Netzwerk Kultur: Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt [1. Aufl.] 9783839413562

Netzwerke sind zur Leitfigur des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert geworden. In Gestalt von transnationaler Politik, glo

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German Pages 158 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Verbundenheiten
Netzwerkkreativität
Fundstelle Europa
Orte des Geschehens
Plattformen politischer Aktion
Potenzialitäten
Umstrittene Räume
Konfliktspuren
Ausnahmen
Krisenfelder der Netzwerkproduktion
Architektur des Handelns
Arizona-Markt: Interethnische Zusammenarbeit im Brčko-Distrikt
Istanbul-Topkapι : Handel in Ruinen
Moskau-Izmailovo: Zu Gast bei Stalin
Marktgemeinschaften
Schattenfiguren
Grenzökonomien
Parallelwelten
»Gunners and Runners«
Artikulationen von Gemeinschaft
Gemeinschaft ohne Band
Vernetzte Handlungen
Literatur
Abbildungen
Namens- und Sachregister
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Netzwerk Kultur: Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt [1. Aufl.]
 9783839413562

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Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur

2010-03-08 15-08-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845770010|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1356.p 235845770018

Peter Mörtenböck (Prof. Dr. phil.) und Helge Mooshammer (Dr. techn.) lehren Visuelle Kultur an der Technischen Universität Wien und am Visual Cultures Department des Goldsmiths College, University of London. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Verhältnis von Kunst und geokulturellen Prozessen, Praktiken relationaler Architektur und die Transformation urbaner Systeme.

2010-03-08 15-08-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845770010|(S.

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) T00_02 seite 2 - 1356.p 235845770034

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt

2010-03-08 15-08-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845770010|(S.

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) T00_03 titel - 1356.p 235845770106

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Cherkizovsky-Markt in Moskau-Izmailovo, 2006, © Peter Mörtenböck & Helge Mooshammer Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1356-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2010-03-08 15-08-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845770010|(S.

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) T00_04 impressum - 1356.p 235845770186

Inhalt Verbundenheiten ..................................................................................

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Netzwerkkreativität .............................................................................. Fundstelle Europa ............................................................................... Orte des Geschehens .......................................................................... Plattformen politischer Aktion .......................................................... Potenzialitäten .....................................................................................

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Umstrittene Räume ............................................................................. Konfliktspuren ..................................................................................... Ausnahmen .......................................................................................... Krisenfelder der Netzwerkproduktion .............................................. Architektur des Handelns ................................................................... Arizona-Markt: Interethnische Zusammenarbeit im Brčko-Distrikt ........................ Istanbul-Topkapı: Handel in Ruinen ................................................. Moskau-Izmailovo: Zu Gast bei Stalin .............................................. Marktgemeinschaften ......................................................................... Schattenfiguren ................................................................................... Grenzökonomien ................................................................................. Parallelwelten ....................................................................................... »Gunners and Runners« .................................................................... Artikulationen von Gemeinschaft ..................................................... Gemeinschaft ohne Band ................................................................... Vernetzte Handlungen .......................................................................

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Literatur ................................................................................................ 139 Abbildungen ........................................................................................ 147 Namens- und Sachregister .................................................................. 149

Verbundenheiten

Politische Konfl ikte, humanitäre Katastrophen, Kriege und Migrationen – wir leben in einem Zeitalter der globalen Unruhe und Diskontinuität. Die weltweiten Bewegungen von Bevölkerungen, die allerorts auf keimenden sozialen Mobilisierungen und die sich ständig verändernde Gestalt der neoliberalen Ökonomie sind die entscheidenden Kräfte einer neuen Weltordnung, in der wir alle ständig aufgefordert sind, Realität zu verhandeln und Vereinbarungen zu treffen. Inmitten dieser Auflösung von tradierten Ordnungen bekommen der Zugriff auf Netzwerke und das Entwickeln von Verbundenheiten immer mehr Gewicht im Einnehmen und Gestalten unserer Umwelten: als Prozesse, in denen Ausmachungen stattfi nden und schrittweise Form gewinnen. Im Lichte dieses strukturellen Wandels sind Netzwerke auch zu einem der prominentesten Begriffe auf der Suche nach neuen Formen von Solidarität und kulturellem Zusammenhalt geworden. Welche Form eine solche Verbundenheit aber haben soll, ist nicht nur eine Frage theoretischer Natur, sondern vor allem eine der Vielfalt von Räumen, die von Verbundenheiten in aller Welt produziert werden und dabei unseren eigenen Handlungsraum immer wieder neu gestalten. Netzwerke sind sowohl Struktur als auch Operationsfeld dieser wuchernden globalen Verstrickungen von Personen, Orten und Interessen. Sie prägen sich auf unterschiedliche Weise in den Raum ein: in Gestalt von translokalen Handlungszonen, gemeinschaftlichen Unterstützungsmechanismen, erweiterten Einflussbereichen und Infrastrukturen, räumlichen Überlagerungen oder intensiven Berührungen und Kontaminationen. Hand in Hand mit diesen expansiven Kräften gehen aber Tendenzen der gewaltsamen Absonderung und 7

Netzwerk Kultur

eine globale Dynamik der Fragmentierung von Lebensräumen. Die mithilfe von Planung angestrebte Kontrolle unserer Umwelt prallt so auf die Bottom-up-Realitäten der wuchernden Metropolen und auf die experimentellen Strukturen von vernetzter Selbstorganisation. Diese Entwicklung sorgt allerorts für Spannungen, Konflikte und Zusammenstöße und lässt in der Gestaltung von Architekturen der Verbundenheit eine dringliche politische Aufgabe erkennen. Während die offizielle Reaktion von Kultur- und Planungspolitik meist in einer Suche nach Formen der Stabilisierung und Beschränkung besteht, entwickelt sich aus der Dynamik der Deregulierung eine Situation weltumspannender Parallelsysteme, in denen wir getrennte Verbundenheiten aufsuchen: Parallel-Architekturen, Parallel-Gesellschaften, Parallel-Leben. In Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen ist aus dem Kunst- und Architekturschaffen der letzten Jahre eine neue Form von Praxis hervorgegangen, die sich auf kollektives Produzieren, prozessgeleitetes Arbeiten und ein Agieren in transversalen Projektplattformen stützt. Eine solche ›disziplinlose‹ Praxis von unaufgeforderten Einmischungen in räumliches Geschehen macht das dysfunktionale Regelwerk der Top-Down-Planung lesbar und kreiert ein Feld, das inmitten der Bemühungen, dieses Versagen zu verbergen, neue Formen der Zirkulation erzeugt. Sie nimmt existierende Netzwerke in Gebrauch, erweitert und verändert sie, lässt neue Kreisläufe entstehen und skizziert damit eine mobile Geographie der selbstbestimmten Inanspruchnahme von Raum und Kultur. Der zusammengesetzte Begriff »Netzwerk Kultur« umreißt in diesem Sinn eine Sphäre der Verbundenheit unterschiedlicher Praxen, die sich nicht über zentral autorisierte Kategorien – Disziplinen, Institutionen, geteilte Geschichte oder Geographie – aufeinander beziehen, sondern durch ihre gemeinsame Arbeit an aktuell dringlichen Fragen und ein Schaffen von Plattformen der Beteiligung im Bereich von Kultur. Die Qualitäten solcher Netzwerke gehen aus dem Zusammenspiel ihrer einzelnen Komponenten hervor, und diese selbst wiederum sind äußerst instabil und von einem Geflecht an Interaktionen abhängig. Dieser Mangel an klar gezeichneten Zentralitäten mobilisiert auch den Fokus unseres kritischen Denkens und lenkt unsere Aufmerksamkeit weg von konstituierenden Kategorien zu Prozessen des Konstituierens, von stabilen Raummerkmalen zu den in Erscheinung tretenden Eigenschaften von Räumen, von der Produktion von Objekten zur Produktion von Beziehungsgeflechten. 8

Verbundenheiten

Im vorliegenden Buch möchten wir diese Entwicklung weder als eine geschlossene Bewegung beschreiben noch innerhalb der Besonderheiten eines bestimmten Kontexts lokalisieren. Vielmehr beschäftigt uns ihre Nähe zu einer Fülle anderer selbstautorisierter Strukturen von ganz unterschiedlichem Maßstab – jene von informellen Märkten, alternativen Ökonomien und migratorischen Praxen ebenso wie die unzähligen kleinen und unbeachteten Versuche einer selbstbestimmten Soziabilität inmitten der globalen Umgestaltung unserer Lebensräume. Eine solche eigenwillige Nähe konfrontiert uns mit der prinzipiellen Konstruktion der Modalitäten kultureller und sozialer Erfahrung – mit einem allgegenwärtigen Raumschaffen, das unaufgefordert und uneingeschränkt stattfindet und einen Erfahrungsbereich außerhalb der vorgegebenen Formen von politischer Repräsentation aufmacht. Das schwer zu klassifizierende Wirken dieser ›Projekte‹ gehört in den Bereich der politischen Realität, entfaltet gleichzeitig aber auch einen Außenraum, der eine aktive Neuverteilung von Rollen und Aktivitäten jenseits der konzeptuellen Rahmenwerke erlaubt, die auf Diskurse wie Bildung, Wirtschaft, Planung oder gesellschaftliche Organisation gemeinhin angewendet werden. Welche Formen von kultureller Interaktion und welche sozialen Umgebungen entstehen in einer solchen unaufgeforderten Produktion von Raum, Politik und Wissen? Das vorliegende Buch befragt dazu die Parameter des stattfindenden geopolitischen Wandels zusammen mit verschiedenen Formen von künstlerischem, architektonischem und kulturellem Engagement in diesem beweglichen Gefüge. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von Netzwerkkreativität folgt zunächst den von Kunst, Architektur, Urbanismus, kuratorischer Tätigkeit und Aktivismus aufgespannten Netzwerkbahnen. Der hierbei skizzierte Schauplatz unterstreicht die Bedeutung des Verhältnisses von Raum und Konflikt und führt zu einem Sondieren von Konflikträumen im erweiterten Europa, zur Untersuchung von Konfliktarchitekturen und zu den auf geokultureller Ebene wirksamen Verhandlungsmodellen. Diese angewandten Politiken verweisen auf Fragen von Gouvernementalität und Selbstregierung, die über die komplexen Strukturen von Schwarzmärkten, informellen Stadtgebilden und die sie begleitenden gesellschaftlichen Arrangements analysiert werden. Vor dem Hintergrund dieser globalen Realitäten diskutiert das Buch die Parallelwelten von Mobilität und Migration, die Koproduktionslogiken transnationaler Netzwerke, temporäre Projektplattformen und 9

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andere Gegengeographien, um eine Politik der Verbundenheit in den Brüchen der alten Ordnung auszuloten. Die im Buch versammelten Texte basieren auf dem mehrjährigen Projekt Networked Cultures (www.networkedcultures.org), in dem wir die Gelegenheit hatten, mit zahlreichen Netzwerkpraxen zusammenzukommen, von ihren Erfahrungen zu lernen und ihre Arbeit in unsere Reflexionen aufzunehmen. Mit allen hier erwähnten Praxen haben wir intensiven Austausch geführt und eine Reihe von unterschiedlichen Formaten zur Artikulation dieses Projekts entwickelt, darunter eine Dokumentation der stattgefundenen Gespräche in Buchform (Networked Cultures, 2008), eine digitale Datenbank, ein audiovisuelles Archiv, ein Dokumentarfilm, eine Ausstellungsreihe und eine Serie von Live-Manifestationen im institutionellen und öffentlichen Raum in Form der Networked Cultures Dialogues. Angesichts der weitverzweigten Bahnen, die das Projekt seit seinem Beginn im Jahr 2005 genommen hat, sind wir einer Vielzahl von Personen, die uns auf diesen Wegen begleitet und unterstützt haben, zu Dank verpfl ichtet. Viele dieser Personen sind im Lauf des Projekts zu Beteiligten, Partnern und Freunden geworden. Neue Verbundenheiten wurden geschaffen, neue Wege gebahnt.

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Netzwerkkreativität

Fundstelle Europa »Netzwerkkämpfe bedürfen nun […] nicht in gleicher Weise der Disziplin: Kreativität, Kommunikation und selbstorganisierte Kooperation sind ihre Haupttugenden.«1

Im Frühjahr 2006 erging ein gemeinsamer Aufruf der beiden translokalen Stadtforschungsnetzwerke School of Missing Studies und Centrala Foundation for Future Cities zur Beteiligung an einem räumlichen Experiment, das den Charakter einer Expedition haben sollte. Während Expeditionen üblicherweise Instrumente der Erforschung entlegener Gebiete sind, richtete sich die Lost Highway Expedition, so der Titel der Entdeckungsreise, auf das Gebiet des heutigen Westbalkans. Entlegen war also nicht der Ort der gemeinsamen Reise, sondern die Zeit der ideologischen Gemeinschaftsbildung in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Dem Projekt ging es aber nicht um eine nostalgische Rückgewinnung verlorener Anschauungen und Werte, sondern darum, aus den Reiseerfahrungen einer selbstorganisierten Gemeinschaft Wege für die Zukunft zu entwickeln.

1. Michael Hardt und Antonio Negri: Multitude: Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2004, S. 101.

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Netzwerk Kultur

Abbildung 1: Lost Highway Expedition, an der Grenze zwischen Kroatien und Serbien, August 2006 Den Kern dieses ästhetischen und sozialen Experiments bildete ein gemeinsames Bereisen der ›Straße der Brüderlichkeit und Einheit‹, einer 1948 begonnenen und nie vollendeten Autobahnstrecke, deren kollektive Errichtung die Hauptstädte der SFRJ ideologisch und infrastrukturell zusammenführen sollte. Der nach 1991 für dieses Territorium neu erfundene Name Westbalkan steht heute, nach Jahren gewaltsamen Konflikts, ökonomischer und gesellschaftlicher Umstrukturierung, für ein Gebiet, dessen vereinendes Charakteristikum vor allem im langfristigen Ausschluss der Mehrzahl seiner Bewohner aus EU-Europa zu finden ist, wenngleich die nach den Kriegszerstörungen von privaten Gesellschaften wiederaufgebaute Autobahn als Teil des Paneuropäischen Korridor X in die Infrastruktur der EU reklamiert wird.2 Für die Teilnehmer der Expedition stellte sich die Frage, welche Bedeutung in einer solchen Verbindung von Orten, Ideologien und Er-

2. Ivan Kučina: »The Instrumentalisation of Friendship«, in Alenka

Gregorič (Hg.), Lost Highway Expedition, Ljubljana: Galerija Škuc 2006, S. 49.

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Netzwerkkreativität

innerungen liegt und welche Bedeutung sie erhalten kann. Aus dem Originaltext des Aufrufs: »The Lost Highway Expedition will begin in Ljubljana, and travel through Zagreb, Novi Sad, Belgrade, Skopje, Prishtina, Tirana, Podgorica before concluding in Sarajevo: It will comprise two days of events in each city and one day of travel in between. The events may include guided tours, presentations and forums by local experts, workshops involving the travellers and local participants, discussions, exhibitions, radio shows, picnics and other events that can be organised by the host cities themselves. Members of the Lost Highway Expedition do not have to travel or stay together and can enter and exit the expedition for any length of time and at any point. Participants are responsible for organising, supporting and realising their own journeys. The expedition is meant to generate new projects, new art works, new networks, new architecture and new politics based on experience and knowledge gained along the highway.«3

Die geteilte Suche nach einer experimentellen Gemeinschaft brachte im August 2006 Hunderte Beteiligte unterschiedlichsten Hintergrunds mit unabhängigen Organisationen, Initiativen und Kulturschaffenden der neun verschiedenen Regionen des Expeditionsgebiets zusammen. Manche der Teilnehmer bereisten einen Monat lang die gesamte Strecke, andere begleiteten die Expedition nur wenige Tage. Manche fanden sich sofort in einen gemeinsamen Prozess der Gruppe eingebunden, andere stellten eigene Initiativen in Dialog mit dem Geschehen. Absichtlich wurde den teilnehmenden Personen selbst überlassen, ihr Projekt zu definieren, ihre eigene Zeit zu planen, ihre eigenen Kontakte zu knüpfen und so das Programm der Expedition dezentral zu strukturieren. Schwarmartig verbreitete sich das Wissen um die Expedition, schwarmartig bewegte sich die unscharf umgrenzte Gruppe von Abschnitt zu Abschnitt, schwarmartig fand sie wieder zusammen und zerstreute das hervorgegangene Wissen am Ende der Reise in unterschiedlichen und nur teilweise miteinander zusammenhängenden Projekten – Ausstellungen, Seminaren, Workshops und Publikationen. 4 3. Siehe: www.schoolofmissingstudies.net/sms-lhe.htm vom 15. Au-

gust 2009. 4. Eine der ersten Print-Publikationen dieses Projekts ist der Foto-

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Netzwerk Kultur

Abbildung 2: Ehemaliges Hotel Jugoslavija in Novi Beograd, August 2006 Ein wichtiger Parameter dieser Aktivitäten ist nicht nur die experimentelle Netzwerkstruktur, über die sie sich ausbreiten konnten und dank der sie zu einer Fülle unvermuteter Begegnungen und Erkenntnisse geführt haben. Wichtig ist auch die intellektuelle Dichte und Spannweite dieser neuen Wissensformationen, die in Zusammenhang stehen mit der Art, wie die bereisten Lokalitäten mit externen Netzwerken verbunden sind, einschließlich der von den Initiatoren des Projekts selbst verkörperten geokulturellen Gefüge und Mobilitäten: In der anfänglichen Plattform Europe Lost and Found, bestehend aus Azra Akšamija, Ana Dzokic, Katherine Carl, Ivan Kucina, Marc Neelen, Kyong Park, Marjetica Potrč und Srdjan Jovanovic Weiss, bildet sich eine Vielfalt an translokalen Beziehungen und kulturellen Wechselbezügen ab, die weit über das Wirkvermögen konkreter Gruppendynamik hinausgeht. Der mit Ana Dzokic und Mark Neelen vorliegende Austausch zwischen Belgrad, der Hauptstadt der Turbo-Kultur, und der Architekturhochburg Rotterdam; die mit Azra Akšamija aufgespannte Bahn vom kriegsgeprägten Sarajewo zu akademischen Stätten in den USA; die verschiedenen abseitigen Orte, die Kyong Parks Arbeit in Asien, Nordamerika und band: Katherine Carl und Srdjan Jovanovic Weiss (Hg.): Lost Highway Expedition Photo Book, Rotterdam: Veenman Publishers 2007.

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Europa zusammenbringt; Marjetica Potrčs Verknüpfung von Formen der Selbstorganisation am Westbalkan und in Lateinamerika; Srdjan Jovanovic Weiss’ nomadische Architekturunternehmungen zwischen Novi Sad und Philadelphia; all diese Verbindungen schaffen eine bewegliche Netzwerkstruktur, mit der eine Pluralität an lokalen Gesichtszügen als translokale Begebenheit projiziert werden kann.

Abbildung 3: Katherine Carl, Srdjan J. Weiss, Azra Akšamija und Kyong Park (v. l. n. r.) im Gespräch über die Lost Highway Expedition vor dem Zentrum für Medienkultur kuda.org, Novi Sad, August 2006 Was das sozio-ästhetische Experiment der Lost Highway Expedition mehr werden ließ als eine selbstbezügliche Gruppenerfahrung, war der Aktionsraum, der sich im Zusammenwirken der Initiatoren des Projekts bildete, neue Akteure aufnahm und einen erweiterten politischen Raum formulierte. Die Kraft dieses Raums reflektiert das Ausmaß, in dem sich Subjektivität in verteilter und fragmentierter Form ausdrücken und über eine Reorganisation dieser Verstreuungen zu effizienten ästhetischen und politischen Verbindungen führen kann. In diesem Sinn lässt sich das Potenzial der mit diesem Expeditionsexperiment geschaffenen Situation weniger als eine Begegnung von gleichgesinnten Individuen lesen, als ein Zusammenführen von ästhetischen Produktionen und geokulturellen Realitäten in einer konkreten Form von räumlicher Praxis. Im Zusammenhang mit 15

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ihrem Projekt Timescapes zur Erfahrungstopographie des Korridors X, der in den 1970er und 1980er Jahren eine der frequentiertesten Gastarbeiterrouten aus dem Südosten Europas bildete, argumentiert Angela Melitopoulos ein Potenzial im Operieren zwischen verschiedenen Raumlogiken: »The logical basis of the B-Zone is its tie to the A-Zone, but the fragmentation of the B-Zone can follow other logics that could alter both zones substantially.«5 Welche Communities von Infrastrukturen und Netzwerken erzeugt werden, hängt immer von ihrer Nutzung ab. Die konkrete Verkörperung migratorischer Zusammenhänge, die bereisbare Realität des Westbalkans und die von den Initiatoren zur Verfügung gestellten Kontakte zu lokalen Initiativen mitsamt einem reichen Angebot an politischen Diskussionen, spezialisierten Stadtführungen und sozialen Aktivitäten dienten der Expedition als wichtige Realitätsanker, durch die sich die Suche nach einer neuen ›temporären Gesellschaft‹ weder allein am Prozess der Gruppe noch an einer diff usen Vorstellung von Globalität orientierte. Mit der Verankerung in den provisorischen Formationen einer konkreten geokulturellen Realität war eine Ebene jenseits von Mikro- und Makroorganisation vorhanden, um die Möglichkeiten der einen Beziehungsstruktur für ein neues Verständnis der jeweils anderen zu nutzen. Die Beziehungen zwischen diesen vielen Ankerpunkten und die Aktualisierung ihres Potenzials in der gemeinsam unternommenen Reise stellen gleichsam jene von der Expedition gesuchte Verbindung her, die zwischen den Orten des Westbalkans und anderen geopolitischen Regionen liegt. Damit impliziert Netzwerkkreativität nicht nur, dass Netzwerke auf kreative Weise geschaffen werden, sondern betont auch, dass Netzwerke eine morphologische Struktur für Kreativität bereiten. Die während und in der Folge der Expedition produzierten künstlerischen Projekte formen jene Wissensarchive, die selbst wiederum eine Erweiterung der Expedition von den vor Ort Beteiligten auf eine wachsende Zahl von verstreuten Teilnehmern erlauben. Die produktive Kraft des Netzwerkes besteht so in seiner morphologischen Unabgeschlossenheit, die es möglich macht, von jedem seiner Knoten aus immer wieder neue Verbindungen zu knüpfen, ohne zwingend mit einem legitimierenden und kontrollierenden Ursprung verbunden zu sein. 5. Angela Melitopoulos: »Corridor X«, in: Anselm Franke (Hg.), B-Zone: Becoming Europe and Beyond, Barcelona: Actar 2006, S. 158.

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Abbildung 4: Lost Highway Expedition, Streckenkarte, 2006

Abbildung 5: Fresh Motel an der europäischen Transitroute E70 in Westserbien, August 2006

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Or te des Geschehens Ob in Gestalt transnationaler Politik, globaler Ökonomien, neuer Technologien oder urbaner sozialer Bewegungen: Netzwerke sind die prägende Charakteristik räumlicher Organisation im 21. Jahrhundert. Netzwerke haben die Formen kulturellen Zusammenlebens und Kommunizierens ebenso verändert, wie die Art, in der wir Räume produzieren und erfahren. Städte, Regionen, Länder oder Kontinente werden immer weniger als feste Territorien erfahren, und immer mehr als flüssige und umkämpfte Landschaften, gebildet und in Bewegung gebracht durch Netzwerke interagierender Realitäten. Netzwerke sind eine Organisationsform, eine Politik des Operierens und ein Prozess des Erzeugens zugleich. Auf allen diesen Ebenen rücken sie die Beziehungen zwischen Objekten in den Vordergrund, und nicht Objekte selbst. Netzwerkdenken kreist um Verbindungen, Vorgänge und Handlungsweisen, die Austausch herstellen und Dinge miteinander verknüpfen. Es unterhält Logiken, die an der Intensität, Reichweite und Qualität von Beziehungen orientiert sind. Und es erzeugt Formen von Wissen, das aus Gesprächen, Dialogen, Interaktionen und Interventionen erwächst. Am Beginn des neuen Millenniums sind Netzwerke zur mächtigsten Figur geworden, über die wir die Organisation unserer Welt denken: Netzwerke dominieren die heutigen Strukturen von kultureller, ökonomischer und militärischer Macht. Sie sind das allgegenwärtige Sehnsuchtsobjekt des digitalen Zeitalters, eine neue Kraft, die mit den Versprechen der Flexibilisierung unserer Beziehungen und der Erweiterung unserer Möglichkeiten unser Empfinden, Denken und Handeln lenkt. In der Politik von Netzwerkoperationen ist der Unterschied zwischen Aktivität und Ergebnis oft denkbar gering. Die Organisation solcher Strukturen wird in gewisser Weise weniger Mittel und stattdessen selbst zu einem Zweck.6 Denn Netzwerkorganisation meint sowohl den Inhalt als auch die Errungenschaften gemeinsamen Tuns. Sie beinhaltet nicht nur die Handlung, sondern auch das, was von ihr produziert wird. Da sich Netzwerke vor allem über den performativen Akt ihres Zusammenfindens definieren, gewinnen sie topologische Präsenz in einem fortwährenden Transfer von Relationalitäten, Be6. M. Hardt und A. Negri: Multitude: Krieg und Demokratie im Empire,

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deutungen und Werten in den Bereich politischen Handelns. Dieser Prozess strebt nicht nach einer neuen Kategorie von Raum, sondern verweist auf Performativität als fundamentale Logik des heutigen sozialen Lebens. Dies impliziert Veränderungen in der Beziehung von Handlungsmacht und Vernetzung ebenso wie neue Muster von Organisation, Raum und Netzwerkhandeln. Die globale Realität der Gleichzeitigkeit von Aufweichung und Verfestigung, Erweiterung und Einengung, Öff nung und Abgrenzung von sozialer und räumlicher Organisation legt nahe, dass die Art der produzierten Ordnungen oft widersprüchlich und umstritten ist, dass Netzwerke ebenso Aufgaben der Verbindung wie der Isolierung wahrnehmen können, und dass in Netzwerken gelebte Existenz kein Gegensatz zu einem Leben in parallelen Welten ist. Neutrale Zonen existieren nicht ohne Bezüge, und Relationalität existiert nicht ohne Isolation. Die konfliktreiche Multiplizierung von Strömen an Waren, Menschen und Informationen und die gleichzeitige Wucherung an abgekapselten Zonen, Sonderbereichen und außerstaatlichen Gebieten zeigen, dass wir nicht von einer Ablöse räumlicher Organisationsformen oder einer Dichotomie zwischen umgrenztem Territorium und Netzwerk ausgehen und eine räumliche Form als unterlegen und die andere als überlegen sehen können. Die mit einer Untersuchung von Netzwerkkreativitäten verbundene Herausforderung liegt vielmehr darin, der strategischen Allianz zwischen beiden Formen nachzuspüren, Politiken der Expansion von Macht aufzuzeigen und im Wirken dieser Politiken nach Handlungsräumen zu suchen. Wie sehen im Speziellen die Verstrickungen von Kunst, Architektur und Politik aus, die sich in Netzwerken bilden? Welche Kräfte können diese Begegnungen freisetzen, und welche Chancen geben sie der Bildung selbstbestimmter Handlungsweisen und Kollaborationen? Welche Freiräume können sich also inmitten einer alles umfassenden Netzwerksituation entwickeln, und wie verhält sich solche räumliche Kreativität zu kollektiven Prozessen? Bevor wir näher auf die Organisation von Netzwerkkreativität eingehen, ist es hilfreich zu klären, was wir unter dem erweiterten Feld von Kunst und Architektur verstehen, das wir als zentrale Referenzebene in unseren Befragungen verwenden wollen. Unser Augenmerk richtet sich dabei weniger auf die Praxis der baulichen Planungen oder deren theoretische Analyse und Kontextualisierung an sich, sondern auf eine neu entstehende intellektuelle Praxis von Architektur, die ent19

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lang von politischen und sozialen Fragen Interventionen, Experimente und laborartige Situationen produziert, um über ein Erkunden von räumlichen Zusammenhängen und über eine Teilnahme an sozialen und physischen Transformationen ein neues Verständnis von Architektur hervorzubringen. Der Begriff von Architektur bezieht sich hier also vor allem auf jene Prozesse, in denen Fragen des öffentlichen und sozialen Raums, Fragen von Territorialität, kultureller Differenz und Mobilitätspolitik über die Mitgestaltung von Projektflüssen und nicht über die Ebene der Objektgestaltung berührt werden. Eine solcherart aus der autonomen Sphäre der Architekturproduktion entfernte Architektur ist heute dabei, ihr Handlungsvermögen in temporären und praxisgerichteten Allianzen, im kollektiven Erkunden und Herstellen von räumlichen Situationen und im erfinderischen Unterlaufen von Organisationsformen auszumachen. Dabei kommt es oft zu einem gewollten Verschieben und Verwischen der Rollen, Kompetenzbereiche und kulturellen Dispositive, über die ein Projekt als eine Form von Architektur kenntlich und bewertbar gemacht werden soll. Viele der von uns hier betrachteten Praxen richten sich nicht nur gegen die institutionellen Strukturen, in denen sie repräsentiert werden sollen, sondern nutzen Kultur als radikales Dispositiv, um eigene Bezugssysteme für soziale Begegnungen und materielle Ausdrucksformen zu produzieren, die unsere Vorstellungswelt verändern.

Abbildung 6: Netzwerkverbindungen zwischen der School of Missing Studies (SMS) und kuda.org 20

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Unter diesen Vorzeichen lässt sich auch der von uns gebrauchte Bezug zu Kunst über das Spannungsverhältnis von künstlerischem Schaffen zur vorherrschenden Obsession mit der immateriellen Produktion von Kreativität als immer größer werdender Teil der Gesamtproduktion kognitiven Kapitals erläutern: Soziales und kreatives Kapital sind die neuen Weltmärkte spätkapitalistischer Wachstumspolitik, die in den vergangenen zwei Dekaden über die Kreisläufe von Geldern, Institutionen, kuratorischer Tätigkeit, Ausstellungsbetrieb und Kunstkritik eine gezielte Veränderung der Beziehung von Kunst und Wirtschaft hervorgebracht hat. Marina Gržinić bezeichnet das neue Verhältnis als »Zivilisationsverwandtschaft«, die sich der Ersten Welt als natürlicher und unvermeidlicher Prozess präsentiert und sich daran macht, kulturelle Grenzen zu überwinden, um diese ›zivilisatorische Allianz‹ in noch unbewirtschaftete und vom Staat ausgeklammerte Territorien auszudehnen.7 Denken wir nur an die kurzfristigen strategischen Investitionen des Westens in kulturelle Infrastrukturen und Ausstellungsprogramme auf dem Balkan und in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und an die Auswirkungen, die neue ›Standortentscheidungen‹ und der rasche Abbruch von Beziehungen mit sich gebracht haben. Denken wir auf der anderen Seite aber auch daran, wie sich im Sog dieser Entwicklungen dissidente Netzwerke gebildet haben, die Personen aus dem Kunst- und Wissenschaftsbereich mit Hausbesetzern, Aktivisten, NGOs und lokalen CommunityProjekten zusammengeführt und autonome Produktionsstätten geschaffen haben. Allein auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind Dutzende solcher Netzwerk-Stätten entstanden, darunter das New Media Center kuda.org in Novi Sad, [mama] in Zagreb, Metelkova in Ljubljana, pro.ba in Sarajewo, CZKD (Centre for Cultural Decontamination) in Belgrad oder Press to Exit in Skopje. Diese und ähnliche Orte sind wichtige Bezugspunkte, wenn wir uns in unserer Argumentation auf Praxen beziehen, die das künstlerische Feld als Teil ihres Aktionsradius in Anspruch nehmen. Das damit aufgespannte Feld beinhaltet lose miteinander verbundene Kommunikations- und Kollaborationsplattformen, in denen sich Künstler, Architekten, Intellektuelle, Medienaktivisten und viele andere Personen zusammen7. Marina Gržinić: »Performative Alternative Economics«, in: Oliver

Ressler/New Media Center kuda.org (Hg.), Alternative Economics, Alternative Societies, Frankfurt a.M.: Revolver 2005, S. 22.

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getan haben, um ihre Projektallianzen in den Zwischenzonen des institutionalisierten Kunstfeldes auszubilden und weitgehend autonom zu operieren.

Abbildung 7: Lost Highway Expedition, Diskussion im Medienzentrum [mama], Zagreb, August 2006 Die hier raumgreifenden Netzwerke informeller sozialer Organisation sind über komplexe Wechselwirkungen mit der Politik der globalen Deregulierung verwoben: Um Grenzen auszuweiten und über größere Gebiete Kontrolle auszuüben, braucht diese Politik immer auch unregulierte Bereiche, wo andere Interessen Zugriff erlangen und die Logik von Ursache und Wirkung in multidirektionale Ko-Implikationen auflösen. Genau an dem Punkt also, wo sich globale Deregulierung in der Erfahrung sozialer Realitäten niederschlägt, wird sie auch zu einem Instrument, das gegen sich selbst gewendet werden kann. Indem netzwerkartige Expansion formale Strukturen außer Kraft setzt, ermöglicht sie zugleich, Zielrichtungen umzulenken und unvorhergesehene Wege einzuschlagen. In dieser Umkehr werden zwei wichtige Eigenschaften des Netzwerkhandelns manifest: Zum einen die Eigenschaft, Anweisungen nicht bloß von einem Ort an einen anderen zu bringen, sondern Anweisungen in Gebrauch zu nehmen, sie zum eigenen Nutzen zu verändern und gegebenenfalls auch gegen die Anweisenden zu richten. Kurz: ihre Eigenschaft der Transformation. Damit verbunden ist zum anderen die Eigenschaft, dass nicht nur die 22

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über Netzwerkbahnen bewegte Information etwas außer Kraft setzen kann, sondern auch der zur Anwendung gebrachte Gestus des Informierens und Außerkraftsetzens selbst eine übertragbare Technologie darstellt. Das Raqs Media Collective, eine politisch orientierte Kunst- und Medienpraxis in New Delhi, hat in seiner Video- und Textinstallation A/S/L (Age/Sex/Location) anhand der unterschiedlichen Maskeraden von Identitäten in Chatrooms und Call-Center migratorische Erfahrungen zwischen Online- und Offline-Welten, Zentren und Peripherien beleuchtet. Sie schreiben: »Das Daten-Outsourcing verschiebt den Gegensatz ›Zentrum – Peripherie‹; die telematischen Pipelines der neuen Ökonomien sorgen für ein fortgesetztes Fließen zwischen getrennten Räumen. […] Im Kontext der OnlineArbeit ist die Identitätsveränderung – die Änderung des Selbst – ein Index für die Verdinglichung der Lebenswelt der Call-Center-Arbeiterin. […] Die Call-Center-Arbeiterin liefert auf zwei Ebenen eine Vorstellung: Zum einen verkörpert sie ›Ruth‹ aus dem Mittelwesten, zum anderen erscheint sie als vielgestaltige Chatroom-Diva. Sie tritt ihren Dienst im Call-Center an und logt sich am gleichen Arbeitstag und am gleichen Arbeitsplatz im Chatroom ein.«8

›Ruth‹ verkörpert unterschiedliche Marginalitäten, mit unterschiedlichen Zugängen zu dem, was sich selbst als Zentrum ausweist. Die Marginalität der Position von Call-Center-Angestellten besteht in der Verknüpfung ihrer eigenen ökonomische Lage mit der territorialen Marginalität ihres Standorts. Das Online-Gespräch selbst aber erzeugt und reproduziert mit seinen Auff ührungen und Protokollen Zentralität, indem es das Zentrum der heutigen globalen Ökonomie beliefert. Ein anderer Schauplatz dieser gleichzeitigen Trennung und Verwicklung von Netzwerk und Territorium, virtuellem Raum und realer Existenz, findet in rumänischen Internetcafés statt, wo Jugendliche in Schichtarbeit die Avatare von Kunden in den USA trainieren: ›Power levelling‹ ist der geläufige Euphemismus für dieses in entlegenen 8. Raqs Media Collective: »A/S/L: Age/Sex/Location«, in: Ursula Bie-

mann (Hg.), Geografie und die Politik der Mobilität, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2003, S. 79-80.

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›Goldfarmen‹ organisierte Auf bessern der Spiel- und Gewinnchancen von Avataren in virtuellen Spielwelten. In China, dem größten Markt der virtuellen Goldfarmen, arbeiten hunderttausende Spieler (›gold farmers‹) in diesem spezialisierten Geschäft, um im 24-Stunden-Schichtbetrieb virtuelle Güter zu erwirtschaften und über internationale Makler zu vertreiben.9 Das Netzwerk von Sweatshops der Computerspielindustrie in Asien und Osteuropa bekräftigt die Autorität von territorialer Distanz auf ganz ähnliche Weise wie ein vorgeblich aus Kostengründen entwickelter Vorschlag des österreichischen Justizministers im Jahr 2004, auf rumänischem Territorium ein von Österreich finanziertes Gefängnis für in Österreich straff ällig gewordene Rumänen zu betreiben. Der mit dieser Autorität in Stand gesetzte Austausch gibt Raum für eine Ausweitung von Zugriffen über die Grenzen von Territorien hinweg, wie auch im Fall der mehr als 1000 Geheimflüge der CIA über dem Gebiet der Europäischen Union 10 oder anderer geheimer Operationen der Auslagerung von Arbeit, Recht und Organisation. Der Einsatz von rechtsfreien Enklaven und Lagern wie Guantanamo Bay oder der Netzwerke von ›black sites‹, wie geheime Gefängnisse außerhalb des eigenen nationalen Territoriums im Jargon heißen, liefern Beweis für eine neue Dimension der Zerstückelung von geographischen Eindeutigkeiten, die Schattenpräsenzen, Tarnungen und Verwischungen bewusst als Taktiken einsetzt, um flüssige Grenzen zu gestalten. Diese Verflüssigung bedeutet in instrumenteller Hinsicht, die Konditionen des Verbindung-Schaffens unablässig neu festzulegen und in räumlicher Hinsicht eine radikale Verwandlung von Orten in eine in permanentem Schwebezustand gehaltene Apparatur zur Lenkung von Flüssen und Strömen. Diese offensive Uneindeutigkeit beschleunigt den Verfall von festen Verbän9. Ge Jin: »Chinese Gold Farmers. Immigrant Workers in the Game World«, in: Friedrich von Borries, Steffen P. Walz und Mattias Böttger (Hg.), Space Time Play: Synergies Between Computer Games, Architecture and Urbanism, Basel: Birkhäuser 2007, S. 462-465. 10. Wie die britische Tageszeitung The Guardian am 27. April 2006 berichtete, ist eine Untersuchung des Europäischen Parlaments zu dem Ergebnis gekommen, dass die CIA in den Jahren 2001 bis 2005 über 1000 geheime Flüge mit vorgeblichen Terroristen über dem Gebiet der Europäischen Union durchgeführt hat. Siehe online: www.guardian.co.uk/front page/story/0%2C%2C1762310%2C00.html vom 15. August 2009.

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den und kreiert ein Klima, in dem sich Kunst und Architektur nicht zufällig als Netzwerkakteure in den aktuellen Umbrüchen geokultureller Räume wiederfinden. Entlang der allgegenwärtigen Deterritorialisierung von Schauplätzen verringert sich ihre materielle und konzeptuelle Bindung an die physischen und empirischen Eigenheiten eines Ortes zugunsten der nomadischen und migratorischen Ströme, in denen Veränderung stattfindet. Diskursive Schauplätze, fiktionale Selbstformationen und relationale Raumpraxen sind zu Leitfiguren der kreativen Auseinandersetzung geworden.11 Am einen Ende des Spektrums finden sich global verstreute Gemeinschaftspraxen und temporäre Projektplattformen, so wie die Lost Highway Expedition, die jenseits von nationalen Bindungen die vielgestaltigen Prozesse der globalen räumlichen Transformation aufspüren; am anderen Ende der Wettlauf von Biennale-Festivals um außergewöhnliche Orte und Bilder unserer Zeit. Was sich als neuer Schauplatz bildet, ist in jedem dieser Fälle ein System von Praktiken, das sozialem, ökonomischem und politischem Druck nicht enthoben ist. In ihrem viel diskutierten Artikel »One Place After Another« hat Miwon Kwon die besondere Beziehung von Mobilitätsprivilegien zu kultureller und ökonomischer Macht hervorgehoben: Als Reaktion auf die Bedingungen einer mobilisierten Marktökonomie, so ihr Argument, machen sich im Kunstund Architekturbetrieb Kompensationsphantasien gegenüber den Tendenzen der Fragmentierung und Entfremdung und eine verdeckte Komplizenschaft mit den Privilegien nomadischer Selbstorganisation breit. Kunst und Architektur genießen einen diskreten Profit in der Beschleunigung der Kreisläufe von Aufmerksamkeit auf ›unentdeckte‹ Schauplätze.12 Diesen Gedanken einen Schritt weiterzutragen, bedeutet, nicht bei einer Kritik von Kunst und Architektur als Handlanger der globalökonomischen Kräfte stehenzubleiben. In den letzten Jahren haben sich verstärkt experimentelle Ansätze in Plattformen zusammengefunden, die dem schnellen Konsumieren eines Ortes nach dem 11. Claire Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October Nr. 110 (2004), S. 51-79; Grant Kester: Conversation Pieces: Community + Communication in Modern Art, Berkeley, CA: University of California Press 2004. 12. Miwon Kwon: »One Place After Another: Notes on Site Specificity«, in: October Nr. 80 (1997), S. 88.

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anderen ein Modell des selbstorganisierten Gestaltens gegenüberstellen. Netzwerke sind die neuen Schauplätze, die durch Dialoge, Verbindungen, Bereitstellungen, Überlagerungen und Schnittstellen ausgeformt werden. Die Orientierung am Schauplatz hat sich so zu einer gestalterischen Beteiligung an translokalen Handlungsräumen verformt. Diese Handlungsräume sind Orte der Beteiligung, die aus einer ständigen Verhandlung der Konditionen des Teilnehmens, d. h. aus einem beständigen Unterlaufen der erwarteten Funktionalitäten und einem Verschieben der Defi nitionen, was als Teilnahme zählt, erwachsen. Sie sind nicht an eine bestimmte Dauer oder an einen konkreten Ort gebunden, werden aber von Prinzipien wechselseitiger Verantwortlichkeit und geteilter Handlungshorizonte getragen. Ziel vieler Projekte ist das Unterbrechen der Linearität von Entwicklungsprozessen, Zuständigkeiten und Rollenvorgaben zugunsten eines horizontal geschichteten Bereichs gemeinsamer Produktion, dessen Veränderung immer wieder neue Fragen aufwirft. Im Unterschied zu Partizipationsprojekten der späten 1960er und 1970er Jahre geht es nicht um die Herstellung eines konkreten identitätsstiftenden Orts, sondern um eine Form der Teilnahme, die über eine Beteiligung an Netzwerken zustande kommt. Paolo Virno schreibt über diese Physiognomie des »Teilnehmens in der Fremde« in seiner Grammatik der Multitude: »Die Vielen als Viele sind diejenigen, die das ›Nichtzuhause-sein‹ teilen und die, mehr noch, diese Erfahrung in den Mittelpunkt ihres gesellschaftlichen und politischen Handelns stellen.« 13 Die entscheidende Transformation, die in einer Gesellschaft ohne substanzielle Gemeinschaften stattfi ndet, liegt im Wechsel des Spezifischen zu Gemeinplätzen, 14 von der Verortung in spezifischen Gemeinschaften zu einer Orientierung an Prinzipien der Reziprozität und des öffentlichen Intellekts als gemeinsame Ressource in jeder beliebigen Situation. Dies stärkt die Ebene der gemeinen, auff ällig gewordenen Singularität, jene Ebene der identitätslosen und zirkulierenden Selbstorganisation, auf der künstlerische und architektonische Produktion in einem alles umfassenden Zustand der Transformation heute operiert. Dieser Zustand ist nicht nur Gegenstand ihrer

13. Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegen-

wärtigen Lebensformen, Berlin: ID Verlag 2005, S. 22 (kursiv im Original). 14. Ebd., S. 24-25.

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Auseinandersetzung, sondern definiert zugleich auch die wichtigsten Parameter, durch die sie wirkt.

Plattformen politischer Aktion Im Erkunden sozialer und kultureller Veränderung stützen sich Netzwerkpraxen in Kunst und Architektur nicht auf das Reklamieren eines Außenbereichs, sondern nehmen einen von vielen geteilten Raum in Anspruch, um Prozesse der Kommunikation und Kollaboration herbeizuführen. Diese Untersuchungen sind weniger an einer Gestaltung von analytischer Tiefe interessiert als an einem Zusammenbringen von Kräften, die mit einer bestimmten Frage zu tun haben, an einem gemeinsamen Produzieren von immer wieder neu geformter Vielgestaltigkeit. Sie streben eine Erweiterung des vorliegenden Bezugsfelds an und verändern darum im Laufe ihrer Entwicklung oftmals den Rahmen ihrer eigenen Erkundung. Ihr fortlaufend selbstorganisiertes und autopoietisches Tun bringt die Bedingungen hervor, in denen sich situative Handlungsräume bilden. Differente Interessen artikulieren und Raum greifen zu lassen, zeichnet sich so als vordringlichste Aufgabe einer Projektkultur ab, die dem Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Motivationen Raum für Veränderung geben möchte. Um das zu erreichen, wird die gegenwärtige räumliche Organisation von Interessenlagen als ein Oszillieren in Netzwerken aufgegriffen und den Bewegungen ihrer Transformation gefolgt. Netzwerke sind keine wählbare Option, sondern Tatsachen der Veränderung von Formen politischer und gesellschaftlicher Koexistenz. Die Artikulation von politischem Engagement über gestalterisches Denken und Handeln steht so vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits der anberaumten Situation durch ein Verändern ihrer Spielregeln zu entgehen und andererseits latente und laterale Beziehungen zu vervielfältigen und zu intensivieren. In den Worten des Raqs Media Collective: »To do this, the practitioner probably has to invent, or discover, protocols of conversation across sites, across different histories of locatedness in the network; to invent protocols of resource building and sharing, create structures within structures and networks within networks. Mechanisms of flexible agreements about how different instances of enactment can share a contiguous semantic space will have to be arrived at. And as we discover

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these ›protocols‹, their different ethical, affective and cognitive resonances will immediately enter the equation. We can then also begin to think of art practice as enactment, as process, as elements in an interaction or conversation within a network.«15

So haben sich in den vergangenen Jahren zwei ineinander verflochtene Handlungsansätze herausgebildet, die Kultur für ein Erkunden alternativer Zusammenschlüsse und Aktionsformen zu öffnen versuchen: Der eine gründet auf der Weiterentwicklung einer kartographischen Praxis von Kunst und Architektur, die versucht, urbane Transformation über die komplexen Spannungen auszudrücken, die Gesellschaft und Raum aneinander binden. Neben diesen protokollorientierten Projekten ist eine an Prozessen orientierte Praxis im Entstehen, die durch räumliche Interventionen getrennte Orte und Gemeinschaften miteinander in Bezug setzt und symbolische Stätten von politischen Manifestationen oder Gegenmanifestationen schaff t. Beide Formen geokulturellen Engagements bringen zum Ausdruck, wie künstlerische Praxis auf Möglichkeiten hin ausgelotet wird, in das Erstellen von Wissensarchiven einzugreifen und über kulturelle Effekte politisch wirksam zu werden. Der Wert des ersten Handlungsansatzes liegt im Generieren von Momentaufnahmen einer globalisierten Kultur, die transnationale Flüsse gemäß ihren Eigenlogiken zu strukturieren versucht. In der Interaktion der globalisierten Welt mit einer Vielfalt an Parallelwelten werden die Krisen, Konflikte und Ungleichgewichte der gesellschaftlichen Umbrüche zutage gebracht. Darüber hinaus erzeugen diese Protokolle neue Formen der Symbolisierung soziokultureller Transformation, unter denen die Darstellung translokaler Netzwerke eine grundlegende Rolle spielt. Territoriale Realitäten werden hier aus dem vertrauten Umfeld geographischer Repräsentation entfernt und stattdessen über räumliche Beziehungen und die Ausweitung von Territorien auf Vorstellungswelten, Flüsse, Kontexte, Bilder und Peripherien ar tikuliert. Die mit dieser kartographischen Praxis hervorgebrachten 15. Raqs Media Collective: »X Notes on Practice: Stubborn Structures and Insistent Seepage in a Networked World«, in: Melanie Gilligan und Marina Vishmidt (Hg.), Immaterial Labour: Work, Research & Art, London und New York: Black Dog Publishing 2004. Siehe online: www.raqsmediacollective. net/texts1.html vom 15. August 2009.

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Vorstellungswelten und kognitiven Zusammenhänge bezeugen, dass Kartierungen nicht nur ein leistungsstarkes Modell des Ausübens von Macht und Kontrolle darstellen, sondern auch ein Instrument der Veränderung. Was Bilder zur Schau stellen, ist weniger Information als Transformation.16 Die Ästhetik dissidenter Kartographien und die Art und Weise, wie sie auf bestehende Machtzusammenhänge hinweisen oder neue soziale Strukturen artikulieren, eröff nen eine zusätzliche Dimension, um in Symbolwelten eingreifen und neue symbolische Beziehungen gestalten zu können. Die interventionistischen Projekte des zweiten sozio-ästhetischen Handlungsansatzes benutzen den Umstand, dass die neoliberale Restrukturierung von Umwelten unterschiedliche Raumtypen in verschiedenen Lokalitäten betrifft, die über ihre Unterschiede hinweg ein Netzwerk an strategischen Punkten für die Neuformulierung von geographischen Zonen, Rändern und Schnittpunkten bilden. Um translokal agieren zu können, benötigt der globale Markt verschiedene Instrumente zur Koordination lokalen Vorgehens: technologische Informationssysteme, politische Steuerungen oder internationale Vermarktung. Solche raumpolitischen Instrumente werden in künstlerischen Praxen oftmals korrumpiert, indem sie unterbrochen, umgelenkt und zu eigenen Zwecken in Anspruch genommen werden. Inmitten des vernetzten Apparats an translokalen gesellschaftlichen Ordnungsprozessen, ökonomischen und militärischen Operationen, artikulieren diese Praxen ihren Widerstand dadurch, dass sie außerhalb der zugeteilten Rollenmuster die Strukturen, Verfahren und Möglichkeiten von Netzwerkproduktion selbst in Gebrauch nehmen. In ihren Bewegungen durch physische und soziale Räume stellen sie auf kreative Weise neue Ordnungsmodelle, Beziehungen und Situationen her. Die zentrale Frage eines solchen Ansatzes besteht darin, wie sich bei einem Beanspruchen von Netzwerkmitteln und Netzwerkkapazitäten gleichzeitig immer wieder Zonen der Autonomie gegenüber den Kräften der Nutzbarmachung intellektueller Kreativität für die Erweiterung des kognitiven Kapitalismus errichten lassen. Es geht in dieser Form von Handlungsansatz anders gesagt um ein Ausloten der Möglichkeiten, wie Netzwerke nicht nur ein Modell anbieten, in dem sich Kreativität effizient organisieren und ökonomisch 16. Bruno Latour: »There is no Information, only Transformation«, in:

Geert Lovink (Hg.), Uncanny Networks: Dialogues with the Virtual Intelligentsia, Cambridge, MA: MIT Press 2002, S. 157.

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verwerten lässt (wie etwa in den Fällen von Kulturmarketing, Kunsttourismus und Kulturindustrie), sondern auch ein Modell der gesellschaftlichen Selbstorganisation sind. Das Umdenken dieser seit dem letzten Jahrzehnt vermehrt auftretenden Kreativproduktion in den erweiterten Feldern von Kunst und Architektur besteht in einer veränderten Beziehung des eigenen Schaffens zu dem, was kulturelle Erfahrung darstellt. Es geht in dieser geänderten Produktionshaltung nicht länger darum, einen Raum für kulturelle Erfahrungen zu entwerfen, sondern umgekehrt kulturelle Erfahrung zu ermöglichen, die einen Raum schaff t, dessen Umriss noch nicht feststeht. Das, worauf sich die von uns beachtete Kreativität bezieht, hat also viel mehr mit einer gemeinschaftlichen Organisation von kultureller und räumlicher Produktion zu tun als mit dem Schaffen von monumentalen Räumen für Kultur. Die Teilnahme am Schauplatz bringt diesen hervor und nicht der Schauplatz die Teilnahme. In Mika Hannulas Ausdrucksweise besteht diese »Politik der kleinen Gesten« aus einer Teilnahme von Kunst und Architektur an den Bedeutungsproduktionen, die in der politisierten Öffentlichkeit stattfinden, ohne im Wettbewerb um das schreiendste Produkt mitzumachen.17 Das Gewicht dieser Kreativität unter den Bedingungen der alles vereinnahmenden kulturellen Wende der Globalisierung liegt deshalb oft im Rückzug aus den Kreisläufen der Spektakelindustrie und in der vernetzten Produktion einer Reihe solcher Gesten, Skizzen und Versuchen. Sie hat, wie Félix Guattari das in Chaosmosis formuliert, mit einer Denormalisierung und Verlagerung von Organisationsmechanismen (Forschung, Ausstellung, Planung etc.) zu tun, in denen Produktion Bedeutung erhält, kurz mit einer Mobilisierung von Bewusstseinsebenen, um außerhalb von Marketing und Kulturökonomie zu neuen Referenzsphären zu finden, in denen unsere Informations- und Kommunikationsmittel andere Bedeutungen erlangen können.18 Ein entscheidender Aspekt dieser Mobilisierung liegt in der Erfahrung der stattfindenden Umbrüche, d. h. in der Vielzahl an Situatio17. Mika Hannula: »The Blind Leading the Naked – The Politics of Small Gestures«, in: Deniz Ünsal (Hg.), Art, City and Politics in an Expanding World: Writings from the 9th International Istanbul Biennial, Istanbul Foundation for Culture and Arts 2005, S. 193. 18. Félix Guattari: Chaosmosis: An Ethico-Aesthetic Paradigm, Bloomington, IN: Indiana University Press 1995, S. 85.

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nen, in denen die global spürbare Veränderung von Produktions- und Kommunikationsformen Berührungspunkte mit dem Leben Einzelner herstellt, und nicht in einem sich ändernden transzendenten Schema zeitlicher oder räumlicher Verteilung und Organisation. Im radikalen Fall liegen diese erfahrungsbildenden Momente in der plötzlichen Veränderung gesellschaftlicher Systeme, wie im Fall Osteuropas, oder in der Explosion von informellen Siedlungsformen an den Rändern vieler europäischer Großstädte. In anderen Fällen gilt dies für Mikrosituationen, in denen sich die Kräfte der Globalisierung lokal konzentrieren und neue Wirtschaftsknotenpunkte ausbilden, unregulierte Räume in Anspruch nehmen, neue Stützpunkte der kommerziellen Kulturindustrie suchen oder die Umbildung eines Stadtteils für geopolitische oder stadtstrategische Spekulationen erzwingen. Alle diese Situationen sind geprägt von Erfahrungen des Umbruchs und nicht von Erfahrungen der Regelhaftigkeit. Entscheidungen können so nicht auf ein Korsett von Normen zurückgreifen, das der Staat oder eine andere Form von Autorität formuliert hat. Die Kategorien von Erfahrung liegen in der Hand von Individuen und ermöglichen so eine Produktion von Subjekten, die vorher nicht als solche vorhanden waren. Die Bezugsebene, die sich aus diesen Erfahrungen und aus der ihrem Auftreten immanenten Situation ableitet, ist die Ebene der anthropologischen Normalität des Lebens, die Ebene der vielen augenblicklichen Nähen, Freundschaften und Verbundenheiten sowie der daneben liegenden Unstimmigkeiten, Feindseligkeiten und Ängste. Umbruchserfahrung durchschneidet so die vielen Ebenen des Alltags, in denen sich immer eine Notwendigkeit für neue Entscheidungen aufdrängt, neue Eigenschaften entstehen und neue Allianzen geschlossen werden. Entscheidend ist im buchstäblichen Sinn daher weder der Bereich eines übermächtigen Globalen noch die Denkweise eines essentialistischen Lokalen, sondern das unebene Gelände von Zwischenfällen, Irritationen und Störungen, das im Moment des Aufeinandertreffens ungleicher Kräfte entsteht und eine ganze Reihe unvorhergesehener Wege und Situationen provoziert.

Potenzialitäten Über das Formieren von Netzwerken verschiebt sich die gewaltsam erzwungene Teilnahme an Umbrüchen zu einer ›Anwendung‹ die31

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ser Umbrüche. Die Logik, die in dieser Bewegung mobilisiert wird, provoziert ein neues Verhältnis von Kontext und Situation, Raum und Zeit. Sie erzeugt eine Reihe von Verschiebungen in dem, was Antonio Negri als den ökonomisch administrierten Zeitentzug unserer Tage beschreibt: Zeit wird durch Raum ersetzt und verflacht zu einem transzendentalen Schematismus, dessen Bewerkstelligung vom kapitalistischen System der Klassifizierung vorausgesetzt wird.19 Genau diese Geographie triff t es in ihrer zentralen Verankerung, wenn in experimentellen Netzwerkpraxen Karten nicht gelesen sondern in Gebrauch genommen und Gesetze nicht beachtet sondern angewendet werden. Der Unterschied zwischen Lesen und In-Gebrauch-Nehmen, zwischen Beachten und Anwenden liegt in der Möglichkeit für eine geringfügige Abweichung von dem, was die jeweils gültige Norm ist. Diese Möglichkeit entsteht dadurch, dass die dem Raum entzogene Zeit wieder ins Spiel gebracht wird: Die Zeit zum Überschreiten geographisch fi xierter Grenzen, die Zeit zum Erkunden neuer Räume, die Zeit zum gemeinsamen Erleben. Im kollektiven Ausüben, Verwerten und Experimentieren mit den Strukturen der Deregulierung und im Produzieren eines vom Kapital entkoppelten »Kognitariats« (Franco Berardi) findet sich so für viele Netzwerkakteure ein effektiveres Mittel zur Gestaltung von Realität als im Einnehmen einer rein oppositionellen Haltung und im Ersinnen einer universellen Gegentheorie. Das mit dieser Verschiebung interagierende künstlerische oder architektonische Werk ist nicht mehr ein Raum, der durchschritten werden kann, sondern eine Zeit, die durchlebt wird. Netzwerkhandeln ist somit ein Bemühen ohne Erfolgsgarantie, ein Bemühen um Gleichzeitigkeit und die Schaff ung der Voraussetzungen, die diese ermöglichen. Die Selbstorganisation kreativer Praxis stützt sich auf eine Gestaltung von Zeit, in der Form eine Frage der Herstellung von Beziehungen ist. An diesem Punkt triff t sich urbane Produktion mit der heutigen Artikulation von Kunstpraxen. Künstlerische und architektonische Praxis verschiebt damit die Aufmerksamkeit von den Bedingungen des jeweiligen Ortes bzw. seiner institutionellen Gegebenheiten auf die komplexe Potenzialität, die in jeder Situation selbst steckt. So formuliert sie eine Herangehensweise, welche die politischen Möglichkeiten für Veränderung weniger 19. Antonio Negri: Time for Revolution, London und New York: Continuum 2003, S. 53.

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in der äußeren Ergründung eines lokalen Zustands, in der kritischen Analyse seiner Schichtungen und Tiefen und im Planen von Strategien sieht, als in der Aktualisierung des Potenzials der vorhandenen Widersprüche, Konflikte oder Mehrdeutigkeiten einer Situation. Was die Frage von Architektur betriff t, hat deren Einbindung in den kontinuierlichen Fluss von Netzwerkkräften dazu geführt, dass sie ihre Handlungslogik auch abseits von einem analytischen und planerischen Intervenieren in räumliche Anordnungen zu suchen beginnt und ein neues Interesse an Kollaborationen mit Praxen der Aneignung und Ingebrauchnahme von vorhandenen Situationen findet. Zwischennutzungen, räumliche Provisorien, ephemere Bauten oder relationale Architektur sind geläufige Schlagworte, um diese Architektur des Umbruchs einzuordnen – eine flüssig gewordene Architektur, die verschiedene spontane Artikulationen von Möglichkeitsräumen unterstützt, ohne deren grundlegende Instabilität als Manko zu empfinden. Im Zusammenkommen von Netzwerken bilden sich Provisorien kultureller Beteiligung. Für gewöhnlich werden Provisorien als Kompensation gedacht, die einen vorgeblich vorhandenen Mangel ausgleichen soll: einen Mangel an Infrastruktur, Unterkunft oder öffentlichen Versammlungsplätzen, aber auch einen Mangel an Gefängniszellen oder einen Mangel an mit Erlebnissen gesättigtem Stadtraum. Solche Provisorien erfüllen gezielte funktionelle Anforderungen. Sie spielen eine strategische Rolle für die dynamische Entfaltung der Kräfte nationalstaatlichen Regierens und postfordistischen Wirtschaftens. Was aber, wenn wir kurzfristig die geforderte Funktionalität beiseite lassen und bei einem Begriff von Kompensation ansetzen, der Kompensation als einen Modus von Produktion versteht, der nicht an die Idee eines Mangels gebunden ist? Wenn wir dies als eine Art Produktion auffassen, die aus sich selbst heraus agiert, jenseits einer Beziehung zu dem, was fehlt oder mittels einer bestimmten Logik vorgegeben wurde? Eine solche Denkweise entfernt den Begriff der Kompensation aus dem Umfeld von lokal, ökonomisch, politisch oder historisch gebundenen Abhängigkeiten und dem Wissen, das diese Abhängigkeiten unterstützt und aufrecht erhält. Es kommt zu einer Verlagerung auf einen instabilen Grund, der noch unbekannte Nutzungsmöglichkeiten birgt, und diese genauso freigeben wie verwehren kann. Auf einen solchen Begriff von Kompensation verweisen jene Ontologie und Politik, die Giorgio Agamben im Wirken von Potenz für dieses Unternehmen ausmacht: 33

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»Die Potenz (in ihrem doppelten Aspekt von Potenz zu und Potenz nicht zu) ist die Weise, auf die sich das Sein souverän gründet, das heißt ohne dass ihm etwas vorausgeht oder es bestimmt (superiorem non recognoscens), außer das eigene Nicht-sein-Können. Und souverän ist jener Akt, der sich einfach dadurch verwirklicht, dass er die eigene Potenz, nicht zu sein, wegnimmt, sich sein lässt, sich sich selbst hingibt.«20

Wenn wir mit Agamben dieses Vermögen in der radikalen Freiheit vom Zwang zur Aktualisierung sehen, dann stellt sich die Frage, in welcher Weise Kunst und Architektur so weit in die Verteilung von Seinsweisen eingreifen können, dass sich aus der Erfahrung von Umbrüchen selbst, d. h. aus den mobilisierenden Kräften des Umbruchs, ein Reichtum an Splitterwelten bildet, deren Intensitäten und Anhäufungen abseits des dominanten Referenzsystems Neues darstellen. Kann die Konnektivität von Netzwerken ein Beziehungsgefüge für die Produktion ästhetischer Provisorien aufspannen, mit denen die Instabilitäten unserer Zeitgenossenschaft angeeignet und ausgelebt werden können? Kann ein inhärent instabiles Netzwerkhandeln eine nachhaltige politische Beteiligung ermöglichen, bei der Deregulierung für eine Verschiebung der Ermächtigung von einem Zentrum in einen Archipel von peripheren Existenzen genutzt wird? Ist ein solches Modell auf einen exklusiven Raum künstlerischer Produktion beschränkt oder lässt sich ein solches Potenzial auch in den aktuellen Realitäten globaler Vernetzung ausmachen? Was etwa Staaten wie Nigeria, Kamerun, Kenia, Uganda, Somalia, Ruanda und Südafrika miteinander verbindet, ist der Boom rasch wachsender Mobilfunknetzwerke in Afrika: Die Zahl der Mobilfunkuser auf dem Kontinent ist in nur zehn Jahren von zwei Millionen im Jahr 1998 auf über 150 Millionen im Jahr 2008 angestiegen, und immer mehr private Telekommunikationsgesellschaften beteiligen sich an den hohen Profiten dieses neuen und in hohem Maß unregulierten Marktes. Eines der ersten Initiativprojekte, das auf den florierenden Mobilnetzwerken auf baut, ist das Kenianische M-Pesa: internationale Geldüberweisungen per SMS. Mit diesem System sollen in naher Zukunft über 100 Billionen US-Dollar jährlich von afrikanischen Auswanderern nach Afrika überwiesen werden und dort ein beschleunigtes Wirtschafts20. Giorgio Agamben: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 57 (kursiv im Original).

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wachstum anregen. Den damit argumentierenden neoliberalen Intellektuellen und ihren Prophezeiungen einer gewaltigen ökonomischen und sozialen Veränderung durch Maßnahmen des Privatsektors stehen Warnungen linker Ökonomen über das Zusammenspiel von Mikrounternehmertum und Prekarität gegenüber. Während sich die einen streiten, fi ndet die neue Technologie in Kenia von selbst andere Anwendungen: Das Nairobi Peoples’ Settlement Network etwa organisiert mittels Mobiltelefonen und Internet massiven Widerstand gegen gewinnorientierte Slumräumungen. In Afrikas größter Slumregion, dem mehr als 800.000 Einwohner zählenden Kibera in Nairobi, gab es 2006 die ersten selbstorganisierten Zusammentreffen von Aktivisten aus unterschiedlichen Slumgebieten, die sich mit Flashmobbing gegen Korruption und Ausbeutung zur Wehr setzten.21 Ihr spontan koordiniertes Zusammenkommen in Gebieten, in denen Räumungen stattfi nden sollten, hat den Einsatz der Bulldozer blockiert und neue Strukturen der Verständigung geschaffen. Die Bevölkerung hat so mithilfe des gut ausgebauten Mobilfunknetzes das in westlicher Geschäftsmanier vorherkalkulierte Mikrounternehmertum punktuell in ein System der unvorhergesehenen Selbstkoordination verwandelt und die Netzwerktechnologien der Dominanz zu einem Instrument der Gemeinschaftswerdung gemacht. In dieser variablen Geometrie von Netzwerken liegt eine der strukturellen Voraussetzungen für gemeinsames Handeln.22 Netzwerke sind nicht deshalb so attraktive Handlungsallianzen, weil sie ein geschlossenes Machtgefüge bilden, sondern weil sie Möglichkeit zur Transformation versprechen. Im Moment des Umbruchs werden sie Träger der Hoffnung, kollektive Möglichkeiten der Beteiligung und Veränderung zu finden. Netzwerkhandeln ist demzufolge eine fortgesetzte Bewegung der Umschichtung und Umgestaltung von Zielen und Komponenten, die eine Transformation von Orten des passiven Erlebens in Orte des Widerstands erlaubt. Transformation selbst wird so als Ort des Widerstands beansprucht. Netzwerkkreativität verschiebt die erzwungene Teilnahme am Umbruch zu einer Anwendung, bei der das Netzwerk nicht ein Mittel, sondern Schauplatz der eigenen 21. Vgl. Robert Neuwirth: Shadow Cities: A Billion Squatters, A New Urban World, London und New York: Routledge 2005, S. 67-99. 22. Manuel Castells: The Power of Identity, 2. Aufl age, Oxford: Blackwell 2004, S. 156.

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Transformation wird. Anders ausgedrückt besteht in dem, was wir hier als Netzwerk bezeichnen, eine topologische Spannung zwischen der Konnektivität dieser Struktur und den Ideen und Bedeutungen, die von ihren Akteuren laufend entwickelt werden.23 Die Rolle dieser Spannung besteht darin, topologische Stabilität, die Netzwerke in fixierte, identitäre Strukturen verwandeln würde, abzuwehren. Im politischen Sinn basiert Netzwerkhandeln so auf einem Begriff der Deformation: Netzwerke bilden topologische Möglichkeiten, aus denen neue Protagonisten als Netzwerkeffekt hervorgehen. Damit besteht eine grundlegende Asymmetrie zwischen der vorhandenen Morphologie eines Netzwerks und seinen Akteuren, ein elementares Moment von Nichtanerkennung und Konflikt, das in die Beziehung zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Strukturen eingelagert ist. Diese Asymmetrie unterstützt nicht nur eine Umformung des Individuums innerhalb einer neuen relationalen Ethik. Sie gestaltet auch den instabilen Ort von Netzwerkkreativität durch eine unablässige und unreduzierbare Transformation von nie vorgegebenen Zielen.

23. Tiziana Terranova: Network Culture: Politics for the Information Age, London: Pluto Press 2004, S. 155f.

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Konfliktspuren Welche Gemeinsamkeiten vermitteln die »USA-Invasion in Afghanistan«, die »Unruhen in den französischen Banlieues«, die elektronischen »Sicherungen der EU-Außengrenzen«, die »Folterflüge der CIA« und die »einstweiligen Verfügungen wegen unsozialen Verhaltens« (ASBOs) für unbändige Jugendliche in Großbritannien über die Schlagzeilen der »zunehmenden kulturellen Bedrohung« hinaus? Sie alle sind Zeichen einer Dynamik von fortschreitend aufgesplitterten, weltumspannenden Konflikten, die von einer gleichzeitigen Auflösung wie Verfestigung des Ortes als Schauplatz ihrer Austragung geprägt sind. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Konflikte, sowohl in ihrer Ausgangslage als auch in ihrer Handhabung, manifestiert sich in den lokalen Realitäten der globalen Verschiebung von Kapital und Leben. Der Kampf um Vorherrschaft einer bestimmten ideologischen oder sozialen Gruppierung triff t so auf zunehmend mobilisierte Kulturen. Dadurch verändern sich die Rahmenbedingungen der Konfliktschauplätze oft schneller als dies die intellektuellen Konzeptionen der tonangebenden Akteure zu erfassen vermögen. Bestrebungen, über raumpolitische Gewaltakte eine immanente Einheit der Welt herzustellen und zu erhalten, sehen sich mit klandestinen Netzwerken konfrontiert, die in einem zwischen Terrorismus und informeller Selbsthilfe aufgespannten Bogen an Illegalität operieren. Welche Bedeutung kann in dieser Situation – wenn etwa die erweiterten Schürfrechte der Meeresböden durch die UN-Kommission zur Begrenzung der Kontinentalsockel (UNCLCS) zwischen alten und neuen Imperien aufgeteilt werden – ein Projekt wie Solid Sea der Gruppe Multiplicity gewinnen, 37

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das die vorgebliche Extraterritorialität des Mittelmeers als einen Raum erfasst, auf dessen (Meeres-)Grund nicht nur Bodenschätze, sondern auch die Opfer des Verteilungskampfs zwischen dem globalen Norden und Süden zu finden sind? In den knapp zwei Jahrzehnten seit dem erklärten Ende des Kalten Krieges und des ›stabilen Kräftegleichgewichts‹ sind die sich multiplizierenden Beziehungen zwischen Raum und Konflikt zu den dringlichsten Fragen von geokultureller Forschung geworden. In der Auseinandersetzung mit Konfl iktterrains haben in den letzten Jahren verschiedene ästhetische Praxisansätze, die an den Kräften und Dynamiken des Konflikts statt an dessen Harmonisierung orientiert sind, entscheidend an Momentum gewonnen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen eine gleichzeitige Kritik und Inanspruchnahme von herrschenden Konflikten als politische Akte der Konstitution räumlicher Organisation und als translokal operierende Phänomene. Ihre Besonderheit liegt in der jeweiligen Art, wie sie auf Konfliktfelder zugreifen und welche Formate sie in dieser Auseinandersetzung entwickeln. Ausgehend von diesen Unterschieden lassen sich eine Reihe von methodischen Ansätzen ausmachen, die ein jeweils eigenes Aktionsfeld begründen: Als Erstes ist ein Ansatz zu nennen, der anhand von Aufzeichnungen, Karten, Archiven und Diagrammen eine alternative Produktion von Wissen über die Konditionen des Konflikts und der von ihm produzierten Grenzen anstrebt. Ein zweiter Ansatz verfolgt eine Provokation der Operationalität von Konflikten, indem er absichtlich Störungen und Irritationen hervorruft, sodass sich die Gestalt des Konflikts gemeinsam mit der Strategie ihres Operierens enthüllt und ein Feld des Handelns bloßlegt. Ein drittes ästhetisches Operieren besteht in einer Deregulierung der im Konflikt geschaffenen Grenzen durch ein konzentriertes Intensivieren grenzübergreifender Aktionsformen. Und ein vierter Ansatz schließlich reagiert auf die zunehmende Flüchtigkeit und Mobilität der Konfliktkräfte, indem er selbst mobile und virtuelle Orte der Auseinandersetzung und Verhandlung dieser Konflikte schaff t. Ein Schlüsselbeispiel der ersten Gruppe sind die von Eyal Weizman durchgeführten Sondierungen zum israelisch-palästinensischen Grenzkonflikt. Mit Diagrammen, Karten, Filmaufnahmen und historischen Recherchen zeichnet er die Umwandlung einer multi-ethnisch bewohnten Region in eine alles konsumierende Militärlandschaft

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Abbildung 8: Von israelischen Streitkräften durchbrochene Wand in einem palästinensischen Haus, Nablus, 2002 nach: Sämtliche Bestandteile dieser Landschaft – Siedlungsanlagen, Häuser, Straßenzüge, Brücken, Hügel, Gräben und Dämme – werden zu einem strategischen Instrument der Transformation der besetzten palästinensischen Gebiete. Diese Bestandteile als politische Waffen hervorzubringen ist Teil eines komplexen pädagogischen Programms des israelischen Staates, das praxisgeleitet vorgeht und räumliche Tatsachen schaff t. Weizmans Arbeit streicht hervor, wie die israelische Staatspolitik nicht nur komplexe territoriale Gefüge, sondern auch Formate, Strukturen und Legitimationen ihres Operierens entlang von elastischen Ein- und Ausschlüssen modelliert. Die Logik des Erarbeitens und Errichtens dieses Grenzsystems macht eine völlig neue Welt auf, die Mauern mit Tunnels, Checkpoints mit Hochtrassen und Straßensperren mit Luftschleusen zu einer vertikalen Schichtung von unterschiedlichen Mobilitätsrechten verflechtet. Das Skizzieren dieser Konfliktpolitik und der von ihr kreierten Territorien und Netzwerke entblößt nicht einen spezifischen geographischen Fall, sondern den entscheidenden Umstand, dass staatlich-militärisches Operieren keinen Alleinanspruch auf eine derartige Arbeitsweise hat. Die Erforschung der Architektur dieser Konflikträume kritisiert, in anderen Worten, das Operieren der konkreten staatlich und militärisch

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artikulierten Macht nicht indem sie es als Spezifi kum darstellt, sondern indem sie deren Logik in eine Fülle anderer Kontexte überträgt, wo sie Bausteine von Terminologien und Gegenterminologien anregt, die das Wissen zu einem neuen Feld der Artikulation zusammentragen.

Abbildung 9: Solid Sea, Multiplicity, documenta 11, 2002 Die Erforschung des ungleichen Wirkens von Grenzen liegt auch der eingangs erwähnten Arbeit von Multiplicity zugrunde: In ihren Atlanten über das Mittelmeer treten die Ambiguitäten rund um die wachsende territoriale Verfestigung dieser Region zutage. Das dominante Bild dieser Gegend stellt das Mittelmeer als eine Wiege der Zivilisation dar, als Begegnungsstätte unterschiedlicher Kulturen. Das Mittelmeer ist auf einer anderen Ebene aber auch ein Ort des Vollzugs der globalen Nord-Süd-Trennung mit einem Regime an elektronischen Grenzen, Militär-Patrouillen, undokumentierten Zwischenfällen und Rhetoriken von Illegalität und nationaler Sicherheit. Eine umkämpfte Geographie von Reisen und Grenzüberquerungen, hinter denen eine jeweils andere Absicht steht. Die Karten von Multiplicity zeichnen die unterschiedlichen Bewegun40

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gen von begünstigten und benachteiligten Gruppen auf und lassen eine Geographie scharfer Kontraste entstehen, die von der territorialen Logik einer einseitigen Weltordnung bestimmt wird. Wie diese Logik in kolonialer Manier in die Raumordnung jenseits der Grenze eingreift und wie sie dennoch mit selbstgeschaffenen Logiken punktuell unterlaufen wird, untersucht die Künstlerin Ursula Biemann anhand eines wachsenden Archivs von dokumentarischen Videoaufnahmen, mit denen sie unterschiedliche geophysische Konfl ikte nicht von oben, sondern aus der Perspektive des Ausgestaltens von sozialen Lebensräumen aufzeichnet. Diese Mikropolitiken des Überlebens zeichnen ein komplexes Netzwerk von Umwegen, Hintertüren, Schleusen, Verstecken, Tunnels und Tricks, mit denen sich jenseits der Grenze Alltag gestaltet. In ihrer Arbeit zum spanisch-marokkanischen Grenzgebiet rund um die beiden in Afrika gelegenen spanischen Enklaven Ceuta und Melilla erkundet sie, wie im Zusammenspiel von technologischen Kontrollmechanismen und illegalen Grenzüberquerungen von Schmugglern und Migranten Verschluss und Öff nung der Grenze gleichzeitig aktiv sind: Die Förderung der profitablen Versorgung globaler Warenmärkte einerseits und die Unterbindung unerwünschter Bevölkerungsströme in Richtung Europa andererseits. Die umkämpfte Grenze wird zum Lager einer Armee von Grenzgängern und Taglöhnern; deren Körper, wie von Giorgio Agamben formuliert, zu einer biopolitischen Grenze – einer Zone der Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen, von Ausnahme und Regel, von Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit. 1 Tausende Meilen davon entfernt sind Ayreen Anastas und Rene Gabri der Ausbreitung dieser mobilen Zone quer durch das nationale Territorium der USA im Projekt Camp Campaign gefolgt. Entlang ihrer Reise haben sie mit lokalen Communitys, Aktivisten und Intellektuellen Kontakt aufgenommen, Material gesammelt und so eine Kartographie der Geschichte von Lagern entwickelt. Ihre Karte zeichnet eine Geographie von zeitlich und örtlich verstreuten Lagersituationen, die eine verdeckte Matrix des politischen Raums der USA aufspannen, den biopolitischen Horizont, der über die politische Relevanz dieses oder jenes Lebens entscheidet. In der Karte eingezeichnet fi nden sich Militärlager, Zeltstädte, Arbeitslager, Reservate, Landeplätze, Orte des 1. Giorgio Agamben: Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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Protests, Internierungs- und ›Befreiungslager‹. Die Ausbreitung dieser Einrichtungen über das gesamte Territorium der USA zeigt die verdrängten Spuren eines polyzentrisch agierenden Konfliktraums auf: eine zersetzte Außengrenze, die sich im Inneren vervielfältigt, um sich erneut nach außen zu projizieren. Verdrängung richtet sich, Victor Burgin paraphrasierend, wohl weniger auf die vorhandenen Spuren, als auf die Verbindungen zwischen Spuren.2 Burgin vergleicht den analytischen Prozess mit einem Offenlegen verdeckter und ge-

Abbildung 10: Europlex, Ursula Biemann, Video zu Grenzaktivitäten an der marokkanisch-spanischen Grenze, Video-Still, 2003 fährlicher Beziehungen, indem gut etablierte Bindungen getrennt werden und ein Erstellen anderer Beziehungen durch ein Rekonfigurieren der Muster der Gegenwart ermöglicht wird. Der Wert einer Karte wie Camp Campaign liegt auf diese Art weniger darin, verdrängte Spuren an sich zu beleuchten, sondern eine Möglichkeit zu schaffen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Artikulationen und Ein-

2. Victor Burgin: The Remembered Film, London: Reaktion Books 2004, S. 82f (kursiv im Original).

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schreibungen eines allgegenwärtigen Lagers auszumachen und selbst neue Imaginationsspuren in die Welt zu setzen.

Abbildung 11: Fear is Somehow Our For Whom? For What? + Proximity to Everything Far Away, Ayreen Anastas und Rene Gabri, Kartographie von Camp Campaign, Ausschnitt, 2006 Die Politik der Grenze über ein Insistieren auf der Existenz von Grenzaktivitäten und über ein Intensivieren dieser Aktivitäten herauszufordern, bildet auch die Motivation für Plattformen der Zusammenarbeit zwischen umkämpften Grenzgebieten. Während es den Anschein haben mag, als würde die Grenze post-staatlicher Verbände, allen voran die Europäische Union, als hermetischer Abschluss funktionieren, bedienen sich diese Verbände vielmehr einer Politik der Steuerung und Kontrolle von Mobilität. Ein im Entstehen befi ndliches Netzwerk an Filtern und Kanälen sorgt für eine ausreichende Durchlässigkeit der Grenze gegenüber den wirtschaftlichen Vorteilen der Flüsse globaler Migration. Zur besseren Lenkung von Arbeitskraft und Produktion ist die mit der räumlich manifesten Grenze des Staatsterritoriums verbundene Autorität in eine mobile und flexible Autorität der staatsbürgerlichen Kontrolle übergegangen; statt hermetischer Abwehr fi ndet eine Verwendung von Einwanderern mittels ihrer Abdrängung in Schwarzarbeit und Schwarzmärkte

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statt.3 Auf der anderen Seite der Grenze entsteht eine höchst eigenwillige und zweckgebundene Ökonomie, bestehend aus Textilmanufakturen, Telekommunikationsunternehmen, Flüchtlingslagern, Arbeitsmigranten, Zwischenhändlern, Schleppern, Rechtsberatern oder NGOs. Die Kräfte von Produktion und Migration fi nden in diesen engen Kanälen der Grenze zusammen und formieren ein entzogenes Territorium an umkämpften Enklaven, Bufferzonen, Militärgebieten, Schutzstreifen und Niemandsland: ein intensivierter Zulieferungs- und Verhandlungsraum geopolitischer Kriegsführung, den ästhetische Praxen vermehrt nicht nur als Gegenstand, sondern als Raum ihrer Tätigkeiten verstehen.

3. Sandro Mezzadra: »Borders/Confines, Migrations, Citizenship«, in:

Fada’ìat: Freedom of Movement, Freedom of Knowledge, Barcelona: Imagraf Impresores 2006, S. 178.

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Abbildungen 12-13: Transacciones/fada’iat, hackitectura & observatorio tecnológico del estrecho, Kartographien des geopolitischen Territoriums der Straße von Gibraltar, Ausschnitte, 2004 Ein wichtiger Referenzpunkt hierfür sind die transnationalen Netzwerkaktivitäten rund um das Projekt Fada’ìat (deutsch: durch den Raum), das sich regelmäßig zu Workshops, Seminaren und gemeinsamen Aktionen entlang der Straße von Gibraltar zusammenfindet. Seit 2004 unternimmt dieses Netzwerk verschiedener Gruppierungen in Spanien und Marokko den Versuch, ein multiples soziales und infographisches Terrain zu schaffen, auf dem sich eine gemeinschaftliche Kraft gegen die Politiken der räumlichen Trennung und urbanen Säuberung zur Wehr setzt. Eines der wichtigsten Ziele dieser Initiative von Architektur- und Medienkollektiven wie hackitectura, Indymedia of the Straits oder Straddle3 ist die Errichtung einer küstenübergrei45

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fenden freien Kommunikationszone, welche das spanische Tarifa mit dem marokkanischen Tanger verbindet, dissidentes Wissen fördert und die Eindeutigkeit des Nord-Süd-Gefälles der Region temporär unterbindet. Satellitenschüsseln, drahtloser Internetzugang und mobile Architekturen werden als zivile Technologien gegenüber der die Gegend dominierenden Grenzgeographie und ihren weiteren Implikationen für Europa zum Einsatz gebracht. Der über eine konkrete Lokalität hinausgehende Wirkungsbereich dieses Netzwerks zeigte sich bei Aktivitäten gegen die Politik des Stadtumbaus in Barcelona, etwa beim Protest gegen die für das »Universelle Kulturforum 2004« geschaffene Achse zwischen Jean Nouvels architektonischem Wahrzeichen Torre Agbar und dem neuen Parkgelände am Strand, wo Bauten von Herzog & de Meuron und Foreign Office Architects ein internationales Stadtpublikum anziehen. Etwa in der Mitte dieser Achse liegt der ehemalige Industriekomplex Can Ricart, der an eine andere Geschichte des Quartiers erinnert und zu einem Symbol für die mühsame Rückeroberung öffentlichen Raums durch die mit dem Bau des ›Kulturforums‹ marginalisierte und als erneuerungsbedürftig diffamierte Kultur der Gebietsbevölkerung von Poblenou geworden ist. Mit dem Zusammenbringen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen rund um Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen und Straßenfeste erhielt der Protest der lokalen Bevölkerung Rückhalt durch ein dichtes Netzwerk an Künstlern, Architekten und Medienaktivisten, die auf öffentliche und kollektive Planungsprozesse und nachhaltigere Räume kulturellen Zusammenlebens drängten. Dabei geht es nicht, mit Jacques Rancière gesprochen, um die Forderung nach Integration, sondern um ein Verständlichmachen des Ausschlusses, auf dem gesellschaftliche Homogenisierung basiert: »Politik besteht nicht darin, die Ausgeschlossenen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Vielmehr geht es darum, das Problem des Ausschlusses in Form eines Konfl ikts, als Gegensatz zwischen verschiedenen Welten zu inszenieren.« 4

4. Jacques Rancière: »Entsorgung der Demokratie«, in: documen-

ta (Hg.), documenta Magazine No.1-3, 2007, Reader, Köln: Taschen 2007, S. 459.

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Abbildung 14: Can Ricart, Barcelona, 2005 Netzwerke erweisen sich in dieser Situation deshalb als wichtige Handlungsplattform, weil über sie Möglichkeiten entstehen, aus einer Abhängigkeit von Beteiligungsangeboten hinauszutreten und stattdessen die hinter Beteiligungsriten verborgenen Konfl iktmechanismen und Regulierungsgewalten aktiv zu hinterfragen. Weil die Kreativität der Produktion solcher selbstermächtigten Beteiligungen an urbanen oder geopolitischen Prozessen nicht in einem zentralen Organ gebündelt wird, sondern sich in Netzwerken ausbreitet, operiert auch die Form der Teilnahme an diesen Prozessen nicht über zentrale Autorisierungen, sondern über eine selbstautorisierte Beteiligung an Netzwerkaktivitäten. Damit haben sich die Formen kritischer Intervention heute verändert: Das Gewebe zur Verknüpfung von Gebieten, Subjekten und Interessen ist nur auf einer Ebene eine konkrete räumliche Lokalität im Sinne einer geographischen Nachbarschaft; auf einer anderen Ebene mobilisieren diese sozialen Bewegungen ein transterritoriales Netzwerk, das verschiedene Knotenpunkte gesellschaftlicher Restrukturierung aufeinander bezieht. In diesem politisch motivierten Prozess ist das Netzwerk immer zugleich Produkt und Produzent. Anstelle der Repräsentation von Interessen über homogenisierende Identitätslogiken zu folgen, liegt seine Stärke in der gemeinsamen und 47

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grenzüberschreitenden Ausführung von verändernden Akten.5 Netzwerke machen deutlich, dass Grenzen wie Grenzgebiete hochgradig imaginäre Konstrukte sind, voll von Trugbildern, falschen Erinnerungen und Mythen. Ein Operieren in diesen Bereichen überquert sowohl die Schwellen von physischen als auch imaginären Räumen.

Abbildung 15: context network, Interaktion von Künstlern, Architekten und Medienaktivisten im Rahmen von Openfridays, initiiert von Straddle3, Barcelona, 2002-2005

5. Brian Holmes: »›We are the Media‹: The Dream of the Transnational-

Popular«, in: Lars Bang Larsen, Christina Ricupero und Nicolaus Schafhausen (Hg.), The Populism Reader, New York: Lukas & Sternberg 2005, S. 23f.

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Ausnahmen Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) verzeichnete im Jahr 2008 auf der gesamten Welt 345 politische Konfliktfälle, 134 davon gewaltsamer Natur. Jährlich erstellte »Konfliktbarometer« und »Konfliktpanoramen« geben die Stärke und Quantität solcher Konflikte sowie den Verlauf von Krisen, Kriegen, Verhandlungen und Friedensschlüssen wieder. So ergibt sich eine komplexe Geographie von Konfliktintensitäten, in der eine bestimmte Konstellation von Regionen, Ländern und Erdteilen als weltumspannende Konfliktzone ausgewiesen wird. Der Charakter dieser Zone definiert sich über »Interessengegensätze (Positionsdifferenzen) um nationale Werte von einiger Dauer und Reichweite zwischen mindestens zwei Parteien (organisierte Gruppen, Staaten, Staatengruppen, Staatenorganisationen), die entschlossen sind, sie zu ihren Gunsten zu entscheiden.«6 In den Karten des HIIK belagert diese ›Konfliktzone‹ in Gestalt eines Archipels eine ›konfliktarme‹ Binnenzone, bestehend aus West- und Zentraleuropa, Nordamerika, Japan und Ozeanien. Die Umrisse dieser Zone stimmen auff ällig mit jenen einer anderen Geographie überein: mit einem global ausgebreiteten ›Raumsicherungssystem‹, das ›Konflikte‹ mittels elektronischer Sensoren, Infrarot-Kameras, Marinekonvois, Luftraumüberwachung, Zäunen und Befestigungsanlagen aus einem geschützten Innenbereich fernzuhalten versucht. Vom Schengener Informationssystem (SIS) der EU und der militärischen Grenzkontrolle der Außenkontur EU-Europas, über die Mauer in der West Bank, das Überwachungssystem SIVE (Sistema Integrado de Vigilancia Exterior) zwischen Europa und Nordafrika, dem Stacheldraht entlang den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta, bis zum Grenzzaun zwischen der USA und Mexiko (›Tortilla-Mauer‹), dem technologisch aufgerüsteten australischen Küstenschutz und der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea bildet sich ein Ring an Abwehrtechnologien, die sich auf staatliche und internationale Doktrinen stützen und einen ökonomisch prosperierenden Innenraum nach außen hin abschotten helfen: Umringt von Bedrohung, aber auch umringt von einem tech6. Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg: Konfliktbarometer 2006: 15. Jährliche Konfliktanalyse, S. ii. Online: http:// hiik.de/en/konfliktbarometer/index.html vom 15. August 2009.

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nologisch aufgerüsteten Abwehrsystem, stellt sich der globale Norden als scheinbare Enklave eines weltweit brodelnden Konflikts dar. Die immer dichter werdende Kette von symbolischen Konfliktschauplätzen zeichnet eine Figur der Exteriorisierung, über die der Fokus von Konflikt nach außen verlagert wird. Das Bild des HIIK maskiert so eine bewusste Eliminierung von Differenz, wie sie Henri Lefebvre anhand der Eliminierung von all dem, was der dominanten Politik der Homogenisierung und Normalisierung der Stadt entgleitet, beschrieben hat. Differenz ist das, was ausgeschieden wird: die Ränder der Stadt, Elendsviertel, der Raum von verbotenen Spielen, Guerillakrieg, Krieg.7 Der Raum des Konflikts ist in der Politik globaler ökonomischer Kontrolle immer ein Raum des Ausschlusses, ein Raum der Peripherie, ein Raum, der sich der Abstraktion entzieht. Konflikte sollen im Abseits stattfinden, an Orten, deren Kontiguität sich nicht brechen, aber ideologisch gebrauchen lässt. Die Gewalt der Abstraktion operiert verdeckt: Sie weitet sich aus über Zerteilungen, Zonierungen, Grenzlinien, Überquerungen und Durchdringungen. Je komplexer die Politik der Verdeckung, umso komplexer die Instrumentarien, deren sie sich bedient und umso komplexer die Raumstrukturen, die sie in die Welt setzt.

Abbildung 16: Weltkarte mit gewaltsamen Konflikten 2008, Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung

7. Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford: Blackwell 1991,

S. 373.

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Abbildung 17: Grenzbefestigung zwischen San Diego, USA und Tijuana, Mexiko, 2009 Sowohl die als Weltkarten vorliegenden Konfliktzonierungen des HIIK als auch die Vielfalt an Hitech- und Lowtech-Mechanismen des militärischen Einschlusses prosperierender Zonen markieren so eine paradoxe Politik der globalen Reterritorialisierung von Konflikten: Obwohl Konflikte niemals nur mit strikt territorialen Fragen zu tun haben, wird immer mehr versucht, sie als Streit um ein Territorium auszugeben und die Befestigung dieses Territoriums als Lösung anzubieten. Die im Zuge dieser Dynamik konstruierten Realitäten, die gesäuberten Räume der Ersten Welt, stellen aber keine homogenen Behälter dar, sondern sind Effekte einer an räumlicher Abstraktion und globaler Homogenisierung orientierten Raumpolitik. Im Zuge dieser Politik werden resistente Gebiete nicht länger umfochten, sondern ausgeklammert, unter Quarantäne gestellt und umschlossen, um eine Dualität von inneren und äußeren Zonen zu manifestieren. Enklaven, in denen wiederum andere Enklaven eingenistet sind, signalisieren ein Äquilibrium, das nur durch ein ausgeklügeltes Grenzsystem aufrechterhalten werden kann. Was entsteht, ist eine komplexe räumliche Organisation von ineinander verwundenen Innen- und Außenbereichen, durch die gesellschaftliche Widersprüche weniger reguliert als abgewehrt werden. Denn die zunehmende Befestigung von Raum in Form eines Agglomerats hypertropher Schutzzellen und die Vergrößerung ihres 51

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Maßstabs von städtischen Strukturen auf regionale und kontinentale Maßstäbe täuschen vor, dass es komplexe Expertensysteme brauche, um das Gleichgewicht einer vermeintlich in den Eigenschaften des Raums begründeten Spannung aufrechtzuerhalten. Die schwierige Balance von urbanen und geokulturellen Morphologien sei der erzielte Erfolg von rationaler Konfliktsteuerung. Dieser mit architektonischen Mitteln – Organisation, Gestaltung, Konstruktion und Darstellung von räumlichen Strukturen – vorangetriebene Prozess legt eine global operierende Raumpraxis frei, die auf Zerteilung und Zerstreuung basiert und als deren kleinste Zellen heute Anhaltelager, Geheimgefängnisse und Militärbasen agieren. Auf der anderen Seite der Grenze bilden sich autarke Einschlüsse in Form von Gated Communitys, All-inclusive-Resorts, exklusiven Malls, abgezäunten Campus, Freizeitparks und deren mobile Allzweckform, das Sports Utility Vehicle. Im großen Maßstab gesehen werden so ›funktionstüchtige‹ Zonen vis-a-vis einer komplex gegliederten Zone von Unruhen und Brandherden geschaffen. 2001 führte Großbritannien ein neues Terrorismusgesetz ein, das unter anderem auch die Möglichkeit vorsieht, politisch auff älligem Verhalten mit Ausnahmebestimmungen zu begegnen. Auf der Grundlage dieses Gesetzes werden seitdem jährlich mehr als 30.000 Personen ohne zwingenden Grund von der Polizei angehalten und befragt. Ausnahmebefugnisse sind damit potenziell auf alle Bereiche des politischen Lebens ausgedehnt und können von der Polizei jederzeit als rechtliche Basis für Personenkontrollen in Anspruch genommen werden. Das britische Terrorismusgesetz stellt so ein Extrem der elastischen Grenze dar, eine maximale Elastizität der Bewachung eines durch die Macht des Souveräns umschlossenen Innenlebens. Diese Elastizität ist als eine Projektion in die Zukunft angelegt, als bewegliche und virtuelle Grenze, die überall dort exekutiert werden kann, wo es zukünftige Umstände gegebenenfalls erforderlich machen. Die Grenze richtet sich gegen ein weitgehend undefiniertes Äußeres, dessen bedrohliche Natur im Akt der Exekution der Grenze erst festgestellt wird. Grenzziehung wird zu einem Akt performativer Erkenntnisproduktion. Dadurch legitimiert sich die Grenze selbst gewissermaßen durch die Etablierung einer feindlichen Natur, und im Fall ihrer höchsten Elastizität anhand der Ideologie einer allgegenwärtig feindlichen Umgebung der Stadt, die von den Mikroarealen städtischer Bandenkriege bis zu den versteckten Orten suburban organisierter Terrornetzwerke reicht. Eine Anwendung von Konflikt und Krise, wie sie sich in den Bild52

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ästhetiken der Medien, in der Planung von Krisenräumen und in der globalen Politik der Konfliktverwaltung manifestiert, geht einher mit dem leitbildgebenden Konzept von Konfliktmanagement, in dem Konfliktvermeidung Priorität gegenüber der Austragung von Konflikten eingeräumt wird. Konflikte werden hier fast ausschließlich in Verbindung mit Begriffen des Spannungsabbaus und der Klärung behandelt. Als elaboriertester Zustand des Konflikts gilt die Abwendung der Krise selbst. Dies geht auf einen Begriff von Krise zurück, der aus dem altgriechischen Verb »krínein« (»trennen« bzw. »[unter-]scheiden«) abgeleitet wird. Krise bedeutet »(Ent-)Scheidung« bzw. »entscheidende Wendung«, den Bruch mit einer vorhandenen Situation am sensibelsten Punkt einer Entwicklung und das Aufkommen einer Ausnahmesituation. An diesem Wendepunkt, am dringlichsten Punkt für Handlungsentscheidungen, liegt aber nicht nur die Abwendung der Krisengefahr zugunsten der Wiederherstellung von Normalität, sondern auch das Moment für eine radikale Neukonstitution des Subjekts. In einer Annäherung an Konfl ikt über die Frage der Konsolidierung einer mittels allgemeiner Normen geregelten Ordnung kann ein Konstatieren dieses Wendepunkts oft nur ex posteriori stattfinden, zu einem Zeitpunkt, wo die Krise überwunden ist. Anders dagegen in einer Perspektive, die Konflikt als singulären Ausdruck einer Handlungsentscheidung erachtet, seinen Aktionsradius also außerhalb der Norm lokalisiert. Das in Konflikten zirkulierende Potenzial der Entscheidungsmacht verweist hier auf eine prinzipielle Trennung zwischen der Norm und ihrer Anwendung. Am äußersten Punkt der Krise gehen die beiden Sphären auf größte Distanz, wenn die Anwendung der Norm aufgehoben wird, um der Norm zur Geltung zu verhelfen. Anders gesagt findet hier die Erkenntnis der Norm über die äußerste Perspektive des Extrems statt, über den Punkt der Ausnahme. An ihm öffnet sich jener Spalt, den Agamben als topologische Struktur des Ausnahmezustands beschrieben hat. »Der Ausnahmezustand scheidet die Norm sozusagen von ihrer Anwendung, um letztere zu ermöglichen. Er führt ins Recht eine Zone der Anomie ein, um eine tatsächliche Normierung des Wirklichen möglich zu machen.«8 Dieser rechtlose Raum rückt nach Agamben in der heutigen Zeit immer mehr ins Zentrum vor. Mit der Verflüssigung und Mobilisie8. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 46.

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rung von Peripherien verschiebt sich auch die territoriale Gestalt der Ausnahme von der Peripherie zu einer Lagerhaltung inmitten des politischen Zentrums. Der Bann betriff t so nicht länger einen Verweis an die Ränder geokultureller Existenz, sondern eine Zerklüftung und Spaltung von Koexistenz im Kern der Organisation von gesellschaftlicher Ordnung. Der Ausnahmezustand ist zum Ordnungsprinzip einer allgegenwärtig erscheinenden gesellschaftlichen Krisensituation geworden: Anstelle Normalisierung herbeizuführen, erfüllt er unter dem Banner der Terrorismusbekämpfung den Zweck eines Dauerprovisoriums und ist zu einer Form des Regierens geworden. Das Lager ist der bauliche Ausdruck eines solchen Regierens, ein durch Krisenszenarien legitimiertes Instrument der Kontrolle über den Körper, das in seinem Schatten immer auch ein Wirken anderer Apparate, Protokolle und Instanzen nach sich zieht. Die Verhandlung von Konflikten wird in diesem Prozess aus der Sphäre der Öffentlichkeit genommen und an Experten delegiert. Das neue Krisenmanagement verschiebt den Gegenstand der öffentlichen Debatte vom Inhalt der Krise auf eine Zusammensetzung von professionalisierten Krisenforen, deren Handeln auf Effizienz ausgerichtet ist. Entsprechend wird jegliches Engagement rund um Konfliktfälle lediglich dann als erfolgreich bewertet, wenn es zur Beseitigung des Konflikts geführt hat. Konflikte sind dem Zustand der Konfliktlosigkeit untergeordnet, ja sogar verpflichtet: Konflikt hat nur dann Raum, wenn er einer Lösung zugeführt wird. Einer der zentralen räumlichen Effekte dieser Politik ist die Streuung von Konflikt und Gewalt vom internationalen in den innerstaatlichen Raum.9 Insbesondere in den Raum der Stadt, in dem Konflikte greifbar werden, gleichzeitig aber in Verbindung stehen mit einem Netzwerk an entfernten Räumen, die Unterstützung, Bündnisse und Formen der Zusammenarbeit anbieten, aber auch für Verlagerung, Verdrängung und Unterdrückung von Konflikten sorgen. Stadt als politische Form erwächst aus einem kontingenten und polyzentrischen Kräftespiel von Expansion und Isolation. Das urbane System gibt sich so nicht als Ort geographisch determinierter sozialer Prozesse zu erkennen, sondern

9. Siehe dazu das aktuelle »Konfliktbarometer« des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung: »Konfliktbarometer 2008: 17. Jährliche Konfliktanalyse«, online: http://hiik.de/en/konfliktbarometer/ index.html vom 15. August 2009.

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als Fokus politischer Konflikte.10 Neue Konflikte, die aus diesem komplexen Gewebe hervorgehen, richten unsere Aufmerksamkeit auf eine veränderte Art und Weise, in der die Präsenz sozialer Exteriorität begründet und ausgedrückt wird. Eine verfeinerte Aufmerksamkeit für diese Verschiebungen ist umso dringlicher, als Stadt im Verständnis der globalen Marktökonomie immer mehr zu einem jederzeit abbaubaren und verlagerbaren Konstrukt geworden ist. Zur Wahrung der Marktinteressen werden die mobil gewordenen Konfliktlinien einem Set an ephemeren Gefügen angepasst, an das sie sich kurzfristig halten, das sie aber auch wieder verlassen können. Konfliktgegenden sind so weniger geographische Schauplätze, als diskursiv produzierte (Trans-) Lokalitäten, die entlang der Bewegungen der globalen Marktlage Konfliktsubjekte produzieren. Anstelle der Stadt gilt nun dem flexiblen Begriff der Community die Aufmerksamkeit als neuer Referenzebene. Als deutliche Konsequenz dieser Verschiebung steht nun auch die Community selbst und nicht mehr die Stadt unter Bedrohung, wenn die Sicherheit ›gemeinsamer‹ Interessen gefährdet erscheint.11 Die entsprechenden ›Schutzmaßnahmen‹ reichen von der Errichtung von Polizeisperren und meterhohen Wänden rund um von nordafrikanischen Immigranten bewohnte Wohnblöcke in Padua im Sommer 2006 bis zur Verhängung von sogenannten »Anti-Social Behaviour Orders« (ASBOs) in Großbritannien, mit denen bestimmte Personen aus dem öffentlichen Raum verbannt werden können.12 Die Darstellungen einer alles niederbrennenden migrantischen Jugendkultur, wie im Fall der jüngsten Unruhen in den französischen Banlieues, produzieren eine wirksame Stimmungsmache für diese klassenwirksame räumliche Kontrolle. Würden wir den Geschichten vertrauen, die vom Mainstream der Medien kolportiert werden, stünden wir unter dem Eindruck, dass die Gefahr dieser Situation in alle Ecken der westlichen Welt vorgedrungen ist und allerorts Mikrokonflikte erzeugt, sodass eine Abwehr des Übels nur eine alles umfassende territoriale Strategie sein kann. Der allgegenwärtige Feind, den diese Geschichten 10. Stuart Lowe: Urban Social Movements, London: Macmillan 1986,

S. 2. 11. Jordan Crandall: Under Fire 2: The Organization and Representation of Violence, Rotterdam: Witte de With 2005, S. 25-37. 12. Anna Minton: Ground Control. Fear and Happiness in the TwentyFirst-Century City, London: Penguin 2009, S. 144-157.

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heraufbeschwören, ist der Auslöser einer immer restriktiveren und im Sozialen verankerten Politik der ›urbanen Sicherheit‹, was zur Folge hat, dass im Krieg gegen derart abstrakte Gegner die Grenzen von Sicherheitsmaßnahmen sowohl räumlich als auch zeitlich aufgelöst werden. Kriege gegen abstrakte Konzepte oder soziale Praxen sind gouvernementale Akte, die sich von den meisten anderen Formen politischer Aktivität nicht unterscheiden. Sie reproduzieren alle Aspekte des sozialen Lebens und können, ungeachtet räumlicher oder zeitlicher Grenzen, überallhin ausgedehnt werden.13 Die Aufhebung der geläufigen zivilen Regeln im Streben nach zivilem ›Anstand‹ mobilisiert auf diese Weise eine Form von Bio-Macht, die eine flexible Gestaltung von sozialen Hierarchien entlang von aktuellen Wertsystemen und Meinungsumfragen erlaubt. Anstatt sich auf eine geopolitische Situation einzulassen, die mit den strikten Kategorien von Gewalt und Frieden bricht, strebt die »Panische Stadt«14 danach, Zonen ungezügelter Gewalt von gereinigten und kontrollierten Zonen der Harmonie zu isolieren.

Abbildung 18: Mit Stahlwänden und Polizeisperren im Sommer 2006 abgeriegelte und seitdem sukzessive geräumte Wohnanlage in der Via Anelli in Padua, 2009 13. Michael Hardt und Antonio Negri: Multitude: Krieg und Demokratie

im Empire, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2004, S. 29-30. 14. Paul Virilio: Panische Stadt, Wien: Passagen Verlag 2007.

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Abbildung 19: Schlagzeilen französischer Magazine zu den Unruhen in Paris, November 2005 Von Anthony Vidler als »Kriegsideologie des Plans« 15 ausgewiesen, ist die willentliche Zerstörung der Stadt kein externes Übel, sondern Teil des Programms der Transformation städtischen Lebens im Zeichen neoliberaler ›Urbanisierung‹. Der im Zuge dieser Transformation produzierte soziale Konflikt fungiert als ein herbeigeführtes Konstrukt, das den gewünschten Rahmen abgibt, in dem die Kräfte der Transformation operieren können. Konflikte und die Leugnung von Konflikt sind so beide immanenter Bestandteil der Praxis der Stadt und Teil ihres politischen Handlungsspektrums. Konflikt als etwas zu erklären, das nicht in Bürgerschaftskonzeptionen des 21. Jahrhunderts aufgenommen werden kann, positioniert ihn in einem Ausnahmezustand außerhalb des Bereichs der urbanen Gesellschaft. Diese Repräsentationen fördern ein System der Machterhaltung, das auf zwei scheinbar gegeneinander gerichteten Initiativen beruht: Dem willentlichen Provozieren von Konflikt und dem gleichzeitigen Ausschluss von Konfl ikt als Sphäre einer Öffentlichkeit. Diese doppelte Strategie zielt auf die 15. Anthony Vidler: »Photourbanism: Planning the City from Above

and Below«, in: Gary Bridge und Sophie Watson (Hg.), A Companion to the City, Oxford: Blackwell 2001, S. 35-45.

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der Konfliktauslösung folgende Beanspruchung einer Schutzhoheit, mit der Konflikt ›gelöst‹ werden kann und gleichzeitig Transformation in die gewünschte Richtung zu steuern versucht wird.

Kr isenfelder der Netzwerkproduktion Vom Niedergang der ›New Economy‹ und dem Aufstieg globaler Protestbewegungen bis zu den militanten Netzwerken des globalen Dschihad und den gewaltsamen Attacken auf das New Yorker World Trade Centre und das Pentagon wandelte sich die Gestalt des Netzwerks in der Auffassung der Zentren sozialer Macht vom Mittel der reibungsfreien Kontrolle zur unkontrollierbaren Gefahr. In dieser Hinsicht haben Netzwerke die mächtigste Figur der Moderne abgelöst: die bedrohliche Gestalt der Masse im 19. und 20. Jahrhundert. Elias Canettis Vorstellung der Masse als Figur der ›Berührung‹ durch das Unbekannte ist einer Figur der ›Verbindung‹ mit dem Unbekannten gewichen.16 Erhöhte Mobilität, beschleunigte Kontakte und die schwindende Bedeutung von räumlicher Entfernung als Ausdruck für das Empfinden von Nähe und Distanz haben neue Parameter entstehen lassen, die nicht nur eine veränderte Qualität von Verbundenheit, sondern auch Momente der Verunsicherung und Angst erzeugt haben: Angst vor der ungehinderten Ausbreitung weltweiter Epidemien, Angst vor TerrorNetzwerken, Angst vor einer tiefgreifenden gesellschaftlichen, finanziellen und militärischen Krise im Zentrum der alten Weltmacht. Das Netzwerk ist zu einem diff usen Feindbild geworden, an dem sich ein ebenso diff uses Set an Ängsten vor Aufweichung, Übertragung und Kontaminierung anlagert hat. In der weitläufigen Rede vom »Kampf gegen den Terrorismus« wird das Netzwerk zu einem hilfreichen Instrument, der Angst einen Ort zu geben. Einen Ort der unendlichen Ausdehnung, der überall erfahren werden kann und deshalb seitens der Politik überall neu organisiert, überwacht und gesichert werden soll. Dieser Gebrauch des Netzwerkbegriffs maskiert auf geschickte Weise eine global ansetzende Politik von Ordnungsmaßnahmen, die auf der einen Seite die Eigendynamik von Netzwerken zu kontrollieren

16. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2001 [1960], S. 13.

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versucht, ihrer Ausbreitung auf der anderen Seite aber auch Raum geben muss, um die eigenen Ziele zu erlangen.

Abbildung 20: Sperre aus Betonbuchstaben vor dem Emirates Stadion in London, vom britischen Innenministerium als ein »gutes Beispiel für elegantes Anti-Terror-Design« gewürdigt, 2006 Nicht nur die Ausbreitung dieser Netzwerke allein, sondern auch deren Abwehr modelliert die räumliche Gestalt der Krise: Die Sicherheitsarchitekturen von Gated Communitys, die staatenumgreifenden Mauern im israelisch-palästinensischen Grenzkonflikt, die Abriegelung des europäischen Kontinents gegenüber dem Maghreb mithilfe elektronischer Zäune oder die Errichtung eines künstlichen Refugiums in Gestalt einer Miniaturwelt, wie das Dubais Ressort-Projekt The World plant. Nachdem der Netzwerk-Feind in jedem Maßstab zuhause ist, bleibt auch kein Maßstab unberührt, wenn es um die Abwehr der Krise geht. Der in diesen Zonen stattfindende Kampf um die Gestaltung eines Krisenzustands macht deutlich, dass das Netzwerk kein Antipode zur Politik der Grenze ist. In der Politik der Raumverteilung und Raumkontrolle spielen Netzwerke eine wichtige Rolle, um Grenzen strategisch abzusichern und Grenzbereiche auszuweiten. Die Intelligenz von Netzwerken, ihre Logik der flexiblen Kombination und Steuerung wird gebraucht, um der beschleunigten Interaktion zwischen weit 59

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voneinander entfernten Knotenpunkten dynamische Gegnerschaft zu bieten. Wie die Grenze, so ist, mit Bruno Latour gesprochen, auch das Netzwerk ein Konzept und kein räumliches Objekt,17 eine geteilte Fiktion, die in Abhängigkeit von der Art der gesuchten räumlichen und sozialen Organisation eine bestimmte materielle Gestalt anregt. In unseren Überlegungen möchten wir daher Netzwerke nicht als einen ›Ort‹ von Konflikt und Krise ansprechen, wie das der Fall ist, wenn von Terrornetzwerken als Hort von konspirativer Gewalt oder von Netzwerken als »Problemräumen« der Globalisierung die Rede ist.18 Uns interessiert vor allem, wie Netzwerke als situative ›Gestalt‹ der Transformation gesehen werden können, als eine räumliche Manifestation von Umbrüchen, die sich von einer direkten Verbindung mit örtlichen Topographien weitestgehend freigespielt haben. Netzwerke markieren einen sozialräumlichen Prozess, dessen Eigenschaften viel mehr aus einer Situation hervorgehen, als in den lokalen oder historischen Bedingungen essenziell vorhanden zu sein. Die dynamische Gestalt eines solchen Prozesses lässt sich an vielen Beispielen nachvollziehen: Mit dem Auf kommen des Geldmarktes und des Austauschs von Gütern, Dienstleistungen und Zahlungsbilanzmitteln über Grenzen hinweg etwa verliehen die Handelsnetzwerke des Merkantilismus im 17. Jahrhundert der Krise des absolutistisch regierten Staates Form durch grenzübergreifenden Wettbewerb und neue Steuerungsinstrumente wie dem Navigationsakt von 1651, der über große Teile der Welt eine geschlossene Handelszone etablierte. Jede neue Generation der an Ausdehnung orientierten technologischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, Eisenbahnen, Telekommunikation oder Elektrizität, verlieh der Krise der Patronage westlicher Zivilisation über immer größer werdende Kolonialgebiete ihren Ausdruck. Später, im 20. Jahrhundert, bildete die Netzwerk-Architektur des Guerillakriegs in Gestalt der in den späten 1940er Jahren begonnenen Untergrundtunnel der Viet Minh zunächst die Taktik des vietnamesischen Widerstands; sie formte aber auch die effektvolle Struktur der Krise westlicher Macht 17. Bruno Latour: Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford und New York: Oxford University Press 2005, S. 131. 18. Aihwa Ong und Stephen J. Collier (Hg.): Global Assemblages: Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems, Oxford: Blackwell 2005.

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zur Zeit des kalten Kriegs. Als Erstes Datenübertragungsnetzwerk und wichtigste Referenz für das heutige Internet ging 1969 das ARPANET (Advanced Research Project Agency Network) aus dem Kontext USamerikanischer Staatssicherheitskrisen hervor und modellierte diese Krise in seiner ausgeklügelten und auf Sicherheit bedachten Verteilung von Informationsflüssen.19 Auf gleiche Weise sind die weltweit vernetzten Nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) der Gegenwart weniger ein passives Spiegelbild als eine formgebende Kraft für die von der Globalisierung hervorgerufene Krise nationalstaatlichen Regierens. Und auch die aus der Zeit des Realsozialismus stammenden sozialen Netzwerke in Osteuropa haben die plötzlichen Brüche staatlicher Regulationen und Versorgungsinstanzen in der Zeit nach 1989 nicht nur abgefedert, sondern verwandeln diese zugleich in ein neues Instrumentarium für kulturelles Zusammenleben unter den Konditionen unregulierten Selbstunternehmertums. Dieses metonyme Verhältnis von Krisensituation und Netzwerkformation stellt uns ein Modell des Formgebens zur Verfügung, das räumliche Erneuerungen nicht vom krisenhaften Raum des Bestands isoliert, sondern diesen Raum selbst als generatives Potenzial für neue Formen sieht. Netzwerke sind Räume der Transformation, und genau darin liegt ihre Stärke. Im Licht dieser Qualität lassen sich Netzwerke als in sich bewegte Peripherie sehen, die rund um eine zentrale Leere organisiert ist. Die beste Möglichkeit für Wachstum und Veränderung einer solchen Struktur ist die Verweigerung eines klar konturierten zentralen Projekts. Netzwerke eröffnen in einem bewussten und aktiven Prozess des Streuens von Aufmerksamkeiten und des ›Entdeutlichens‹ einer Figur der Mitte Wege, die an der zentralen Leere vorbeiführen. Sie errichten sich um etwas, das nicht als klar gezeichneter Gegenstand, sondern als unbestimmte Region vorliegt, als Lücke, die nicht besetzt werden kann. Dazu verwerfen sie nicht nur deren Vergangenheit, sondern auch die klar konturierte Gestalt ihrer Zukunft als gemeinsames Projekt. Ganz einem Terrain der Gegenwart verpflichtet, müssen strukturelle Lenkung und Kollaboration in jedem Moment neu angelegt werden. Netzwerke sind ein Ausdruck ständigen Beginnens. Diese Geometrie der Transformation ermöglicht einen Aufschwung spontan gestalteter, flexibler und temporärer 19. Sadie Plant: »Network Wars«, in: Blueprint, September 1998, S. 26-27.

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Räume, speziell in den abseitigen und weniger gefestigten Zonen, in denen Arbeitsmigration, wirtschaftliche Deregulierung, soziale Separation und religiöse Bewegungen zu einem räumlichen Patchwork an migratorischen Infrastrukturen aus Kiosken und Minibussen, Arbeitsstrich und Beträumen, Durchgangslagern und Bars, Bordellen und Radiostationen geführt haben. Die Schaff ung neuer gesellschaftlicher Räume findet nicht anstatt der bestehenden Räume oder obendrein statt, sondern inmitten existierender soziokultureller Ordnungen.20 Die Transformation dieser Ökonomien ist so der Raum der Ausbreitung von Netzwerken, in denen neue Kulturen Patz greifen. Netzwerke können hier einen Ort bilden, an dem ein anderer Umgang mit Konflikt gefunden werden kann. Mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe lässt sich das kreative Potenzial von Konflikt darin sehen, blinde Totalität zurückzuhalten.21 Diese Totalität richtet sich an zwei Polen aus, die im einen Fall über Maßnahmen der Bereinigung, im anderen Fall über Vereinheitlichung angestrebt werden. Im ersten Fall wird demokratische Öffentlichkeit als bereinigter Raum des individuellen Ausdrucks verstanden, im zweiten als vereinheitlichtes soziales Ganzes. Konflikt ist für beide Fälle eine Kraft, die das Entstehen von funktionierenden Räumen demokratischer Gesellschaften untergräbt. Gehen wir aber davon aus, dass die zur Verfügung stehende Plattform für die Artikulation einer globalen Öffentlichkeit, das Netzwerk transversaler Interaktion, nicht eine planbare und fi xierbare Formation ist, sondern ein Transfer von Ideen und Debatten in den Bereich des räumlich-politischen Handelns, dann ist Konflikt die Voraussetzung, um Räume demokratischer Koexistenz zu erzeugen und anzueignen. Konflikt ist also genau die Bedingung für deren Entstehen und Wachsen. Er agiert als eine von Moment zu Moment getragene Kraft des Verhandelns, die in vielen kleinen Schritten unser Verständnis der Zukunft gegenüber der Vergangenheit strukturiert. Das grundlegende Potenzial von Konflikt liegt also darin, Möglichkeiten politischen Handelns aufzutun, unter denen Gewalt nur eine von vielen ist. 20. Stefano Boeri: »Eclectic Atlases«, in: Multiplicity (Hg.), USE – Uncertain States of Europe, Mailand: Skira 2003, S. 445. 21. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics, 2. Aufl age, London und New York: Verso 2001.

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In der offiziellen Politik werden Konflikte jedoch über Milderungsverfahren ausgehandelt, deren Fluchtpunkt nicht ein dynamischer Zustand gelebter Differenz, sondern ein Ringen um Kontrolle der Ausgeschlossenen ist. Was Menschsein definiert, wird so, wie Judith Butler argumentiert hat, aus einer Matrix von Ein- und Ausschlüssen hervorgebracht, in der spektrale Existenzen eine endlose Kriegsführung gegen die geisterhafte Unendlichkeit des Feindes rechtfertigen: »Es geht nicht um eine einfache Aufnahme der Ausgeschlossenen in eine etablierte Ontologie, sondern um einen Aufstand auf der Ebene der Ontologie, eine kritische Eröffnung der Fragen: Was ist real? Wessen Leben ist real? Wie ließe sich die Realität neu gestalten? Diejenigen, deren Leben unwirklich ist, haben die Gewalt der Derealisierung in einem gewissen Sinne schon erlitten. […] Die Gewalt erneuert sich selbst angesichts der augenscheinlichen Unerschöpflichkeit ihres Objekts.«22

Es ist bezeichnend, dass gerade dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit keine höhere Bedeutung in den um sich greifenden Debatten über politische und ökonomische Raumkontrolle zukommt, obwohl im Streit um die Anwendung von Rechten eine zentrale ethische und politische Funktion verankert liegt.23 Der einer Rechtspraxis zugrunde liegende Apparat ist nicht Ergebnis seiner eigenen Natur, sondern ein veränderliches und kontingentes Konstrukt politischer und theoretischer Auseinandersetzung. Es gibt eine eigenwillige Gemeinsamkeit in der Verleugnung dieser Verbindung und der Verleugnung der Verbindung zwischen der Organisation von Gewalt und städtischem Leben: Ihre Konstruktion als unvereinbare Zonen und das damit kreierte Bewusstsein, dass es keinen Raum für Dissens im Gesetz und keinen Raum für Konfl ikt in der Stadt geben darf, hängen beide mit einem bestimmten Verständnis von Kultur zusammen, in dem Differenz eine Gefahr für Kultur ist. Die ideologische Funktion der Übereinstimmung von Recht und Gerechtigkeit deckt sich so mit dem normativen Ordnungsentwurf von Stadt als gewaltfreie Zone der Zivilisation. 22. Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 50-51. 23. Samantha Besson: The Morality of Conflict: Reasonable Disagreement and the Law, Oxford: Hart Publishing 2005.

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Wenn die Austragung von Konflikt, wie das etwa Georg Simmel dargestellt hat, einem ›unkultivierten‹ Spannungsabbau zwischen Gegensätzlichem dienen soll,24 dann setzt dies eine vorgängige Existenz von Gegensätzlichkeit voraus. Ein Gefüge von differenten Eigenheiten, die sich vorgeblich nicht anders aufeinander beziehen lassen, als über ihre Empfänglichkeit für eine Harmonisierung zum Wohle von ›Kultur‹. Das Kulturelle ist aber weder ›Quelle‹ des Konfl ikts noch eine davon abstrahierbare ›Alternative‹, wie Homi Bhabha in seiner Diskussion von Hybridität klargestellt hat, sondern der ›Effekt‹ von Distinktionspraktiken, mit denen Autorität in die Welt gesetzt wird, »als Anordnung von Macht, als negative, agonistisch an der Grenze zwischen Referenzrahmen und mentalem Rahmen konstruierte Transparenz, […] durch die Kultur als eine kriegsähnliche Strategie mit offener Struktur mobilisiert wird.«25 Die beharrlich vorgetragene Rede vom Zusammenstoß der Zivilisationen ist ein Effekt von Herrschaft, mit dem bestimmte Eigenheiten, Körper, Gesten, Diskurse und Begehren einer Kultur identifiziert werden. Diese diskursiv und materiell operierende Praxis führt nicht nur zu einer zunehmenden Zerfurchung von räumlicher Koexistenz, sondern auch zur Institutionalisierung von Konflikt in einer Politik der globalen Trennung. Konflikte werden zum dominanten Rahmen, der vorgibt, auf welche Weise ein bestimmtes Gebiet und eine bestimmte Bevölkerung wahrgenommen werden. Architektur ist eine Form des Praktizierens dieser Politik. Sie schaff t die Trennlinien, Gräben, Befestigungen und Abschirmungen innerhalb einer elastischen Geographie von Innen- und Außenzonen, die von vielen Akteuren umrungen und organisiert werden. Die Architektur der Grenze ist, wie Eyal Weizman schreibt, nicht einfach politisch in dem Sinn, dass sie politische, ideologische oder ökonomische Gegnerschaft manifest werden lässt. Sie ist vielmehr materielle Politik, eine Form von politischer Konfliktpraxis.26

24. Georg Simmel: »The Sociology of Conflict: I«, in: American Journal of Sociology 9 (1903), S. 490. 25. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2000, S. 169 (kursiv im Original). 26. Eyal Weizman: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung, Hamburg: Edition Nautilus 2009, S. 11.

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»[In] diesem Kontext ist die Beziehung zwischen Raum und Handlung nicht als die einer starren Hülle um einen weichen Inhalt zu verstehen. Die politische Aktion geht vollständig auf in der Durchdringung, Umwandlung, Ausmerzung und Untergrabung des Räumlichen.«27

Genau diese Überschneidung von Raum und Politik, die den Konflikt zum einen allumfassend macht, bedingt zum anderen seine Unlösbarkeit und eröffnet damit eine Handlungsmöglichkeit der performativen Herstellung räumlicher Bedeutung. Raum ist kein bloßer Container für unser Handeln, so wie Architektur kein Container für Politik und wie Städte, Regionen und Staaten keine Container für darin schwelende Konflikte sind. Konflikte artikulieren sich entlang von mentalen Geographien in Verbindung mit den Möglichkeiten, diese in einem physischen Raum zu praktizieren. Raum ist daher eine mögliche Form der Artikulation von Konflikten – die konkrete Gestalt einer Konfliktpraxis und kein Behältnis für Konflikt. Konflikt residiert nicht außerhalb unserer Existenz, sondern wird von uns gelebt und verräumlicht.

27. Ebd., S. 14.

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Ar izona-Markt : Interethnische Zusammenarbeit im Brčko-Distr ikt Nahe der nordostbosnischen Stadt Brčko befindet sich der ArizonaMarkt, einer der berüchtigtsten Marktplätze Südosteuropas: 2500 Standplätze auf 40 Hektar Landfläche, drei Millionen Besucher pro Jahr und geschätzte 100.000 Personen, die hier direkt oder indirekt Beschäftigung finden. Was den Markt über diese Daten hinaus auszeichnet, klaff t je nach Blickwinkel und je nach Interessenlage allerdings weit auseinander: Für die einen ist er ein Modell für multi-ethnische Gemeinschaft, für andere die größte Open-Air Shopping Mall am Balkan, für dritte wiederum die Hölle auf Erden. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind nicht zuletzt ein Resultat fortwährender Veränderungen jenes Raumkonstrukts, das vereinfacht als Arizona-Markt bezeichnet wird. Der Landstrich des heutigen Arizona-Marktes ist Teil des nach dem Austritt Bosnien-Herzegowinas aus dem Staatsverband Jugoslawien im Jahr 1991 zwischen serbischen, kroatischen und bosnischmuslimischen Einheiten aufgrund seiner strategischen Lage besonders umkämpften Kriegsgebiets. Neben den im Daytoner Friedensabkommen von November 1995 festgesetzten Entitäten der Serbischen Republik und der bosniakisch-kroatischen Föderation (Föderation Bosnien-Herzegowina) erhielt das umstrittene Gebiet um die Stadt Brčko nach langer internationaler Arbitrage völkerrechtlichen Sonderstatus als dritte Entität unter direkter Aufsicht eines Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft für Bosnien und Herzegowina (OHR). Entlang des von Ifor/Sfor-Truppen so genannten 67

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Arizona-Korridors – der Nord-Süd-Verbindung zwischen Bosnien und Kroatien, welche die Serbische Republik in eine westliche und eine östliche Hälfte unterteilt – bildete sich seitdem ein ökonomischer Knotenpunkt, dessen Bedeutung weit über das Gebiet des Sonderdistrikts Brčko hinausreicht. Als sich der am Schnittpunkt der drei ethnischen Gruppierungen eingerichtete Checkpoint zum informellen Treff punkt entwickelte, Zigaretten und Vieh gehandelt und am Straßenrand Kaffee ausgeschenkt wurde, entschied die lokale Kommandantur 1996 zur Förderung der ersten Anfänge ethnischen Zusammenkommens hier eine ›Freihandelszone‹ als friedenskonsolidierende Maßnahme zu errichten. SforSoldaten planierten mehrere Hektar Ackerland, entminten das Gelände und stellten Baumaterial zur Verfügung. Auf der dem Checkpoint gegenüberliegenden Straßenseite entstand so in kurzer Zeit der größte informelle Warenumschlagplatz Südosteuropas, mit unzähligen Bretterbuden, improvisierten Ständen, Schmuggelware und gefälschten Markenartikeln. Textilien, Lebensmittel, Elektronikartikel, Baubedarf, Kosmetika, Autoersatzteile und CDs – alles konnte hier günstig erworben werden, am billigsten gleich direkt vom Lastwagen. Für die weitere Entwicklung des Arizona-Marktes sollte es sich als entscheidend erweisen, dass er, anders als die meisten informellen Märkte, auf freiem Feld und mit Unterstützung des Militärs entstanden ist. In den Anfangsjahren wurden das Zusammentreffen über wirtschaftliche Aktivitäten und die Selbstorganisation dieser Grauhandelszone als modellhafter Ansatz für den nachhaltigen Aufbau von Kommunikations- und Gemeinschaftsstrukturen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern gepriesen. Neben mobilem Verkauf und schlichten Markteinrichtungen entstanden bald erste einfamilienhausartige Strukturen, die einen selbstorganisierten Urbanisierungsprozess des Geländes ankündigten. Die in diesen Hütten und Häusern operierenden Bars und Motels beherbergten aber in zunehmendem Maße einen Handel, der es immer schwieriger machte, die Erfolgsstory des Friedens durch Marktwirtschaft international zu verkaufen. Wirklich Geld wurde auf dem Arizona-Markt mit Prostitution und Menschenhandel gemacht, mit aus Osteuropa eingeschleppten Frauen und Mädchen, die den Berichten nach nackt auf der Straße zusammengetrieben und wie Vieh von einem Barbesitzer an den nächsten weiterverkauft wurden. Am 26. Oktober 2000 verkündete die Internationale Gemeinschaft (OHR, OSCE, UNMIBH und Sfor) 68

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ein Maßnahmenpaket zur Säuberung des Arizona-Marktes von diesen illegalen Aktivitäten, dessen Kernstück neben der Regulierung von Lizenzvergaben und Steuereinnahmen die Umsiedlung des Marktes an einen neuen, mit allen notwendigen Einrichtungen ausgestatteten Platz bis Juni 2001 bilden sollte.1

1. Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) und EU-Sonderbeauftragter (EUSR) in Bosnien und Herzegowina, Presseaussendung, 26. Oktober 2000: »International Community to clean up trade at the Arizona Market, Brcko«. Online: www.ohr.int/ohr-dept/presso/pressr/default.asp?content_id=4092 vom 15. August 2009.

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Abbildungen 21-22: Informeller Markt neben dem internationalen Checkpoint am ›Arizona Korridor‹ nahe Brčko im Jahr 2001

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Abbildungen 23-27: Arizona-Markt, Umwandlung des Marktes in ein Shopping-Center durch Italproject, 2006

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Markantestes Kennzeichen dieser Strategie zur Wiedererlangung der Kontrolle über den Arizona-Markt, die schließlich in der feierlichen Eröffnung eines neuen Shopping-Centers am 11. November 2004 in Anwesenheit des Stellvertretenden Hohen Repräsentanten, dem USBotschafter Donald S. Hays, gipfelte,2 ist das Zusammenspiel der politisch-territorialen Kontrolle durch die Internationale Gemeinschaft mit einem internationalen Investor in der Privatisierung des öffentlichen Raums. Im Februar 2001 ordnet der Hohe Repräsentant die Schließung des bisherigen Marktes an,3 im Dezember des gleichen Jahres geht Italproject, ein italienisch-bosnisch-serbisches Konsortium, als Gewinner der Ausschreibung zu Herstellung und Betrieb des neuen Markts hervor und unterzeichnet für die Dauer von 20 Jahren einen Leasingvertrag mit der Distriktsverwaltung, der im Tausch für die Errichtung der Infrastruktur die hundertprozentige Einbehaltung der Mieteinnahmen auf 17 Jahre gewährt. Das Projekt sieht vor, unter Aufsicht der Eufor-Truppe (EU) 120 Millionen Euro zu investieren, um das Gebiet mit zunächst 60.000 Quadratmetern moderner Handelsinfrastruktur auszubauen. In einer späteren Ausbauphase soll ein komplex strukturierter Wirtschafts- und Handelsstützpunkt für den gesamten südosteuropäischen Raum mit Multiplex-Kinos, Hotels, Casinos und einem Konferenzzentrum entstehen. Den bisherigen Händlern bietet Italproject Standplätze in den modulartig strukturierten Räumlichkeiten zur Miete oder zum Kauf an. Auf den Widerstand der Landbesitzer und Händler gegen diese Totalübernahme des Marktes wurde mit der Anweisung von Zwangsenteignungen geantwortet. Begründet wurden diese damit, dass es im öffentlichen Interesse läge, sicherzustellen, dass die Distriktverwaltung Brčko ihre mit Italproject geschlossenen

2. Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) und EU-Sonderbeauftragter (EUSR) in Bosnien und Herzegowina, Presseaussendung, 10. November 2004: »PDHR to attend the formal opening of the Arizona Market«. Online: www.ohr.int/ohr-dept/presso/pressb/default.asp?content_id=33492 vom 15. August 2009. 3. Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) und EU-Sonderbeauftragter (EUSR) in Bosnien und Herzegowina, Presseaussendung, 17. Februar 2001: »Supervisory Order on the Use of Land in Arizona Market«. Online: www. ohr.int/ohr-offices/brcko/bc-so/default.asp?content_id=5323 vom 15. August 2009.

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Verträge einhalten könne. 4 Demonstrationen und Verkehrssperren gegen die Schleifung des alten Geländes wurden von der Polizei geräumt. Da es sich bei den betroffenen Landbesitzern zum Großteil um Kroaten handelte, die für ihre Belange Unterstützung bei nationalistischen Gruppierungen suchten, drohte die vorgeblich der Ökonomie geschuldete Völkerversöhnung in einen ethnischen Konflikt über die als willkürlich empfundene Verteilung ökonomischer Optionen überzugehen. Die Transformation des informellen Marktes in ein ShoppingCenter, mit der die illegalen Aktivitäten unterbunden und gleichzeitig die ökonomische Vitalität erhalten werden sollte, markiert einen wichtigen Punkt, der die Grenzen der Übersetzbarkeit zwischen informellen und formellen Systemen aufzeigt: Der ›spontan‹ gewachsene, öffentlich-urbane Raum in Form des informellen Marktplatzes zwischen Transportern und Hütten wurde von abgeschrankten und gebührenpflichtigen Parkplätzen ersetzt. Das Zusammenkommen der verschiedenen Kulturen wird nun durch festgelegte Öff nungszeiten und privates Wachpersonal geregelt. Im Sommer 2006 deutet kaum mehr etwas auf den ursprünglichen Arizona-Markt mit seinen Tausenden Holzhütten und den mit Planen und Blechen überdachten Bazar im Inneren hin. Alles, was nach der Räumung zu sehen ist, sind ein paar brachliegende, planierte Felder, deren Anblick auf unheimliche Weise den ein Jahrzehnt zurückliegenden Moment der ersten Planierung in Erinnerung ruft. Der heutige Arizona-Markt umfasst die von Italproject betriebenen Markthallen sowie ein urbanes Hybridgebilde, das mit seinen Schotterstraßen und Holzveranden sowohl das Bild der Wildwest-Stadt – des ökonomisch und sozial rauen Grenzgebiets – als auch die Vorstellungen über das Entstehen einer selbstorganisierten Stadt nährte, in der nicht nur gehandelt, sondern auch gelebt werden kann: Es ist hier eine neue Art von Stadtstruktur im Entstehen, die sich aus Resten der ›wild‹ gewachsenen Bebauung und jenen neu gegliederten Parzellen zusammensetzt, die mit den Modulbauten des 4. Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) und EU-Sonderbeauftragter (EUSR) in Bosnien und Herzegowina, Presseaussendung, 25. Juli 2002: »Opening Remarks of Brcko Supervisor on land expropriation in Arizona Market at a press conference in Brcko on 25 July 2002«. Online: www.ohr. int/ohr-dept/presso/presssp/default.asp?content_id=27536 vom 15. August 2009.

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Masterplans ausgefüllt und zugleich mit individuellen Ästhetiken in Gebrauch genommen werden. Über zwei urban inspirierten und klar geordneten Verkaufsetagen sitzt eine Art von polymorph gewachsener Wohnsiedlung, deren Vielfalt an Dachausbauten, Fensteröff nungen, Balustraden und sonstigen Verzierungen den individuellen Einzug in die Großstrukturen strategischen Investments signalisiert. In der eigenwilligen Gestalt dieser Anlage drückt sich das Ringen der offiziellen Planung mit der Dynamik des Schwarzmarktes aus. Das Aufeinandertreffen der beiden Systeme hat in diesem kleinen Segment des Marktes zu einer wuchernden Parallelexistenz von Nutzungsansprüchen und kulturellen Praktiken geführt, in der die Spannung zwischen informeller und formell geregelter Organisation jene Ästhetiken der Raumnutzung bereichert hat, die Srdjan Jovanović Weiss als ›Turbo-Architektur‹ beschreibt – als eine Art von Ästhetik, die sich an selbst-fabrizierten Wahrheiten über nationale Tradition, Regeln und architektonischen Stil orientiert und aus der Kombination von verstreuten Repertoires an Formen, Farben, Materialen und Maßstäben neue Typologien erfindet: »Turbo Architecture is an unconcealable, unrestrainable effect of the black market. Turbo Architecture is proof that architectural production depends neither on a stable market nor on a stable political system.«5 Turbo-Architektur ist eine selbstgeschaffene Nische, die ihre eigenen Zirkel über ein geschicktes Manövrieren in einem Set von Halbwahrheiten, Missverständnissen und lokalen Reaktionen absteckt, eine Antithese zum festen Regelwerk des Masterplans, und in diesem Sinn eine Gegenkraft zur geplanten Gestalt des neuen Arizona-Marktes. So finden sich am Arizona-Markt gerade am Schnittpunkt von gewachsener Siedlung und neu parzellierter Bebauung jene ›balkanisierten‹ Haustypen, die der Landschaft instabiler Politik mit starken Gesten des Unverwundbaren und Erfolgreichen, Hypermateriellen und Hyperidentifizierbaren entgegentreten. Gegenüber diesen lauten Fassaden weisen die Entwicklungen auf der anderen Seite der Arizona Road auf die fundamentale Rolle der unsichtbaren Arbeitsmärkte für das Prosperieren des Arizona-Marktes hin. Die weitreichenden Handelskontakte finden ihre offizielle bauliche Manifestation darin, dass Italproject auf der anderen Seite der 5. Srdjan Jovanović Weiss: »What Was Turbo Architecture?«, in: ders.,

Almost Architecture, Stuttgart: edition kuda.nao, merz&solitude 2006, S. 28.

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Arizona Road die Trade City of China entstehen lässt: ein themenorientiertes Shopping-Center, das über hundert Geschäfte beherbergen soll, die ihre Ware direkt aus China beziehen und in Brčko an Groß- und Einzelhändler weiterverkaufen. Beliefert wird diese glanzvolle Zukunft von Hunderten chinesischen Arbeitern, die im Schatten der Werbetafeln in einem Bettenlager in einer leerstehenden Verkaufshalle hausen. Wenn wir Arizona als Modell einer marktorientierten Stadtgründung auffassen wollen, dann ist die Trade City of China zweifellos Arizonas Chinatown und seine dekorierte Fertigteilhalle ein Zeichen der sich verändernden Handelsbeziehungen. Im Sog dieser Unternehmungen wird Arizona von einer Reihe unterschiedlicher Auffassungen umgeben: Ökonomen der Harvard Business School kommen in ihrer Studie zum Arizona-Markt etwa zum Schluss, dass Demokratie nicht unbedingt Voraussetzung sei, um kapitalistisches Wirtschaften in Gang zu bringen. Effizienter noch als eine demokratisch gewählte Regierung könne das Militär ökonomische Prozesse in Gang bringen, denn militärische wie marktwirtschaftliche Kräfte setzen beide dort an, wo ein Ausnahmezustand vorliegt.6 Während die Harvard-Studie die Kombination von militärischem Rahmenwerk und ökonomischer Selbstorganisation als Modell für ein vollkommen marktorientiertes Staatsgefüge preisen, beurteilen andere den Verlauf der Veränderung als verpasste Chance einer Urbanisierung von unten. Gerade die Verlagerung des Augenmerks auf Steuereinnahmen und die Ignoranz gegenüber dem Potenzial der selbstregulierenden Struktur habe dazu geführt, dass ein zukunftsweisendes Modell nachhaltiger Stadtentwicklung ausgelöscht wurde. In den Worten von Azra Akšamija: »Der grundlegenden Neuorganisation einer Situation im Konfliktfall steht die Möglichkeit offen, sich mit den hinzukommenden wirtschaftspolitischen Veränderungen intuitiv zu arrangieren. Mittels der vorgefundenen Gegebenheiten neue Tatsachen zu schaffen, mit denen sich der nächste arrangieren wird, formt die Situation des Marktes kontinuierlich um, ohne seinen ursprünglichen Charakter zu zerstören.«7 6. Bruce Scott und William Nash: »Brčko and the Arizona Market«, Vortrag zur Konferenz der Harvard Business School ›Global Poverty: Business Solutions and Approaches‹, 1.-3. Dezember 2005. Online: www.hbs.edu/ socialenterprise/globalpoverty.html vom 15. August 2009. 7. Azra Akšamija: »Arizona Road«, in: Sabine Breitwieser, Genera-

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In nur zehn Jahren hat sich am Arizona-Markt ein Wandel zugetragen, der einen Schauplatz nackten Lebens in einen Ort allumfassenden Konsums transformiert hat. Aus einem Grenzposten wurde ein post-metropolitanes Gebiet. Gegenüber den Hoffnungen, der Arizona-Markt könnte ein Modell für eine selbstorganisierte Stadt bilden, erwies sich der Markt in seiner Existenz und Entwicklung als viel weitreichender mit der Anwesenheit der internationalen Schutztruppen verstrickt, als dies die ursprüngliche großzügige Geste des Planierens von ein paar Feldern vorgab. Schon die Krise selbst, der dramatische Anstieg von Prostitution und Frauenhandel wird vom UNHCHR nicht zuletzt der Präsenz von über 30.000 Friedenshütern in Bosnien und Herzegowina zugesprochen.8 Bosnien war weniger Durchgangsland als Ziel des Frauenhandels, die Sfor-Truppen waren nicht nur Kunden, sondern auch am Profit von Schmuggel und Korruption Beteiligte. Die ›Lösung‹ des Problems mit dem in den 1960er Jahren in den USA entwickelten Modell der ›urbanen Erneuerung‹ – ein Modell, bei dem die Erklärung einer Gegend zu einem Problemgebiet die großflächige Enteignung aufgrund ›öffentlichen Interesses‹ erlaubt – wurde durch die Umstellung des Rechtssystems des Brčko-Distrikts mithilfe von Rechtsberatern, die das Amerikanische Büro für Internationale Entwicklung (USAID) finanzierte, wesentlich vorangetrieben.9 Heute ist der Arizona-Markt von zwei Charakteristika gekennzeichnet, die letztlich zusammenhängen: Obwohl oder weil die Internationale Gemeinschaft massiv in die Regelung des Marktes eingegriffen hat, bleibt die Säuberung des Marktes durch zentralisierte Kontrolle ein äußerst nebuloser Vorgang, wenn auf der einen Seite die italienischen Geldgeber von Italproject beharrlich nicht bekannt gegeben werden und Italproject auf der anderen Seite nicht nachfragt, woher das Geld der Käufer der neuen Marktimmobilien stammt. Die Gerüchte reichen so von lukrativen Geschäften organisierter Veteranen li Foundation (Hg.), Designs für die wirkliche Welt. Designs for the Real World, Wien und Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2002, S. 74. 8. Madeleine Rees (UNHCR Sarajewo): »Markets, Migration and Forced Prostitution«, in: Humanitarian Exchange Magazine, Nr. 14, Juni 1999. Online: www.odihpn.org/report.asp?id=1054 vom 15. August 2009. 9. US Agency for International Development (USAID): »Bosnia and Herzegovina. ACTIVITY DATA SHEET. FY 2002«. Online: www.usaid.gov/ pubs/cbj2002/ee/ba/168-031.html vom 15. August 2009.

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der paramilitärischen Verbände und der Beschäftigung von Kriegsverbrechen verdächtigter Personen bis zu Deals mit ehemaligen Bordellbesitzern, die nicht bloß einen Standplatz mieten, sondern über mehrere Geschosse reichende ›Turbo-Penthauswohnungen‹ beziehen. Die internationalen Verwicklungen der Geld- und Warenströme des Arizona-Marktes mögen eine neue Stufe erreicht haben, sein Kapitalismus ist dadurch aber nicht weniger ›wild‹. Seine Anziehungskraft besteht in der alles durchdringenden Motivation, über die Aneignung des Nichtkontrollierten eine Form von Kontrolle zu gewinnen, die von den Notwendigkeiten des Überlebens bis zu internationalen Beziehungen reicht. Diese vielen verschiedenen Ebenen des Austauschs formen die unzähligen Handelssituationen des Arizona-Marktes, die jedem eine Möglichkeit versprechen, den Markt zu eigenen Gunsten auszubeuten, selbst wenn es nur der Erwerb eines günstigen T-Shirts ist.

Istanbul-Topkapı : Handel in Ruinen Unter dem Motto »Grand Bazaar of ArchitectureS« fand im Juli 2005 der 22. Weltkongress der Architektur, eines der größten Foren des internationalen Architekturbetriebs, in Istanbul statt. Leitgedanke des Zusammentreffens war die utopische Vorstellung einer pluralistischen Welt, in der kulturelle Differenz keine Quelle von Animosität und Gräueltaten ist, sondern eine Ressource für die Gestaltung harmonischen Zusammenlebens.10 Die Spitze des zeitgenössischen Architekturschaffens stellte ihre Modelle vor und diskutierte sie vor dem Hintergrund eines lokalen Ringens um Anerkennung als Weltmetropole. Herausragende Ingenieursleistungen, nachhaltige Planung und kulturelles Welterbe, all das wurde Teil eines orchestrierten Protokolls an Willensbekundungen, um in den Jahrmarkt der Weltstädte aufgenommen zu werden. Das allegorische Motto des Kongresses und sein Referenzpunkt, die orientalistische Legende, in welcher der Bazar keinen Wunsch offen lässt, verklären aber geradezu die soziale und räumliche Herausforderung einer rasch expandierenden Megacity und ihre

10. Suha Özkan: »The Welcoming Speech of the President of the 22nd

UIA World Congress of Architecture«, in: Programme, Istanbul: UIA 2005, S. 10f.

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Hoffnung auf Rettung durch schnelle Gesten visionärer Architektur und städtebaulicher Planung. Außerhalb des Tourismuszentrums und der internationalen Aufmerksamkeit findet sich ein anderer Bazar: Ein unüberschaubar gewordenes Netz an kurzfristigen, informellen Straßenmärkten, die sich unmittelbar neben den Baustellen der Stadterneuerung – unter den Trassen von Stadtautobahnen, entlang von eben neu gebauten Straßenbahnlinien – ansiedeln und von dort ebenso rasch verschwinden, wie sie an anderer Stelle wieder auftauchen. Dieser Bazar zeigt sich weniger als Ort, an dem Güter verhandelt werden, denn als Ort in Verhandlung. Ein bedrohlicher und bedrohter Ort, der sich von Platz zu Platz durch die Stadt windet und die Brachflächen entlang der Entwicklungsachsen der geplanten Stadt temporär in Anspruch nimmt, indem er zum Zwischennutzer der neugeplanten Infrastruktur wird. Die ambivalente Gestalt des ›Bazars‹ und seine schizophrene Art der Raumproduktion sind symptomatisch für die gesamte räumliche Entwicklung des jüngeren Istanbuls, dessen Gestalt zu einem guten Teil in seiner besonderen Position außerhalb von Planung begründet ist. In einem explosionsartigen Wachstum ist die Bevölkerungszahl Istanbuls von einer Million im Jahr 1950 auf neun Millionen im Jahr 1995 und weiter auf geschätzte 18 Millionen im Jahr 2010 angestiegen. Untergekommen sind diese Millionen Binnenmigranten aus dem östlichen Anatolien in überwiegend illegal errichteten Behausungen. ›Über Nacht‹ gebaute Gecekondus, die den heimatlichen Beziehungen folgend unzählige Dörfer an den Rändern der Millionenmetropole formen, machen bis zu 65 Prozent des Baubestandes aus. Ein Zustrom des ›Ländlichen‹ und ›Schmutzigen‹, von dem sich eine westlich-orientierte, bürgerliche Mittelschicht zunehmend überrollt fühlt. Nach Meinung des Stadtforschers Orhan Esen ist so in Istanbul das Verständnis der eigenen urbanen Realität im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts in Etappen immer geringer geworden.11 Das dominante Denkmodell der Stadt der Moderne, der planerische Zugriff, versagte, und in der Ablehnung oder Verdrängung der eigenhändig-kollektiv erbauten Umwelt der Gecekondu-Kultur aus dem Diskurs über die Stadt der Gegenwart ersetzten Scham, Verleugnung und Rückzug eine of11. Orhan Esen: »Learning from Istanbul – Die Stadt Istanbul: Ma-

terielle Produktion und Produktion des Diskurses«, in: ders. und Stephan Lanz (Hg.), Self Service City: Istanbul, Berlin: b_books 2005, S. 33.

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fensive Auseinandersetzung mit ihr. So weit, dass Istanbul in vielen Darstellungen als ein unrepräsentierbares Agglomerat angesehen wird, das dem Untergang geweiht ist. Das Resultat ist eine Stadt ohne Sprache, das heißt eine Stadt, die über sich selbst in keinen anderen Begriffen nachdenkt, als in solchen des Unwerten, Aussätzigen und Missglückten. Gegenüber dem Anschwellen der Zahl der Bewohner und der bebauten Fläche hat so in den letzten zwei Jahrzehnten ein Schrumpfen eingesetzt, das typisch für die globalisierte Stadt ist: Eine immer größer werdende ›unsichtbare‹ Stadt steht einem kleinen Kern an global nutzbaren Infrastrukturräumen gegenüber. Diese Infrastruktur orientiert sich nicht an einem lokalen Umfeld, sondern an globalen Prozessen, um einen Lebensstil der globalen Eliten, die sich face-to-face in der zunehmend generischen Stadt treffen, zu bedienen.12 Dieses Schrumpfen der Stadt hat entsprechend isolierende Auswirkungen auf das, was außerhalb des Loops der globalen Netzwerke liegt. So gibt es in Istanbul in der unterversorgten Peripherie Millionen Einwohner, die dem Mythos nach noch nie bis ans Meer gekommen sind, geschweige denn bis in den Stadtraum der politischöffentlichen Aktion am Taksim-Platz und in der Istiklal Caddesi in Beyoğlu.

12. Scott Lash: Critique of Information, London: Sage 2001, S. 4f.

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Abbildungen 28-31: Informeller Straßenmarkt auf Baustellen entlang der byzantinischen Stadtmauer in Istanbul-Topkapı im Jahr 2005

Abbildung 32: Verkehrsknotenpunkt Istanbul-Topkapı im Jahr 2008

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Die Vermischung von städtischer Produktion mit der Zirkulation von Kräften staatlicher Planung und informeller Wirtschaft hat in Istanbul zahlreiche hybride Orte hervorgebracht. Einer dieser Orte entstand im Jahr 2005 unmittelbar vor den Toren der byzantinischen Stadtmauer im Stadtteil Topkapı, wo die Baustellen von zwei der zentralen Unternehmungen der in den 1980er Jahren begonnenen urbanen Aufräumungsarbeiten aufeinandertreffen: Zum einen die Herstellung eines verkehrstechnischen Netzes an Stadtautobahnen im Stil des amerikanischen Urbanismus der Mitte des 20. Jahrhunderts; zum anderen der Wiederauf bau der 1500 Jahre alten byzantinischen Stadtbefestigung in ihrem ursprünglichen, makellosen und kompletten Zustand. Ihr anhaltender Verfall war zusammen mit dem Leben in den angrenzenden desolaten Nachbarschaften in der nationalistischen Literatur zum Sinnbild der Verarmung Istanbuls und gleichzeitig des Horts der wahren türkischen Werte geworden.13 Zwischen neu angelieferten und übrig gebliebenen Baumaterialien, unwegsamen Schottermassen und achtspurigen Autobahnen formten Tausende Menschen die schwarmartige Gestalt eines sich über mehrere Kilometer verstreuenden Schwarzmarkts. Berge von Altwaren und Stoffen vermischten sich auf dem unversiegelten Boden mit neuen Fernsehgeräten, Kühlschränken, Möbelstücken und Computern. An einem gut besuchten Tag bewegten sich mehrere Hunderttausend Menschen entlang dieser Baustelle des neuen Istanbuls. Der informelle Markt beschwört ein archaisches Modell von Stadt, die auf organische Art als Umschlagplatz an den Kreuzungen von Verkehrswegen und Handelsströmen entsteht, im Fall von Topkapı aber im Schatten der offiziellen Stadtplanung mitläuft und diese kurzfristig zu einem Vehikel der Informalität macht. Dieser Markt nimmt die halbfertigen Baustrukturen auf eine Weise in Gebrauch, die weniger mit ihrem vorbestimmten Nutzen oder den Vorstellungen und Bildern der modernen Stadtplanung als mit einer ungeplanten Nutzbarmachung und den ökonomischen Bedingungen der eingewanderten Landbevölkerung zu tun hat. Improvisation besetzt hier einen Raum außerhalb der Planung. Sie geht nicht von einem Zustand nach der Realisierung einer Planung aus, sondern realisiert deren Alternativen. Die Innovationskraft dieser informellen Ökonomien zeigt sich nicht nur in ihrer 13. Orhan Pamuk: Istanbul. Memories and the City, New York: Alfred A. Knopf 2005, S. 245f.

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schieren Größe, sondern auch an den weit reichenden Verflechtungen mit den sich daraus entwickelnden Dienstleistungssystemen wie Shuttle-Bussen, Straßenküchen, Zwischenhandel, Anlieferung, Viehverkauf und begleitenden kulturellen Unterhaltungen wie ad hoc errichteten Schießständen. Mit dieser bizarren Verflechtung von modernen Transportsystemen, symbolischen Stätten nationaler Renaissance und spontan losgetretenem Marktgeschehen, mit diesem visuell angereicherten Schauspiel der Komplexitäten von legaler Arbeit, ›Drittwirtschaft‹ und informellem Handel stellt Topkapı mehr als nur ein zufälliges Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kräfte dar. Die gesteigerte Durchlässigkeit von offiziellen und informellen Strukturen, die wuchernden Formen der Aneignung urbanen Raums und das beschleunigte Aufbrechen von kulturellen Territorien kennzeichnen typische Momente einer von der neuen Weltwirtschaft bestimmten Stadtkultur, in der die komplette Kontrolle eines Territoriums keine relevante Angelegenheit mehr ist. Im Unterschied zu territorial gebundenen Wirtschaftsformen bilden sich im Großen wie im Kleinen Raumstrukturen, die eine funktionale Separierung des Raums unterlaufen und sich als ein Geflecht von Netzwerken in die bestehende Geographie einschreiben. Die zentrale Frage, die sich aus diesen Beobachtungen herauskristallisiert, ist jene nach dem heutigen Ort von Planung als einstigem Hoffnungsträger der Moderne. Die selbstorganisierten Ökonomien der Istanbuler Armutsbevölkerung stehen in Opposition zu politischer Planung, andererseits sind sie untrennbar mit ihr assoziiert. Die Seite der Planung wird dadurch konstituiert, dass sie mit dem Problem umgehen muss, das die andere Seite für sie verkörpert. In dieser Logik operierend sind die modernen Planungsprojekte für Istanbul nicht bloß Lösungsversuche für die mit dem enormen Wachstum der Stadt verbundenen Probleme, sondern immer auch gleichzeitig Auslöser weiterer Konflikte. Was ein Straßenmarkt wie jener von Topkapı deutlich macht, ist die zunehmende Kraft, mit der Kreisläufe der dritten Welt ohne die lange Zeit als geregelt angesehene räumliche Abschirmung oder Mediatisierung auf jene der ersten Welt treffen. Bestimmend dabei ist, dass es keinerlei erkennbare Grenzlinien und vor allem kein verbindliches Rahmenwerk gibt, auf dessen operationaler Grundlage ein Austausch zwischen den Systemen stattfinden würde. Ob der Mini-Bus, den wir herbeiwinken, hält, wissen wir tatsächlich erst, wenn wir eingestiegen sind. Damit gleicht eine Teilnahme an den sozialräumlichen Prozessen, für die der informelle Markt im Getriebe Istanbuls steht, 85

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im Kern der von Ernesto Laclau als Metapher gebrauchten Aufführung, zu der wir immer zu spät kommen. Wir leben als ›Bricoleure‹ in einer Welt der unvollständigen Systeme, deren Regeln wir mitprägen und umarbeiten, indem wir ihnen nachspüren. Genau in diesem Moment liegt nach Laclau auch der Schlüssel zu Emanzipation(en): Inmitten der ungeplant begonnenen Auff ührung suchen wir nach mythischen und unmöglichen Ursprüngen, ohne die Unmöglichkeit der Aufgabenstellung überwinden zu können. Was aber zählt, ist das Streben und Ringen nach Entscheidungen, die gerade deshalb nötig sind, weil es kein überwachendes und steuerndes Gesamtsystem gibt. Entgegen der radikalen Fundierung demokratischer Gesellschaft und steuernder Ordnungssysteme durch die großen Erzählungen der Moderne formt sich so ein Modell von politischer Praxis, das sich entlang einer Pluralität von Akten der Demokratisierung weiterentwickelt.14

Moskau-Izmailovo : Zu Gast bei Stalin 13 Tote und 53 teils schwer Verletzte, so lautete die Bilanz des Bombenanschlags auf dem Moskauer Cherkizovsky-Markt am 21. August 2006. Unter den Todesopfern sechs Tadschiken, drei Usbeken, zwei Russen, eine Weißrussin und ein Chinese, unter den Schwerverletzten viele Chinesen und Vietnamesen. Tatverdächtig sind drei junge russische Skinheads, die des vorsätzlichen, aus nationalem Hass ausgeübten Mordes beschuldigt werden. Unmittelbar nach dem Anschlag ging der Moskauer Staatsanwalt noch von internen Streitigkeiten zwischen kriminellen Verbindungen lokaler Händler aus, wie dies bereits zuvor für wiederholte Explosionen und Brandanschläge auf den Moskauer Märkten angenommen wurde: Am 26. März 2005 etwa fiel der 10.000 Quadratmeter große, in Holz errichtete pseudo-historische Schaukomplex »Kreml zu Izmailovo« des Kunsthandwerksmarkts Vernisazh einer derartig ›feurigen‹ Auseinandersetzung zum Opfer. Der Cherkizovsky-Markt im Nordosten Moskaus – oft auch als Izmailovo-Markt bezeichnet – ist einer der größten informellen Märkte Moskaus mit Verbindungen in die gesamte Russische Föderation und darüber hinaus. Auf einer etwa drei mal so großen Grundfläche wie 14. Ernesto Laclau: Emancipation(s), London und New York: Verso 1996, S. 79-82.

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jener des Moskauer Kremls formen über 15 spezialisierte Handelsplätze eine wuchernde Bazarstruktur, die das Izmailovo-Stadion auf allen Seiten umschließt und von eurasischen Märkten bis zu dem für Touristen errichteten Izmailovo-Kreml mit Wodka-Museum, Kunsthandwerksverkauf und nachgebautem Holzpalast Zar Alexanders reicht. Die ›Besitzer‹ dieser Märkte zählen zu den neuen Milliardären Russlands: Telman Ismailov etwa entwickelte aus jährlich einer halben Billion US-Dollar Mieteinnahmen am Cherkizovsky-Markt die AST-Gruppe, einen der größten Developer Russlands. Ein von Jennifer Lopez für kolportierte eine Million Dollar vorgetragenes Geburtstagsständchen etablierte ihn medienwirksam als einen der neuen Moskauer Oligarchen. Am anderen Ende dieser neuen Marktwirtschaft finden sich Tausende Arbeitsmigranten aus Tadschikistan, Usbekistan, China und dem erweiterten Südostasien, die als Standaufseher, Träger oder Teeverkäufer sieben Tage die Woche auf dem Markt arbeiten und in den als Lager genutzten Metallcontainern sowie in den Kellern des Stadions hausen: In diesem Zustand moderner Sklaverei sind sie neben ausbeuterischen Arbeitgebern auch der Polizeiwillkür und jugendlichen Schlägerbanden ausgesetzt, sodass sich viele kaum mehr als hundert Meter vom Markt zu entfernen wagen. Im September 2006, einen Monat nach dem Bombenanschlag, verkündete der Moskauer Stadtrat wie schon einige Male zuvor, dass der Markt bis Ende 2006 geschlossen werden soll. Wenige Wochen später folgte die Erklärung des zuständigen Leiters des Moskauer Marktamtes, dass die Stände auf dem Gelände der Russischen Sportuniversität (RGUFK) bis 1. Juli 2007, die restlichen bis Ende des Jahres 2007 abgebrochen und das Gelände endlich wieder seinem eigentlichen Zweck, der Pflege von Körperkultur, zugeführt werden sollte. Aber wie lässt sich ein ›eigentlicher‹ Zweck eines Ortes gerade in einer Zeit globaler Umstrukturierungen festmachen? Entspricht die sportliche Nutzung tatsächlich der ursprünglichen Planung? Oder ist sie nicht selbst ein Nebenprodukt, eine parasitäre Nutzung von Möglichkeiten? Während der XXII. Olympischen Sommerspiele 1980 fungierte das Gelände der RGUFK als eine der Moskauer Spielstätten. Für die Wettkämpfe im Gewichtheben wurde die neue Halle des Izmailovo-Sportpalasts errichtet; im Süden des Geländes, neben der U-Bahn-Station Izmailovo Park das Olympische Dorf in Form eines viertürmigen Hotelkomplexes mit 8000 Betten. Das in der Mitte des Geländes gelegene Stadion selbst stammt hingegen bereits aus den 30er Jahren des 20. Jahrhun87

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derts – ein Fragment des unter Stalin für 120.000 Zuschauer geplanten, allerdings nie vollendeten Zentralstadions der Sowjetunion und zugleich Camouflage des »Ersatz-Kommandopunkts des Obersten Befehlshabers der Roten Armee I.V. Stalin«. Denn der Bau dieses Stadions beruhte auf mehr als rein sportlichen Motiven: Nicht nur sollte es größer als das Berliner Olympiastadion sein und seine besondere asymmetrische Form grandiose militärischen Paraden erlauben, bei denen die Panzerkolonnen vom östlich gelegenen Paradefeld unbehindert in das Stadion einrollen können, sondern das Stadion selbst war Teil einer großangelegten, die gesamte Sowjetunion umspannenden militärischen Infrastruktur. 17 Kilometer östlich des Kremls gelegen sollte der unter dem Stadion errichtete Bunker bei einem Überraschungsangriff Hitlers auf Moskau als Zwischenstopp auf der Evakuierung des sowjetischen Kommandos in den Ural, in das 1000 Kilometer entfernte Samara dienen. Damit waren sportliche Veranstaltungen in Izmailovo immer schon Teil eines viel größer angelegten Regimes an Täuschungen und Ersatzhandlungen, für dessen Erhalt kulturelle Auff ührungen ebenso eine Rolle spielen wie strategisch implantierte Baulichkeiten. Sie unterstützten eine Politik, die in der Umgestaltung des RGUFK-Geländes in einen der größten informellen Umschlagplätze der Russischen Föderation eine neue Blüte erfuhr.

Abbildung 33: Izmailovo-Stadion im Cherkizovsky-Markt, 2008

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Abbildungen 34-36: Cherkizovsky-Markt in Moskau-Izmailovo, 2006 Der Cherkizovsky-Markt nahm seinen Ursprung in den von der Perestroika geforderten Eigeninitiativen, unter deren Banner Mitglieder des staatlichen Sportinstituts begannen, das Gelände samt Gebäuden unternehmerisch zu verwerten. Im Juni 1989 nahmen Sergei Korniyenko und ein »Kollektiv von Enthusiasten« die Stadionbauten in Pacht. Der Vertrag sieht vor, dass die Zuschauertribünen und Sportfelder für Veranstaltungen wie die Spartakiade 2000 (»Für ein einheitliches und gesundes Russland im 21. Jahrhundert«) zur Verfügung stehen, während die übrigen Räumlichkeiten, etwa jene unter den Tribünen, kommerziell genützt werden können. Das 1989 gegründete Sportgesundheitsunternehmen FOP erwies sich hier als äußerst erfinderisch und betreibt mit dem 1995 gegründeten Kulturgeschichte-Zentrum Izmailovo (NIC Izmailovo) so unterschiedliche Unternehmungen wie einen Armbrust-Schießstand, einen Aero-Fitness-Klub, verschiedene Bars, die Lux-Sauna, den »auf europäischem Niveau« operierenden Schönheitssalon Alain sowie eine »Schule für geistige Entwicklung« namens »Preobrazheniye« (deutsch: Wandlung), die von einem kosmischen Wunderheiler geführt wird. Darüber hinaus war FOP wesentlich an der ›Wiederentdeckung‹ des ehemaligen Stalinbunkers beteiligt. Gemeinsam mit den Veteranen des Klubs »Die eiserne Division« wurde ab 1994 am Auf bau einer 90

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Museumsschau gearbeitet, die vom Zentralen Museum der Streitkräfte als Filiale übernommen und am 1. September 1999 eröff net wurde. Angrenzend an die Bunkerräumlichkeiten betreibt FOP ein Restaurant georgianischen Stils mit dem Namen »Zu Gast bei Stalin« sowie einen 200 Personen fassenden Konzertsaal, der für Auff ührungen des Prinz Sergei Korniyenko-Orchesters genützt wird. Wenn auch der Bunker von Stalin selbst angeblich nie benützt wurde – so wie auch das Stadion nie seine ursprünglich formulierten Ambitionen erreichte –, kann heute für etwas mehr als 100 US-Dollar eine Bunkertour gebucht werden, die neben dem Besuch des nachgebauten Sitzungssaals des Oberkommandos der Roten Armee und der Arbeits- und Erholungsräume Stalins ein anschließendes Dinner bei ›Stalin‹ beinhaltet. Auch Alexander Ushakov, der Generaldirektor von VernisazhIzmailovo, eine weitere auf dem Gelände operierende Gesellschaft, war als aktiver Sambo-Sportler und späterer Sporttrainer Angehöriger der RGUFK. Ushakov übernahm von der RGUFK das Flohmarktgelände südlich des Stadions und begann mit dem Aufbau des VernisazhKomplexes, der in einer Art Disneyland auf 20.000 Quadratmetern unzählige Nachbauten und Versatzstücke der russischen Baukunst versammelt. Umgeben von den folkloristischen Kulissen eines alten russischen Dorfes mit fortartigem Wildwest-Einschlag, wird hier eine Mischung aus russischem Kunsthandwerk und Sowjetsouvenirs wie Fellmützen und Matroschka-Puppen angeboten. Der mit der Perestroika entstandene Tourismusmarkt Vernissage verweist auf die großen Erwartungen, die der westliche Markt verspricht; der weitaus größere Teil des Cherkizovsky-Marktes gleicht diese Erwartungen mit den informellen Ökonomien ab, die von den neuen Marktsystemen der deregulierten Transformationsgesellschaften des Ostens geschaffen wurden. Sollte das Stadion ursprünglich eine Arena bieten, um in Massenauff ührungen die Größe der politischen Ordnung der Sowjetunion zu demonstrieren, so formt es heute als archäologische Stätte die innere Leere einer babylonischen Stadt-in-der-Stadt, in deren Ritzen die Ameisen der Globalisierung eingezogen sind. Auf dem unter dem eurasischen Markt verschwundenen Paradefeld rollen keine revolutionären Panzer und marschieren keine vaterländischen Armeen auf, stattdessen schwärmen im endlosen Labyrinth seiner kilometerlangen Hallen Tausende Träger und Teeverkäufer aus, um diesen rohen Organismus des Handelns am Leben zu halten. Als zentraler Umschlagplatz der Notwendigkeiten des bloßen Lebens ist der Cherkizovsky-Markt ein 91

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umkämpfter Schauplatz kultureller Identitäten geworden. Versuche der Rekonstruktion einer russischen Nationalidentität treffen hier auf die komplexen Realitäten einer globalisierten Migrationsökonomie: Die fortlaufende Kommerzialisierung kleinster Nischen produziert eine Vielzahl an unvorgesehenen Räumen für mikro-kulturelle Verhandlungen, etwa für die 3000 auf dem Markt arbeitenden Bergjuden aus dem Kaukasus, denen ein 20 Quadratmeter großer, mit Teppichen ausgelegter Raum zwischen Schuhlagern und Sportlertoiletten in den Kavernen der Stadiontribünen als Synagoge dient. So wie die Mehrheit der Hunderttausenden mit dem Markt verwobenen Existenzen werden sie gleichzeitig marginalisiert und ins Visier des global ausgetragenen Zerrens um kulturelle Identität genommen. Den einen gelten sie als ›Schwarze‹, den anderen sind sie nicht orthodox genug, wieder andere zweifeln, ob sie überhaupt Juden sind.

Abbildung 37: ›Kreml zu Izmailovo‹, 2008 Wurde die Umsetzung der Pläne zur Schließung der Märkte aufgrund der guten Kontakte der Besitzer zu Regierung und Bürgermeister immer wieder hinausgezögert, so hat eine am 1. April 2007 in Kraft getretene Verordnung, die den Anteil ausländischer Arbeitskräfte auf Märkten auf 40 Prozent einschränkt, tatsächliche flächendeckende Auswirkung. Von Moskau bis Wladiwostok wird von einem völligen Zusammenbruch der Märkte berichtet, der nicht nur die am Markt beschäftigten Migranten betriff t, sondern alle verarmten Teile der 92

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russischen Bevölkerung, die auf die günstige Versorgung auf diesen Märkten angewiesen waren. Diese Politik Putins (»Russland den Russen«) wird vielfach als taktisch motivierte Reaktion auf die Zunahme rassistischer Gewalttaten gewertet, sodass die Bombenleger vom 21. August 2006, denen »zu viele Asiaten auf den Märkten« waren, letztlich nicht nur 13 Menschen getötet und 53 verletzt, sondern in der Folge auch geschätzte fünf Millionen illegaler Migranten in Russland in ihrer gesamten Existenz getroffen haben. Die polizeiliche Schließung des Cherkizovsky-Marktes am 29. Juni 2009 und die Räumung der Marktanlagen bis Mitte 2010 bedeuten nun das endgültige Aus für den informellen Teil des Marktes, ein 300 Hektar großes Gebiet, auf dem zuletzt mehr als 60.000 chinesische Händler ihren Geschäften nachgegangen sind. Der Kampf gegen geschmuggelte Billigprodukte, unzumutbare Arbeitsverhältnisse und organisierten Zollbetrug hat damit den umsatzstarken Privathandel zwischen China und Russland in eine schwere Krise geführt. In kurzfristig anberaumten Gesprächen zwischen einer Delegation des chinesischen Handelsministeriums und der russischen Regierung wurde daher als gemeinsames Ziel die Errichtung einer »standardisierten, transparenten und zweckdienlichen Handelsumgebung« im kommenden Jahrzehnt vereinbart.15 Auf einem Teil des geräumten Areals sollen mehrere Shopping-Center entstehen, auf einem anderen Teil ist der Bau neuer Sporteinrichtungen vorgesehen. Beide Regierungen versprechen sich davon eine Verbesserung ihrer strategischen Zusammenarbeit, eine Stabilisierung der Handelsbeziehungen und nicht zuletzt auch neue Steuereinnahmen.

Marktgemeinschaf ten Die komplexe Transformation der drei behandelten Schauplätze gibt zu erkennen, wie Märkte als dynamische Kraft in der Gestaltung von neuen Formen kollektiven Austauschs wirken und wie diese Gestaltung mit den Ästhetiken der Neuordnung von Gesellschaftssystemen zusammenspielt. Trotz der vielen Unterschiede im Zusammentreffen 15. »Cherkizovsky Market Closure Heralds Transformation of Trade«, in: China

Daily. Online: www.chinadaily.com.cn/world/2009-08/06/content_8533540. htm vom 15. August 2009.

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von historischen Verläufen und lokalen Prozessen ähneln sich so die informellen Handelsräume entlang der byzantinischen Stadtmauer in Istanbul, im Auf bau einer Volkswirtschaft im Brčko-Distrikt und in der endlosen Transformation einer national bedeutsamen Moskauer Kulturstätte. Alle drei Märkte sind in einer hybriden Situation entstanden und gewachsen, in einem Mäandern zwischen Informalität und Planung, und in engem Dialog mit strategisch wichtigen Typologien der modernen Stadtplanung: Sport- und Ausbildungsstätten, Verkehrsbauten und Militäranlagen. Im Stadionbereich von Moskaus Cherkizovsky-Markt; zwischen den neu gebauten Schnellverkehrssystemen und der historischen Befestigungsanlage in Istanbul; an einem von internationalen Truppen kontrollierten Checkpoint im bosnischen Kriegsgebiet. Die drei konkreten Märkte sind heute im Schließen (Moskau), werden in legalisierte Strukturen umgebaut (Brčko) oder an andere Standorte verdrängt (Istanbul). Das Schicksal dieser Knotenpunkte selbstorganisierten Handels ist ähnlich jenem anderer informeller Märkte. Es folgt etwa dem Muster der langsamen Absiedelung des Jarmark Europa aus dem Dziesięciolecia-Stadion in Warschau oder der Beseitigung des ›Polenmarkts‹ unweit des Potsdamer Platzes in Berlin zur Zeit des politischen Umbruchs 1989. Diese Märkte behaupten sich als kurzfristige Plattformen für experimentelle Urbanität auf der Mikroebene des Alltags, weichen dann dem politischen Druck zur Schaff ung einer neuen architektonischen Ordnung, die normative Urbanität wiederherstellen soll, und tauchen später an anderer Stelle wieder auf. Obwohl diese experimentellen Strukturen immer wieder von der Oberfläche verschwinden, erzeugen sie Spuren im Gewebe der Stadt. Sie transferieren Bilder, Gedanken und Werte zwischen unterschiedlichen Welten. Mit jeweils improvisierten Technologien, Infrastrukturen und Raumpolitiken kreieren sie Öffnungen für neue urbane Situationen und neue Verbindungswege zwischen Lokalem und Globalem. Die Bezeichnung »informeller Markt« bezieht sich als Sammelbegriff auf verstreut agierende Phänomene des Handels, deren Dynamiken und räumliche Materialisierungen recht unterschiedlichen Charakter haben, wenngleich sie meist mit politischer oder ökonomischer Transformation verbunden sind. In ökonomischer Hinsicht richtet sich der Begriff auf Einnahmen, deren Generierung nicht von gesellschaftlichen Institutionen geregelt wird und in einer rechtlichen und sozialen Umgebung stattfindet, in der ähnliche Aktivitäten einer 94

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genauen Regelung unterworfen sind.16 Informelle Märkte bezeichnen die unkontrollierten Ströme von großräumigen Pendelunternehmen wie dem osteuropäischen ›Kofferhandel‹ ebenso wie die mobilen und grenzüberschreitenden Netzwerke des Kioskhandels oder die wuchernden Agglomerationen von temporären Grau- und Schwarzmärkten, die als Zwischennutzung von freiwerdendem Gelände allerorts Raum beziehen. Diese global verteilten Knoten der informellen Ökonomie sind meist Effekte politischer Umbrüche, globaler ökonomischer Deregulierung und der damit einhergehenden Migrationsbewegungen und neuen Arbeits- und Produktionsformen. Sie entstehen heute am Übergang von nationalstaatlicher Kontrolle zur global orientierten neoliberalen Kontrollgesellschaft, für die der Staat weniger Disziplinarorgan als zweckdienliches Regulierungsinstrument von ›informellen‹ Arrangements ist. Angetrieben vom neuen Imperativ der sozialen Mobilität und im Sog der Ausbreitung transnationaler Räume durch die ungleichen Bewegungen von Tourismus, Migration und Flucht haben sich informelle Markttypen gebildet, die aus lokalen Gelegenheiten heraus zu neuartigen und extremen physischen Konfigurationen abseits des alten Zentrum-Peripherie-Modells geführt haben. Diese räumlichen Strukturen sind Zwischenzonen, auf die verschiedene Interessengruppen, lokale wie globale, kapitalstarke wie kapitalschwache, formelle wie informelle gleichermaßen zugreifen. Im Gegensatz zur Zentrum-Peripherie-Logik führen die gegenwärtigen Wirtschaftsprozesse zu räumlichen Netzstrukturen, an deren Knotenpunkten sich Pole wirtschaftlicher Entwicklung von der unmittelbaren Umgebung absetzen. Wie der Ökonom Pierre Veltz in seinem Modell der Archipelwirtschaft skizziert hat, steht einer fortlaufenden Homogenisierung im großen Maßstab eine Fraktionierung im kleinen Maßstab gegenüber. In den zahlreichen Zwischenräumen des Archipels, wo mit sozialem Kapital, Vertrauen, geteilter Kultur und unausgesprochenem Wissen operiert wird, liegt eine neue Zone der Herstellung selbstorganisierter, kleinräumiger gesellschaftlicher Zusammenhänge mit einem Reichtum endogener Entwicklung.17 In dieser 16. Alejandro Portes und William Haller: »The Informal Economy«, in: Neil J. Smelser und Richard Swedberg (Hg.), Handbook of Economic Sociology, 2. Aufl age, New York: Russell Sage Foundation 2005. 17. Pierre Veltz: Mondialisation, Villes et Territoires. L’Économie d’Archipel, Paris: Presses universitaires de France 1996.

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archipelisierten Gesamtverteilung wirtschaftlicher Macht entsteht eine neue Form von Effizienz, aus der sich entsprechende räumliche Imperative ergeben: Im Unterschied zum Fordismus resultiert die Effizienz einer Archipelwirtschaft nicht aus Formen der Arbeitsteilung, sondern aus der Qualität seiner Kommunikations- und Koordinationsprozesse, die aufgrund der speziellen räumlichen Streuung von Akteuren immer nur zum Teil standardisiert werden können.18 Um außerhalb von schwerfälligen Regelwerken Dinge spontan zusammenführen zu können, sind diese Prozesse auf informelle Beziehungsstrukturen angewiesen. Sie formulieren ein Modell der Verwicklung, das die Akteure dieser Märkte untrennbar mit den stattfindenden Transaktionen und mit der Selbstorganisation des Geschehens verbunden hält. Was Menschen, um von anderen Welten profitieren zu können, in einer solchen Umgebung zusammenführt, sind familiäre Verpflichtungen, Freundschaften, Abhängigkeiten, Schulden oder andere Verbindlichkeiten, die Hoffnung auf ein rasches Geschäft oder die Aussicht auf Gewinn durch den Weiterverkauf von Waren auf anderen Märkten. Eines der markantesten Kennzeichen des Aufschwungs an informellen Märkten in Europa in den zwei Jahrzehnten nach der Auflösung des Sowjetsystems besteht in der rasanten Ausweitung der Erschließung externer Netzwerke, die zu einem verstärkten Austausch mit außereuropäischen Märkten, insbesondere mit China geführt hat. Ein Operieren in so weitreichenden informellen Marktstrukturen ist auf besondere Qualitäten von Netzwerkverbindungen angewiesen. Langfristig aufgebaute Vertrauensverhältnisse, Loyalitäten, Gefälligkeiten und persönliche Abmachungen bestimmen das, was etwa im Zusammenhalt transnationaler chinesischer Communitys als »quanxi« zwischen verschiedenen Personen bezeichnet wird: einfach zu mobilisierende, auf persönlichen Kontakten basierende Austauschstrukturen jenseits von formellen Vereinbarungen.19 Der russische Begriff »blat« steht für eine ähnliche Form der Verwandlung von sozialem in finanzielles Kapital: »Blat«-Beziehungen umfassen dauer18. Pierre Veltz: »The Resurgent City«, Vortrag zum Leverhulme International Symposium ›The Resurgent City‹, London School of Economics, 19. April 2004. Siehe auch: ders., Le nouveau monde industriel, Paris: Gallimard 2000. 19. Anita Pozna: »Guanxi: A Safety Net of Personal Relations in the Transnational Chinese Community«, in: Attila Nemes (Hg.), Re:Orient. Migrating Architectures, Kunsthalle Budapest 2006, S. 20.

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hafte und dynamische informelle Beziehungen, von SchwarzmarktDeals und Parteikontakten bis zum Tausch von Dienstleistungen und wechselseitigen Behilflichkeiten im Alltag. Der nahtlose Übergang von sozialem Austausch in profitable Geschäfte fördert eine weiträumig expandierende Verschränkung von ökonomischen, ökonomisch herbeigeführten und außer-ökonomischen Phänomenen. Ein wichtiges Instrument dazu ist die zunehmende Verfeinerung der Kanäle, in denen Güter und Waren transportiert werden. Durch die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen wird dieser Transport zunehmend individualisiert und in eine Vielzahl kleinerer Orte und Lokalitäten verstreut, wo sich feinmaschige Netzwerke an informellen Handelsstrukturen beteiligen. Auf diese Weise sind informelle Märkte Teil der gleichzeitigen geokulturellen Fragmentierung und Vervielfältigung. Sie agieren als Leitbilder der Materialisierung einer neuen räumlichen Ordnung von sozialen Schichten, Kulturen, Regionen und Verbänden, aus der neue Strukturen zivilgesellschaftlichen Zusammenkommens hervorgehen.

Abbildung 38: Vier-Tiger-Markt, Budapest, 2008

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Schattenf iguren Informelle Märkte sind in mehrfacher Hinsicht Orte der Transition. Sie dienen zum einen als Ort für flüchtigen Aufenthalt und werden zum anderen selbst oft als bloßer »Übergangseffekt« verstanden, als Adapter zwischen ungeregelten Verhältnissen und Ordnung. Ein solches Verständnis stellt Transition als absehbaren Prozess dar, dessen Endpunkt als Ergebnis einer Reihe von Maßnahmen von vornherein feststeht. Es unterstellt das Vorhandensein einer zentralen Absicht, die Veränderung steuert – das Vorhandensein eines Ordnung schaffenden Plans und seiner Fähigkeit, das Ganze der Entwicklung erfassen zu können. Der Begriff von Transition, auf den wir uns in unserer Betrachtung beziehen, sieht in ihr jedoch einen Übergang in einen anderen, noch unbekannten Zustand, dessen räumliche Gestalt erst verzögert zum Vorschein kommt. Der Übergang ist zunächst unphysisch, erzeugt aber einen beschleunigten Raum, der im Fall von informellen Märkten von einer Überfülle an konfligierenden Zeichen und Bedeutungspraktiken gesättigt ist. So kennzeichnet Transition im Räumlichen uneindeutig geformte Orte, an denen eine Veränderung und Neuorganisation von Subjektentwürfen stattfinden kann. Informelle Märkte sind in diesem Sinn ungefestigte Orte, die nicht in der Matrix von territorialen und ideologischen Zugehörigkeiten von Individuen und Kulturen aufscheinen, Bahnen in denen Kulturen außerhalb der ihnen zugedachten Begegnungsstätten direkt mit den Kräften der Globalisierung interagieren und eine zweite Seite der liberalisierten globalen Kapitalmärkte ausbilden – ein flexibles Schattensystem, dessen Verhältnis zur homogenisierenden Kraft der neoliberalen Globalisierung vor allem durch seine paradoxe Produktion von Mikroschauplätzen kultureller Heterogenität charakterisiert ist. Hier treten die kulturellen Paradoxien der Globalisierung in deutlicher Gestalt zutage: Die Traditionen der Selbstaneignung von Raum und der Selbstorganisation von Märkten verbinden sich mit der Dynamik neoliberaler Globalisierung zu einer mit Widersprüchen ausgestatteten Gestalt von ungleichmäßig beschleunigter Netzwerkbildung, transterritorialer Raumschaff ung und veränderter kultureller Erfahrung. In der Betrachtung dieser Schauplätze können wir nicht über das stattfindende Kooptieren von Überlebensstrategien des globalen Südens durch neoliberale Politik und die dazu zweckdienlichen Mythen der Informalität als Ausdruck befreiter Individuation hinwegsehen. 98

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Mobile und flüchtige Akkumulation ist für das Funktionieren neoliberaler Kapitalmärkte ebenso attraktiv wie für die Organisation von Schwarzmärkten oder den Ablauf von künstlerischen Interventionen, und es gilt daher zu hinterfragen, welche strukturelle Verbindung hinter diesem gemeinsamen Interesse steht. Elmar Altvater und Brigitte Mahnkopf beschreiben Informalität als »Schockabsorber der Globalisierung« jenseits sozialstaatlicher Hilfen und fordern, dass sie »als Ausdruck struktureller Veränderungen im Verhältnis von globaler, nationaler und lokaler Ökonomie unter den Anforderungen globaler Wettbewerbsfähigkeit verstanden werden« muss.20 Diese komplexe Verstrickung von neoliberalen Regierungstechniken und Formen der Selbstorganisation, die Ausweitung der Marktmentalität 21 auf die Organisation von kreativen Prozessen und kritischen Praxen, hat zu einer mehrfach belasteten Ausgangslage geführt, um sich der Frage anzunähern, wie sich kulturelle Erfahrung organisieren lässt, die einen Raum für Ausdrucksweisen schaff t, dessen Umrisse noch nicht feststehen. Gerade der globale Kunstmarkt und der immer breiter werdende Markt der Kreativindustrie zeichnen heute jene Schablonen vor, über die sich Ästhetiken des Widerstands gezielt in einer spektakularisierten Konsumwelt fortschreiben und profitabel machen lassen. Der Kampf um eine Radikalisierung der Kultur durch die Verknüpfung von Kunst und Leben, den das erweiterte Feld von Kunst und Architektur in den 1990er Jahren begonnen hat, droht mittels der ausgedehnten Grenzen des neoliberalen Marktes in eine beauftragte Inszenierung seiner selbst abzugleiten. In diesem Klima der neoliberalen Aneignung von Formen der Aneignung, der Kontrolle von Kontrollkritik und der Abstraktion der Sinne durch die Versinnlichung von Abstraktion erscheint es auf den ersten Blick abwegig, gerade informelle Märkte als Ausgangspunkt zu nehmen, um über Modelle von alter20. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf: »Die Informalisierung des urbanen Raums«, in: Jochen Becker et al. (Hg.), Learning from* – Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation, Berlin: NGBK 2003, S. 24-25. 21. Karl Polanyi: »Our Obsolete Market Mentality. Civilization must find a New Thought Pattern«, in: Commentary 3, Februar 1947, S. 109-117. [Nachdruck in: G. Dalton (Hg.) Primitive, Archaic and Modern Economies: Essays of Karl Polanyi, Garden City, NY: Doubleday Anchor 1968.]

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nativen Ökonomien nachzudenken, in denen sich neue kulturelle Erfahrungshorizonte ohne zentrale Steuerung und ohne profitorientierten Bezugsrahmen organisieren lassen. Informelle Märkte sind nach Saskia Sassen das Billigpendant zur globalen Deregulierung und wirken in erster Linie als Zubringer der fortgeschrittenen urbanen Ökonomien, mit dem Unterschied, dass am unteren Ende des Spektrums Risiko und Kosten von den handelnden Akteuren selbst getragen werden müssen.22 Sie findet sich in einem Boot mit der Argumentation von Mike Davis, der in Planet of Slums ein Ensemble von epistemologischen Trugschlüssen zur Informalität anführt, um die strategische Gestalt der Ideologie informeller Organisation zu enttarnen. Von der Vielzahl versteckter Formen von Ausbeutung und der Verführung zur fanatischen Obsession mit quasi-magischen Formen des Gelderwerbs (Gewinnspiele, Pyramidenschemata etc.) bis zur Verminderung sozialen Kapitals durch zunehmenden Wettbewerb innerhalb des informellen Sektors dekliniert Davis all die Irrtümer, denen Anhänger einer »unsichtbaren Revolution« des informellen Kapitals wie der peruanische Ökonom Hernando de Soto unterliegen.23 Anstatt die versprochene Aufstiegsmobilität mit sich zu bringen, habe der in den 1980er Jahren einsetzende Boom des informellen Sektors verstärkt zu ethnisch-religiöser Differenzierung, zur Ausbeutung der Armen und zu städtischer Gewalt geführt. Davis’ Vorstellung einer Gegenoffensive zur neoliberalen Gestalt der Informalität besteht in einer Stärkung von Gewerkschaftsstrukturen und radikalen politischen Parteien und letztendlich in der Erneuerung weltweiter solidarischer Gemeinschaft im Zuge einer militanten Verweigerung der zugewiesenen Marginalität innerhalb des globalen Kapitalismus.24 Diese Fülle an Argumenten und Beweislinien und die dazu auf den Tisch gelegten Statistiken, Karten und Diagramme scheinen eine Verurteilung des Zustands der Informalität zu verlangen, eine Ablehnung, die sich auf gut dokumentierte Dynamiken von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung stützen kann. Die Rollen der Macht 22. Saskia Sassen: »Why Cities Matter«, in: La Biennale di Venezia (Hg.), Cities. Architecture and Society, Bd. 1, Venedig: Marsilio Editori 2006, S. 47-48. 23. Mike Davis: Planet of Slums, London und New York: Verso 2006, S. 178-185. 24. Ebd., S. 202.

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scheinen zu klar verteilt und gefestigt zu sein, um in der Art ihres Wirkens auch einen Raum für die Bildung alternativer sozialer Formationen ausmachen zu können. Was aber, wenn wir diese Logiken für einen Moment aufheben, um in dem von uns kritisierten Apparat der globalen ökonomischen Kontrolle eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten zu bemerken, die einen Raum für soziale Erfahrungen außerhalb der Grenzen seiner Machtausübung möglich machen. Wenn wir also jenseits der Grenzen, die vom Regime des Ökonomischen in die Welt gesetzt werden, einen politischen Raum der Grenze manifestiert sehen, der nicht über das Wirken der Ökonomie allein gesteuert werden kann und deshalb einen Raum für das Neuanlegen sozialer Ordnung schaff t. Dem Versuch, informelles Geschehen aus der Perspektive des Ganzen zu erklären, entgeht, wie sich lokale Räume durch eine Vielzahl von Akteuren und spontan koordinierten Verhaltensweisen ändern, die nicht über eine Kenntnis der Gesamtsituation eruierbar sind. So bleibt oft unbeachtet, welche einnehmbare Formation und welche Möglichkeiten der Veränderung Netzwerke informeller Organisation anbieten. Während Macht in solchen Netzwerken zirkuliert, sind Individuen nicht einfach nur das einwilligende Ziel dieser Machtausübung, sondern, wie Michel Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1975-1976 argumentiert hat, auch deren ›Schaltstelle‹. Macht ist eine Form von Ausmachung: Individuen untergeben sich der Macht, und sie üben Macht aus. Macht fließt durch sie hindurch, kann also aufgegriffen und umgelenkt werden.25 Einer der Wege von künstlerischer Intervention und politisch motiviertem Architekturdenken ist es daher, abseits der klischeehaften Begriffe von Slumkultur und Chaoswirtschaft, sozialer Mobilität und Übergangsgesellschaft nach Vorstellungen, Eindrücken, Bildern und Erfahrungen zu suchen, die erhellen helfen, wie in diesen Räumen selbst organisierten Austauschs lokale Koordination stattfindet und wie die Kraft der Veränderung nicht analog zu Besitztum oder Waren angeeignet und weitergegeben, sondern über differenziert strukturierte Netzwerke ausgeübt wird. In solchen Betrachtungen informeller Märkte geht es nicht darum, was diese Märkte an sich darstellen und was sie bezwecken sollen, sondern darum, was sie auf einer anderen Ebene ermöglichen helfen. 25. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 44-45.

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Informelle Märkte schaffen ein konfliktreiches Feld von Zugängen, ohne Prinzipien der Zugänglichkeit darzulegen. Sie sind kein Raumkonzept, sondern ein Ausdruck sozialer Praxis. Unser Interesse ist also besonders an jenem Punkt orientiert, wo Transformationen stattfinden, indem sich informelle Marktrealitäten mit dem verbinden, was ihr Feld der Anwendung ist: der Ort, an dem sie sich festsetzen, zu neuen Gebilden verdichten und Effekte hervorrufen, die das Feld sozialen Wahrnehmens und Handelns weiten. Im Erkunden solcher Schauplätze interessiert uns, in anderen Worten ausgedrückt, wie sich ein alternatives Engagement mit den spontan hervorbrechenden Räumen informellen Marktgeschehens, mit seinen physischen und visuellen Eigenheiten bilden lässt, um so jene Logiken des Widerstands zu bereichern, die nicht nur konkrete Erfahrungen selbst berühren, sondern auch den Horizont und die Modalitäten, die für die Organisation dieser Erfahrungen verantwortlich sind. Was wir mit einem solchen Engagement verbinden, ist keineswegs die Produktion einer Karte, die ein spezifisches Geschehen für spezifische Orte reklamiert und eine Geographie von ›Orten informellen Handels‹ darstellt. Ebenso wenig geht es hier um eine umfassende Typologie von informellen Märkten oder eine Typologie der Räume, in denen informeller Handel stattfindet. Was die Zuwendung zur Komplexität lokaler Situationen bezweckt, ist vielmehr ein Aufsuchen jener Perspektive, aus der die vielen flüchtigen Ströme des Zusammenkommens, Aggregierens und Zerstäubens, die informellen Austausch ausmachen, selbst gedacht werden. Das Lokale ist das Gelände, auf dem sich die dynamischen Bewegungen von unzähligen Akteuren über verstreute visuelle Hinweise, physische Markierungen, spontane Szenen und kleine organisatorische Veränderungen Spur für Spur einschreiben und aus dem heraus ein Netzwerk an Translokalitäten zu wachsen beginnt.

Grenzökonomien Einer der virulentesten Konfliktschauplätze unserer Epoche ist der Übergang nationalstaatlich zentrierter Regierung zu einem Ensemble von Formen des Regierens und Regulierens, das immer mehr auf die Mentalitäten von Netzwerken und Märkten abgestimmt ist. Im Wandel des Zusammenhalts dringen temporäre Geographien ungleich gesättigter Machtkonstellationen empor, die auf eine Größe besonders 102

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angewiesen sind: mobile und kurzfristige Akkumulation. Entlang von globalen Marktrealitäten kreiert die Ausweitung von Markttechniken auf alle Lebensbereiche, die Foucault als das Prinzip neoliberaler Gouvernementalität charakterisiert hat, neue Beziehungen zwischen Welt und Subjekt. Gouvernementalität arbeitet so an einer liberalisierten Ökonomie des Ontologischen. Jede ›Regierungsmaßnahme‹, also jede Maßnahme der Lenkung, Kontrolle und Leitung von Individuen und Kollektiven, die in diesem Gefüge Platz greifen will, muss nach Foucault zunächst den ›Markttest‹ bestehen. Ein wichtiger Teil dieser Ökonomisierung des Sozialen liegt in der Ausweitung und Naturalisierung von gouvernementalen Aktivitäten, als deren Produkt der homo oeconomicus hervorgeht: ein der Maximierung persönlichen Nutzens verpflichteter gesellschaftlicher Akteur.26 Foucault weist aber auch darauf hin, dass Menschen nie vollständig in der Rolle des homo oeconomicus handeln. Regierungskünste erlauben den Subjekten auch eigensinniges Handeln, Abweichungen und absichtliche Verfehlungen, die gegen die Ziele der Regierenden gerichtet sein können, indem sie etwa Märkte herstellen, die soziale Erfahrungen außerhalb der dafür vorgesehenen Kategorien ermöglichen. Sie erlauben in diesem Sinn ein widerständiges Handeln, das alte Kategorien blockiert, um neue Wege der Selbst-Konstituierung zu erzeugen. Märkte können so ein Schauplatz sein, der gesellschaftliche Normalisierung exponiert und Widerstand verhandelt. Die Rolle des homo oeconomicus kann in neoliberaler Ökonomie nur als utopischer Nukleus gelten, der dazu nützt, Regierungsmacht auf jene Bereiche einzuschränken, in denen es zu keinen Konflikten mit der Praxis sozialen Lebens kommt. Sie ist in diesem Sinn eine zweckdienliche Schnittstelle zwischen Regierung und Individuum.27 Durch den steigenden Einfluss, den ökonomisches Wissen auf soziale Organisation heute nimmt, und durch die Dominanz von gesellschaftlich akzeptierten Wissensstrukturen, die Kapital aus den entlegensten Bereichen kultureller Produktion zu machen versuchen, weiten sich aber die Konfliktbereiche, wo ökonomische Anforderungen und soziale Netzwerkstrukturen ineinander übergehen. Die Frage, wie in einer 26. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik: Vorlesungen am Collège de France (1978-1979), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 375-380. 27. Ebd., S. 380-382.

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solchen Situation soziales Verhalten durch ökonomische Kalkulation aus seinem Kontext entfernt und seinen Netzwerken entrissen wird, bildet den Grundgedanken der von Bruno Latour, Michel Callon und John Law in den 1990er Jahren entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). In »Actor-Network Theory – The Market Test«, einem Essay, dessen Titel auf Foucaults Markttest liberalen Regierens anspielt, argumentiert Callon, dass Märkte nicht in Netzwerke eingebettet sind, selbst wenn sie deren Ströme und Intensitäten für ein Zusammenkommen des Handels nutzen, weil sie ansonsten keine kalkulierenden Akteure produzieren würden, die Konflikte bereinigen, indem sie Preise festlegen. Homo oeconomicus und homo sociologicus seien keine einander entgegengerichteten Kräfte, sondern individuelle Agenten mit perfekt stabilisierten Kompetenzen.28 Während in Mark Granovetters viel zitierter »Theorie schwacher Bindungen« (soziale) Netzwerke das Milieu darstellen, das Märkte konfiguriert,29 sind es nach Ansicht Callons gerade jene Einrichtungen und Elemente (Warenkataloge, Anonymitätsverfahren, Finanzkontrollen etc.), die Netzwerke zurückweisen und einen Raum der Kalkulierbarkeit erzeugen, und zwar durch das Rahmen von Transaktionen und durch das Schaffen einer Arena, die das, was sich als ungeregeltes Gefüge zusammensetzt, in einzelne Bestandteile auftrennt. Die Kalkulierbarkeit, die sich in der Vorstellung Callons solcherart einstellt, beruht auf Prozessen der Entflechtung, Abgrenzung und Ablösung von Teilen eines Netzwerks, auf einer Destabilisierung alter Beziehungsmuster zugunsten eines übergeordneten Marktinteresses. Inmitten radikal unbestimmter und fließender Kommunikationen bilden sich so Fixierungen und Rahmungen, die in Distanz zu schwachen sozialen Bindungen agieren können. In einem flüssigen Beziehungsgefüge werden, kurz gesagt, Klammern gesetzt, um Möglichkeiten für ökonomische Koordination und klares Kalkulieren zu schaffen. Dieser notwendige Prozess der Entfremdung, auf den sich der Markt aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie stützt, führt zu einer großen Bandbreite an Rahmungen und Konfigurationen, 28. Michel Callon: »Actor-Network Theory – The Market Test«, in: John Law und John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell 1999, S. 181-195. 29. Mark S. Granovetter: »The Strength of Weak Ties«, in: American Journal of Sociology 78, Nr. 6 (1973), S. 1360-1380.

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Hand in Hand mit der Bildung von sozialen, psychologischen und kommunikativen Horizonten des Lebens. Er wird von einer Fülle von unterschiedlichen Einzelinteressen getragen, die mithilfe ökonomischer Kalkulationen zu einem Ausgleich geführt werden. Weil nicht alles ausgeglichen werden kann, braucht es Strategien für den Umgang mit Overflows. Es bilden sich Beziehungen, die nicht in einem kalkulierten Rahmenwerk aufscheinen: Externe Effekte, die sich zum Teil internalisieren lassen, dabei aber auch neue Externalitäten produzieren. Jedes Geschäft, das am Markt abgeschlossen wird, erzeugt in anderen Worten Nebengeschäfte, die der Kontrolle der zentralen Akteure entweichen. Deshalb werden auch Elemente gebraucht, mit denen die Externalitäten zur lokalen Feinjustierung von kalkulierten Prozessen eingesetzt werden können. Susan Leigh Star und James Griesemer haben für solche Elemente die Bezeichnung »Grenzobjekte« geprägt. Grenzobjekte dienen zum einen der Stabilisierung von Handlungen in einer gemeinsamen Marktumgebung und zum anderen dem Öffnen eines Marktes gegenüber anderen Welten. Ihre Bedeutung passt sich sozialen Welten an, aber ihre Struktur ist von so allgemeiner Natur, dass sie zwischen verschiedenen Welten vermitteln können. Der Umgang mit Grenzobjekten ist daher ein entscheidender Vorgang in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von einander überschneidenden sozialen Welten.30 Mit ihrer Hilfe werden Austrittspunkte geschaffen, die Overflows den nötigen Raum geben. Wenn der neoliberale Antrieb, den geregelten Markt zu übervorteilen, auf immer mehr Menschen triff t, die von den Regeln ausgeschlossen sind, wächst der Druck für die Herstellung einer anderen Art von Austausch, bei dem eine Reihe von Übereinkünften außer Kraft gesetzt werden. Weil der informelle Markt die offiziellen Regeln nicht befolgt, kann er sich auch nur bedingt auf sie verlassen. Um dieses Handelsgefüge aufrecht zu erhalten, braucht es ein Netzwerk an Informanten, Vermittlern, Schiebern und Zwischenhändlern. Diese für das Funktionieren der informellen Märkte wichtigen Netzwerke formen hoch effiziente Grenzökonomien, mit denen der gewaltige 30. Susan Leigh Star und James R. Griesemer: »Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39«, in: Mario Biagioli (Hg.), The Science Studies Reader, New York und London: Routledge 1999 [1989], S. 503-524.

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Overflow des informellen Handels aufgefangen werden kann. Das aus dieser kollektiven Anstrengung an Nebengeschäften hervorgegangene Netzwerk führt zu einer Verschiebung der Regeln, indem es deren Aktualisierung verweigert. Eingriffe in Overflows sind zugleich auch Teil des Repertoires, mit dem zeitgenössische Kunst- und Architekturpraxen den Rahmen ihrer geopolitischen Erkundungen manipulieren, um neue Zusammenhänge aufkommen zu lassen. In vielen unterschiedlichen Projektformen betreiben sie ein Spiel mit den sensorischen Horizonten, vor denen wir den Fluss von Menschen, Gütern und Kapital wahrnehmen und mit ihm in Kontakt treten. Indem sie sich vernetzen, setzen ästhetische und politische Praxen andere Klammern in unserer Sichtweise der Welt, sei es im Herstellen eines ›dritten Raums‹ des Zusammentreffens, im Erkunden verdeckter Phänomene, im Skizzieren alternativer Austauschformen oder in der Diskussion über die Nutzung eines bestimmten Raums: Ein solcherart verschobener Handelsplatz produziert andere Nebenprodukte, ein anderes Set an Begegnungen abseits der üblichen Konventionen. Wenn so das Schaffen von Austrittspunkten sowohl ein Mittel künstlerischer Destabilisierung als auch ein kontrollierendes Instrument zur Regelung von Nischenbereichen ist, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis beide Kräfte zueinander agieren: Kommt dies einer Feinjustierung der Konfiguration dominanter Marktbeziehungen zugute oder bildet sich so ein loses Netzwerk an kreativen Zusammenschlüssen, in dessen Wirken neue Handlungsund Handelsorte entstehen können? Um nicht einem Modell von polarer Gegnerschaft das Wort zu reden, sollten wir die vorhandenen Kräfte von Beginn weg nicht als gegenläufige Bewegungen verstehen, als klare Opposition zweier Seiten, sondern als ein fortlaufendes Wechselspiel von unscharfen Figuren und Schatten, in dem Rahmungen und Overflows als Navigationsmittel eingesetzt werden, ohne starre Ziele festzulegen. Aus den Netzwerkbildungsprozessen im experimentellen künstlerischen und architektonischen Agieren geht hervor, wie sehr Rahmungen ein nützliches Prinzip darstellen, um Beziehungsstrukturen abzustecken und koordiniert operieren zu können, etwa in der gemeinsamen Wissensproduktion und Wissensverteilung. Auf Basis von Analysen der Schweizer Soziologen Urs Brügger und Karin Knorr Cetina hat Brian Holmes ausgeführt, wie Märkte als Wissenskonstrukte beschrieben werden können, als epistemische Objekte in einer Sphäre technologischer und institutioneller Rahmen. Als unvollstän106

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dige und veränderliche Konstrukte sind Märkte hochgradig instabil und variabel – eine Eigenschaft, die sie als lebendig und unvorhersehbar erscheinen lässt. Holmes schreibt: »What is at stake in the new art are framing decisions which set boundaries around productive groups (by constituting relational structures with unique parameters) and at the same time provoke displacements (by engaging processes of self-reflection and intervention on those constitutive structures).«31

Worum es in der Diskussion um das Interagieren von ökonomischer Kontrolle und kreativer Netzwerkproduktion also geht, ist nicht eine Frage von Rahmungen an sich, sondern die Frage der Verwendung von Rahmungen, kurz gesagt: die Politik ihres Einsatzes. Ob in sozialer oder politischer Hinsicht, die neuen Subjektivitäten der Migration, Deportation und Umsiedelung bilden einen wichtigen Nexus für Kontakte von sich streitenden Welten. Auf den Zustand der Verflochtenheit beharrend, arbeiten sie Verflechtungen in sich um und bringen so das Subjekt als einen umkämpften und fragmentierten Schauplatz hervor. Informelle Märkte geraten mit der offiziellen Gesellschaftsordnung in Konflikt, weil das ökonomische System andere Klammersetzungen vorsieht, als es die von der Globalisierung Betroffenen für ihr Überleben brauchen. Aufgrund des Drucks, ihre Sozialität in je unterschiedlicher Weise auszuklammern, stehen die über Informalität verbundenen migratorischen Ökonomien auch in Konflikt zueinander. Auf welche Weise die über den Overflow des Handels produzierten Kompensationen helfen können, diesen Konfl ikt zu verhandeln, prägt die Formen und Realitäten unseres Zusammenlebens. Erlauben diese Rahmensetzungen das Entstehen eines fruchtbaren, geteilten Terrains oder bedeuten sie das gewaltsame Unterbinden von Differenz? Resultiert der Overflow in einseitigem Profit oder ermöglicht er eine Redistribution von Beteiligungen, eine selbstbestimmte Reorganisation unserer Subjektivitäten? Ein Schlüsselmoment dieser Diskussion bildet das Operieren jenseits von bestehenden politischen Taxonomien. Viele traditionelle Taxonomien, die angewendet werden, 31. Brian Holmes: »The Artistic Device – Or, the articulation of collecti-

ve speech«. Online: Meteors, Université Tangente 2006, http://brianholmes. wordpress.com/2006/04/08/the-artistic-device/vom 15. August 2009.

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um die Dynamiken eines Marktgeschehen einschätzen zu können, beruhen auf einer Vorstellung von Netzwerkstrukturen als räumlich gebundenen Phänomenen, die klare Ziele erkennen lassen. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall, wenn wir etwa an die räumliche Realität von globaler Netzwerkmigration denken: abrupte Mobilität, hochgradige Unsicherheit und radikale Offenheit sind die bestimmenden Parameter einer solchen sozialen und ökonomischen Struktur. Es stellt sich hier die Frage, wie Handlungen in diesem Umfeld kalkuliert werden können, wenn keine stabilen und verlässlichen Prognosen vorliegen. Welchen ›Markt‹- und Erkenntniswert haben die im Bereich des Informellen zirkulierenden Rahmen? Informalität legt in gewissem Sinn eine Tarnkappe über die epistemischen Dimensionen von Handelsplätzen: Sie agiert als Wissensfi lter, der nur Teile des Marktgeschehens verständlich werden lässt, während trübe Segmente, dubiose Beziehungen und riskante Transaktionen unentdeckt bleiben sollen. Gerade dieser Aspekt der Wissensproduktion – Verschiebung, Verdunklung und aktive Unterschlagung von Wissen – macht einen guten Teil jener Aktivitäten aus, die nicht nur informellen Handel definieren, sondern auch das räumliche Entstehen, die Auflösung und Neuformierung von informellen Märkten bestimmt. Der informelle Markt ist ein Instrument verdeckten Handelns. Er ist in diesem Sinn keine logische Handlungsstruktur, sondern ein kontingenter Wirkmechanismus – ein an Gelegenheiten orientiertes soziales Gewebe, das laufend verhandelte Prinzipien von Wechselseitigkeit verfolgt, anstatt dem Gebot rationalen Kalkulierens zu unterliegen. Um weiterfolgende Transaktionen nach sich ziehen zu können, argumentiert AbdouMaliq Simone, sind die im Schatten von informellen Ökonomien entstehenden Formen urbaner Sozialität auf eine Abwendung von Öffentlichkeit, Überprüfung und Vergleich angewiesen. Er schreibt: »This process of assembling proceeds not by a specific logic shared by the participants but rather can be seen as a recombination of contingency. In other words, a coincidence of perspectives, interpretations, engagements, and practices that enable different residents in different positions to, either incrementally or radically, converge and/or diverge from one another and, in the process of doing so, remake what is considered possible to do.«32 32. AbdouMaliq Simone: For the City Yet to Come. Changing Life in

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Ein Grund, warum Rahmungsprozesse im Fall von informellen Märkten nie vollständig sein können, liegt so im Charakter informeller Organisation selbst. Aus Sorge um ihr Bekanntwerden sind ihre Rahmungen immer provisorisch und verformbar, immer in Bewegung, um nicht als fassbare Gestalt erkannt und einer vertrauten Taxonomie zugeführt zu werden. Die Bewegung endlosen Transfers ist das prägende Bild dieser globalen Mikrostrukturen: Dinge werden immer weiter transportiert, anstatt sie an den ein für allemal ›richtigen‹ Ort zu verladen. Das Werden dieses Orts liegt in den Bahnen der Bewegung selbst, und so kann der Prozess des Transports nie enden. Diese Stätten mobiler und flüchtiger Produktion – die Verlagerung, Verdunkelung und aktive Fragmentierung der Zusammensetzung des Archivs – liegen den Aktivitäten informellen Handels ebenso zugrunde wie der Entstehung, Zerstreuung und Neubildung von informellen Märkten: fehlende Auspreisungen, erschwindelte Angaben, behelfsmäßige Umschlagplätze, rasch wechselnde Zusammenstellungen, Räume voll von kulturellen Hybriditäten und eine Unmenge an Dingen, die für alles Mögliche zu gebrauchen sind. All das erlaubt uns, das Potential kultureller Begegnungen jenseits der formellen Marktvorgaben von Transparenz, Kalkulierbarkeit und Losgelöstheit zu lokalisieren. Eine Kakophonie von Klängen, Stimmen und Akzenten, die sich öffentliches Gehör verschaffen, ohne erst auf eine behutsam gestaltete Sprechsituation zu warten. Versprengte informelle Anordnungen von Ständen, Anhängern, Lastwagen und Zeltplätzen, die nicht gerade zu dem führen, was moderne Planung als eine ergiebige Form kulturellen Zusammenlebens bezeichnen würde, sondern anderswohin. Unregelmäßigkeiten, die das ›Mosaikuniversum‹ diasporischer Bewegungen kennzeichnen, wo sich nichts zu einer Totalität zusammenfügt, sondern seine Wechselbezüge beibehält, Verbindungen und Disjunktionen erfindet, deren Kombinationen immer einzigartig, kontingent und nicht summierend sind.33 Die Organisationsmechanismen informeller Märkte mögen wohl nicht als Idealentwurf für nachhaltige alternative Ökonomien, offene Gemeinschaftsvorhaben Four African Cities, Durham, NC and London: Duke University Press 2004, S. 14. 33. Maurizio Lazzarato: »To See and Be Seen: A Micropolitics of the Image«, in: Anselm Franke (Hg.), B-Zone: Becoming Europe and Beyond, Barcelona: Actar 2006, S. 296.

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und neue Zusammenschlüsse weltweiter Solidarität gelten. Sie können allerdings Vorgänge in institutionellen und nicht-institutionellen Ökologien zum Kippen bringen, die lange Zeit als unumstößlich galten. Diese Destabilisierung stellt nicht den Übergang von einem System in ein anderes dar, sondern den langsamen und konfliktreichen Prozess der Vervielfältigung von Systemen in ein Amalgam von Gleichzeitigkeiten, die einander brauchen und bedienen. Die Allianz zwischen informellen und formellen Austauschsystemen baut so ihre Ausbreitung nicht auf strikter Rahmensetzung auf, sondern auf fortgeführten Verwicklungen, für die Overflows weniger ein Nebeneffekt als ein Modus des spontanen Operierens, Tarnens, Erweiterns und Veränderns sind. Nicht trotz, sondern wegen ihrer Verstrickung verwandeln sich diese Gefüge in etwas Neues: Sie werden zu amphibischen Gestalten. Anstatt sich zu entflechten, vermehren sie sich und produzieren ein flüchtiges Gefüge an Wissen, das sich zwischen der Welt informeller Strukturen und dem aus ihr hervorgehenden Subjekt auszubreiten beginnt.

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Parallelwelten

»Gunners and Runners« »When you first arrive to Highbury, you are saying, ›Where is the stadium? Where is the stadium?‹ and then suddenly you are in front of it. You do not know why it is in the middle of the city. You are used to that here, but on the Continent we are not used to that – you see the stadium from three miles away. What I always like in England is that you feel the club belongs to the population around there – you can go out of the door and go to a football game. That does not exist anywhere else.« Arsène Wenger (Trainer des FC Arsenal, The Independent, 3. Mai 2006) »When it comes to our essential values – belief in democracy, the rule of law, tolerance, equal treatment for all, respect for this country and its shared heritage – then that is where we come together, it is what we hold in common. It is what gives us the right to call ourselves British.« Tony Blair (The Guardian, 9. Dezember 2006, Ausschnitt aus einer Rede des englischen Premierministers an ein geladenes Publikum in 10 Downing Street)1

Am 12. Mai 2006 fand das letzte Heimspiel des traditionsreichen Londoner Fußballklubs Arsenal, der sogenannten »Gunners«, in ihrem ebenso traditionsreichen Highbury-Stadion statt. Der Name »Gunners« verweist auf den Gründungsort des Klubs, die ehemalige Waffenfabrik Royal Arsenal in London-Woolwich, die im 19. 1. »Radical Muslims must integrate, says Blair«, in: The Guardian vom 9. Dezember 2006, S. 4.

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Jahrhundert eine der wichtigsten Produktionsstätten der englischen Rüstungsindustrie war. Die günstige Lage nahe der Themse machte Royal Arsenal zur bedeutendsten Nachschubzentrale von Militärmaterial für die koloniale Expansion des britischen Empire. In der 1886, am Höhepunkt der Expansion Arsenals zum größten Militärindustrie-Komplex in Europa, gegründeten Fußballmannschaft der Waffenfabrikarbeiter setzte sich der militärische Wettstreit in zivilen Ritualen der Vorherrschaft fort. Aus einem zwischen Gärten und Hinterhöfen gelegenen Spielfeld hervorgegangen, war das von 1913 bis 2006 bespielte Highbury-Stadion der »Gunners« nahtlos in die kleinräumige Nachbarschaft einer viktorianischen Wohnbebauung integriert, wo Kioske, Imbissbuden und Souvenirläden an Spieltagen kurzerhand Platz in Vorgärten und Einfahrten bezogen. Jedes Heimspiel im »Home of Football« wurde so zu einer ausufernden Inszenierung von Heimat: ein opulentes Schauspiel britischer Kultur, das vom Stadium auf die Nachbarschaft überschwappte und zahlreiche Mythen und Legenden prägte.

Abbildung 39: Nach dem letzten Spiel des FC Arsenal im alten Highbury Stadion, London-Finsbury Park, 2006

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Parallelwelten

Abbildung 40: Nach dem ersten Spiel des FC Arsenal im neuen Emirates Stadion, London-Finsbury Park, 2006 Britische Tageszeitungen wie der Evening Standard oder The Guardian druckten in den letzten Wochen vor der Schließung des Stadions ganze Sonderbeilagen mit wehmütigen Nachrufen auf diese historische Londoner Spielstätte: »Highbury war nicht irgendein Stadion, Highbury war eine Kathedrale des Fußballs.« Das Ende von »Highbury« setzte so auch jenen sakralen Handlungen ein Ende, mit denen das Stadion als Repräsentation von britischer Gemeinschaft inszeniert wurde. In Ashburton Grove, 500 Meter entfernt von der alten Spielstätte, befindet sich nun ein mit VIP-Lounges, Luxusrestaurants und multimedialer Infrastruktur ausgestatteter Stadionkomplex, kofinanziert von der saudiarabischen Staatsfluglinie Emirates. Der Wechsel ins neue Emirates-Stadion war erforderlich, um in der Oberliga der globalen Medienpräsenz weiter mitspielen zu können. Dieser Übergang von einer Kathedrale des Fußballs zu einer Kathedrale des Konsums markiert nicht nur eine örtliche, sondern auch eine kulturelle Ablöse: von lokal verankerten Pubs und Fish and Chips-Buden zur kommerziellen Mantelnutzung von multifunktionalen Stadionbauten; von einer lokal orientierten englischen Arbeiterkultur zu einer globalisierten Welt der Ströme. Das obere Ende dieser Transformation bedienen die Ströme des Kapitals, das untere Ende die Ströme der Migration. Zwei Geogra113

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phien des Umbruchs treffen so am Nord-Londoner Schnittpunkt Finsbury Park unvermittelt aufeinander: Die Welt des Fußballs und die postkoloniale Welt islamischer Kulturen in Europa. Wenn im Abbruch des Gebäudes der Verlust eines Stücks britischer Kultur beklagt wurde, dann ging es auch um ein Monument, das half, Realitäten rund um das Stadion auszublenden, die schon lange ein anderes Bild des heutigen Großbritannien zeichneten. Mit dem Umzug von Arsenal in das neue Emirates-Stadion hat nicht einfach eine lokale Bevölkerung ›ihr‹ Stadion im städtischen Hinterhof verloren, sondern auch ein Stadion ›seine‹ Bevölkerung. Diese Zerstäubung einer eindeutigen Beziehung von Sozialität und Raum findet auf mehreren Ebenen gleichzeitig statt: Zum einen über die Konfrontation von lokal geprägter Fußballkultur mit global agierendem Finanzkapital; dazu gehört der Kauf der Namensrechte des Stadions durch die im Emirat Dubai ansässige Fluglinie Emirates ebenso wie die mit dem neuen Stadion verknüpften Erwartungen, Londons Rang in der Liga der Weltstädte behaupten zu können. Zum anderen durch die Vermischung eines in sich gekehrten englischen Wohnquartiers mit den Netzwerken des globalen Dschihad: In unmittelbarer Nähe des Stadions befindet sich die Finsbury Park Moschee, eine 1990 von Prinz Charles und dem saudi-arabischen König Fahd eröffnete Glaubensstätte, die zwischen 1997 und 2003 dem radikalen Kleriker Abu Hamza al-Masri als Versammlungsort für Anhänger des islamischen Extremismus diente. Im Vorfeld des Fußballweltcups in Paris 1998 wurden erstmals Stimmen laut, aus Angst vor möglichen Terrorattacken in Paris Abu Hamza von der Moschee in Finsbury Park zu verbannen.2 9/11 beschleunigte die Ermittlungen zu staatsfeindlichem Operieren im Schatten der Moschee. Eine im Januar 2003 durchgeführte Razzia der britischen Antiterroreinheiten brachte nicht nur gefälschte Pässe und Kreditkarten, sondern auch Betäubungsgas, Jagdmesser und Handwaffen zum Vorschein. Konservative Zeitungen bezeichneten die Finsbury Park Moschee daraufhin als »Honigtopf für Terroristen« und als »Arsenal für den islamistischen Terror«.

2. Sean O’Neill und Daniel McGrory: The Suicide Factory: Abu Hamza and the Finsbury Park Mosque, London: Harper Perennial 2006.

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Abbildung 41: Nach Spielende, St. Thomas’s Road, London-Finsbury Park, 2006

Abbildung 42: Aufeinandertreffen von Fußballfans, radikalen Klerikern und Polizei in London-Finsbury Park

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Abbildung 43: London-Finsbury Park, 2006 Nach der Amtsenthebung als Imam versammelte Abu Hamza seine Anhänger fortan zur Predigt vor der Moschee in der St. Thomas’s Road, genau auf jenem Stück Straße, wo auch die Arsenal-Fans in gewohnter Weise zu ihrem Stadion pilgerten. Aufnahmen dieser Straßenpredigten führten im Frühjahr 2006 zur Festnahme und Verurteilung Abu Hamzas wegen Volksverhetzung und Anstiftung zum Mord. Unter neuer Leitung und der neuen Bezeichnung »Nordlondoner Zentralmoschee« vermeldet die Finsbury Park Moschee seitdem wieder guten Besuch, und das lokale Netz an Unternehmungen und Einrichtungen für Einwanderer aus verschiedenen Gegenden des islamischen Raums ist stark im Wachsen. In einem multi-ethnischen Gebiet, in dem mehr als 120 verschiedene Sprachen gesprochen werden, ziehen nun die Arsenal-Fans an Matchtagen zwischen Moscheen und muslimischen Wohlfahrtseinrichtungen, Halal-Fleischereien, Internetcafés, maghrebinischen Snackbars und Cafés mit Namen wie »Salam«, »Aladdin« oder »Paradise«, spezialisierten Reisebüros und billigen Zimmervermittlungen, islamischen Buchhandlungen und Kopfttuchläden zu ›ihrem‹ Verein. Diese in Finsbury Park konzentrierten fi nanziellen und migratorischen Verknüpfungen mit dem Maghreb und dem Nahen und Mittleren Osten haben zu einer kulturellen und ökonomischen Koexistenz von 116

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Religion und Fußball, Gebetsritualen und Schlachtgesängen, internationalen Finanzoperationen und lokaler Straßenkultur geführt. In den Begegnungen und Vermischungen von englischen Fußballfans und migrantischer Bevölkerung wird der Stadtraum zur Bühne der Doppeldeutigkeiten von Prosperität, Legalität und Sicherheit, mit denen die neoliberale Transformation der westlichen Gesellschaft operiert. Welchen Weg diese Begegnungen nehmen, ist von Mal zu Mal ungewiss, denn außerhalb einer zufälligen Konfrontation auf der Straße gibt es keine Rollen und Kanäle des Zusammenkommens der getrennt voneinander existierenden Bereiche. Anstatt ein Feld von klaren Identitätspositionen zu erzeugen, markieren die unterschiedlichen Ströme kultureller Zugehörigkeiten in Finsbury Park einen Abschied vom Glauben an ein stabiles Konzept der britischen Wesensart. Nicht nur Fußball, auch Kultur kommt nie mehr, wie es 1996 in der englischen Fußballhymne »Three Lions« noch hieß, »heim«. Die Trauer um Arsenals Highbury-Stadion öff nete einen Raum für einen weitaus größeren Abschied: ein Abschied von der Vorstellung, dass ein Zugang zum Verständnis von Kultur in identitären Gestalten zu fi nden wäre. Mit dem wehmütig gefeierten »Final Salute« an das alte Arsenal-Stadion vollzieht sich ein Wandel, den alle europäischen Kulturen durchmachen: Ein Wechsel von als familiär und heimelig erfahrenen, eindeutigen sozio-kulturellen Zugehörigkeiten und Geborgenheiten zu einer fragmentierten, kaleidoskopisch in sich zersplitterten Welt, in der unsere Lebensräume nicht mehr von uns selbst, sondern im Zusammenspiel mit den Bedingungen und Vorgaben globalen Kapitals bestimmt und gestaltet werden. Hand in Hand mit diesem Prozess erfolgt eine Umwandlung von dem, was sich als Gemeinschaft darstellt. Diese gesellschaftliche Umwälzung lässt sich nicht an so markanten Ereignissen wie Revolutionen, Demonstrationen oder politischen Aufmärschen festmachen, sondern vollzieht sich als Drama im Alltäglichen und Unbedeutenden, an den zahllosen Schauplätzen des Übersehenen und Übergangenen. Das ungelenkte Ausagieren des Dramas mit all seinen Möglichkeiten, aus der Rolle zu fallen, fi ndet nicht in organisierten Kundgebungen auf Londons Trafalgar Square statt, sondern in nebensächlichen Gegebenheiten wie dem Aufeinandertreffen von aufmarschierenden Fußballfans und auf der Straße betenden radikalen Muslimen in der St. Thomas’s Road in Finsbury Park. 117

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Ar tikulationen von Gemeinschaf t Der Fall von Arsenal gibt ein Beipiel für eine immer mehr Platz greifende Geographie von Parallelwelten, die sich über Netzwerke organisieren und sich entlang von situativen Gelegenheiten mit anderen Netzwerken einlassen. Angesichts der Abhängigkeit solcher Netzwerke von den Interessen des globalen Marktes stellt sich die Frage, ob die Dynamiken der Verstreuung, Segmentierung und Zersplitterung im heutigen »Raum der Ströme«, wie etwa Manuel Castells argumentiert hat, tatsächlich ein Teilen kultureller Codes zunehmend verunmöglichen oder ob das Leben in parallelen Universen zu neuen Formen von Sozialität fähig ist. Nach Castells unterbinde eine den Orten aufgezwungene globale Logik jegliche kulturellen, politischen und physischen Brücken zwischen den einzelnen Ausprägungen dieses Raums. Die Verzerrung unterschiedlicher Zeitlichkeiten in verschiedenen Dimensionen eines sozialen Hyperraums treibe einander implizierende soziale Welten auseinander, ohne neue Kontaktstellen anzubieten.3 Was der Aufmerksamkeit dieser Kritik am Mangel einer globalen Sphäre der Verbundenheit entgeht, sind die vielen selbstorganisierten Formen sozialer Praxis, in denen die zerstreuten Sphären in unterschiedlichen Subjekten gebündelt und über sie neu verteilt werden. Sie übersieht in anderen Worten die Praxis der reichhaltigen und unterschiedlichen Texturen translokaler Sozialität und ihre Möglichkeiten, neue Orte der Gemeinschaft zu schaffen. Diese Orte können dicht aneinander liegen oder weit voneinander entfernt sein; sie entsprechen dem Gefüge asynchroner Zeitstrukturen – einer als Vielfalt und Gleichzeitigkeit, Anwesenheit und Abwesenheit gelebten Zeit. 4 Die Heterogenität dieser Zeitlichkeiten mag im Gesamten zentrifugal wirken, hindert sie aber nicht, an den oft unerwartetsten Orten zusammenzuströmen und Neues zu generieren. Wir wollen uns im Folgenden mit dem Potenzial dieser raumschaffenden Praxis und mit den Möglichkeiten von Kunst und Architektur im gestalterischen Teilnehmen an einer solchen Praxis beschäftigen. 3. Manuel Castells: The Information Age: Economy, Society and Culture, Bd. I, 2. Aufl age, Oxford: Blackwell 2000, S. 458f. 4. Achille Mbembe: On the Postcolony, Berkeley, CA: University of California Press 2001, S. 8.

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Wie sind zivilgesellschaftliche Solidaritäten denkbar, wenn die Ökonomisierung aller Lebenszusammenhänge keine Räume für die Artikulation sozialen Zusammenhalts und kulturellen Austauschs außerhalb des Ökonomischen vorzusehen scheint? Welche Formen von Reziprozität lassen sich abseits der Ideologien globaler ökonomischer Abhängigkeit herstellen? Welche Alternativen können experimentelle Formen gesellschaftlicher und ökonomischer Organisation entwickeln und in welchem Spannungsverhältnis stehen diese Alternativen zu den Produktions- und Verteilungsnetzwerken der heutigen Ökonomie? Das Video- und Installationsprojekt Alternative Economics, Alternative Societies von Oliver Ressler, eine fortlaufend erweiterte Reihe, in der die Befürworter verschiedenster Konzepte das Wort ergreifen, präsentiert mehr als ein Dutzend alternativer Entwürfe von Ökonomien und Gesellschaften. Von Takis Fotopoulos’ »Umfassender Demokratie« und Michael Alberts »Partizipativer Ökonomie« bis zur Arbeiterselbstverwaltung im Jugoslawien der 1960er und 1970er Jahre und den Arbeiterkollektiven der Spanischen Revolution zeichnen diese vorgetragenen Ideen einen Abriss von historischen und zeitgenössischen Gegenentwürfen zur Logik des globalen Kapitalismus.5 Die Logik Resslers Arbeit selbst operiert über ein Erzeugen von Kommunikation und nicht über einen idealistischen Plan. Was die unfertigen Reden und Erzählungen der verschiedenen Sprecher leisten, ist ein vielstimmiges Eindringen in einen lose verbundenen Bereich von ökonomischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und ein erneutes Auf-den-Markt-Bringen dieser Ideen. Die Videos insistieren auf der Kraft der Mobilisierung der Sprache als grundsätzlichem Vermögen, jede Art von Aussage generieren zu können, unbegründet und damit losgebunden von den Zwängen ökonomischer Profitoptimierung. Anstatt die prüfende Funktion von Sprache in den Vordergrund zu stellen, zeigen sie auf, wie Sprache zu einem Mittel der Ermächtigung werden kann. Ein solches Reklamieren der Möglichkeiten von Ökonomie und Gesellschaft verbindet sich mit der Funktion des Redens im Stimmengewirr von geheimen Treff punkten, improvisierten Austauschorten und flüchtigen Handelsplätzen. Sie fördern keine absolute Kenntnis, sondern ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber einem erweiterten Sprachvermögen. Gemeinsam begründen sie ein 5. Oliver Ressler und Aneta Szylak (Hg.): Alternative Economics, Alternative Societies, Gdansk: Wyspa Institute of Art 2007.

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Modell von Sprache als Mittel, dem rationalen Kalkül eines durch und durch ökonomisierten Lebens zu entkommen. Ein unaufhörliches Sprechen, um die Rahmen, in denen Austausch stattfinden kann, unaufhörlich zu erneuern; ein Sprecher, der sich durch den Akt des Sprechens selbst neu bestimmt; Gerede als ein Instrument im Prozess der Bedeutungserneuerung.6

Abbildung 44: Alternative Economics, Alternative Societies, Oliver Ressler, Ausstellungsprojekt, seit 2003 Das Potenzial des Geredes liegt darin, dass es ein Kräftefeld mobilisiert, dessen Wirkungsradius über das hinausreicht, was sich als Ort der Kommunikation räumlich manifestiert. Wie Paolo Virno betont, stellt es den Rohstoff postfordistischer Virtuosität dar; als Grundprinzip des Performativen erfüllt es eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen gesellschaftlichen Produktion. Das Gerede verweist nicht auf einen bereits existierenden, äußeren Umstand, sondern erschaff t diesen Umstand ständig neu.7 Es erfindet und führt aus, während seine 6. Marina Gržinić: »Performative Alternative Economics«, in: Oliver Ressler (Hg.), Alternative Economics, Alternative Societies, Frankfurt a.M. und Novi Sad: Revolver/kuda.org 2005, S. 24f. 7. Paolo Virno: Grammatik der Multitude: Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin: ID Verlag 2005, S. 100f.

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Kommunikation in den Funktionsbezug von Wörtern und Dingen, in die Beziehung zwischen der Ordnung der Wörter und jener der Körper einbricht. Diese Kreativität des Geredes bedient zum einen wohl die vom globalen Kapitalismus geförderten Instabilitäten, beansprucht zum anderen aber auch die Kreisläufe der Produktion als eine Quelle von Dissens und Störung, die nicht in einem abseits vorhandenen Modell wirksam wird, sondern in den globalen Strömen des Spätkapitalismus selbst: in seinen zwielichtigen Geschäftszonen und in deren Waren- und Subjektpolitik. Hier liegt eine der grundlegenden Ebenen von Kommunikation, die künstlerische und ökonomische Organisation gemeinsam exponiert – das Erfindungsvermögen von Kunst gemeinsam mit dem ökonomischen Zwang zur Reterritorialisierung von Subjekten (Guattari) in neuen Rahmenwerken sozialer Macht.8 Jacques Rancière führt dies mit seinem Begriff der »Aufteilung des Sinnlichen« (Le Partage du sensible) auf einen gemeinsamen Modus von Produktion zurück, der die Beziehung zwischen dem Herstellen von Erfahrungsmodalitäten und den Möglichkeiten, etwas zu erfahren, in den Vordergrund rückt. Diese Verteilung nimmt Ein- und Ausschlüsse vor, indem sie festlegt, was den Horizont des Erfahrbaren bildet.9 Ein Handlungsraum, den wir aus dieser Argumentation entwickeln können, entsteht nicht über eine Neubesetzung stabiler Beziehungsmuster – über Rollentausch, Veränderung von Eigenschaften oder Umkehr von Machtverhältnissen –, sondern über ein Rekonfigurieren der Topographie des Möglichen. Diese Erweiterung der politischen Sphäre besteht im Herstellen von Referenzwelten, innerhalb denen Entscheidungen getroffen werden können.10 Die von den unterschiedlichen Sprechern formulierten Worte in Oliver Resslers Projekt Alternative Economics, Alternative Societies sind die Zellen solcher möglichen Welten. Nicht nur, weil sie alternative 8. Félix Guattari: »Du post-modernisme à l’ère post-media«, in: Cartographies schizoanalytiques, Paris: Galilée 1989, S. 54. Siehe dazu auch: http://brianholmes.wordpress.com/2007/07/21/swarmachine/vom 15. August 2009. 9. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2006. 10. Jacques Rancière: »Entsorgung der Demokratie«, in: documenta (Hg.), documenta Magazine No.1-3, 2007, Reader, Köln: Taschen 2007, S. 459.

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Modelle des Wirtschaftens und des Zusammenlebens vorschlagen, sondern weil sie eine dialogische Beziehung mit den Worten anderer eingehen: den Worten der Pariser Kommune, den Worten der Arbeiterbewegung oder den Worten von radikal-politischen Gemeinschaften. Die Reihe dieser Dialoge ist um viele andere Gruppen und Bewegungen erweiterbar, die in dem sehr großen Feld von radikalen Alternativen zur dominanten Form gesellschaftlicher und ökonomischer Produktion einen theoretischen Zusammenhang bilden und ein gemeinsames Engagement nachzeichnen helfen, von Bildungsalternativen wie dem Barefoot College im indischen Rajasthan bis zum anti-staatlichen No-Border-Netzwerk und der digitalen Open-SourceBewegung der Gegenwart. Diese vorgetragenen Reden zu hören, ihre Terminologie, ihren Sprachklang und ihre Stimmen aufzunehmen, kreiert einen Ort der Begegnung mit vielen parallelen Welten. In Mikhail Bakhtins Konzept des »Dialogismus« konstituieren Worte Subjektivität, indem sie einen sozialen Raum aufspannen, der grundlegend interpersonell ist und so eine ständige Aneignung und Transformation der Stimme des anderen ermöglicht. Die radikale Direktheit der Stimme und der Vielklang der Schilderungen formieren eine Gemeinschaft von Möglichkeiten, die Sprecher und Hörer zu Koproduzenten der Gemeinschaft werden lässt.11 So öffnen sich die zeitlich und örtlich entfernten Modelle alternativer Sozialität zu einer Plattform des Teilens und Erfahrens paralleler Umfelder. Was entsteht, ist auf einer anderen Ebene nicht einfach eine Wiedergabe von in sich geschlossenen Welten, sondern eine komplexe Karte von Intensitäten, deren Verteilung keiner vorherbestimmten Logik folgt, sondern aus wechselseitigen Berührungspunkten heraus entstanden ist: aus einem verstreuten Zusammentreffen von Interessengruppen, aus Nachempfindungen anderer Bewegungen, aus stattgefundenen Vernetzungen und spontan koordinierten Handlungen. Keine der zwischen den Modellen aufscheinenden Verbindungen steht in der Pflicht Teil eines übergeordneten Plans zu sein, Teil der Grammatik eines gemeinsamen ›Sprachprojekts‹. Ihre Vernetzung findet im Sprechen und Hören statt, nicht im Planen einer gemeinsamen Sprache. Dieser Prozess vermeidet die Limitationen von geplanter Gemeinschaft und ihre Exemplifizierung 11. Mikhail M. Bakhtin: Problems of Dostoevsky’s Poetics, übersetzt

und herausgegeben von Caryl Emerson, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 1984.

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in der Utopie von modernen Plansprachen wie Esperanto, Ido, Interlingua oder Volapük, die alle aus dem Wunsch heraus entstanden sind, eine neue, weltumgreifende Gemeinschaft mit einem bewusst und planmäßig ausgearbeiteten Sprachprojekt herzustellen.12 Die Utopie der Gemeinschaft verweist hier auf eine weit entfernte Zukunft, die mit dem pädagogischen Projekt des Erlernens einer gemeinsamen Plansprache verbunden ist. Die klar protokollierten Schritte des Erschließens von Gemeinsamkeiten perpetuieren so eine vorweg konzipierte Vorstellung von Gemeinschaft. Sie artikulieren Gemeinschaft als ein utopisches Produkt, das auf gemeinsamen Zielen auf baut, mit dem Zweck, die Gemeinschaft zu vollenden. Eine Plattform des Sprechens, wie sie Alternative Economics, Alternative Societies und viele andere Projekte im künstlerischen und urbanen Kontext herstellen, lokalisiert die Utopie der Gemeinschaft dagegen in einem Prozess der Gegenwart. Sie ist der Auftritt einer Gemeinschaft-im-Werden.

Gemeinschaf t ohne Band Wenn Gemeinschaft kein Produkt von Arbeit ist, dann beruht die Kommunikation zwischen jenen, die einen gemeinsamen Horizont teilen, auch nicht auf einer fest besiegelten Allianz zwischen in sich geschlossenen Entitäten. Wenn Jean-Luc Nancy derart argumentiert, dass Kommunikation kein Band ist,13 meint er damit jene Form ver12. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der seit den 1980er Jahren anhaltende Aufschwung der internationalen Esperanto-Bewegung nicht auf ein verspätetes Greifen ihrer ursprünglichen Zielsetzung zurückzuführen ist, sondern auf die vollständige Umwandlung ihrer eigenen Idee. Ursprünglich hatte die Esperanto-Bewegung zum Ziel, Instrumente zu entwickeln, um eine bessere Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen zu ermöglichen. Nun findet sie ihre Anhängerschaft in einem ›konspirativen‹ Interesse an der Pflege der ihr eigenen ›Esperanto-Kultur‹, d. h. in einer in internationalen Kongressen, Online-Foren und persönlichen Treffen, versteckten Archiven, politisch orientierten Kunstzirkeln und Anti-Globalisierungsinitiativen vorhandenen Kommunikation, deren Vehikel Esperanto geworden ist. 13. Jean-Luc Nancy: The Inoperative Community, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 1991, S. 29.

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trauten Kommunizierens, das nicht an das Erarbeiten eines gemeinsamen Ziels gebunden ist, sondern vielmehr aus dem Teilen einer ontologischen Sozialität heraus entsteht. Diese Kommunikation fordert die Prinzipien ökonomischer Zusammengehörigkeit heraus, weil sie nicht aus einem Austausch zwischen bereits geschaffenen Subjekten hervorgeht, sondern die Konstitution ihrer Gemeinschaft im Austausch selbst, in einer gemeinsamen Preisgabe, sieht. Das Teilen der Preisgabe ruft ein wechselseitiges und grenzenloses Interpellieren hervor, eine Kommunikation ohne Ende. Ein solches Hervorrufen von kommunikativen Verflechtungen und Arrangements entkoppelt den Begriff des Networking von der ökonomischen Sphäre und der ausschließlichen Orientierung an Effizienz, Fortschritt und Wachstum. Es befreit den Begriff von der Umklammerung durch Zweckgerichtetheit, Professionalität und all dem, was Samuel R. Delany als das »Bedarfsausmaß« einer Netzwerksituation14 charakterisiert hat, und lässt ihn aus der Frage von Community entstehen. Außerhalb der Bindung an Arbeit, auf der Alltagsebene von Migrations- und Unterstützungsnetzwerken, werden Beziehungen zwischen Netzwerken und Communitys sichtbar, mit denen die separaten Diskurse von Kontakt als sozialer Interaktion und Networking als ökonomischer Interaktion ineinanderzugreifen beginnen. In der Suche nach einer solchen Struktur im Zusammenwirken von künstlerischen und räumlichen Praxen wollen wir jenseits einer Funktionalität ansetzen, die auf den operativen Charakter des ›Gemeinschaft-Schaffens‹ und den ideologischen Wert von ›Gemeinschaftsleistungen‹ zurückgreift. Eine Architektur von Koexistenz, die im Räumlichen operiert, ohne das Räumliche zu objektivieren, benötigt einen anderen Begriff der Gemeinsamkeit, von dem sie ausgehen kann. Jean-Luc Nancys »undarstellbare Gemeinschaft« stellt uns hier eine hilfreiche Kritik am ideologischen und ökonomischen Projekt der funktionstüchtigen Gemeinschaft zur Verfügung. Nancy sieht den schwachen Punkt im Konzept der Intersubjektivität und dem damit verbundenen Prinzip der wechselseitigen gesellschaftlichen Anerkennung darin, dass diese Vorstellungen getrennt vorhandene Subjekte voraussetzen, um sie mit der hypothetischen Realität eines sozialen Bandes zu überlagern. Nancy hält dem entgegen, dass Gemeinschaft 14. Samuel R. Delany: Times Square Red, Times Square Blue, New York und London: New York University Press 1999, S. 136.

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nicht auf einer auf Arbeit beruhenden Organisation getrennter Existenz beruht, sondern auf dem, was Maurice Blanchot als »Entwerkung« bezeichnet hat: eine aktive Abkehr von der Tätigkeit des Erzeugens und Vervollständigens zugunsten von Störungen, Fragmentierungen und Unterbrechungen (La communauté désoeuvrée).15 In diesen Pausen liegt das kreative Moment einer Gemeinschaft, die sich nicht über den Glauben an ein gemeinsam produzierbares Werk – Bauwerke, Monumente, Institutionen, Symbole – realisiert, sondern durch einen immer wieder ausgeübten Widerstand gegenüber immanenter Macht. Es besteht keine Gefahr, diese Gemeinschaft zu verlieren, denn sie ist von Geburt auf gegeben.16 Mit einer Verschiebung von ›Bewerkstelligung‹ zu ›Entwerkung‹ bewegt sich die Aufmerksamkeit von der Gestaltung von Objekten und Kontexten zu den Erfahrungen einer Situation und zu den Möglichkeiten, die aus ihr entstehen. Anstatt an der Einbettung von Eigenschaften in Objekte oder Kontexte zu arbeiten, eröff net sich ein gegenwärtiges Feld von Potenzialität, dessen autonome Existenz in der Lage ist, Gestaltung zu realisieren oder zurückzuhalten. Architektur, Kunst und Stadtgestaltung haben sich in der Vergangenheit zu oft von der scheinbaren Lösungsmacht einer detaillierten Planung von sozialen Utopien verführen lassen. Die rigiden Strukturen ihres Operierens können sich aber weder mit den aggressiven und dynamischen Bewegungen von Fragmentierung und Deregulierung in der globalisierten Stadt messen, noch bieten sie ein Feld der Auseinandersetzung, das einen fairen Raum für ein Spiel heterogener Kräfte aufspannen könnte. Was aber, wenn wir den Gedanken der Utopie nicht beiseite legen, sondern umlenken und auf das Potenzial der Gegenwart beziehen. Wenn wir seine Potenzialität inmitten der alltäglichen Manifestation von sozialen und kulturellen Phänomenen verankern, geriert sich Utopie nicht als Idealentwurf und Produkt einer fernen Zukunft, sondern als eine kommunikative Praxis, die aus den Potenzialen der Gegenwart schöpft. Utopie wird so zu einem Prozess, der seine Bedingungen und Grenzen im gesellschaftlichen Feld der Gegenwart verhandelt und darin Transformationen erwirkt. Aus dieser Verlagerung von einem entfernten Idealzustand 15. J.-L. Nancy: The Inoperative Community, S. 31. 16. Ebd., S. 35. Vgl. auch ders.: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin: Zürich und Diaphanes 2007, S. 38.

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in das Hier und Jetzt der physischen Welt ergibt sich nicht nur eine Herausforderung an das gedankliche Konstrukt der Gemeinschaft, sondern auch eine grundlegende Herausforderung an Architektur als Planungsdisziplin. Sie steht vor zwei aufeinander Bezug nehmenden Fragen: Was kann Architektur der Gemeinschaft bieten, wenn Gemeinschaft kein Projekt und daher auch kein Projekt von Architektur ist? Und: Wie kann sie zur Konstitution von Gemeinschaft beitragen, wenn deren Kräfte prinzipiell unräumlich sind? Die mit diesen Fragen ausgedrückte Krise unserer Gegenwart im Verhältnis von Architektur und Gemeinschaft und die mit ihr korrespondierenden Wucherungen von räumlicher Kontrolle sind beide wesentlicher Teil einer stattfi ndenden Suche nach Architekturen der Koexistenz. Wie lässt sich aber gerade angesichts der exzessiven Gestalt von Behinderungen einer utopischen Gemeinschaft der Gegenwart ein Fokus in die Auseinandersetzung um die Gestalt räumlicher Koexistenz bringen, der mehr bezweckt, als die Negativität von Herrschaft freizulegen?

Abbildung 45: Je&Nous, Campement Urbain: Sylvie Blocher, François Daune, Josette Faidit, Projekt für einen Ort des Alleinseins, Sevran, Frankreich, seit 2003

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Diese Suche nach Architekturen von Möglichkeiten bildet das Grundmotiv vieler der in diesem Buch erwähnten Praxen und Projekte. So auch bei zwei Projekten in Paris, die sich über die Artikulation von Gemeinschaften in die Politik der Stadtplanung eingemischt haben: Ein Ort des Rückzugs von den vielen ethnisch und religiös determinierten Gruppen in Sevran-Beaudottes, den das Kollektiv Campement Urbain mit seinem Projekt Je&Nous ins Rollen gebracht hat, und der Gemeinschaftsgarten ECObox von atelier d’architecture autogérée in La Chapelle. Beide Initiativen haben sich über einen langen Zeitraum darauf eingelassen, einen Prozess der kulturellen Aneignung von Stadtraum und Bürgerschaft aus der Peripherie heraus anzuregen. In zahllosen Versammlungen, Diskussionen und gemeinsam organisierten Events ging es um ein Modellieren der Strukturen, innerhalb derer räumliche Selbstbestimmung stattfinden kann. Wer entscheidet über die Gestalt eines gemeinsam genutzten Raums? Wer regelt den Zutritt? Wer übernimmt die Pflege? Wer darf hinein? Anstatt die physische Stadt zu heilen, erweitert und erfindet hier Architektur die Mittel, die sie in Einsatz bringt: Sie benutzt eine Bricolage von Kunst, Propaganda, Stadtpolitik und sozialen Beziehungen, um manipulativ in den Rahmen einzugreifen, der für urbane Erneuerung vorgesehen ist. Außerhalb dieses von Behörden, Hierarchien und Bestimmungen vorgegeben Rahmens sind ungeplante und selbstermächtigte soziale Formationen entstanden, deren Architektur in den Hintergrund tritt, weil sie nur im Zusammenhang mit einem Netzwerk an Beteiligungen wirksam wird: Mit den Versammlungen der Anwohnerschaft; mit den gemeinsamen Aktionen; mit der Erweiterung des Aktionsraums in den internationalen Ausstellungen des Projekts; mit der Inanspruchnahme und Transformation der geschaffenen Strukturen; mit den Mythen, die eine Gemeinschaft entstehen lässt und den Mythen, in denen die Gemeinschaft fortlebt. Kunstpraxen erstellen hier nicht ein experimentelles Modell, das von einer Situation abstrahiert auf eine andere übertragen werden kann, oder ein Experiment, dem im Fall seines Gelingens eine Weiterführung folgen wird, sondern ein Experiment, das zugleich seine eigene Folge ist. Eine von vielen Parallelwelten, die das Bilden von neuen Gemeinschaften darstellen. Es produziert, wie Giorgio Agamben formuliert hat, eine Indifferenz des Gemeinsamen und des jeweils Eigenen: »Das Statt-Finden, durch das sich die Singularitäten im Attribut der Ausdehnung einander mitteilen, vereinigt diese nicht im Wesen, 127

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Abbildung 46: ECObox-Garten, atelier d’architecture autogérée, Paris-La Chapelle, 2002-2004 sondern verteilt sie in der Existenz.« 17 Sein Potenzial liegt darin, im Zerfall der einen utopischen Gesellschaft und im Konfl ikt der vielen essenziellen Gemeinschaften, das Verorten in einer Gemeinschaft des Zusammenkommens zu bereichern. Dieses Gemeinsame fi ndet statt im Verlassen der alten, von Ethnizität, Religion, Herkunft und sozialem Stigma geprägten Gemeinschaften mit ihren jeweils spezifischen und jeweils einheitlichen Eigenschaften; im Eröffnen von immer neuen Welten, die ein neues Zusammenkommen entlang gemeinsam geteilter Horizonte ermöglichen. Das Teilen des Horizonts erfolgt durch das Herstellen einer Solidarität, die weder in einer Aneignung und Individualisierung des Gemeinsamen noch in der Universalisierung singulärer Eigenschaften besteht. Ihr Referenzpunkt ist außerhalb der Eigenschaften, die in den unterschiedlichen Ausprägungen und Kommunikationen von essenziellen Gemeinschaften verankert sind. Um eine solche Solidarität zu artikulieren, braucht es weder eine Integration der Spezifi ka aller einzelnen Sprachen noch eine gerechte Verteilung einer universell geplanten Sprache. Es braucht ein Projekt des Sprechens, das nicht zwischen einer gemeinsamen Natur der Worte und dem gesprochenen Wort unterscheidet. Die Entgleisungen und Rahmensetzungen, die Kunst zu produzieren in der Lage ist, ermöglichen, die alte Gemeinschaft hinter sich zu lassen und neue Zusam-

17. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve Verlag 2003, S. 23 (kursiv im Original).

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menschlüsse zu formen – einen Raum, der unter dem Schutze aller jedem offensteht.18

Vernetzte Handlungen Im Formen dieser Welten stellt sich die grundlegende Frage, wie kollektives Handlungsvermögen zustande kommen kann. Wie also die Vielzahl an verstreuten Kräften zu Formen koordinierter Handlung finden kann und wie diese Formen auch im politischen Sinn Relevanz für die Strukturierung von Entscheidungen gewinnen. Das Modell des Netzwerks kann uns einen Referenzrahmen für das Verorten von Handlungsmacht bieten, in dem wir die Wirksamkeit des Handelns im Entstehen einer neuen sozialen Form, in der Transformation von Organisation im Sinne einer Erweiterung von Bezugspunkten ausmachen, die unterschiedliche Ebenen von wirtschaftlicher, kultureller oder sozialer Aktivität miteinander verbindet. Handlungsvermögen bezieht sich anders gesagt auf einen morphologischen Prozess der umfassenden und fortlaufenden Netzwerk-Werdung. Das Ziel besteht nun nicht darin, unternehmerische Modelle zu finden, mit denen ein solcher Prozess Effizienz gegenüber anderen Organisationsformen gewinnt und diese Effizienz auf viele Bereiche des täglichen Lebens angewendet werden kann. Die Schwierigkeit besteht darin, festzumachen, wie sich in der Strukturierung dieses Prozesses eine gewisse Autonomie konkreten Handelns einstellen kann und wie dadurch politische Möglichkeiten erwachsen. Anders gesagt liegt die Aufgabe darin, eine Bahn zu skizzieren, die quer durch die traditionelle Trennung von Handlungsvermögen und Handlungsstruktur, Mikro- und Makroebene, Individuum und Kollektiv verläuft, gemäß der von Manuel DeLanda vertretenen These, dass sich autonome kleinere Organisationseinheiten in größerem Maßstab in anderen Organisationseinheiten abbilden, die wiederum autonom agieren. Städte entstehen demnach aus den Interaktionen zwischen den Netzwerken, die sich in den Kommunikationen von Individuen bilden. Geopolitische Strukturen wiederum ergeben sich aus der Interaktion von Städten, aus jenen von Netzwerken und jenen von 18. Campement Urbain: »The I & Us Project«, in: Bartolomeo Pietro-

marchi (Hg.), The [Un]common Place: Art, Public Space and Urban Aesthetics in Europe, Barcelona: Actar 2005, S. 206.

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Individuen. DeLanda argumentiert, dass auch in einer von Allianzen und Verbindungen geprägten Welt das Subjekt – so wie jede andere Ebene von Handlungsentscheidungen – nicht vollständig über seine Beziehungen zu anderen definiert ist.19 Es gibt auf jeder Maßstabsebene Zonen der Selbstorganisation, die Widerstand gegenüber anderen Maßstäben erzeugen können und aus dieser Autonomie heraus eigene Milieus des Operierens gestalten. Entscheidend ist, dass der Prozess der Gestaltung dieser Milieus nicht über seine Beziehungen zu anderen Einflusssphären erklärt werden kann, sondern in seinem Operieren Eigenlogiken entwickelt, die Veränderungen erlauben. Autonomie innerhalb einer Gemeinschaft entsteht nicht durch die Weisungen der Macht, sondern durch interne Verlagerungen, Setzungen, Anordnungen und Auflösungen, die einen Prozess der Selbstzusammenfügung darstellen: die Selbstregulierung einer lebendigen Gesellschaft.20 Spontan entstehende Architekturen, Zwischennutzungen, Besetzungen, Ingebrauchnahmen, selbst-organisierte Treffpunkte und andere temporäre Markierungen von Gemeinschaften sind so wie das mit ihnen verbundene Zusammentreffen von Personen Teil einer Route und eines Prozesses, aber weder das logische Format noch das in einem Beziehungsgefüge festgelegte Ziel der Entwicklung. Der Begriff der »temporären Architektur« verleitet häufig dazu, eine bestimmte Ästhetik improvisierter Räume als Desiderat einer Gemeinschaft-imWerden zu verstehen und dementsprechende Orte der Gemeinschaft zu inszenieren. Wenn wir Zeitlichkeit aber nicht in den Ästhetiken baulicher Substanz lokalisieren, sondern in den unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften, in den fließenden Bewegungen von sozialer Praxis selbst, wird deutlich, wie sehr das Potenzial zur Aktualisierung von Gemeinschaften quer über die unterschiedlichen Zonen der Stadt verteilt ist und quer über unterschiedliche Maßstäbe sozialer Organisation wandert. So gestalten sich Räume, die gemeinschaftliches Selbstverständnis erzeugen, auf jeder Maßstabsebene gesellschaftlicher Organisation als Abdruck unterschiedlicher Zeitlichkeiten, die im Lokalen zusammentreffen 19. Manuel DeLanda: A New Philosophy of Society: Assemblage Theory and Social Complexity, New York und London: Continuum 2006. 20. Doina Petrescu: »Losing Control, Keeping Desire«, in: Peter Blundell Jones, Doina Petrescu und Jeremy Till (Hg.), Architecture and Participation, London und New York: Spon Press 2005, S. 55.

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und örtliche Verschiebungen hervorrufen. Was in diesen Verschiebungen räumlich manifest wird, kann vielerlei Qualitäten haben: Es kann eine gesuchte Ausdrucksform sein, eine Tarnung oder Camouflage, ein Objekt der Abwehr, ein umstrittener Platzhalter, ein Punkt, der Gemeinschaft provoziert oder ein Mechanismus in der Diskussion der politischen Frage räumlicher Organisation. All diese räumlichen Konstrukte verwehren eine Verdeutlichung der Umrisse ihres Handlungsfelds und bringen so Unklarheit in die Zuordnung von Individuen und Orten. Indem sie gegen eine schlüssige Fixierung von baulichen, sozialen, historischen oder lebenspraktischen Verbindungen operieren, halten sie Raum offen für das, was sein könnte und exponieren ihn zugleich als politische Frage, als Angelegenheit von Gemeinschaft. Denken wir dazu, wie Agamben in Homo sacer vorgeschlagen hat, die Politik von Gemeinschaft jenseits ihrer Verbindungen zu Aktualisierung: als autonome Existenz einer Potenzialität, die aufgezwungene Ordnungen unterbinden und eine solcherart strukturierte Form von Gemeinschaft zurückhalten kann, während sie gleichzeitig ihre Fähigkeit behält, an anderer Stelle Gemeinschaft zu werden.21 Wenn wir diese Fähigkeit zur selbstbestimmten Verlagerung von Gemeinschaften mit den unterschiedlichen Migrationen von Menschen, Produkten, Arbeit und Denken in Beziehung bringen, dann sind Mobilität und Parallelität heute die grundlegenden Ausdrucksformen für räumliche Koexistenz. Die Gleichzeitigkeit von statischen und dynamischen Orten, das Zusammenwirken von Ausnahmezonen und regulierten Gebieten, die Überlagerungen einander widersprechender räumlicher Ordnungen – all das kompliziert die Schwellenbereiche, in denen der Übergang von einer Organisationsebene zu einer anderen stattfindet und verunklärt die wechselseitige Kenntnis dieser Bereiche, nicht zuletzt die Kenntnis des Subjekts von sich selbst. Dabei ist, wie Judith Butler argumentiert, eine gewisse Opazität des Subjekts ein notwendiger Teil seiner Sozialität. Gerade seinem unabgeschlossenen Netzwerk an Beziehungen ist es zu verdanken, dass das Subjekt sich selbst gegenüber nie vollständig darstellbar ist. Beide Ebenen sind beweglich zueinander, offen und für Veränderung zu gebrauchen.22 Die 21. Giorgio Agamben: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 58. 22. Judith Butler: Giving an Account of Oneself, Bronx, NY: Fordham University Press 2005.

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zwischen diesen Ebenen liegenden Verbindungen sind nicht eine absolute Größe, die auf das Subjekt schließen lässt, sondern ein autonomes Feld, das abweichendes Agieren ermöglicht. Autonomie ist daher nicht auf der Ebene eines sich selbst vollständig bekannten Subjekts zu finden, sondern in der Auseinandersetzung mit einem unklaren Geflecht von sozialen Beziehungen, die das Subjekt prägen und besitzen. Sich selbst gegenüber nicht vollständig darstellbar, inkonsistent oder gespalten zu sein, platziert den Raum für eine Kritik der Normen, die von uns ein bestimmtes Verhalten verlangen, im Feld des Herstellens von Gemeinschaft mit anderen – in einem Streit um Werte, Ästhetiken und Praktiken. Es gibt daher auch keine perfekte, mit Kunst und Architektur formbare Umgebung, die den Schmerz aus der Erfahrung von Andersheit nehmen könnte. Die Aussetzung an das Unbekannte und Ungewisse ist eine Grunderfahrung, die durch keine Gestaltung bereinigt werden kann. Selbst wenn Architektur heute bemüht ist, den ökonomischen Anforderungen nach größtmöglicher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nachzukommen, entgeht sie nicht der Konfrontation mit ungebetenen Gästen. Architektur kann diese Erfahrung weder verhindern noch planen, so wie sie auch keinen idealen Ort der Koexistenz herstellen kann. Koexistenz ist kein planbarer Zustand und daher nicht als Entwurf, sondern nur als politische Möglichkeit vorhanden. Als ein solches Potenzial bekommt Koexistenz, wie Jean-Luc Nancy betont, besondere Bedeutung im Moment der Entzauberung: Genau zu einem Zeitpunkt, wo es »keine ›Polis‹ und nicht einmal mehr eine ›Gesellschaft‹ gibt, aus der sich eine regulative Figur formen ließe, da bietet sich in der ganzen Zugespitztheit seiner Frage und Souveränität seiner Forderung das jeder Intuition, jeder Repräsentation oder Imagination entzogene ›Zu-mehreren-sein‹ an. Frage und Forderung hängen an der Konstitution des ›Zu-mehreren-seins‹ als solchem, also an der Konstitution der Pluralität im Sein. Die ›Ko-Existenz‹ sieht darin auf außergewöhnliche Weise ihren zugespitzten und komplizierten Begriff.«23

23. Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein, Zürich und Berlin: Diaphanes 2004, S. 74-75.

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Die als Koexistenz formulierte Gemeinschaft tritt nicht durch ein inszeniertes Zusammenführen von Verschiedenheit zutage, sondern zeigt sich verstreut anhand von wandelbaren räumlichen Konfigurationen, die diese Inszenierung unterbrechen: räumliche Aneignungen und Übernahmen, Schmuggel, Fälschung und Piraterie. Höchste Brisanz gewinnt dieses Moment von Störung dort, wo ein gemeinsames Feld der Artikulation am stärksten fehlt: im Denken von Koexistenz im Maßstab der globalen Öffentlichkeit – ihrer multiplen Felder der Kommunikation, ihrer unpässlichen Kräfte und ihres unteilbaren gemeinsamen Terrains. Diese Form von Gemeinschaft anzusprechen ist ein performativer Akt.24 Er wendet sich an das gesamte Projekt von Politik in einer globalisierten Öffentlichkeit, in der die Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Gemeinschaftsinteressen der globalen Öffentlichkeit jede Gruppe zwingt, sich kreativ zu erweitern. Hier liegt die Schwierigkeit für Kunst und Architektur: im Suchen nach Möglichkeiten, diese Erweiterungen zutage zu bringen, sie gelten zu lassen und positiv zu bewerten, sodass sich wechselseitige Verkettungen und Inkorporierungen bilden können, Ebenen der Kommunikation für eine kreative Überschneidung unterschiedlicher Vielfältigkeiten. Um einen solchen, auf Störung und Erweiterung verweisenden Begriff von globaler Koexistenz und Öffentlichkeit weiterzuführen, möchten wir einen Gedanken wieder aufgreifen, den wir in der Frage des Umgangs mit Konfl ikt diskutiert haben, und zwar jenen des Provisoriums als Kompensation. Was einen solchen Gedanken in unserem Zusammenhang nützlich macht, ist sein Richtungswechsel von Originärem zu Zukünftigem. An die Stelle bloßer Duldung von Widersprüchen und Unvereinbarkeiten räumlicher Organisation lässt er ein aktives Moment der Veränderung treten. In seiner Schrift Totem und Tabu setzt Sigmund Freud Mythos und Magie mit dem Begriff des Ersatzes in Verbindung und stellt fest, dass Kunst ein unerreichbares reales Objekt durch ein Scheinobjekt ersetze.25 Ästhetische Produktion und das damit verbundene Vergnügen würden eine Ersatzfunktion 24. Susan Buck-Morss: Thinking Past Terror: Islamism and Critical Theory on the Left, London und New York: Verso 2003, S. 22. 25. Sigmund Freud: »Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker)«, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2000 [1912/1913], S. 287-444.

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ausüben, mit der sich der Künstler einer Phantasiewelt verschreibt, anstatt Erfüllung in der richtigen Welt zu finden. Freud kann in der Entwicklungsbahn des Menschen keinen Sinn darin erkennen, diese Funktion ein Leben lang aufrecht zu erhalten. Vielmehr sieht er im Ersatz eine Zuflucht zu kompensatorischer Befriedigung. Was aber, wenn wir Konflikte und Störungen in einer Sphäre der Verbundenheit anerkennen und ein Klima nicht nachlassender und stattgegebener Widersprüche zulassen würden? Wir würden so einen Schritt setzen, ein womöglich ›unvollkommenes‹ aber ›vollkommen geeignetes‹ Modell von Entwicklung vorzuschlagen. Ein solches Modell bricht mit einer klaren Trennung zwischen der inneren Welt der Phantasie und der äußeren Welt der Realität.26 Es plädiert für eine transformierende Erfahrung, die ein Experimentieren mit möglichen Welten in der Welt der bestehenden Beziehungsstrukturen lokalisiert. An die Stelle konkurrierender Systeme und deren Konstruktion von Diskontinuität tritt eine miteinander geteilte Praxis aufrechterhaltener Widersprüche, eine Gleichzeitigkeit mehrerer Welten, die Raum für Veränderung schaff t. »Anerkennung zu fordern oder zu geben«, schreibt auch Judith Butler, »heißt gerade nicht, Anerkennung dafür zu verlangen, wer man bereits ist. Es bedeutet, ein Werden für sich zu erfragen, eine Verwandlung einzuleiten, die Zukunft stets im Verhältnis zum Anderen zu erbitten.«27 Die Spannung andauernder Widersprüche mag zwar von Irritationen, Einbrüchen und Erschöpfungen begleitet sein, worauf es aber ankommt, ist die Fähigkeit, Beziehungen zu reparieren und wiederherzustellen. Die Ablehnung des Konzepts klarer Brüche und Trennungen und eine Präferenz von anhaltenden Widersprüchen zielt darauf ab, dass Verbundenheit kein Modell fortdauernder Harmonie ist, sondern ein Spannungsbogen, der von ständigen Störungen und Reparaturen aufrechterhalten wird. In diesem Modell gibt es kein normatives Ideal von Balance, das Risse mit Versagen gleichsetzt. Anstatt der Obsession mit perfekten Realisierungen einer bestimmten Form von Organisation stattzugeben, plädiert es für ei26. Ein Entwicklungsmodell von Konfliktpraxis skizziert etwa Jessica Benjamin in »Recognition and Destruction«, in: dies., Like Subjects, Love Objects: Essays on Recognition and Sexual Difference, New Haven, CT: Yale University Press 1995. 27. Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 62.

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nen Raum, in dem die unordentlichen und widersprüchlichen Seiten von Kreativität ihre generativen Kräfte ausagieren können und genau dabei die Bedingungen des Wachstums überarbeiten. Im vielgebrauchten relationalen Konstrukt der Multitude, wie es Paolo Virno in Grammatik der Multitude skizziert hat, findet sich in zweifacher Weise ein Widerhall dieser Argumentation: Zum einen in der Art, in der das Subjekt eine Streitzone unterschiedlicher Kräfte darstellt, die Individuation als unvollständig und fragmentarisch belassen. Das geflechtartige, amphibische Subjekt dieser Auseinandersetzung ist immer an die Kraft des Vor-Individuellen gebunden. Der andere Aspekt betriff t die Art, wie Netzwerkhandeln neue Modelle sozialer Äußerung und Interaktion aus einer Umarbeitung und Neubestimmung von gegenwärtigen Vorstellungen gewinnt und nicht aus einer Transition von einem Punkt zum anderen.28 Diese Einschätzung der Aneignung und Umgestaltung der Netzwerkgesellschaft beruht also auf einem Begriff von Ersatz, der weniger beim Prinzip der Stilllegung und vielmehr bei Praktiken fortgeführten Widerspruchs ansetzt. Dies ist ein Ersatz, der äußere Realität nicht umgeht. Weder verdrängt er sie, noch ahmt er sie über die Zuhilfenahme eines Surrogats nach. Er operiert schlicht von innen heraus. Diese Form von Ersatz ist weder parasitär noch abgründig, sondern ein struktureller Modus, der von denselben Kräften konditioniert wird, die auch ihn hervorgerufen haben. Deshalb teilt er auch deren operationale Logik. Was sich dadurch als vordringlichste Herausforderung für Architektur heute stellt, ist, Möglichkeiten für das Entstehen dialogischer Formen von Koexistenz zu schaffen. Dazu ist ein Wiedererlangen von politischer Kultur in der Gestaltung von Raum und ein Neubesetzen von Architektur als Feld kollektiven Agierens nötig. Beides bedarf einer prinzipiellen Politisierung von Raum, und nicht einer Klassifizierung von speziellen Räumen zur Austragung von Politik, sei es als parlamentarisches Forum, als Bürgerversammlung oder als aktivistische Gruppe. Es gilt, urbanes und geokulturelles Gestalten als Raum der Politik schlechthin zu verstehen und kollektive Zugänge zur Verwendung dieses Raums zu schaffen. Dazu braucht es Werkzeuge und Mittel, die nicht aus einem bestehenden Repertoire entlehnt, sondern nur in einem Gefüge von aktuellen Alltagsrealitäten gewonnen wer28. P. Virno: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, S. 80f.

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den können, fortlaufend und immer wieder neu. Die Entwicklung solcher Werkzeuge in verstreuten experimentellen Situationen bedient sich räumlicher und gesellschaftlicher Transition als ›unvollkommenem‹, aber ›vollkommen geeignetem‹ Arbeitsmodell, um eine jeweils neue Form von Zugang zusammenzusetzen. Community ist dabei nicht das Ziel der Planung, sondern der veränderliche und vielfältig vorhandene Ort der Zugangsgewinnung. Dazu gilt es, Handlungsdispositionen zu entwickeln, die sich nicht auf eine neuerliche Verhärtung von Identitätszügen stützen, sondern ein Modell performativer Politik verfolgen. Ein solches Verständnis von Praxis beruft sich nicht auf die Rolle der Opposition gegenüber einer zentralen Macht, sondern bricht aus dem auferlegten Dualismus von Innen- und Außenwelten aus und gebraucht die grundlegende Dynamik des Netzwerkes für sich selbst – die Dynamik der Transformation, um neue Beziehungen zum Gegenüber zu erfinden. Diese performative Praxis nimmt Kontakt auf und bahnt im Austausch kompensatorische Wege, die in den Ritzen der hegemonialen Ordnung ein Überschreiten der Abtrennungen und Aussperrungen ermöglichen. Experimentelle Raumpraxen formen den Ersatz, die symbolische Geste, die den Ausschluss des Konflikts unterwandert. Indem sie gelebten Subjektivitäten Raum geben, ermöglichen sie die Wiedereinführung von Gesellschaft im Bestimmen von Raum. Diese Projektformen sind so nicht sekundäre Illustration einer politischen Auseinandersetzung, sondern das Terrain der Auseinandersetzung selbst. Die in diesem Buch versammelten Handlungsansätze künstlerischer und architektonischer Praxen spannen solcherart einen Bogen auf, der hilft, den Umgang mit einer Politik, in der die Erhaltung des Ausnahmezustands zur vorherrschenden Doktrin einer interessenskonformen Transformation wird, konzeptuell weiterzuentwickeln. Sie erproben eine Praxis, die sich in diesen Ausnahmezustand einnistet und ihren eigenen Ausnahmezustand provoziert, um ein Entscheidungspotenzial zu entwickeln und die damit verbundene Transformation für sich zu reklamieren. Durch ihr Engagement mit dem vorgefundenen Material der Gegenwart – mit den augenblicklichen Situationen und den Subjekten, die sich in einer bestimmten Rolle darin wiederfinden – sind sie gezwungen, erfinderisch tätig zu werden und ihre eigenen Modelle der Konfliktverhandlung zu produzieren, ohne auf die Sicherheit von Expertenmodellen vertrauen zu können. Ihre

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Parallelwelten

Stärke liegt gerade nicht in einer Anwendung von vorhandener Expertise, sondern in einer ständigen Erneuerung des Hier und Jetzt.

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Literatur

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Literatur

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Abbildungen

Abbildungen 1-3: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildung 4: Srdjan J. Weiss/NAO Abbildung 5: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildung 6: Srdjan J. Weiss/NAO Abbildung 7: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildung 8: Eyal Weizman Abbildung 9: Multiplicity Abbildung 10: Ursula Biemann Abbildung 11: Ayreen Anastas und Rene Gabri Abbildungen 12-13: Observatorio tecnológico del estrecho Abbildung 14: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildung 15: Straddle3 Abbildung 16: Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung Abbildungen 17-20: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildungen 21-22: Azra Akšamija Abbildungen 23-43: Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Abbildung 44: Oliver Ressler Abbildung 45: Campement Urbain Abbildung 46: Atelier d’architecture autogérée

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Namens- und Sachregister

A/S/L (Age/Sex/Location) 23 Afrika 34-35, 41, 49 Agamben, Giorgio 33-34, 41, 53, 127, 131 Akšamija, Azra 14-15, 77 Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) 104 Alternative Economics, Alternative Societies 119-121, 123 Altvater, Elmar 99 Anastas, Ayreen 41, 43 Archipelwirtschaft 95-96 ARPANET (Advanced Research Project Agency Network) 61 ASBO (Anti-Social Behaviour Order) 37, 55 Asien 24, 87 atelier d’architecture autogérée 127-128 Ausnahmezustand 53-54, 57, 77, 136 Autopoiesis 27

Barcelona 46-47 Can Ricart 46-47 Barefoot College (Rajasthan) 122 Belgrad 13-14, 21 Berardi, Franco (Bifo) 32 Berlin 88, 94 Bhabha, Homi 64 Biemann, Ursula 41-42 Biopolitik 41, 56 ›black sites‹ 24 Blair, Tony 111 Blanchot, Maurice 125 »blat« 96 Bosnien-Herzegowina 67-79, 94 Brčko Arizona-Markt 67-79 Brügger, Urs 106 Budapest Vier-Tiger-Markt 97 Burgin, Victor 42 Butler, Judith 63, 131, 134

Bakhtin, Mikhail 122 Balkan 21, 67, 76 West- 11-12, 15-16 Banlieues 37, 55

Call-Center 23 Callon, Michel 104 Camp Campaign 41-43 Campement Urbain 126-129 149

Netzwerk Kultur

Canetti, Elias 58 Carl, Katherine 14-15 Castells, Manuel 118 Centrala Foundation for Future Cities 11 China 24, 77, 86-87, 93, 96 CIA 24, 37 Community (s. auch Gemeinschaft) 16, 21, 41, 55, 96, 124, 136 CZKD (Centre for Cultural Decontamination, Belgrad) 21 Davis, Mike 100 Dayton-Friedensabkommen 67 de Soto, Hernando 100 DeLanda, Manuel 129-130 Delany, Samuel R. 124 Dialogismus 122 Dubai 59, 114 The World 59 Dzokic, Ana 14 ECObox 127-128 Esen, Orhan 80 Esperanto 123 EU (Europäische Union) 12, 24, 43, 49 -Außengrenzen 37, 49 -Europa 12 Eufor (European Union Force) 74 Europa 9, 11-12, 15-16, 31, 41, 46, 49, 59, 67-68, 74, 96, 114, 117 Ost- 21, 24, 31, 61, 68, 95 Paneuropäischer Korridor X 12 Europe Lost and Found 14

Fada’ìat 44-45 Flashmobbing 35 Fordismus 96 Post- 33, 120 Foucault, Michel 101-104 Freud, Sigmund 133-134 Gabri, Rene 41, 43 Gated Community 52, 59 Gecekondu 80 Gemeinschaft (s. auch Community) 11, 13, 26, 28, 35, 67, 100, 113, 117-118, 122-133 entwerkte (Blanchot) 125 undarstellbare (Nancy) 124 Utopie der 123, 125-126 Gibraltar, Straße von 45 Globalisierung 28, 30-31, 60-61, 81, 91-92, 98-99, 107, 113, 125, 133 ›gold farming‹ 24 Gouvernementalität 9, 56, 103 Granovetter, Mark 104 Grenze 19, 21-22, 24, 32, 37-44, 46, 48-52, 56, 59-60, 64, 75, 78, 85, 95, 101 Grenzobjekt 105 Grenzökonomie 105 Griesemer, James 105 Großbritannien 37, 52, 55, 114 Gržinić, Marina 21 Guantanamo Bay 24 Guattari, Félix 30, 121 hackitectura 45 Hannula, Mika 30 Hardt, Michael 11 Harvard Business School 77

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Namens- und Sachregister

-politik 39 -steuerung 52 Krieg 12, 14, 38, 44, 49-50, 52, 56-57, 61, 63-64, 67-68 Guerilla- 50, 60 Krise 52-54, 58-61 Krisenmanagement 54 Kucina, Ivan 14 kuda.org (Novi Sad) 15, 20-21 Kwon, Miwon 25

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) 49-51 Hoher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft für Bosnien und Herzegowina (OHR) 67-68 Holmes, Brian 106-107 homo oeconomicus 103-104 Ifor (Peace Implementation Forces) 67 Indymedia of the Straits 45 Informalität 84, 94, 98-100, 107-108 informeller Markt 43, 68, 70, 75-76, 80, 83-86, 88, 91, 93102, 105-110 Israel 38-39, 59 Istanbul 79-85, 94 Italproject 73-76, 78 Je&Nous 126-127 Jugoslawien 11, 21, 67, 119 ›Straße der Brüderlichkeit und Einheit‹ 12

Laclau, Ernesto 62, 86 Lager 24, 41-44, 52, 54 Latour, Bruno 60, 104 Law, John 104 Lefebvre, Henri 50 Leigh Star, Susan 105 Ljubljana 13, 21 London 59, 111-117 Emirates-Stadion 59, 113-114 FC Arsenal 111-113 Finsbury Park Moschee 114, 116 Highbury-Stadion 111-113, 117 Lost Highway Expedition 11-13, 15, 17, 22, 25

Kartographie 28-29, 41 Kibera, Nairobi 35 Knorr Cetina, Karin 106 Koexistenz 27, 54, 62, 64, 116, 124, 126, 131-133, 135 Kofferhandel 95 Kognitariat 32 kognitiver Kapitalismus 21, 29 Konflikt 28, 33, 36-38, 41-42, 4665, 75, 77, 85, 102-104, 107, 133-134, 136

Maghreb 59 Mahnkopf, Brigitte 99 mama (Zagreb) 21-22 Marokko 41-42, 45-46 Melitopoulos, Angela 16 Metelkova (Ljubljana) 21 Migration 43-44, 92, 95, 108, 113, 124, 131 Mikrounternehmen 35 Mittelmeer 38, 40 Moderne, die 58, 80, 85-86 Moskau 86-88, 90-92, 94 151

Netzwerk Kultur

Press to Exit (Skopje) 21 Prishtina 13 pro.ba (Sarajewo) 21

Cherkizovsky-Markt 86-88, 90-91, 93-94 Russische Sportuniversität (RGUFK) 87-88, 91 Vernisazh 86, 91 Mouffe, Chantal 62 M-Pesa 34 Multiplicity 37, 40

»quanxi« 96 Rancière, Jacques 46, 121 Raqs Media Collective 23, 27 Ressler, Oliver 119-121 Russland 86-93

Nairobi Peoples’ Settlement Network 35 Nancy, Jean-Luc 123-125, 132 Neelen, Marc 14 Negri, Antonio 11, 32 Networked Cultures Dialogues 10 Netzwerk -denken 18 -handeln 19, 22, 32, 34-36, 135 Handels- 60 -konnektivität 34, 36 -kreativität 16, 19, 35-36 -migration 108, 124 Mobilfunk- 34-35 -praxen 27, 32 -produktion 29, 107 Terror- 52, 58-60 Novi Sad 13, 15, 21

San Diego 51 Sarajewo 13-14, 21 Sassen, Saskia 100 Schengener Informationssystem (SIS) 49 School of Missing Studies 11, 20 Selbstorganisation 11, 15, 25-27, 30, 32, 35, 68, 75, 77-78, 85, 94-96, 98-99, 118, 130 Sfor (Stabilisation Force) 67-68, 78 Simmel, Georg 64 Simone, AbdouMaliq 108 SIVE (Sistema Integrado de Vigilancia Exterior) 49 Skopje 13, 21 Solid Sea 37, 40 Spanien 41-42, 45-46, 49 Stalin, I.V. 88, 90-91 Straddle3 45, 48

observatorio tecnológico del estrecho 45 Padua 55-56 Palästina 38-39, 59 Paris 57, 114, 127-128 Park, Kyong 14-15 Perestroika 90-91 Podgorica 13 Potrč, Marjetica 14-15 Prekarität 35, 97

Tanger 46 Tarifa 46 Terrorismus 37, 52, 54, 58-60, 114 Anti-Terror-Design 59 Tijuana 51 Timescapes 16

152

Namens- und Sachregister

Tirana 13 Turbo-Architektur 76, 79 UNHCHR (United Nations High Commissioner for Human Rights) 78 UN-Kommission zur Begrenzung der Kontinentalsockel (UNCLCS) 37 USA 14, 23, 37, 41-42, 49, 51, 61 USAID (United States Agency for International Development) 78 Veltz, Pierre 95 Vidler, Anthony 57 Viet Minh 60 Virno, Paolo 26, 120, 135 Warschau Jarmark Europa 94 Weiss, Srdjan Jovanovic 14-15, 76 Weizman, Eyal 38-39, 64 Zagreb 13, 21-22

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Kultur- und Medientheorie Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4

Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika Oktober 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

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3) ANZ1356.p 235920943522

Kultur- und Medientheorie Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Juni 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens Juli 2010, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)

Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

August 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader

Marcus Maeder (Hg.) Milieux Sonores/ Klangliche Milieus Zum Verhältnis von Klang und Raum

Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Juli 2010, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1313-1

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien

Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1186-1

Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Daniel Gethmann (Hg.) Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts

Juni 2010, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1419-0

Juni 2010, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Fernand Hörner, Harald Neumeyer, Bernd Stiegler (Hg.) Praktizierte Intermedialität Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst

Mai 2010, ca. 250 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1338-4

Mai 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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