb der Erscheinungsweisen der Wirklichkeit selbst erweisen. Phänomene der Wirklichkeit können sich im ständigen Vermittlungsprozess von Handeln, Sprechen und Wahrnehmen bewähren oder sie können scheitern. Eine lebendige Kultur, die in der Lage sein will, neue Einsichten zu verarbeiten, wird darum einen kontinuierlichen Diskurs über die Wahrheit von Aussagen führen müssen. Es ist unter diesen Bedingungen geradezu ein Krisenphänomen kultureller Entwicklung oder von Teilbereichen der Kultur, wenn das Ringen um den wahren Ausdruck an Intensität nachlässt und eine Vielzahl unvereinbarer Behauptungen zugleich möglich sind. Das gilt insbesondere auch für jene Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus, für die sich nicht leicht ein angemessener Ausdruck finden lässt. Wenn man hier Nachlässigkeit walten lässt, weil sie angeblich nicht so wichtig ist gegenüber den Erscheinungsweisen mit ausgeprägten Ordnungen, dann ist eine Krise der Kultur die Folge. Dies geschieht etwa dann, wenn die Wissenschaft ihre lebensweltliche Einbindung vergisst oder diese für irrelevant einschätzt. Aus unserer bisherigen Darstellung der Bedingungen des endlichen, leibgebundenen Erkennens lässt sich bezüglich der Frage nach der Wahrheit schon vor einer genaueren Untersuchung eine Vermutung aussprechen. Die Wirklichkeit zeigt sich in Erscheinungsweisen, von denen wir drei besonders ausgezeichnet haben: die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke, als X (Atmosphäre) oder als Ding. Es ist zu erwarten, dass die Kriterien für Wahrheit von Erscheinungsweise zu Erscheinungsweise differieren werden. Das führt nun nicht zu einer Beliebigkeit, denn die Kriterien sind in den Erscheinungsweisen jeweils wohlbegründet. Um die Diskussion der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum genauer untersuchen zu können, wollen wir uns dem Philosophen Hilary Putnam zuwenden, der in der Theorie des internal realism der Frage nach der Wahrheit unter ähnlichen Bedingungen nachgegangen 339 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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ist, wie wir sie gerade skizziert haben. Diese Theorie ist in manchen ihrer Grundannahmen unserem Ansatz, dem auf die Untersuchungen von Merleau-Ponty zurückgehende Version des phänomenologischen Realismus, sehr ähnlich. Wir wollen in der Darstellung in drei Schritten vorgehen. Zunächst soll gezeigt werden, was Putnam bewogen hat, innerhalb der Diskussion der analytischen Philosophie zu dem Konzept des internal realism überzugehen. Im Zentrum dieser Diskussion steht eine bestimmte Auffassung der Bedeutung eines Begriffs. Weiterhin werden dann einige wichtige Charakteristika dieses Konzepts dargestellt, die die Nähe zu der Theorie des endlichen Erkennens zeigen. Aufgrund dieser Nähe soll darauf der Umgang Putnams mit der Wahrheitsfrage dargestellt werden, die eine Grundlage für das Wahrheitsverständnis in dem hier vertretenen Ansatz bieten kann.

1.

Das Konzept des Internal Realism

Die Theorie des internal realism weist in manchen Grundannahmen strukturelle Parallelen zu dem hier vorgestellten Ansatz auf, obwohl Putnam sich in seinen Schriften auf eine ganz andere Denktradition bezieht, nicht auf die phänomenologischen Traditionen, sondern auf die der analytischen Philosophie. Hilary Putnam hat die Theorie des internal realism gegen eine verbreitete Vorstellung eines Gegenübers von wissenschaftlicher Beschreibung und dem Beschriebenen vorgeschlagen und damit auch gegenüber seinen eigenen früheren Theorieentwürfen eine Kehrtwende vorgenommen. Bekannt geworden war Putnam zunächst durch entscheidende Beiträge zur Entwicklung der Theorie des Funktionalismus. Nachdem Putnam diese Theorieentwicklung lange Zeit maßgeblich befördert hatte, widersprach er mit der Entwicklung des internal realism seiner früheren Position deutlich. Das Hauptproblem, aufgrund dessen er die Annahmen des Funktionalismus schließlich fallen ließ, war die Einsicht, dass sich die Bedeutung von Sätzen und Begriffen nicht eindeutig durch interne Strukturen innerhalb einer Sprache festlegen lässt. Wenn man eine eigenständige Sphäre des Denkens, der Sprache als Gegenüber zur Welt annimmt, dann ist es nach Putnam völlig unklar, wie ein eindeutiger Bezug zwischen beiden Seiten hergestellt werden kann. Ein Konzept, das zwei Sphären gegenüberstellt, etwa das Bewusstsein, dem möglich ist, Begriffe und Vorstellungen zu bilden, und die Dinge, auf die sich die Be340 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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griffe und Vorstellungen beziehen sollen, ist für ein Wahrheitskonzept der Korrespondenz darauf angewiesen, dass es eine exakte Beziehung zwischen den beiden Sphären gibt. Wenn diese Beziehung uneindeutig ist, kann man nicht mehr entscheiden, ob eine Aussage im Bewusstsein über die Dinge der Wahrheit entspricht oder nicht. Wenn jemand über den Sachverhalt A behauptet, er sei mit dem Begriff a gemeint, dann kann man die wahre Behauptung aufstellen »a existiert«, wenn A tatsächlich existiert. Ein Problem entsteht dann, wenn a sich genauso gut auf B, C, D beziehen könnte, wenn also das Verhältnis von a zu A nicht eindeutig ist. 2 Was bedeutet dann noch die Behauptung »a existiert«? »a existiert« meint dann, dass entweder A ist, oder aber auch B oder C usw. Dann wird der Inhalt der Behauptung »a existiert« diffus und unbestimmt. 3 Wenn nun keine eindeutige Beziehung zwischen einem Behauptung und einer Sache, auf diese sich bezieht, sichergestellt werden kann, dann ist auch eine Wahrheitstheorie in Gefahr, die auf dem Korrespondenzprinzip beruht. Die Festlegungen, die intern, das heißt innerhalb eines Bewusstseins oder innerhalb einer Sprache oder innerhalb der Prozeduren eines Computers getroffen werden, lassen die Bedeutung einzelner Begriffe immer unterbestimmt sein: Man kann sich stets mehrere externe Sachverhalte vorstellen, auf die auch eine möglichst exakt definierte Bedeutung zutrifft. Putnams Ausgangsfrage ist also, wie die Bedeutung von Begriffen bestimmt werden kann. Sein Vorschlag des internal realism versucht nun, den geschilderten Missstand dadurch zu beheben, dass er die Auffassung von Bedeutung ändert. In der klassischen Auffassung ist die Bedeutung eines Begriffes bestimmt durch seine Relation auf die gemeinte Sache. Bedeutung ist also die Beziehung zweier unabhängiger Größen, des Begriffes und der Sache. Nun folgert Putnam für den internal realism, dass die Bedeutung nicht etwas sei, das sich allein im

Putnam wählt zur Darstellung der Uneindeutigkeit diese Variante, er bezieht das Wort Wasser auf H2O und zugleich auf XYZ. Doch auch umgekehrt ist keine Eindeutigkeit gegeben: Es gibt immer mehrere Theorien, die einen bestimmten Sachverhalt zum Ausdruck bringen können, also A kann in anderen Theorien ebenso durch b,c, oder d beschrieben werden. 3 Eine ausführlichere Diskussion der Problematik der Herstellung eines eindeutigen Bezugs durch den Wahrheitsgehalt von ganzen Sätzen bietet Putnam 1990: 54 ff. »Quine weist – ebenso wie wir – darauf hin, das der Bezug durch Wahrheitsbedingungen für ganze Sätze unterbestimmt bleibt.« A. a. O.: 57. 2

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Kopf abspielt: »Bedeutungen sind, im Gegensatz zu einer seit dem 17. Jahrhundert obwaltenden Theorie nicht im Kopf.« 4 Diese Behauptung stützt Putnam unter anderem mit seinem Argument der Zwillingserde: 5 Man kann sich ohne Widerspruch eine Zwillingserde denken, in der im Vergleich mit der Erde alles identisch ist, insbesondere gibt es dort auch denkende und redende Menschen, in der es jedoch eine einzige Abweichung gibt, nämlich die, dass dort, auf der Zwillingserde, das Wasser nicht aus H2O besteht, sondern aus einer anderen, in seinen sonstigen Eigenschaften aber dem Wasser völlig gleichen chemischen Substanz XYZ. Welche Bedeutung hat nun das Wort »Wasser« auf der Zwillingserde? Wenn man sagt, dass die Bedeutung des Wortes »Wasser« auf der Erde und auf der Zwillingserde sich nicht unterscheiden, dann nimmt man in Kauf, dass der Begriff »Wasser« keine eindeutige Relation zu den Dingen hat. Wenn man aber festhält, und Putnam tut das, die Bedeutung des Wortes sei unterschiedlich, denn einmal bedeute es H2O und einmal XYZ, dann zeigt das kleine Gedankenexperiment, dass die Bedeutung des Wortes »Wasser« nicht eindeutig durch seine sprachinternen Bestimmungen festgelegt werden kann, denn diese unterscheiden sich ja auf beiden Planeten nicht. Die Bedeutung kann erst dann eindeutig bestimmt werden, wenn man nicht nur auf das achtet, was »im Kopf« ist, also auf die Begriffe und deren sprachlicher Bestimmung, die auf beiden Planeten identisch sind, sondern auch den Gegenstand selbst, auf die er sich bezieht. Dann aber wird deutlich, dass die Begriffe nicht in der Lage sind, etwas eindeutig abzubilden, sondern dass die Bedeutung der Begriffe nur dann eindeutig wird, dass man sie und das, worauf sie sich beziehen, in die Betrachtung mit einbezieht. Wir stehen also nicht einer Welt gegenüber, die unabhängig von uns Eigenschaften hat und wir versuchen, die Eigenschaften so gut es geht sprachlich abzubilden, vielmehr ist das, was wir als Welt erfahren können, niemals unabhängig von dem, wie wir sie erfahren. Es macht also keinen Sinn, die Welt sich in einem Zustand des »an sich« vorzustellen und zu meinen, wir könnten dieses »an sich« in unseren Begriffen eindeutig abbilden und die Übereinstimmung zwischen beiden Seiten würde über die Wahrheit entscheiden. Das führte Putnam dazu, das Konzept der zwei Sphären, Putnam1990: 37. Diese Aussage ähnelt sehr der Einstellung, die wir schon bei Mead kennen gelernt haben. 5 Putnam 1991: 72. 4

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also der Sprache, dem Bewusstsein oder der künstlichen Intelligenz auf der einen Seite und der Welt, über die eine Aussage gemacht wird, auf der andern Seite zu verwerfen und dagegen ein Konzept der Wirklichkeit zu entwickeln, dass nicht von einem Gegenüber geprägt ist, sondern von internen Bezügen, dem internal realism. Wie kann man diese Erkenntnisse mit dem Schema des Chiasmus in Verbindung setzen? Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, insbesondere die als Gedanke und die als Ding, können nicht aufeinander bezogen werden, so dass die Bedeutung der Begriffe, die als Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke aufgefasst werden, sich durch eine eindeutige Relation auf die Dinge in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding beziehen. Das würde eine Vorstellung von Wirklichkeit voraussetzen, in der die Gedanken in einer übergeordneten, über das Schema des Chiasmus hinaus gehenden Struktur sich auf die Dinge zu beziehen müssten. Über diese Struktur können wir aber unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus keine Rechenschaft ablegen. Es müsste in spekulativer Weise angenommen werden, es gäbe eine solche Größe, die mit Eindeutigkeit die Beziehung zwischen den Gedanken und den Dingen regelt. Doch das Gedankenexperiment von Putnam geht noch darüber hinaus. Es besagt ja nicht nur, dass wir über eine solche Beziehung keine Rechenschaft ablegen können, sondern auch, dass es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass sie nicht existiert. Wir sahen aber schon, dass das Sprechen als Medium sowohl die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke wie auch die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding prägt. Die von Putnam aufgestellte Behauptung trifft nun auf die Erscheinungsweise als Ding zu. Die Bedeutung von Begriffen als Teil der Sprache ist tatsächlich nicht im Kopf, denn sie konstituiert Wirklichkeit. Sie ist auch der Wirklichkeit nicht gegenüber, sondern ist eben Teil der Sphäre, auf die sie sich bezieht. So lässt sich auch der berühmte Satz von Wittgenstein interpretieren: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in einer Sprache.« 6 Die Sprache konstituiert die Wirklichkeit auch in dieser Erscheinungsform und der handelnde, orientierende Umgang mit den Dingen ist immer auch durch das Medium des Sprechens bestimmt. So hat ein Begriff in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding eine Bedeutung, ohne dass es eine Abbildung 6

Kenny 1989: 182.

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zwischen zwei Mengen gäbe. Wie sollen wir aber nun in der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding ein Wort identifizieren? Das geht nicht direkt. Sprechen konstituiert beide Erscheinungsformen, also auch die Erscheinungsform der Wirklichkeit als Gedanke. Ein Satz kann also sowohl in der einen wie auch in der anderen Erscheinungsweise sich zeigen. 7 In der Erscheinungsweise als Gedanke ist ein Wort, etwa das Wort »Baum«, als Wort bzw. als Begriff zu erkennen. Hier können wir den Begriff mit anderen Begriffen vergleichen und ihn »sprachintern«, wie Putnam formuliert, zu präzisieren versuchen. Die Unterscheidung der Sprache in den beiden Erscheinungsformen korrespondiert mit der Unterscheidung von Intensionalität und Extensionalität. 8 Wenn ein Satz, etwa: »Wasser ist eine klare Flüssigkeit.«, Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke ist, dann kann man ihn in seiner syntaktischen Struktur analysieren, man kann nach der semantischen Bedeutung der Begriffe fragen, die in ihm Verwendung finden. Diese semantische Festlegung, die Definition des Wortes durch den Bezug zu anderen Wörtern innerhalb von Satzstrukturen entspricht der »Intension« eines Begriffes. In Putnams Beispiel ist dies etwa die Definition von »Wasser« über eine Vielzahl von Sätzen: »… ist eine klare Flüssigkeit«, »… gefriert bei 0 Grad Celsius.« usw. Doch unabhängig von der Zahl der Sätze und Begriffe, die man hinzunimmt, um die Eindeutigkeit des Begriffs »Wasser« zu erreichen, man wird nicht ans Ziel kommen, denn all diese Spezifikationen kann man ja auch auf XYZ übertragen. Man kann also auf diese Weise die Bedeutung eines Begriffs nicht eindeutig bestimmen, wie wir in dem Argument von Putnam gesehen haben. Ist der Satz dagegen Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding, so weist dies auf die »Extension« des Begriffes. Da aber nach unserer Analyse auch hier der Begriff sich nicht auf etwas Unabhängiges bezieht, sondern konstitutiver Bestandteil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding ist, kann auch hier keine Beziehungsregel oder Eindeutigkeit erreicht werden. Vielleicht wird man eines Tages darauf stoßen, dass verschiedene Arten des Wassers neben der Tatsache, dass es sich jeweils um H2O handelt, sich in einer grundlegenden Eigenschaft unterscheiden. Dann wird man wohl dazu übergehen, die Begriffe zu differenzieren. Vgl. das Beispiel des Ausrufs »Der Baum ist 3 Meter hoch!« in Kapitel 6.3. Hierzu gibt es eine breite, von Carnap angestoßene Diskussion, vgl. zum Beispiel Searle 2006: 187 f.

7 8

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Charakteristika der Wirklichkeit im Internal Realism

2.

Charakteristika der Wirklichkeit im Internal Realism

Wie beschreibt Putnam das Konzept des internal realism? Er legt Wert auf die Feststellung, dass es keine Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit, die interne Realität, von einem privilegierten Ort aus zu betrachten. »Es gibt keinen Gottesgesichtspunkt (God’s eye point of view im Original, FV), den wir kennen oder uns mit Nutzen vorstellen könnten, sondern nur die verschiedenen Gesichtspunkte tatsächlicher Personen (…).« 9 Nur mitten in der Wirklichkeit können wir uns daran machen, die Wirklichkeit zu erforschen. Bei einer solchen Erzählung, die den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit zu beschreiben, wie sie im Ganzen sei, ist zu fragen: »Denn: Von wessen Gesichtspunkt wird die Geschichte eigentlich erzählt? Offenbar nicht vom Gesichtspunkt eines der fühlenden Geschöpfe in dieser Welt.« 10 Putnam verwirft so die von uns zu Anfang bezeichnete Vorstellung einer Außenperspektive auf die Wirklichkeit. Diese kann nur von innen her, mit bestimmten partikularen Erkenntnissen entdeckt werden. Der internal realism ist aber nach wie vor ein Realismus, das heißt Putnam verwirft zwar die Vorstellung, es gäbe eine Welt an sich, die wir in unseren Theorien abbilden, aber er lässt dennoch nicht alles reine Konstruktion sein: »Der Internalismus ist kein seichter Relativismus mit der Parole ›Alles ist möglich‹. (…) Wäre jemand wirklich von der Meinung überzeugt und närrisch genug, sich ein Begriffssystem auszusuchen, das besagt, er könne fliegen, und würde dann entsprechend handeln, indem er aus dem Fenster springt, so würde er die Schwäche der letzteren Ansicht rasch erkennen – falls er das Glück hat, zu überleben.« 11 Doch rechnet der internal realism nach Putnam damit, dass alles, was wir über die Wirklichkeit erfahren können, immer auch durch die Begriffe und Methoden geprägt ist, mit denen wir die Wirklichkeit untersuchen. Objekte, die wir untersuchen, werden ebenso gemacht, wie wir sie finden, sie sind ebenso Erzeugtes wie auch Entdecktes. »Unabhängig von Begriffsschemata existieren keine ›Gegenstände‹.« 12 Putnam sucht sich einen Mittelweg zwischen den Extremen, »mein laufendes Projekt der Bahnung eines dritten Weges (des ›internen Realismus‹) Putnam 1990: 76. Ibid. 11 A. a. O.: 81. 12 A. a. O.: 78. 9

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zwischen den klassischen Strömungen des Realismus und des Antirealismus.« 13 Die Einsichten Putnams lassen sich mit dem Schema des Chiasmus in Beziehung setzen. Hier gilt, dass die Wirklichkeit als eine Verschränkung von Bewusstsein* und Ding* zu verstehen ist, wir können sie weder als eine Konstruktion eines wie auch immer gearteten Bewusstseins reduzieren noch auf eine vorgegebene Welt der wie auch immer gearteten Dinge. Die Verschränkung lässt sich ihrerseits nicht einholen, man kann keine Rechenschaft darüber ablegen, in welcher Weise beide Seiten an der Genese der Wirklichkeit Anteil haben. Möglich ist nur eine Untersuchung innerhalb der Erscheinungsweisen und hypothetische Zuordnungen der Erscheinungsweisen im Schema des Chiasmus. Die Metapher des dritten Weges ist uns darüber hinaus nicht unbekannt, sie lässt die Vorstellung der dritten Dimension anklingen, die Merleau-Ponty mit seinem Leibansatz zu erschließen versuchte. Es gibt weitere konzeptionelle Übereinstimmungen. Wenn man den Grundaussagen des internal realism folgt, dann fallen fundamentale Grenzen in den Vorstelllungen von der Wirklichkeit weg. Statt dominanter Dichotomien bietet auch der internal realism kontinuierliche Übergänge. 14 Putnam erläutert an einer Stelle den Übergang zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven genauer. 15 Hier sind die Begriffe in dem ersten Sinne der Unterscheidung von Kapitel 5.4. gemeint, Subjekt und Objekt bringen das Verhältnis des Gegenübers im Erkennen zum Ausdruck. Putnam erläutert den Übergang anhand der Betrachtung von Eigenschaften, die Elementen der Wirklichkeit zugeschrieben werden können. Er zeigt, dass diese Eigenschaften nicht einfach strikt einer Zweiteilung von subjektiv und objektiv genügen, sondern dass sie einem graduellen Wandel folgen. 16 Die Beispiele ordnet Putnam in einer Skala, in der er sich genau der graduellen Veränderung bedient, die auch das Schema des Chiasmus nahe legt, von mehr subjektiv zu Putnam 1991: 188. Drei große Dichotomien benennt er zu Beginn seiner Untersuchung »Vernunft, Wahrheit und Geschichte«: die Dichotomie zwischen objektiv und subjektiv, die zwischen einer unhistorischen Rationalität und einem Kulturrelativismus und die Dichotomie zwischen Fakten und Werten. Vgl. Putnam 1990, 10 ff. 15 Vgl. Putnam 1995: 27. 16 »(…) philosophers often take perfectly sensible continua and get in trouble by trying to convert them into dichotomies. Consider, for example, the continuum between relatively ›subjective‹ (or, at least, interest- and culture-relative) and relatively ›objective‹ (or, at least, interest- and culture-independent).« Ibid. 13 14

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mehr objektiv: amüsiert sein / eine Aussage, die eine vergangene Möglichkeit betrifft / die Bedeutung einer situationsbezogenen Aussage / Löslichkeit als Eigenschaft einer Substanz / die Aussage, das etwas Wasserstoff enthält. Es ist nun möglich, den Eigenschaften und Aussagen ein »mehr oder weniger« an Subjektivität oder Objektivität zuzusprechen, doch ist es nicht möglich, eine absolute Grenze zu ziehen. Putnam sieht in dem dichotomen Weltbild nicht nur eine unhaltbare philosophische These. Er ist auch der Ansicht, dass diese Sichtweise auf die Wirklichkeit den Betrachter daran hindert, die Wirklichkeit in ihrem ganzen Reichtum zu erkennen. »Wenn ich die Dichotomien, die ich ausgewählt habe, ablehne, ist dem nicht so, weil ich ihre intuitive Überzeugungskraft nicht wahrnehme oder weil die intuitive Überzeugungskraft in meinen Augen nicht zählt. Es ist eher so, weil diese Dichotomien so etwas wie störende Sehlinsen sind, die eher verhindern, dass wir die wirklichen Phänomene – die Phänomene, die ich beschrieben habe – in ihrem vollem Umfang und Bedeutung sehen.« 17 Diese Bemerkung kann und sollte zu einer programmatischen Einsicht werden und auch wir haben ja versucht, der konventionellen »Sehstörung« entgegen zu arbeiten. Die Abkehr von einem »externen Realismus« und die Hinwendung zu einer Vorstellung von Wirklichkeit, die nicht von Brüchen und substantiellen Grenzen, sondern von fließenden Übergängen geprägt ist, kann als eine Voraussetzung dafür gesehen werden, die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, in all ihren Schattierungen und Nuancierungen angemessener wahrnehmen zu können. Wie wir gesehen haben, bleiben Erscheinungsformen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Jedoch sind diese Erscheinungsformen nicht fixiert, sie wandeln sich kulturell und in der Biographie. Die Wirklichkeit besteht nicht aus einer starren Zweiteilung von puren Fakten und ihrer Bewertung, sondern immer schon aus einem Gemisch, das sich bei je unterschiedlichen Methoden je unterschiedlich zeigt.

3.

Zur Wahrheitsfrage

Putnam beschäftigt sich nun insbesondere auch mit der Frage, welche Theorie der Wahrheit innerhalb eines Konzeptes des internal realism möglich ist. Offenkundig ist die klassische Auffassung, die von der 17

Putnam 1995: 30 (eigene Übersetzung).

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Korrespondenz zwischen der Aussage und dem Gegebenen ausgeht, ausgeschlossen. Zugleich mit der Vorstellung eines Gegenübers zweier Sphären fällt auch die Möglichkeit, Wahrheit als die Übereinstimmung zwischen einer Behauptung und einer Tatsache zu denken. Wann kann man also einer Aussage über die Wirklichkeit einen Wahrheitswert zusprechen? Führt die Eliminierung des Gegenübers nicht zu einem völligen Verlust, wahre von unwahren Aussagen zu unterscheiden? Wird dann nicht einer relativistischen Position Tor und Tür geöffnet, der gemäß viele Kriterien vielleicht angeführt werden können, warum eine Aussage eher als wahr gelten sollte als andere, es aber kein allgemeingültiges und verpflichtendes Kriterium mehr gibt, das wahre von unwahren Aussagen unterscheiden kann? Putnam lehnt diese Konsequenz ab.

A.

Gegen einen Relativismus

Die Argumente gegen relativistische Positionen, etwa der Hinweis, die Erde sei nun einmal nicht flach oder der Hinweis, eine Aussage wird auch nicht wahrer, wenn es oft wiederholt wird, lässt Putnam gelten. »Dies zeigt meiner Meinung nach nicht, dass die externalistische Ansicht schließlich doch richtig ist, sondern dass Wahrheit eine Idealisierung der rationalen Akzeptierbarkeit ist.« 18 Das, was wir angesichts der Wirklichkeit, wie sie beschaffen ist, tun können, ist eine bestmögliche Theorie zu entwickeln, die mit den unterschiedlichen Erfahrungen über die Wirklichkeit weitestgehend übereinstimmt. Damit setzt sich Putnam von relativistischen Positionen ab und greift seinerseits etwa die Position von Richard Rorty an, weil sie im Leben nicht durchzuhalten und selbstwidersprüchlich sei. 19 Wir sollten nach Putnam so tun, als gäbe es die eine, wahre Theorie von der Wirklichkeit, die eine Perspektive, in der sich alles in einer einzigen konsistenten Darstellung gezeigt werden kann. Diese Theorie können wir jedoch sub conditione humana nie erreichen und wir sollten uns dieser entscheidenden Differenz auch immer bewusst sein. Selbst die Kriterien für Wahrheit wie rationale Akzeptierbarkeit sind nicht absolut, die Suche nach ihnen ist allerdings nach Putnam auch nicht einfach relativ und austauschbar. 18 19

Putnam 1990: 83. Vgl. Putnam 1992: 71.

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Zur Wahrheitsfrage

Stets geht es um eine Gradwanderung zwischen einem relativistischen Skeptizismus auf der einen und dem starren Dogmatismus auf der anderen Seite. Die Kriterien für Wahrheit sind Teil unserer kulturrelativen Konzeption von Wirklichkeit, aber damit weisen sie auf etwas Reales. »Sie beschreiben eine Art von Objektivität – etwas, das für uns Objektivität ist –, auch wenn es nicht die Objektivität des Gottesgesichtspunktes ist.« 20 Wir können als Menschen keine ewige Wahrheit reklamieren und doch sind wir immer wieder mit allem Ernst zur Feststellung von Wahrheit aufgerufen. Mit dieser Haltung können wir die Erfahrungen der Wirklichkeit besser ordnen und versuchen, sie in einem konsistenten Zusammenhang darzustellen, ohne zu erwarten, eine umfassende Wahrheit jemals zu erreichen. Die Theorie der Wahrheit fungiert mithin wie eine Leitidee des Forschungsprozesses, als Ideal der Erkenntnisprozesse. Da diese Vorstellung von Wahrheit eine nicht zu schließende Offenheit besitzt, können auch die Kriterien für Wahrheit, also die rationale Akzeptierbarkeit keinen absoluten Status beanspruchen. Die Vorstellungen von Wahrheit und rationaler Akzeptierbarkeit bedingen sich wechselseitig. 21 Es gibt nicht nur eine Abhängigkeit der Wahrheit von der rationalen Akzeptierbarkeit, auch das Umgekehrte gilt. Das, was rational akzeptierbar ist, muss sich an der Vorstellung der Wahrheit und unserem Streben nach ihr messen lassen. Putnam nimmt dabei folgende Bestimmung von Wahrheit vor: »›Wahrheit‹ ist nach internalistischer Auffassung so etwas wie (idealisierte) rationale Akzeptierbarkeit – so etwas wie ideale Kohärenz unserer Überzeugungen untereinander und in Bezug auf unsere Erfahrungen entsprechend der Darstellung dieser Erfahrungen in unserem Überzeugungssystem (…).« 22 Die Definition von Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit ist also zweiteilig. Zum einen wird die Kohärenz der Überzeugungen gefordert, zum anderen die Übereinstimmung mit den Erfahrungen. Nach dem Gesagten gilt selbstverständlich, dass die Erfahrungen ihrerseits nicht unabhängig von den Überzeugungen sind, wenn sie auch nicht in rein konstruierte Überzeugungen aufgehen. Diese Zweiteilung legt Putnam auch an anderer Stelle nah, dort nennt er sie die beiden Schlüsselideen einer Idealisierungstheorie von Wahr20 21 22

Putnam 1990: 82. Vgl. Putnam 1991: 203. Putnam 1990: 75.

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heit: »(1) Wahrheit ist hier und jetzt unabhängig von Rechtfertigung, aber nicht unabhängig von jeglicher Rechtfertigung. Behauptet man, eine Aussage sei wahr, so behauptet man damit, sie lasse sich rechtfertigen. (2) Es besteht die Erwartung, dass die Wahrheit stabil bzw. ›konvergent‹ ist. Lässt sich eine Aussage wie auch ihre Negation ›rechtfertigen‹, obwohl die Umstände so ideal sind, wie man sie sich nur erhoffen kann, dann hat es keinen Sinn zu glauben, die Aussage habe überhaupt einen Wahrheitswert.« 23 Wahrheit lässt sich also aus den Erfahrungen rechtfertigen und wahre Aussagen müssen zueinander in einem kohärenten Zusammenhang stehen. Damit ist der Relativismus, die Annahme, dass beliebige Aussagen unter günstigen Bedingungen als wahr qualifiziert werden können, abgewehrt, ohne auf die Vorstellung eines absoluten Gegebenen, einer reinen Objektivität zurückgreifen zu müssen. Aus der bisherigen Definition kann man die folgende Erkenntnis ableiten: Wenn sich Wahrheit an Kohärenz bemisst, müssen es mindestens zwei Aussagen sein, die zueinander in einem Verhältnis stehen. Wenn sich Wahrheit durch Bewährung zeigt, muss es eine Interaktion geben, damit sich überhaupt etwas bewähren kann. Wahrheit ist in diesem Sinne keine absolute Größe eines gegebenen Phänomens, sondern eine, die sich in Kontexten und Strukturen zeigen muss. Ich möchte in den folgenden Betrachtungen die beiden Kriterien auf die Erscheinungsweisen in dem Schema des Chiasmus beziehen.

B.

Das Wahrheitskriterium der Bewährung

Das Wahrheitskriterium der Bewährung bezieht sich auf die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. Die Dinge, die sich uns zeigen, müssen sich in den jeweiligen Handlungs- und Wahrnehmungskontexten bewähren. Wenn wir mit einer Kathode ein Elektron frei setzen, dessen Bewegung durch elektrische Felder beschleunigt und durch magnetische Felder abgelenkt wird und dessen Spur schließlich in einer Nebelkammer sichtbar gemacht wird, so bewährt sich das Ding Elektron in unseren Handlungskontexten, die sich in Versuchsanordnungen manifestieren. Mit dem Wort Elektron bezeichnen wir die Entität, deren Bahn in der Nebelkammer sichtbar wurde. Die Wahrheit der Existenzaussage von Dingen, die in spezifischen Handlungskontexten 23

A. a. O.: 83.

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Zur Wahrheitsfrage

erscheinen, kann dadurch geprüft werden, dass man sie in modifizierten Handlungskontexten untersucht. Bewährung geschieht also in einem Handlungs-, in einem Wahrnehmungs-, und in einem Sprachkontext. Die Wirklichkeit zeigt sich in der Erscheinungsform des Dings durch unsere Interaktion. Dabei gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Theorie und den Handlungen. Handlungen sind von theoretischen Annahmen über die Wirklichkeit bestimmt und zugleich müssen sich die theoretischen Aussagen immer wieder in Handlungskontexten bewähren. Nehmen wir ein Beispiel: »Elektronen sind negativ geladene Teilchen.« Diese Aussage entspricht der geläufigen Theorie über Elementarteilchen, die man in methodisch gestalteten Handlungskontexten, den Experimenten, überprüfen kann. Wir können versuchen, diese Behauptung zu widerlegen, indem wir etwa untersuchen, ob ein Elektron vielleicht doch nicht von seiner Bewegungsrichtung abgelenkt wird, wenn seine Bahn durch ein elektrisches Spannungsfeld führt. Das Elektron als Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding zeigt sich durch eine bestimmte Bahn in der Nebelkammer. Die Bewährung geschieht, indem das Experiment in erwarteter Weise abläuft. So ist es auch möglich Täuschungen zu beseitigen. Wenn wir den Eindruck haben, ein Löffel in einem halbvollen Wasserglas sei gebogen, so können wir das überprüfen, indem wir den Löffel aus dem Glas ziehen. Jedoch ist das Kriterium der Bewährung durch eine gravierende Einschränkung bestimmt. Wohl können wir die Versuchsanordnungen variieren und immer wieder auf methodisch kontrollierte Weise überprüfen, ob sich die Dinge, die sich zeigen, so verhalten, wie wir es von ihnen erwarten. Doch kann damit nie ein vollständiges und endgültiges Urteil getroffen werden. Einerseits kann es möglich sein, dass eines Tages sich das Teilchen in einem Versuch doch anders verhält, als vorhergesagt, andererseits ist es immer auch möglich, das Teilchen mit einem anderen theoretischen Hintergrund zu beschreiben und ihm dadurch eine andere Identität zu geben. Die Dinge, die sich zeigen, lassen sich nicht eineindeutig auf eine bestimmte Theorie beziehen.

C.

Das Wahrheitskriterium der Kohärenz

Eine Aussage können wir immer auch als einen Teil einer Theorie werten. Dann ist diese Aussage Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke. Wir beurteilen nun die Aussage nach den Kriterien, 351 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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die für Theorien und Gedanken gelten, also vor allem nach den Regeln der Logik. Dann ist die Kohärenz mehrerer Aussagen gemäß der Regeln der Logik in ihren verschiedenen Verweisen zu prüfen. 24 Wenn wir zugleich etwa behaupten, dass ein Wasserstoffatom als Ganzes elektrisch neutral ist und unsere Theorie zudem behauptet, dass der Kern aus einem Positron mit einer positiven Ladung besteht, dann ist die Annahme, das Elektron habe eine gleich große negative Ladung mit den anderen Aussagen, kohärent. Die Kohärenz ist also die Art und Weise, wie die Aussagen einer Theorie zueinander in Beziehung stehen. Nach Putnam müssen nun beide Kriterien für die Wahrheit von Aussagen angewendet werden. Aussagen müssen empirisch bewährt sein und sie müssen zueinander einen kohärenten Zusammenhang bilden. Naturwissenschaftliche Aussagen müssen sich in beiden Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, der als Gedanke wie auch der als Ding bewähren. Wenn beides gegeben ist, dann ist eine Aussage über die Wirklichkeit rational akzeptabel. Es gibt allerdings auch Aussagen, die sich grundsätzlich nur in einem der Erscheinungsweisen bewähren können, das sind mathematische und logische Aussagen. Ihr Geltungsanspruch lässt sich in keiner Weise empirisch belegen, sie sind ausschließlich als mathematische oder logische Aussage Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke. Hier zeigt sich, dass es sehr wohl Aussagen über die Wirklichkeit gibt, die strengen Prüfkriterien unterworfen werden können und die sich von vagen Vermutungen deutlich unterscheiden.25 Hat man sich von der Fixierung auf die eine und einzig wahre Theorie gelöst, so kann es gelegentlich vielleicht sogar sehr produktiv sein, konkurrierende Theorien gleichermaßen ernst zu nehmen: »Weshalb sollte es nicht mitunter gleich kohärente, aber unverträgliche Begriffsschemata geben, die gleich gut zu unseren Erfahrungsüberzeugungen passen? Wenn Wahrheit keine (eindeutige) Übereinstimmung »Wahrheit wird im Sinne der Kohärenztheorie der Wahrheit in der Formulierung O. Neurarths so definiert: ›Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten, Aussagen konfrontiert. Richtig [= wahr] heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann wird als unrichtig abgelehnt.‹« Puntel 1993: 127 f. 25 Hierdurch hat die Logik in der analytischen Philosophie auch eine so große Attraktivität gehabt. Es bestand die Hoffnung, auf ihr Fundament eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit aufbauen zu können. Doch spätestens die Schwierigkeiten in einer Begründung der Logik ist auch dies befragungswürdiger geworden. 24

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Zur Wahrheitsfrage

ist, steht die Möglichkeit eines gewissen Pluralismus offen.« 26 Dieser Pluralismus ist wiederum bestimmt von Vorannahmen, die selbst nicht Teil der Theorie sind. Die Erkenntnisse der Bedingungen des internal realism führen dazu, dass »wir gezwungen sind, anzuerkennen, dass viele unserer vertrauten Beschreibungen (der Wirklichkeit, FV) unsere Interessen und Wahlentscheidungen reflektieren.« 27 Die Freiheitsgrade sind gegeben, denn die Wirklichkeit determiniert nicht unsere Aussagen über sie: »(…) wir haben anzuerkennen, dass so vertraute Aussagen wie die Aussage, dass ein verklemmtes Ventil den Druckkochtopf zur Explosion gebracht hat, beides widerspiegelt: die Art und Weise, wie Dinge sind und unsere Interessen und Vermutungen über die Art und Weise, wie Dinge sind (…).« 28 Wir sagen in dem von Putnam gewählten Beispiel, dass das verklemmte Ventil den Druckkochtopf explodieren ließ, nicht aber, dass dies ebenso jedes andere kleine Oberflächenelement des Druckkochtopfes tat, denn wäre es nicht da gewesen, hätte der Dampf auch dort entweichen können. Wir interpretieren die Welt in einer spezifischen Weise, die eben durch unsere Interessen und unsere Handlungsvollzüge bestimmt ist. Das Druckkochtopfventil hat eine von uns gegebene Aufgabe und wenn es diese nicht erfüllt, ist hier die Ursache dafür zu suchen, dass der Topf explodiert, nicht aber eine beliebige andere Stelle der Topfoberfläche, der wir nicht die Aufgabe des Ventils zugemessen haben. Damit ist also die Konzentration auf das Ventil eine von unserer Aufgabenverteilung bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit. Gemäß dem Schema des Chiasmus sind alle Erscheinungsweisen durch die drei Medien Handeln, Wahrnehmen und Sprechen konstituiert. Kein Teil der Wirklichkeit, den wir handhaben oder beschreiben, ist völlig unabhängig von der Tatsache, dass wir ihn handhaben und beschreiben. Wenn es also nicht mehr die eine, normative Perspektive auf die Wirklichkeit gibt, dann gibt es wohl auch nicht mehr die eine normative Beschreibung der Wirklichkeit und aber auch nicht den einen normativen Umgang mit der Wirklichkeit! Wahrheit zeigt sich immer wieder neu in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit im Prozess des Fragens, des orientierenden Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Das Schema des Chiasmus macht aber auch deutlich, dass trotz des 26 27 28

Putnam 1990: 105. Putnam 1995: 37 (eigene Übersetzung). A. a. O.: 40 (eigene Übersetzung).

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8. Die Theorie des Internal Realism von Hilary Putnam

eingeschränkten Begriffs von Wahrheit nicht alles im Vagen verbleibt. Wenn es auch so ist, dass unsere Verflochtenheit mit der Wirklichkeit uns nicht in die Lage versetzt, die eine wahre Theorie über die Wirklichkeit zu erlangen, so sind doch nicht alle Theorien gleich valide. Das Schema legt nahe, dass es unterschiedliche Grade der Fähigkeit gibt, ob eine Aussage sich bewähren kann oder nicht. So sagt auch Putnam: »Was faktenbezogen und was konventionell ist, ist eine Frage des Grades.« 29 Die Fähigkeit der graduellen Annäherung bezieht Putnam in einem anderen Kontext allerdings allein auf das Kriterium der rationalen Akzeptierbarkeit, nicht auf die Wahrheit als Ideal selbst. 30 Im Schema des Chiasmus können wir damit rechnen, dass in jenen Erscheinungsweisen, in denen die Wirklichkeit in Ordnungszusammenhängen erscheint, es auch konsistentere und besser bewährte Strukturen und Aussagen gibt. Diese Bereiche sind die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus. Dabei ist das Akzeptabilitätskriterium ebenfalls zweiteilig. Eine Behauptung über die Wirklichkeit kann daraufhin geprüft werden, ob sie empirisch bewährt ist oder darauf, ob sie schlüssig begründet ist. 31 Je nach Erscheinungsweise kommt das eine oder andere Kriterium zur Anwendung.

D.

Wahrheit als Wahrhaftigkeit

Ich möchte in dem Folgenden den zweiteiligen Ansatz der Wahrheit auf einen dreiteiligen ausweiten und so die dritte Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) bzw. X (Gefühl) mit in die Betrachtung einbeziehen. Auch Putnam kennt noch einen weiteren Zugang zur Wahrheit, der deutlich wird, wenn er das Verhältnis von Fakten und Werten diskutiert. Hier zeigt er, dass die Wahrheit in dem hier aufgeführten Sinne nicht eine letzte Größe ist: »Kurz, auf die eben begutachtete Position (…), wonach das einzige Ziel der Wissenschaft die Entdeckung der Wahrheit ist, möchte ich – neben dem offensichtlich zutreffenden Hinweis, dass Wissenschaft auch noch weitere Ziele hat Putnam 1991: 199. Vgl. Putnam 1990: 82. Die Qualifizierung einer Aussage über die Wirklichkeit als wahr kann z. B. keinen Zeitindex haben. 31 Dementsprechend definiert Popper die abgrenzende Einstellung des Rationalismus: »Ich bin nicht bereit, eine Idee, eine Annahme, eine Theorie zu akzeptieren, die sich nicht durch Argumente oder durch die Erfahrung verteidigen lässt.« Popper 1992: 269. 29 30

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Zur Wahrheitsfrage

– antworten, dass die Wahrheit nicht die Grenzbasis ist (im Original: »that truth is not the bottom line«, F. V.): Die Wahrheit ihrerseits empfängt ihr Leben von unseren Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit, und diese sind es, die wir in Augenschein nehmen müssen, wenn wir die Werte entdecken wollen, die wirklich in der Wissenschaft enthalten sind.« 32 Unterhalb also des kritischen Bezugs auf Bewährung und der Forderung nach Kohärenz liegen andere Momente der Wert- und Wahrheitsorientierung verborgen, die ihrerseits die Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit fundieren. Diese »tiefer liegende« Wertebasis, die die rationale Akzeptierbarkeit und die Wahrheit fundieren, können wir in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Gefühl) bzw. (Atmosphäre) verorten. Hieraus ergibt sich ein Vorschlag zu Kriterien der Wahrheit, die die verschiedenen Kriterien nach den Erscheinungsformen der Wirklichkeit gemäß dem Schema des Chiasmus aufschlüsselt. Das Wahrheitskriterium der Kohärenz der Aussagen untereinander gehört der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Gedanke an. Das Wahrheitskriterium des kritischen Erfahrungsbezugs der Aussagen, der Bewährung also, gehört der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding an. Das Wahrheitskriterium der fundamentalen Werte, die erst die Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit generieren, gehört der Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) bzw. X (Gefühl) an. Der Vorstellung von der Wahrheit überhaupt hat ein existentielles Moment, das den erfasst, der nach der Wahrheit fragt. Mit der Frage nach der Wahrheit korrespondiert ein Ernst dessen, der fragt. Deshalb reagieren wir oft auch mit Empörung über diejenigen Menschen, die die Behauptung aufstellen, dass ihnen die Frage nach der Wahrheit nur ein variables Instrument zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen ist. Das Kriterium für Wahrheit in dieser Form hat eine existentielle Komponente, es geht um Wahrhaftigkeit. Um dies besser verstehen zu können, reicht es nicht, sich allein auf die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding oder der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke zu beschränken, wir müssen auch auf die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus eingehen. Können wir auch dort, wo ein sprachlicher Ausdruck kaum hinreicht, einer Idee von Wahrheit auf die Spur kommen? Ich glaube, dass das sogar in einem besonders emphatischen Sinne der Fall ist. Die mittlere Erscheinungsform hat eine 32

Putnam 1990: 176.

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erhebliche Bedeutung für ein Verständnis von Wahrheit, obwohl es dort keine klaren Prüfkriterien für die Erscheinungsformen geben kann. Merleau-Ponty weist auf diese Erscheinungsform, wenn er in einen Text über den Wahrnehmungsglauben sagt: »Nun, diese nicht zu rechtfertigende Gewissheit einer gemeinsamen sinnlichen Welt ist der Sitz der Wahrheit in uns.« 33 Wichtig ist insbesondere der Hinweis darauf, dass dieser Sitz der Wahrheit nicht mehr zu rechtfertigen ist. Es geht um existentielle Gewissheiten, die eng mit dem eigenen Lebensentwurf verbunden sind. Es geht um jenen Ernst, der einen Menschen wahrhaftig sein lässt. Die Wahrheit an diesem Orte fügt sich nicht den empirischen Ordnungen oder den logischen Ordnungen. Dennoch ist er fundamental und trägt diese Ordnungen. »Wie das Ding und wie der Andere, so schimmert auch das Wahre aus einer emotionalen und nahezu fleischlichen Erfahrung hervor (…).« 34 Diese Erfahrung der Wahrheit ist jedem diskursiven Denken gegenüber vorgängig. Merleau-Ponty weist hier insbesondere auf die Entwicklung aus der Kindheit. Schon dem Kind ist etwas deutlich, wozu es aber noch keine Sprache hat. Diese Wahrheit hat einen fundamentalen Charakter: »Da es hier vorerst nur darum geht, einen ersten Blick auf unsere natürlichen Gewissheiten zu werfen, trifft sicherlich zu, dass diese Gewissheiten, was den Verstand und die Wahrheit anbelangt, auf einer ersten Grundschicht der sinnlichen Welt beruhen, und dass unsere Überzeugung, in der Wahrheit zu sein, eins ist mit der Überzeugung, in der Welt zu sein.« 35 Die grundlegende Wahrheitserfahrung ist also vorsprachlich, alle sprachlich vermittelte Wahrheit, also die der rationalen Akzeptierbarkeit, zehrt von ihr. Wir haben gesehen, dass wir die Kindheit im Schema des Chiasmus so darstellen können, dass das Schema nur eine geringe Ausdehnung hat, also noch nahe bei dem Überkreuzungspunkt ist. Aber auch hier ist schon die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus präsent, eine Erscheinungsweise, die im gesamten Leben eine Kontinuität wahrt. Diese Erscheinungsweise, die wir mit den Indizes Gefühl und Atmosphäre gekennzeichnet haben, ist der Ort der vorsprachlichen Wahrheitserfahrung. Diese Auffassung von Wahrheit unterscheidet sich in einem deutlich von der von Putnam vorgeschlagenen: Sie beschreibt Wahrheit als eine Größe, die sich nicht erst aus 33 34 35

Merleau-Ponty 1964: 28. A. a. O.: 29. A. a. O.: 28.

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Zur Wahrheitsfrage

einer Relation innerhalb einer Ordnung von mehreren Teilen ergibt. Dieses Kriterium der Wahrheit lässt sich nicht rational fassen oder formulieren. Es lässt sich aber auch nicht identifizieren, es ist nicht verfügbar. Von dieser Wahrheit kann man schlicht nur sagen, dass sie sich zeigt. Nun kann man gegen eine solche Vorstellung die Kritik erheben, damit sei der Kern des Wahrheitsbegriffs irrational und unverfügbar geworden. Das ist in der Tat so. Aber ein solcher Befund scheint nicht vermeidbar zu sein, wenn man nach der Art und Weise fragt, wie die ernste Suche nach Wahrheit, wie ihre existentielle Ausrichtung verankert ist. Denn auch diejenigen, die mit besonderer Betonung die Stärke des rationalen Arguments bei der Suche nach der Wahrheit reklamieren, geben zu, dass es einen unverfügbaren Anfangspunkt, eine unhintergehbare Motivation gibt, die dem Streben nach Wahrheit erst die Kraft verleiht. Popper zum Beispiel räumt freimütig ein, dass man die Wahl des Rationalismus als die Weltsicht, in der sich jede Aussage in ihrem Wahrheitsanspruch bewähren muss, nicht ihrerseits begründet werden kann: »Ein unkritischer und umfassender Rationalismus ist logisch unhaltbar, ein umfassender Irrationalismus ist logisch haltbar, aber das ist kein Grund, den letzten anzunehmen. Denn es gibt andere haltbare Positionen, insbesondere die Position des kritischen Rationalismus, die den Umstand anerkennt, dass die rationalistische Einstellung auf einem irrationalen Beschluss oder auf dem Glauben an die Vernunft beruht.« 36 Diesen Glauben an die Vernunft verorten wir in dem vorgeschlagenen Schema in der mittleren Erscheinungsweise. Er ist nicht mehr einholbar durch Argumente, sondern ist ihnen immer schon vorgegeben. Ein anderer Philosoph der die Leistung argumentativer Auseinandersetzung stets in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt hat und diese nicht für genügend hält, ist Jürgen Habermas. Er kommt, wenn auch mit einem ganz anderen Hintergrund, zu einem ähnlichen Ergebnis. Hier möchte ich mich auf die Betrachtung moralischer Aussagen beziehen. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns hat er eine Ethik verankert, bei der die Kritisierbarkeit der Geltung von Annahmen eine zentrale Rolle spielt. Erst der diskursive Prozess, der bestimmten Regeln unterliegt, kann erweisen, ob die An36 Popper 1992: 271. Weiterhin schreibt Popper: »Die Wahl vor der wir stehen, ist nicht einfach eine intellektuelle Angelegenheit oder eine Geschmacksfrage. Sie ist eine moralische Entscheidung.« Ibid.

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nahme, etwa eine moralische Norm, zu Recht eingefordert wird oder nicht. Aber auch Habermas muss konzedieren: »Moralische Einsichten binden den Willen erst dann effektiv, wenn sie in ein ethisches Selbstverständnis eingebettet sind, welches die Sorge ums eigene Wohl für das Interesse an Gerechtigkeit einspannt. Deontologische Theorien in der Nachfolge Kants mögen noch so gut erklären können, wie moralische Normen zu begründen und anzuwenden sind; aber auf die Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen, bleiben sie die Antwort schuldig.« 37 Die Kraft, moralisch zu sein, entsteht nicht aus der korrekten Begründung einer normativen Behauptung. Der Wille, die Intuition, nur das bessere Argument gelten zu lassen, kann nicht von der Richtigkeit der Begründung einer wahren Aussage eingeholt werden, sondern liegt ihr voraus. Das enthebt nicht der Verpflichtung, auch bei allgemeinen moralischen Urteilen Rationalitätskriterien zu berücksichtigen, etwa durch Implementierung eines Diskursverfahrens. Andererseits aber kann das Verfahren nicht auf eine vorgängige Einstellung, Erfahrung, Intuition und vor allem Motivation verzichten. Alle Wahrheitssuche lebt von dieser existentiellen Verpflichtung, von der Wahrhaftigkeit.

E.

Die Suche nach der einen Wahrheit

Der Vorsatz, eine vollständige und umfassende Wahrheit erkennen zu wollen, muss nach dem Ansatz des phänomenologischen Realismus deutlich relativiert werden. Doch geht es nicht darum, einer Entsagung das Wort zu reden oder einer Interesselosigkeit oder gar einer zynischrelativistischen Haltung. Im Gegenteil: Die Wahrheit über die Wirklichkeit erfahren zu wollen, ist eine komplexe Unternehmung, die ebenso verschiedene Begründungsverfahren wie Bewährung und Kohärenz umfasst wie auch ein existentielles Moment des »Berührtwerdens« von grundlegenden, nicht mehr weiter hinterfragbaren Wahrheitserfahrungen. Das Letztere ist sogar erst die Voraussetzung, durch Habermas 2001: 15. Diese Einsicht hat Habermas auch zu einer Revision seiner Einschätzung der Religionen angesichts der Bedrohung der normativen Gehalte der Moderne geführt. Allerdings macht Habermas den Vorbehalt, dass man die zugrunde liegenden lebensweltlich gebundenen Werturteile nicht mit verallgemeinerbaren moralischen Überzeugungen verwechseln dürfe, vgl. Habermas 2005: 248.

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Zur Wahrheitsfrage

die wir die Frage nach der Wahrheit mit allem Ernst stellen. 38 Die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung tendiert zu dem Versuch einer immer allgemeineren Bestimmung dessen, was wahr ist. Darin liegt ein aufklärerisches Moment. Nicht das Herkommen bestimmt das, was wahr ist, sondern der Versuch, mit Argumenten für eine Wahrheit zu werben, die allen Menschen in gleicher Weise zugänglich ist. In diesem begrenzten Sinne kann man auch von einer Fortschrittsgeschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit reden (vgl. Kapitel 9.2.). Auch im Bereich der allgemeinen moralischen Normen, besonders bei den Menschenrechten, gibt es ein fortschreitendes Ringen um allgemeine Formulierungen und deren Akzeptanz. Doch ist zugleich immer auch Vorsicht geboten vor der Verwechselung solcher zur Allgemeinheit strebenden Versuche und der prinzipiellen Erreichbarkeit einer universellen Wahrheit. Die Behauptung, zu den Bedingungen der Möglichkeit gültiger Argumentation gehöre eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, »in der eine Sinnverständigung und eine Konsensbildung über Wahrheitsansprüche im Prinzip möglich sein muss« 39 , ist aufgrund der Irreduzibilität der Erscheinungsweise X fragwürdig. Offenkundig ist es nicht möglich, die Frage nach der einen Wahrheit unter den entwickelten Erkenntnisbedingungen zu beantworten. Umfassende Wahrheit und vollständige Rationalität sind Leitideen, nicht prinzipiell umsetzbare Möglichkeiten. Es lässt sich auch kein gesellschaftlich-kultureller Prozess denken, durch den eine vollständige Transparenz und Rationalität eintreten könnte. 40 38 Janich, der ebenfalls »eine Unterscheidung zahlreicher verschiedener Verfahren und Geltungsgründe für wahre Aussagen« (Janich 2005: 123) erforderlich sieht, führt diese auf einen gemeinsamen lebensweltlichen Kern zurück, nämlich den der gelingenden Kommunikation zur Festlegung gemeinschaftlichen Handelns. Vgl. a. a. O.: 118. Es bleibt aber zu fragen, ob nicht der Anspruch von Geltung von Aussagen auch unabhängig von einem möglichen Handlungserfolg erfolgen kann. Dann ruht die Aussage auch in einem lebensweltlichen Kontext, doch nicht in dem des Handelns, wohl aber in dem der Erfahrung von Wahrhaftigkeit. Letzteres meint mehr als dies, andere nicht über die eigenen Zwecke zu täuschen. Vgl. a. a. O.: 126. 39 Apel 1992: 36. 40 Nach Wellmer ist bei aller Wünschbarkeit einer umfassenderen Rationalität das Ziel einer durch und durch rationalen Gesellschaft nicht erreichbar: »Meine These ist: Wenn wir der Idee einer Gesellschaft, in der ›diskursive Rationalität‹ als Ordnungsprinzip anerkannt und durchgesetzt ist, einen zureichend bestimmten Sinn geben können, so bedeutet das nicht, dass wir damit zugleich das Ideal einer vollkommen rational gewordenen Form des Lebens formuliert haben. Ein solches Ideal kann es nicht geben.« Wellmer 1986: 203.

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8. Die Theorie des Internal Realism von Hilary Putnam

Die Wahrheit ist eine, sie erscheint uns aber unter drei verschiedenen Bedingungen, die auf nicht ergründbare Weise zusammen gehören. Deshalb hat die Frage nach der Wahrheit ein bleibendes und unaufgebbar existentielles Moment. Diese Frage bewegt uns und hat eine eigene Kraft. Es ist die simple Pilatusfrage, die dieser Jesus von Nazareth gegenüber stellte: »Was ist Wahrheit?« In dieser Szene wird deutlich, wie der Autor des Johannes-Evangeliums die Frage nach der Wahrheit versteht: Man kann die Wahrheit nicht verstehen, aber man kann ihr begegnen. Dies entspricht der Begegnung wie in 6.2. ausgeführt: Eine solche Begegnung führt zu einer Intuition, in der alle Erscheinungsweisen mit einbezogen sind. Doch es gibt sub conditione humana keine allein auf rational einsehbaren Argumenten beruhende Möglichkeit, die Frage nach der Wahrheit allgemeinverbindlich zu beantworten.

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

Zu Beginn des Kapitels 5 stand die Frage im Mittelpunkt, wie es gelingen kann, die Erkenntnisse des leibphänomenologischen Ansatzes Merleau-Pontys zu bewahren und sie zugleich mit dem Modus des wissenschaftlichen Erkennens in Verbindung zu bringen. Das Schema des Chiasmus ist ein Vorschlag, der eine hypothetische Ordnung für die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Wirklichkeit bietet. Diese Ordnung und ihre Konsequenzen haben wir in den letzten Kapiteln analysiert. Die folgenden drei Kapitel wenden sich nun der Frage zu, welche Bedeutung die leibphänomenologischen Erkenntnisse für die wissenschaftlichen Formen des Erkennens haben können. In diesem 9. Kapitel wollen wir zunächst die Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) mit dem Begriff der Lebenswelt in Beziehung setzen. In dem folgenden Kapitel soll dann gefragt werden, in welchem Verhältnis die so verstandene Lebenswelt zum wissenschaftlichen Erkennen steht. An unterschiedlichen Stellen haben wir schon besondere Charakteristika jener Erscheinungsform X (Gefühl) oder (Atmosphäre) besprochen, die sich in der mittleren Region des Schemas des Chiasmus befindet. Diese an unterschiedlichen Orten vorgenommenen Bestimmungen sollen kurz zusammengefasst werden. Zunächst zeigt das Schema, dass die mittlere Erscheinungsweise in stark verringertem Maße durch die Vermittlung der Medien Sprechen, Handeln und Wahrnehmen bestimmt ist. Es fällt uns schwer, Phänomene des engen mittleren Bereiches des Schemas in Worten zu beschreiben. Ebenso ist deren Wahrnehmung diffus und sie sind nicht mit Handlungsoptionen verknüpft. Anders als in der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding ist hier der Unterschied zwischen dem Leib und der umfassenderen Wirklichkeit kaum zu bestimmen. Gefühl und Atmosphäre gehen ineinander über und bedingen einander. Der Ansatz von Hermann Schmitz legt nah, dass nur schwer von dem einen ohne das andere ge-

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

redet werden kann. 1 Dennoch macht es Sinn, sie zu unterscheiden, denn schon die Alltagssprache zeigt, dass Atmosphären ein größerer Grad an Vorgegebenheit zukommt als Gefühlen. Dies kann der von Böhme ausgewiesene Effekt der Ingression zeigen. 2 Die Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus ist in besonderer Weise auf das Jetzt und Hier ausgerichtet. Doch meint das nicht allein eine Fixierung auf einen mystischen Punkt (der allerdings als Grenzphänomen dieser Erscheinungsweise zugehört), sondern Zeitund Raumphänomene, die sich in nicht genau umrissener oder gar messbarer Weise über das unmittelbare Jetzt und Hier hinaus erstrecken. Die Zeit führt in der Retention noch das gerade Geschehene mit und es bahnt sich in der Protention das Kommende an. Der Raum ist nicht abstrakt, sondern leiborientiert durch fließende Konturen bestimmt. Die Phänomene dieser Erscheinungsform zeigen sich nicht frontal, sie führen nicht zu dem Eindruck von Objekten, sie sind vielmehr unspezifische Weisen der Anwesenheit. Die Diskussion der Qualia (Kap. 6.5.) weist ebenso auf diesen Bereich, hier findet die Wahrnehmung von Qualitäten statt, die sich, wie manche narrativen Argumente nahe legen (Kap 3.7.), mit wissenschaftlichen Erkenntnismethoden nicht erfassen lassen. Auch kann diese Erscheinungsweise mit Sinnerfahrungen in Verbindung gebracht werden, die keiner äußeren Bezüge bedürfen. Während in jenen Erscheinungsweisen, die durch stärkere Ordnung charakterisiert sind, Sinn immer nur relativ, bezogen auf eine gegebene Ordnung existiert, ist die Sinnerfahrung in dieser Erscheinungsweise selbst tragend, nicht gestaltet und nicht gestaltbar, so dass MerleauPonty einfach feststellen kann: Es gibt Sinn. Diese Erscheinungsweise ist weiterhin von Merleau-Ponty durch die Metaphern »das wilde, rohe Sein« oder »Wahrnehmungsglaube« beschrieben worden. Das, was sich zeigt, zeigt sich unkonturiert, es ist keiner der beiden Seiten, weder dem Subjekt noch dem Objekt, eindeutig zuzuordnen. Hier besteht eine nicht mehr artikulierbare, aber notwendig vorhandene Vertrautheit mit der Wirklichkeit. Wir kommen, wenn wir über die Wirklichkeit nachdenken, immer schon von einer Verbundenheit her, die wir gar nicht mehr in Frage stellen können. Schließlich hat sich bei der Schmitz fügt beide definitorisch eng zusammen: »Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären.« Schmitz 1998: 22. 2 Böhme 2001: 46. 1

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

Diskussion der Frage nach der Wahrheit gezeigt, dass alle Suche nach Wahrheit auf einer existentiellen Ausrichtung auf Wahrheit aufruht. Diese existentielle Ausrichtung ist jener Ernst, jene Wahrhaftigkeit, die sich wiederum in der mittleren Erscheinungsweise verorten lässt. Verbunden mit der Wahrhaftigkeit ist auch die existentielle Ausrichtung auf grundlegende Werte, die man nicht einfach zur Disposition stellen kann, ohne die eigene Identität in Frage zu stellen und die auch nicht so leicht einer argumentativen Auseinandersetzung zugänglich sind. 3 Mit einer Vielzahl von Charakteristika kann die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) oder X (Gefühl) im mittleren Bereich des Chiasmus beschrieben werden. Die Metaphern und Umschreibungen sind nur Versuche, das große, aber nur schwer zugängliche Reservoir von Phänomenen, die unser Leben in erheblichem Maße prägen, zu erschließen. Schon diese Versuche bieten eine Grundlage, um weitergehende Folgerungen für das Verständnis unserer Alltagswelt und auch für die Beziehung zu abstrakten wissenschaftlichen Darstellungen abzuleiten. Das Schema des Chiasmus weist kontinuierliche Übergänge aus. Dem mittleren Bereich schließen sich zu den Seiten Phänomene an, in denen die Vermittlung durch Sprechen, Handeln und Wahrnehmen kontinuierlich zunimmt. Die Phänomene gehen nicht sogleich in eine abstrakte Form über, wie sie etwa in den ausdifferenzierten Ordnungen der Wissenschaft gegeben sind. Dem Kern jener Phänomene, die sich einer Ausdifferenzierung entziehen, schließen sich solche sprachlichen Akte, vertraute Wahrnehmungsmuster und alltägliche Handlungen an, die keines großen Nachdenkens bedürfen. Dieser erweiterte Bereich im Schema, der die engere Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) umschließt, soll nun als ein notwendiger Bestandteil dessen verstanden werden, was der Begriff »Lebenswelt« beschreibt. Die Lebenswelt ist also nicht mit der Erscheinungsweise X identisch, aber in ihr spielt diese Erscheinungsweise eine notwendige und entscheidende Rolle. Die Lebenswelt ist durch jene

Bei den moralischen Werten kann man ein Spektrum identifizieren mit unterschiedlicher Gewichtung. Einerseits gibt es solche Werte, die existentiell verankert sind, auf der anderen Seite solche, die lediglich Ausdruck einer alltäglichen Konvention sind, die sich aber jederzeit auch ändern lassen. Die existentiellen Werte sind in der Erscheinungsweise in der Mitte des Chiasmus zu verorten.

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

Phänomene besonders geprägt, die der Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus zuzurechnen sind. 4 Der Begriff der Lebenswelt ist von Edmund Husserl in seinen späten Schriften eingeführt worden. Husserl nutzte ihn, um den Nachweis zu führen, dass die europäischen Wissenschaften den Kontakt zur vorwissenschaftlichen Welt verloren haben. 5 Die vorwissenschaftliche Welt soll mit dem Begriff Lebenswelt genauer bestimmt werden. 6 »Die Lebenswelt ist ein Reich ursprünglicher Evidenzen.« 7 Hiermit hat Husserl einen konzeptionellen Vorschlag gemacht, der gerade in der philosophischen Auseinandersetzung um die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit eine große Wirkung entfaltet. Von Beginn an wurde dieser Begriff als Kontrapunkt gegenüber der wissenschaftlichen Auffassung von der Welt gebraucht. »Ihr, der Welt der wirklich erfahrenden Anschauung, gehört zu die Raumzeitform mit allen dieser einzuordnenden körperlichen Gestalten, in ihr leben wir selbst gemäß unserer leiblich personalen Seinsweise. Aber hier finden wir nichts von Wie auch schon bei manch anderen Eigenschaften, so gibt es auch hier im Chiasmus keine klaren Abgrenzungen, sondern nur ein Mehr oder Weniger, dessen Grenzen nicht statisch sind. Das chemische Labor mag für einen Besucher Sinnbild für Abstraktion sein, für die im Labor arbeitende Wissenschaftlerin dagegen ist es zugleich in einem nicht unerheblichen Teil Lebenswelt. Die lebensweltlichen Aspekte finden sich in der Vertrautheit des Umgangs mit den Dingen. Das gilt allerdings nicht in dem wissenschaftlichen Experiment selbst, dem möglichst abstraktes und das heißt, reproduzierbares Handeln zugrunde liegt. So kann man die sozialen Bezüge eines Laboratoriums alltagssoziologisch untersuchen. Karin Knorr Cetina hat gezeigt, dass persönliche Profilierungsinteressen, dass die Mikropolitik in den Einrichtungen eine bedeutende Rolle spielt. Vgl. Knorr Cetina 1991. Allerdings ist die wissenschaftliche Arbeit methodisch so angelegt, dass diese Effekte reduziert werden. Die besondere Existenz einer Wissenschaftlerin sollte in der wissenschaftlichen Darstellung selbst keine tragende Rolle mehr spielen. 5 Vgl. Husserl 1936 (1): 53 f. 6 Tatsächlich hat schon Simmel den Begriff eingeführt, vgl. Welter 2004: 557. 7 Husserl 1936 (2): 283. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Husserl den alltäglichen Erfahrungen im Gegensatz zur »echten Wissenschaft« nur relative Evidenzen zuerkennt: »Für dieses Leben des Alltags mit seinen wechselnden und relativen Zwecken genügen relative Evidenzen und Wahrheiten.« Husserl 1931: 13. Gethmann hat eine Definition vorgeschlagen, die sich daran anschließt: Unter Lebenswelt soll »nicht ein Ensemble von Sachverhalten verstanden werden, sondern das Ensemble derjenigen operativen und gelegentlich diskursiven Evidenzen, die jeweils prädiskursive Einverständnisse des (Zusammen-) Lebens bilden.« Gethmann 2008: 51 f. In der Lebenswelt erschließen sich die Dinge so, dass sie nicht hinterfragt werden, sondern die Ausgangsbasis für alles Weitere darstellen. 4

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Lebenswelt in der Leondardo-Welt

geometrischen Idealitäten (…).« 8 Der Ansatz über den Begriff der Lebenswelt hat sowohl in der Philosophie wie auch in der Soziologie viel Resonanz ausgelöst. Merleau-Ponty ist in seinen letzten Notizen immer wieder auf die Lebenswelt zu sprechen gekommen und hat sie sogar auch als einen Kern seines philosophischen Ansatzes gesehen: »Wir verfassen eine Philosophie der Lebenswelt (…).« 9 Und so stellt er das »wilde Sein«, jene Metapher, die wir mit der Erscheinungsform der Wirklichkeit in der Mitte des Chiasmus identifiziert hatten, mit der Lebenswelt in einen engen Zusammenhang: »In Wirklichkeit aber verschaffen uns alle Einzelanalysen der Natur (…) nach und nach einen Zugang zur Lebenswelt und zum ›wilden‹ Sein (…).« 10 Der Begriff Lebenswelt ist über den Bezug auf die personale Seinsweise und die ursprünglichen Evidenzen dadurch ausgezeichnet, dass er nicht allein durch die einsame Reflexion des philosophierenden Geistes, sondern immer auch durch soziale Prozesse definiert ist. Er ist dadurch für soziale und kulturelle Betrachtungen anschlussfähig. Die Lebenswelt ist nie die Lebenswelt eines Einzelnen, sondern die geteilte Welt unbefragter Evidenzen und Grundannahmen, die insbesondere auch im Zusammenleben zu Geltung kommen. Die Lebenswelt nimmt die Einsichten der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) auf und stellt sie für eine erweiterte Betrachtung der Kultur bereit, auf die wir später eingehen wollen.

1.

Lebenswelt in der Leondardo-Welt

In Kapitel 3 hatten wir die gegenwärtige Alltagswelt und die sie dominierenden Vorstellungen als Leonardo-Welt beschrieben. In unserem Alltag herrscht ein durch Wissenschaft und Technik dominierter Umgang mit der Wirklichkeit vor. Zwei zentrale Annahmen bestimmen die Leondardo-Welt: Es gibt die Vorstellung einer geschlossenen Welt von Objekten in einem vorgegebenen raumzeitlichen Zusammenhang und es gibt die Vorstellung des in seinem Körper eingekapselten Menschen. Nun war es das Anliegen von Husserl, gerade durch den Bezug auf die Lebenswelt eine Ressource zu erschließen, die die wissenschaftHusserl 1936 (1): 54. Merleau-Ponty 1964: 221 10 A. a. O.: 218. 8 9

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

lichen Abstraktionen wieder zurück binden soll an die Sphäre von unmittelbaren Evidenzen und Sinnfindung. Kann aber angesichts der Gestalt unserer Alltagswelt als Leondardo-Welt die Lebenswelt eine solche Ressource sein? Ist nicht die Lebenswelt schon ihrerseits deutlich durch die Vermittlung wissenschaftlicher und technischer Handlungs- und Wahrnehmungsbedingungen geprägt? Elisabeth Ströker spricht sich gegen die Vorstellung aus, die Lebenswelt sei auch noch in der Moderne eine intakte Welt unmittelbaren Handelns. 11 Damit widerspricht sie dem zentralen Anliegen von Husserl: »Lebenswelt vor aller Wissenschaft ist nicht vorwissenschaftliche Welt (…). Soweit sie gleichwohl als vorwissenschaftliche Welt erfahren wird, ist sie es konkret nur in der unreflektierten Ursprungsvergessenheit wissenschaftlicher Vorausbedingungen und nicht mehr aktuell durchschauter wissenschaftlicher Implikationen.« 12 Die Lebenswelt mag wie eine ursprüngliche Welt erscheinen, jedoch ist sie nach Ströker schon durch und durch von wissenschaftlicher Rationalität imprägniert. Sie verdeutlicht dies an dem dramatisch sich wandelnden Muster der Erfahrung, das die Alltagswelt in einer industrialisierten Gesellschaft ausmacht. Erfahrungen von Zeit und Raum, wie auch Mobilität und Nachrichtentechniken haben sich gravierend verändert. Gesellschaftliche Veränderungen wie auch die Auflösung tradierter Milieus führen gerade zu einer Gefährdung jener gesellschaftlicher Ressourcen, die lebensweltliche Sinnkontinuität garantiert haben. 13 Insbesondere die neuesten Komunikationsmedien führen zu einer vermittelten Scheinunmittelbarkeit. Ströker beschreibt so die Auswirkungen dessen, was Mittelstraß die Leondardo-Welt genannt hat. Ohne Zweifel muss man ihr in der kritischen Analyse Recht geben, wenn denn die Lebenswelt suggerieren sollte, es gäbe einen Lebensalltag der Menschen, der nicht von Wissenschaft und Technik bestimmt ist. Eine simple Zweiteilung der Wirklichkeit in von Unmittelbarkeit geprägter Lebenswelt und einem industriellen wissenschaftlich-technischen Kontext ist sicherlich naiv. Es existiert heute eine durchgehende und umfassende technische Unterstützung der drei Medien Sprechen, Wahrnehmen und Handeln. In unserer Welt, der Leonardo-Welt, haben wir gelernt, den Wirkungs11 12 13

Vgl. Ströker 2000. A. a. O.: 171. Vgl. a. a. O.: 179.

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Lebenswelt in der Leondardo-Welt

kreis der Medien durch technische Artefakte bedeutend auszuweiten. Die Art und Weise, wie sich unsere Wirklichkeit zeigt, lässt sich nur noch verstehen, wenn man ihre technische Vermittlung berücksichtigt. Wir erleben zurzeit eine weitere mediale Revolution durch die Einführung und Verbreitung des Internets. Die Ausweitung der Möglichkeiten von Wahrnehmen, Sprechen und Handeln lässt neue räumliche und zeitliche Strukturen erfahrbar werden. Wir haben über visuelle technische Medien gelernt, dass man Vorgänge zeitgleich wahrnehmen kann, unabhängig von dem Ort des Geschehens. Der Internetnutzer kann heute zumindest aufgrund der technischen Voraussetzungen beliebig viele Informationsquellen aus aller Welt nutzen, wenn auch mit der deutlichen Einschränkung, dass mit dem Internet keine körperliche Mobilität einhergeht. Die neuen Technologien haben auch Einfluss auf unser Handlungsvermögen, wir können Handlungen mit Fernwirkung gestalten, etwa bei der Fernsteuerung von Artefakten oder bei Produktionsprozessen, die über mehrere Länder verteilt sind. Der Alltag in der Leonardo-Welt ist dadurch dramatischen Veränderungen unterworfen. Einher mit diesen Veränderungen geht ein Wandel der grundlegenden Anschauungen, das haben wir anhand der Metaphern »geschlossene Welt«, »eingekapselter Mensch« und »ortloser Blick« dargestellt. Ist damit aber nicht der Rekurs auf die Lebenswelt als wissenschafts- und technikferne Größe unmöglich geworden, weil alles schon von Technik imprägniert ist? Zur Beantwortung der Frage müssen wir einen Blick auf das bisher Erarbeitete werfen. Die Grundbedingungen des phänomenologischen Realismus können durch Entwicklungen innerhalb der Erscheinungsweisen wie etwa die Etablierung der Leondardo-Welt nicht verändert werden. Der wissenschaftliche Fortschritt führt zwar zu einer Ausweitung des Schemas, immer abstraktere Erscheinungsweisen der Wirklichkeit werden erschlossen. Aber dies stellt, wie wir gesehen haben, nicht die Struktur des Chiasmus und die Selbständigkeit der Erscheinungsweisen in Frage. Deshalb kann zum Beispiel die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) auch unter den Bedingungen der Leondardo-Welt nicht durch zielorientierte Zugriffe vollständig gestaltet werden! 14 Zur Mit14 Ohne Zweifel sind Atmosphären auch gestaltbar, wie die Architektur und die ausgebaute Industrie für Ambience zeigen können. Jedoch: Jede dieser gestalteten Atmosphären wird erst dann zu einer, wenn jemand sie lebt/erlebt und hier zeigen sich immer wieder auch unvorhersehbare und unkontrollierbare individuelle Einflüsse. Es geht

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te des Chiasmus hin nimmt die Vermittlung durch die Medien radikal ab, also auch die Vermittlung durch das Handeln. Deshalb ist die leibliche Existenz des Menschen nicht im Grundsatz in Gefahr, in der Vermittlung technisch assistierter Medien aufzugehen. 15 Bei allen technischen Hilfsmitteln bleiben die Medien immer und notwendiger Weise an den eigenen Leib gebunden und können ihn nur in Grenzen bestimmen. Mittelstraß ist Recht zu geben, wenn er festhält, dass der Mensch niemals die Bedingungen seines Handelns in der Hand hat. 16 Wir haben gesehen, dass gerade die Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) durch ihren geringen Grad der Vermittlung sich einer vollständigen Verfügbarkeit entzieht. Auch mit Hilfe der technischen Formen der Medien können wir uns nicht aus unserer Endlichkeit lösen. Diese Vermittlung wie auch Sinnerfahrungen, der Wahrnehmungsglaube und die Ausrichtung auf Wahrhaftigkeit sind, das geht auch aus dem Schema des Chiasmus hervor, durch technische Artefakte vielleicht in Grenzen beeinflussbar, nicht aber in ihrer Selbständigkeit gefährdet. Waldenfels bezieht sich auf den Vorwurf, man könne doch nicht mehr zurück in eine vormoderne Natur: »Die Antwort die Merleau-Ponty auf diese Einwände geben würde, bestünde in einer Gegenfrage: Wie sieht denn das Medium aus, in dem sich der Austausch zwischen Empfinden und Empfundenem vollzieht? Dieses Medium ist gewiss nicht die physikalische Natur, in der qualitative Erfahrungsweisen gar nicht vorkommen. Daraus folgt, dass die Empfindungslehre eine gewisse Form von Kosmologie, d. h. die Annahme einer vorwisnicht um das Ambiente im Allgemeinen und wie es durchschnittlich wirkt, sondern um die Atmosphäre und das Gefühl bei mir hier und jetzt! Die Forderung, dass sich ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Raum wohl fühlt, ist nicht zu erzwingen. Also gibt es keine vollständige Instrumentalisierung der Phänomene in der Erscheinungsweise X. Erst recht gilt das für Sinnerfahrungen, Qualia, Raum- und Zeiterleben. 15 Waldenfels weist auf die von ihm so genannten »diastatischen Erfahrungssprünge« hin und darauf, »dass an diesen Stellen nicht nur die Technisierung der Erfahrung ansetzt, sondern auch mögliche Widerstände gegen eine pantechnologische Überwältigung der Erfahrung von dort ausgehen.« Waldenfels 2002: 361. Die Lebenswelt hat ihre eigenen Kräfte und Bewegungen, die sich immer wieder einer vorgeordneten Struktur entziehen können. 16 Vgl. Mittelstraß 2001 (2): 22: »Das heißt, der Mensch hat niemals alle Bedingungen seines Handelns in der Hand, nicht einmal die Faktizität, die sein Leben, seine Gegenwart – mit allen seinen Vorstellungen, Planungen, Wünschen und Hoffnungen – ausmacht. Die Leondardo-Welt durchdringt zwar auch die individuelle Existenz, sie gehört zunehmend zu den Bedingungen, unter denen der Einzelne lebt, doch bedeutet auch das nicht, dass sich alles Unverfügbare in Verfügbares, eben Machbares, auflöst.«

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senschaftlichen Natur selbstverständlich voraussetzt.« 17 Wir können uns, mit anderen Worten, gar nicht ganz von der vormodernen Natur trennen, wir können uns nicht unserer existentiellen Situation entziehen oder diese durch technische oder kulturelle Eingriffe vollständig gestalten. 18 Wenn wir die biographische Entwicklung des Chiasmus bedenken, können wir diese Erkenntnis auch so formulieren: Wir können uns auch als Erwachsene in der modernen Welt niemals von der naiven Sichtweise des Kindes, das wir einmal waren, vollständig distanzieren. Offenkundig gehören Artefakte wie komplexe Automobile oder das Internet auch in die Lebenswelt des modernen Menschen, auch die Lebenswelt ist kein monolithisches und kein statisches Gebilde. Sie ist stark beeinflusst von der Leonardo-Welt. Unser Verständnis von Wirklichkeit ist nicht durch gegeneinander geschlossene Sphären bestimmt, sondern durch die Annahme der einen Wirklichkeit, die in unterschiedlichen Erscheinungsweisen mit graduellen und kontinuierlichen Übergängen ausgezeichnet ist. 19 Aber das, was wir der Lebenswelt zuordnen, ist im Kern notwendig durch die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus bestimmt. Man muss weiterhin genau darauf achten, in welcher Weise die neuen Technologien die Lebenswelt prägen. Sie sind nämlich nicht als wissenschaftlich-technische Artefakte präsent, sondern als Gestaltungsformen, die innerhalb des Alltags eine Rolle spielen. Tatsächlich muss man hier zwischen einer Entwicklerund einer Anwenderperspektive unterscheiden. Der Entwickler sieht die abstrakten und hochkomplexen technischen Zusammenhänge, der Anwender dagegen kommt mit den Artefakten nur so in Berührung, dass sie intuitiv oder mit geringem Wissen verfügbar werden. Die technischen Artefakte werden als solche in gewisser Weise unsichtbar und erscheinen in der Lebenswelt des Anwenders verbunden mit einem Image, mit Atmosphären, Anmutungen, mit zwischenmenschlichen Kommunikationsformen und Herstellung von Nähe, mit Erlebnissen und Wunscherfüllung. Für die Definition von Lebenswelt spielen Gefühle und Atmosphären eine zentrale Rolle, die mittlere Erscheinungsweise ist conditio sine qua non für Elemente der Lebenswelt. Damit ist Waldenfels 2000 (1): 88. So ist es auch, anders als Gethmann es sieht, nicht nur eine methodologische Betrachtung, die die Lebenswelt auszeichnet, die Bedeutung der Lebenswelt ist vielmehr grundlegenderer Natur. Vgl. Gethmann 2008: 52 f. 19 Vgl. Waldenfels 1999: 181. 17 18

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die Lebenswelt durch die Bedingungen der Leonardo-Welt beeinflusst, aber sie ist nicht durch sie bestimmt. Dies bedeutet angesichts der aktuellen Debatte um die neuen Kommunikationsmedien eine Entwarnung und zugleich eine Herausforderung. Wenn die analysierten Bedingungen zutreffen, dann wird es niemals wie bei manch übertreibenden Medientheorien ein grundlegendes Problem sein können, dass Menschen aufgrund der technischen Medien ihre eigene Leiblichkeit negieren. Jedoch können sie suggerieren, die leibliche Existenz, insbesondere auch die körperliche Existenz, sei nicht mehr so wichtig. Dann droht eine Verarmung in der Fähigkeit, sich den unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit zu öffnen. Die technischen Medien bleiben deshalb eine große und bleibende kulturelle Herausforderung. Es gilt, eine Lebenskunst einzuüben, die sich an die Grundbedingungen der Lebenswelt, vor allem ihrer Unverfügbarkeit erinnert: »Von einem Sein- und Geschehenlassen des Lebens sind wir heute weiter entfernt als je zuvor. Ihm wieder Raum zu geben, bedarf einer Entscheidung, eines Verzichts. Aber es ginge um einen Verzicht, der nicht aus einem Sollen, sondern aus einer Form der Lebenskunst erwachsen würde.« 20 Die Bedrohung der Eigenständigkeit der Lebenswelt ist in soziologischen Untersuchungen auch aus einem anderen theoretischen Zusammenhang heraus beschrieben worden. Die Analysen von Habermas haben nicht nur weltanschauliche Gründe diagnostiziert, die dazu führen, dass die Eigenständigkeit der Lebenswelt verloren zu gehen droht. Vielmehr sieht er einen gesellschaftlichen Trend, in dessen Folge die weniger formalisierten Kommunikationsakte der Lebenswelt den formalisierten der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Systeme weichen müssen. Habermas beschreibt einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, in dem ausdifferenzierte Systeme, zu denen auch die Wissenschaften gehören, die Lebenswelt zu kolonialisieren und Entfremdungsprozessen auszusetzen drohen. Die eingangs benannten Bedingungen der Leonardo-Welt zeigen in der Tat eine nachhaltige Veränderung Alltagswelten. Habermas erklärt die Sozialpathologien der modernen Gesellschaft mit der Annahme, »dass die kommunikativ strukturierten Lebensbereiche den Imperativen verselbständigter, formal organisierter Handlungssysteme unterworfen werden« 21 . Bezogen etwa auf die 20 21

Fuchs 2008: 301. Habermas 1987 (1): 8. Allerdings ist durchaus die kritische Frage angebracht, ob

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neuen Reproduktionstechnologien, die durch biotechnische Möglichkeiten bereitgestellt werden, stellt Habermas fest: »Vielmehr scheint sich heute die philosophische Ursprungsfrage nach dem ›richtigen Leben‹ in anthropologischer Allgemeinheit zu erneuern. Die neuen Technologien drängen uns einen öffentlichen Diskurs über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher auf.« 22 Man kann also die »Übergriffe«, die durch die Systeme sich ereignen, als kulturelle Herausforderung beschreiben. Nun aber ist die Befürchtung, die gesellschaftlichen Systeme wie die Wissenschaften könnten sich vollständig der Lebenswelt bemächtigen, aus den genannten Gründen nicht stichhaltig. Die Lebenswelt ist notwendig geprägt durch Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die ihre Eigenständigkeit aufgrund der Regeln des phänomenologischen Realismus auch in einem technischen Umfeld nicht verlieren können. Sie ist Einflüssen ausgesetzt, aber es bleibt eine nicht auflösbare Wider- und Selbstständigkeit. Darauf weist auch die Persistenz von traditionellen Vorstellungen wie die der Seele in einer eher naturalistisch interpretierten Welt. Sie dienen als Interpretament für Erfahrungen, für die die naturalistischen Beschreibungen keine Ausdrucksformen bieten. Offenkundig weist der Begriff der Lebenswelt immer auch auf einen Bereich der Wirklichkeit, der eine fundamentale Eigenständigkeit hat. Doch das sagt noch nichts über die kulturelle Herausforderung, die wir mit der Leonardo-Welt bezeichnet haben. Denn die Erfahrungsdimensionen, die sich einer technischen Verfügbarkeit entziehen, werden in dem Umfeld der heutigen Gesellschaft ins Private, in einen vermeintlich subjektiven Bereich gedrängt. Es ist schon ein Problem, wenn die Lebenswelt gegenüber den Wissenschaften isoliert existiert. Wie kann man aber, das wäre die leitende Frage, in der Kultur die Ressourcen der Lebenswelt so stärken, dass sie auch Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften nehmen können?

Habermas mit seinem Ansatz des kommunikativen Handelns nicht seinerseits in der Tendenz die Lebenswelt »außer Kraft« setzen und durch rationale Kommunikationsakte ersetzen möchte. »Ein traditionsgeleitetes Leben wird abgelöst durch ein vernunftgeleitetes Leben.« Waldenfels 1994: 96. Die Problematik dieses Anspruch macht sich auch bemerkbar in dem Schwierigkeit der Interpretation des Universalisierungsgrundsatzes U, vgl. Vogelsang 1998: 224 ff. 22 Habermas 2001: 33.

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2.

Charakteristika der Lebenswelt

Notwendigerweise gibt es in der Lebenswelt Phänomene, die der mittleren Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) zuzurechnen sind. Nun ist die »Lebenswelt« natürlich im Kontext des hier vertretenen Ansatzes nicht als eine »Welt«, das heißt als ein geschlossenes Ganzes zu verstehen. Die Lebenswelt ist nichts anderes als eine offene Menge von Phänomenen, die bestimmte Eigenschaften miteinander teilen. Die wichtigste, fundierende Eigenschaft dieser vielgestaltigen Phänomene ist: Die Lebenswelt ist gekennzeichnet durch eine spezifische Weise des Beteiligtseins. Dieses Beteiligtsein ist unspezifisch und schwer zu fassen. Dennoch ist es leicht zu erkennen und wirkt sich unmittelbar aus. Das Beteiligtsein ist oft verbunden mit einem Gefühl der Nähe und des Vertrautseins. Die Lebenswelt ist das, wo man immer schon ist, nicht das, was man sich erst vollständig neu aneignen muss, auch wenn es Veränderungen geben kann: »Diese Struktur allgemeiner Vertrautheit der immerzu ›vage-unbestimmten Erkenntnisweise der Erfahrungsdinge‹ impliziert typische und gleichmäßig-reguläre Veränderungsprozesse in typischem Zusammenhang mit weiteren Veränderungen.« 23 Doch ruht diese Vertrautheit nicht auf einer Unmittelbarkeit, auf einer Existenzform, wo man ganz bei dem Eigenen ist. Wie wir schon bei der Behandlung des Sinns gesehen haben (Kap. 7.4.), gibt es Sinnerfahrungen, aber man kann ihrer nicht habhaft werden. Ebenso gibt es aber eine grundsätzliche Gebrochenheit auch in den intimsten Erfahrungen der Lebenswelt. »Am Anfang steht weder ein Ureigenes noch eine Ureinheit, sondern eine Urscheidung in Eigenes und Fremdes.« 24 In der Lebenswelt sind wir mit Vertrautem umgeben, dessen Vertrautheit aber immer wieder neu gewonnen werden muss und die wir weniger herstellen können als mehr empfangen müssen. Wir sind deshalb immer schon in einer Lebenswelt, wir können keine Lebenswelt neu schaffen, noch können wir sie von außen betreten. Wir sind nie in der Situation, uns alles neu aneignen zu müssen, weil wir leibliche Wesen sind und seit unserer Geburt immer schon ein Herkommen haben und weil wir leiblich existierend an dieses Herkommen gebunden sind. Die Gegebenheiten der Lebenswelt sind zum gro23 24

Janssen 2000: 188. Waldenfels 1999: 184.

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Charakteristika der Lebenswelt

ßen Teil situativ. Das heißt, das, was die Lebenswelt ausmacht, ist nur in begrenztem Maße verallgemeinerbar, anders als die abstrahierenden Strukturen der Wissenschaften. 25 Wir können in unserem Leben viel variieren, aber nie wirklich »von vorne beginnen«, grundlegendes Datum ist die Situation unserer Geburt und des sich von hier kontinuierlich weiter entwickelnden Lebens. Zugleich zeigt diese Weise der Einbindung der leiblichen Existenz, dass unsere Bedingtheit nicht zu verwechseln ist mit einer Determiniertheit durch einen Ursprung. Wir sind von Geburt an darauf aus, Grenzen zu überwinden und in der einen oder anderen Weise »das Weite zu suchen«. »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.« 26 Unsere Natalität prägt zugleich beides, unsere Anbindung an das Herkommen und unsere Ausrichtung auf die Weite, das Neue. Doch ist uns beides nicht gegeben oder verfügbar, es ist beides unaufgebbarer Teil unserer Lebenswelt. Das Schema des Chiasmus bildet diese Akzente ab: Es hat einen unauflösbaren Kreuzungspunkt, eine Verankerung in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt und zugleich ist die Vermittlung durch die Medien Sprechen, Handeln, Wahrnehmen stets auf Aneignung und Vermittlung von Neuem aus. Beispiele für Elemente dieser Lebenswelt lassen sich schnell finden. Die eigene Wohnung ist ein vertrauter Raum, der mit einer bestimmten Atmosphäre verbunden ist. Natürlich müssen wir uns etwa bei einem Wohnungswechsel den neuen Raum erst aneignen. Dann ist die Beziehung zu dem Raum zunächst abstrakt, wir bewegen uns durch ihn über kontrollierte, durchdachte Bewegungen. Mit der Vertrautheit wachsen aber auch die unwillkürlichen Regungen. Wir wachsen in einer Sprache auf. Diese Sprache eignen wir uns nicht abstrakt an, etwa mittels einer Grammatik. Das unterscheidet die erste Sprache, die wir lernen, von allen anderen. Natürlich ist es möglich, die eigene Sprache im Leben durch weitere zu ergänzen, die alltägliche Sprache zu wechseln, doch ist das in der Regel langwierig und mühevoll. Unsere Heimat besteht aus vertrauten Anblicken, Atmosphären und dem Klima. Ihre Landschaft ist eine charakteristische geologische Formation, die eine bestimmte Atmosphäre und eine bestimmte Unverwechselbarkeit 25 26

Vgl. Gethmann 2008: 55. Arendt 1958: 15 f.

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ausstrahlt. Unsere Familie führt uns zu Bindungen, die auch bei konsequenter Leugnung nicht letztendlich aufzulösen ist. Wir erwerben unsere Charaktereigenschaften nicht so, dass wir sie uns aussuchen. Wohl können wir auch unseren Charakter verändern, doch auch das ist nur in Grenzen möglich. Wir wachsen mit der Vermittlung von spezifischen Werten und Grundanschauungen auf, die wir später nicht mehr ablegen können. Grundlegende Einstellungen und Wertorientierungen, die wir bewahren und befolgen, stehen uns nicht einfach zur Verfügung, wir können sie nicht einfach diskutieren und gegebenenfalls, bei besseren Argumenten, einfach fallen lassen. Ihre Geltung beruht nicht auf einem Entschluss und lassen sich deshalb nur unter großen Krisen und tief greifenden Veränderungsschüben zu verändern. Werte und Normen weisen so ein Spektrum auf, das von grundlegenden Werten bis hin zu konkreten handlungsorientierenden Normen in ausdifferenzierten sozialen Systemen reicht. Während die ersteren kaum argumentativ belegt werden können, sind letztere gerade auf argumentative Vermittlung angewiesen. 27 Die Lebenswelt erfasst all jene Anteile der Wirklichkeit, von denen wir sagen würden, dass sie Teil unserer »Identität« sind. Diese Anteile sind in der mittleren Erscheinungsweise der Wirklichkeit mehr oder weniger nah der Mitte gruppiert.

3.

Einige bekannte, alltägliche Begriffe

Die Aufnahme des Begriffs Identität ist sicherlich ungewöhnlich angesichts des theoretischen Rahmens, der von dem ausgeführten phänomenologischen Realismus bestimmt ist. Denn es gibt hier verschiedene Erscheinungsweisen, aber keine geschlossenen Entitäten, denen so etwas wie eine Identität zukommen könnte. Doch ist der Begriff in der hier verwendeten Form nicht auf geschlossene Entitäten angewiesen. Kern jeglicher Identität ist die Tatsache, dass ich verschiedene Phänomene des Leibes als Phänomene meines Leibes werten kann, insbesondere auch solche Phänomene, die ich nur schwer in Worten zu beschreiben vermag, die ich nicht bewusst gewählt und die mir doch wie selbstverständlich sind. Die Identität ist, wenn sie sich in den Phänomenen der Erscheinungsweise X zeigt, nicht verfügbar und auch nicht 27

Vgl. Vogelsang 1998: 124 f.

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Einige bekannte, alltägliche Begriffe

näher bestimmbar. Deshalb neigen wir auch dazu, sie immer wieder für uns erkennbarer zu machen, anschaulich zu symbolisieren und uns so unserer selbst zu versichern. Wir gehen von dieser Identität aus und müssen sie uns doch immer wieder neu aneignen. Wir können also den Begriff der Identität in dem hier vorgeschlagenen theoretischen Rahmen bewahren, wenn wir ihn neu deuten. Er weist nicht auf eine geschlossene Entität, etwas Gegebenes, er weist auf das, wovon wir immer schon ausgehen, ohne es aber »zu Gesicht« zu bekommen, ohne es uns anschaulich machen zu können. Auch andere Begriffe, die wir zu Beginn der phänomenologischen Untersuchung suspendiert haben, lassen sich unter diesen neuen Bedingungen reformulieren. Das gilt auch für den Begriff der Seele. Es ist schon erstaunlich, dass dieser Begriff in der alltäglichen Orientierung nach wie vor als ausdrucksstark erlebt wird, obwohl er in keiner Weise mit den Bedingungen der Leonardo-Welt in Einklang zu bringen ist. 28 Dieser Vorstellung entspricht ja nichts, was man mit naturwissenschaftlichen Mitteln identifizieren könnte. Nun können wir aber den Begriff so verstehen, dass er einen bestimmten Phänomenbereich abdeckt, nämlich insbesondere die Erscheinungsweise des Leibes als X (Gefühl). Damit lässt sich natürlich die weitergehende Interpretation im Sinne einer bestimmten Entität nicht vereinbaren. Weder ist die Seele substantiell gegeben, noch ist sie eine abgeschlossene, in sich identische Entität. Aber es gibt eben viele Phänomene, von denen wir wissen, dass sie weder der Welt der Gedanken, dem Bewusstsein/Geist, zugerechnet werden können, noch dem Körper. So kann man in diesem modifizierten Sinne auch die alte Unterscheidung von Körper, Seele, Geist wieder aufgreifen. Die Substantive weisen auf keine eigenständigen Seinsweisen, aber sie weisen auf irreduzible Erscheinungsweisen. Auch der alltägliche Begriff des »Innen« (im Sinne des Eigenen, abgegrenzt von dem »Außen« der Dinge) kann unter den Bedingungen eines phänomenologischen Realismus neu interpretiert werden. Eine nähere Betrachtung zeigt zunächst, dass die Bestimmung des »Innen« wie die Differenz subjektiv-objektiv doppeldeutig ist. Einerseits bezeichnen wir im Alltag etwas als »Innen«, was sich kaum in Worten ausdrücken lässt. Zum anderen bezeichnen wir das als »Innen«, was sich der äußeren Beobachtung entzieht. Im ersten Fall sind Phänomene wie Gefühle am ehesten gemeint. Im zweiten Fall dagegen sind es eher 28

Vgl. Hoppe 2008 (2): 30.

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9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus und die Lebenswelt

die Gedanken, denn die Gefühle lassen sich, wenn auch nur begrenzt, von außen beobachten. Sind also nun die Gedanken mehr »Innen« oder die Gefühle? Offenkundig gibt es in unseren alltäglichen Vorstellungen hier einen Widerspruch. Das Schema des Chiasmus kann den Widerspruch der alltäglichen Vorstellungen auflösen und beide Aspekte in der einen Figur integrieren.

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10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit

Bevor wir nun nach der Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaften fragen, sollen zunächst einige Bemerkungen zu den Wissenschaften folgen. Das wissenschaftliche Erkennen prägt unser Selbst- und Weltverständnis in erheblichem Maße und hat eine zuvor ungeahnte Ausweitung unseres Verständnisses von der Wirklichkeit bewirkt. Wie kann man den Ertrag der Wissenschaften bewahren und zugleich ihre Absolutsetzung verhindern? Die erarbeiteten Grundlagen zur Beschreibung der Wirklichkeit mit Hilfe des Schemas des Chiasmus können bei der Einordnung der Wissenschaften als Teil menschlicher Erkenntnis einigen Aufschluss geben. Dabei sollen hier die Natur- und Technikwissenschaften im Vordergrund stehen, da sie maßgeblich die Leonardo-Welt prägen und im Umgang mit ihnen auch die Differenz zur Lebenswelt besonders problematisch erscheint. Wie sich das wissenschaftliche Erkennen von anderen Formen des Erkennens unterscheidet, ist nicht so einfach zu bestimmen. Denn es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelwissenschaften, deren Methoden sehr stark voneinander abweichen. So ist die gemeinsame Schnittmenge zwischen der Botanik, der Festkörperphysik und der mathematischen Graphentheorie zu beschreiben. Janich schlägt deshalb eine Minimalbestimmung von dem vor, was wissenschaftliches Erkennen ausmacht: »Wissenschaften haben das Ziel, transsubjektiv gültiges Wissen (…) bereit zu stellen. Das Wort ›transsubjektiv‹ zeigt an, dass die Subjektivität, also der Bezug auf die Einzelperson als Finder oder Träger des Wissens, überwunden oder vermieden werden soll (…).« 1 Mit dieser Definition wird nicht der Objektbereich der Wissenschaften hervorgehoben, sondern die Art des Verhältnisses des Wissens zu der- oder demjenigen, die oder der erkennt. In der Terminologie, die wir bislang verwendet haben, kann man auch sagen, dass beim wissenschaftlichen Erkennen die Fähigkeit einer verallgemeinerten sprachlichen Beschreibung, die sich auf Ordnungsstrukturen be1

Janich 1997: 41.

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10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit

ziehen kann, hoch sein soll. Darauf weist auch die Definition von Gethmann: »›Wissenschaft‹ soll jene Form von Wissen heißen, durch die Menschen über situationsinvariante Orientierungen des Wissens und Handelns verfügen.« 2 Denn nur durch verallgemeinernde sprachliche Strukturen ist gewährleistet, dass das Erkannte unabhängig wird von der Situation oder der Person, die erkannt hat. In gewisser Weise muss ein bestimmter Grad von »Objektivität« erreicht werden, damit das Erkennen den Rang von wissenschaftlichem Erkennen für sich reklamieren kann. Das Wort »objektiv« bezieht sich auf den zweiten Gebrauch nach der Unterscheidung in Kapitel 5.4., auf die Unterscheidung von gesichertem, verallgemeinerungsfähigem Erkennen und partikularen Erkenntnissen. Auch hier gibt es wie auch in anderen Fragen des Vergleichs der Erscheinungsweisen keine absoluten Unterschiede, sondern graduelle Differenzen. Insofern ist es instruktiv, von transsubjektiv gültigem Wissen zu reden, das die Allgemeinheit nur über eine begrenzte Vielzahl von Erkennenden sicherstellt. Denn die Transsubjektivität lässt sich in unterschiedlichen Graden denken, wohingegen die Unterscheidung »subjektiv – objektiv« eher auf absolute Unterschiede hindeutet. Die Verallgemeinerbarkeit, Transsubjektivität vorausgesetzt, lässt sich wissenschaftliches Erkennen aufgrund des Gesagten in dem Schema des Chiasmus an den Rändern lokalisieren, dort wo der Grad insbesondere der sprachlichen Vermittlung hoch ist und differenzierte Strukturen existieren.

1.

Wissenschaftliches Erkennen führt zur Abstraktion

Die Naturwissenschaften streben also danach, die Wirklichkeit in der Erscheinungsweise als Ding mittels methodischer Restriktionen möglichst unabhängig von der besonderen Situation des jeweiligen Erkennenden zu beschreiben. Die wissenschaftlichen Methoden haben deshalb vor allem die Aufgabe, partikulare und unbemerkte Einflüsse des Beobachters auf das Beobachtete systematisch auszuschalten, so dass jede andere Beobachterin, jeder andere Beobachter bei gleichen Ausgangsbedingungen die gleichen Beobachtungen machen und im Idealfall zu den gleichen Erkenntnissen kommen kann. Die Methoden sind sprachlich verfasste Handlungs- und Wahrnehmungsanleitungen, die 2

Gethmann 2008: 56.

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Wissenschaftliches Erkennen führt zur Abstraktion

helfen, transsubjektive Erkenntnisse in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding zu gewinnen. Die so gewonnenen Beobachtungen werden korreliert mit einer möglichst konsistenten Theorie des jeweiligen Gegenstandbereiches. Die Theorien sind Teil der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke. Das wissenschaftliche Erkennen ist damit Teil beider Erscheinungsformen der Wirklichkeit, die sich am Rande des Schemas des Chiasmus befinden. Wissenschaftliches Erkennen besteht aus einer abstrakten und stark formalisierten Begriffssprache, einem methodisch geleiteten Wahrnehmen und Handeln, die sowohl die Theorien in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke prägt, als auch den Gegenstandsbereich in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. 3 Kapitel 7 wies auf die geschichtliche Entwicklung der Erscheinungsweisen. Man kann das Aufkommen und die Entwicklung der Wissenschaften in diesem Kontext als einen Vorgang zunehmender Abstraktion und Verallgemeinerung beschreiben. Janich beschreibt diese Abstraktion, die in der Lebenswelt ansetzt und sich zu immer allgemeineren und formaleren Beschreibungsformen aufschwingt, als »Hochstilisierung« 4 . »Die Hochstilisierung der lebensweltlichen zur wissenschaftlichen Messkunst lässt sich also u. a. daran erkennen, dass eine Universalisierung oder Verallgemeinerung der Sprache zu Begriffen stattfindet, die für eine Fülle verschiedener (Meß-)praxen Geltung hat.« 5 Janich ist es bei diesem bewusst zurückhaltend klingenden Begriff wichtig, den ursprünglichen Kontext der Lebenswelt nicht zu verlieren. Alle Wissenschaft hat sich aus der Lebenswelt entwickelt. Keine Wissenschaft nimmt ihren Ausgangspunkt direkt in der Abstraktion. Damit ist der Weg der Wissenschaften ein Weg der kontinuierlichen Erweiterung der Abstraktionsgrade, ein Weg der Verallgemeinerung, also des Versuchs, durch immer abstraktere, allgemeinere, und umfassendere Begrifflichkeit einen immer größeren Bereich der Wirklichkeit zu beschreiben. 6 Das wissenschaftliche Erkennen ist hier immer verstanden als Resultat aus der Vermittlung aller drei Medien, also von Handeln, Sprechen und Wahrnehmen. Zu Recht weist Janich auf die Bedeutung des Handelns in der wissenschaftlichen Forschung hin, vgl. Janich 1997: 27. Auch die Sprache spielt eine konstitutive Rolle, vgl. Janich 1997: 43, und ebenso muss auch das Wahrnehmen berücksichtigt werden. 4 Der Begriff ist schon von Lorenzen verwendet worden, vgl. Mittelstraß 2000: 107. 5 Janich 1997: 25. 6 Janich weist an anderer Stelle darauf hin, dass Wissenschaft nicht bei der Allgemein3

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10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit

Ist dieser Weg der Abstraktion aber nicht ein Irrweg, der sich von den lebensweltlichen Kontexten immer weiter entfernt? Ohne Zweifel ist die immer prekärer werdende Verbindung wissenschaftlicher Forschung mit der Lebenswelt ein Problem, darauf werden wir noch eingehen. Die abstrakte Wissenschaftssprache führt aber nach der Interpretation des Chiasmus nicht, wie eine kurzschlüssige Polemik nahe legen könnte, zu einer Entfernung von der Wirklichkeit. Wenn wir das Schema des Chiasmus anwenden, erkennen wir, dass auf diese Weise an den Rändern neue Erscheinungsweisen der Wirklichkeit erschlossen werden können, die so zuvor nicht zugänglich waren. Die Wirklichkeit, die sich so zeigt, ist durch eine Abhängigkeit von stark formalisierter Sprache bestimmt, der Grad der Vermittlung durch die Medien steigt, je abstrakter die Wissenschaftskonzepte sind. Die Erscheinungsweisen in den Regionen am Rande des Chiasmus sind bestimmt durch sehr formale und abstrakte Beschreibungsformen. Damit hat die wissenschaftliche Forschung in ihrer Theorieentwicklung nicht einfach nur Bekanntes in abstrakterer Weise beschrieben, sondern auch zuvor unzugängliche Erscheinungsformen erst einmal erschlossen und zugänglich gemacht. Die Vorstellung, dass das Gleiche auch schon vorher in anderer Form bekannt war, setzt voraus, dass die Wirklichkeit beschreibungsunabhängig aus in sich ruhenden Entitäten besteht, die man mit unterschiedlichen Methoden und Erkenntnisweisen analysieren kann. Eine solche Interpretation ist aber durch den Chiasmus ausgeschlossen, die Wirklichkeit ist das, was sich in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen zeigt. Damit soll die Ambivalenz immer abstrakterer Beschreibungen der Wirklichkeit nicht verleugnet werden. Die zunehmende Abstraktion birgt immer auch die Gefahr einer unzureichenden, weil verkürzten Beschreibung der Wirklichkeit, wenn man diese abstrakten Formen »selbstvergessen« als die eigentliche Beschreibung der Wirklichkeit ansieht. Die Ambivalenz erhöht sich gerade durch die technische Nutzbarkeit dieser Erkenntnisse, insbesondere durch die Produktion großtechnischer Systeme wie unsere Mobilitätstechniken oder die zivile und militärische Nutzung der Atomkraft. In heit beginnt, sondern sich auf sie zu bewegt: »Allgemeinheit im Sinne von Allgemeingültigkeit ist vielmehr der erste Schritt in die Wissenschaft hinein, ist der Schritt aus einem Zustand oder einer menschlichen Verfassung heraus, in der keine Allgemeingültigkeit verfügbar ist: dem ›Vorallgemeinstandpunkt des täglichen Lebens‹.« Janich 1996: 24.

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Der wissenschaftliche Fortschritt

einer Leonardo-Welt, in der das wissenschaftliche Erkennen und seine technische Verwertung verabsolutiert werden, verarmen die Vorstellungen von der Wirklichkeit, unsere endlich-leibliche Existenz kann in diesen Kategorien gar nicht mehr angemessen zum Ausdruck gebracht werden. Doch die problematischen Seiten sollen erst einmal zurückgestellt und der Gewinn an Erkenntnis und Fähigkeit der Wirklichkeitsdeutung hervorgehoben werden.

2.

Der wissenschaftliche Fortschritt

Man kann also den Fortgang der Naturwissenschaften als eine schrittweise Verallgemeinerung ihrer theoretischen Konzepte und ihrer Instrumente und Methoden beschreiben. Dies bedeutet nicht nur eine Erschließung neuer Bereiche der Wirklichkeit, damit geht auch eine aufklärerische Leistung einher. Die Ausgangslage zu Beginn der naturwissenschaftlichen Ära war geprägt durch eine Vielzahl metaphysischer Unterscheidungen, mit deren Hilfe die Wirklichkeit gedeutet wurde. Die Unterscheidungen wurden zurückgeführt auf unterschiedliche Substanzen und Sphären, für die unterschiedliche Gesetze gelten sollten. So wurde etwa unterschieden zwischen den Gesetzmäßigkeiten der superlunaren und jenen der sublunaren Sphäre. Es wurde weiterhin unterschieden zwischen der Beschreibung der zielgerichteten menschlichen Intervention (Mechanik) und der Beschreibung der natürlichen Bewegung der Gegenstände (Physik). Es wurde kategorial unterschieden zwischen der Beschreibung der unbelebten Natur (sekundäre Ursachen) und der Beschreibung der belebten Natur (primäre Ursachen). Damit sind nur drei wichtige Unterscheidungen benannt, deren Infragestellung mit tiefgreifenden naturwissenschaftlichen Innovationen einher gingen. Galilei hat, indem er das Fernrohr auf die Jupitermonde richtete, um sie zu beschreiben, die Unterscheidung der Sphären sublunar und superlunar grundsätzlich in Frage gestellt, die Gesetze der Natur gelten für alle Bereiche der Wirklichkeit gleichermaßen. 7 Zudem hat er, und ihm folgend Newton, mit seinem Versuch einer allgemeinen mathematischen Beschreibung der physikalischen Vorgänge Dass die ersten Schritte von Galilei eher durch Wagemut als durch zwingende Erkenntnis geprägt waren, hat detailliert Feyerabend herausgearbeitet, vgl. Feyerabend 1986: 145 ff.

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10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit

die Vorstellung verworfen, Dinge folgten natürlichen Gesetzesmäßigkeiten, während das menschliche Handeln anders beschrieben werden müsse. 8 Darwin schließlich hat mit seiner Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten der Evolution die Unterscheidung von primären und sekundären Ursachen entkräftet. Hier sind nur drei der wichtigsten Unterscheidungen benannt, die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte aufgehoben wurden. Weitere Theorien wie die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie haben die scheinbar fundamentalen Grenzen zwischen Raum und Zeit oder zwischen Energie und Materie aufgehoben. Diese Darstellung des Fortgangs wissenschaftlicher Erkenntnis ist mit der Grundannahme der Theorieentwicklung, wie sie Popper beschrieben hat, kompatibel. Nach dem Falsifikationsprinzip lassen sich Aussagen wissenschaftlicher Theorien nicht belegen, wohl aber widerlegen. Diese offene Suche der Wissenschaften, die zu keinem letztgültigen Urteil kommt, wohl aber falsche Annahmen beseitigen kann, bestätigt auch Merleau-Ponty: »Man darf von der Wissenschaft zwar keine fertige neue Konzeption der Natur verlangen, aber wir finden in ihr etwas, das uns ermöglicht, falsche Konzeptionen der Natur zu beseitigen.« 9 Zudem führt die Falsifikation alter Annahmen zu neuen Erkenntnissen, nicht nur zur Neuinterpretation von schon Bekanntem: »Wir hoffen, mit Hilfe eines neu zu errichtenden wissenschaftlichen Systems neue Vorgänge zu entdecken; an dem falsifizierenden Experiment haben wir höchstes Interesse, wir buchen es als einen Erfolg, denn es eröffnet uns Aussichten in eine neue Welt von Erfahrungen.« 10 Im Schema des Chiasmus wird diese Entwicklung einer immer abstrakteren Darstellung der Wirklichkeit durch die Ausweitung des Chiasmus an seinen Rändern abgebildet. Hier erscheint die Wirklichkeit in einer Weise, wie sie zuvor nicht zugänglich war, und es zeigt sich so in der Tat Neues. Die Erfolge, die in der Überwindung traditioneller Annahmen über die Wirklichkeit liegen, sind auch der Grund für den Optimismus naturalistischer Positionen. Dennett zum Beispiel führt immer wieder diese Erfolge an, um einerseits die Vernünftigkeit künftiger Erfolge zu Vgl. Mittelstraß 2000: 113. Merleau-Ponty 2000: 125. Weiterhin: »Wenn das alles stimmt, sieht man, dass die Physik den Sinn hat, uns ›negative philosophische Entdeckungen‹ machen zu lassen, indem sie zeigt, dass ›bestimmte Behauptungen, die eine philosophische Wirklichkeit beanspruchen, in Wirklichkeit keine haben.‹« A. a. O.: 144. 10 Popper 2005: 56. 8 9

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Der wissenschaftliche Fortschritt

begründen und andererseits deutlich zu machen, dass alle anderen Erkenntnisquellen außerhalb der Wissenschaften fragwürdig und im Zweifel fehlerbehaftet sind. In dieser Denkweise ist es nur konsequent, etwa auch die Unterscheidung zwischen den Gedanken und den naturgesetzlich beschreibbaren neuronalen Vorgängen dadurch aufzuheben, dass man auf die Allzuständigkeit der Wissenschaften setzt. 11 Doch ist der Anspruch, der sich aus den unbestreitbaren Erfolgen der Wissenschaften ableitet, schlicht falsch, allein die wissenschaftliche Forschung könne uns fehlerfreien Aufschluss über die Wirklichkeit geben. Die Berücksichtigung unserer existentiellen leiblichen Verbundenheit mit der Wirklichkeit untersagt eine solche Sichtweise. Das Schema des Chiasmus zeigt deutlich, dass nicht alle Erscheinungsweisen der Wirklichkeit sich wissenschaftlich erfassen lassen. Und doch sind gerade diese Erscheinungsweisen, die sich einer wissenschaftlichen Analyse weitgehend entziehen, Quellgrund von Sinn und Wahrheit im emphatischen Sinne. Wer im Raum der wissenschaftlichen Strukturen nach selbsttragenden Quellen des Sinns sucht, orientiert sich an der falschen Erscheinungsweise. Ohne Zweifel können Wissenschaftler und Entdecker große Sinn-Erfahrungen machen, wenn sie ein erstes Mal auf neue, umfassende Strukturen der Wirklichkeit stoßen. Doch sind diese Sinn-Erfahrungen nicht mit der Ordnung verbunden, die jemand entdeckt, sondern mit der leiblichen Existenz und der situativen Gebundenheit der- oder desjenigen, die oder der die Entdeckung macht! Deshalb ist sie nur von begrenzter Dauer und den Nachfolgenden ist diese Erfahrung in der Regel schon nicht mehr gegönnt. 12 Ohne Zweifel haben auch unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus Unterscheidungen eine große Bedeutung, das Schema des Chiasmus hebt ja gerade die Unaufhebbarkeit der Unterscheidung der Erscheinungsweisen hervor. Nur sind diese Unterschei11 »The challenge is to construct a theory of mental events, using the data that scientific method permits.« Dennett 1993: 71. 12 Besonders eindrucksvoll ist dazu jenes Zitat von Newton, mit dem er in einem späten Brief seine Vorstellungen zur Gravitation beschreibt. Heute dagegen weiß jedes Schulkind, dass sich zwei Massen anziehen. Newton dagegen: »That gravity should be innate inherent and essential to matter so that one body may act upon another at a distance through a vacuum without the mediation of anything else by and through which their action or force may be conveyed from one to another is to me so great an absurdity that I believe no man who has in philosophical matters any competent faculty of thinking can ever fall into it.« Cohen/Westfall 1995: 337.

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dungen mit einer immer abstrakteren Deutung der Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften kompatibel. Das Schema legt einerseits nah, dass mit dem wissenschaftlichen Fortschritt immer mehr von der Wirklichkeit erfasst werden konnte. Unsere Wirklichkeit ist zum Beispiel nicht durch verschiedenartige Substanzen bestimmt. In der Aufhebung unhaltbarer metaphysischer Unterscheidungen liegt ein aufklärerischer Kern der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit. Doch zugleich zeigt das Schema auch, dass eine Verabsolutierung wissenschaftlicher Erkenntnis unmöglich ist. Ein Index für einen Fortschritt kann man auch in der zunehmenden technischen Handlungs- und Gestaltungsmacht gesehen. Diese Entwicklung ist sicherlich nicht eindeutig und von großen Ambivalenzen geprägt, wie technisch hochgerüstete Kriege, unmenschliche Produktionsbedingungen und Umweltverschmutzung zeigen. Dennoch ist es kaum möglich, ohne einen pragmatischen Selbstwiderspruch die technische Zivilisation als Irrweg abzutun. Wir leben in einem technisierten Umfeld und profitieren von den sehr vielen Vorzügen und Lebenserleichterungen, die es bereitstellen kann. Es ist angesichts der weltweiten Rezeption der technischen Artefakte außerdem kaum zu begründen, hier nur einen europäischen Sonderweg zu sehen. Die Veränderungen der menschlichen Welt durch Technik sind nachhaltig. »Technikgeschichte ist nicht eine chronologische Abfolge verschiedener Praxen, die sich zueinander verhalten wie die Kuhnschen Paradigmen oder inkommensurable Lebensformen. Technikgeschichte ist vielmehr in einem gewissen Sinne eine Erfolgs- und Fortschrittgeschichte insofern, als technisch erreichte Zwecke immer Mittel für neue Zwecke bereitstellen und die Beherrschung der alten dabei nicht verloren gehen.« 13 Da Wissenschaft und Technik in einem engen Wechselverhältnis existieren, bedeutet diese Charakterisierung der technischen Entwicklung auch ein Urteil für die wissenschaftliche Entwicklung. Damit aber stellt sich nun die entscheidende Frage, in welche Richtung die Entwicklung in der Zukunft nehmen wird. Viel kommt nun darauf an, dass die weitere Entwicklung in der Lage ist, wieder stärker an die Lebenswelt und ihre Ressourcen abzuknüpfen. Manche Ambivalenzen, Unsicherheiten und Fehlentwicklungen zeigen, wie dringend dies notwendig ist. Aber die Aufzählung aller möglichen Abwege spricht nicht dagegen, dass auch eine Entwicklung zum Positiven möglich sein kann. 13

Janich 1997: 198 f.

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Das Verhältnis von Theorie und Empirie

Auch hierin können wir an die Haltung des politischen Philosophen Merleau-Ponty anknüpfen: »Was aus einer Reflexion auf die Geschichte folgt, ist für Merleau-Ponty ›nicht die Revolte, sondern die virtù ohne wirkliche Resignation‹ (…). Was daraus folgt, ist der kluge und vernünftige Glaube an die Möglichkeit eines gewissen Fortschritts.« 14

3.

Das Verhältnis von Theorie und Empirie

Die Naturwissenschaften waren mit dem Vorsatz angetreten, nicht alten, in Büchern tradierten Lehren zu folgen, sondern nur solche Erkenntnisse zu akzeptieren, die sich allein durch die methodengeleitete Beobachtung der Wirklichkeit erschließen lassen. Diese Betonung der Empirie, der Erfahrung vor jeder anderen Quelle des Wissens, ist in der Tat ein zentrales Moment der Naturwissenschaften. Jedoch ist es nicht möglich, das Wissen allein auf Beobachtung zu stützen. Denn wissenschaftliches Erkennen besteht nicht nur aus der Beobachtung der Wirklichkeit, sondern auch aus der Beschreibung der Beobachtungen und ihrer Zusammenfassung in einer Theorie. Nun stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Jede empirische Theorie muss die Unabhängigkeit von Beobachtung und Beschreibung garantieren, da es sonst zu der theoretischen Beschreibung kein kritisches Gegenüber mehr gibt. Wir sahen nun schon aber, dass das korrespondenztheoretische Konzept von Wahrheit unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus nicht anwendbar ist. Die wissenschaftstheoretische Diskussion hat im Einklang damit gezeigt, dass Beobachtungen wiederum auch theorieabhängig sind. 15 Das Verhältnis von Theorie und Empirie ist aus zwei Gründen wesentlich komplizierter als ein Verhältnis zweier unabhängiger Mengen, der theoretischen Aussagen und der Beobachtungen. Erstens ist es unmöglich, eine eineindeutige Beziehung zwischen Tatsachen und theoretischen Aussagen zu bilden. Putnam weist nach, dass eine Vorstellung, Theorien seien die eindeutige Abbildung der Verhältnisse theoriefreier Tatsachen, zwischen beiden bestünde also ein Isomorphismus, nicht zum Ziel führen kann, weil Theorien in diesem Szenario immer unterbestimmt sind, das heißt, es gibt immer auch die Möglich14 15

Madison 1986: 184. Vgl. Chalmers 2001, 14 f.; Poser 2001, 90 f.

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keit, eine andere Theorie mit einer ganz anderen Struktur zu finden, die die endliche Zahl der Beobachtungen in einem ganz anderen Zusammenhang darstellt. Der Fehler, den die Vorstellung von der einen wahren Theorie macht, »ist nicht, dass es keine Entsprechung zwischen Wörtern oder Begriffen und anderen Entitäten gibt, sondern dass es zu viele Entsprechungen gibt. Um nur eine Entsprechung zwischen Wörtern oder geistigen Zeichen und geistesunabhängigen Dingen herauszugreifen, müssten wir schon einen Bezugszugang zu den geistesunabhängigen Dingen haben.« 16 Mag es auch ein experimentum crucis geben, das eine entscheidende Experiment, das eine bestimmte theoretische Voraussage widerlegt, so sind immer noch eine beliebig große Zahl von alternativen theoretischen Deutungen möglich. Der Grund für dieses Problem liegt darin, dass wir über keinen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit verfügen, der die Wirklichkeit als ein Gegenüber festlegen könnte. Der zweite Grund ist noch gewichtiger: Es lassen sich nämlich »reine« Tatsachen überhaupt nicht identifizieren. Welche Beobachtung man auch immer macht, sie ist unausweichlich verbunden mit Erwartungen, mit bestimmten Annahmen dessen, was zu beobachten sein soll. Keine Beobachtung kann vorbehaltlos alles wahrnehmen. Um etwas Bestimmtes, also eine »Tatsache« wahrnehmen zu können, muss man die unendliche Vielzahl von Möglichkeiten reduzieren. Dies geschieht in den empirischen Wissenschaften durch eine bestimmte Gestaltung des Versuchsaufbaus und durch Beobachtungs- und Messvorschriften. Natürlich aber sind all diese Vorrichtungen und methodischen Anweisungen wiederum theorieimprägniert. Deshalb ist es die Differenz zwischen Sätzen der Beobachtung von Tatsachen und Sätzen der Theorie wissenschaftstheoretisch nicht klar zu trennen. 17 Doch trotz aller Vorbehalte einer eindeutigen Trennung von Theorie und Beobachtung, irgendeine Form der Unabhängigkeit des Beobachteten müssen aber empirische Wissenschaften voraussetzen können, weil sie sich sonst nicht mehr von idealistischen oder konstruktivistischen Ansätzen unterscheiden.18 Die Empirie kann ja auch, Putnam 1990: 104. Dies hat in der angelsächsischen Diskussion zu einer Popularität des Begriffs kritischer Realismus geführt, der die Einflussnahme des Beobachters kritisch aufzunehmen versucht. Zur Debatte und zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes zu einem konstruktiv-kritischen Realismus, vgl. Losch 2011. 18 Vgl. Poppers Beschreibung einer empirischen Methode, die mit dem folgenden Ab16 17

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Das Verhältnis von Theorie und Empirie

dafür gibt es viele Beispiele in der Forschungsgeschichte, tatsächlich überraschende Effekte hervorbringen, die vom Stand der Theorie nicht erwartet waren. So haben Michelson und Morley die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Erdbewegung gefunden oder Meisner und Hahn den radioaktiven Zerfall von Atomen entdeckt. Der entdeckte Zusammenhang führt dann zu einer erweiterten oder auch veränderten theoretischen Beschreibung. Andererseits kann es auch erfolgreiche und bewährte Handlungszusammenhänge geben, obwohl keine geschlossene theoretische Beschreibung existiert, wie etwa bei dem berühmten Welle-Teilchen-Dualismus von Elementarteilchen. So zeigt sich eine vertrackte, wechselseitige Beziehung von Empirie und Theorie. Auf der einen Seite sind beide aufeinander bezogen, die Theorie legt die Beobachtung spezifischer Größen und die Art und Weise ihrer Beobachtung nah, auf der anderen Seite gibt es genügend Hinweise auf deren Unabhängigkeit. Es besteht also im Fazit ein Zugleich von Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Nun können weder monistische noch dualistische Theorien dieses Verhältnis abbilden. Mit Hilfe des Schemas des Chiasmus lässt es sich jedoch recht gut deuten. Zunächst einmal sind Theorie und Empirie voneinander getrennt, weil sie unterschiedlichen Erscheinungsweisen zugehören, einerseits der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke, andererseits der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding. Die Erscheinungsformen haben, wie wir oben gesehen haben (Kapitel 6.3.), grundlegend andere Charakteristika. In der Theorie als Teil der Erscheinungsweise Gedanke werden Aussagen über die Existenz des Elektrons in ein Verhältnis zu Aussagen über andere physikalischen Größen gesetzt und so geprüft, ob diese miteinander kohärent sind. In der Empirie, in bestimmten Versuchsaufbauten, also in der Erscheinungsweise Ding dagegen untersuche ich in methodisch gestalteten Handlungen, den Experimenten, ob sich die Behauptungen über die Wirklichkeit auch im Handlungskontext bewähren. Für beide Erscheinungsweisen gibt es unterschiedliche Prüfverfahren, weil auch unterschiedliche Vorstellungen von Wahrheit relevant sind. Andererseits sind beide Erscheinungsweisen der Wirklichkeit auch eng verbunden: Beide Erscheinungsweisen am Rand des Chiasgrenzungskriterium zusammenhängt: »Wir beschließen, solche Verwendungsregeln für die Sätze der Wissenschaft einzuführen, die die Nachprüfbarkeit, die Falsifizierbarkeit dieser Sätze sicherstellen.« Popper 2005: 26.

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mus sind in hohem Maße durch die Medien vermittelt, insbesondere durch das Sprechen. Was auch immer erscheint, als Gedanke oder als Ding, ist somit auch durch das Sprechen bestimmt. Dies schafft eine unaufhebbare Gemeinsamkeit zwischen beiden Erscheinungsformen. Wenn ich nicht einen Begriff von Elementarteilchen wie dem Elektron habe, kann ich weder eine Theorie der Elektronen aufstellen, noch Versuchsanordnungen ausdenken, die die Messung von Elektronen ermöglichen. Die grundlegende Annahme einer nicht objektivierbaren Wirklichkeit, die gemäß dem phänomenologischen Realismus sich in unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren Erscheinungsweisen zeigt, kann das Verhältnis von Theorie und Empirie deutlicher machen. Einerseits besteht keine Gefahr, dass sie in quasi idealistischer oder konstruktivistischer Weise miteinander identifiziert werden. Andererseits aber zerfallen auch nicht beide in zusammenhangslose Mengen. Wie aber die korrespondierende Stabilität in den Erscheinungsweisen entsteht, entzieht sich unserer Kenntnis. Im Schema des Chiasmus kommt die unanschauliche Verbundenheit dadurch zum Ausdruck, dass die Wirklichkeit nicht in zwei Sphären zerfällt, sondern als ein und dasselbe Verschränkungsgeschehen gedeutet wird. Diese Verschränkung geschieht durch die Medien Sprechen, Handeln und Wahrnehmen. Es ist die eine Wirklichkeit, die sich in unterschiedlichen Erscheinungsweisen zeigt. Dadurch, dass durch die Irreduzibilität der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding die Eigenständigkeit der Empirie bewahrt bleibt, kann man den phänomenologischen Ansatz auch einen Realismus nennen. Jedoch ist es ein Realismus, der ähnlich wie der interne Realismus von Putnam, graduelle Veränderungen kennt, nicht die simple Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Theorie.

4.

Transdiziplinarität

Welche Folgerungen kann man aus dem Gesagten für die wissenschaftlichen Methoden ziehen? Es scheint aufgrund der vielfältigen Erscheinungsweisen der Wirklichkeit unzureichend zu sein, wenn die Wissenschaften sich auf die einmal etablierten und erfolgreichen Methoden beschränken. In vielen Bereichen des bestehenden Wissenschaftssystems herrscht heute eine eher konventionalistische Position vor. Eine 388 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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Transdiziplinarität

interdisziplinäre Forschung, die die Methoden nicht eng reglementiert, sondern auf methodisch neuen Wegen zu neuen Einsichten zu gelangen versucht, ist in dem eher disziplinär gestalteten Wissenschaftssystem die Ausnahme. 19 Dies vergrößert nicht nur die Gefahr einer Haltung, es gäbe ja doch »nichts anderes als« das, was die etablierten Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften mit ihren jeweiligen Methoden ermitteln können. Aber eine solche Isolierung ist auch für die Wissenschaft selbst sehr ungünstig. Sie schneidet wesentliche Innovationspotentiale ab, die aus einer engeren Verbindung mit anderen kulturellen Sphären sich ergeben könnten. Die Forderung nach einer offenen Pluralität der Methoden ist immer wieder in der Wissenschaftstheorie erhoben worden. Chalmers etwa plädiert für eine kontinuierliche Variation der Methoden: »Die zugrunde liegende allgemeine Idee ist die, dass einzelne Teile des Netzes von Zielen, Methoden, Maßstäben, Theorien und beobachtbaren Tatsachen, das Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit konstituiert, progressiv verändert werden können. Der jeweils verbleibende, unveränderte Teil des Netzes bildet den Hintergrund für die Begründung des Wechsels.« 20 Die Aussicht auf neue Erkenntnisse war für Popper leitend, um sich gegen einen Konventionalismus abzugrenzen, dem es vor allem um den Bestand der gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnisse geht. Popper muss in der Diskussion konzedieren, dass es unmöglich ist, ein zwingendes Argument gegen den Konventionalismus aufzustellen. Eher geht es um eine bestimmte Haltung, die sich mit der Bereitschaft verbindet, einmal eingeschlagene Wege auch wieder zu verlassen. Bei Popper ist dies jedoch nicht durch das Ziel transdisziplinärer Forschung motiviert, sondern durch die Einsicht in die Fehlerhaftigkeit alter Annahmen. 21 Eine neue Welt von Erfahrungen ist aber nur möglich, wenn man die Methoden, die man bislang angewendet hat, auch zu variieren bereit ist. Jürgen Mittelstraß hat den Weg der Transdisziplinarität vorgeschlagen, um neue Wege jenseits etablierter Methoden zu erproben. 22 Diese Transdisziplinarität ist durch eine zweifache Bestimmung gekennzeichnet. Zum einen begnügt sie sich nicht mit 19 »Grenzen der Fächer und der Disziplinen drohen nicht nur zu Wahrnehmungs-, sondern auch zu Erkenntnisgrenzen zu werden.« Mittelstraß 1997: 68. 20 Chalmers 2001: 138. 21 Vgl. Popper 2005: 56. 22 Vgl. Mittelstraß 2001 (1): 89 ff.

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der disziplinären Aufteilung der Wissenschaften, zum anderen aber strebt sie auch keine umfassende Einheitswissenschaft an. »Gemeint ist damit weder ein neuer (wissenschaftlicher und/oder philosophischer) Holismus noch ein Überschreiten des Wissenschaftssystems. Mit Transdisziplinarität als neuem Holismus wäre die Vorstellung gemeint, es ginge hier um ein wissenschaftliches Prinzip bzw. um eine wissenschaftliche Orientierung, in der sich Probleme ganzheitlich lösen ließen.« 23 Die Absage an einen Holismus stimmt mit der Grundannahme des Schemas des Chiasmus überein, dass es keine übergreifende konsistente Darstellung der Wirklichkeit geben kann. Die Transdisziplinarität sollte neue Wege eröffnen und bestehende methodische Grenzen zwischen den Wissenschaften durchlässiger machen: »Wichtig ist allein, dass sich Wissenschaft und Forschung dessen bewusst sind und produktive Forschung nicht durch überholte (meist gewohnheitsmäßig vorgenommene) Einschränkungen auf fachliche und disziplinäre Engführungen begrenzt wird.« 24 Mittelstraß versteht deshalb die Transdisziplinarität zunächst als eine Forschungsstrategie zur Erkundung der Wirklichkeit, nicht als normative Vorgabe für die Gestaltung von Theorien. Nun finden seit einiger Zeit Forschungsfelder Aufmerksamkeit, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht in dem methodisch ausdifferenzierten Wissenschaftssystem verortet werden können. Möglicherweise zeigt sich hier ein Wandel, der der Forderung nach Variation der Methoden und Transdiziplinarität nahe kommt. Ich möchte nur auf zwei dieser Forschungsfelder verweisen, auf die Forschungen zu Emotionen und auf die Anthropologie. Beide Bereiche sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht auf die Grenzen etablierter Wissenschaftszweige zurückziehen können. Zur Erforschung der Gefühle ist oben schon einiges gesagt worden (Kapitel 5.6.). Der Bereich der Gefühle ist innerhalb des Chiasmus in der mittleren Erscheinungsform zu lokalisieren. Diese ist gerade dadurch ausgezeichnet, dass es nur eine geringe Vermittlung durch Sprechen und durch Handeln gibt. Folglich entzieht sich dieser Bereich einer methodisch durchstrukturierten Untersuchung. So bleibt nur sich von den Rändern des Chiasmus her, in denen Ordnungsstrukturen etabliert werden können, auf diesen mittleren Bereich hin vorzuarbei23 24

A. a. O.: 93. A. a. O.: 94.

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Transdiziplinarität

ten. Wie dargestellt geschieht das in der Emotionsforschung durch neurologische Untersuchungen, die sich von der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Körper nähern und ebenso durch kognitive Theorien die sich von der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Gedanke nähern. Zugleich hat Hermann Schmitz es unternommen, bei der Erscheinungsweise selbst anzusetzen und hat instruktive Hinweise gegeben, wie man sich dieser Erscheinungsweise öffnen kann, ohne sie mit bestimmten Vorannahmen über das, was Gefühle sind, zu verwechseln. Hinzu kommen neuerdings sozialwissenschaftliche Ansätze, die auf die soziale Formung von solchen Gefühlen aufmerksam machen, die stärker kulturell vermittelt sind. 25 Im Bereich der Gefühle bzw. Emotionen gibt es also eine breite interdisziplinäre Forschung und es ist sicherlich begründet, hier auch die Entwicklung neuer methodischer Formen zu erwarten. Auch die Anthropologie gewinnt in den letzten Jahren an immer mehr Aufmerksamkeit. Hierbei steht eine doppelte Ausrichtung im Zentrum der methodischen Überlegungen. Wenn man einen umfassenden anthropologischen Ansatz verfolgt, kommt man nicht umhin, sowohl die kulturelle Bedingtheit des Menschen zu berücksichtigen, wie auch seine biologische Bedingtheit. Beides ist nur zu erreichen, wenn man keinen methodischen Dogmatismus betreibt. 26 Nun entsteht das Dilemma, das man einerseits nicht die eine Seite auf die andere zurückführen möchte, um eine biologistische oder eine kulturalistische Verkürzung zu vermeiden, dass man andererseits aber keine methodischen Grundlagen zur Verfügung hat, beide Anteile unverkürzt in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Anthropologische Untersuchungen sind erheblichen methodischen Vorbehalten ausgesetzt, gegen die man sich zur Wehr setzen muss: »Denn die zahlreiche, teils gewichtigen Einwände, die gegen anthropologische Theoriebildungen erhoben worden sind – vor allem der dreifache Verdacht essentialistischen, dualistischen oder schlecht-teleologischen Denkens –, decouvrieren nur reduktionistische und deshalb zu meidende Antwortversuche auf eine Frage, die so hartnäckig wiederkehrt, dass wir sie gar nicht nicht stellen Vgl. Flam 2002; Schützeichel 2006. Die Voraussetzungen für eine interdisziplinäre Arbeit sind aber auch günstig, denn es gilt: »(…) that natural sciences are not determined by a single set of such assumptions, theories and results. On the contrary, there are diverse theoretical framworks available, which might very well be based on and lead to different anthropological assumptions.« Grunwald et al. 2002: IX. 25 26

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können – die Frage nach unserem Selbst- und Weltverhältnis als solchem.« 27 Eine Anthropologie in diesem, von Matthias Jung expliziertem Sinne stellt sich also dem gleichen Ausgangsproblem, wie wir dies in diesem Text getan haben. Jung sieht gleich mehrere Ansätze in den jüngsten Zeit, die sich diesem umfassenden Problem stellen. Dass hier die Frage des menschlichen Ausdrucks und der Verkörperung von Zeichen eine zentrale Rolle spielt, zeigt eine systematische Nähe zu den Themen, die auch schon Merleau-Ponty bearbeitet hat. 28 Ein weiterer Ansatz ist der von Michael Tomasello. Auch dieser setzt die menschliche Kommunikation in den Mittelpunkt seines anthropologischen Ansatzes. Tomasello ist klar der naturwissenschaftlichen Forschung verbunden, doch ihm ist bewusst, dass er methodisch eine naturwissenschaftliche Engführung vermeiden muss. Allerdings erklärt er dennoch, dass trotz aller Offenheit für Prozesse des Verstehens sein Ansatz naturalistisch sei. 29 Im Kern beschreibt er seinen Ansatz als das Modell der dualen Vererbung. So »(…) ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass Menschen eine biologisch vererbte Fähigkeit zur kulturellen Lebensform besitzen.« 30 Doch ist das, was sich kulturell entwickelt, nicht einlinig in ein biologisches Gesamtkonzept einzubinden. Das zeigt sich insbesondere bei der Offenheit gegenüber drei unterschiedlichen Zeitskalen, bei der keine dominant ist: »Von einer metatheoretischen Perspektive aus behaupte ich also, dass wir die menschliche Kognition nicht völlig verstehen können – zumindest nicht ihre spezifisch menschlichen Aspekte –, ohne im einzelnen zu betrachten, wie sie sich auf drei verschiedenen Zeitskalen entfaltet: – die Zeit der Phylogenese (…) – die geschichtliche Zeit (…) – die Zeit der Ontogenese (…).« 31 Viel hängt meiner Ansicht nach an der Frage, ob die Anthropologie in der Lage ist, von einem Ansatz beim Individuum zu lassen und von Beginn an die soziale Bedingtheit des Menschen zu konzipieren. 32 Jung 2010: 3. Jung sieht allerdings die Reichweite einer Phänomenologie der Leiblichkeit skeptisch, die nach seiner Meinung die physische Interaktion nicht genügend berücksichtigt, vgl. a. a. O.: 351. 29 »Dieser Prozess ist jedoch Gegenstand einer naturalistischen (aber nicht reduktionistischen) Untersuchung.« Tomasello 2006: 9. 30 A. a. O.: 74. 31 A. a. O.: 254 f. 32 Tomasello arbeitet in diese Richtung: »In unserem Computerzeitalter und im ›Jahr27 28

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Wissenschaften unter den Bedingungen der Leonoardo-Welt

5.

Wissenschaften unter den Bedingungen der Leonoardo-Welt

In dem letzten halben Jahrhundert hat sich das Wissenschaftssystem gravierend verändert. Nun ist die wissenschaftliche Forschung nicht nur eine Quelle der Bedingungen der Leonardo-Welt, das wissenschaftlich-technische System wirkt wiederum zurück auf die Wissenschaften, die Forschungsbedingungen und auch auf das Selbstverständnis der wissenschaftlich arbeitenden Menschen. Die Leonardo-Welt ist geprägt durch eine enge Verbindung von Erkennen und technischer Verwertung des Erkannten. Mittelstraß spricht von einer »›Industrialisierung‹ der Wissenschaft« 33 . Dadurch prägt ein starker Verwertungsimperativ die Gestalt und Ausführung von wissenschaftlichem Forschen. Wissenschaftliches Forschen wird daraufhin betrachtet, inwieweit es fähig ist, neue Verfahren oder neue Produkte zu generieren, die den Standort sichern. »Der Verwertungsdruck auf die Forschungseinrichtungen, unter ihnen die Universitäten, steigt; ein immer wieder angemahnter Wissenstransfer besagt, dass in der Wissenschaft die Dinge so weit vorzufertigen sind, dass sie die Wirtschaft wie Rohlinge gleich in die weiterverarbeitende und wirtschaftende Hand nehmen kann.« 34 Dieser Imperativ wirkt sich nicht nur auf industrielle Forschung im engeren Sinne aus. Auch Forschungsprozesse an staatlich geförderten Forschungseinrichtungen, auch an universitären Einrichtungen, müssen sich diesen Zielvorstellungen anpassen. Wege, auf denen die Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung vorgegeben werden kann, sind Forschungsfördermaßnahmen, Forschungsprogramme oder auch Forschungsverbünde. Damit ergibt sich mehr und mehr eine Ausrichtung der Forschung anhand von ökonomischen Kriterien. In einer gewissen Weise vollzieht sich hier die Kolonialisierungsthese von Habermas, jedoch nicht zwischen der systemisch ausdifferenzierten Gesellschaft und der Lebenswelt, vielmehr zwischen zwei ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bezehnt des Gehirns‹ ist es vielleicht sonderbar, dass diese radikal neue und wirkungsvolle Form kognitiver Repräsentation nicht aus irgendwelchen neuen Speicheranlagen oder größerer Rechnerkapazität innerhalb des Gehirns vorgeht, sondern vielmehr aus den neuen Formen der sozialen Kognition zwischen Individuen in menschlichen Kulturen ermöglicht wird.« A. a. O.: 268. Vgl. auch Tomasello 2009: 83 ff. 33 Mittelstraß 1997: 51. 34 Mittelstraß 2001 (1): 40 f.

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reichen, denen der Wissenschaft und dem der Wirtschaft. Diese Veränderung hat gravierende Auswirkung auf das Selbstverständnis und die Gestalt wissenschaftlicher Forschung. Die wissenschaftliche Erkenntnis hat eine eigene Logik und Rationalität. Es ist in keiner Weise begründet, dass ökonomische Steuergrößen wissenschaftliches Erkennen optimal gestalten können. Im Gegenteil, es ist gerade zu befürchten, dass eine Forschung, die dem ökonomischen Imperativ der Verwertung unterworfen ist, nicht mehr die Kraft zu grundlegenden Innovationen hat, sondern nur noch unter eng vorgegebenen Rahmenbedingungen Bekanntes verfeinert. Doch hat sich in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder gezeigt, dass tiefgreifende wissenschaftliche Innovationen sehr überraschend, in gewisser Weise kontrafaktisch zu den Erwartungen entstanden. Man muss also annehmen, dass ein erhebliches Maß an innovatorischem Potential verloren geht, wenn das Wissenschaftssystem sich allein auf ökonomische Verwertungsinteressen ausrichtet. Staatliche Wissenschaftsförderung muss sich daran messen lassen, ob es ihr gelingt, genügend Ressourcen wissenschaftlicher Forschung von den unmittelbaren Verwertungsinteressen frei zu halten.

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11. Wissenschaft und Kultur

1.

Zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt

Das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt ist ein im 20. Jahrhundert oft diskutiertes Thema. Die Diskussion ist geprägt durch die Erkenntnis, dass die Wissenschaften den Bezug zur Lebenswelt verloren haben. Husserls Prägung des Begriffs Lebenswelt mit der Absicht, ein kritisches Gegengewicht gegenüber einer wissenschaftlichen Interpretation der Wirklichkeit zu bilden, war außerordentlich erfolgreich und hat nicht zuletzt die Arbeiten von Merleau-Ponty stark beeinflusst. 1 Welche Potentiale bietet der Begriff der Lebenswelt, um die zunehmende Abstraktion der Wissenschaften in Frage zu stellen?

A.

Die Bedeutung der Lebenswelt für die Wissenschaft

Husserl sieht die Wissenschaften auf dem Weg zu einer positivistischen Engführung in der Darstellung der Wirklichkeit, die das »Rätsel der Subjektivität« 2 verleugnet. Er erachtet vor allem die Mathematisierung der Wissenschaften nach Galilei als eine Ursache für die Entwicklung, bei der das Wissen um die eigene Verortung in der Lebenswelt verloren gegangen ist. Hierdurch ist das zentrale Problem der modernen Philosophie entstanden, das »Weltproblem der tiefsten Verbundenheit von Vernunft und Seiendem überhaupt« 3 . Vor allem ist der Bezug auf die Sinnquelle verloren gegangen, die letztlich in der Lebenswelt zu verorten ist. 4 Deshalb bedarf es einer Besinnung »bis zu dem letztlichen Zweck, dem die neue Naturwissenschaft mit der von Vgl. Bermes 1998: 26. Husserl 1936(1): 4. 3 A. a. O.: 13. 4 »Die von der Antike bis ins späte Mittelalter herrschende Überzeugung von einer den Kosmos tragenden hierarchischen absoluten Sinnstruktur beginnt bei Galilei zu zerbrechen.« Mutschler 1997: 15. 1 2

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11. Wissenschaft und Kultur

ihr unabtrennbaren Geometrie, aus dem vorwissenschaftlichen Leben und seiner Umwelt hervorwachsend, von Anfang an dienen sollte, einem Zwecke, der doch in diesem Leben selbst liegen und auf seine Lebenswelt bezogen sein musste.« 5 Husserl reklamiert die Wichtigkeit des Ursprungs, dem die Wissenschaft entstammt und auf den sie sich beziehen muss, will sie nicht den Bezug auf die Sinnquelle verlieren. 6 Merleau-Ponty hat sich, das ist unschwer zu erkennen, in seinem Schaffen genau um diese Rückbindung an den Ursprung bemüht, einen Ursprung, den er in seinen letzten Schriften »Wahrnehmungsglauben« nannte. 7 Auch der methodische Konstruktivismus, wie ihn unter anderem Mittelstraß vertreten hat, oder der methodische Kulturalismus nach Janich beziehen sich explizit auf die Lebenswelt. Janich etwa sieht in dem Bemühen, wissenschaftliches Handeln und Erkennen so zu beschreiben, dass der Anfangspunkt in der Lebenswelt offenkundig bleibt, eine Nähe seines Ansatzes mit der Phänomenologie, insbesondere der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz. Jede Erkenntnis muss letztlich in der Lebenswelt verortet werden, Ziel ist es, »die Konstitution von Gegenständen, auch von Wissenschaft und Philosophie im Alltagsleben« 8 zu entdecken. Die Frage nach der Lebenswelt innerhalb der Wissenschaftstheorie ist mit der Frage nach dem Anfang verknüpft: »Mit dem Begriff ›Lebenswelt‹ wird das Problem aufgerufen, das in dem Programmaufsatz ›Methodisches Denken‹ von Paul Lorenzen (…) ›das Anfangsproblem‹ heißt.« 9 Wissenschaftlichem Erkennen geht immer schon ein anderes Erkennen voraus, dessen Bedingungen durch das wissenschaftliche Erkennen nicht aufgehoben werden können. Dies entspricht dem hier vertretenen Konzept des phänomenologischen Realismus, dem gemäß biographisch wie kulturell die abstrakteren Phänomene an jene anschließen, die schon von Kindheit oder frühen kulturellen Stufen präsent waren. Leistungen, die die »frühen« Erscheinungsweisen erbringen können, sind den »spä-

Husserl 1936 (1): 53 f. »Aus der Aufspaltung der Welt, in der man lebt und seiner Lebensweise gemäß weiß, und der Welt, wie sie objektiv gewusst wird, resultieren nach Husserl eine Sinnkrise der modernen Wissenschaft.« Janssen 2000: 191. 7 Vgl. Merleau-Ponty 1964: 17 ff. 8 Janich 1996: 157. 9 Gethmann 2008: 51. 5 6

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teren« selbst mit ihren ausdifferenzierten Methoden nicht zugänglich. 10 Die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding kann zum Beispiel aus sich heraus keine Sinnerfahrungen generieren, die sich selbst tragen und nicht auf übergreifende Zusammenhänge angewiesen sind (vgl. Kap. 7.4.). Ist jedoch die Vorstellung der geschlossenen Welt dominant, so erwarten wir nur tragende Antworten auf das Verlangen nach Sinn, wenn wir die ganz großen Fragen stellen (Was ist das Universum? Gab es einen absoluten Anfang? Hat die Entwicklung des Lebens auf der Erde ein Ziel?). Wir haben aber gesehen, dass wir so nur zu Sinnerfahrungen relativ zu bestehenden Ordnungsvorstellungen kommen können, die ihrerseits immer abhängig von den übergeordneten Ordnungstrukturen sind und damit stets fragil und von Voraussetzungen abhängig, derer sie sich selbst nicht versichern können. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer Kultur, die in der Lage ist, wissenschaftliche Strukturen mit einer Achtsamkeit auf endliche Sinnerfahrungen zu verbinden, die in der Erscheinungsform in der Mitte des Chiasmus präsent sind. Die Forderung nach einer Beachtung der Lebenswelt soll verhindern, dass eine Konzentration auf jene Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die der wissenschaftlichen Erschließung zugänglich sind, nicht jene Erscheinungsweisen negiert, die sich in der Mitte des Chiasmus befinden und die in den wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen selbst nicht reformuliert werden können. Im Anschluss an einen Vortrag ist Merleau-Ponty die kritische Frage gestellt worden, ob sein Ansatz etwa die Sonne des Bauern, die täglich auf- und untergeht, der Sonne des Astronomen, der von der relativen Bewegung der Erde weiß, vorziehen würde. Merleau-Ponty antwortet darauf, dass gute Wissenschaft die Ursprünglichkeit des Menschen nicht aus dem Auge verliert: »Die Ursprünglichkeit des Menschen in dieser Welt ist umso sichtbarer, desto mehr man ein genaues Wissen des Universums der Wissenschaft erwirbt.« 11 Kein Mensch ist nur Wissenschaftlerin oder Wis10 Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Chiasmus lassen sich nach Kap. 7.5. auch in eine zeitliche Reihenfolge bringen, die »späteren« Erscheinungsweisen sind an den Rändern zu finden. 11 Merleau-Ponty 2003 (2) 72. Mutschler bemerkt hierzu: »Unsere natürliche sinnliche Ausstattung, unsere in die Alltagssprache eingelassenen Kategorien lassen uns die Welt anders wahrnehmen als sie der Physiker wahrnimmt, und es ist noch keineswegs ausgemacht, dass sie der Physiker in jeder Hinsicht besser erkennt (…).« Mutschler 2005: 210 f.

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senschaftler. Die leiblich-existentielle Verbundenheit darf deshalb in einer Wissenschaft, die sich vorurteilsfrei dem stellt, was ist, und die im Sinne der Aufklärung selbstkritisch die eigene Erkenntnisposition betrachtet, nicht geleugnet werden. Man darf bei aller Konzentration auf die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht den eigenen endlichen Standpunkt vergessen. Lebenswelt und wissenschaftliches Erkennen könnten nun so stärker verbunden werden, dass entweder die Lebenswelt von der wissenschaftlichen Ratio durchdrungen wird oder aber die Wissenschaft mit in die Lebenswelt hinein genommen wird. Beide Optionen haben gravierende Nachteile. Husserl hat den Begriff der »Lebenswelt« eingeführt, um die Wissenschaften wieder stärker auf diese zu beziehen. Allerdings hatte er mit der Einführung des Begriffes möglicherweise ein weitergehendes Projekt vor Augen, in dem er die Evidenzen der Lebenswelt wissenschaftlichen Untersuchungen zugänglich machen wollte. »Es ist freilich selbst eine höchst wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Erschließung der Lebenswelt, das Urrecht dieser Evidenzen zur Geltung zu bringen, und zwar ihre höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen.« 12 Kann man die Vereinigung der beiden Bereiche wiederum als eine Wissensform fassen und so eine Komplettierung des Wissens anstreben? 13 Es bleibt nach Janssen zumindest offen, ob nicht Husserl mit seinem transzendentalen Ansatz eben dieses versucht hat. 14 Ein solches Vorhaben kann nach den Bedingungen eines phänomenologischen Realismus nicht erfolgreich sein. 15 Es lässt sich kein einheitlicher Punkt finden, von dem aus Lebenswelt, der die Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) zugehört, und die anderen Erscheinungsweisen in einen konsistenten Zusammenhang gestellt werden können. Gerade diese Widerständigkeit der Lebenswelt Husserl 1936 (2): 284. Vgl. Janssen 2000: 192. 14 Vgl. a. a. O.: 193. 15 Auch Janssen ist dieser Ansicht: »Es gibt lebensweltliche ›Untergründe‹, für die es wichtig ist, dass sie der Zumutung der Allgemeinheitsfähigkeit entzogen bleiben.« A. a. O.:197. Mittelstraß sieht das bezogen auf Husserls Ansatz ähnlich: »(…) droht jedenfalls den apriorischen Status des Begriffs der Lebenswelt im Fundierungssystem ›objektiven‹ Wissens wieder aufzulösen.« Mittelstraß 2000: 122. Merleau-Ponty deutet jedoch die Absicht Husserls anders, indem er davon ausgeht, dass die späte Philosophie die Möglichkeiten einer rationalen Durchdringung in Frage stellt: Merleau-Ponty 1945: 417 f. 12 13

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ist ihr entscheidendes Merkmal, das sie so wertvoll für eine konstruktiv-kritische Diskussion der Wissenschaften macht. Kann man nun aber die Verbindung von Wissenschaft und Lebenswelt nicht auch dadurch stärken, dass man das wissenschaftliche Projekt in die lebensweltlichen Bezüge wieder einholt und als einen Teil von ihr versteht? Anhand des Schemas des Chiasmus lässt sich schnell erkennen, dass dies zu einer Schwächung der spezifischen Erkenntnisleistung der Wissenschaften führen würde. Wenn man nun alle Erscheinungsformen der Wirklichkeit, die das Schema des Chiasmus ausweist, auch die an seinen Rändern, als Teil der Lebenswelt versteht, dann verliert man gerade die methodische Strenge und damit die eigentliche Stärke wissenschaftlicher Forschung. In die angedeutete Richtung scheint mir aber der wissenschaftstheoretische Vorschlag von Paul Feyerabend zu gehen. 16 Seine Kritik an das herkömmliche Wissenschaftsverständnis zielt auf die Widerlegung der Vorstellung, die wissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit sei vollständig und ergebe sich zwangsläufig aus der Vorgabe der Rationalität. Die Entwicklung der Wissenschaften ist nach Feyerabend von vielen Faktoren bestimmt, nicht allein von solchen, die dem wissenschaftlichen Projekt intrinsisch sind. Er wendet sich gegen eine Einstellung, die die Wissenschaft als eine abgesonderte Erkenntnisweise deuten will und charakterisiert diese Position: »Jemandes Religion etwa, oder seine Metaphysik oder sein Humor (…) dürfen mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nicht das geringste zu tun haben.« 17 Das ist nach Feyerabend eine fehlerhafte Beschreibung der real existierenden Wissenschaften und deshalb unternimmt er vielfältige Anstrengungen, die unterschiedlichen Einflüsse, die Zufälligkeiten, Inkonsistenzen und Widersprüche in der Entwicklung der Wissenschaft nachzuweisen. 18 So zeigt er an der Diskussion von Galileis Argumenten bezüglich des Turmexperiments, denen gemäß ein Stein senkrecht von einem Turm fällt und keine relative Bewegung gegenüber der Erdoberfläche vollzieht, dass die Folgerung aus diesem Experiment, dass die Erde sich bewege, weder triftig noch zwangsläufig ist. Wissenschaftlicher Fortschritt geschieht durch Überredungskunst, nicht durch das richtige Argument. 19 16 17 18 19

Feyerabend 1986. A. a. O.: 16. Vgl. a. a. O.: 28. Vgl. a. a. O.: 108.

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Aus diesen Erkenntnissen leitet sich seine berühmte methodische Maxime ab: »anything goes«. 20 Die Wissenschaften können wie Künste aufgefasst werden und sind ihnen gleich zu behandeln: »(…) es gibt nicht nur wissenschaftliche (rationale) Ordnungsprinzipien, sondern auch viele andere.« 21 Die Tendenz bei Feyerabend wird in diesen wenigen Hinweisen klar: Er parallelisiert wissenschaftliches Erkennen mit vielen anderen, kulturell und lebensweltlich verankerten Erkenntnisformen. Doch diese Position ist nach dem Schema des Chiasmus nicht haltbar. Dort wird deutlich, dass keinesfalls die Fähigkeit zu begrifflicher Darstellung in allen Erscheinungsformen gleich verteilt ist. Feyerabend hat Recht, wenn er gegen die Vorstellung einer selbstgenügsamen wissenschaftlichen Rationalität polemisiert. Doch er hat dann Unrecht, wenn er, wie es scheint, die Sonderstellung des wissenschaftlichen Erkennens dadurch in Frage stellt. 22 Unser Plädoyer ist es gerade, das wissenschaftliche Erkennen in eine umfassendere und lebensweltlich orientierte Kultur des Erkennens einzubeziehen, die aber nach den Regeln des phänomenologischen Realismus von der Unterscheidbarkeit von wissenschaftlichem und lebensweltlichem Erkennen weiß. Deshalb dürfen die Unterschiede zwischen den Erkenntnisformen nicht aufgehoben werden. Berechtigt ist die Haltung Feyerabends aber darin, dass er eine vollständige Abtrennung der Wissenschaft von der Lebenswelt ablehnt und den Einfluss der letzteren wie auch der Kultur und der Künste deutlich macht.

B.

Lebenswelt als Apriori

Die Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft ist also nicht unproblematisch. Es ist ebenso klar, dass eine völlige Trennung nicht weiter führt und die von Husserl zu Recht diagnostizierte Krise der Wissenschaften nicht behebt, zumal bei einer Trennung »die Produktivität der Konstellationsmöglichkeiten von Lebenswelt und Wissen erlischt.« 23 A. a. O.: 32 Feyerabend 1984. 49. 22 Ähnlich argumentiert Waldenfels: »Schließlich stellt sich die Frage, ob Philosophie und Wissenschaft nicht selbst auch nach dem Muster der skizzierten lebensweltlichen Erfahrung zu deuten sind. (…) und auch hier fragt sich, ob nicht die Tendenz auf Vereinheitlichung wiederum an ihre Grenzen stößt.« Waldenfels 1994: 29. 23 Janssen 2000: 199. 20 21

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Zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt

Doch wie kann man die Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft dann gestalten? Mittelstraß versucht das Verhältnis als ein uneinholbares Apriori zu deuten: »Ein lebensweltliches Apriori, auf das sich die prädikativen und konstruktiven Akte in der wissenschaftlichen Theoriebildung beziehen, lässt sich weder begründen noch beschreiben, es bringt sich vielmehr im aristotelischen Sinne als ein Können immer schon zur Geltung.« 24 Das Apriori ist offenkundig nicht nur ein solches der Erkenntniskräfte wie bei Kant, sondern auch ein solches des immer schon vorgegebenen Handelns. 25 Die Lebenswelt ist ein vorgegebener Gesamtzusammenhang, der über alle drei Medien, Handeln, Sprechen und Wahrnehmen, zur Abstraktion fähig ist, aber nicht vollständig in Abstraktion überführt werden kann. Diese besondere Situation der Lebenswelt ergibt sich aus der Irreduzibilität der Erscheinungsweisen des Chiasmus. Gethmann macht einen Vorschlag, der das Uneinholbare der Lebenswelt zu präzisieren versucht: All jene Aussagen sind notwendig lebensweltlich verankert, die nur dann verneint werden können, wenn man einen pragmatischen Selbstwiderspruch in Kauf nimmt. 26 Nun unterscheidet er drei Bereiche: Ethik, Physik und Logik. In allen drei Bereichen gibt es Haltungen und Grundannahmen (der Mensch ist frei, es gibt bewegliche Körper, es gibt Geltungsansprüche von Aussagen), denen nicht widersprochen werden kann und die dennoch nicht gut begründbar sind. »Nur die durch retorsive Argumentation ausgezeichneten pragmatischen Anfänge sollen mit dem Begriff des ›lebensweltlichen Apriori‹ zusammengefasst werden.« 27 Das besagt, dass unsere Lebenskontexte, aus denen heraus wir argumentieren, schon bestimmte Festlegungen vornehmen und eine freie Variation in der wissenschaftlichen Hypothesenbildung unterbindet. Der Vorschlag eines lebensweltlichen Apriori lässt sich gut mit den Bedingungen des phänomenologischen Realismus verknüpfen. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus sind Hochstilisierungen der lebensweltlichen Erscheinungsweisen. Sie ruhen auf den Mittelstraß 2000: 128. Auch Mutschler weist auf die Wichtigkeit des Handelns als eines Vorgängigen, das in ein abstraktes Naturbild nicht mehr reintegriert werden kann: »Er (Aristoteles, FV) betrachtet also, wenn man so sagen darf, die Natur als einen Geschichts- und Sinnzusammenhang (…).« Mutschler 2002: 143. 26 Gethmann nennt diese nicht zu verneinenden Argumente Retorsionsargumente, vgl. Gethmann 2008: 53. 27 A. a. O.: 54. 24 25

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Einsichten, Gewissheiten, Gewohnheiten und Intuitionen der Erscheinungsweise der Wirklichkeit in der Mitte des Chiasmus auf. Diesen grundlegenden Erfahrungen kann man nur mit der Konsequenz widersprechen, dass ein pragmatischer Selbstwiderspruch entsteht. Wenn man, wie in naturalistischen Positionen, allein wissenschaftliche Erkenntnis gelten lässt, wird man unfähig, vielen lebensweltlichen Erfahrungen noch einen angemessenen Ausdruck zu geben. 28 Die Welt, in der der Naturalist lebt, ist weitaus reicher, als er in seiner theoretischen Position zuzugeben in der Lage wäre. 29 Man kann die lebensweltlichen Erfahrungen nicht in den Wissenschaften begründen. Wenn die Wissenschaften von der Lebenswelt in basalen Grundannahmen über das, was wirklich ist, tatsächlich in ihrer Entwicklung abhängig sind, dann zeigt sich die Aussage Husserls, dass die Fähigkeit der Wissenschaft abgenommen hat, auf die Ressourcen der Lebenswelt zurückzugreifen, noch einmal in einem neuen Licht. Einerseits kann man die Einsicht in die unaufhebbare Abhängigkeit erleichtert zur Kenntnis nehmen. Die Wissenschaften mögen vielleicht die Abhängigkeit von der Lebenswelt nicht thematisieren, sie ist aber nicht zu vermeiden noch zu verlieren. Andererseits jedoch kann die Verbindung geschwächt werden. Das muss sich dann aber auf kreative Potentiale oder auf Möglichkeiten der Sinnfindung auswirken. Dadurch unterstreicht diese Analyse der grundlegenden Abhängigkeit der Wissenschaft von der Lebenswelt aber noch die Bedeutung der Lebenswelt und den bestehenden Mangel ihres Einflusses. Es muss also darum gehen, den Kontakt zwischen Lebenswelt und Wissenschaft wieder zu stärken. Wie kann es gelingen, Wege der Verbindung zwischen beiden zu finden? Im Ansatz des phänomenologischen Realismus ist ein Mittelweg zwischen der Vereinigung von Lebenswelt und Wissenschaft und ihrer völligen Trennung zu fordern. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen werden durch das Schema des Chiasmus als einem regulativen So kann man etwa in der Konsequenz der wissenschaftlichen Analysen die Behauptung aufstellen, Liebeserfahrungen seien nichts als bestimmte Körperzustände. Doch kaum jemand, der diese Vorstellung für richtig hält, wird im Falle, dass er oder sie sich verliebt, dieses Geschehen allein als einen besonderen Zustand seines Organismus interpretieren. 29 Es hilft auch nicht viel, wenn naturalistische Positionen über die Wissenschaft hinaus gehende Erfahrungen zulassen, sie aber nicht für wahrheitsfähig halten. All jene Anteile von Wahrheit, die wir im Wahrheitsglauben bei Merleau-Ponty oder in der Beschreibung von Wahrhaftigkeit dargestellt haben, fallen auf diese Weise weg. 28

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Schema in einen Zusammenhang gestellt. Eine genauere Betrachtung des Schemas macht nun darauf aufmerksam, dass es zwischen den genannten Erscheinungsformen Phänomene gibt, die weder der einen noch der anderen zugeordnet werden können. Dies legt nahe, dass die Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft nicht direkt geschieht, sondern vermittelt über jene Phänomene, die sich zwischen den bisher vornehmlich behandelten Erscheinungsformen befinden. Diese Phänomene, die zwischen den Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gefühl, als Ding oder als Gedanke verortet sind, sollen für eine Stärkung der Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft einbezogen werden. Die Phänomene gehören weder Lebenswelt noch Wissenschaft an, sie sind dem großen Bereich der Kultur zuzuordnen.

2.

Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kultur

Eine nahe liegende Weise der Verknüpfung von Wissenschaft und Lebenswelt geschieht appellativ. Sie erinnert die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, dass sie als Personen immer schon in lebensweltliche Bezüge eingebunden sind. Um den angedeuteten lebenspragmatischen Widersprüchen zu entgehen, ist es notwendig, in der wissenschaftlichen Arbeit auch jene Erscheinungsweisen der Wirklichkeit anzuerkennen, die sich in der Lebenswelt auswirken, die aber in der Wissenschaft scheinbar keine Rolle spielen. Das größte Hindernis dieses Vorgehens besteht darin, dass damit die Menschen überfordert werden. Denn die Wissenschaften schließen ja von vornherein in ihren Methoden lebensweltliche Einflüsse aus. So bleiben die Forderungen immer Fremdkörper innerhalb des gesellschaftlich ausdifferenzierten Systems. In einzelnen Fällen ist sicherlich ein gewisses Korrektiv möglich, aber zugleich wird dadurch ein umfassendes gesellschaftliches Problem individualisiert. Einzelne Menschen sollen nach einer solchen Vorstellung dann durch ihre jeweiligen Bindungen das System Wissenschaft korrigieren. 30 Ein solcher Ansatz allein kann nicht genügen. Es ist wichtig, Wege zu finden, die über individuelles Verhalten hinausgehen, die einen hö30 In ähnlicher Weise argumentieren auch manche individualethische Ansätze und verkennen die Komplexität der gesellschaftlich ausdifferenzierten Systeme, vgl. Vogelsang 1998: 89.

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heren Grad an Allgemeinheit erreichen und so die Gesellschaft besser durchdringen können. Durch die Konzentration auf die Extreme von sehr allgemeinen und abstrakten wissenschaftlichen Aussagen und den kaum noch verallgemeinerungsfähigen, lebensweltlich gebundenen Erfahrungen im mittleren Bereich des Chiasmus gerät jene Dimension in den Blick, die in besonderer Weise eine jede Gesellschaft prägt: die Kultur. Es geht um die sehr heterogenen und vielfältigen Elemente unserer Kultur, es geht um Poesie, Literatur, um Musik, um bildende Kunst, um Film, um Theater. Hier betreten wir ein neues Feld, das wir nur andeuten können. Man kann Merleau-Pontys vielfältiges Schaffen auch als einen Beitrag zu einer Kulturphilosophie eigener Art verstehen: »Diese Öffnung des philosophischen Blicks auf eine präreflexive Wirklichkeit, die nicht der Vernunft entgegengesetzt ist, sondern als Artikulationsfeld des Vernünftigen begriffen werden muss, erlaubt es Merleau-Ponty, die Konturen einer phänomenologischen Kulturphilosophie zu skizzieren.« 31 Merleau-Ponty hat zu Fragen der Kultur einige Arbeiten veröffentlicht, etwa im Bereich der Malerei, der Psychoanalyse, der Politik, der Literatur. Es soll hier erst einmal nur darum gehen, nach der Lokalisierung all jener Formen der Kultur im Chiasmus zu fragen. Wie können wir diese Formen kulturellen Handelns in dem Schema des Chiasmus verorten? Sie befinden sich zwischen der engeren Sphäre der Lebenswelt und den abstrakten Phänomenen der Wissenschaft. In gewisser Weise bilden die Formen der Kultur Übergänge zwischen beiden. Das lässt sich zum Beispiel über den Grad der Vermittlung durch die Medien deutlich machen. Ohne Zweifel lassen sich diese Künste nicht auf dieselbe Weise wie die Wissenschaften in abstrakt-formaler Sprache darstellen. Offenkundig bleiben Versuche, Kunstwerke abstrakt zu beschreiben oder Musikstücke in einer Fachsprache zu analysieren, immer auf die eine oder andere Weise defizitär. Einerseits also lassen Kunstwerke Wirklichkeit aufscheinen, aber auf eine solche Weise, dass diese dann nicht einfach in begriffliche Sprache überführt werden können. Darin ähneln sie den Phänomenen der Lebenswelt. Andererseits aber suchen sie nach einem vollgültigen und auch allgemeingültigen Ausdruck, der über die jeweiligen lebensweltlichen Anbindungen hinausgeht. Manche, »klassisch« genannten Kunstformen können viele Jahrhunderte überdauern und Gültigkeit erlangen. Kulturelle Erzeug31

Bermes 2007: XIVf.

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nisse sind sowohl in der Produktion als auch in der Konsumption abhängig von dem Schaffenden bzw. Betrachtenden. Eine räumliche und zeitliche Präsenz sind notwendig, wenn Kunstwerke ihre Wirkung entfalten wollen. Aber Kunstwerke können auch dann noch wirken, wenn uns die Lebenswelt des oder der Schaffenden fern ist. Diese Beobachtungen sind Hinweise darauf, dass die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die die Kunstwerke umfassen, zwischen der Erscheinungsform der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) und der Erscheinungsform als Ding oder als Gedanke anzusiedeln ist. Die folgende Skizze deutet die Lage dieser Phänomene an und zugleich die Vermittlungsfunktion, die sie gegenüber der Erscheinungsform X und den abstrakten Erscheinungsformen wahrnehmen kann. Wir können die Orte einzelner Künste im Schema noch genauer bestimmen. Eine nähere Bestimmung muss dann darauf achten, ob diese eher der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Gedanke oder der Erscheinungsform der Wirklichkeit als Ding zuzuordnen ist. Auf der einen Seite stehen die Künste, die durch den Gebrauch von Sprache oder durch visuelle Techniken wie beim Film ausgezeichnet sind. Hier sind die Phänomene der Wirklichkeit eher dem linken Teil des Sche405 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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mas, also in Richtung der Erscheinungsweise der Wirklichkeit, als Gedanke oder Vorstellung zuzuordnen. Hierher gehören etwa die Literatur oder die Filmkunst. Eine genauere Ordnung ist etwa durch die Frage möglich, in welcher Weise die verwendete Sprache oder die verwendeten Bilder diskursiv, beschreibend sind. Je größer dieser Anteil ist, desto weiter rücken die Phänomene an den Rand des Schemas. Eine wichtige Rolle spielt hier die Kreativität der Sprache, die über poetische Konstellationen viele Phänomene der Erscheinungsweise X etwa durch symbolisch aufgeladene Begriffe oder absolute Metaphern annähern kann. Auf der anderen Seite befinden sich die gestaltenden Künste. Hier ist der handelnde körperliche Umgang des Künstlers, aber auch die körperliche Präsenz der Kunstbetrachter ein notwendiger Bestandteil der Begegnung mit dieser Kunst. Das Spektrum ist weit, es reicht von den Produkten spontaner Regungen, die kaum als bewusste Handlungen gedeutet werden können, bis kunsthandwerklicher Raffinesse. Bei der Malerei oder manchen Formen der Fotographie sind die Zuordnungen nicht ganz so eindeutig. Einerseits haben die Bilder einen Inhalt, der als Vorstellung erscheint, zugleich aber ist ein großer Teil der modernen Kunst gerade von der materiellen Präsenz eben dieser Bilder bestimmt. 32 Vollends uneindeutig ist die Zuordnung der Musik. Einerseits sind Produktion und Konsumption von Musik von körperlicher Anwesenheit und Beteiligtsein bestimmt. Musik besteht aus Schwingungen, die Musizierende und Hörende verbinden. Wer Musik hört, erlebt eine körperliche Resonanz mit den Tönen. Die Schwingung fixiert den Hörenden an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit. Man kann nicht abstrakt Musik hören, immer nur hier und jetzt. Andererseits ist Musik stets verbunden mit Ahnungen und Vorstellungen, mit Imaginationen, die sich lose an die Schwingungen anlagern. Die Bindung der Musik an die Erscheinungsweise der Wirklichkeit in der Mitte des Chiasmus lässt sich auch von dem Tatbestand her ermessen, dass wohl keine Kunst so sehr mit der Schaffung einer bestimmten Atmosphäre verbunden ist. Gerade die Malerei hat Merleau-Ponty immer wieder beschäftigt, denn in der Malerei sah Merleau-Ponty grundlegende ontologische Verwerfungen offensichtlich werden: »Dieses ›stumme Denken‹ der Malerei (…) gibt Kunde von den Verzweigungen des Seins (…), von ein und demselben Netz des Seins (…), von einem ›Sein‹, dass niemals ganz und gar ›ist‹.« Good 1998: 190. Merleau-Ponty ist immer wieder auf die Malerei zu sprechen gekommen, etwa in »Der Zweifel Cézannes« oder »Das Auge und der Geist«, vgl. Merleau-Ponty 2003.

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Das kulturelle Schaffen hat so eine vermittelnde Position. Es nimmt die Sinnerfahrungen der Lebenswelt auf und strebt danach, diese zu verallgemeinern. So befindet es sich zwischen existentieller Konkretion und abstrakter Verallgemeinerung. Doch nicht nur hier, auch in einer anderen Weise nehmen die kulturellen Formen eine Zwischenstellung ein. Denn einerseits bewahren sie die Erfahrungen, die gewesen sind, zum andern wollen sie aber auch Anstoß sein zu neuen Erfahrungen. Sie suchen den Bezug zu bestehenden Sinnquellen und zugleich streben sie nach Veränderung. Sie bringen jene Dynamik zum Ausdruck, die wir schon als grundlegende Eigenschaft der leiblichen Existenz gefunden haben. Diese vermittelnde Position zwischen Bindung und Dynamik der kulturellen Formen kann man mit dem Ausdruck von Hannah Arendt, Natalität, beschreiben. So wie das Leben einen Ursprung hat und immer auf ihn bezogen sein wird und zugleich zu Weitung und Veränderung strebt, so geschieht dies auch mit den kulturellen Erzeugnissen. Entscheidend ist dabei, dass die Offenheit mit Unverfügbarkeit des Ursprungs einhergeht, die Unverfügbarkeit aber wird durch die Anteile der Lebenswelt garantiert, die wir als die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit in der Mitte des Chiasmus identifiziert hatten. 33 Welche Rolle haben nun die so in aller Kürze beschriebenen kulturellen Formen für die Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft? Wenn wir die Wissenschaft mit ihrem Ursprung in der Lebenswelt, dem Unthematischen der leiblichen Existenz in eine lebendige Beziehung bringen wollen, dann geht das nur so, dass Brücken des Austauschs entstehen zwischen den ausdifferenzierten, abstrakt argumentierenden Wissenschaften und den Lebenswelten, die von einer Kultur vielfältiger lebendiger Künste gestaltet sind. Diese Brücken sind keine Verbindungen, die eine Kohärenz zwischen den Erscheinungsformen herstellen können. Dies wäre mit den Grundannahmen des phänomenologischen Realismus unvereinbar. Aber sie können situativ das Allgemeine mit der besonderen existentiellen Situation verbinden. Sie können Symbole schaffen, die einen Anspruch auf Allgemeinheit ha33 »Diese grundlegende Offenheit des Werdens ist aber gebunden an die Unverfügbarkeit des Ursprungs. Die Frage ›Wer bin ich‹ kann ihre Antwort nur in der Zukunft finden, wenn meine Herkunft nicht von anderen determiniert ist.« Fuchs 2008: 294. Die Unverfügbarkeit gilt auch für das Verhältnis zu uns selbst: »Solange wir lebendig sind, bleiben wir immer ein Geheimnis für uns selbst.« Ibid.

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ben und die zugleich aus den existentiellen Überzeugungen resultieren. Die Kultur prägt und deutet Symbole für die lebensweltlich verankerten Intuitionen, die sich verstetigen und verallgemeinern lassen, ohne feste begriffliche oder handlungspraktische Nomenklaturen von der Art zu bilden, wie dies die naturwissenschaftliche Forschung anstrebt. Kulturelle Entwicklung hat in der Menschheit eine Dynamik in Richtung Zukunft. Sie ist ein offenes Geschehen, dass nicht ein vorgegebenes Terrain ausmisst, sondern stets ins Offene neu aufbricht. 34 Nun ist es ein Leichtes, Spuren kultureller Leitbilder und Symbole in den ausdifferenzierten Wissenschaften selbst zu finden. Die Wissenschaften sind zwar methodisch von anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern abgetrennt, sie sind aber nicht völlig losgelöst. Dies kann man besonders gut anhand der Leitgedanken nachvollziehen, die die Forschung immer wieder befruchtet haben, die aber ihrerseits keinen Teil in der engeren Wissenschaft haben. Hierzu gehörte oder gehört die Vorstellung, dass »Gott nicht würfelt« von Albert Einstein ebenso wie die Bevorzugung von symmetrischen vor unsymmetrischen Lösungen, wie die Vorstellung einer alles durchwaltenden Kausalität in der Welt, wie die Vorstellung einer maßgebenden Objektivität im 19. Jahrhundert, die Vorstellung, die Welt sei dann angeeignet, wenn man sie vermessen habe, oder die Vorstellung, der Geist sei nichts anderes als das, was man über Algorithmen in Computern erzeugen könne. All diese wissenschaftshistorisch einflussreichen Vorstellungen belegen: Die Wissenschaft ist bei weitem nicht unabhängig von der Kultur. 35 Die Einflüsse der Kultur sind nicht eindeutig. Sie können bestimmte Erkenntnispfade der Wissenschaften verlangsamen, aber sie können auch innovative Entwicklungen nachhaltig fördern. Ein besonders wichtiger Bereich soll zum Schluss der knappen Skizze Erwähnung finden. Es ist auch ein elementarer Teil jeder Kultur, zentrale und gemeinsam geteilte Wertvorstellungen herauszubilden und immer wieder neu anzueignen. Auch hier gilt: Eine einfache Verbindung von Wertorientierungen mit methodisch geleitetem wissenDiesen Zug zur Offenheit macht Hartung auch bei der Kulturphilosophie Cassirers aus, jedoch gibt es dort keinen endgültigen Vorbehalt gegen eine letzte Bestimmbarkeit des Menschen, vgl. Hartung 2006: 362. 35 Tatsächlich ist die Wissenschaft sogar von der kulturellen Einbettung abhängig, wie Evers unter Bezug auf ein Zitat von Schrödinger herausstellt: »Auch die abstrakteste Naturwissenschaft ist eingebettet in einem kulturellen Zusammenhang. Sie ist ohne diesen nicht lebensfähig (…).« Evers 2000: 385. 34

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schaftlichen Erkennen ist nicht möglich. Doch zugleich besteht auch keine Unabhängigkeit. Einer der zentralen Werte, die das Erkenntnisprojekt der Wissenschaft prägen, findet in dem Wunsch Ausdruck, Unbekanntes zu entdecken und neue Zusammenhänge zu verstehen. Schon hier wird klar: Die Wissenschaft ist grundsätzlich kein wertfreier Raum. Die Vorstellung, es gehe allein um eine neutrale Beschreibung dessen, was sich in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding zeigt, ist schlicht naiv. Die Wissenschaften sind heute, bei zunehmenden Handlungsmöglichkeiten immer stärker in ethische Fragen und Diskussionen eingebunden. 36 Es ist aber möglich, Diskurskulturen zu etablieren, zu deren Regeln es gehört, wissenschaftsspezifische Aussagen in Hinblick auf ihre impliziten Werte zu thematisieren bzw. Wert- und Sachaussagen in ein produktives Verhältnis zueinander zu setzen. 37 Hier gilt es, eine Kultur der Reflexion zu gestalten, die die Fragen der Wertorientierung und des Sinns aufnimmt und sie mit den engeren fachwissenschaftlichen Argumenten vermittelt. Diese Kultur einer kontinuierlichen Werte- und Normenreflexion muss darüber hinaus mit einer Grundhaltung der Vorsicht verbunden sein. Denn unter den Bedingungen eines phänomenologischen Realismus sind fundamentale Erkenntnisgrenzen offenkundig, insbesondere, wenn es darum geht, was der Mensch ist. Hierzu nur ein Beispiel: Ein Mensch liegt im Sterben, ab wann kann man sagen, er sei tot? 38 Unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus muss man schlicht antworten: Wir wissen es nicht und werden es auch nicht wissen. Denn der Tod eines Menschen ist nicht Teil der Erscheinungsweise des Leibes als Körper. Hier kann man nur kontinuierliche Übergangsprozesse einer Desintegration eines Organismus diagnostizieren. Wir müssen im Umgang mit dieser Frage etwa in der Intensivmedizin pragmatische Regeln finden. Aber diese Regeln sind nichts mehr als eben 36 Böhme betont in seinem phänomenologischen Ansatz gerade die Bedrohung der Leiblichkeit durch die modernen Technologien. Er weist insbesondere auf Transplantationsmedizin, Gentechnik und Schönheitschirurgie und ihre moralischen Implikationen hin. Vgl. Böhme 2003: 154 ff. Ohne Zweifel muss man an dieser Stelle auch die Neurochirurgie nennen. 37 In Vogelsang 1998 ist dies für Ingenieur-Diskurse ausgearbeitet: »Das diskursive Verfahren dient der Gruppe über die Verständigung der Ziele, die sie im Forschungs- und Entwicklungsprozess verfolgt. Durch die Verbindung von werthaften und sachbezogenen Anteilen entsteht und verdichtet sich, wenn der Diskurs glückt, ein Leitbild der zu entwickelnden Technik.« Vogelsang 1998: 272. 38 Vgl. Vogelsang 2008 (2).

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pragmatische Regeln im Umgang mit etwas, was sich unserer Erkenntniskraft letztendlich entzieht. Keine wissenschaftliche Erkenntnis kann erfassen, was genau der Tod ist. Das Sterben kann man beobachten, leblose Zustände auch, aber eine eindeutige Schwelle, ein präziser Punkt in der Entwicklung, dem die Bezeichnung Tod zukommt, lässt sich nicht feststellen. Ein weiteres Beispiel: Vor strukturell ähnliche Probleme ist die Neurochirurgie gestellt, deren Eingriffsmöglichkeiten rasch wachsen, ohne dass es einfach zu klären wäre, welche Eingriffstiefe noch legitimiert werden kann und welche nicht mehr. 39 Die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Wissens sollte Anlass für eine Ethik der Vorsicht sein. Dies widerspricht nicht der Neugier und Offenheit, sondern weiß um die Brisanz von unverstandenen Fragen, gerade wenn es die Existenz von Menschen betrifft. Die Kultur, die die Grundbestimmungen aufnimmt, wird zugleich von einer Offenheit dem Neuen gegenüber geprägt sein, wie auch von einer Vorsicht bei unlösbaren Fragen und einer Zurückhaltung zu letzten definitorischen Aussagen. Das gilt insbesondere für ethisch relevante Fragestellungen, in denen ein Wissen um das eigene Nichtwissen sich mit einer Bereitschaft zur Revision der eigenen Position verbinden sollte. Aber auch außerhalb von zugespitzten Entscheidungssituationen spielt die Kultur für die Wissenschaft eine wichtige Rolle. Aus den bisherigen Erkenntnissen über die unterschiedlichen Art und Weisen, wie Wirklichkeit sich zeigen kann, muss man eine Kultur der Offenheit und der kontinuierlichen Achtsamkeit fordern. Im Alltag kann die Aufmerksamkeit auf Atmosphären, auf das Changierende bereichernd sein, denn nicht nur die technischen Artefakte, wie Autos, Eisenbahnen, Kühlschränke, sind wirklich, das fade Licht, der feucht-kalte Wind, die unendlich vielen zwischenmenschlichen Gesten, die atmosphärische Veränderung eines Raumes, die überraschenden Gedanken und die klare Schlussfolgerung sind es ebenso. Wir haben in der europäischen Kultur viel zu lange auf solche Dinge geachtet, die wir unter den Konditionen der Leonardo-Welt bearbeiten können. Hier sollte ein fundamentaler kultureller Wandel anstehen. Anderes anders wahrzunehmen bedarf aber der Übung. 40 Eine Wissenschaft, die von einer Vgl. Vogelsang 2008 (3). »Eine solche Denkweise (die sich etwa wie das I Ging auf standardisierbare Eindrücke einlässt, FV) (…) hat den Vorteil einer Kultur tiefer, subtiler Anschaulichkeit, erkauft

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»Ordnung der Wirklichkeit«. Der Ansatz von Werner Heisenberg

solchen Kultur bestimmt ist, wird sich ihrer Grenzen bewusst sein und den Sinn für das Offene bewahren, das die Wirklichkeit charakterisiert. 41

3.

»Ordnung der Wirklichkeit«. Der Ansatz von Werner Heisenberg

In dem folgenden Abschnitt soll der wissenschaftstheoretische Ansatz vorgestellt werden, den der Physiker Werner Heisenberg 1942 ausgearbeitet hat. 42 Dieser Ansatz besticht dadurch, dass er einerseits die Methoden der Einzelwissenschaften differenziert und doch zugleich auch die übergreifenden Zusammenhänge darzustellen sucht, die auch kulturelle Erkenntnisse und Ausdrucksformen umfasst. Nicht von ungefähr hat Heisenberg dem Text den Titel »Ordnung der Wirklichkeit« gegeben, der den umfassenden Anspruch der Arbeit spiegelt. Er verbindet sehr unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit miteinander, wissenschaftliche, kulturelle und religiöse. Dieser Ansatz kann durch seine konzeptionelle Offenheit eine gute Anregung sein für eine Verbindung von Wissenschaft und Kultur.

A.

Grundannahmen Heisenbergs

Viele konzeptionelle Entscheidungen von Heisenberg stimmen erstaunlich gut mit dem hier vertretenen Ansatz eines phänomenologiihn aber mit dem Nachteil, auf exakte statistische Kontrolle und Induktion verzichten zu müssen, und mit einer gewissen Schwerfälligkeit, weil die subtilen und labilen Eindrücke stabiler Schulen bedürfen, damit die Erfahrung (…) über Generationen hinweg festgehalten werden kann, während im Zeichen der sensualistischen Reduktion ein lockerer und wendiger Kontakt zwischen Lehrern und Schülern oder Eigenunterrichtung aus Büchern genügt (…).« Schmitz 2007: 93 f. 41 »Der Möglichkeitssinn stellt eine neue Verbindlichkeit unserer Wahrnehmungen her, die als eine ›offene‹ Verbindlichkeit gegenüber einer ›geschlossenen‹ Verbindlichkeit begriffen werden kann. Utopisch ist sie gerade darin, dass sie die Möglichkeit des ›Offenen‹ auch noch einmal gegen den Möglichkeitssinn selbst wendet. Der Möglichkeitssinn ist kein Prinzip, sondern eine Suchbewegung, die in der Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen – wie Musil sehr schön formulierte – den ›noch nicht erwachten Absichten Gottes‹ nachspürte.« Grözinger 2003: 128. 42 Heisenberg 1942.

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schen Realismus überein. Heisenberg beginnt zum Beispiel seine Untersuchung mit der Feststellung, dass sich die Wirklichkeit, wie wir rückblickend feststellen können, sowohl in der individuellen Biographie wie auch in der Kulturgeschichte geändert habe. 43 Hier nimmt er genau die Erkenntnishaltung ein, die wir mit dem Chiasmus zu systematisieren versucht haben: Die Wirklichkeit kann nur verstanden werden, wenn man die eigene Beteiligung nicht übersieht. 44 Auch Heisenberg unterscheidet zwischen Bereichen der Wirklichkeit mit mehr subjektivem und solchen mit mehr objektivem Charakter und teilt die Methoden, die die Wirklichkeit analysieren, danach ein, wie groß der subjektive bzw. objektive Anteil der jeweiligen Methode ist. Heisenberg weist darauf hin, dass die durch die Methoden unterschiedenen Bereiche der Wirklichkeit sich nicht als Klassifikationen von Dingen verstehen lassen, so dass man sagen könnte, auf bestimmte Dinge trifft eher eine objektive Beschreibung zu, auf die anderen eher eine subjektive. Die Wirklichkeitsbereiche sind also keine unterschiedlichen Mengen von Dingen. »Erst wenn dieser Schritt vollzogen ist, wenn erkannt ist, dass es keinen ›Stoff‹ gibt, der bestimmten Gesetzen folgt, sondern dass es eben nur gesetzmäßige Zusammenhänge gibt, die wir erfahren können (…) erst dann kann der Satz richtig verstanden werden, dass es sich bei der Einteilung um eine Ordnung der Wirklichkeit nach gesetzmäßigen Zusammenhängen handeln soll.« 45 Dieser Aufteilung entspricht die Ordnung des Chiasmus, dessen unterschiedliche Erscheinungsweisen nicht die einer letzten Substanz sind und die ein Gefälle aufweisen zwischen einem hohen und einem geringen Grad der Beteiligung des Beobachters mit dem Beobachteten, also einen Wechsel von mehr »subjektiven« Erscheinungsweisen der Wirklichkeit bis hin zu mehr »objektiven« Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. Hier werden die beiden Begriffe im Sinne des ersten Verständnisses der Unterscheidung in Kapitel 5.4. gebraucht. Deutlich ist allerdings auch zugleich die Differenz zu dem hier vertretenen Ansatz. Bei Heisenberg findet nämlich eine Identifizierung der beiden Aspekte von subjektiv und objektiv statt, die wir unVgl. a. a. O.: 219 f. »(…) wenn das Wort Wirklichkeit nichts anderes bedeutet, als die Gesamtheit der Zusammenhänge, von denen unser Leben durchwirkt und getragen wird (…).« A. a. O.: 220. 45 A. a. O.: 233. 43 44

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terschieden hatten. Dadurch wird unter Subjektivität nicht nur ein sehr hoher Grad der Beteiligung des Beobachters verstanden, sondern zugleich Genialität und Unableitbarkeit. Nach dem Schema des Chiasmus sind dagegen diese beiden Aspekte aber deutlich voneinander zu trennen. Wir haben ja gezeigt, dass gerade am Rand des Chiasmus, wo die Größe Bewusstsein* sehr dominant ist, es nicht zu unmittelbaren und nicht weiter ableitbaren Erscheinungsformen kommt, sondern wiederum zu Ordnungen, die denjenigen in der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Ding nicht nachstehen. Bei Heisenberg dagegen ist dieser Bereich an der Grenze des Sprachlichen anzusiedeln. Mit der Phalanx sehr unterschiedlicher Methoden beabsichtigt Heisenberg die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit mit künstlerischen und kulturellen Tätigkeiten in einen engen Zusammenhang zu stellen. Gerade der »subjektive« Pol des Spektrums der Methoden findet eine besonders große Beachtung bei dem Autor. Er unterscheidet hier verschiedene Bereiche, »das Bewusstsein«, »Symbol und Gestalt« und »die schöpferischen Kräfte«. Diese Unterscheidungen orientieren sich an einem Vorschlag, den Goethe im Zuge seiner Farbenlehre gemacht hat. 46 Heisenberg zitiert: »Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über; sie undulieren von der ersten bis zur letzten. Daß man sie voneinander trennt, sie einander entgegen setzt, sie untereinander vermengt, ist unvermeidlich; doch mußte daher in der Wissenschaft ein grenzenloser Widerstreit entstehen. Starre, scheidende Pedantrie und verflößender Mystizismus bringen beide gleiches Unheil.« 47 Diese Sätze nimmt Heisenberg uneingeschränkt positiv auf: »Damit ist eine Ordnung der Wirklichkeit bezeichnet, die als Vorbild für die von der modernen Wissenschaft gesuchte gelten kann.« 48 Dieses Verständnis von Wissenschaft setzt sie in einen umfassenderen Zusammenhang kultureller Gestaltung und stimmt auf diese Weise mit unserer Forderung überein, Wissenschaft und Lebenswelt, Wissenschaft und Kultur stärker miteinander zu verbinden. 49 46 Heisenberg zitiert die Reihe »Zufällig, Mechanisch, Physisch, Chemisch, Organisch, Psychisch, Ethisch, Religiös, Genial.« Heisenberg 1942: 232. 47 Ibid. 48 Ibid. 49 Ohne Zweifel werden die Umstände, unter denen Heisenberg den Text verfasste, 1942 war der zweite Weltkrieg weit fortgeschritten, eine große Bedeutung gehabt haben, vgl. Schiemann 2008: 85 f.

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B.

Die Kopenhagener Deutung

Wodurch entstand für den Physiker Heisenberg die Motivation, sich mit über die Physik hinausgehenden Fragen der Wissenschaftssystematik zu befassen? Heisenberg hat sich als Pionier der Quantenphysik schon früh mit dem Problem beschäftigt, wie das Verhältnis von Beobachter zu dem Beobachteten in physikalischen Messprozessen zu deuten ist. Die Unbestimmtheitsrelation, auf die er 1927 stieß, trägt seinen Namen. Hiernach können zwei einander zugeordnete (komplementäre) physikalische Größen, wie etwa Ort und Impuls, nicht beide beliebig genau gemessen werden. Diese Unfähigkeit ist eine fundamentale Grenze, die nicht durch die Genauigkeit oder Ungenauigkeit der Messinstrumente beeinflusst ist. Eine solche Grenze ist in der klassischen Physik unbekannt und hat erhebliche Schwierigkeiten bei der Interpretation quantenphysikalischer Untersuchungen aufgeworfen. Die Kopenhagener Deutung, die Werner Heisenberg und Niels Bohr erarbeitet haben, führt die Beobachtungsgrenze darauf zurück, dass physikalische Versuche schon durch die Messapparaturen auf eine Beschreibung im klassischen Sinne angewiesen sind. Dies ist aber grundsätzlich nicht kompatibel mit den Beschreibungen einzelner Teilchen in der Quantenmechanik, in der diesen (etwa in der Terminologie der Schrödinger’schen Wellenmechanik) im ungestörten Zustand, das heißt außerhalb der Messung selbst, nur Wahrscheinlichkeitswerte zugewiesen werden können. Die Wahrscheinlichkeitswerte als feste, einem Teilchen zugeordnete Größen, lassen sich ihrerseits völlig deterministisch berechnen, jedoch findet bei jeder einzelnen Messung ein Übergang statt, der die Wahrscheinlichkeitswerte in ein bestimmtes Messdatum überführt, das nicht vorherbestimmt ist. Die Konsequenz, die die Kopenhagener Deutung daraus zieht, ist, dass es durch die Angewiesenheit auf die klassischen Messinstrumente ein prinzipielles Nichtwissen über die Zustände zwischen zwei Messpunkten gibt und das dieses Nichtwissen keine subjektive Eigenheit im Gegenüber zu einer objektiven Wirklichkeit ist, sondern eine Aussage über die Wirklichkeit selbst. Die Messung bekommt nun aber dadurch notwendigerweise eine »subjektive« Note, erst die Messung führt ein Teilchen in den Zustand eines Messergebnisses, das »an sich« vorher so nicht vorlag. Schon der Ausdruck »Teilchen« ist unklar, denn das, was vor der Messung existiert, gehorcht nur den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, das heißt, das, 414 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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was vor der Messung existiert, hat gerade nicht wie ein klassisches Teilchen einen genauen Ort und zugleich einen genauen Impuls. »Das Atom der modernen Physik kann zunächst nur symbolisiert werden durch eine partielle Differentialgleichung in einem abstrakt vieldimensionalen Raum; erst das Experiment, das der Beobachter an ihm vornimmt, erzwingt von dem Atom die Angabe eines Ortes, einer Farbe, einer Wärmemenge. Für das Atom der modernen Physik sind alle Qualitäten abgeleitet, unmittelbar kommen ihm überhaupt keine materiellen Eigenschaften zu; d. h. jede Art von Bild, das unsere Vorstellung vom Atom entwerfen möchte, ist eo ipso fehlerhaft.« 50 Entsprechend heißt es in der Schrift »Ordnung der Wirklichkeit«: »So kann zum Beispiel in der Atomphysik, wenn ihre Gesetze vollständig formuliert werden sollen, nicht mehr davon abgesehen werden, dass unser Körper und die Apparate, mit denen wir beobachten, selbst den Gesetzen der Atomphysik unterworfen sind; ferner tritt in ihr unsere Kenntnis eines Sachverhaltes an die Stelle eines physikalischen Faktums.« 51 Der Beobachter lässt sich also nach der Heisenberg’schen Interpretation aus der Darstellung von Messvorgängen nicht so einfach herausrechnen, wie dies in der klassischen Physik der Fall ist. Das hat weitreichende Folgen für das Verständnis von Wirklichkeit: Im Messvorgang beeinflusst der Beobachter die zu messende Wirklichkeit unausweichlich. Es ist so unmöglich, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen, wie sie »an sich« ist, Beobachter und Beobachtetes sind nicht mehr zu trennen. Deshalb kommt Heisenberg zu einer Formulierung, die den hier vertretenen Grundgedanken wiedergibt: »Mit dem Wort ›subjektiv‹ soll nur angedeutet werden, dass es bei einer vollständigen Beschreibung der Zusammenhänge eines Bereiches vielleicht nicht möglich ist, davon abzusehen, dass wir selbst in die Zusammenhänge verwoben sind.« 52 Es macht keinen Sinn, im spekulativen Sinne über eine Wirklichkeit nachzudenken, die sich unserer Beobachtung, unserem Zugang fundamental entzieht. Die Wirklichkeit ist immer auch durch unsere leiblich-existentielle Verbundenheit mit ihr bestimmt. Dadurch aber wird der weite Bereich der kulturellen Verständigung auch in der Wissenschaft wichtiger: »Die Quantentheorie ist ein so wunderbares Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger 50 51 52

Heisenberg 1933: 60. Heisenberg 1942: 235. Ibid.

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Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Bildern und Gleichnissen von ihnen reden kann.« 53

C.

Die Wirklichkeit zwischen Subjekt und Objekt

Die Erkenntnis der Verwobenheit des Beobachters mit dem Beobachteten ist nun die Grundlage für die Darstellung der Pluralität der wissenschaftlichen Methoden, die Heisenberg vorschlägt. Er leitet aus der quantenphysikalischen Einsicht die Grundidee ab, die Darstellung der Wirklichkeit in unterschiedliche Bereiche zu unterteilen, die sich aus dem graduell wandelnden Einfluss der abstrakten Größen von »Subjekt« und »Objekt« bei den Methoden ergeben. Den Bereichen der Wirklichkeit entsprechen also unterschiedliche Zugänge und Methoden. Auf der Seite der Objektivität steht die Wissenschaft mit ihrem Erkenntnisideal: »Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft wird also stets vom Objekt hergeleitet (…) und das ideale Ziel einer wissenschaftlichen Darstellung ist die ›objektive‹ Darstellung eines bestimmten Sachverhaltes.« 54 Diese Objektivität kann also nach wie vor als eine Leitidee der Wissenschaft gelten. Aber die Leitidee darf nicht zu einem starren Diktum verkommen, da man sich sonst viel zu sehr einengt und, wie wir gesehen haben, viele andere Bereiche der Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen kann. Gleichzeitig erkennt deshalb Heisenberg: »Es gibt nun aber weite Bereiche der Wirklichkeit, die sich gar nicht in diesem Sinne objektivieren, d. h. von dem unserer Betrachtungsweise zu Grunde liegenden Erkenntnisverfahren ablösen lässt.« 55 Wichtig ist nun, dass Heisenberg nicht die Forderung nach Objektivität aufgibt oder auch nur bezweifelt, vielmehr ist seine Konsequenz, dass die für die Wissenschaften nach wie vor richtige Forderung nicht in allen Wissenschaften in gleicher Weise einzufordern ist. Damit ergibt sich aber eine Darstellung der Wirklichkeit, die sich Heisenberg 1969: 246. Merleau-Ponty zieht folgendes Fazit aus der Quantentheorie: »Wenn eine Philosophie der Quantenmechanik entsprechen kann, dann wäre das eine realistischere Philosophie, deren Wahrheit nicht in transzendentalen Ausdrücken definiert wird, und gleichzeitig eine subjektivistischere. Auf das universelle ›Ich denke‹ der Transzendentalphilosophie muss der situierte und verkörperte Aspekt des Physikers folgen.« Merleau-Ponty 2000: 140. 54 Heisenberg 1942: 229. 55 Ibid. 53

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nicht auf den streng objektiven Modus des Erkennens beschränkt, sondern die auch jene Bereiche in den Blick nimmt, in denen der Beobachter einen irreduziblen Einfluss hat. Es gibt zwischen den Polen einen kontinuierlichen Wandel, die durch zunehmende Stärke bestimmt ist, wie der Beobachter in das Beobachtete einbezogen ist: »Wenn also gesagt wird, dass es sich um eine Ordnung handeln soll, die vom Objektiven zum Subjektiven aufsteigt, so ist damit gemeint, dass in immer steigendem Maße das Erkenntnisverfahren, das uns von der Wirklichkeit Kunde gibt, selbst einen Bestandteil der Zusammenhänge bildet, die den betreffenden Bereich ausmachen.« 56 So wird auch die Kunst zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit: »Man kann im Gegenteil sehr wohl vom Erkenntniswert eines Kunstwerks sprechen und ihn vergleichen mit dem Erkenntniswert, der in der gewöhnlichen oder der wissenschaftlichen Sprache niedergelegt werden kann.« 57 Heisenberg folgert aus der Aufspreizung zwischen subjektiver und objektiver Erkenntnisform: »(…) aber es wäre eine viel zu grobe Vereinfachung, wenn man die Welt in eine objektive und eine subjektive Wirklichkeit einteilen wollte. (…) Unserer Zeit scheint es natürlicher, die Bewertungsfrage hier nicht zu stellen und eine feinere und klarere Einteilung der Wirklichkeit anzustreben.« 58 Mit den Methoden, die wir verwenden, entstehen erst die Abgrenzungen. Weder gibt eine Wirklichkeit »an sich« die Methoden vor, noch schaffen die Methoden die Wirklichkeit, die sie beobachten. Weil wir uns aber wissenschaftlich nur methodisch kontrolliert der Wirklichkeit nähern können, entstehen scharfe Grenzen zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten. »Schon mehrfach hat sich ja eine ähnliche Lage ergeben: dass zwar in der Natur scheinbar nur fließende Übergänge vorkommen, dass aber die Begriffsbildungen, mit denen wir an die Natur herantreten, die Sprache, die wir gebrauchen, scharfe Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit notwendig entstehen lassen.« 59 Wissenschaftliche Methoden setzen bestimmte Standards des Erkennens. Sie schaffen eine konsistente Darstellung des Wirklichkeitsbereiches, den sie untersuchen.

56 57 58 59

A. a. O.: 235. A. a. O.: 288. A. a. O.: 230 f. A. a. O.: 274.

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D.

Anmerkungen zu einzelnen Wissenschaften

Die Einteilung der Wissenschaften, die Heisenberg im Einzelnen vornimmt, wollen wir hier nur in einigen Aspekten nachzeichnen, die Aufteilung und ihre Darstellung ist oft zeitbedingt, viele der erwähnten Einzelwissenschaften haben sich in den letzten 70 Jahren erheblich fortentwickelt. Die Erkenntnis, in der die Objektivität am stärksten ausgeprägt ist, bietet die klassische Physik. Nicht von ungefähr ist über eine sehr lange Zeit diese Form der Physik das Erkenntnisideal der Wissenschaften insgesamt gewesen. Doch schon die Quantenphysik in der Interpretation von Kopenhagen kann dem Ideal aus den genannten Gründen nicht mehr folgen. Hier hat der Beobachter einen nicht mehr zu eliminierenden und konstitutiven Einfluss auf das Messergebnis. Damit ist schon in der Quantenphysik der Einfluss des Beobachters größer als in der klassischen Physik. Da die moderne Chemie maßgeblich durch die Quantenphysik bestimmt ist, folgt sie nach Heisenberg als nächstes in der Reihung der Methoden von den objektiveren zu den subjektiveren Methoden. Die interessante Erkenntnis ist hier, dass schon innerhalb des engeren Methodenspektrums der Naturwissenschaften sich so ein Spektrum zeigt, dass durch größere oder geringere Objektivität bestimmt ist. Dann findet nach Heisenberg ein weiterer grundlegender Übergang statt, der Übergang zu den lebenden Wesen, der Bereich der Biologie wird betreten. Hier zweifelt Heisenberg, inwieweit eine rein physikalisch-chemische Beschreibung des Lebensprozesses ausreicht, obwohl er auch vitalistischen Theorieansätzen skeptisch gegenüber steht, die eine genuine Lebenskraft postulieren. Warum aber ist in dem Bereich der Biologie der Beobachter stärker involviert als in dem Bereich der Chemie? Heisenberg vermutet: »Vielleicht besteht, wie schon mehrfach angedeutet worden ist, ein weiterer charakteristischer Zug jener auf die Quantentheorie folgenden Stufe der Ordnung der Wirklichkeit darin, dass in die Formulierung der zugehörigen Gesetze wesentlich der Umstand eingeht, dass wir selbst lebende Wesen sind.« 60 Diese Deutung der Biologie als Wissenschaft von »dem Leben« entspricht nicht dem Mainstream der heutigen Wissenschaft. Die Biologie be60

A. a. O.: 269.

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schäftigt sich eher mit Systemeigenschaften und Funktionselementen von Lebensprozessen. Doch auch wenn man sich in der Terminologie auf Funktionen und Modelle beschränkt, bleiben Probleme, die sich wissenschaftstheoretisch nicht einfach lösen lassen. 61 Die moderne Wissenschaft folgt dem methodischen Imperativ, das wissenschaftliche Erkennen möglichst umfassend zu formalisieren und von der Erkenntnissituation zu abstrahieren. Die Möglichkeit der Rückführung der Lebensfunktionen auf physikalisch-chemische Zusammenhänge leitet deshalb die Erkenntnisbemühungen. Eine umfassende Definition des Begriffs Lebens wird durch offene Kriterienkataloge ersetzt. »Der Begriff des Lebens gilt in der Biologie daher meist als vorausgesetzt und wird in der Regel nicht explizit problematisiert oder definiert.« 62 Die Beobachtung Heisenbergs greift einen wichtigen Aspekt auf, der unserem oben genannten Vorsatz folgt, in der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht die eigene Verflochtenheit mit dem Erkannten zu verleugnen. Denn die Voraussetzung biologischen Erkennens ist ja stets jenes Phänomen des Lebens, an dem der Beobachter konstitutiv Anteil hat. Auch wissenschaftliche Betätigung ist da nicht ausgenommen. Nur lebende Wesen sind im Gegenstandsbereich der Biologie und nur lebende Wesen können Biologie betreiben. Es ist nach wie vor völlig offen, was der Begriff »Leben« genau bezeichnet und doch wird er mühelos verstanden. Der Verdacht ist nicht unbegründet, dass hinter der Erkenntnis, dass alle lebenden Wesen an etwas Anteil haben, das man mit dem Begriff »Leben« beschreiben kann, eine Intuition steht, die nur denjenigen möglich ist, die selbst leben. Dieser umfassendere, aber wissenschaftlich nicht formal beschreibbare Zugang zum Leben hat immer wieder auch Leitfunktionen bei der Entwicklung der Biologie gehabt. Dies lässt sich recht gut an der Entwicklung der Evolutionstheorie an dem dort von Darwin verwendeten Begriff »struggle for existence« nachweisen. Der Begriff »Überlebenskampf« lässt sich nicht biologisch analytisch erfassen, wenn man ihn auf kausale Prozesse oder organische Funktionen zurückführen will. Dass die Lebensformen, die in das Evolutionsgeschehen eingebunden sind, »überleben wollen«, kann aus Sicht der Biologie nur als metaphorische Sichtweise gedeutet werden. Doch sie steht im Zentrum jener Erzählung, die die Evolutionstheorie zum Verständnis der Ent61 62

Vgl. McLaughlin 2005: 34; vgl. Köchy 2008: 101 ff. Toepfer 2005: 158.

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wicklung von Leben anbietet. Die Behauptung, diese Ausdrucksform sei verzichtbar, verkennt meiner Ansicht nach deren heuristische Bedeutung. 63 Auf den Bereich der Biologie folgt in der Systematik Heisenbergs der Bereich des Bewusstseins. Heisenberg sieht in dem Bewusstsein ein neues Phänomen, das wohl nicht auf biologische Prozesse zurückgeführt werden kann. 64 Damit wendet er sich gegen die reduktionistischen Positionen, die das Bewusstsein in die Beschreibung neuronaler Prozesse aufgehen lassen wollen. Tatsächlich wenden die Neurowissenschaften, wenn sie sich der Erforschung des Bewusstseins zuwenden, Methoden an, die die Kommunikation mit dem Probanden oder dem Patienten mit einbeziehen (vgl. Kap. 3.5.). Grob kann man psychophysiologische von neuropsychologischen Untersuchungsformen unterscheiden.65 In der ersten Form wird der Proband einem psychischen Reiz ausgesetzt, man zeigt ihm Bilder oder gibt ihm eine Aufgabe und beobachtet zugleich mit einer Apparatur, die ein bildgebendes Verfahren ermöglicht, die Aktivität im Gehirn. So kann man zwei Beschreibungsformen zueinander in Beziehung setzen, den psychischen Reiz oder die gestellte Aufgabe und die Messung. In der zweiten Form finden neuronale Stimulationen statt, durch Eingabe von Medikamenten oder im klinischen Bereich zum Beispiel durch Tiefenhirnstimulation direkt im neuronalen Gewebe. Die Wirkung auf den Probanden wird dann abgefragt, nur so ist eine genaue Kontrolle über die Wirkung des Eingriffs möglich. Auf beiden Wegen spielen kommunikative Akte eine entscheidende Rolle. Der Beobachter ist in diese kommunikativen Akte einbezogen und somit noch stärker involviert als in den anderen bisher geschilderten Bereichen. In der Erforschung des Bewusstseins ist die Teilhabe des Beobachters an dem, was er beobachtet, noch deutlicher, damit ist der subjektive Anteil noch erkennbarer. Nur ein Beobachter, der selbst Zugang zu einem Bewusstsein hat, kann die Schilderungen und Beeinflussungen der Bewusstseinszustände verstehen.

63 64 65

Vgl. Vogelsang 2009. Vgl. Heisenberg 1942: 275. Vgl. Hoppe 2008: 27.

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E.

Wissenschaft und Kultur

Heisenberg hat mit seinem Ansatz gezeigt, dass eine umfassendere Betrachtung der Wirklichkeit zwangsläufig Wissenschaft und Kultur in einem engeren Zusammenhang sieht. Ihm ist es, hierin Goethe folgend, wichtig, bestehende Vorurteile und Grenzen aufzulösen und scheinbar Unvereinbares miteinander in Beziehung zu setzen. Doch Heisenberg ist als Wissenschaftler ebenso davor gefeit, die Spezifika der wissenschaftlichen Methoden aufs Spiel zu setzen. So gilt das Motto: »Starre, scheidende Pedanterie und verflößender Mystizismus bringen beide gleiches Unheil.« 66 In ihrer Unterschiedlichkeit sollen aber die Wege zur Wirklichkeit zueinander in ein fruchtbares Verhältnis gesetzt werden: »Die allzu starke Betonung der Verschiedenheit der wissenschaftlichen und der künstlerischen Erkenntnis entstammt wohl der unrichtigen Vorstellung als hafteten die Begriffe fest an den ›wirklichen Dingen‹ (…). Daher bleibt als letzter Maßstab auch für die wissenschaftliche Erkenntnis nur das Maß der Erhellung der Wirklichkeit, das durch diese Erkenntnis erreicht werden kann, oder: das bessere ›Sichzurechtfinden‹, das durch die Erhellung möglich wird – und wer könnte bestreiten, dass auch der geistige Inhalt eines Kunstwerks die Wirklichkeit für uns erhellt und durchleuchtet?« 67 Verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit sollen einander ergänzen, die jeweiligen Stärken, aber auch ihre Begrenztheit vor Augen. Nun wird es keine übergreifende Methode geben können, die wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische, musische und religiöse Betätigungen zueinander in ein definiertes Verhältnis setzt. Doch wenn wir die Bedingungen des phänomenologischen Realismus berücksichtigen, dann können wir festhalten: Alle diese Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit erschließen je auf unterschiedliche Weise Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. Die verschiedenen Wege sind zweitens nicht grundverschieden, sondern kennen Ähnlichkeiten und Übergänge, die es möglich macht, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Letztlich wird es darauf ankommen, die jeweiligen Stärken der unterschiedlichen Zugänge, die Verfügbarkeit von Ordnungen und die Sensibilität für Sinnquellen miteinander zu verbinden.

66 67

Heisenberg 1942: 232. A. a. O.: 288.

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12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit – Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit

Wir sind leibliche Wesen und somit immer schon Teil jener Wirklichkeit, die wir erkennen wollen. In mehreren Schritten haben wir in dem Ansatz des phänomenologischen Realismus untersucht, wie sich diese grundlegende Bedingung auf eine Erkenntnis der Wirklichkeit auswirkt. Wir haben gesehen, dass sowohl der Leib als auch die Wirklichkeit sich nicht in einem konsistenten Bild darstellen lassen. Es gibt kein geschlossenes Selbst und es gibt auch keine geschlossene Welt. Die Vorstellungen einer geschlossenen Welt und eines eingekapselten Menschen sind die leitenden Annahmen in der so genannten Leonardo-Welt. Diese Vorstellung von der Welt aber reduziert die Wirklichkeit auf die Annahme von gegebenen Dingen in einem objektiv gegebenen raumzeitlichen Zusammenhang. Doch die grundlegenden Annahmen dieser Vorstellung lassen sich nicht halten, wenn wir bedenken, dass wir selbst immer schon Teil der zu betrachtenden Wirklichkeit sind. Das Schaffen von Maurice Merleau-Ponty ist immer geprägt gewesen von dem Ringen, für die leiblich-existentielle Situation des Menschen einen adäquaten Ausdruck zu finden. Wissend um die intime Verflochtenheit von Betrachter und dem zu Betrachtenden ist er einen phänomenologischen Weg gegangen, der vor allem von einem unermüdlichen Neubeginn geprägt war. 1 Auch in seinen späten Schriften hat er nicht von dieser Haltung gelassen: »Es ist die Frage zu stellen nach dem Wohin dieses Denkens, dessen letztes Thema – die Offenheit – selbst zu einer seiner eigentümlichen Eigenschaften wurde.« 2 So hat er in dieser Phase die Metapher des Chiasmus geprägt, die uns eine Grundlage bot, den phänomenologischen Weg mit einem konstruktiDabei war ihm nach Levi-Strauss deutlich vor Augen, dass in der Konsequenz dieses Weges eine Auflösung fester Vorstellungen von Welt und Selbst notwendig sein würden: »Es (scil. Das Werk Merleau-Pontys, FV) lädt uns ein, uns kein festes Bild von uns selbst, der Welt und der zwischen uns und ihr bestehenden Bezüge zu machen (…).« Levi-Strauss 1986: 35. 2 Métraux 1973: X. 1

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12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit

ven Angebot zu verbinden. Wir haben den Chiasmus als ein regulatives Schema interpretiert und ausgelegt. Das wichtigste der folgenden Erkenntnisse war, dass die Wirklichkeit sich nur in einer Vielzahl von nicht aufeinander reduzierbarer Erscheinungsweisen zeigt. Nicht nur der naturalistische Ansatz, sondern auch die Vorstellung eines Dualismus, etwa eines Gegensatzes von Bewusstsein und Materie, erweisen sich so als noch reduktiv. Tatsächlich lassen sich mindestens drei unterschiedliche, nicht aufeinander reduzierbare Erscheinungsweisen der Wirklichkeit identifizieren: Der Leib erscheint als Gedanke, als X (Gefühl) oder als Körper, die Wirklichkeit erscheint als Gedanke, als X (Atmosphäre) oder als Ding. Insbesondere die Erscheinungsweise in der Mitte des Schemas, ausgewiesen als X (Atmosphäre) oder X (Gefühl), ist dabei als eigenständige, von der Tradition der Philosophie oft vernachlässigte Erscheinungsweise der Wirklichkeit in den Blick gekommen. Diese Erscheinungsweise ist aber zugleich jener Bereich, der für unsere Orientierung in der Wirklichkeit von großer Wichtigkeit ist. Denn hier ist der Ort, an dem endlicher Sinn selbsttragend, das heißt nicht abgeleitet und damit auch nicht abhängig von größeren Ordnungssystemen, erscheint. Hier ist der Ort, an dem unsere Suche nach Wahrheit, ihre existentielle Verankerung als Streben nach Wahrhaftigkeit verankert ist. Hier ist der Ort, an dem grundlegende Werte, die unsere Identität prägen, zum Vorschein kommen und uns Orientierung geben. Weiterhin konnten wir sehen, dass das Schema des Chiasmus sich keinesfalls als eine Insel der individuellen Phänomenwahrnehmung deuten lässt. Die Phänomene sind durch ein dynamisches Verständnis der sozial geprägten Vermittlungsformen Handeln, Sprechen und Wahrnehmen sowohl in eine biographische als auch in eine kulturgeschichtliche Entwicklung der Erscheinungsformen einbezogen. Die Phänomene, die sich uns zeigen, sind damit Momentaufnahmen eines geschichtlichen Stroms. In ihm vermitteln sich die sozialen Kommunikationen ebenso wie die Erschließungen der Dingwelt. Die Wirklichkeit ist grundsätzlich eine offene Wirklichkeit. Wir müssen also kritisch sein gegenüber jeglichen Vorhaben, das Ganze der Wirklichkeit erkennen und konsistent darstellen zu wollen. Hier steht der phänomenologische Realismus in der Tradition einer selbstkritischen Aufklärung der Erkenntniskräfte. Wenn man das Ganze der Wirklichkeit konsistent darstellen will, ist der Preis der Ortlosigkeit 423 https://doi.org/10.5771/9783495860236 © Verl

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12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit

des Betrachters unumgänglich. Die Behauptungen werden dann aber unfreiwillig spekulativ, auch wenn sie im Namen einer angeblich »aufgeklärten« und »nüchternen« Wissenschaft vorgebracht werden. Das Vorhaben, die Wirklichkeit mit einer normativen Methode objektiv darstellen zu wollen, führt weiterhin zu einer Verflachung und Verarmung der Wirklichkeit. Im Namen einer alles durchwaltenden Klarheit und Verständlichkeit gehen viele Dimensionen der Wirklichkeit verloren. Die Wirklichkeit wird immer zurückweichen, wenn man sie mit bestimmten Methoden vollständig erfassen will. Der Ansatz des phänomenologischen Realismus macht auf die Differenziertheit der Wirklichkeit aufmerksam und sensibilisiert für die Vielzahl und Pluralität von Methoden, deren Erkenntnisse nicht aufeinander reduziert werden können. Dies gilt insbesondere für jene Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die lebensweltlich oder kulturell vermittelt werden. Der vorgeschlagene Ansatz zeigt, dass es dringend geboten ist, die modernen, ausdifferenzierten Wissenschaften über eine permeable Kultur wieder stärker mit der Lebenswelt in eine intensive Beziehung zu setzen. Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, können aus sich heraus Sinn und Wertorientierung ebenso wenig garantieren wie die für sie selbst notwendige Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit. Diese Grundlagen können aber immer wieder neu angeeignet werden, wenn die Wissenschaften über eine offene und vermittelnde Kultur mit der Lebenswelt und ihren irreduziblen Erscheinungsformen der Wirklichkeit verbunden bleiben. Nur so kann es gelingen, jenen in der rationalen Leonardo-Welt vernachlässigten Bereich der Erscheinungsweise der Wirklichkeit als X (Atmosphäre) bzw. X (Gefühl) in das wissenschaftliche Erforschen unserer Wirklichkeit einzubeziehen. Die Vielfalt der Erscheinungsformen im Chiasmus stützt eine wissenschaftliche Betätigung, die ein breites Spektrum von wissenschaftlichen Methoden nahe legt, in dem transdisziplinäre Forschungsvorhaben in die Zukunft weisen. Es ist zu erwarten, dass wir eher Neues über die Wirklichkeit erfahren, wenn wir die Methoden variieren, als wenn wir ausschließlich die Forschung mit etablierten Methoden intensivieren. Am Ende der Betrachtung steht deshalb ein Aufruf zu einer Kultur der Achtsamkeit 3 und Offenheit, die diese Erscheinungsweisen Waldenfels hat die Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt einer phänomenologischen Betrachtung gestellt: »Um diese Erfahrungsüberschüsse aufzusuchen, bedarf es einer

3

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nicht einfach übersieht, sondern sie ernst nimmt als einen wichtigen Teil unserer Wirklichkeit. Unter den Bedingungen des phänomenologischen Realismus müssen wir eine unauflösbare Pluralität der Beschreibungen der Wirklichkeit akzeptieren, wir können nicht alle Erscheinungsweisen in einer konsistenten Theorie vereinheitlichen. Es kommt nun darauf an, aus der Einsicht in die Begrenztheit des Erkennens eine Tugend zu machen. Wir sollten uns davor hüten, die Dinge, die uns im Alltag so bekannt sind, einfach als verstanden und banal abzutun. Die großen Geheimnisse der Wirklichkeit befinden sich ebenso in dem Raum, in dem wir gerade sitzen wie sie in der Galaxis Andromeda zu finden sind. Es steht zu erwarten, dass viel fundamental Neues auch im leibbezogenen Nahbereich entdeckt werden kann. Neuere Forschungen in der Anthropologie oder der Emotionsforschung deuten dies an. Eine Kultur der Achtsamkeit und Offenheit sieht keinen Fortschritt in einem starren Festhalten an etablierten Methoden. Sie ist bereit, sich stets auf Neues einzulassen, weil sie weiß, dass es keine starre Wirklichkeit gibt, die es einfach auszumessen gilt. Die Frage, was die Wirklichkeit ist, ist untrennbar mit der Frage verwoben, wer wir selbst sind. Zu Beginn haben wir an zwei Grundfragen der Philosophie erinnert, die Frage nach der Welt und die Frage nach dem Menschen. Die Untersuchung unserer leiblichen Existenz hat gezeigt, wie untrennbar diese beiden Fragerichtungen miteinander verbunden sind. Wir existieren als leibliche Wesen und sind so Teil dieser Wirklichkeit. Unsere Leiblichkeit ist eine offene Situation, die Wirklichkeit ist ebenso eine offene Wirklichkeit. Wir erschließen Aspekte, Zusammenhänge in den Erscheinungsweisen, aber weder den Leib noch die Wirklichkeit je ganz. Der tiefere Grund ist der, dass wir unauflöslich mit der Wirklichkeit verwoben sind. Damit ist kein statisches Verhältnis beschrieben, sondern ein dynamisches, das auf das Offene zustrebt, das zu Entdeckungen einlädt. Wir entwickeln uns mit der Wirklichkeit weiter. Das Neue ist ein grundlegender Zug der Wirklichkeit, in der wir leben, die wir erleben. Wir sind als leibliche Wesen immer auch, darin ist Hannah Arendt Recht zu geben, geburt›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹, die für Untertöne und Zwischentöne empfänglich ist.« Waldenfels 2004: 263. Ebenso geht er auf Achtsamkeit ein: »Die Beachtung, die wir schenken, spielt hinüber zur Achtsamkeit, die wir nicht nur Personen, sondern auch Dingen, Pflanzen und Tieren gegenüber an den Tag legen.« A. a. O.: 264.

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liche Wesen. Erkennen in diesem Sinne ist immer auch Neubeginn, und es geht deshalb mit Merleau-Ponty vor allem darum, »den Sinn von Geschichte und Welt zu fassen in statu nascendi.« 4

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Personenregister

Apel, Karl-Otto 359 Arendt, Hannah 326, 373, 407, 425 Bacon, Francis 37, 40–43, 61 Bellone, Enrico 40 Bermes, Christian 16, 112, 127–128, 148, 171, 395, 404 Blackmore, Susan 43, 82, 89, 259 Blumenberg, Hans 103 Böhme, Gernot 145, 198–199, 223, 270– 272, 274, 277, 298, 362, 409 Bonhoeffer, Dietrich 249–250 Brüntrup, Godehard 68 Chalmers, Alan F. 82, 86, 183, 385, 389 Cohen, Bernhard 36, 383 Conant, James 68, 152 Cook, Gary A. 288 Damasio, Antonio 59, 121, 217–220 Daston, Lorraine 36, 195 de Sousa, Ronald 216–217 Demmerling, Christoph 217 Dennett, Daniel 28, 61, 71–84, 86–97, 100, 103, 105–106, 122, 137, 150, 191, 228, 249, 259, 275, 313, 338, 382– 383 Descartes, René 28, 35, 37, 42–61, 66, 68–70, 76–77, 90, 103–104, 107, 112, 121–123, 138, 140–141, 146–147, 166, 173–177, 184–185, 189, 191, 193–194, 199–201, 206, 210, 215, 218–219, 224, 226–228, 232–234, 238, 283–284, 305, 327–328, 338 Deuser, Hermann 198 Döring, Sabine 216 Engelen, Eva-Maria 214 Evers, Dirk 68, 277–278, 408

Feyerabend, Paul 38, 230, 381, 399–400 Flam, Helena 391 Flasch, Kurt 36 Fuchs, Thomas 370, 407 Galilei, Galileo 37–40, 42–43, 47, 53, 61, 73, 381, 395 Gethmann, Carl Friedrich 364, 369, 373, 378, 396, 401 Goller, Hans 54, 68 Good, Paul 406 Grözinger, Albrecht 411 Grunwald, Armin 391 Habermas, Jürgen 293–294, 357–358, 370–371, 393 Hacking, Ian 64 Hagencord, Rainer 228, 246 Hammacher, Klaus 52 Hartmann, Martin 214–215, 217–218 Hartung, Gerald 408 Heidegger, Martin 312, 326 Heisenberg, Werner 21, 32, 100, 250, 258, 411–418, 420–421 Hoppe, Christian 16, 375, 420 Horkheimer, Max 35 Husserl, Edmund 39, 78–79, 107–110, 112, 132, 155, 248, 277–278, 313–314, 336, 364–366, 395–396, 398, 400 James, William 41, 217–219 Janich, Peter 272, 359, 377, 379–380, 384, 396 Janssen, Paul 372, 396, 398, 400 Joas, Hans 113–115, 136, 285, 288–289, 296–297, 300, 303, 306, 308, 314, 330– 332 Jung, Matthias 392

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Personenregister Kant, Immanuel 53, 55, 97, 104, 168, 176–179, 185–187, 189, 195, 207–210, 233, 305, 401 Kenny, Anthony 343 Kierkegaard, Sören 187, 198–199 Knorr Cetina, Karin 364 Köchy, Christian 419 Lembeck, Karl-Heinz 277 Levi-Strauss, Claude 422 Levinas, Emmanuel 110, 248 Lewis-Williams, David 201 Link, Christian 15, 57, 59–60, 142, 193, 288, 328 Losch, Andreas 386 Low, Douglas 170–171 Lüpke, Johannes von 250 Madison, Gary B. 385 McGinn, Colin 200–201 McLaughlin, Peter 419 Mead, George Herbert 30, 104, 280, 285– 305, 308, 310, 312, 328, 342 Merleau-Ponty, Maurice 15, 23, 25, 27– 29, 42, 103, 109–152, 155–156, 162– 163, 170–172, 175, 180, 182, 186, 188– 190, 192, 196–198, 202, 204–205, 210, 212–213, 220–221, 226–227, 231, 240, 243, 249, 253–254, 266, 271, 273, 275, 277–278, 281–282, 284–289, 291–292, 294, 301–306, 308, 312, 314–315, 318– 319, 336–337, 340, 346, 356, 362, 364– 365, 368, 382, 385, 392, 395–397, 402, 404, 406, 416, 422, 426 Métraux, Alexandre 422 Metzinger, Thomas 43, 85, 259 Mittelstraß, Jürgen 62, 64, 366, 368, 379, 382, 389–390, 393, 396, 398, 401 Monod, Jacques 255 Mutschler, Hans-Dieter 337, 395, 397, 401 Nagel, Thomas 87, 90, 260, 263 Oberschelp, Walter 39

Perler, Dominik 45 Plessner, Hellmuth 256 Popper, Karl R. 94, 195, 264–265, 268, 335–336, 354, 357, 382, 387, 389 Poser, Hans 385 Prechtl, Peter 44 Puntel, Lorenz Bruno 352 Putnam, Hilary 31, 46, 68, 106, 153, 182, 336, 338–349, 352–356, 385–386, 388 Roth, Gerhard 71 Schiemann, Gregor 413 Schmitz, Hermann 155, 166, 220–224, 269–272, 277, 329–330, 332–333, 361– 362, 391, 396, 411 Schnädelbach, Herbert 36 Schopenhauer, Arthur 207–208, 210, 240–242, 268 Schützeichel, Rainer 391 Searle, John R. 55, 90, 92–93, 344 Singer, Wolf 71, 82 Soentgen, Jens 221–222, 224 Spaemann, Robert 248–249 Spitzer, Manfred 65 Stephan, Achim 235–237, 239 Strobach, Niko 187 Ströker, Elisabeth 366 Thies, Christian 317 Toepfer, Georg 419 Tomasello, Michael 392–393 Vaas, Rüdiger 65 Varela, Francisco 259, 261 Vogelsang, Frank 249, 316, 371, 374, 403, 409–410, 420 Waldenfels, Bernhard 110, 112, 114, 120, 123, 130, 153, 204, 248, 319, 368–369, 371–372, 400, 424–425 Wellmer, Albrecht 359 Welter, Rüdiger 364 Wiesing, Lambert 123–124, 156–157, 200, 306, 315

Pauen, Michael 68, 259

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