Neo-Existentialismus 9783495823248, 9783495490471


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German Pages [172] Year 2020

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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Jocelyn Maclure: Einleitung: Vernünftiger Humanismus und der humanistische Widerstand gegen den Reduktionismus
Markus Gabriel: Neo-Existentialismus
I. Bewusstsein der Lücke
II. Warum der Naturalismus scheitert
III. Geist als explanatorische Struktur
IV. Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell
Charles Taylor: Gabriels Widerlegung
Jocelyn Benoist: »Existiert« der Geist?
Andrea Kern: Menschliches Leben und sein Begriff
1.
2.
3.
4.
5.
Repliken auf Jocelyn Maclure, Charles Taylor, Jocelyn Benoist und Andrea Kern
I. Replik auf Maclure
II. Replik auf Taylor
III. Replik auf Benoist
IV. Replik auf Kern
Bibliographie

Neo-Existentialismus
 9783495823248, 9783495490471

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Markus Gabriel

NeoExistentialismus

Mit Beiträgen von Jocelyn Benoist, Andrea Kern, Jocelyn Maclure und Charles Taylor

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823248

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B

Markus Gabriel Neo-Existentialismus

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Markus Gabriel Neo-Existentialismus In diesem Band stellt Markus Gabriel seine neuartige philosophische Theorie des menschlichen Selbst vor. Seine Sichtweise, der sogenannte Neo-Existentialismus, ist dabei als anti-naturalistisches Projekt zu begreifen, dem zufolge sich der menschliche Geist der Tatsache bewusst zu werden hat, dass der Mensch nicht in der unbelebten Natur und dem übrigen Tierreich aufgeht, sondern auf ein sich änderndes Bild seines Selbst angewiesen ist, das ihn im größten denkbaren Kontext des Universums verortet. Jocelyn Benoist, Andrea Kern, Jocelyn Maclure und Charles Taylor diskutieren seine Thesen zum Neo-Existentialismus kritisch – Markus Gabriel stellt sich dieser Kritik, indem er seine Argumentation weiter expliziert.

Der Autor: Markus Gabriel ist nach Stationen in New York (NYU; New School for Social Research) und Heidelberg (Promotion 2005, Habilitation 2008) seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart an der Universität Bonn. Zuletzt von ihm erschienen im Verlag Karl Alber: »Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie« (2012, 5. Aufl. 2017). Mit »Warum es die Welt nicht gibt« (Ullstein) war er 2013 viele Wochen auf den Bestsellerlisten.

https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Markus Gabriel

NeoExistentialismus Mit Beiträgen von Jocelyn Benoist, Andrea Kern, Jocelyn Maclure und Charles Taylor

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de © peshkova – AdobeStock Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49047-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82324-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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Jocelyn Maclure: Einleitung – Vernünftiger Humanismus und der humanistische Widerstand gegen den Reduktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Neo-Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bewusstsein der Lücke . . . . . . . . . . . . . II. Warum der Naturalismus scheitert . . . . . . III. Geist als explanatorische Struktur . . . . . . . IV. Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell . . . . . . . . . .

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Jocelyn Benoist: »Existiert« der Geist? . . . . . . . . . .

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Charles Taylor: Gabriels Widerlegung

Andrea Kern: Menschliches Leben und sein Begriff Repliken auf Jocelyn Maclure, Charles Taylor, Jocelyn Benoist und Andrea Kern . . . . I. Replik auf Maclure . . . . . . . . . . . . II. Replik auf Taylor . . . . . . . . . . . . . III. Replik auf Benoist . . . . . . . . . . . . IV. Replik auf Kern . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Es freut mich sehr, dass Neo-Existentialismus hiermit auf Deutsch vorliegt. Der Kerngedanke der im Folgenden zunächst vorgestellten und dann im Diskussionsformat der Rückfragen und Einwände profilierten Position lautet, dass es unmöglich ist, Subjektivität naturalistisch zu überholen. Es kann prinzipiell nicht gelingen, das Subjekt derart in der Natur zu verorten, dass es keiner weiteren Selbsterkundung bedarf. Dabei ist »das Subjekt« ein Platzhalter für eine indefinit große Zahl von Selbstbestimmungsprojekten, die ich insgesamt unter dem Titel des Geistes zusammenfasse. Hierbei ist Geist das Vermögen, ein Leben im Licht einer Vorstellung davon zu führen, wie wir als Menschen Teil einer Umgebung sind, die uns überschreitet. Dieses Vermögen, unsere Selbstbildfähigkeit, lässt sich auf vielfältige Weise ausüben. Man kann sich ebenso für ein Lebewesen halten, dessen Gedanken Ausdruck einer unsterblichen Seele sind, wie für einen hochgerüsteten Killeraffen, dessen grundlegende Absichten eine Hochrechnung des Zusammenspiels unserer vielen egoistischen Gene sind, um nur zwei Extrempositionen zu markieren. Wie man sich zu sich selbst verhält, ist konstitutiv dafür, wer oder was man ist. Die Pointe des Neo-Existentialismus lautet in diesem Zusammenhang, dass unsere Selbstbestimmung zwar normiert ist: Es gibt gelingende und scheiternde Formen von Wissensansprüchen bezüglich des eigenen Selbst, da wir schließlich beispielsweise entweder eine unsterbliche Seele haben oder eben nicht. Aber falsche Überzeugungen bezüglich unseres Status als geistige Lebewesen sind gleichermaßen Ausübungen derselben Selbstbildfähigkeit wie solche, die uns angemessen erfassen. Dabei lässt sich das Projekt der Selbstbestimmung nicht umgehen, indem man eine Außenperspektive auf die mensch7 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Vorwort zur deutschen Ausgabe

liche Lebensform – etwa diejenige der medizinischen, humanbiologischen Selbstbeschreibung einnimmt. Denn dieser Versuch scheitert daran, dass keine Beschreibung der messbaren, in naturwissenschaftlichen Modellen darstellbaren Eigenschaften des Menschen eine Beschreibung der Selbstbildfähigkeit ist. Die Motivlage der humanbiologischen Selbstbeschreibung wird damit in ihrem Vollzug ausgeblendet und damit allenfalls inadäquat erfasst. Mutatis mutandis gilt dies für jeden Versuch, den Menschen als Fremdkörper im Universum zu verorten, d. h. als einen Körper, der die überraschenden, nur aus der Innenansicht bekannten mentalen Eigenschaften aufweist, die heute meistens unter der Rubrik des »Bewusstseins« zusammengefasst werden. Doch diese Rubrik ist zu eng, um dem Begriff des Geistes gerecht zu werden. Die Selbstbildfähigkeit des Menschen erschöpft sich nicht im Bewusstsein, da dieses allenfalls eine Ebene der vielfältigen Schichten des Geistes ist, in die wir unseren mentalen Gesamtzustand auflösen können. Die Frage, wie der Geist in die Natur passt, ist daher kategorial von der Frage zu unterscheiden, wie und ob sich ein neuronales Korrelat des Bewusstseins identifizieren lässt. Denn selbst wenn eines Tages das Problem gelöst wäre, wie man Bewusstsein an einem Lebewesen aus der Außenansicht messen kann, wäre damit die Frage, wie genau die Korrelation zu bestimmen ist (als Identität, Supervenienz, Emergenz usw.) noch nicht berührt. Und spätestens an dieser Stelle taucht das Problem der Selbstbestimmung wieder auf, d. h. der Geist als das Vermögen der Selbstbestimmung, von dem ein Neurowissenschaftler Gebrauch machen muss, um sich als Subjekt neurowissenschaftlicher Wissensansprüche zu verstehen, die ihrerseits nicht sinnvoll auf die Darstellungsmodi bildgebender Verfahren reduziert werden können. Der Neo-Existentialismus greift verschiedene Motive der existentialistischen Traditionslinien auf. Die Innovation besteht darin, eine höherstufige Invariante der Selbstbestimmung ausfindig zu machen, die ich in der besagten Selbstbildfähigkeit, d. h. im Geist, verorte. Damit antworte ich in der begrifflichen Tiefendimension auf eine Rückfrage bezüglich 8 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Vorwort zur deutschen Ausgabe

einer früheren Fassung meiner Subjektivitätstheorie, die Paul Boghossian im September 2015 während meines Forschungsaufenthalts als Visiting Scholar an der New York University gestellt hat. Wenn unser mentalistisches Vokabular zur Selbstbeschreibung unserer subjektiven Zustände und Prozesse (Bewusstsein, Gefühl, Vigilanz, Aufmerksamkeit, Selbst, Intelligenz, Verstand usw.) linguistisch abbildbar synchron, diachron und damit historisch variiert, wie lässt sich diese Tatsache überhaupt namhaft machen, ohne anzunehmen, dass es eine anthropologische Konstante gibt, die darin besteht, dass ein ausdifferenziertes mentalistisches Vokabular zum Einsatz kommt? Mein Titel für diese Konstante ist »Geist«, womit ich an die existentialistische Tradition (vor allem an Schelling und Kierkegaard) anknüpfe. Deren im Einzelnen hochgradig verschiedenen Stellungnahmen zur Frage des Geistes und damit des menschlichen Selbstverhältnisses als solchen lasse ich im Folgenden außer Acht. Denn es geht spezifisch darum, die begriffliche Ressource einer irreduziblen Bandbreite mentalistischer Vokabulare bei gleichzeitigem Fortbestand einer anthropologischen Konstante zum Ausgangspunkt einer zeitgemäßen Philosophie des Geistes zu machen, die einen innovativen Lösungsraum des Geist-Natur-Problems (einschließlich des spezifischen Neuronen-Bewusstseins-Problems) eröffnet. Ich danke hiermit einmal mehr den Diskutant*innen, die für diesen Band Kommentare verfasst haben, auf die ich wiederum replizieren durfte, um auf diese Weise verwandte, aber nicht deckungsgleiche Projekte aus der Gegenwartsphilosophie in einer sachlichen Auseinandersetzung ins Gespräch zu bringen. Außerdem bedanke ich mich beim Verlag Karl Alber, insbesondere bei Lukas Trabert und Martin Hähnel für ihr Interesse an diesem Büchlein und das äußerst gelungene Cover, das den Gedanken der Unhintergehbarkeit auf den Punkt bringt. Unser Standpunkt in der verschachtelten und historisch hochgradig ausdifferenzierten Perspektive auf unsere Selbsterfassung ist seinerseits nicht noch einmal hintergehbar, sondern der nicht sinnvoll eliminierbare Boden, auf dem wir stehen, 9 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Vorwort zur deutschen Ausgabe

wenn wir uns der Aufgabe widmen, Auskunft darüber zu geben, wie der Mensch in die Wirklichkeit passt. Bonn, im Sommer 2020

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Einleitung: Vernünftiger Humanismus und der humanistische Widerstand gegen den Reduktionismus Jocelyn Maclure 1 (aus dem Englischen von Marin Geier)

Markus Gabriel ist einer der aufregendsten Denker der neuen Generation akademischer Philosophen. Er verteidigt kühne Positionen im Bezug auf große metaphysischer Fragen. In vorangegangenen Arbeiten argumentierte er dafür, dass der Missbrauch des Konstruktivismus in Ontologie und Erkenntnistheorie einen neuen Realismus erforderlich gemacht hat, der sich auf die Pluralität von Gegenstandsbereichen oder »Sinnfeldern« konzentriert, die die Realität ausmachen. Seine Arbeit fußt auf einer beeindruckenden Kenntnis einer Vielzahl vergangener und gegenwärtiger philosophischer Traditionen. Es gibt für ihn keine scharfe Trennung zwischen Philosophie und ihrer Geschichte. Ferner betrachtet er, wie er im Eröffnungskapitel dieses Bandes darlegt, die Analytisch/Kontinental-Unterscheidung als unsinnig und lähmend. Gabriel fügt seine Stimme einer bedeutenden Tradition humanistischer Gelehrter hinzu, denen das Übergreifen des naturwissenschaftlichen Diskurses auf unser Verständnis menschlicher Wirklichkeit und Erfahrung Sorgen bereitet. Ich möchte mich bei Jean-Philippe Marceau und Hugo Tremblay für deren scharfsinnige und sachdienliche Kommentare bedanken zu früheren Versionen dieser Einleitung, als auch bei Jean-Philippe für dessen sorgfältige Hilfe beim Editieren des Textes. Ich bin Markus Gabriel, Charles Taylor und Dominic Cliche zu Dank verpflichtet für die stimulierenden Diskussionen, die über die Themen, die in diesem Band diskutiert werden, im Verlauf der Jahre stattgefunden haben. Markus Gabriels Beitrag wurde zum ersten Mal anlässlich der Eröffnungsrede der »Grande conférence de la Chaire La philosophie dans le monde actuel« an der Universität Laval im Januar 2017 vorgetragen.

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Jocelyn Maclure

Wie in den in diesem Band versammelten Repliken deutlich wird, hat ein Strang dieser Tradition seine Wurzeln in der deutschen Philosophie. Dabei handelt es sich nicht um etwas, was Teil der Konzeption dieses Buches war, als ich potentielle Kommentatoren kontaktiert habe, aber es sollte sich zeigen, dass Charles Taylor, Jocelyn Benoist und Andrea Kern sich allesamt implizit oder explizit auf Traditionen wie den Idealismus und die Phänomenologie beziehen, um Gabriels Angriff auf den Naturalismus innerhalb der Analytischen Philosophie des Geistes zu unterstützen. Charles Taylor ist ein langjähriger Kritiker von Szientismus und reduktivem Naturalismus. 2 Jocelyn Benoist ist einer der führenden Experten für die Entstehung der Phänomenologie und die Verbindungen zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie. 3 Andrea Kern entwickelt in ihren Arbeiten zu Metaphysik und Erkenntnistheorie eine Variante des Neo-Aristotelismus, die von Kant und dem Deutschen Idealismus beeinflusst ist. Alle drei haben, wie Gabriel, die Analytisch/Kontinental-Spaltung in der westlichen Philosophie entschieden überwunden. Im Aufsatz, der den Eckpfeiler dieser Sammlung darstellt, fordert Gabriel die Hegemonie des Naturalismus in der analytischen Philosophie des Geistes heraus. Er nimmt seinen Ausgang bei der klassischen Frage, wie der Geist in die natürliche Welt passt. Wie können physikalische und biologische Prozesse die, soweit wir wissen, selbst nicht bewusst sind, mentale Zustände wie Wünsche, Überzeugungen und Intentionen zur Folge haben? Wenn wir einmal, auf der Grundlage unserer besten naturwissenschaftlichen Theorien, den Glauben an eine immaterielle Seele aufgegeben haben, wie erklären wir dann bewusste, subjektive Erfahrung und wie passt diese Vgl. Taylor (1964); Vgl. auch die Artikel »Self-interpreting animals« und »Hegel’s philosophy of mind« in Taylor (1985a); und »Interpretation and the sciences of man« in Taylor (1985b). 3 Vgl. Benoist (2011). 2

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Einleitung

mit allem zusammen, was wir über die physikalische Welt wissen? Da der cartesische »Subtanzdualismus« keine Option mehr darstellt, besteht die offensichtliche Versuchung darin, das Mentale auf basalere natürliche Eigenschaften wie etwa Hirnprozesse zu reduzieren, welche ihrerseits durch physikalische Gesetze, Mechanismen und Eigenschaften erklärbar sind. Aber da nicht klar ist, wie die Erforschung verschiedener Hirnregionen und neuronaler Aktivitäten uns verraten soll, was eine subjektive Erfahrung ist – etwa die Erfahrung des ersten Kusses von jemandem, in den oder die man verliebt ist – fragen sich viele, ob wir hier mit einem »harten Problem« konfrontiert sind, das vielleicht niemals durch die Naturwissenschaften, einschließlich der Neurowissenschaften, gelöst werden wird. 4 Gabriel assoziiert den Naturalismus, nebst anderen Dingen, mit der Entscheidung, den Geist als natürliche Art zu betrachten und ihn auf physikalische Mechanismen zu reduzieren. Er hält diese Entscheidung für irregeleitet. Er möchte »den gesamten Rahmen […] infrage stellen« (S. 25), der aus dem Naturalismus eine allumfassende, spekulative Metaphysik anstatt eines gut fundierten Ansatzes zur Erforschung der natürlichen Welt gemacht hat. Im Gegensatz dazu entwirft er eine Position, die er »Neo-Existentialismus« nennt, die behauptet: dass es kein einzelnes Phänomen oder keine einzelne Realität gibt, die dem letztlich sehr verworrenen Sammelbegriff »das Bewusstsein [the mind]« entspricht. […] Was indessen diese unterschiedlichen Phänomene, die dem verworrenen Begriff »das Bewusstsein« zugeordnet sind, vereint, ist, dass sie alle Konsequenzen des Versuchs des Menschen darstellen, sich einerseits vom bloß physischen Universum und andererseits vom Rest des Tierreichs zu unterscheiden. So ist unser Selbstbild davon, spezifische bewusste (minded) Geschöpfe zu sein, im Lichte unserer ebenso verschiedenen Auffassungen davon entstanden, was es für nicht-menschliche Wesen bedeutet, zu existieren. (S. 25 f.) 4

Vgl. Chalmers (1996).

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Jocelyn Maclure

Man könnte sich fragen, wie Taylor es in seinem Beitrag tut, ob der Verweis auf den Existenzialismus die geeignetste Art ist, die von ihm vorgebrachte Position zu beschreiben, und die Philosophen, von denen er beeinflusst ist, zusammenzufassen. Gabriels »Neo-Existentialismus« geht sehr viel weiter als die philosophischen Positionen, die Sartre und de Beauvoir nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt und dargelegt haben. Einige eminente frühere Protagonisten dieser Bewegung wie Merleau-Ponty und Camus haben später dieses Etikett entschieden zurückgewiesen. Der Neo-Existentialismus scheint Elemente zu beinhalten, die aus dem stammen, was manchmal Bewusstseinsphilosophien oder Subjektivitätsphilosophien, Deutscher Idealismus, Phänomenologie, Hermeneutik (angewandt auf das Selbst, oder narrative Theorien des Selbst) und Existenzphilosophien genannt wird. Gabriel schlägt sich deutlich auf die Seie jener, die die Identitätstheorie von Gehirn und Geist ablehnen, als auch jener, die glauben, dass der Geist nicht bloß im Kopf ist. Ich sehe ihn als philosophischen Anthropologen, der unsere Aufmerksamkeit auf die unausweichlich kulturelle oder soziale Dimension des Geistes lenkt. Der Geist ist nicht nur das Resultat neuronaler Aktivitäten, welche Bewusstsein überhaupt erst ermöglichen, sondern auch von Selbstinterpretationen, Bedeutungserzeugung, und kollektiver symbolischer Aktivität, welche das Markenzeichen unserer Spezies ist. Wie Gabriel es ausdrückt: »Wir sollten nicht erwarten, dass diese Phänomene möglicherweise theoretisch vereinheitlicht werden könnten, indem man für sie ein äquivalentes natürliches Substrat findet.« (S. 76) Der deutsche Begriff des »Geistes« fängt die Durchlässigkeit zwischen Natur und Kultur besser ein als das englische »mind«. Man könnte vielleicht sagen, dass Geist sowohl die biologische als auch die kulturelle Evolution umfasst. 5

Vgl. Gabriel steht dem Begriff der »kulturellen Evolution« skeptisch gegenüber, aber es gibt Wege, diesen Begriff plausibel zu machen. Siehe Lewens (2015).

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Einleitung

Allerdings bleibt es unklar, wie genau Gabriels Neo-Existentialismus zufolge die Beziehung zwischen Geist und Gehirn zu denken ist. Auf der einen Seite behauptet er, dass er mit seiner Position nichts in Abrede stellen möchte, was von den Naturwissenschaften erwiesen wurde. Damit akzeptiert er, dass das Haben eines Gehirns eine notwendige Voraussetzung für das Haben von Geist ist. Er stellt nicht die Tatsache in Frage, dass mentale Ereignisse ein neuronales Korrelat haben. Auf der anderen Seite behauptet er, dass die »Auffassung, das Bewusstsein müsse sich in die Naturordnung einfügen lassen«, nichts anderes sei, »als die neueste Mythologie, der jüngste Versuch, alle Phänomene, die für die Erklärung menschlicher Handlungen relevant sind, in ein allumfassendes Strukturganzes einzufügen.« (S. 72) Ich stimme Gabriel voll und ganz zu, dass wir gute Gründe haben, die physikalistisch-monistische These zurückzuweisen, derzufolge mentale Zustände in erster Linie physikalische Zustände sind. Aber an dieser Stelle könnte man denken, dass, grob gesprochen, »naturalistische« Philosophen und Neurowissenschaftler die bescheidenere These vertreten könnten, dass es physikalische Voraussetzungen dafür gibt, dass so etwas wie ein intentionaler Standpunkt überhaupt möglich ist. Hirnzustände sind zumindest zum Teil konstitutiv für mentale Zustände; sie tauchen notwendigerweise in jeder plausiblen kausalen Geschichte über das Auftreten mentaler Zustände auf. Dies legt einen nicht logisch auf die Position fest, dass mentale Zustände auf Gehirnzustände reduziert werden können oder dass sie epiphänomenal seien. Gabriel könnte vielleicht nachdrücklicher anerkennen, dass der Versuch, herauszufinden, was in unserer neurobiologischen Evolution geschehen musste, damit so etwas wie subjektive Erfahrung entstehen konnte, oder was in meinem Gehirn passieren muss, damit ich einen Latte Macchiato genießen kann, ein wissenschaftliches Unternehmen von größter Bedeutung ist. Sobald wir, wie Gabriel es tut, anerkennen, dass das Haben einer bestimmten Art von Gehirn eine notwendige Bedingung dafür 15 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Maclure

ist, einen Geist zu haben, wird unsere Theorie ein naturalistisches Element aufweisen. In seinem Aufsatz scheint Gabriel zwischen der Eingliederung eines wissenschaftlichen Naturalismus in eine umfassendere philosophische Position und einer vollständigen Ablehnung des Naturalismus zu oszillieren. Ich persönlich neige zu der Ansicht, dass, im Angesicht der außerordentlichen Erklärungskraft der Naturwissenschaften, etwas, was wir »vernünftigen Naturalismus« nennen könnten, in eine umfassendere philosophische Sicht auf die Realität eingearbeitet werden sollte. Tatsächlich besteht die Möglichkeit Gabriels Beitrag so zu lesen, dass der Reduktionismus, und nicht der Naturalismus, das eigentliche Ziel seiner Kritik ist. Naturalisten sind der Überzeugung, dass der Geist in die »natürliche Ordnung passt«, aber sie müssen keine monistische Ontologie vertreten, der zufolge alles, was es gibt, auf natürliche Arten reduzierbar sein muss und dass der Fortschritt der Naturwissenschaften Stück für Stück zu einer Eliminierung aller mentalistischen Begriffe führen wird. Beispielsweise akzeptieren viele, dass man soziale Tatsachen und Institutionen nicht erklären kann, ohne sich auf die kausale Wirksamkeit kollektiver Intentionalität zu berufen. 6 Wenn ich hiermit richtig liege, wird eine weitere Entwicklung und Spezifizierung des Neo-Existentialismus eine direktere und anhaltendere Auseinandersetzung mit einigen der, in meinen Augen, plausibleren Optionen innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes erforderlich machen. Hier denke ich an mehr oder weniger überlappende Positionen wie »nicht-reduktiven Physikalismus«, »Eigenschaftsdualismus« Vgl. Searle (2012). Interessanterweise ändert Gabriel seinen Fokus vom Bewusstsein auf Handlungen, wenn er darzulegen versucht, was von einer strikt physikalistischen Auffassung des Bewusstseins verdeckt wird. Es ist aber nicht klar, warum selbst Identitätstheoretiker zum Beispiel das Folgende leugnen müssen: »Menschliches Handeln, wie wir es als historische situierte Akteure wissen, ist stets in nicht-natürliche, durch Institutionen bestimmte Kontexte eingebettet.« (S. 72)

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Einleitung

oder »Emergentismus«. Genau auszubuchstabieren, warum Neo-Existentialisten mit diesen Positionen unzufrieden sind, wird denjenigen helfen, die, wie ich, dem standardmäßigen reduktionistischen Physikalismus nicht beipflichten können, aber hinsichtlich der Frage, welches die beste verfügbare Theorieoption darstellt, noch unentschlossen sind. In jedem Fall könnte Gabriel, wie ich behaupte, etwas akzeptieren, was man als Unterbestimmtheitsthese bezeichnen könnte: die Beschreibungen, die die Naturwissenschaften liefern, können unser Verständnis des Geistigen, und, eo ipso, unser Selbstverständnis als menschliche Akteure nicht erschöpfen. Wenn es wahr ist, dass Konzeptionen des Geistes, die im Widerspruch zu den Gesetzen der Physik oder der Evolutionsbiologie stehen als falsch betrachtet werden sollen, gibt es dennoch zahlreiche Weisen, auf die wir den Geist verstehen können, die untereinander inkompatibel sind, wenngleich sie mit den Naturgesetzen kompatibel sind. Theorien, die beispielsweise dafür argumentieren, dass der Geist sowohl natürlich als auch kulturell/intersubjektiv ist, können der Ansicht beipflichten, dass es neuronale Voraussetzungen für subjektive Erfahrung gibt, und gleichzeitig behaupten, wie die Autor*innen in diesem Band, dass der Geist mehr ist als das Gehirn und der naturalistische Reduktionismus niemals in der Lage sein wird, Geistigkeit vollständig zu erklären. Wenn wir einmal die Science-Fiction-Experimente außer Acht lassen, die in der analytischen Philosophie des Geistes eine unverhältnismäßige Popularität genießen, sind das Haben eines Körpers und das Eingebettet-Sein in eine Lebenswelt oder eine Kultur, soweit wir sagen können, ebenfalls konstitutiv für geistiges Leben. Wie Gabriel, Taylor, Benoist und Kern in ihrer je eigenen Weise aufzeigen, können mentale Zustände von anderen mentalen Zuständen modifiziert werden, während natürliche Tatsachen im Allgemeinem geistunabhängig sind: meine falsche Überzeugung, dass eine normale DNA-Sequenz aus sechs Nukleinbasen besteht, ändert nichts an der Tatsache, dass sie 17 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Maclure

in Wirklichkeit aus vier besteht. Aber meine Überzeugung, dass die Tablette, die ich, den Anordnungen des Forschers folgend, zu mir nehme, einen therapeutischen Wirkstoff enthält und kein Placebo ist, kann sehr wohl meinen subjektiven Zustand hinsichtlich der Symptome verändern, selbst wenn es sich in Wirklichkeit um ein Placebo handelt. Oder um ein anderes Beispiel zu wählen: das Ziehen, das ich in meiner Kniesehne am Ende eines Marathons spüre, kann als völlig normal in diesem Kontext interpretiert werden, aber auch als schmerzhafter und beunruhigender, wenn ich eine ähnliche Empfindung habe, während ich in Ruhe zur U-BahnStation gehe. Was in meinen Muskelfasern, meinem Nervensystem und den assoziierten Hirnregionen vor sich geht, ist unabhängig von meinen Überzeugungen, aber meine bewusste Wahrnehmung – wie das Ziehen sich für mich anfühlt – kann nicht auf diese physikalischen Eigenschaften reduziert werden. Dies scheint uns in die Nähe eines »Eigenschaftsdualismus« zu bringen – d. h. einer Position, der zufolge physikalische Eigenschaften die Erklärung eines mentalen Phänomens auf der ontologischen Ebene nicht erschöpfen können. 7 Der Eigenschaftsdualismus muss nicht in den cartesischen Substanzdualismus zurückfallen, insofern mentale Zustände als aus nicht besonders mysteriösen physikalischen und sozialen Eigenschaften bestehend betrachtet werden können. Der Eigenschaftsdualist kann, wie Gabriel, sagen, dass Fahrradfahren auf Fahrrädern superveniert, aber nicht darauf reduziert werden kann. Fahrradfahren erfordert ebenso die Präsenz einer Menge an sozialen Bedeutungen und Praktiken, die von intentionalen Akteuren ins Leben gerufen werden. Ein vernünftiger Naturalist sollte nicht versuchen, dies zu bestreiten. Genauso wie ein Kontrastieren des Neo-Existentialismus mit nicht-reduktiven Theorien die Diskussion weiterbringen wird, werden sich Leser fragen, in welchem Grad Gabriel mit heterodoxen Philosophen, Neurowissenschafltern und Kognitionswissenschaftlern übereinstimmt, die den Geist als ver7

Vgl. Robinson (2017).

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Einleitung

körpert, eingebettet und ausgedehnt (embodied, embedded, extended) betrachten. Ich werde an dieser Stelle keine weitere Untersuchung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener externalistischen Theorien vornehmen, die allesamt behaupten, dass sich der Geist nicht einfach im Kopf lokalisieren lässt. Von den zeitgenössischen Externalisten schlagen einige vor, dass der Geist, oder zumindest Kognition, Artefakte wie beispielsweise kognitive Werkzeuge (cognitive tools) beinhaltet, 8 während andere dafür argumentieren, dass die Beziehungen zwischen Geist, Körper und Welt so verwickelt sind, dass die Grenzen zwischen ihnen als völlig durchlässig betrachtet werden sollten. 9 Ich bemerkte weiter oben, dass Gabriels Neo-Existentialismus viel umfassender erscheint als der historische Existenzialismus. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Neo-Existentialismus und dem französischen, atheistischen Existenzialismus liegt allerdings darin, dass, Gabriel wie Sartre einen Ausweg aus einem falschen Welt- und Selbstbild weist. So wie Sartres »L’existentialisme est un humanisme« nach den düsteren und quälenden Jahren des Zweiten Weltkrieges ein langersehntes Weltbild bot, das den Humanismus verteidigt, so entwirft Gabriel in seiner Arbeit ein realistisches und humanistisches Selbstbild des Menschen, das einen Ausweg aus dem reduktiven Naturalismus und den Spielarten des Posthumanismus anVgl. Clark und Chalmers (1998). Varela, Thompson, Rosch (2016 [1991]); Noë (2009). In seiner neuen Einleitung zum bahnbrechenden Buch, dass er gemeinsam mit Francisco J. Varela und Eleanor Rosch veröffentlicht hat, schreibt Evan Thompson: »Die Kognitionswissenschaft indiziert, dass das, was wir ›das Bewusstsein‹ nennen eine Ansammlung sich unablässig verändernder, emergenter Prozesse ist, die innerhalb eines komplexen Systems entstehen, das das Gehirn, den Rest des Körpers und das physische und soziale Umfeld umfasst, in dem wir kein einzelnes, beständiges und steuerndes Selbst finden.« (S. XX) Es ist für mich deutlich zu erkennen, dass Gabriel solche antirealistischen Ontologien, wie sie von vielen »Enaktivisten« vertreten werden – meines Erachtens nach mit Recht –, anfechten würde, aber die von ihnen dargelegten Bewusstseinstheorien scheinen weitestgehend deckungsgleich mit derjenigen Gabriels zu sein.

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Jocelyn Maclure

bietet, die als Überbleibsel der Postmoderne in verschiedenen Ausmaßen kulturell einflussreich bleiben. Viele Philosophen des Geistes, Neurowissenschafler und Kognitionswissenschaflter werden die spezifischen Argumente, die Gabriel und seine Kommentatoren vorbringen, in Frage stellen wollen und einige beklagen, diese oder jene Position sei nicht angemessen gewürdigt worden. Dies ist nur angebracht, da der Neo-Existentialismus auf diese Weise robuster werden kann. Aber für all jene von uns, denen die Hegemonie des reduktiven Naturalismus in einigen, einflussreichen Teilen der akademischen Welt Ungemach bereitet, werden die in diesem Buch versammelten Positionen als Hinweis darauf verstanden werden, dass sich Widerstand formiert.

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Neo-Existentialismus* Markus Gabriel (aus dem Englischen von Philipp Bohlen)

In der gegenwärtigen Wissenschaftskultur herrscht die weitverbreitete Annahme, die Existenz mentaler Gegenstände ruhe auf äußerst wackeligem Grund. Demgegenüber sei die Existenz physikalischer Gegenstände über jeden vernünftigen Zweifel erhaben. Nennen wir dies die postcartesische ontologische Asymmetrie. Noch Descartes, hierin im Einklang mit vielen seiner Vorgänger, argumentierte unverfroren für die entgegengesetzte Asymmetrie. Er behauptete nicht nur, dass das Bewusstsein (dem Bewusstsein selbst) besser bekannt ist als jeder andere Gegenstand, sondern auch, dass es sich einer privilegierten Seinsweise erfreut (da es Gott ontologisch näherstehe als der materiellen Substanz). Nach Descartes wurde die Ordnung des ontologischen Universums umgekehrt. Wie dem * Frühere Fassungen dieses Textes wurden in Mainz (beim neurowissenschaftlichen Arbeitskreis von Robert Nitsch), an der New School for Social Research, der Universität Utrecht, an der Universität Paris 1-Panthéon Sorbonne und im Rahmen der »Grande conférence de la Chaire La philosophie dans le monde actuel« der Laval Universität in Quebec vorgestellt. Ich bedanke mich herzlich bei den Organisatoren und den Zuhörern für ihre hilfreichen Kommentare und Diskussionspunkte, insbesondere bei Jocelyn Benoist, Paul Kottman, Jocelyn Maclure, Robert Nitsch und Herman Philipse. Außerdem bedanke ich mich bei meinen Mitarbeitern (James Bahoh, Marin Geier, Jens Pier und Jens Rometsch) an meinem Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart für die Lektüre des Manuskriptes, die detailreichen Diskussionen der in ihm ausgedrückten Gedanken und für die editorische Bearbeitung. Besonderer Dank gilt Jocelyn Maclure für seinen Vorschlag, das ursprüngliche Skript in erweiterter Form im Rahmen eines Diskussionsbandes zu veröffentlichen.

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Neo-Existentialismus

auch sei: was erlaubt es uns, weiterhin an eine ontologische Asymmetrie zu glauben? Gibt es tieferliegende Gründe dafür, entweder mentale oder physikalische Gegenstände im Rahmen einer Auffassung dessen, was es gibt, zu privilegieren? Grob gesagt könnte man in unserem wissenschaftlichen Zeitalter damit beginnen, an dieser Stelle die eigenen postcartesischen Präferenzen zu äußern, indem man etwa aufzeigt, dass es doch klarerweise Steine, Bakterien, Pantoffeltierchen und Fingernägel gibt, was man dagegen von Faust, Macbeth und dem Jungbrunnen nicht sagen kann, und das, obwohl es verschiedene diskursive Praktiken (»Sprachspiele«) gibt, die uns berechtigen, an einer spielerischen Illusionserzeugung mitzuwirken und über derlei Dinge zu sprechen. Derlei Dinge nennt man üblicherweise »fiktional«, wobei dies bedeuten soll, dass es sich um »Einzeldinge, die in einem fiktionalen Werk zum ersten Mal eingeführt werden«, handelt (Brock and Everett 2015: 3). 1 Ihre Existenz hänge vom Bewusstsein ab, im Gegensatz zu der von Steinen. Es ist beinahe trivial zu sagen, dass Macbeth nicht existiert hätte, hätte es keine Bewusstseine gegeben. Vertreter des sogenannten »fiktionalen Irrealismus« leugnen gar, dass Macbeth überhaupt wirklich existiert. Dies tun sie zum Teil auf Basis der Annahme, dass er, würde er existieren, nur ein bloßes Figment der Einbildungskraft und in diesem Sinne kein Kandidat für wirkliches Existieren sei. 2 Diese Formulierung allein wirft schon viele Probleme auf. Was soll es heißen, dass ein Einzelding eingeführt wird? Wenn das heißen soll, dass ein Einzelding eingeführt wird, indem man zum ersten Mal auf es Bezug nimmt oder es zum ersten Mal in der Geschichte der menschlichen Sprache erwähnt, würden viel zu viele Gegenstände zu den fiktionalen zählen und somit nichtexistent sein. Man stelle sich etwa vor, die Astronomen würden in Zukunft ihre Theorien in Form von Erzählungen formulieren, sodass jedes neu entdeckte astronomische Objekt zum ersten Mal in einer Novelle Erwähnung fände. Zudem sollte man bedenken, dass eine Reihe offensichtlich existierender Gegenstände (natürliche Arten wie Wasser oder diverse Himmelskörper mit eingeschlossen) zum ersten Mal im Rahmen einer Fiktion eingeführt wurden (in der Mythologie usw.). 2 Vgl. etwa Azzouni (2010: 14 [Übersetzung P.B.]): »Ich behaupte, dass 1

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In diesem Rahmen ist es verlockend, das Bewusstsein selbst den fiktionalen Gegenständen insoweit zuzuordnen, dass letzteren aus denselben Gründen ein (wenn überhaupt) nur verminderter ontologischer Status zugestanden werden kann, wie ihnen gleichermaßen auch Bewusstseinsunabhängigkeit abgesprochen wird. Wenn das Bewusstsein genauso bewusstseinsabhängig ist wie zum Beispiel der Jungbrunnen, hätten wir in einem ontologischen Rahmen, in dem Bewusstseinsunabhängigkeit als Privileg gilt, allen Grund dazu, das Bewusstsein als Ganzes ontologisch zu degradieren. An diesem Punkt wird ein typischer Repräsentant der gegenwärtigen Wissenschaftskultur wohl dafür argumentieren, dass das Bewusstsein nicht auf die gleiche Weise bewusstseinsabhängig ist wie der Jungbrunnen, weil das Bewusstsein schließlich mit einem bestimmten physikalischen Objekt identifiziert werden kann: dem Gehirn. Obwohl es unter anderem aufgrund der offensichtlichen epistemologischen Asymmetrie zwischen Bewusstsein und Gehirn mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist, einer solchen Identitätsbehauptung Sinn abzugewinnen, wird der stereotype moderne Szientist auf Folgendes hoffen: Der Eindruck, es gebe eine wirkliche Unterscheidung auf der Ebene einer offensichtlichen epistemischen Asymmetrie, wird früher oder später verschwinden, wenn die Wissenschaften hinsichtlich des Bewusstseins erst einmal

wir (kollektiv) einem bestimmten Kriterium für Existenz zustimmen. Dieses Kriterium besagt, dass irgendetwas genau dann existiert, wenn es bewusstseins- und sprachunabhängig ist. Figuren aus Träumen, fiktionale, von Autoren erfundene Charaktere und halluzinierte Gegenstände sind alle in diesem Sinne bewusstseins- und sprachabhängig. Dinosaurier, Protonen, Mikroben, andere Menschen, Stühle, Gebäude, Sterne usw. sind (mutmaßlich) Beispiele für bewusstseins- und sprachunabhängige Gegenstände. […] In meinem Gebrauch von »bewusstseinsunabhängig« und »sprachunabhängig« kann niemand einem Gegenstand per Diktat zur Existenz verhelfen bloß, indem wir ihn als existierenden denken oder symbolisieren.« Dem widerspreche ich! Einzelheiten zu meinem Existenzbegriff findet man bei Gabriel (2016c).

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weit genug fortgeschritten sind. Je besser wir das Gehirn tatsächlich kennenlernen, desto sicherer scheint es, Bewusstsein und Gehirn miteinander zu identifizieren und unsere cartesischen »Intuitionen«, d. h. unseren Eindruck, dass sich das Bewusstsein substanziell vom Gehirn unterscheidet, zu unterminieren. Im Folgenden werde ich den gesamten Rahmen, der diese Sparte des modernen szientistischen Weltbildes hervorruft, infrage stellen. Insbesondere werde ich eine Position skizzieren, die ich »Neo-Existentialismus« nenne. Neo-Existentialismus ist die Ansicht, dass es kein einzelnes Phänomen oder keine einzelne Realität gibt, die dem letztlich sehr verworrenen Sammelbegriff »das Bewusstsein [the mind]« entspricht. Eher befinden sich die Phänomene, die typischerweise diesem Überbegriff zugeordnet werden, auf einem Spektrum, das vom offensichtlich Physischen bis zum Nichtexistenten reicht. Was indessen diese unterschiedlichen Phänomene, die dem verworrenen Begriff »das Bewusstsein« zugeordnet sind, vereint, ist, dass sie alle Konsequenzen des Versuchs des Menschen darstellen, sich einerseits vom bloß physischen Universum und andererseits vom Rest des Tierreichs zu unterscheiden. So ist unser Selbstbild davon, spezifisch geistige Geschöpfe zu sein, im Lichte unserer ebenso verschiedenen Auffassungen davon entstanden, was es für nicht-menschliche Wesen bedeutet, zu existieren. Der fundamentale Grundsatz des Neo-Existentialismus ist, dass es keine alleinige Entität in der Welt gibt, auf die durch unser diachron und synchron ausdifferenziertes mentalistisches Vokabular verwiesen wird, nichts Einzelnes, was bewusst, selbst-bewusst, selbst-aufmerksam, neurotisch, ein Verarbeiter qualitativer Zustände, wachsam, intelligent usw. ist. Was unser mentalistisches Vokabular vereint, ist unsere Fähigkeit, die Liste von Auffassungen davon zu verlängern, was es bedeutet, weder einfach eingepasst zu sein in eine Welt voll von unbelebten Objekten, die physikalischen Naturgesetzen unterstehen, noch einfach zu den Tieren zu gehören, die gelenkt sind von biologischen Parametern. 24 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Unser Selbstporträt als bewusste Lebewesen hilft uns, der Tatsache Sinn abzugewinnen, dass wir nicht dem Bereich dessen angehören, was bloß auf sozusagen anonyme Weise existiert. Wir sind weder genauso wie Steine noch genauso wie Käfer, die auf Steinen liegen. Unsere Selbstauffassung als bewusste Lebewesen wurde über Jahrtausende der Geschichte hinweg geformt, in der es als gesichert galt, dass dasjenige, was uns vom Restbestand dessen unterscheidet, was es gibt, nur in mentalistischer Terminologie erfasst werden kann. Dieser Strukturzusammenhang ist die Brutstätte des eigentlichen Begriffs des Menschen, also des Begriffs, ohne den wir uns nicht einmal darüber wundern könnten, wie die Beziehung zwischen dem Bewusstsein und der nicht-bewussten Natur möglicherweise aussehen könnte. Im Laufe der uns bekannten dokumentierten Geschichte hat die Menschheit höchst nuancierte Auffassungen davon entwickelt, was uns von der unbelebten und tierischen Natur unterscheidet. Meiner Ansicht nach ist dies die wirkliche Quelle dessen, was Huw Price treffend als das »Verortungsproblem [placement issue]« (Price 2011: 187 f.) bezeichnet hat. Das Problem entsteht schlicht gesagt aus dem Staunen darüber, wie das Bewusstsein – d. h. die vielfältigen Gegenstände, auf die durch unser mentalistisches Vokabular verwiesen wird, wenn es überhaupt irgendwelche Gegenstände sind – in die reine Naturordnung passt. 3 Mein eigener Ausdruck für »die reine Naturordnung« ist das Universum. Ich unterscheide zwischen dem Universum Price (2011: 187 [Übersetzung P.B.]) beschreibt es folgendermaßen: »Wenn die Gesamtheit der Realität letztlich aus der Realität der Natur besteht, wie sollen wir dann moralische Tatsachen, mathematische Fakten, Bedeutung usw. »verorten«? Wie sollen wir solche Themen in einem so verstandenen naturalistischen Rahmen lokalisieren? In solchen Fällen scheinen wir mit der Wahl konfrontiert zu sein, entweder das besagte Thema in eine Kategorie zu zwingen, die aus diesem oder jenem Grund hierfür unpassend erscheint, oder dieses Thema im Ganzen als bestenfalls zweitrangig zu betrachten – nicht als ein genuines Gebiet von Tatsachen oder Wissen.«

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und der Welt. Wo ersteres auf den Gegenstandsbereich referiert, der von unseren besten Naturwissenschaften untersucht wird (idealtypisch repräsentiert von einer futuristischen vereinheitlichten Physik oder, abhängig vom Status der Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit der Wissenschaft, durch irgendein relevantes Ensemble gegenwärtig oder in Zukunft etablierter Disziplinen), ist letztere der hypothetisch allumfassende Gegenstandsbereich. Aus Gründen, die anderswo ausformuliert werden (Gabriel 2016c), glaube ich, dass die Idee der Welt reformuliert werden sollte: wir sollten die Welt weder als allumfassenden Gegenstandsbereich noch als einen allumfassenden Bereich der Tatsachen verstehen, sondern vielmehr als das, was ich »das Sinnfeld aller Sinnfelder« nenne. An dieser Stelle ist »Sinnfeld« die Bezeichnung, die ich einem Gegenstandsbereich gebe, der durch dasjenige individuiert wird, was der korrekten Weise entspricht, über die in ihm vorkommenden Gegenstände nachzudenken. Die korrekte Weise, über Gegenstände nachzudenken, die in einem gegebenen Bereich erscheinen, ist die Weise, die uns erlaubt, sie unter denjenigen Beschreibungen zu erfassen, die sie treffend als das charakterisieren, was auch immer sie sind (ibid.). 4 Das Universum ist ein Sinnfeld innerhalb eines Bereichs, der weitere Sinnfelder umfasst. Es ist verortet in einem offenen System aus Sinnfeldern. Es gibt kein insgesamt allumfassendes Sinnfeld. Ich nenne dieses Resultat der Sinnfeldontologie die »Keine-Welt-Anschauung«, und ich fasse es in der Formulierung zusammen, dass es die Welt nicht gibt (Gabriel 2013). Dem Neo-Existentialismus nach gehört das Bewusstsein weder zur Naturordnung (dem Universum) noch zur Welt. Es existiert dagegen in einer ganzen Reihe von Sinnfeldern derart, dass die vielgestaltigen Phänomene, die dem Sammelbegriff »das Bewusstsein« zugeordnet werden, keinem klar abgegrenzten Gegenstand oder einer Gegenstandspalette entsprechen. Dennoch gibt es eine invariante, vereinende Struktur, die unser mentalistisches Vokabular zusammenhält. Diese Struktur nenne ich »Geist«. Da Geist 4

Vgl. einleitend hierzu Gabriel (2013).

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hier als terminus technicus verwendet wird, konzipiert, um die Invariante zu erfassen, die im Hintergrund der verworrenen Variationen des mentalistischen Vokabulars steht, ist bereits garantiert, dass der Begriff des Geistes weniger verworren ist als die Reihe mentalistischer Idiolekte [vocabularies], auf die wir stoßen. Dabei sollte beachtet werden, dass meinem Vorschlag nach einige Teile oder Teilbereiche des Geistes durchaus im Universum enthalten sind. Wofür ich jedoch argumentieren werde, ist, dass weder alle Teile des Geistes noch der Geist als Ganzes im Universum existieren können. Wenn das Bewusstsein als die Fusion der verschiedenen Gegenstände, die durch die historisch sich wandelnden Versuche des Geistes entstanden sind, der Distinktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen Sinn abzugewinnen, überhaupt existiert, muss es – meiner im Hintergrund stehenden Ontologie entsprechend – in diesem oder jenem Sinnfeld erscheinen können. Selbst wenn das Bewusstsein ein fiktionales Objekt (oder ein ganzer Nistplatz fiktionaler Objekte) wäre, wird es seinen Platz in einem geeigneten Sinnfeld finden, das sich von anderen Sinnfeldern unterscheidet. Dies wird sowohl horizontal – im Vergleich zu anderen, z. B. literarischen oder kinematographischen Fiktionen – als auch vertikal zutreffen – d. h. im Kontext der Sinnfelder: dass Bewusstsein nur verortet werden kann, wenn die Sinnfelder, in denen es erscheint, im Gegensatz stehen zu einer gänzlich anderen, spezifisch nicht-fiktionalen Kategorie von Sinnfeldern wie z. B. dem der Astrophysik. Die richtige Spielart eines ontologischen Pluralismus, die eine Pluralität von Bereichen ermöglicht, die in einer höheren Ordnung, welche aus verschiedenen kategorial voneinander unterschiedenen Rubriken besteht, zueinander in Beziehung stehen, beherbergt klarerweise auch das Bewusstsein, als was auch immer es sich letztendlich herausstellt. Der ontologische Pluralismus lässt trivialerweise Raum für das Bewusstsein, da viele der Bestandteile, auf die wir durch verschiedene mentalistische Idiolekte verweisen (Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Emotionen, Wachsein usw.) berücksichtigt werden können, ohne sie dabei demselben ontologischen Be27 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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reich (demselben Sinnfeld) zuordnen zu müssen wie z. B. die Baryonische Materie, Galaxien oder das Kleinhirn. Für den metaphysischen Monisten ist es deutlich schwieriger, den respektablen Gedankengängen gerecht zu werden, die im Verortungsproblem kulminieren. Um zu sehen, warum das so ist, stellen wir uns im Folgenden einmal zwei extreme Sichtweisen vor, den groben Materialismus und den groben Idealismus. Der grobe Materialismus behauptet, dass es einzig und allein das Universum gibt und dass es identisch ist mit der materiell-energetischen Realität. Der grobe Idealismus ist die radikalste Form, jenen Monismus zu bestreiten, indem er behauptet, dass alles, was ist, mental ist – d. h. entweder ein mentaler Gehalt oder ein Bewusstsein, wobei das Bewusstsein und das Mentale kategorial dem Material-Energetischen gegenübergestellt werden. Der grobe Idealismus leugnet die Existenz nicht-mentaler Gegenstände. Für beide Extreme eines metaphysischen Monismus kommt prinzipiell kein Verortungsproblem auf. Der grobe Materialismus hat keinen Platz für einen Begriff des Bewusstseins, der überhaupt zu einem Rätsel hinsichtlich seines Platzes in der Natur führen könnte (da letztere mit dem Universum im Sinne der Ganzheit alles Material-Energetischen identifiziert wird). Der grobe Idealismus findet im Gegenzug keinen Platz für einen Begriff der Natur, der zu einem Rätsel über ihre Beziehung zum Bewusstsein führen könnte. Ungeachtet der Tatsache, dass die große Metaphysik ein enormes Comeback sowohl in der sogenannten analytischen als auch in der sogenannten kontinentalen Philosophietradition feiert, benötigen die Themen, die in der Bewusstseinsphilosophie diskutiert werden, eine davon unabhängige begriffliche Bearbeitung. 5 Der zentrale Grund hierfür kann bereits anhand dessen vermutet werden, was ich in groben Zügen in meinen einleitenden Bemerkungen dargestellt habe. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass ich die Vorstellung, es gebe so etwas wie »analytische« oder »kontinentale« Philosophie, vollkommen ablehne. Siehe etwa Gabriel (2016c: 7 f.).

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Wenn das Verortungsproblem bloß ein metaphysisches Problem wäre, das verschwinden sollte, könnten wir es in unendlich vielen Weisen umgehen, indem wir etwa ein metaphysisches System ausarbeiten, das entweder dem metaphysischen Pluralismus oder dem metaphysischen Monismus nur hinreichend nahestände. Wir müssten nur die offensichtlich unhaltbare Position des metaphysischen Dualismus vermeiden. Der metaphysische Dualismus sei hierbei eine Position, die die Einheit der Realität behaupten will, dabei aber auch, dass sie aus zwei großen Blöcken besteht – aus Materie und Bewusstsein –, die durch irgendeine Art von Kluft voneinander getrennt sind. Bemerkenswerterweise gesteht sogar Descartes, der üblicherweise als ein Vorzeigerepräsentant der Defizite des metaphysischen Dualismus auf den Plan gerufen wird, dass es hier ein Problem gibt. Daher oszilliert er auch zwischen einem eigentlichen metaphysischen Dualismus (dem Glauben an zwei Substanzen – d. h. an zwei kategorial voneinander getrennte Arten von Dingen) und einem metaphysischen Monismus, da er manchmal schreibt, dass genaugenommen nur Gott eine Substanz ist. 6 Wenn es nur eine Realität gibt, ist es tatsächlich verwunderlich, was man wohl damit meinen könnte, wenn man behauptet, dass es zwei Arten von Dingen, Materie und Bewusstsein, innerhalb dieser Realität geben soll. Wie sähe diese Realität aus, welche die Emergenz einer außergewöhnlichen Dualität in ihr selbst ermöglichen soll? Der sogenannte neutrale Monismus, die Sichtweise (oder Familie von Sichtweisen), es gebe eine dritte Art von Dingen, die der Unterscheidung der zwei zuvor erwähnten Arten von Dingen zugrunde liegt, schuldet uns eine Auffassung davon, wie denn diese außergewöhnliche dritte Art von Dingen aussehen soll, ohne dabei unerwünschte Regresse und unbegründete Regressblocker zu enthalten. Vgl. den berühmten Paragraphen aus Die Prinzipien der Philosophie, Buch 1, § 51 über die Bedeutung des Substanzbegriffs. Dort behauptet Descartes, dass es, genau genommen, nur eine Substanz gibt.

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Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass sich der weitverbreitete Gebrauch des Ausdrucks »Naturalismus« als ein bloßes Feigenblatt dafür erwiesen hat, den peinlichen Mangel einer geeigneten metaphysischen Erklärung zu verdecken, welche die Existenz des Bewusstseins bewahren und zugleich dessen Integrationsproblem angemessen zur Sprache bringen könnte; das Problem nämlich, wie das Bewusstsein in einen umfassenderen Bereich integriert werden kann, in welchem nicht nur Bewusstseine und deren Gehalte vorkommen, sondern auch Ereignisse wie der Urknall, die Inflation des Universums, Verdauung und Gegenstände wie Fingernägel, Eichbosonen usw. enthalten sind. Der Naturalismus ist bestenfalls ein Mischterm für die Vermengung verschiedener philosophischer Bekenntnisse, die dazu dienen, einer Konfrontation mit tieferliegenden metaphysischen und epistemologischen Problemen aus dem Weg zu gehen. Meiner Ansicht nach läuft der Naturalismus auf eine Vermeidungsstrategie hinaus. Der Grund für sein Auftreten und seine unter Philosophen und Wissenschaftlern gleichermaßen weltweit verbreitete Akzeptanz ist ein ideologischer. Grob gesagt, meine ich an dieser Stelle mit »Ideologie« den Versuch, eine historisch kontingente Vorstellung des menschlichen Bewusstseins (einen Fall von Geist), als eine selbstverständliche Naturtatsache über uns Menschen darzustellen. 7 Dass der Naturalismus als eine solche Ideologie angesehen werden kann, hat besonders treffend, wenn auch übermäßig polemisch, der vor kurzem verstorbene Hilary Putnam in seinem Buch Philosophy in an Age of Science bemerkt: Die gegenwärtig häufigste Verwendungsweise des Naturalismusbegriffs könnte man wie folgt beschreiben: Philosophen – vielleicht sogar ein Großteil aller Philosophen, die über metaphysische, epistemologische, bewusstseinsphilosophische oder sprachphilosophische Themen schreiben – bekunden an irgendeiner möglichst auffälligen Stelle, dass sie »Naturalisten« sind oder dass die von ihnen verteidigte Sichtweise oder Konzeption eine »naturalistische« ist. 7

Für nähere Erläuterungen zu diesem Punkt vgl. Gabriel (2016d).

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Diese Bekanntmachung ähnelt in ihrer Platzierung und Hervorhebung denjenigen Bekanntmachungen, wie man sie in Artikeln aus Stalins Sowjetunion findet, in denen die Zustimmung zu Kamerad Stalin verkündet wurde; beide Arten von Bekanntmachungen sollten dazu dienen, zu zeigen, dass jede Sichtweise, die nicht »naturalistisch« ist (bzw. nicht in Übereinstimmung mit Kamerad Stalins Sichtweise) ein Anathema ist und in keinerlei Hinsicht korrekt sein könnte. Ein weiterer sehr häufiger Bestandteil der Verwendung des Naturalismusbegriffs ist außerdem, dass »Naturalismus« nirgends definiert wird. (Putnam 2012: 109 ff. [Übersetzung: P.B.])

Der Vergleich mit dem Stalinismus suggeriert einen politischen Hintergrund für die Ideologie des Naturalismus. Cum grano salis und mit etwas Ironie könnte man tatsächlich die Diagnose stellen, der Naturalismus sei ein sowjetisch-historisch-dialektischer Materialismus, nur ohne Sowjets, ohne Historie und ohne Dialektik, also nichts anderes als eine verwässerte Version des guten alten Materialismus. Um im Bild zu bleiben, könnte der Naturalismus als ein merkwürdiges Überbleibsel aus den frühen Phasen des Kalten Krieges angesehen werden – eine vereinfachte materialistische Ideologie, die ursprünglich vom ideologischen US-amerikanischen Staatsapparat (Universitäten eingeschlossen) beworben wurde, um Sowjetische Konzeptionen zu bekämpfen. Es würde mindestens eine Diskussion in Buchlänge über die Beziehung zwischen dem hier angebotenen Ideologiebegriff und dem breiteren Begriff von (politischer) Ideologie erfordern, um wirklich die Details einer so pauschalen Behauptung zu erhärten. Es genügt hier an die Tatsache zu erinnern, dass Marx und Engels seinerzeit ihre Version des historisch-dialektischen Materialismus, in dessen Zentrum der Mensch steht, eingeführt haben, um eine vereinfachte materialistische Ideologie zu bekämpfen, die zusammen mit dem Positivismus in deren Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Wie dem auch sei: Korrekt an Putnams Diagnose ist sicherlich, dass die fortgesetzte Verpflichtung auf den Materialismus – ob auf der Ebene wissenschaftlicher Methodologie oder als substantielles metaphysisches Bekenntnis – nicht einfach eine 31 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Konsequenz der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Im Allgemeinen wird von keinen wissenschaftlichen Einsichten in die Struktur des Universums, also in den Gegenstandsbereich, der von den Naturwissenschaften untersucht wird, irgendeine Weltanschauung explizit empfohlen. 8 Einer der Gründe hierfür ist, dass wir erst einmal erklären müssten, welche Elemente menschlicher Sprache und menschlichen Denkens tatsächlich auf etwas Reales referieren, um zu irgendeiner hinreichenden Weltanschauung zu gelangen, die Anspruch auf Vollständigkeit stellen dürfte. Doch man kann eine solche Erklärung nicht geben, ohne zuvor eine Menge an philosophischer Arbeit geleistet zu haben, in der die Fragmente der menschlichen Sprache in unterschiedliche Kategorien unterteilt werden, etwa in die Kategorien referierenden und (nicht-referierenden) inferentiellen Vokabulars. 9 Welche Elemente des Denkens sich in eine unabhängige Wirklichkeit einklinken, eine Wirklichkeit, die nicht nur aus verschiedenen in-

Vgl. Tetens (2015), der dafür argumentiert, dass der Naturalismus entweder eine starke metaphysische Behauptung über absolut alles ist oder aber unvollständig bleiben muss, sodass er stets Raum für nichtnatürliche Gegenstände lässt, die man in einer vollständigeren Theorie dessen, was es gibt, beschreiben könnte. Wenn der Naturalismus eine starke metaphysische Behauptung ist, gibt es aber eine begriffliche Lücke zwischen den tatsächlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den Ansprüchen des Naturalismus. Das heißt, dass niemand von der Wahrheit des Naturalismus überzeugt werden kann, indem er ausschließlich naturwissenschaftliche Fortschritte zu Rate zieht. Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Metaphysik vgl. auch Chakravartty (2017). 9 Einen umsichtigen Vorschlag bietet in dieser Hinsicht Hofweber (2016) an. Hofweber argumentiert überzeugend dafür, dass letztlich kein Weg zu einem unbeschränkten Nominalismus im Sinne einer »Sichtweise, dass alles, was es gibt, Gegenstände in der Raumzeit sind, oder dass alles, was es gibt, konkret ist.« (2016: 289 [Übersetzung P.B.]) führt. Als Hauptgrund führt Hofweber hierfür an, dass »es keine Liste von Termini unserer Sprache gibt solcherart, dass wir aus der Tatsache, dass keiner dieser Terme referiert, darauf schließen könnten, dass es keine abstrakten Gegenstände gibt.« (ebd.: 290). 8

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ternen Verbindungen von Gedanken besteht, kann nicht entschieden werden, indem man das Universum untersucht. Dies sollte so lange offensichtlich sein, wie wir der Bedeutung von »das Universum« als demjenigen Gegenstandsbereich folgen, der von den Naturwissenschaften untersucht wird, und so lange wir die Logik nicht in den Katalog der verschiedenen Naturwissenschaften mit einschließen. Wenn dies so wäre und wenn also der Naturalismus einen angemessenen Gegenstandsbereich abdeckte, wäre er ohnehin falsch, weil dann die unabhängige Wirklichkeit Gesetze des richtigen Denkens als solche enthielte – eine ontologische Verpflichtung, die wohl kaum bei Naturalisten Unterstützung finden dürfte.

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I. Bewusstsein der Lücke

Sowohl Szientisten als auch Philosophen der Gegenwart gestehen regelmäßig, dass das Problem des Bewusstseins eines der letzten Rätsel darstellt, das es zu lösen gilt, um endlich in den sicheren Hafen einer vollständig naturalistischen Weltanschauung einlaufen zu können. Hier zwei Beispiele: Erstens die etwas ironische Anfangszeile von Daniel Dennetts einflussreichem Buch Consciousness Explained: »Das Phänomen des menschlichen Bewußtseins ist unser beinahe letztes Geheimnis. Ein Geheimnis ist etwas, wovon die Menschen – noch – nicht wissen, wie es zu erklären sei.« (Dennett 1994: 37). Zweitens beginnt David Chalmers sein gleichermaßen einflussreiches Buch The Conscious Mind mit einem ähnlichen Bekenntnis, das jedoch weit davon entfernt ist, ironisch zu sein: Das Bewusstsein ist das größte Geheimnis. Es könnte sich bei ihm um das wichtigste und außerordentlichste Hindernis handeln, das unserem Streben nach einem wissenschaftlichen Verständnis des Universums im Wege steht […] Die gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorien berühren die wirklich schwierigen Fragen über das Bewusstsein kaum. Uns fehlt also nicht nur eine detaillierte Theorie; wir tappen hinsichtlich der Verortung des Bewusstseins in der Naturordnung vollständig im Dunkeln. (Chalmers 1996: xi [Übersetzung P.B.])

Eine naturalistische Weltanschauung beginnt mit der Annahme, dass wir alle Phänomene in die Naturordnung integrieren sollten. Alles, was unabhängig von dieser Ordnung umherschwirrt, existiert entweder gar nicht wirklich oder gilt als ein überraschendes Epiphänomen, das jedenfalls nicht mit dem Wirklichen in Wechselwirkung steht. Zu behaupten, das Bewusstsein (oder mind) sei ein Mysterium oder Rätsel, heißt 34 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Bewusstsein der Lücke

zu behaupten, dass es schwierig oder vielleicht gar unmöglich ist, herauszufinden, wie das Bewusstsein (oder mind) ein Teil der Natur in einem respektablen Sinne des Naturbegriffs sein kann. Die metaphysische Annahme, ohne die das Mysterium hier gar nicht in Gang kommen könnte, lautet, dass die »Naturordnung« nicht in dem Sinne maximal sein kann, dass sie alle Phänomene mit einschließt. Sollte die »Naturordnung« schlichtweg alles sein, was es gibt, wäre es einfach zu sehen, wie das Bewusstsein »in die Naturordnung passt«. Der Naturalismus sollte also nicht von Beginn an annehmen, dass das Bewusstsein nicht existiert oder dass kein Terminus unseres mentalistischen Vokabulars auf etwas Wirkliches referiert. Damit es hier überhaupt zu einem Mysterium kommt, muss man annehmen, dass das Bewusstsein innerhalb der uns bekannten Naturordnung nicht unmittelbar zugänglich ist. Das heißt, dass der Naturalist die Bedeutung des Ausdrucks »Naturordnung« in einer solchen Weise einschränken muss. Denn nur dann kann es Raum geben für ein Erstaunen angesichts derjenigen Phänomene, die die Existenz von mancherlei Dingen suggerieren, die noch nicht in unser Wissen von der Naturordnung integriert sind. Unser Wissen von der Naturordnung schließt aus ihr bereits Dinge wie Ektoplasma, Phlogiston, Hexen u. ä. aus, (noch) nicht aber Dinge wie das Bewusstsein im Allgemeinen. Das Bewusstsein muss gleichsam am Rande der Extinktion stehen, damit es zu einem Rätsel werden kann: Was auch immer (noch) nicht eindeutig in den Bereich der Natur eingeschlossen ist, so wie dieser von den Naturalisten konstruiert wird, ist wesentlich verdächtig. Die naturalistische Weltanschauung soll aufgrund ihrer scheinbaren methodologischen Überlegenheit gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Rivalen eine wasserdichte Sichtweise sein. Die historische Hintergrundidee, die ihrem Selbstvertrauen genealogische wie auch psychologische Unterstützung verleiht, ist die Auffassung, die Moderne sei klarerweise ein gesamtkultureller Fortschritt, der begleitet, wenn nicht gar ausgelöst wurde von der wissenschaftlichen Revolution der 35 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Frühmoderne, die stereotypisch mit Galileo und Newton in Verbindung gebracht wird. 10 Diesen beiden Figuren werden maßgebliche, revolutionäre Einschnitte in der Geschichte menschlichen Denkens zugeschrieben, weil ihre Entdeckungen eine Lücke offenbart haben, die bis dahin weitestgehend durch antike, Aristotelische Auffassungen von Wissenschaft und Natur verdeckt geblieben ist. Diese Lücke besteht in einer tiefgreifenden Trennung zwischen dem, wie uns als menschlichen Beobachtern die Naturdinge erscheinen, und der Natur selbst. Als menschliche Beobachter sind wir anfällig dafür, zu glauben, dass physische Gegenstände auch unabhängig davon, wie sie uns erscheinen, eine gleichmäßig gefärbte Oberfläche aufweisen; wir glauben an Morgen- und Abenddämmerung und an den Himmel, den wir als eine beleuchtete Sphäre ansehen, in der wir die Bewegung der Himmelskörper erblicken können, eine Sphäre, die tagsüber mal blau, mal grau erscheint (abhängig davon, ob man in Griechenland oder in Deutschland lebt) und die nachts meist schwarz oder grau ist (wiederum abhängig von Aufenthaltsort und Jahreszeit). Sogar Kant ist in dieser vor-modernen Illusion befangen, wenn er in seiner berühmten Bemerkung von seinem großen Staunen gegenüber »dem bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir« (Kant 1913: 161) spricht, der Illusion also, es gebe einen bestirnten Himmel über ihm. Selbst wenn es einen solchen bestirnten Himmel Ed Dellian, der deutsche Übersetzer von Galileo und Newton, hat mich in einer Korrespondenz darauf hingewiesen, wie widersinnig es ist, diese beiden Wissenschaftler als Vorläufer des gegenwärtigen Naturalismus anzusehen. Vgl. Dellian (2007) für seine Auffassung und Verteidigung der nicht-reduktionistischen Naturphilosophien, die er bei Galileo und Newton sieht. Seine Verteidigung regt jedoch zu der Sorge an, dass das Bewusstsein allzu problemlos in diese Art von Naturphilosophie passt, sodass wir wiederum bei einem anderen mit dem Neo-Existentialismus nicht kompatiblen Naturalismus landen würden. Wenn wir annehmen, dass das Bewusstsein in den Stoff des Universums mit eingebaut ist, würden wir es immer noch als eine Entität »da draußen« ansehen, was der Neo-Existentialist aus begrifflichen Gründen unzulässig fände.

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Bewusstsein der Lücke

gäbe, wäre er doch keineswegs über ihm, sondern um ihn herum. Doch dies würde den Himmel weniger transzendent erscheinen lassen, wo wir doch stets nach oben zeigen, wenn es sich um mysteriöse oder staunenerregende Dinge handelt, eine Verhaltensweise, die noch von unseren weniger aufgeklärten Vorfahren in uns steckt. Wilfrid Sellars hat bekanntlich die beiden Seiten der Lücke entsprechend »das manifeste Bild« und »das wissenschaftliche Bild« des Menschen genannt (Sellars 1963). Bemerkenswerterweise spricht Sellars nicht vom manifesten oder wissenschaftlichen Bild tout court, da er betonen will, dass beide Bilder systematische Gesamtrepräsentationen dessen sind, wie die Dinge vom menschlichen Standpunkt aus gesehen »in weitestmöglichem Sinne« (ebd.: 1) zusammenhängen. Freilich gibt es auch verschiedene andere Bezeichnungen und Charakterisierungen der in Frage stehenden Lücke: subjektiv vs. objektiv (Nagel 1992); erstpersonale vs. drittpersonale Perspektive; starke vs. schwache Begriffe (Levine 2004); Lebenswelt vs. Wissenschaft (Husserl 1970) usw. Der Kürze halber spreche ich im Folgenden nur von »der Lücke«, um voreilige Konzeptualisierungen der in Frage stehenden Phänomene zu vermeiden. Die meisten Auffassungen der Lücke berufen sich auf irgendeine genealogische Erzählung, die in Rechnung stellen soll, dass nur moderne Menschen auf diese Lücke aufmerksam geworden sind. Wir Modernen sind stolze Entdecker der Lücke und wir scheuen jeden, der nicht unser Gespür für sie teilt. 11 Kürzlich hat Dennett die Frage gestellt, wo diese Lücke herkommt, freilich mit dem Ziel, sie zum Verschwinden zu bringen: »Indem wir die Lücke anders verstehen – als einen dynamischen Vorstellungsverzerrer, der aus guten Gründen entstand –, können wir lernen, sie gefahrlos zu überbrücken bzw. zum Verschwinden zu bringen« (Dennett 2018: 35). Hierbei übersieht Dennett jedoch die Genealogie der Lücke, die zugleich eine Genealogie des wissenschaftlichen Weltbildes mit einschließen würde, die überhaupt erst zu dem Eindruck geführt hat, dass es so eine Lücke gibt. Außerdem würde so eine Genealogie das Entstehen von Versuchen wie demjenigen Dennetts, die Lücke zu schließen oder verschwinden zu lassen, nachvollziehbar machen. Für ausgewoge-

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Neo-Existentialismus

Wegen dieser genealogischen Mythen, die unsere moderne Begegnung mit der Lücke umgeben, ist es schwierig, durch die Details der ganzen Erzählung hindurch den begrifflichen Kern der Lücke zu sehen. Dieser Kern wird im weiteren Verlauf eine zentrale Rolle spielen. All diese Auffassungen der Lücke beruhen wohl auf einem im Hintergrund stehenden Bild, das ich den Standardnaturalismus nenne. Der Standardnaturalismus ist eine Verschmelzung einer Reihe von Behauptungen, insbesondere einer metaphysischen Behauptung, einer epistemologischen Behauptung, sowie von zwei Kontinuitätsthesen. 1. (SN1) Metaphysischer Naturalismus (Materialismus): Alles, was (wirklich) existiert, ist letztlich material-energetisch und daher Teil des Kausalnetzes, das von unseren fortgeschrittensten naturwissenschaftlichen Praktiken untersucht wird. 2. (SN2) Epistemologischer Naturalismus: Alles, was (wirklich) existiert, kann am besten erklärt werden durch einen Rückgriff auf die Theoriestandards, die unsere fortgeschrittensten naturwissenschaftlichen Praktiken auszeichnen. 3. (SN3) Biologische Kontinuität: Das menschliche Gehirn/ das menschliche Bewusstsein ist Teil der Naturordnung. Es handelt sich um eine natürliche Art, aufgekommen auf einem bestimmten Zweig der Evolution. 4. (SN4) Methodologische Kontinuität: Jede genuine Erklärung war immer schon bestimmt von den Standards, die durch die modernen Wissenschaften explizit gemacht wurden. Es gibt sicherlich auch andere Wege, die Grundsätze zu klassifizieren, die in der eher vagen Struktur der modernen wissen-

nere Auffassungen der genealogischen Schwierigkeiten, die hiermit verbunden sind, siehe Blumenberg (1966) und Taylor (2007). Vgl. auch Gabriel und Žižek (2009).

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Bewusstsein der Lücke

schaftlichen Weltanschauung verankert sind. 12 Im Folgenden werde ich vorwiegend Argumente gegen (SN1) und (SN3) ins Feld führen, obwohl ich der Überzeugung bin, dass der Naturalismus an allen Fronten scheitert. Das menschliche Bewusstsein ist keine natürliche Art. Nur eine bestimmte Teilmenge unseres mentalistischen Vokabulars verweist auf natürliche Arten, obwohl es stimmt, dass nichts von diesem Vokabular auf irgendetwas Reales referieren würde, hätte es keine geeigneten Gehirne oder andere notwendige natürliche Bedingungen dafür gegeben, dass es mentale Prozesse in der Wirklichkeit gibt. 13 Bevor ich mit der begrifflichen Arbeit beginne, möchte ich jedoch betonen, dass der Naturalismus auf einem weiten Spektrum wirklicher Tatsachen basiert, die beachtet werden müssen und auch zumeist von vielen Naturalismuskritikern beachtet werden. Ich beabsichtige nicht, zu verneinen, dass Menschen Tiere sind und dadurch zum Teil Gegenstände, die gelenkt werden von Parametern, welche von der Evolutionstheorie beschrieben werden. Noch möchte ich leugnen, dass sich die Aristotelische Physik als ein großer Fehlschlag erwiesen hat. Hinsichtlich des menschlichen Bewusstseins bin ich ein bioHuw Price (2011: 187, 199) unterscheidet zwischen »Objektnaturalismus« und »Subjektnaturalismus«. Für ihn ist Objektnaturalismus im Sinne einer metaphysischen Behauptung stets ein Fehler, der daraus resultiert, dass die subjekt-naturalistische Tatsache ausgeblendet wird, dass »unser Beitrag« dazu, etwas über etwas zu wissen, »niemals gleich null ist« (ebd.: 30). »Die Wissenschaft ist nur eines unserer Sprachspiele. Jedes Sprachspiel privilegiert ohne Zweifel seine eigene Ontologie, aber dieses Privileg ist bloß eines der Perspektive. Die Wissenschaft privilegiert sich selbst »in ihrem eigenen Lichte«, aber dies fälschlicherweise als eine absolute ontologische Priorität anzusehen würde bedeuten, die Wissenschaft mit Metaphysik oder einer ersten Philosophie zu verwechseln.« (ebd.: 31 [Übersetzung P.B.]). Mir ist jedoch nicht klar, warum Price seine eigene Position Subjektnaturalismus nennt. In welchem Sinne ist seine Theorie der Sprachverwendung und die Behauptung, dass es keinen metaphysisch relevanten Allquantor gibt, »naturalistisch«? 13 Vgl. hierzu Gabriel (2016d). 12

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logischer Naturalist in dem Sinne, dass ich glaube, eine bestimmte Art von Gehirn ist eine notwendige natürliche Bedingung für das Vorliegen menschlichen Bewusstseins, aber eben keine hinreichende. 14 Ich habe kein Interesse daran, von den Naturwissenschaften etablierte Fakten zu unterlaufen, sondern ich verfolge das Projekt, philosophisch fehlgeleitete Interpretationen der jetzt etablierten oder zukünftig zu etablierenden wissenschaftlichen Faktenlage hinsichtlich des menschlichen Bewusstseins anzugreifen. Philosophisch fehlgeleitete Interpretationen der Naturwissenschaften sind weitverbreitet, sowohl unter Philosophen als auch unter Naturwissenschaftlern. Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels werde ich einige der neuesten Argumente gegen den Naturalismus skizzieren, im Wesentlichen diejenigen, die gegen (SN1) und (SN3) ins Feld geführt werden. Daraufhin werde ich die dringende Frage in Angriff nehmen, wie man nach dem Scheitern des Naturalismus das menschliche Bewusstsein begreifen soll. Wenn der Naturalismus nicht funktioniert, brauchen wir eine Alternative, sofern wir nicht zufrieden damit sein wollen, ein unlösbares Rätsel zu akzeptieren, wobei sich sogar einige prominente Stimmen dafür aussprechen, genau dies zu tun. 15

Hier steht der »Naturalismus« hinsichtlich des menschlichen Bewusstseins dem »Supranaturalismus« gegenüber, der die Auffassung vertritt, dass einige oder alle mentalen Termini auf eine Wirklichkeit Bezug nehmen, die es auch ohne Gehirne geben würde und die es auch gibt, wenn einmal alle Gehirne aus dem Universum verschwunden sein werden. 15 Vgl. die neuen und viel diskutierten Sichtweisen des Bewusstseins als Mysterium bei McGinn (1993, 1999). Siehe auch Pinker (1997). Beide sind beeinflusst von Noam Chomskys Behauptung (1977, 1988), dass es intrinsische Beschränkungen unserer Möglichkeiten gibt, die Struktur des menschlichen Bewusstseins zu konzeptualisieren. Gegen die zugrundeliegende Annahme, dass es unaussprechliche Tatsachen geben könnte, die wir aufgrund der inhärenten Vorstellungsschranken der menschlichen Sprache nicht einmal im Prinzip konzeptualisieren können vgl. den Idealismus Hofwebers (2016: Kap. 10). 14

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II. Warum der Naturalismus scheitert

Beginnen wir damit, durch ein sehr einleuchtendes Gedankenexperiment zu hinterfragen, ob die Ansprüche des Naturalismus berechtigt sind. Das Gedankenexperiment nenne ich der New Yorker – basierend auf dem Cover der Ausgabe des New Yorker vom 29. März 1976, das auch unter dem Titel »View of the World from 9th Avenue« bekannt ist. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich zwar gerade in Paris, aber Paris eignet sich für dieses Gedankenexperiment genauso gut wie New York. Paris befindet sich in Frankreich und Frankreich befindet sich wiederum auf der Oberfläche der Erde, einem derjenigen Planeten, die die Sonne umkreisen. Während ich diese Trivialitäten äußere, stelle ich mir eine Position vor, von der aus ich in der Lage bin, Behauptungen über unseren Platz im Universum zu überprüfen, ähnlich wie bei Google Earth. Wenn ich die Herauszoomen-Taste in Google Earth lange genug gedrückt halte, kann ich irgendwann die Erdkugel sehen. Google Earth stellt also einen Blickwinkel zur Verfügung, aus dem die Erde beobachtet werden kann. An dieser Stelle erfinden wir uns einfach eine noch viel leistungsfähigere Maschine: Google Universe. Wenn ich in Google Universe herauszoome, bin ich in der Lage, die Erde, unser Sonnensystem, seine Lage in einem Teil der Milchstraße, den Galaxienhaufen, von dem die Milchstraße ein Teil ist, schließlich das ganze Universum zu sehen. Aber halt! Auf welcher Position stehe Ich [kursiv vom Übersetzer], wenn ich schließlich die Position erreiche, von der aus ich Behauptungen über die gesamte Struktur des Universums überprüfen kann? Sicherlich kann ich mir so eine Position, von der aus ich das gesamte Universum betrachten kann, nicht auf kohärente Weise analog zu irgendeiner Position vorstellen, die ich im For41 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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mat von Google Earth einnehmen kann. Der Standpunkt, von dem aus ich die Erde beobachte, wenn ich Google Earth benutze, hat eine physische Verortung auf einem gewissen Abstand zur Erde. Doch der Standpunkt, von dem aus ich das gesamte Universum beobachte, kann nicht wiederum eine physische Verortung auf einem gewissen Abstand zum Universum haben, weil so ein Standpunkt wiederum im Universum wäre. Es ist fester Bestandteil von Google Earth, dass sein Standpunkt der Beobachtung nicht auf der Erde ist, aber einen Standpunkt außerhalb des Universums einzuführen, macht keinen Sinn, da es zum Begriff eines Standpunkts gehört, dass wir seine Eigenschaften durch basale geometrische und komplexere physikalische Kennzeichen, die zu den optischen oder beobachterrelativen Bedingungen für Standpunkte gehören, beschreiben können. Was wir über Standpunkte wissen, ist inkompatibel mit dem Begriff eines Standpunkts, der sich außerhalb des Universums befindet und von dem aus wir es buchstäblich im Ganzen beobachten könnten. Vor diesem Hintergrund haben Philosophen die Annahmen kritisiert, welche die Illusion einer Möglichkeit von Google Universe unterstützen sollen, da solche Annahmen den Begriff des Standpunkts überstrapazieren. Zum Beispiel attackiert Hilary Putnam diese Vorstellung als die eines »Gottesgesichtspunkts« (Putnam 1982: 76; 1992: 7), Thomas Nagel hat dies den »Blick von nirgendwo« genannt (Nagel 1992) und Willard van Orman Quine verweigert uns den Zugang zu einem solchen »kosmischen Exil« (Quine 1980: 474). Nichtsdestotrotz scheint der metaphysische Naturalismus oder Materialismus auf die Verfügbarkeit (Vorstellbarkeit) eines Blicks von nirgendwo angewiesen zu sein, da er Behauptungen über absolut alles aufstellt, ohne in der Position zu sein, berechtigte Behauptungen über seine eigene Position in dieser physikalischen Gesamtheit, welche Gegenstand ihrer Behauptungen ist, aufstellen zu können. 16 Bemerkenswerterweise nutzt Dennett ausdrücklich eine »gottgleiche […] Sicht des Universums« (Dennett 1986: 132). Seine kompatibilisti-

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An dieser Stelle könnte sich der Möchtegern-Materialist auf eine der beiden folgenden Optionen zurückziehen: 1. Dafür zu argumentieren, dass Google Universe vorstellbar und letztlich doch möglich ist; 2. Dafür zu argumentieren, dass der Materialismus nicht auf einem so inkohärenten Szenario beruht. Argumente für Google Universe könnten mit der Beobachtung beginnen, dass der Standpunkt von Google Universe einfach unser Standpunkt ist. Wir lernen vom Standpunkt von Google Universe, dass wir einen Platz in der Raumzeit als Ganzes haben, was in physikalischen Termini beschrieben werden kann. Dies ließe sich auch auf Google Earth anwenden: Wenn wir in Google Earth die Erde sehen, dann sehen wir, wo wir lokalisiert sind. Wenn wir uns selber im Ganzen des Universums sehen, sehen wir dies innerhalb des Universums. Dies löst jedoch das Problem nicht, dass es buchstäblich einen Standpunkt gibt, aus dem wir die Erde sehen können und uns vergegenwärtigen können, dass wir auf der Erde lokalisiert sind, wohingegen es keinen solchen Standpunkt für das Universum gibt – jedenfalls nicht für den Materialisten. 17 Folglich ist diese Option letztlich hoffnungslos und eine unnötige Überreaktion. sche Theorie des Determinismus (die er vom Fatalismus unterschieden wissen will) beruht auf einem Standpunkt sub specie aeternitatis (ebd.: 160) und auf einem Gedankenexperiment, das auf der Möglichkeit basiert, die gesamte Wirklichkeit zu untersuchen (»den tatsächlichen Lauf der Welt« [ebd.: 162] in einem ewigen Blickwinkel). Jedoch habe ich in Gabriel (2013, 2016c) dafür argumentiert, dass es so eine gesamte Wirklichkeit gar nicht gibt. Dies ist nicht bloß eine epistemische Tatsache über unser metaphysisches Unwissen, sondern eine ontologische Tatsache, die einschränkt, was der Fall sein kann. 17 Ein Theist oder ein klassischer Metaphysiker mit ontotheologischen Anwandlungen könnte dafür argumentieren, dass die Gottesperspektive doch unter der Bedingung vorstellbar ist, dass sie nicht wortwörtlich einen Standpunkt einnimmt. Die gesamte Tradition der klassischen Metaphysik hat einen sehr speziellen Beobachterstatus für die Gottesperspektive reserviert, wenn sie denn überhaupt so einen Schritt gehen

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Deshalb ist der Materialist besser damit bedient, sich in seiner Argumentation dafür zu entscheiden, dass der Materialismus nicht auf einem so inkohärenten Gedankenexperiment basiert. Beispielsweise könnte der Materialist an dieser Stelle erwidern, dass der Materialismus eine wohletablierte Theorie ist, die auf Einsichten in die kausale oder nomologische Geschlossenheit des Universums basiert. Das Universum wird demnach von Naturgesetzen durchherrscht und beherbergt physische Objekte, die als material-energetische Gegenstände oder Strukturen bestimmt sind, die allesamt Teile eines Ganzen, des Universums, der Natur, oder des Kosmos sind. Selbst auf dieser Ebene ist der Materialismus eine metaphysische Position in mindestens drei Bedeutungen des Wortes »Metaphysik«. Erstens ist der Materialismus eine Theorie, die behauptet, dass absolut alles eine bestimmte Menge von Eigenschaften teilt: Absolut alles, was (wirklich) existiert, soll material-energetisch und von Naturgesetzen bestimmt sein. Metaphysik ist die Disziplin, die sich mit absolut allem beschäftigt. Sie ist die allgemeinste Untersuchung des Wesens der Wirklichkeit, ihrer Zusammenstellung und Architektur. Die Behauptung, die Metaphysik sei letztlich eine futuristische vereinheitlichte Physik, kann als »Physikalismus«, oder treffender als »Meta-Physikalismus« bezeichnet werden, denn sie basiert auf einer metaphysischen Interpretation dessen, was die Physik ist und nicht auf der Physik, wie sie tatsächlich ist. 18 wollte. Diese Perspektive sollte atemporal sein, außerhalb von Raum und Zeit stehen, allwissend sein usw. Dies ist für den metaphysischen Naturalisten selbstverständlich keine Option. 18 »Meta-Physikalismus« ähnelt in diesem Sinne dem, was Agustín Rayo (2013: 5–12) »metaphysicalism« nennt. Wie Rayos Metaphysikalist glaubt auch mein Meta-Physikalist, dass es eine metaphysisch privilegierte Struktur gibt, die das wirkliche Ziel der Bezugnahme ist. Im Gegensatz zu Rayos Metaphysikalist baut mein Meta-Physikalist seine Behauptung auf der Physik auf und nicht allein auf im Lehnstuhl vollzogenen Überlegungen über die Beziehung zwischen Wahrheit, Bezugnahme und Wirklichkeit. Das Vorgehen, begriffliche Probleme an eine

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Zweitens ist der Materialismus keine empirische Behauptung. Empirische Behauptungen sind Behauptungen über die Zusammenstellung spezifischer Regionen des Universums. Häufig generalisieren wir induktiv oder auf andere legitime Weise auf der Basis gegebener Daten, aber es ist für Daten – d. h. für Information – wesentlich, dass sie immer begrenzt sind. Hier eine einfache Illustration des Kontrastes zwischen metaphysisch und empirisch, den ich im Sinn habe: Es ist eine empirische Tatsache, dass es Bosonen und Fermionen gibt. Wir haben es geschafft, dies auf einem bestimmten Wege herauszufinden, und haben gute Gründe dafür, diesen beiden Teilchen verschiedene Eigenschaften zuzuschreiben, weshalb wir davon ausgehen, dass sie sich voneinander unterscheiden. Etwas über Bosonen zu wissen, bedeutet, Informationen darüber zu erhalten, wie wir einen (oder eine Art von einem) physikalischen Gegenstand von einem anderen (oder einer anderen Art von einem) physikalischen Gegenstand unterscheiden können. Dieses empirische Wissen basiert auf Informationen, die wir dazu nutzen, eine Theorie zu konstruieren, welche uns erlaubt, die Grundstruktur dieses oder jenes Phänomens zu verstehen. Im Gegensatz zu diesem empirischen Wissen ist das Wissen darüber, dass alle physikalischen Gegenstände Gegenstände sind, dass jeder physikalische Gegenstand mit sich selbst identisch ist und sich von anderen Gegenständen unterscheidet, kategorial von jenem Wissen zu unterscheiden und versetzt uns auf eine andere Stufe von Allgemeinheit. Es ist schwer nachzuvollziehen, was es bedeuten würde, so einen Wissensanspruch aufzugeben oder ihn auf dazu geeignete Einzelfälle (oder überhaupt irgendeinen Einzelfall) zu gründen. Er enthält nahezu keine Information, zumindest auf dieser Abstraktionsstufe keine Information, die uns dabei helfen würde, irgendeinen Naturgegenstand von einem anderen Naturgegenstand zu unterscheiden.

futuristische Physik zu verweisen, ist aber sicherlich nicht besser als der Metaphysikalismus.

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Der Materialismus stellt Behauptungen über alle Gegenstände auf. In dieser Hinsicht kann er uns über diese Gegenstände nichts sagen außer, dass sie sich von anderen Arten von Gegenständen unterscheiden, die dem Materialismus zufolge nicht existieren. Die Gegenstände, deren Existenz vom Materialismus ausgeschlossen wird, sind immaterielle Gegenstände. Materielle Gegenstände unterscheiden sich nicht von immateriellen Gegenständen, weil sie etwa unterschiedliche Eigenschaften hätten. Die Quintessenz des Materialismus ist es ja, schlichtweg die Existenz immaterieller Gegenstände zu leugnen. Wenn sie nicht einmal existieren, haben sie ja keine Eigenschaften, durch die sie von materiellen Gegenständen unterschieden werden könnten. Der Materialist ist kein aufgeschlossener Forscher, der die Existenz immaterieller Gegenstände akzeptieren würde, wenn jemand ihm einen solchen Gegenstand zeigte; so etwas kann man sehr einfach tun, ohne dabei die Auffassung des Materialisten zu verändern. Es gibt Zahlen, Staaten, fiktionale Charaktere aus Erzählungen, Filme und Träume, Farbempfindungen und Überzeugungen, und nichts von all dem ist augenscheinlich ein materiell-energetischer, physikalischer Gegenstand. Der Materialist lässt sich nicht davon beeindrucken, dass ich darauf beharre, dass es all diese Gegenstände doch gibt, sondern wird vielmehr Ausschau nach einer Theoriekonstruktion halten, die es ihm erlaubt, diese Gegenstände aus einer szientistischen Weltanschauung zu eliminieren, indem er behauptet, diese Dinge hätten doch eine verborgene materielle Natur. Diese theoretische Einstellung allein zeigt uns unmittelbar, dass der Materialismus eine metaphysische und keine empirische Position ist, die auf tatsächlichen wissenschaftlichen Entdeckungen basiert. Es ist prinzipiell unmöglich, empirisch die vermeintliche Tatsache zu entdecken, dass der Materialismus wahr ist, da keine empirische Entdeckung jemals die Existenz immaterieller Gegenstände ausschließen wird. Drittens ist der Materialismus auch dadurch eine metaphysische These, dass er behauptet, die Realität so zu erklären, wie sie unabhängig davon wäre, dass sie jemals von jemandem 46 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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auf gewisse Weise bemerkt wurde. Der Materialismus soll eine strikt theorieunabhängige Tatsache sein – d. h. eine Tatsache, die wir entdeckt und nicht durch unsere Überzeugungen hinsichtlich ihres Wahrseins hervorgebracht haben. Wir machen den Materialismus nicht dadurch wahr, dass wir glauben, alles sei materiell. Der Materialismus soll eine Einsicht in die Natur der Wirklichkeit darstellen, eine Einsicht mit einem besonderen Status, da sie zwar wirkliche wissenschaftliche Erkenntnis einbezieht, aber dennoch alles übersteigt, was jemals empirisch überprüft oder widerlegt werden könnte. Lassen Sie mich ein direktes Beispiel für die Spannungen anführen, die hiervon erzeugt werden. Daniel Dennett, der jeden Zweifel an seinem Glauben an den Materialismus im Keim erstickt, behauptet am Anfang seines Buches Consciousness Explained: »Kurz, der Geist ist das Gehirn. Folgen wir den Materialisten, dann können wir (im Prinzip!) jedem mentalen Phänomen gerecht werden, wenn wir dieselben physikalischen Prinzipien, Gesetze und Rohstoffe zugrunde legen, die einer Erklärung der Radioaktivität, der Kontinentalverschiebung, der Photosynthese, der Reproduktion, der Ernährung und des Wachstums gerecht werden.« (Dennett 1994: 53 f.). Bemerkenswert an diesem Zitat ist das verdächtige Ausrufezeichen, das auf den ersten Blick eine Bekundung von Bescheidenheit zu sein scheint. Doch viel eher läuft seine Haltung darauf hinaus, was Karl Popper »versprechenden Materialismus« (Popper and Eccles 1982: 253) genannt hat, denn wir sind weit entfernt von der Möglichkeit, mentale Phänomene von einem materialistischen Standpunkt aus erfassen zu können. Bemerkenswerterweise argumentiert Dennett nur dreißig Seiten zuvor im Zuge seines Eröffnungsargumentes für das ganze Spiel gegen anti-materialistische Spielarten der Bewusstseinsphilosophie, und das auf der Basis einer Zurückweisung von prinzipiellen Möglichkeiten [possibilities in principle]: Man sollte diese ›prinzipiellen Möglichkeiten‹ aber mit Argwohn betrachten. Denn im Prinzip ist es ja auch möglich, eine Leiter aus

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rostfreiem Stahl zum Mond zu bauen oder alle verständlichen, auf englisch geführten Gespräche mit weniger als tausend Wörtern in alphabetischer Reihenfolge abzuschreiben. Aber faktisch ist beides unmöglich, und manchmal ist, wie wir sehen werden, eine faktische Unmöglichkeit theoretisch wichtiger als eine prinzipielle Möglichkeit.« (Dennett 1994: 16)

Ich stimme zu! Doch sollten wir daraus lernen, dass es unmöglich ist, aus dem, was wir tatsächlich aus den Naturwissenschaften wissen, festzulegen, ob der Materialismus wahr ist. Gravierender für Dennett ist, dass er innerhalb von dreißig Seiten geradeheraus einen methodologischen Widerspruch begeht: Einerseits soll die Konstruktion unserer empirisch gesinnten Bewusstseinstheorie im Gegensatz zu diesen »prinzipiellen Möglichkeiten« stehen, während andererseits die empirische Einstellung selbst nur mithilfe einer »prinzipiellen Möglichkeit« entworfen wird. Bisher habe ich dafür argumentiert, dass der metaphysische Naturalismus – d. h. der Materialismus – scheitert, da er ein methodologisches Gemisch von Metaphysik und empirischer Forschung ist. Er ist schlichtweg eine größtenteils ungerechtfertigte pseudo-induktive Übergeneralisierung. Es gibt eine zweite Reihe berühmter anti-materialistischer Argumente in der Philosophie der Gegenwart. Argumente aus dieser zweiten Reihe leiten sich von der spannenden Schnittstelle von Bewusstseinsphilosophie und Sprachphilosophie ab. Die Bewusstseinsphilosophie beschäftigt sich üblicherweise mit dem Gehirn-Bewusstsein-Problem – d. h. mit dem Problem, dass es sehr schwierig ist, einzusehen, wie Bestandteile des Mentalen in Beziehung stehen zu Bestandteilen des Physischen und zu Prozessen, die zur Naturordnung gehören, wie z. B. zu biochemischen Prozessen, die in bestimmten Arealen innerhalb unseres Schädels stattfinden. Doch man könnte sich fragen, was denn am Gehirn-Bewusstseins-Problem überhaupt so besorgniserregend sein soll (wenn es denn überhaupt so ein Problem gibt). Eine allgemeine Antwort auf diese Frage beruht auf der begrifflichen Maschinerie aus der philosophischen Theorie der Bedeutung, insbesondere auf der Semantik von 48 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Wahrheitsbedingungen. Grob gesagt untersucht die Semantik von Wahrheitsbedingungen die Beziehungen zwischen Bestandteilen der Sprache und dem, wovon sie handeln – oder schlagwortartig ausgedrückt: zwischen Wort und Welt. In diesem Rahmen kann man sich dem Gehirn-Bewusstsein-Problem auf dem Wege der folgenden grundlegenden Rekonstruktion der begrifflichen Maschinerie annähern, die zu demjenigen Paradoxieverdacht führt, der für das Gehirn-Bewusstsein-Problem konstitutiv ist. In seinem ausgefeilten Buch Purple Haze unterscheidet Joseph Levine zwei Arten, auf die singuläre Termini wie Nomina oder Beschreibungen wie »der teuerste Ring in diesem Raum« auf die durch sie verwiesenen Gegenstände referieren. Die eine Art kann man »bloße Etikettierung [mere labeling]« nennen. 19 Bloße Etikettierung bringt einen Sprecher in semantischen Kontakt zu einem Gegenstand oder zu Sachen in seiner Umgebung, zu denen er bereits kausalen Kontakt hatte. Der Sprecher kann dem Gegenstand oder den Sachen eine willkürliche Bezeichnung geben, ohne dabei irgendeinen zugänglichen Teilaspekt des Gegenstands explizit hervorzuheben. Der Gegenstand ist dem Sprecher nur schwach [thinly] präsent, wie Levine es nennt – d. h. er kann alle möglichen Vorstellungen mit dem Gegenstand in Verbindung bringen, wobei er sich sogar eingestehen kann, dass diese Vorstellungen zum größten Teil ihr Ziel verfehlen (Levine 2004: 8–9, 118–119). Zum Beispiel ist mein Gebrauch der Begriffe »Boson« und »Fermion« in den früheren Abschnittes dieses Kapitels in diesem Sinne relativ schwach, da ich weit davon entfernt bin, ausgebildeter Atomphysiker zu sein. Sollte ein Experte im Gebiet der Teilchenphysik mir sagen, dass sogar die Grundlagen meiner Verwendung der wissenschaftlichen Fachausdrücke falsch sind, wäre ich gerne bereit, dies zuzugeben und meine Begriffe zu revidieren, um zu einem wasserfesteren Gebrauch der relevanten Ausdrücke zu kommen. Ein anderes, aber letztlich fehlZu Begriffen, die »really are essentially labels«, siehe Levine (2004: 165).

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geleitetes Standardbeispiel unter Philosophen ist die Identität von Wasser und H2 O, von der kein antiker Philosoph einen blassen Schimmer hatte. 20 Doch das bedeutet nicht, dass Thales, Platon oder Karl Marx nicht in der Lage waren, jeweils das Wort ὕδωρ oder Wasser richtig zu benutzen. »Wasser« ist eine bloße Etikettierung, die wir dazu benutzen, wässriges Zeug unabhängig von unserem Wissen oder Unwissen seiner molekularen Zusammensetzung zu benennen. Das Wesen des Wassers ist nicht notwendigerweise in irgendeiner kompetenten Verwendungen von Wasserwörtern manifestiert. Levine kontrastiert den Fall der bloßen Etikettierung mit dem Falle von »starken«, »phänomenalen« oder »substantiellen« Begriffen, wie er sie jeweils nennt (Levine 2004: 7–9). Dass mir etwas auf gewisse Weise rötlich erscheint, kann ich auch zum Ausdruck bringen, indem ich die Worte »Dieses Rot ist schön« oder »Dieses Rot ist violetter als jenes andere Rot« ausspreche. Wenn wir diese Art von Aussagen hinsichtlich ihres möglichen Wahrseins bewerten wollen, können wir diese nicht beurteilen, indem wir den einen Ausdruck durch seinen »schwachen« Gegenpart ersetzen. »Diese energetische Struktur mit einer Wellenlänge von ungefähr 650 nm ist schön« ist eine Darstellung der Sachlage, die sich nicht dafür eignet, eine Beurteilung der Schönheit zu sein, die mit der phänomenalen Erfahrung von etwas Rötlichem verbunden ist. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass uns die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Begriffen Für eine differenziertere und historisch adäquate Behandlung dieser vermeintlichen Identitätsbehauptung siehe Chang (2012). Für eine überzeugende Alternative zum anderen Standardbeispiel (das genauso fehlgeleitet ist) der vermeintlichen Identität von Temperatur mit molekularer kinetischer Energie siehe Bishop und Atmanspacher (2011). Der letztere Artikel enthält ebenfalls eine Alternative zur physikalistischen Auffassung der kausalen Geschlossenheit des physischen Universums unter dem Leitbegriff der »kontextuellen Emergenz«. Im Haupttext wird jedoch deutlich, dass diese Auffassung noch immer als naturalistisch in meinem Sinne gelten muss, da der von ihr tolerierte Bereich als gegeben und als Teil der empirischen Forschung verortet wird.

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gegen den Materialismus nicht weiterhilft. Denn es gibt verschiedene materialistische Strategien, den Kontrast zwischen schwachen und starken Verwendungsformen singulärer Termini einzuebnen. Zum einen beruht der Unterschied zwischen Wasser und H2 O, der zeigt, warum wir überhaupt etwas Neues lernen, wenn wir herausfinden, dass Wasser H2 O ist, selbst auf einem starken, phänomenal angereicherten Begriff von Wasser als wässriges Zeug (durstlöschendes Wasser aus Flaschen, entspannendes Badewasser, salziges Meerwasser, das uns an unsere erste Liebe erinnert usw.). Nur so können wir auch überrascht davon sein, dass Wasser aufgrund seiner molekularen Struktur verdampft, erstarrt und kocht, wenn wir eine verborgene Einheit hinter den verschiedenen Oberflächeneigenschaften des Wassers antreffen. Aber auch hier bleibt der phänomenale, starke Begriff stets erhalten, sodass weder Wasser noch Rot zu bloßen Etiketten werden. Und da wir auch im Falle eines starken Wasserbegriffs materialistische Erklärungen anbringen können (wie Levine selbst konzediert), untergräbt dies auch sein Rotbeispiel. Wenn es für irgendeinen Term starke und schwache Verwendungsweisen gibt, hilft es nicht, gegen den Materialisten vorzubringen, dass es in einem gegebenen Fall (wie zum Beispiel dem von Rot) eine schwache Verwendungsweise gibt. Bestenfalls führt dies zu einer Spielart von Jacksons Wissensargument und führt damit in eine andere Dialektik. 21 Wie dem auch sei: Levine ist einem Gedanken auf der Spur, der für die Theoriekonstruktion der zweiten Hälfte dieses Kapitels bewahrenswert ist. Er liefert eine subtile semantische Version der Lücke, eine Version, die von sich aus möglicherweise noch kein Verortungsproblem motiviert. David Chalmers argumentiert bekanntlich auf einer etwas anderen, aber ähnlichen semantischen Grundlage gegen den Materialismus. So gelingt es ihm ebenfalls, die augenscheinliche Distinktion zwischen dem Wasser- und dem Rotbeispiel in Rechnung zu stellen. Chalmers spricht sich eindeutig dafür 21

Vgl. natürlich Jackson (1986).

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aus, »dass der Materialismus falsch und eine Form des Dualismus wahr ist« (Chalmers 1996: xv [Übersetzung P.B.]). Er definiert den Materialismus als »die weithin vertretene Doktrin […], von der man annimmt, dass sie alles, was es in der Welt gibt, für etwas Physisches hält, oder dass es für sie nichts gibt, was über das Physische hinausgeht, oder dass für sie die physischen Tatsachen in gewissem Sinne alle Tatsachen ausmachen, die es über die Welt gibt.« (ebd.: 41 [Übersetzung P.B.]). Sein viel diskutiertes und gegen den Materialismus gerichtetes Argument aus der Vorstellbarkeit kann auf folgende Weise vereinfacht rekonstruiert werden: Erstens müssen wir uns dafür einen philosophischen Zombie vorstellen – eine physische Replikation eines wirklichen Menschen, die aber keinerlei mentales Innenleben aufweist. Ein philosophischer Zombie sieht äußerlich und im Innern genauso aus wie ich, mit dem einzigen Unterschied, dass sozusagen ›niemand zu Hause ist‹. Um die Option des philosophischen Zombie plausibler wirken zu lassen, kann man sich ein Szenario (eine mögliche Welt) ausmalen, in der es einen Planeten gibt, auf dem Materie oftmals zufälligerweise so arrangiert ist, dass menschliche Beobachter glauben würden, Zeuge echt menschlicher Verhaltensmuster zu sein. Aber es gibt dort nichts außer sehr stabilen Arrangements von Materie, die auch bei genauester Beobachtung von menschlichen Wesen ununterscheidbar sind. Bemerkenswerterweise behauptet Chalmers nicht, dass Zombies in unserer tatsächlichen Welt möglich sind. In unserer Welt wäre, so glaubt er zumindest, jedes physische Replikat von mir – d. h. eine exakte Kopie, die irgendwo platziert wäre, wo ich gerade jetzt nicht stehe – natürlich auch bewusst und hätte gerade größtenteils die gleichen Erlebnisse wie ich. Darum ist das Argument aus der Vorstellbarkeit auch zugleich stärker und schwächer als es zunächst erscheint. Schwächer, weil es für unsere Welt keinen Nicht-Materialismus etabliert, und stärker, weil es zeigt, dass die Identität von Materie und Bewusstsein prinzipiell nicht aufgewiesen werden kann. »In meiner Terminologie wäre der Naturalismus genau dann wahr, wenn alle positiven Tatsachen über die Welt logisch und global 52 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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auf den physikalischen Tatsachen supervenieren würden. Diese Bestimmung stellt auch die intuitive Auffassung in Rechnung, dass – wäre der Materialismus wahr – alle Tatsachen genau dann festgelegt waren, als Gott die physikalischen Tatsachen über die Welt festgelegt hat.« (Chalmers 1996: 41 [Übersetzung und Hervorhebung P.B.]). Hier ist eine Skizze des Argumentes, die bloß dazu dienen soll, die grundlegenden Ideen zu veranschaulichen, aber nicht unbedingt die stringenteste Version des Arguments sein soll. 1. Zombies sind vorstellbar (der Begriff des Zombies enthält keine logische Widersprüchlichkeit). 2. Wenn Zombies vorstellbar sind, so sind sie auch möglich (es gibt eine mögliche Welt, in der jeder ein Zombie ist = eine Zombiewelt). 3. Wenn Gehirn und Bewusstsein miteinander identisch wären, wäre die Gehirn-Bewusstseins-Verbindung metaphysisch notwendig (aufgrund der metaphysischen Notwendigkeit, die aus der Identität folgt). 4. Wenn die Gehirn-Bewusstseins-Verbindung metaphysisch notwendig ist, gibt es keine Zombiewelt. 5. Wenn der Materialismus wahr ist, dann ist die GehirnBewusstseins-Verbindung metaphysisch notwendig. 6. Es gibt eine Zombiewelt. 7. Die Gehirn-Bewusstseins-Verbindung ist nicht metaphysisch notwendig. Also: Der Materialismus ist falsch. Von einem philosophischen Gesichtspunkt ist die technische Hintergrundmaschinerie interessanter als das eigentliche Argument, das meiner Meinung nach irreparabel fehlerhaft ist, was sich im weiteren Verlauf zeigen wird. Diese Maschinerie ist die zweidimensionale Semantik, deren Idee recht simpel und einfach nachzuvollziehen ist. Es gibt zwei Sinne, in denen wir das Wort »Wasser« benutzen. Einem Sinn nach, den Chalmers die »primäre Intension« nennt – d. h. den primären Sinn –, bedeutet »Wasser« wäss53 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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riges Zeug. Thales und Platon wussten, worüber sie sprachen, wenn sie ὕδωρ benutzten, obwohl sie, wenn überhaupt, falsche Meinungen über seine molekulare Zusammensetzung hatten. Hätte Wasser eine andere molekulare Komposition, sagen wir, wie unter Philosophen üblich, XYZ, dann hätten Thales und Platon dennoch darauf bestanden, dass sie wissen, was ὕδωρ bedeutet. Der zweite Sinn von »Wasser«, seine »sekundäre Intension«, ist eine Funktion von der linguistischen Bedeutung zum eigentlichen Referenten. Das Wort »Wasser« verweist tatsächlich auf etwas, das H2 O-Moleküle beinhaltet, und in diesem zweiten Sinn ist es notwendig, dass es das tut. Hier eine einfache Erklärung dafür: jede Identität ist notwendig. Die Tatsache, dass Ich Ich bin oder Mainz Mainz ist, ist notwendig, wenn irgendetwas notwendig ist. Wenn Mainz existiert, dann ist es, nicht gerade überraschend, eben Mainz. »Boys will be boys«. Wenn Wasser mit H2 O identisch ist, kann es nie anders gewesen sein. Laut Chalmers’ semantischem Ansatz heißt das, dass wir die Verwendungen von »Wasser« in zwei Dimensionen bewerten: Eine Dimension, in der wir wissen, was wir meinen, unabhängig von den endgültigen Tatsachen über dessen Natur – Tatsachen, die beteiligt sind am referentiellen Teil unserer Sprachverwendung – und eine andere Dimension, in der wir berücksichtigen, dass Wasser wirklich auf einen bestimmten Stoff einer bestimmten molekularen Komposition referiert. Worauf »Wasser« wirklich referiert, kann nichts anderes sein als das, was es letztendlich ist. Da es sich hier um ein semantisches Modell handelt und nicht um eine linguistische Behauptung über unsere wirkliche Verwendung von Wasserwörtern in verschiedenen Sprachen, Dialekten oder Idiolekten, benötigen wir nur eine prima facieStabilität des Modells. Es ist immerhin nicht offensichtlich inkohärent und nicht nur Chalmers hat es mit beachtenswerter technischer Präzision im Detail verteidigt. 22 So weit so gut. Für eine Übersicht der Entwicklung der zweidimensionalen Semantik und ihrer Anwendung auf das hier behandelte Problem siehe Chalmers (2006a, 2006b, 2009). Vgl. ebenfalls Jackson (1998). Es gibt aber auch

22

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Warum der Naturalismus scheitert

Chalmers weist nun darauf hin, dass im Fall unseres mentalistischen Vokabulars – das Vokabular, in dem unsere Selbstbeschreibungen als mit dem Mentalen ausgestattete, bewusste Subjekte ausgedrückt werden – die primären und sekundären Intensionen nicht radikal voneinander verschieden sein können. Nehmen wir zum Beispiel meinen Eindruck, dass es sich in diesem Raum, in dem ich gerade diesen Satz schreibe, angenehm warm anfühlt. Dieses Gefühl ist kausal mit einem sehr komplexen Netzwerk physikalischer Eigenschaften verbunden, das von kinetischer Energie bis zu einer komplizierten Struktur der Informationsverarbeitung reicht, die in meinem Organismus als ein Resultat davon ausgelöst wird, dass dessen Oberfläche seiner natürlichen Umgebung exponiert ist. Doch scheint der Gedanke extrem merkwürdig zu sein, dass das Gefühl, dass mir warm ist, wortwörtlich ein Aggregatzustand einer natürlichen Art ist, die meinen Zustand als einen Teil in sich mit einschließt, wütend über die Tatsache zu sein, dass Trump die Wahlen in den USA gewonnen hat. Es sieht so aus, als könnten wir dies ohne weitere empirische Untersuchung ausschließen. Für diese Option scheint einfach kein Raum zu sein. Die Temperatur ändert sich nicht plötzlich in Wut, sodass wir eine Auffassung dieses Prozesses bräuchten. Im Gegenteil wissen wir, dass viele Naturphänomene, wie beispielsweise Phänomene, die früher »Elektrizität« und »Magnetismus« genannt wurden, miteinander zusammenhängen und Manifestationen eines einzigen Phänomens sind, das nur dann entdeckt werden kann, wenn wir die wirklichen Referenten ausgemacht haben, d. h. die sekundären Intensionen unserer vorigen uninformierten Rede von Elektrizität. Unsere phänomenale Erfahrung kann sich nicht immer und prinzipiell auf radikale Weise davon unterscheiden, wie sich die Dinge auf neuronaler Ebene verhalten. Es kann nicht sein, dass wir uns in einem phänomenalen Zustand befinden, der sich aus drittpersonaler

andere Abwandlungen und Vorläufer. Die technischen Details dieser Semantik spielen hier keine Rolle.

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Neo-Existentialismus

Perspektive als vollständig anders darstellt als dasjenige, was wir als Subjekt darüber zu berichten imstande sind. Chalmers glaubt nun, dass seine zweidimensionale Semantik dazu in der Lage ist, seine eigene Version der uralten cartesischen Intuition zu unterstützen, dass wir einen privilegierten Zugang zu unseren eigenen Bewusstseinszuständen haben: »Wir sind mit dem Bewusstsein viel enger vertraut als mit dem Rest der Welt, aber wir verstehen den Rest der Welt viel besser als wir das Bewusstsein verstehen.« (Chalmers 1996: 3 [Übersetzung P.B.]). Es scheint aber gerade umgekehrt zu sein: Wenn die zweidimensionale Semantik zeigt, dass es eine starke [thick] Verwendungsweise phänomenaler Begriffe gibt, beweist dies, dass wir um das Bewusstsein nicht nur wissen, sondern es in der relevanten Dimension a priori vollständig verstehen. Also haben wir hier weder ein Mysterium, noch ein Rätsel, noch ein hartes Problem. Wir sind innerlich mit dem Bewusstsein vertraut und verstehen es vollkommen – wenigstens auf der Ebene unserer kompetenten Verwendungsweise des mentalistischen Vokabulars entlang der zwei semantischen Achsen. Da beide Achsen gemäß der zweidimensionalen Semantik in ihrer Anwendung auf das Gehirn-Bewusstsein-Problem nicht radikal voneinander verschieden sein können, scheint es hier keine weitere Frage zu geben. Es gibt hier viel Spielraum für den Materialisten. Er kann etwa die Idee angreifen, dass es überhaupt eine semantische Lücke gibt zwischen den zwei Weisen, in denen singuläre Termini referieren. Denn nur dann könnte eine solche Lücke ein Indiz für antimaterialistische Argumente hinsichtlich unseres mentalistischen Vokabulars sein. Wie schon Levine bietet auch Chalmers detaillierte, interessante und technisch anspruchsvolle Antworten auf Manöver der Materialisten an, die hier in den Sinn kommen. 23 Wie dem auch sei, pflichte ich, einige Details beiseite lassend, den Ergebnissen sowohl von Levine und Chalmers, als auch der Grundidee vieler anderer

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Zu dieser Diskussion vgl. Shear (1997).

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Warum der Naturalismus scheitert

bei, dass unser mentalistisches Vokabular etwas Besonderes ist, eine Grundidee, die mindestens bis auf Platon zurückreicht. Nichtsdestotrotz widerspreche ich vollständig der Art, wie Levine und Chalmers die semantische Lücke in der Naturordnung verorten. Was normalerweise passiert, wenn wir versuchen, unser Bewusstsein mit seinen semantischen Eigentümlichkeiten in die Naturordnung zu zwängen, sieht man auf den etwa letzten hundert Seiten von Chalmers berühmtem Buch. 24 Chalmers argumentiert sowohl für die Irreduzibilität des Bewusstseins auf eine nicht-bewusste, materielle Grundlage als auch für seine Integration in die Naturordnung. Dieser Strategie gemäß muss er in der Naturordnung Raum schaffen für das Bewusstsein, das aber ex hypothesi eben nicht in die Naturordnung passt, wenn die Naturordnung genau so sein soll, wie sie der Materialist beschreiben will. Daher greift Chalmers auf die Strategie des »Märchengespinst[s] [wonder tissue]« (Dennett 1994: 62) zurück, wie Dennett solche Manöver polemisch bezeichnet hat. Chalmers versucht wie viele andere im Laufe der letzten hundert Jahre verschiedene Interpretationen der Quantenmechanik als eine Quelle für mögliche radikale Revisionen unseres Begriffs vom Bereich des Material-Energetischen zu nutzen. So möchte er Raum für neue Arten materieller Entitäten oder Gesetze schaffen, vor allem für Naturgesetze, die für zusätzliche bewusste oder protobewusste Märchengespinste gelten sollen. Von nun an nenne ich Strategien, die sich auf bislang wissenschaftlich unbekannte Aspekte des Universums berufen um das Verortungsproblem des Bewusstseins zu lösen »Spekulative (Meta-)Physik«. 25 Der prominenteste historische Vertreter Vgl. Chalmers (1996: 276–357). Die Vorgehensweise, auf die Quantenmechanik zurückzugreifen, um die semantische Lücke zwischen den beiden Sinndimensionen zu überbrücken gleicht einem obscurum per obscurius. Dessen ist sich Chalmers auch selbst bewusst, da er sein Buch mit dem Geständnis beschließt »dass jede Interpretation der Quantenmechanik zu einem gewissen Maß verrückt ist« (ebd.: 356 [Übersetzung P.B.]). 25 Dieter Henrich (2007: 47) fasst die Schwäche dieses Schachzuges, das 24

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dieser Strategie ist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der unter anderem wichtige Anregungen für die Medizin und Neurobiologie gegeben hat und wissenschaftlich auf der Höhe seiner Zeit war. Schelling gründete außerdem die Zeitschrift für Spekulative Physik, in der Artikel veröffentlicht wurden, welche nachweisbar dazu dienen sollten, unseren Begriff der Natur so zu erweitern, dass in ihm Raum für das Bewusstsein und seine prähistorischen evolutionären Stadien besteht (Schelling 2017, 2014). In seinem Buch Mind and Cosmos stellt sich Thomas Nagel explizit an die Seite Platons, Schellings und Hegels und stellt eine vereinfachte Version von deren allgemein teleologischem Ansatz der Stellung des Bewusstseins im Kosmos vor. 26 Verortungsproblem dadurch zu lösen, dass man das Bewusstsein in einem bisher unbekannten Netzwerk materieller Kräfte verortet, prägnant zusammen: »Es ist nicht vernunftwidrig, für sich daran die Folgerung anzuschließen, auch dem Subjektiven müsse etwas zugrunde liegen, was von dem, was Materie letztlich ausmacht, zuletzt nicht zu unterscheiden ist. Mit dieser Folgerung tut man aber einen Schritt, der über das Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung materieller Prozesse hinausführt. Man führt keinen Beweis, sondern entwirft und akzeptiert eine Konzeption, von der man wissen kann, dass ihr nicht der Status einer ausweisbaren Erklärung gegeben werden kann.« 26 »Die Auffassung, dass die Naturordnung im Kern rationale Intelligibilität aufweist, macht mich zu einem Idealisten im weiten Sinne – keinem subjektiven Idealisten, da sie nicht auf die Behauptung hinausläuft, dass alle Realität letzten Endes äußerer Schein ist, sondern einem objektiven Idealisten in der Tradition Platons und vielleicht auch bestimmter Nachkantianer wie Schelling und Hegel, die üblicherweise absolute Idealisten genannt werden. Ich vermute, dass ein Hang zu dieser Art von Idealismus in jedem theoretisch denkenden Wissenschaftler stecken muss – denn reiner Empirismus reicht nicht aus. Die Intelligibilität der Welt ist kein Zufall. Der Geist steht nach dieser Auffassung in einem doppelten Zusammenhang mit der Naturordnung. Die Beschaffenheit der Natur lässt bewusste Wesen mit Geist entstehen; und die Beschaffenheit der Natur ist für derartige Wesen verstehbar. Deshalb sollten solche Wesen letztlich auch für sich selbst verstehbar sein. Und dabei handelt es sich um grundsätzliche Charakteristika des Universums, nicht um Nebenprodukte kontingenter Entwicklungen, deren wahre Erklärung in Begriffen erfolgt, die keinen Bezug zum Geist herstellen.« (Nagel 2016: 32)

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Warum der Naturalismus scheitert

Nagel stimmt tatsächlich mit einem der Ansatzpunkte der objektiven Idealisten überein, da er behauptet, dass die Wissenschaften dazu genötigt sind, einer Version des idealistischen Intelligibilitätsprinzips zuzustimmen. Das idealistische Intelligibilitätsprinzip besagt, dass die Realität insoweit intelligibel sein muss, dass wir die weit hergeholte Hypothese, nach der die Realität der menschlichen Wissbegierde prinzipiell unzugänglich sein soll, a priori ausschließen können. 27 Die Evolutionstheorie und ihre Anwendungsgebiete in verschiedenen Teilbereichen der Biologie nimmt an, dass ihr explanatorisches Modell mit der Realität, die sie zu erklären versucht, übereinstimmt. Sie schließt a priori – d. h. vor jeder Anwendung ihres Modells auf das empirisch gegebene Objekt oder die zu untersuchende Struktur – aus, dass die Natur zusammen mit Spuren einer weitreichenden Vergangenheit erst vor fünf Minuten entstanden ist. Aus ähnlichen Gründen beachtet sie in der wissenschaftlichen Praxis keinerlei übermäßig skeptische Hypothesen wie den Junge Erde-Kreationismus. Die Evolutionstheorie verlässt sich, wie jede andere Theorie offensichtlich objektiven Inhalts, auf eine Übereinstimmung zwischen Denken und Realität. Sie muss annehmen, dass es nichts gibt, was der durch die Theorie erfassten Wirklichkeit inhärent ist, und es gleichzeitig grundsätzlich verunmöglicht, die Theoriebildung durchzuführen. Nagel weist zurecht darauf hin, dass jede Sichtweise des Kosmos als Ganzen bei genauerem Hinsehen implizit oder explizit auf spekulativen Annahmen beruht. Wenn dies der Fall ist, sind wir mindestens zu der Annahme berechtigt, dass der Kosmos nicht notwendig inkompatibel ist mit unserer Suche nach Einsicht und Erklärung. Eine schwache Version des anthropischen Prinzips besagt, dass die Tatsache, dass wissenschaftliche Beobachter wie wir existieren, bereits Aufschluss Zu diesem Idealismusbegriff vgl. Gabriel (2016a). Für eine gegenwärtige Verteidigung einer Kombination dessen, was er »Begriffsidealismus« nennt, mit einer wichtigen Leugnung von unaussprechlichen Merkmalen der Wirklichkeit siehe Hofweber (2016: 248–273).

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darüber gibt, dass der Kosmos dem Denken nicht prinzipiell unzugänglich sein kann, weil nämlich das Denken aus dem Kosmos selbst hervorgegangen ist und sich seinen Gesetzen anpassen konnte. Jede Darstellung des menschlichen Bewusstseins, nach der es von Gesetzen bestimmt wird, die aus der Perspektive des menschlichen Bewusstseins oder der Vernunft prinzipiell unverständlich sein sollen, schreit vor ungerechtfertigtem Skeptizismus. Allerdings springt Nagel nach einer überzeugenden Verteidigung der Realität der Vernunft und ihrer Irreduzibilität auf vernunftexterne Prinzipien (wie zum Beispiele auf solche, die von der Evolutionsbiologie entdeckt werden), zu der Schlussfolgerung, dass wir eine neue Art von futuristischer Wissenschaft benötigen, die das schwache anthropische Prinzip einbezieht. So eine Wissenschaft soll berücksichtigen, dass es eine Tendenz des Kosmos gibt, intelligentes Leben zu produzieren, das diesem Kosmos Sinn abgewinnen will. Nagel frohlockt angesichts des romantischen Begriffs des im Zuge der Evolution intelligenten Lebens stufenweise erwachenden Kosmos, der sich schließlich im Spiegel des menschlichen Wissenschaftsbetriebs selbst erblickt und sich über seine eigene Existenz und den Platz des Bewusstseins im Weltganzen Klarheit verschafft. 28 Nagels romantische Träumereien machen nur Sinn vor dem Hintergrund der verbreiteten Annahme, dass jeder Begriff des menschlichen Bewusstseins eine Integration der Gesamtheit mentaler Phänomene in die Naturordnung leisten können muss. Spekulative Metaphysik, sei es von Chalmers quantenmechanischer oder Nagels naturphilosophischer Provenienz, ist Nebeneffekt einer Vorstellung des Bewusstseins, nach der es nicht zur Naturordnung gehören kann, so wie sie von den Materialisten verstanden wird. Dadurch, dass sie versuchen, das Bewusstseins in die Naturordnung einzugliedern, wie sie der Materialist sich ursprünglich vorstellt, gewähren sie dem Materialisten bereits, die Spielregeln festzulegen, die 28

Vgl. Nagel (2016).

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Warum der Naturalismus scheitert

sie dann im Spielverlauf wieder revidieren wollen. Dieser inkohärente Trick wird den Materialisten allerdings nicht überzeugen. Eher berechtigt dieser Trick den Materialisten dazu, schließlich doch zu postulieren, dass es eine solide materialistische Theorie des Bewusstseins geben muss, wenn die Wahl besteht zwischen einer vollständig materialistischen Weltanschauung und einer materialistischen Weltanschauung mit einem magischen oder spekulativen Anhängsel. 29

Neuerdings haben Görnitz und Görnitz (2016) dafür argumentiert, dass die Quantentheorie letztlich nicht metaphysisch irrsinnig ist und dass sie genau der futuristischen Wissenschaft entspricht, die Nagel anpeilt. Sie stellen ihren Punkt so dar, dass die richtige metaphysische Auffassung von Information die semantische Lücke leicht überbrücken könnte. Dies funktioniert jedoch nur auf Kosten der Bedrohung, den Bereich des Material-Energetischen in einzelne Strukturen aufzulösen, die jeweils zu sehr dem Mentalen ähneln. Mit anderen Worten: Sie neigen dazu, das Verortungsproblem durch das Postulieren eines allumfassenden Bereichs der Information zu lösen, der sowohl Bewusstsein als auch Materie als zwei Informationsformen enthält. Ihre Theorie, die auf den Erkenntnissen der Physik aufbaut, kommt einer aktualisierten Version von Schellings objektivem Idealismus unheimlich nah.

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III. Geist als explanatorische Struktur

Als ich den Vortrag hielt, der zu diesem Buchkapitel geworden ist, war die Mehrheit der Zuhörer wach. Viele haben meine Erörterung verfolgt, um eventuelle Lücken und andere Mängel ausfindig zu machen oder um herauszufinden, worauf meine Erörterung hinauslaufen soll, bevor sie eine Entscheidung darüber getroffen haben, ob meine Behauptungen akzeptabel sind. Jede Person in diesem Raum hat sich irgendwie gefühlt. Außerdem glaubte jede Person in diesem Raum, dass mehr als 300.000 Haushalte in China jeweils mehr als ein Paar Schuhe besitzen. Jeder, der während meines Vortrags wach oder in Tagträumen vertieft war, hat meine Stimme gehört oder meine Gesten gesehen, egal ob aufmerksam oder bewusst, oder wenigstens in dem Ausmaß, dass jeder den Fokus seiner Aufmerksamkeit auf die Phänomene richten konnte, auf die ich hingewiesen habe. Dies ist eine sehr grobe Skizze einer Erklärung davon, wie es möglich ist, dass ein philosophischer Vortrag zu diesem vergangenen Zeitpunkt stattfinden konnte, bei dem ich der Sprecher war. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Tatsachen gibt es offensichtlich weitere sozio-historische Bedingungen für dieses Ereignis, wie zum Beispiel die Tatsache, dass vom durchschnittlichen Philosophen nicht erwartet wird, während seines Vortrags einen Bauchtanz zu tanzen. Im gegenwärtigen Wissenschaftsklima werden ausgefallene artistische Darbietungen – wie z. B. Aphorismen zu verlesen statt auf ausgesprochen geradlinige Weise Gedanken vorzustellen – ebenfalls nicht mehr von Philosophen erwartet. Was ich nun vorgeführt habe ist eine Erklärung aus der intentionalen Einstellung [intentional stance], um einmal Dennetts berühmt gewordenen Ausdruck zu verwenden: Ich 62 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Geist als explanatorische Struktur

erkläre das, was passiert ist, ohne dabei die Informationsverarbeitung im Gehirn oder die Transformation akustischer Wellen zu Information, die daraufhin verschiedene Kanäle des Gehirns durchläuft, zu erwähnen. Noch habe ich die Schwerkraft erwähnt und auch nicht die Naturgesetze; dies alles sind notwendige Bedingungen für das Zustandekommen von Philosophievorträgen, so wie wir sie kennen. Wir können nun eine vorläufige Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Natur einführen, die uns auf den richtigen Weg bringen wird, die Lücke, die Bewusstsein und Natur voneinander trennt, zu verorten. Auf diesem Weg können wir es vermeiden, dem Druck des Naturalismus nachzugeben, diese Lücke innerhalb [kursiv vom Übers.] der Natur anzusetzen. Wenn wir eine natürliche Art wie z. B. ein bestimmtes hydrophobes Molekül erklären, sind wir berechtigt, zu glauben, dass sich diese natürliche Art ganz und gar von irgendeiner bestimmten Charakterisierung oder Beschreibung unterscheidet, die mit der Verwendungsweise desjenigen Wortes verbunden ist, das auf diese natürliche Art in der Alltagssprache verweisen soll. Wenn ein Poet Wassertropfen auf der Oberfläche einer saftigen Wiese beschreibt, denkt er dabei nicht notwendigerweise an die hydrophoben Eigenschaften des Wassers, die erklären, warum es für menschliche und andere tierische Beobachter so aussieht, als wären es kleine Perlen, die an einer Oberfläche herabgleiten. Das Phänomen – kleine Perlen auf einer Oberfläche – wird sehr gut – wenn nicht gar am besten – in der Terminologie einer natürlichen Interaktion verschiedener natürlicher Arten erklärt. Dies wird widergespiegelt in der Vorstellung, dass die Terminologie natürlicher Arten ein möglicherweise verdecktes semantisches Element enthält – d. h. eine Bedeutung, die dem gewöhnlichen Sprecher bei der kompetenten Verwendung des relevanten Terminus nicht unbedingt offenliegt. Der Poet macht keinen Fehler, wenn er das Phänomen beschreibt; er trifft mit seiner Beschreibung nur nicht das Wesen der in Frage stehenden natürlichen Art. Im poetischen Kontext ist dies keineswegs ein Versäumnis, so wie umgekehrt die Abwesenheit poetischer Sprache in einem wis63 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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senschaftlichen Artikel zurecht nicht als Fehler angesehen wird. Was das Bewusstsein angeht, haben viele darauf hingewiesen, dass die Erscheinung/Realität-Distinktion, also die Unterscheidung zwischen einer kompetenten Alltagsverwendung eines Terminus und seiner eigentlichen Bedeutung, die dem gewöhnlichen Sprecher verborgen bleibt, an einem gewissen Punkt zusammenbricht. Sogar eingefleischte Materialisten wie Dennett haben ihre eigene Version dieses Zusammenbrechens der Erscheinung/Realität-Distinktion hinsichtlich des Bewusstseins präsentiert. Im Fall des Bewusstseins gilt auf irgendeiner Ebene: Die Erscheinung ist die Realität. Ich schlage vor, die Semantik von all dem nicht auf einer natürlichen Lücke zwischen unbelebter und belebter Materie einer bestimmten Komplexität zu verorten, sondern zwischen natürlichen Arten und Geist als einer explanatorischen Struktur. Um meinen Ansatz von anti-materialistischen Einstellungen in der üblichen Bewusstseinsphilosophie zu distanzieren, benutze ich das Wort »Geist« um die Phänomene zu bezeichnen, die ich beschreiben möchte, und um mich der verehrenswerten Tradition anzunähern, uns selbst für intelligente Akteure zu halten. Im Englischen gibt es kein genaues Äquivalent von »Geist«, denn weder mind noch spirit sind hierfür geeignet; daher nutze ich das deutsche Wort Geist auch im Englischen und bitte meine englischsprachigen Leser, es als einen terminus technicus anzusehen. 30 Die relevante Distinktion zwischen natürlichen Arten und Geist wird einsichtig werden, sobald wir die zwei folgenden Fälle unterscheiden, wie man einen Fehler machen kann. Stellen wir uns einmal vor, ich vertrete eine falsche Annahme über irgendeine natürliche Art. Vielleicht verwechsle ich Eichbosonen und Skalarbosonen, da ich nicht wirklich weiß, wie sich beide Arten von Bosonen voneinander unterscheiden. Dies ändert deren Wesen nicht. Eich- und Skalarbosonen besitzen ihre Für weitere Ausführungen zu diesem Übersetzungsproblem vgl. Gabriel (2016d: 48–58).

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individuierenden Eigenschaften unabhängig von meinen falschen Annahmen über sie. Nun stelle man sich vor, ich nehme fälschlicherweise an, dass ich ein führender Squashchampion bin. Vielleicht habe ich mit ein paar Freunden Squash gespielt und habe beobachtet, dass wir in dem Spiel immer besser wurden, sodass ich mich dazu entschlossen habe, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Obwohl ich im Turnier jedes einzelne Spiel verliere, halte ich an meiner fehlerhaften Selbstauffassung, ich sei ein großer Squashspieler, fest und erkläre mir die Ereignisse als bloßes Glück auf der Seite der Gegenspieler. Vielleicht entwickelt sich meine fehlerhafte Annahme aufgrund irgendeiner meiner psychologischen Eigenheiten zu einem vollkommenen Selbstbetrug und bestimmt einen großen Teil meines weiteren Lebens. Der Fehler, den ich bei den Bosonen gemacht habe, ändert die Bosonen nicht. Meine Selbsttäuschung aber ändert mich, und in vielen Fällen ändert eine Selbsttäuschung eine Person in einem solchen Ausmaß, dass wir sie kaum wiedererkennen. Tatsächlich bauen wir unser gesamtes Leben auf verschiedenen Formen verzerrter Selbstrepräsentation auf, da wir uns alle selbst als Mittelpunkt des Interesses erleben. Für alles, was wir wahrnehmen oder denken, finden wir einen Platz in verschiedenen, oftmals narrativ vermittelten Auffassungen davon, wer wir sind. 31 Es ist tatsächlich unmöglich, das uns bekannte menschliche Verhalten zu erklären, ohne die Dimensionen unserer verschiedenen Vermögen in Rechnung zu stellen, fiktionale Geschichten erzählen zu können. Der gesamte Bereich des Sozio-historischen und Politischen baut auf unseren fiktionalen Vermögen auf, die in der Tradition der PhilosoVgl. Dennett (1992). Für eine ähnliche Auffassung vgl. Gabriel (2016d: 246–252). Der Unterschied liegt darin, dass ich das Phänomen des Zentrums des Narrativen mit dem Freudschen Begriff davon verbinde, dass das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen dazu dient, unsere emotionalen Einstellungen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Auf diese Weise vermeide ich die verschiedenen Fallstricke, die aus der Narrativitätstheorie personaler Identität von Ricœur (2005) bekannt sind.

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phie des Geistes, die im achtzehnten Jahrhundert mit Kants »Träume eines Geistersehers« (Kant 1905) entstanden ist, ins Rampenlicht gestellt wurden. Die Idee hinter dieser Tradition, die Hegel, Marx und Nietzsche eingeschlossen hat und unter dem Deckmantel des Materialismus auch in Dennett weiterlebt, ist, dass Geist keine natürliche Art ist, weil sich unsere Beziehung zu den Phänomenen, die wir unserem mentalistischen Vokabular zuordnen, deutlich von derjenigen unterscheidet, die wir zu natürlichen Arten pflegen. Bemerkenswerterweise zieht auch Dennett eine Unterscheidung zwischen natürlichen Phänomenen wie Erdbeben oder Krankheiten und »Phänomenen, die von ihren Begriffen abhängig sind [phenomena that depend on their concepts]«: »Ausgehend von der in diesem Buch darzulegenden Betrachtungsweise wird sich zeigen, daß Bewußtsein, wie etwa Liebe und Geld, in erstaunlichem Maße von den mit ihm verbundenen Begriffen abhängt.« (Dennett 1994: 41 [Übersetzung verändert, P.B.]). Leider macht Dennett nicht deutlich, in welchem Ausmaß Bewusstsein von seinen zugehörigen Begriffen abhängig ist und wie sich dies von Liebe und Geld unterscheidet. Und selbst wenn es der Fall ist, dass Elemente unseres mentalistischen Vokabulars so beschaffen sind, dass sie Phänomene sind, die von ihren Begriffen abhängen, sollten wir hier nicht über das »Bewusstsein« sprechen, da der Sammelbegriff »Bewusstsein« auch Gebrauchsweisen hat, in denen er tatsächlich auf eine natürliche Art verweist. Dies ist etwa beim Reden über den Wachzustand eines Tieres oder über lebhafte halluzinatorische Träume der Fall. Um Raum für eine Naturalisierung einiger Aspekte unserer Selbstbeschreibungen zu schaffen, will ich das Wort »Geist« für diejenigen Bestandteile des menschlichen Bewusstseins reservieren, die wirklich Phänomene sind, »die von ihren Begriffen abhängig sind«, wie Dennett es in einem unwissentlich Hegelschen Moment bezeichnet. Denn Hegels gesamte Philosophie des Geistes kann mit dem Schlagwort zusammengefasst werden, dass Geist der Bereich derjenigen Phänomene ist, die von ihrem Begriff abhängen. Der Punkt ist ja gerade, dass Geist keine natürliche Art oder eine 66 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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komplizierte, aus natürlichen Arten bestehende Struktur ist, sondern gerade etwas, das unabhängig von den Beschreibungen, die dazu genutzt werden, um geistige Phänomene zu bezeichnen, nicht einmal existieren könnte. Wenn Sie nicht daran glaubten, dass dies hier eine philosophische Abhandlung ist; dass ich diese Worte bewusst niedergeschrieben habe, um mit Ihnen zu kommunizieren; dass ich die Schriften von Dennett gelesen habe und dass ich weiß, dass es überhaupt Bücher und Einwände gibt; dann wäre dies auch keine philosophische Abhandlung. Die ganze Existenz der Philosophie ist offensichtlich an Geist gebunden. Philosophie ist geistig. Leider führt Dennett die Kategorie dessen, was ich als Geist bezeichne, nur ein, um Kurs auf seine »Ausrottung [extinction]« zu nehmen: die »›nachbewusste‹ Periode unserer Begriffe vom Menschen« (Dennett 1994: 42 [Übersetzung verändert, P.B.]). Seine Variante eines eliminativen Materialismus macht jedoch wieder einmal nur Sinn vor dem Hintergrund einer materialistischen Auffassung der Naturordnung zusammen mit der Annahme, dass das menschliche Bewusstsein, wie wir es kennen, entweder in die Naturordnung integriert werden oder aus dem ontologischen Reich des Existierenden eliminiert werden muss. »Die Idee vom Bewusstsein, das vom Gehirn unterschieden werden muß und nicht aus gewöhnlicher Materie, sondern aus einem speziellen Stoff besteht, ist dualistisch. Diese Idee ist heute mit Recht suspekt« (ibid.: 53 [Übersetzung verändert, P.B.]). Sicher, wäre Geist irgendeine Art von außergewöhnlicher Materie, würde er verdienen, heute in Verruf gekommen zu sein und hätte schon seit Anbeginn der Philosophie in Verruf stehen sollen. Aber meine berechtigten Annahmen, dass Sie gerade wach sind, dass die Bonner Universität eine Institution ist, die finanziell vom deutschen Steuerzahler unterstützt wird usw. sind nicht einmal Kandidaten dafür, aus irgendeiner Art von Materie zu bestehen, sei es aus dem regulären oder irgendeinen besonderen Stoff. 32 Die Institution des Steuerwesens ge32

In seinen Locke Lectures bestimmt Dennett den Dualismus als »die

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hört nicht zur Naturordnung und normalerweise suchen wir auch nicht nach einem Weg, sie in die Naturordnung zu integrieren. Dies würden wir nur tun, wenn wir davon überzeugt wären, dass die richtige Metaphysik im Materialismus besteht und dass wir seinem begrifflichen Druck nur gerecht werden Vorstellung, daß das Bewusstsein (anders als das Gehirn) aus einem Stoff zusammengesetzt ist, der von den Gesetzen physikalischer Natur ausgenommen ist«, und macht sich, ohne ein Gegenargument zu liefern, darüber lustig, dass er »eine verzweifelte Sichtweise« sei, »die ihre gegenwärtige Geringschätzung reichlich verdient« (Dennett 1986: 43). Aber welcher genuine Dualist hat jemals behauptet, Bewusstsein bestehe aus irgendeinem Stoff? Und selbst wenn Platon und Descartes geglaubt hätten, dass mentale Substanzen aus irgendeinem immateriellen Stoff zusammengesetzt sind (was sie nicht taten), warum hätte irgendjemand dem hinzufügen müssen, dass dieser zusätzliche Stoff vollständig »von den Gesetzen physikalischer Natur ausgenommen ist«? Dennetts Ablehnung des Dualismus fällt selbst auf die Vorgehensweise einer Intuitionspumpe herein, wie Dennett so etwas selber nennt. Seine anti-dualistische Intuitionspumpe ist sogar sehr schwach, da sie aus der Zusammensetzung eines lächerlichen Strohmanns und nicht aus einem Argument besteht. Dass hier eine Intuitionspumpe und kein wirkliches Argument im Hintergrund steht, zeigt sich, wenn man berücksichtigt, wie verschieden die beiden Dualismusdefinitionen auf begrifflicher Ebene sind. Was spielt für Dennett die entscheidende Rolle, die Behauptung, dass es nicht zwei Arten von Stoffen gibt, oder die Behauptung, dass es nichts gibt, was von den Gesetzen der physischen Natur ausgenommen wäre? Dennett stellt eine maximal vereinfachte Version von »Dualismus« dar und behauptet dann berechtigterweise, dass so etwas vermieden werden sollte, ohne dabei aber zu erwähnen, dass wirkliche Dualisten niemals etwas behauptet haben, was diesem »Dualismus« auch nur ansatzweise nahe kommt. Um eine seiner eigenen Ausdrücke gegen ihn zu verwenden: »Das ist ein klarer Fall einer mißbrauchten Intuitionenpumpe« (ebd.: 49). Ein anderes Beispiel für diese Tendenz bei Dennett ist seine Behauptung, dass Descartes eine Theorie des Bewusstseins vertreten haben soll, nach der es »ein unteilbares und vollkommen selbst-kommunizierendes Ganzes« (ebd.: 58) wäre. Wie sonst in dem beliebten Genre, Descartes n’importe quoi zuzuschreiben, führt Dennett keinerlei Belegstellen für seine Behauptung an. Es ist auch unwahrscheinlich, dass er hierfür eine Belegstelle finden kann, da Descartes nicht die Position vertreten hat, die Dennett »Dualismus« nennt.

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Geist als explanatorische Struktur

können, wenn wir jedes Phänomen, das seine material-energetische Natur nicht offen zur Schau stellt, entweder eliminieren oder in die Naturordnung integrieren. Für den Begriff der Naturordnung ist es wesentlich, so wie der Ausdruck »die Naturordnung« verwendet wird, dass sie die Ordnung ist, die aus natürlichen Arten besteht. Natürliche Arten wiederum sind die Arten von Dingen, die so gewesen wären, wie sie sind, auch wenn es niemals jemanden gegeben hätte, der herausgefunden hat, wie sie sind. Nennen wir jede Tatsache, die so wäre, wie sie ist, auch wenn es niemals jemanden gegeben hätte, der sie herausgefunden hat, eine maximal modal robuste Tatsache. Der Begriff der wissenschaftlichen Objektivität aus drittpersonaler Perspektive ist der Begriff von einem Standpunkt, aus dem wir die maximal robusten Tatsachen von denen unterscheiden könnten, die einen geringeren Grad modaler Robustheit haben. Gerade weil wir über den Begriff der maximal robusten Tatsachen verfügen, wirft die Existenz verschiedener Arten von Tatsachen die Frage auf, wie diese anderen Arten von Tatsachen in die Naturordnung passen könnten. Wie kann etwas, das existenziell davon abhängt, von subjektivem Standpunkt gedacht zu werden, vorgestellt zu werden oder erfahren zu werden, Teil der Naturordnung sein? Als Antwort auf diese Frage schlage ich Folgendes vor: Tatsachen, deren Bestehen von unserem Begriff von ihnen als solchen abhängt, sind schlicht und einfach kein Teil der Naturordnung. Jedoch schließt dies nicht aus, dass es relevante Verbindungen zwischen den verschiedenen Arten von Tatsachen gibt, die wir beachten müssen. Doch werden diese relevanten Verbindungen keine der üblichen Formen haben, wie sie in der Bewusstseinsphilosophie diskutiert werden. Lassen Sie mich dies ausführen! Die Frage, in welchem Verhältnis Bewusstsein und Gehirn zueinander stehen, ist ausgesprochen schlecht formuliert. Zum einen ist der Begriff des »Bewusstseins«, noch viel mehr sein englisches Äquivalent »mind«, ein Mischlingsbegriff. 33 Er hat 33

Ich werde hier nicht weiter darauf eingehen, dass der Begriff »das

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Neo-Existentialismus

unzählig viele verschiedene Verwendungsweisen und seine Bedeutung variiert eklatant sowohl synchron als auch diachron, aber auch hinsichtlich der Annahmen verschiedener Personen über ihr eigenes Bewusstsein. Dies überrascht nicht, weil sowohl »Bewusstsein« und »mind«, als auch die angehörige Familie mentalistischer Termini wie »Denken«, »Erkennen«, »Wille«, »Emotion«, »Affekt«, »Selbstbewusstsein« und »Aufmerksamkeit« in umfassenden explanatorischen Zusammenhängen eingeführt wurden. Von den ältesten erhaltenen gleichnishaften Dokumenten unserer prähistorischen Vorfahren an, haben Menschen, sofern wir irgendetwas darüber wissen können, was sie getrieben haben, versucht, ihren eigenen Handlungen in einem möglichst umfassenden Zusammenhang, nämlich dem der ganzen Welt, Sinn abzugewinnen. Die prähistorischen Aufzeichnungen sind Gegenstand wilder mythologischer Spekulation. Es ist schwierig genug, dem mentalen Selbstverständnis eines Homer oder dem der verschiedenen frühindischen Texte des Vedanta, geschweige denn demjenigen von Höhlenmalereien Sinn abzugewinnen. Denn gerade die Höhlenmalereien könnten, soweit wir es wohl jemals wissen werden, so gut wie jeder Funktion gedient haben, von Formen religiöser Verehrung bis zu Anleitungen zum Jagen. Die Konstante hinter allen mentalistischen Variationen ist Gehirn« ebenso problematisch ist. Zum einen gibt es kein einziges Organ, das man zurecht »das Gehirn« nennen könnte. Gegenwärtig weiß niemand, wie all die Systeme, die wir zum »Nervensystem« zusammenfassen, wirklich zusammenhängen. Diese Systeme sind zusammengenommen zu komplex, um eine respektable wissenschaftliche Theorie über »das Gehirn« aufstellen zu können. All dies wird erschwert von der Individualität unseres Nervensystems und seiner diachronischen Plastizität. Die Idee des »menschlichen Gehirns« ist ein Idealtyp oder eine Konstruktion, die die Forschung leitet und der nichts in der Realität da draußen entspricht. Ich danke dem Neurowissenschaftler Robert Nitsch dafür, dass er mich darauf hingewiesen hat und mir im Detail gezeigt hat, wie ein Großteil des Bewusstsein-Gehirn-Problems in der Mainstream-Bewusstseinsphilosophie auf fiktionalen Vorstellungen vom Gehirn und nicht auf neurowissenschaftlicher Expertise beruht. Für Nitschs philosophische Position zum Thema siehe Nitsch (2012).

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Geist als explanatorische Struktur

aber die Tatsache, dass Menschen seit jeher versuchten, ihren eigenen Handlungen in einem umfassenden Zusammenhang Sinn abzugewinnen, üblicherweise im größtmöglichen Zusammenhang, den sie sich denken konnten: dem der Welt als Ganzes oder was sie sich darunter vorgestellt haben. Die Auffassung, das Bewusstsein müsse sich in die Naturordnung einfügen lassen, ist nichts anderes als die neueste Mythologie, der jüngste Versuch, alle Phänomene, die für die Erklärung menschlicher Handlungen relevant sind, in ein allumfassendes Strukturganzes einzufügen. Was sich im Laufe der modernen Entwicklung unserer Selbstauffassungen geändert hat, ist das dahinterstehende Weltbild, und das nicht zum Besseren! Der Materialismus oder der Naturalismus nimmt an, dass die Welt als Ganzes mit dem Universum oder der Natur identisch ist und dass zu existieren gleichbedeutend damit ist, Teil der Welt qua Natur zu sein. Doch dieser Schachzug vertuscht die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang der Begriff der Naturordnung als ein Element von Handlungserklärungen beschworen wird. Man kann das Element der Handlungserklärung nicht aus einer Weltanschauung eliminieren, die zuallererst dazu entworfen wurde, herauszufinden, wie Handlungen in die Welt passen. So ein Vorgehen unterminiert das Explanandum. 34 Der springende Punkt des Explanandums ist, dass es sich bei ihm aufgrund seiner konstitutiven Begriffsabhängigkeit wesentlich um ein bewegliches Ziel handelt. Was wir tun, ist davon abhängig, wie wir über das, was wir tun, nachdenken. Menschliches Handeln, wie wir es als historische situierte Akteure kennen, ist stets in nicht-natürliche, durch Institutionen bestimmte Kontexte eingebettet. Durch den Versuch, das semantische Durcheinander unseres mentalistischen Vokabulars auszumisten, indem man einen Referenten aus der Naturordnung für jeden Terminus dieses Vokabulars zur Verfügung Hierzu vgl. Roger Scrutons Verteidigung des grundlegenden Ansatzes zur Erklärung von Handlungen bei Kant, Fichte und Hegel (Scruton 2017).

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stellt oder andernfalls den Begriff aus der Sprache entfernt, ist nichts gewonnen. Das Ergebnis hiervon wäre keine aufgeklärte Community wissenschaftlich gesinnter Denker, sondern eine Gesellschaft ohne Institutionen und ohne Geschichte. Geist ist eine explanatorische Struktur, die im Kontext der Handlungserklärung zum Zuge kommt. Einige Dinge, die menschliche Akteure tun, lassen sich nur unter Bezugnahme auf die Tatsache erklären, dass sie diese Dinge im Lichte einer historisch variablen Auffassung davon tun, was es heißt, Mensch zu sein. Menschen leben ihr Leben im Lichte einer Vorstellung davon, was der Mensch ist. Diese Vorstellung verweist nicht auf eine natürliche Art. Ein Argument hierfür beruht auf dem Kategorienunterschied von verschiedenen Arten von Fehlern: falsch zu liegen hinsichtlich einer natürlichen Art (zum Beispiel Fermionen), verändert sie nicht. Der Spin von Fermionen ist so, wie er ist, unabhängig von unserem Wissen oder Unwissen davon. Wenn wir aber über uns selbst als Akteure falsch liegen und etwa fälschlicherweise glauben, dass der Mensch identisch ist mit einer gewissen Tierart, zu der wir Menschen gehören, ändert dies unmittelbar unseren Akteurstatus. Der biologische Naturalismus im Sinne einer vollständigen Identifizierung des Menschen mit dem Menschentier hinterfragt unser gesamtes Wertesystem, indem er eine mögliche Revision unserer moralischen Praktiken im Lichte seiner eigenen Norm suggeriert. Diese Norm des biologischen Naturalismus leitet sich von der Behauptung ab, Mensch zu sein sei gleichbedeutend damit, eine bestimmte Rolle im Tierreich zu spielen, im Erdenzoo. Dies ist zwar ein Eingriff in die Sphäre des Geistes, aber (noch) keine erfolgreiche Eliminierung.

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IV. Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell

Eine echte Teilmenge unseres mentalistischen Vokabulars enthält Elemente, die nicht auf natürliche Arten referieren. Dies schließt nicht a priori aus, dass es eine andere echte Teilmenge desselben Vokabulars gibt, dessen Elemente tatsächlich auf natürliche Arten verweisen. Der Wachzustand oder verschiedene Bedürfnisse, die wir unentwegt verspüren, gehören dieser letzteren Kategorie an. Unser mentalistisches Vokabular ist synchron und diachron über verschiedene natürliche Sprachen und spezialisierte Idiolekte ausdifferenziert. Jenseits der Tatsache, dass wir es üblicherweise in Kontexten nutzen, in denen es um die Erklärung von Handlungen und die Vorhersage und Regulierung zukünftigen Verhaltens geht, ist es nicht einheitlich. Unser mentalistisches Vokabular ist ebenfalls nicht dadurch vereinheitlicht, dass es den Theoriekörper der »Alltagspsychologie« bildet. Dies ist an dieser Stelle ebenfalls wichtig, denn die Alltagspsychologie ist ein fehlgeleitetes Postulat verschiedener Theorien des menschlichen Bewusstseins, die von der Metaphysik des Naturalismus geleitet sind. Das mentalistische Vokabular, das uns im Rahmen der Geschichte der Literatur, Religion, Philosophie, Wissenschaft, des Rechts, der Konfessionspraktiken, der Politik usw. überliefert ist hat nur ein formales Kernstück. Es gibt keine einheitliche Alltagspsychologie, die das menschliche Bewusstsein über alle Sprecher und Kulturen hinweg charakterisiert. Der Neo-Existentialismus identifiziert dieses formale Kernstück als die Aktivität, dem Menschen Sinn abzugewinnen, indem man aufzeigt, welche Fähigkeiten und begrifflichen Vermögen ihn sowohl von ganz und gar unorganischen, anonymen Prozessen, als auch vom organischen nichtmensch73 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Neo-Existentialismus

lichen Leben unterscheiden. Dieses formale Kernstück unterscheidet uns von allen anderen Lebensformen, soweit wir sie kennen und verstehen. Die Tradition des Existenzialismus umfasst Denker wie Kant, Hegel, Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger und Sartre. Ihre Gemeinsamkeit liegt in der minimalen Annahme, dass Geist, das spezifisch menschliche Bewusstsein, die Fähigkeit mit sich bringt, Institutionen im Lichte unseres sozial vermittelten Lageplans davon zu erschaffen, wie unsere Handlungen und deren Erklärungen in einen umfassenderen Zusammenhang passen. Der Mensch transzendiert seinen Standpunkt in jeder beliebigen Situation und integriert ihn in eine umfassende Kartographie vom Zusammenhang der Dinge. Wir leben unser Leben unter der Annahme, dass Menschen ihr Leben unter verschiedenen Annahmen leben. Deshalb sind wir auch wesentlich daran interessiert, was unsere Nächsten für ein Bild von uns und von der Realität haben. Die Tradition des Existenzialismus setzt sich meist leider nicht explizit mit dem Gehirn-Bewusstsein Problem auseinander, sondern bietet Strategien an, es berechtigterweise zu vermeiden. Der Neo-Existentialismus versucht das Problem geradeheraus anzugehen und es dabei doch seiner Leerheit zu überführen. Er argumentiert für eine antimaterialistische Position, die behauptet, dass der größtmögliche Rahmen, in dem Phänomene auftreten können, nicht die Naturordnung ist. 35 Der Neo-Existentialismus argumentiert, dass es ein fehlgeleiteter Ansatz ist, Phänomene, die wesentlich von unseren Konzeptualisierungen von ihnen abhängig sind, mit Phänomenen identifizieren zu wollen, die allesamt Erscheinungsformen natürlicher Arten sind, die in der Terminologie der Naturwissenschaften analysiert werden. Es gibt schlichtweg Phänomene, die in der intentionalen Einstellung im Laufe der Jahrtausende beschrieben wurden und von denen wir durch Aufzeichnungen wissen, dass sie ein Innenleben dokumentieren. Wir sollten Meine Version leugnet die Existenz so eines größtmöglichen ontologischen oder epistemologischen Rahmens. Siehe Gabriel (2013, 2016c).

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Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell

nicht erwarten, dass diese Phänomene möglicherweise theoretisch vereinheitlicht werden könnten, indem man für sie ein äquivalentes natürliches Substrat findet. Doch genau dies ist nachweislich die leitende Idee hinter dem, was ich in einem aktuellen polemisierenden Buch (Gabriel 2016d) als »Neurozentrismus« betitelt habe. Dem britischen Facharzt für Geriatrie Raymond Tallis folgend, behaupte ich dort, dass der »Neurozentrismus« (den Tallis »Neuromythologie« nennt) auf zwei Achsen verläuft: Neuromanie und Darwinitis (Tallis 2014). Neuromanie ist, so wie ich es verstehe, der Versuch, das Gehirn oder vielmehr seine neuronalen Schaltkreise als diejenigen natürlichen Arten zu identifizieren, die einem bereinigten mentalistischen Vokabular entsprechen. Darwinitis ist der damit zusammenhängende Versuch, alles menschliche Verhalten in der Terminologie der Evolutionsbiologie oder -psychologie zu erklären. Die Begriffe der »kulturellen Evolution« und sogenannter »Meme« gehören zu dieser Art von Fehlern, da sie suggerieren, dass unsere Geschichte tatsächlich in der theoretischen Terminologie der Evolutionsbiologie erfasst werden kann. Obwohl man mit dieser Theorie auf Partys gute Witze machen kann, denke ich nicht, dass sie irgendetwas dazu beiträgt, das Verhalten menschlicher Partnersuche zu erklären. Diese Theorie behauptet etwa, Partnersuche beruhe auf unbewussten Absichten, die in unserem Organismus fest verankert sind, um unsere Gene zu verbreiten, von deren Existenz wir erst seit relativ kurzer Zeit wissen. Umgekehrt ist es eher so, dass die Integration der Terminologie und Schlussfolgerungen der Evolutionstheorie in unser mentalistisches Vokabular die Nebenwirkung haben kann, uns auf der Ebene des Geistes zu verändern. Denn so ein Vorgehen verleitet uns zu der falschen Annahme, dass bestimmte Termini, die wesentlich nicht auf natürliche Arten verweisen, doch auf natürliche Arten referieren. Dies ist kein unschuldiger Fehler oder ein bloßer kognitiver Irrtum, denn irrtümliche Annahmen über das menschliche Bewusstsein ändern den Zustand eines Akteurs genauso wie die Annahme des ungeschickten Squashspielers, der der Täuschung verfallen ist, ein Welt75 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Neo-Existentialismus

klassespieler zu sein, ihn zu einem Squashspieler macht, der an einer existenziellen Selbsttäuschung leidet. Es gibt einen substantiellen Unterschied zwischen der Tatsache, dass jemand kein guter Squashspieler ist und der Tatsache, dass er sich für einen hält; ein Unterschied, der zum Ursprung pathologischen Verhaltens werden kann. Roger Scruton führt einen ähnlichen Punkt hinsichtlich des »biologischen Reduktionismus« an: Unsere Bewusstseinszustände weisen Intentionalität auf und sind daher abhängig davon, wie wir die Welt konzeptualisieren. Darüber hinaus können wir nicht annehmen, dass unsere Emotionen nicht davon betroffen wären, wenn wir ihre Gegenstände auf irgendeine neue und vermeintlich »wissenschaftliche« Art konzeptualisieren würden. Wie die Empörung über einen Bösewicht dadurch unterlaufen wird, dass wir ihn oder sie als eine Maschine beschreiben, die Impulsen aus dem zentralen Nervensystem gehorcht, so weicht auch die erotische Liebe, sobald ihr Gegenstand im pseudowissenschaftliche Jargon der Sexologie beschrieben wird. (Scruton 2017: 58–9 [Übersetzung P.B.])

Die Vorstellung, dass Menschen als Mitglieder des Tierreichs grundlegend oder wesentlich biologische Maschinen sind, deren Ziele einfach die gleichen sind wie die jeder anderen Lebensform, die wir kennen, ist einfach eine wilde Übergeneralisierung auf Grundlage einer nicht ausreichenden Datenlage. Sie sieht nur dann plausibel aus, wenn wir unser historisch und soziologisch vermitteltes Wissen von der unendlich großen Vielfalt menschlicher Selbstauffassungen ignorieren. Menschen sind genuin von ihren Selbstauffassungen abhängig, da sie im Lichte einer Vorstellung davon handeln, wer sie sind. Man könnte sich nun fragen, ob der Neo-Existentialismus nicht eine extravagante metaphysische Position ist, vielleicht sogar ein widerwilliger Erbe des cartesischen Dualismus. Dies ist ein schleichender Verdacht, der sich üblicherweise gegen jeden Philosophen richtet, der sich dem Naturalismus widersetzt. Um zu verstehen, warum meine Position so eine Reaktion nicht hervorrufen sollte, stelle man sich das Verhältnis zwischen einem Fahrrad und der Aktivität des Fahrradfahrens 76 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell

vor. Dieses Verhältnis stellt ein Modell der Ontologie des NeoExistentialismus dar. Freilich sind Fahrräder notwendige und materielle Bedingungen für das Fahrradfahren. Niemand könnte ohne Fahrrad radfahren (außer vielleicht dann, wenn er ein Dreirad besitzt…). Dies ist – hoffe ich zumindest – keine metaphysisch tiefgreifende Einsicht. Ebenso bestimmen die physischen Merkmale des Fahrrads eine Fülle möglicher Verhaltensweisen. Niemand könnte mit dem Fahrrad, das ich nutze, um in mein Büro zu fahren, die Tour de France gewinnen. Doch kann das Verhältnis von einem Fahrrad zu der Vielfalt möglicher Verhaltensweisen nicht auf Grundlage der traditionellen Begriffe modelliert werden, die unser Verständnis des Gehirn-Bewusstseins Verhältnisses festlegen. Fahrräder sind nicht die Ursache von Fahrradfahren; sie sind nicht identisch mit Fahrradfahren; Radfahren kann weder theoretisch noch ontologisch auf Fahrräder reduziert werden; sicherlich kann Radfahren nicht eliminiert werden, indem man behauptet, dass es eigentlich doch nur Fahrräder gibt. Wenn überhaupt kann man sagen, dass Fahrradfahren auf Fahrrädern superveniert, wenn dies besagen soll, dass kein Fahrradfahren stattfinden kann, ohne dass es eine materielle Realisierung eines Fahrrads gibt. Aber diese letzte Behauptung ist nicht sehr informativ, denn sie wiederholt nur, dass Fahrräder notwendige Bedingungen dafür sind, Fahrrad fahren zu können. Auf alle philosophischen Problemfälle, die die Frage danach motivieren, wie etwas Mentales in die Naturordnung passt, lautet meine Antwort so: Das Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein ist in jeder relevanten Hinsicht das gleiche Verhältnis wie das zwischen Fahrrädern und Fahrradfahren. Das relevante tertium comparationis ist ein Konditionalmodell: das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein, genau wie das von Fahrrädern und Fahrradfahren, läuft letztlich auf eine Ansammlung notwendiger und zusammengenommen hinreichender Bedingungen hinaus. Es gibt notwendige Bedingungen für die zulässige Verwendung mentalistischer Terminologie, von bloßem Wachsein und nichtbewusster sensorischer Registrierung bis hin zu komplizierten geistigen 77 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Neo-Existentialismus

Verhaltensweisen wie z. B., philosophisch für den Neo-Existentialismus zu argumentieren, über die Implikationen des Monotheismus für die politische Theologie nachzudenken, Pina Bauschs Arien zu interpretieren, für die Präsidentschaft zu kandidieren und so weiter. Nichts von dem, was sich möglicherweise im Bereich meines Organismus abspielt, geschweige denn in meinem Gehirn oder Nervensystem, könnte jemals allein für irgendeine dieser Aktivitäten hinreichend sein. Nicht einmal die bewusste Wahrnehmung eines Erwachsenen fällt aufgrund der ihr eingebauten Beziehung zu externen Objekten und unseren Begriffen von ihnen in die Kategorie der natürlichen Arten. Dies bedeutet nicht, dass das Verhältnis zwischen den verschiedenen Bedingungen, in die wir einen mentalen Zustand zergliedern können, irgendwie kausal ist. Kausalität macht nur auf bestimmten Ebenen dieser Zergliederung Sinn; sie findet nicht auf allen Ebenen statt. Bedingungen für bestimmte Aktivitäten, z. B. die Anwendung begrifflicher Fähigkeiten, derer es bedarf, um treffend zu beurteilen, ob ein bestimmter Wein als »modern« oder als »ein rauchiger Washington Pinot Noir« gilt, bezieht eine große Menge von Faktoren mit ein, von denen einige natürliche Arten sind, wie etwa funktionierende Geschmacksknospen und ein gesunder Organismus. Aber dies heißt nicht, dass meine Geschmacksknospen das Urteil auslösen, dass es sich bei dem Wein, den ich verkoste, um einen rauchigen Washington Pinot Noir handelt. Meine Geschmacksknospen stehen in verschiedenen kausalen Beziehungen (Beziehungen zu so ziemlich dem ganzen beobachtbaren Universum mit eingeschlossen), aber dies führt nicht dazu, dass ihre Rolle als Bedingung in einem konditionalen Netzwerk sie zu kausalen Agenten innerhalb der konditionalen Hierarchie macht. Der Neo-Existentialismus empfiehlt so ein Konditionalmodell von Gehirn und Bewusstsein. Er behauptet, dass die Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein tatsächlich der Beziehung zwischen den Bedingungen gleicht, die wir uns auf der Basis einer Zergliederung einer vorliegenden Situation in 78 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Der Neo-Existentialismus und das konditionale Gehirn-Bewusstsein-Modell

seine notwendigen und zusammengenommen hinreichenden Bedingungen klarmachen können. Dies schließt die Verpflichtung auf eine Unhintergehbarkeitsthese ein. 36 Unser Zugang zu natürlichen Arten vollzieht sich in einer Situation, in der Handlungserklärungen eine Rolle spielen. Und jede solche Situation beruht auf Geist als einem unhintergehbaren und irreduziblen Faktor. Dies impliziert aber ganz und gar nicht, dass wir keinen Zugang zur Wirklichkeit haben, wie sie an sich ist. Es ist eher so, dass wir keinen Zugang sowohl zur nichtmentalen Wirklichkeit an sich als auch auf unsere Zugangsbedingungen zu ihr haben können, ohne uns dabei an irgendeinem Punkt auf wirkliche Elemente und Prozesse zu beziehen, die nicht zur Kategorie natürlicher Arten gehören. Zu wissen, dass etwas in der nichtmentalen Wirklichkeit der Fall ist, unterscheidet sich kategorial davon, etwas über dieses Wissen zu wissen. Es gibt verschiedene Arten von Wissen, mit einem unterschiedlichen, diesen Arten zugehörigen Grad von Objektivität. Es gibt allerdings eine allgemeine Form von Objektivität, die überall dort vertreten ist, wo wir prinzipiell zwischen Fürwahrhalten und Wahrheit von etwas unterscheiden können. 37 Unsere Begriffe lassen sich in Untermengen aufteilen, die idealerweise zu dem Sinn passen, der jeweils ein Sinnfeld konstituiert. Verschiedene Formen von Wissen verlangen verschiedene Objektivitätsbedingungen (ein Regelbuch), die von den Sinnen/Begriffen bestimmt werden, die einem gegebenen Sinnfeld zugeordnet sind. Ein geeignetes Gehirn zu besitzen, ist eine notwendige Bedingung dafür, an der explanatorischen Struktur des Geistes Anteil zu haben. Es gibt keine unsterblichen Seelen, wenn dies bedeutet, dass es Akteure gibt, die mit der von den Naturwissenschaften untersuchten Kausalordnung interferieren, ohne dabei material-energetische Spuren zu hinterlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich meinen Tod in irgendeinem interessan36 37

Für weitere Ausführungen hierzu siehe Gabriel (2016d: 138–142). Hierfür habe ich im Detail in Gabriel (2014) argumentiert.

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ten Sinne überlebe, ist äußerst gering. Nur einige meiner Eigenschaften werden zum Beispiel in der Erinnerung von jemandem oder in einem YouTube Video von einem meiner Vorträge überdauern. Aber ich würde lieber, wie Woody Allen es prägnant ausgedrückt hat, in meiner Wohnung unsterblich sein als im Gedächtnis meiner Nachfahren. Doch die Tatsache, dass ein Gehirn oder viel eher ein ganzer Organismus als Instanz einer Spezies, die ein Glied einer komplizierten Evolutionskette ist, eine notwendige Bedingung für die historischen explanatorischen Strukturen des Geistes darstellt, motiviert nicht die Aussage, dass der Geist einen Platz in der Naturordnung finden müsste. Der Versuch, alle Phänomene in einen einzigen Rahmen einpassen zu wollen, in dem alle Fragen der Existenz oder der Wirklichkeit ihre Lösung finden, ist schlicht fehlgeleitet. Viele Dinge sind wirklich, aber dies heißt nicht, dass es ein einziges Ding, nämlich die Wirklichkeit, geben muss, von dem alle wirklichen Dinge ein Teil sind.

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Repliken auf Neo-Existenzialismus

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Gabriels Widerlegung Charles Taylor (aus dem Englischen von Marin Geier)

Markus Gabriel hat ein sehr elegantes Argument entworfen, um die Hegemonie der an den Naturwissenschaften orientierten reduktiven Erklärungen des menschlichen Lebens, Denkens und Handelns ins Wanken zu bringe – etwas, worum ich mich selbst seit einigen Jahrzenten bemühe. In Anerkennung dafür, würde ich gerne einige Ausschmückungen rund um seine Einsicht vornehmen. Die Grundidee, die mich an Gabriels komplexen, vielschichtigen Aufsatz besonders reizt, betrifft die Distinktion zwischen Erscheinung und Wirklichkeit (S. 65). Wir denken uns die von den Naturwissenschaften untersuchten »natürlichen Arten« als mit einer bestimmten Natur ausgestattet, die diese schon immer haben, lange bevor wir dies herausfinden oder gar verstehen. Wasser war schon zu Thales’ Zeiten H2 O, auch wenn wir es als eine (auf mysteriöse Weise) sehr viel weiter verbreitete Substanz betrachtet haben. Unser Wissen hat an diesem Umstand nichts geändert. Oder anders ausgedrückt: Unsere Erkenntnis über Wasser verändert dessen Natur nicht. Menschliche Erfahrung hingegen funktioniert nicht auf diese Weise. Nehmen wir zum Beispiel unsere Gefühle, Motive oder Reaktionen: Wir können diese als Bewusstsein – im Modus des Gefühls – der Bedeutungen verstehen, die Dinge und Situationen für uns haben. Ich liebe X, ich fürchte Y und ich bereue Z. Die Einsetzinstanzen für X, Y und Z sind das, was man gemeinhin intentionale Objekte nennt. Gefühle konstituieren hierbei unseren Modus des Bewusstseins von diesen Objekten. Der Bewusstseinsmodus kann allerdings Veränderungen unterlaufen. Nehmen wir die folgende Geschichte: Wir 83 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Charles Taylor

sind Kollegen in einem Institut (einem philosophischen etwa). Ich habe keine besonders hohe Meinung von Ihnen und finde Ihre Beiträge in Seminaren und Institutsversammlungen eher trocken, platt und wenig originell; sie scheinen mir Ausdruck stereotypischen Denkens zu sein. Wenn Sie sprechen, wäre ich am liebsten woanders. Aber dann lese ich einen Roman, oder ich spreche mit einem klugen Freund oder ich begreife in Bezug auf irgendeine dritte Person, dass sie sich selbst täuscht. Und ich beginne zu verstehen, dass ich dasselbe tue. In Wirklichkeit beneide ich Sie, und kann es nicht ertragen, dass Sie in irgendeiner bedeutsamen Weise besser sind als ich, und deswegen sehe ich alles, was sie tun in einem unfair negativen Licht. Nun ist diese Entität, meine bedeutungsgetränkte Wahrnehmung von Ihnen, von ganz anderer Art als Wasser. Sie bleibt nicht unverändert, unabhängig davon wie sie verstanden wird. Im Gegenteil, sie verändert sich; sowohl die Deutung als auch die tatsächlich empfundene Wahrnehmung verändern sich. Sie wird etwas anderes. Wir verstehen Wasser besser als Thales es tat (kein Grund für Selbstbeweihräucherung, wir stehen auf den Schultern von Riesen), aber es ist dasselbe. Im Falle meiner Geschichte verstehe ich meine Gefühle, die ich in Bezug auf Sie habe, und unsere missliche Lage der Rivalität besser, allerdings führt dies zu Veränderung. Vorher und nachher haben wir es mit verschiedenen Gefühlen zu tun – verschieden in einem ganz offensichtlichen Sinn, insofern sie verschiedene Reaktionen hervorrufen werden. Wenn ein dritter Kollege einen vierten fragt: »Wieso ist Taylor weniger verrückt als früher? Er verhält sich ganz anders in Gegenwart von Jones«, so kann dieser antworten: »Ich weiß es nicht, aber er geht seit sechs Monaten zum Psychologen. Es muss etwas damit zu tun haben.« Natürlich gibt es eine Kontinuität zwischen der Zeit vor, während und nach der Veränderung. Höchstwahrscheinlich beneide ich Sie immer noch. Aber der Neid ist nun (a) bewusst anerkannt und (b) umgeben von einer Aura des Schams und der Selbstverurteilung. Als gelebte Erfahrung ist er sehr verschieden. 84 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Gabriels Widerlegung

Wir können zu diesem Punkt auch auf einem anderen Weg gelangen. Nehmen wir einen anderen Fall, in dem ich etwas Neues über mich selbst herausfinde: Seit Wochen fühle ich mich niedergeschlagen und müde. Es macht mich fertig. Ich versuche alles Mögliche: Ausspannen, Krimis lesen, aber nichts funktioniert. Dann erzählt mir ein befreundeter Mediziner, dass ich eine bakterielle Infektion habe. Ich besorge mir ein Rezept vom Arzt, nehme Antibiotika und fühle mich besser. Wie im Falle des Wassers, verändert sich die zugrundeliegende Bedingung durch meine Erkenntnis ihrer Natur nicht – in diesem Fall die Infektion. Ich verhalte mich anders als zuvor: ich interveniere mit künstlichen Mitteln, um diese Bedingungen zu ändern. Aber dies passiert danach, als Konsequenz meines Verständnisses dessen, was vor sich geht. Im Falle des Neides hingegen verändert meine Entdeckung die Realität, die ich nun besser verstehe. Allgemeiner gewendet: unser Verständnis der Bedeutsamkeit von Dingen, Situationen, anderen Menschen, dem Zustand der Gesellschaft – all die Dinge, um die wir uns sorgen – spielen eine entscheidende Rolle dafür, was wir tun. Man kann Politik, Kultur, Geschichte, die verrückten und zerstörerischen Dinge, die Menschen tun, ebenso wenig wie die Momente der Einsicht, Transformation, und größerer Menschlichkeit nicht verstehen, ohne zu einem Verstehen der Bedeutung zu gelangen, die all diese Ereignisse und Situationen für Akteure haben. Man denke bloß an die katastrophalen Ereignisse in diesem neuen Jahrtausend, die ihren Ursprung in einem inadäquaten Verständnis der Anderen haben. Diese Art von Phänomen, die Bedeutsamkeit einer Realität R für eine Person P, hat sehr viel weniger eingrenzbare und löchrigere Umrisse als solche Dinge wie Wasser oder Zustände wie eine Infektion im Hals. Wie ich mich in Anbetracht eines gewissen Ereignisses fühle, sagen wir der Präsidentschaft Trumps, wird von meinen Einstellungen bezüglich der Bedeutsamkeit einer Reihe anderer Dinge mitbestimmt: davon, was ich in Bezug auf die Vereinigten Staaten fühle (da ich kein Bürger dieses Landes bin), davon wie sehr ich mit meinen ame85 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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rikanischen Freunden mitfühle, davon wie folgenreich dieser Rückschritt für eine auf Gleichheit zielende, nicht-diskriminierende Demokratie in der Welt sein wird, und dann, noch allgemeiner, davon, wie sehr mir Politik im Vergleich zu anderen Dingen – wie Sport, Kunst, Literatur, Musik, Reisen und Natur – am Herzen liegt; meine Reaktion wird dann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob ich es für selbstverständlich halte, dass sich die Menschheit auf dem Weg in Richtung demokratischerer, gleicherer und solidarischer Gesellschaften bewegt, oder aber eine eher geringe Meinung von der Fähigkeit der Menschen habe, unsere kontroverse Geschichte von Ausbeutung, Beherrschung und Massakern hinter uns zu lassen. Und so weiter. (Ich gestehe offen: Ich habe mich immer für das Gegenteil von naiv gehalten, ohne jegliche Illusionen über unsere Fähigkeit unsere großartigsten Errungenschaften zu zerstören, aber die Tiefe meiner Trostlosigkeit im Angesicht der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahl gibt mir zu denken.) Jegliche Veränderung meiner Gefühle oder Beurteilungen in jedem dieser Bereiche, und vieler anderer, die ich nicht erwähnt habe und die vollständig aufzuzählen mir nicht gelingen würde, wird meine Gefühle bezüglich dieses Ereignisses beeinflussen. Kein Phänomen dieser Art findet jedoch einen Platz in der Ontologie der post-Galileischen Naturwissenschaft. Eine unbestimmte Anzahl anderer, eindeutig begrenzbarer Phänomene könnte vielleicht das eingrenzbare Phänomen des Wassers ersetzen – vielleicht ist dies in der Vergangenheit auf anderen Planeten bereits geschehen. Diese Art des Verdrängens eines Phänomens durch ein anderes kann auch im Bereich der Gefühle geschehen – wenn etwa die Angst vor einer furchterregenden Bedrohung mein Gefühl der Freude beim Anblick dieser Blumen verdrängt. Wovon ich hier jedoch spreche ist das folgende: Wie die Bedeutsamkeit einer Realität R1 durch die Bedeutsamkeit von R2, R3 und so weiter auf einer unbegrenzten Liste mitbestimmt wird, das existiert nur in demjenigen Bereich den Gabriel »Geist« nennt. Eine Naturwissenschaft, die sich nur 86 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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auf klar begrenzte Phänomene fokussiert, kann damit nicht zurecht kommen. Dies alles wird überzeugte Anhänger reduktiv-naturalistischer Sichtweisen auf den Menschen freilich kaum beunruhigen. Sie sind auf der Suche nach einer explanatorischen Reduktion – das, was wir in den Naturwissenschaften finden, paradigmatisch exemplifiziert durch die Beziehung zwischen gefühlter Wärme und dem Durchschnittswert kinetischer Energie der darin involvierten Moleküle. Alle Phänomene der Erfahrung, darin eingeschlossen die Transformation der Bedeutsamkeit einer Erfahrung durch neu gewonnene Einsichten, stehen dabei sozusagen auf der gleichen Seite der Beziehung wie die gefühlte Wärme und werden auf einer tieferen Ebene (kinetische Energie) erklärt, etwa durch sich verändernde Muster von Neuronenfeuer. Eine solche reduktive Sicht geht jedoch viel weiter als beispielsweise die Erkenntnis, dass die Kontemplation einer bestimmten Handlung (oder das Beobachten einer solchen bei jemand anderem) von einem bestimmten Muster des Feuerns von Neuronen in einem bestimmten Teil des Hirns begleitet wird. Was wir tun müssen, um der Transformation der Erfahrung von Bedeutung wie in meinem obigen Beispiel Rechnung zu tragen, ist, die phänomenale Veränderung mit einer neuronalen Veränderung zusammenzuschließen, und sie in jedem Fall mit der internen Dynamik der Person (des Organismus) zu erklären. Nun sind die Dynamiken auf den verschiedenen Ebenen höchst unterschiedlich und auf den ersten Blick sogar inkompatibel. Die naturwissenschaftliche Sichtweise auf das Gehirn muss jeden Bezug auf Absicht oder Teleologie vermeiden. Das ist eine Bedingung dafür, dass sie als naturwissenschaftlich gelten kann. Aber jede Erklärung der Veränderung meiner Sichtweise in der obigen Geschichte muss Faktoren aus der Sphäre der Bedeutungen, Absichten und Werte anführen. Der radikale Wandel in meiner Sicht auf Sie wird von etwas Externem hervorgerufen sein, sagen wir von der Lektüre eines Romans über 87 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Charles Taylor

eine Person wie mich, die sich auf ähnliche Weise selbst getäuscht hat. Aber er wird auch angetrieben von Scham, einem Sinn für Wahrheit und den Wert der Wahrheit, von einer vielleicht rudimentären Idee, dass ich nun eine bessere Person sei, da ich mich mit meinen feigen Illusionen konfrontiere. Das Feld, in dem ich mich verändert habe, ist ethisch durchtränkt. Das allein zeigt natürlich noch nicht, dass eine reduktive Erklärung nicht möglich ist. Aber die Aufgabe ist augenscheinlich sehr viel anspruchsvoller als, sagen wir, Gedanken über X mit einer bestimmten Art von Neuronenfeuer zu korrelieren. Es ist nicht so, dass wir uns nicht täuschen können, wenn wir vorgeben, auf der Basis moralischer Überlegungen zu handeln. Meine Geschichte illustriert einen solchen Fall. Aber auf eine Erklärungsebene zu wechseln, in der Wertüberlegungen überhaupt keinen Platz mehr haben, bedeutet eine sehr viel anspruchsvollere Behauptung aufzustellen. Es ist nicht vollständig klar, wie eine solche Erklärung aussehen könnte – vielleicht eine radikale Reduktion auf eine einzige amoralische Triebfeder wie die von Thrasymachos in Platons Politeia vorgeschlagene (»Gerechtigkeit ist das dem Stärkeren zuträgliche«). In jedem Fall handelt es sich hierbei um ein großes Programm, eines dessen Realisierung überdies – im besten Fall – in ferner Zukunft liegt. Persönlich halte ich eine Auffassung von zielgerichteten Wesen, wie wir und Tiere es sind, die von jedweder Teleologie bereinigt ist, für unmöglich. Da aber eine jede Erfüllung einer solchen Aufgabe im besten Fall in ferner Zukunft stattfinden würde, kann das Versprechen eine solche zu erreichen immer gegeben und niemals endgültig begraben werden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Gabriels Verwendung des Begriffs »Neo-Existentialismus« zur Beschreibung seiner Position richtig verstehe. An einem Punkt führt er Sartre und seine berühmt-berüchtigte These, dass »die Existenz der Essenz vorausgehe«, an. An anderen Stellen scheint er jedoch eine weitere Tradition im Auge zu haben, zu der unter anderen Hegel zählt, und es scheint, als würde er sich in dieser weiteren 88 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Gabriels Widerlegung

Tradition wähnen, nämlich in derjenigen, die Platz lässt für das, was er »Geist« nennt. Wie lässt sich diese Tradition charakterisieren? Wir könnten es im Lichte des Punktes von Gabriels Arbeit tun, den ich zu Beginn meiner Bemerkungen aufgenommen habe: Wir sind, was wir sind, zumindest teilweise, durch unsere Versuche, zu verstehen, wer wir sind, bzw. die Interpretationen von uns selbst, auf deren Grundlage wir handeln. Wir haben keine Natur, die einfach so da ist, vor und unabhängig von jeglicher Interpretation, so wie Wasser H2 O ist. Aber dieser ein Leben lang andauernde Prozess, in dem wir versuchen, den Sinn unserer eigenen Existenz (und den des menschlichen Lebens im Allgemeinen) zu verstehen, spielt sich in zwei Dimensionen ab. Auf der einen Seite involviert er Innovation, die Produktion neuer Kategorien etwa, vielleicht sogar noch nie dagewesener. Uns durch diese Kategorien zu betrachten, verändert uns, so wie ich mich in obiger Geschichte von dem Standpunkt meiner unmittelbaren, gefühlsmäßigen Reaktion auf Ihre philosophischen Bemerkungen zu einen Standpunkt des Misstrauens gegenüber meinen eigenen Motive bewegt habe, von dem aus meine Böswilligkeit sichtbar wurde. Auf der anderen Seite kann diese Selbsttransformation als Schritt in Richtung der Wahrheit gesehen werden, und meine obige Geschichte scheint mir ein solcher Fall zu sein. Wir entwerfen uns neu, aber inwieweit bringt uns ein solcher Neuentwurf unseren wahren Potentialen näher oder entfernt uns von diesen? Der Ausspruch »Werde, der Du bist« scheint einen solchen Fortschritt zu einer genuinen Identität nahezulegen (und zu erfordern). Hegels Begriff der »Wahrheit«, in dem die Wahrheit von etwas seine voll entwickelte Form ist, scheint einen solchen gültigen Zielpunkt anzunehmen. Die Tradition des Geistes ist eine solche, in der Selbstverwirklichung (self-making) und Selbstentdeckung miteinander verflochten sein können. In dieser Tradition ist Sartre (zumindest der frühe Sartre) ein Ausreißer, insofern bei ihm die 89 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Charles Taylor

Dimension der Entdeckung geradezu verschwindet, und dagegen Entscheidung absolut zentral scheint. Merleau-Ponty kritisiert diesen Standpunkt, der in Das Sein und das Nichts ausgearbeitet wurde, in seiner eigenen Phänomenologie der Wahrnehmung (Kapitel III.3). In den 1940er Jahren wurde der Begriff »existentialistisch« zur Beschreibung der ganzen Gruppe um Les Temps modernes verwendet, zu der sowohl Sartre als auch Merleau-Ponty gehörten. Bezogen auf diese weitere Definition würde der Begriff »Neo-Existentialismus« uns mit dieser weiteren Tradition verbinden und nicht auf einen Sartre’schen Dezisionismus beschränken. Ich denke, es ist dieser weitere Sinn, auf den Gabriel sich beruft. Wenn das »Wesen« von etwas seine innere Natur ist, die es vollständig bestimmt, so wie H2 O es für Wasser ist, dann haben wir es nicht mit einer Kategorie zu tun, die uns helfen kann, menschliches Leben zu verstehen. Wir sind unentrinnbar selbst-bestimmende Tiere (self-determining animals). Aber dies beantwortet nicht die Frage nach dem Ort der Wahrheit in unseren Selbstverständnissen. Aber eine Sache scheint klar. Die Suche nach einem adäquaten Verständnis unserer Selbst ist ergebnisoffen. In diesem Sinne ist der Ausruf, dass es »die Welt nicht gibt«, völlig angemessen. Die »Welt« – ein Ausdruck, der für Gabriel nicht mit dem »Universum« (das von den Naturwissenschaften untersucht wird) gleichzusetzen ist, sondern der eher einen Heidegger’schen Beiklang hat – kennt keine ein für alle mal festgelegten Grenzen. Sie ist das Zusammenspiel von Sprachen, Praktiken und Institutionen einer Kultur; sie hat zu jedem gegebenen Moment eine Form (wobei es allerdings der Allwissenheit bedürfte, um diese Form angeben zu können), aber sie wird stetig erweitert durch neue Weisen des Verstehens und des In-IhrLebens, und gleichzeitig werden einige ihrer Facetten ungebräuchlich und fallen in Vergessenheit. Das Universum hat also (vielleicht) eine bestimmte, festgelegte Form – auch wenn wir diese vielleicht niemals vollständig erfassen können. Aber aufgrund ihrer Seinsart selbst kann 90 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Gabriels Widerlegung

eine menschliche Kultur nicht so geartet sein. Wenn sie gegenwärtige Grenzen hat, kann sie immer über sie hinausgreifen. Um es paradox zu formulieren: Es gehört zur Natur der Welt sich selbst interpretierender Tiere wie uns, dass sie auf diese Weise uneinholbar (undelimitable) ist. Die gesamte Wirklichkeit als begrenzt zu denken, wie es vielleicht in Bezug auf das Universum möglich ist, bedeutet uns zu ignorieren oder schmerzlich misszuverstehen. Wenn ich ihn richtig verstehe, ist dies einer von Gabriels zentralen Beiträgen zu unserem Verständnis der conditio humana.

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»Existiert« der Geist? Jocelyn Benoist (aus dem Englischen von Marin Geier)

Ich sympathisiere mit Gabriels Positionierung in der Philosophie des Geistes, wie er sie in seinem Beitrag »Neo-Existentialismus« darlegt. Seine Kritik des Reduktionismus ist erhellend und seine generelle Perspektive scheint mir zutreffend zu sein. Um direkt auf das Problem zu kommen, das meines Erachtens bestehen bleibt, scheint es mir nötig, einen Schritt weiter zu gehen: Um das Spezifische des Geistes verstehen zu können, sollte man vielleicht jegliche ontologische Perspektive hinter sich lassen, anstatt zu versuchen, die Ontologie zu reparieren. So ist womöglich der gesamte Diskurs der Ontologie nicht mehr angemessen, und Geist besteht aus nichts, von dem es Sinn machen würde zu sagen, dass es existiert – denn was sollte es, nebenbei bemerkt, für den Geist heißen »nicht zu existieren«? In anderen Worten: wozu fügt man »Geist« hinzu, wenn man sagt, dass es Geist gibt – und dies kann nur so klingen als würde man sagen: es gibt auch Geist? Bis zu einem bestimmten Grad ist es Gabriels Strategie in seinem Text diese Falle zu umgehen, denn sie soll nicht nur die ontologische Exklusivität des Physikalismus, sondern auch seine Vorrangstellung in Frage stellen. Betrachtet aus der pluralistischen Perspektive, für die Gabriel eintritt, gibt es keinen privilegierten Sinn von Sein; im Gegenteil müssen wir die wesentliche Pluralität der Sinne von Sein anerkennen, die sozusagen alle gleichwertig sind. Gabriels übergeordnetes Ziel besteht darin, die Formulierung des Problems zurückzuweisen, der zufolge wir irgendwo 92 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

»Existiert« der Geist?

in einer wesentlich geistlosen Welt einen Platz für den Geist finden sollten. In diesem Punkt sind wir uns einig. Ich frage mich dennoch, ob in seinem Ansatz nicht doch etwas von diesem Problem erhalten bleibt. Freilich gibt es im zufolge keine Welt, und die Welt, die es nicht gibt, ist nicht (nur) physikalisch. Nichtsdestotrotz bleibt das Mentale etwas, was im Gegensatz zum Physikalischen postuliert werden muss. Nun bin ich nicht sicher, dass das der beste Weg ist um das Mentale einzufangen. Die Gefahr, die konstitutiv für dasjenige ist, was die Moderne »Philosophie des Geistes« getauft hat, scheint dann darin zu bestehen, eine rein negative Philosophie des Geistes zu errichten. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit es Gabriel gelingt, diese Fallgrube zu umgehen. Eine erst mögliche Art der Negation – welche für den Ärger verantwortlich ist – ist die Negation innerhalb eines Genus. Damit wäre Geist vermutlich eine andere Spezies des Seins als die Spezies des bloß Physikalischen. Gabriel scheint diese Option auf eine gewisse Art zurückzuweisen: »Ich schlage vor, die Semantik von all dem nicht auf einer natürlichen Lücke zwischen unbelebter und belebter Materie einer bestimmten Komplexität zu verorten, sondern zwischen natürlichen Arten und Geist als einer explanatorischen Struktur.« (S. 65). Ich halte das für richtig, wenn wir die Betonung in dieser Passage nicht auf den Umstand legen, das Geist keine Art von Materie ist, »belebte« Materie eingeschlossen (Aber was sollte es selbst dann für ihn bedeuten »Materie« zu sein? Ist so eine Negation dann überhaupt bedeutungsvoll?), sondern vielmehr auf den Umstand, dass Geist keine Art, sondern vielmehr eine explanatorische Struktur ist. In anderen Worten: Das Insistieren auf den Umstand, dass Geist keine natürliche Art ist, das wir in diesem Kapitel finden, ist mit Sicherheit aufschlussreich; der Autor scheint sich jedoch in seiner scharfsichtigen Kritik der Metaphysik des Geistes als einer »natürlichen Art« auf den Umstand zu konzentrieren, dass der Geist nicht natürlich sein kann. Das ist mit 93 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Benoist

Sicherheit ein Fakt. Es scheint mir nichtsdestotrotz noch wichtiger zu sein, dass der Geist überhaupt keine Art ist. Der terminus technicus »natürliche Art« könnte sich hier als irreführend herausstellen. In vielen Fällen wäre es korrekt, ihn so zu interpretieren als hinge seine Bedeutung von einer gewissen, vorangehenden Konzeption von »Natur« ab: eine natürliche Art würde dann als solche dadurch definiert werden, dass sie zur Natur gehört, welche zum Beispiel und in der Tat häufig in erster Linie als materielles Universum verstanden wird. Man könnte allerdings auch eine andere Interpretation sogenannter natürlicher Arten vertreten: Was sie »natürlich« macht, ist nicht der Umstand, dass sie zu einer Natur (in einem wie auch immer vorher konzipierten Sinne des Ausdrucks) gehören, sondern vielmehr irgendeine semantische Eigenschaft wie zu Beispiel die Starrheit (rigidity) der Referenz auf sie. Eine »natürliche Art« ist dann eine Art, auf die konstitutiv deiktisch Bezug genommen wird bzw. genommen werden sollte, wen man überhaupt auf sie referieren möchte. In diesem Sinne könnte Geist immer noch eine natürliche Art sein, ohne zur Natur im vorgefassten Sinn der Totalität alles Materiellen zu gehören. Der nun meiner Meinung nach interessanteste Aspekt von Gabriels Kritik jeder naturalistischen Auffassung des Geistes besteht darin, dass er nicht nur zu bestreiten scheint, dass Geist eine natürliche Art im ersten Sinne des Begriffs ist, sondern auch dass er es im zweiten ist. Der Geist lässt sich nicht auf diese Weise herausgreifen (pick out), denn es handelt sich bei ihm nicht um eine Art. In dieser Negation der Behauptung, dass der Geist eine Art sei, scheint mir gleichermaßen der Kern von Gabriels Beitrag als auch ein brillanter Zug zu sein. Wie Gabriel es klar formuliert: »Neo-Existentialismus ist die Ansicht, dass es kein einzelnes Phänomen oder keine einzelne Realität gibt, die dem letztlich sehr verworrenen Sammelbegriff ›das Bewusstsein [the mind]‹ entspricht.« (S. 25) Wenn nun aber Geist keine Art ist, bleibt zu bemerken, 94 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

»Existiert« der Geist?

dass die Negation nicht den Sinn haben kann, die wir ihr zu Beginn zugeschrieben haben. Es handelt sich nicht länger um eine »Negation innerhalb eines Genus«, sondern um eine kategoriale Negation, die eine kategoriale Differenz zwischen zwei Arten von Begriffen markiert – eine Differenz der Grammatik sozusagen. Die Grammatik des Geistes ist nicht dieselbe wie die Grammatik der Natur. Dies scheint mir genau das zu sein, wohinter Gabriel her ist, insbesondere in seinem wunderbaren Spielzeugmodell des Fahrradfahrens. »Radfahren«, so Gabriel kann nicht »auf Fahrräder reduziert werden.« (S. 78). Dies ist absolut wahr, jedoch nicht, weil es sich hierbei um Dinge verschiedener Sorte – verschiedener »Art« um genau zu sein – handelt, sondern weil Fahrradfahren – im Gegensatz zu Fahrrädern – kein Ding ist. Es hat nicht dieselbe Grammatik wie Fahrräder: aus dieser Perspektive sollte der Umstand, dass es sich bei Fahrradfahren um ein nominalisiertes Verb handelt, nicht übersehen werden. In der Tat scheint, prima facie, einiges oder sogar eine ganze Menge in diesem Vergleich nicht zu funktionieren. Es scheint sehr schwierig zu sagen, dass das »Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein […] in jeder relevanten Hinsicht das gleiche Verhältnis [ist] wie das zwischen Fahrrädern und Fahrradfahren. (ebd.) Denn, zum einen, ist ein Fahrrad ein Werkzeug, mit dem ich fahre, während es vermutlich eine schlechte Metapher wäre, das Gehirn ein Werkzeug zu nennen, so als ob ich absichtsvollen Gebrauch von ihm machen würde. Es mag zwar wahr sein, das man im Deutschen Dinge sagt wie »Benutz dein Gehirn!« – aber die Metapher sollte, wie jede Metapher, nicht wortwörtlich verstanden werden. Zum anderen aber auch vor allem deswegen, weil, prima facie, »Geist« und »Fahrradfahren« nicht zur gleichen Kategorie gehören. Der logischere Vergleich sollte, so scheint es, eher zwischen Denken und Fahrradfahren stattfinden. Diese scheinbare Unangemessenheit deckt allerdings etwas auf: nämlich, dass das Mentale, oder zumindest Geist [Deutsch im Original, Anm. des Übers.], keine andere Substanz hat als Denken. Es gibt keinen Geist, außer insofern er in eine Aktivi95 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Benoist

tät involviert ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte sich Fahrradfahren – im Gegensatz zum Fahrrad als einem Ding – letztlich doch als geeignetes Modell erweisen. Man könnte sogar einen Schritt weiter gehen und umgekehrt behaupten, dass jede »Aktivität« in einem privilegierten – das menschliche Leben strukturierenden – Sinn »geistig« ist. Fahrradfahren, zum Beispiel, könnte sich dann als Ausdruck von Geist entpuppen – eben insofern es sich nicht auf das Fahrrad, mit dem es vollzogen wird, reduzieren lässt. Diese Behauptung könnte absolut wahr sein, insofern beim Fahrradfahren das Fahrrad gebraucht wird und Gebrauch niemals ohne Geist vonstatten geht – ein Punkt, der noch untermauert werden kann, durch den Umstand, dass es, gemäß eines bestimmten Verständnisses des Wortes »Gebrauch«, Sinn macht von »Gebrauch« zu sprechen, insofern es einen guten oder schlechten Gebrauch geben könnte, oder dieser Gebrauch zumindest als mehr oder weniger korrekt bezeichnen werden könnte. Dann scheint (die Vokabel) Geistigkeit durchaus angebracht. Die wirkliche Frage ist nun, ob die Rede von »Geist« jemals unabhängig von diesem Rahmenwerk Sinn machen kann. Gibt es »Geist« unabhängig von jeglicher »Aktivität«? So wie Gabriel es ausdrückt, demzufolge Geist eine »explanatorische Struktur für Handlung« (S. 65) ist, scheint dies nicht möglich. Nun ist diese Hypothese äußerst reizvoll, denn die Emphase auf die Aktivität als solche zu legen hilft zum einen dem Philosophen dabei, jegliche Reifikation des Geistes zu vermeiden, und könnte zum anderen Geist insgesamt konkreter werden lassen – es gibt ihm einen weniger ätherischen Klang. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich in dieser Charakterisierung nicht vielleicht eine neue Essentialisierung des Geistes findet. Selbstverständlich ist Geist, im Gegensatz zu »mind«, kein Sammelbegriff, insoweit er – so lautet meine Hypothese – keine Begriffe von verschiedenem kategorialem Status vermischt. In dieser Hinsicht ist die in Gabriels Analyse vorgenommene Verschiebung vom Begriff »mind« zum präziseren – zumin96 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

»Existiert« der Geist?

dest kategorial einheitlichen – Begriff des Geistes ein wirklicher Schritt nach vorne. Allerdings ist Geist immer noch ein Begriff, der sich auf eine ganze Reihe von Einstellungen und Fähigkeiten anwenden lässt, die sich nicht alle adäquat mit dem Begriff »Handlung« (action) einfangen lassen – es sei denn man ist der Ansicht, dass etwas denken selbst eine Handlung ist, oder zumindest immer zum Zwecke einer Handlung geschieht, was, selbst bei Zugrundelegung des weitesten Begriffs der Handlung, alles andere als evident ist. Diejenigen, die sagen, dass Handlungen, um »geistig« zu sein, nicht auf den externen Beitrag eines Gedankens – der als solcher keine Handlung wäre – angewiesen sind, sondern dass Handlung als solche geistig ist, haben sicherlich einen Punkt. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, zu bestreiten, dass es auch Denken ohne den Rahmen von Handlungen geben könnte und dass Denken in diesem Sinne, als solche, eine Seite dessen ist, worin Geistigkeit besteht. In dieser Hinsicht scheint Gabriels Definition von Geist, die ihn anscheinend auf essentielle Weise mit Handlung verknüpft, eher zu eng zu sein. Das hängt freilich davon ab, wie genau man »Handlung« versteht. Wenn man jedoch den Begriff der Handlung zu weit fasst, läuft man Gefahr bei einem bedeutungslosen Begriff zu enden – einem, der keinen Unterschied mehr machen kann zwischen beispielsweise einer Handlung und einem einfachen Gedanken, was nicht besonders wünschenswert wäre. Es bleibt jedoch dabei, dass die Emphase auf Handlung dem Philosophen wahrscheinlich dabei hilft, der Unterscheidung zwischen Natur und Geist – um es in diesen Begriffen zu formulieren – als kategorischer Unterscheidung und nicht bloß als Unterscheidung zwischen von zwei Arten einen Sinn abzugewinnen. Handlungen sind sicherlich keine Art von Entitäten. Sie sind nicht gegeben wie Entitäten es sind; sie sind lediglich als etwas gegeben, was es zu tun gilt. Wenn man allerdings auf der anderen Seite die Art und Weise in den Blick nimmt, auf die Gabriel diese kategoriale Unterscheidung vornimmt, könnten sich einige Fragen auftun. 97 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Benoist

Es scheint mir, dass Gabriel, auch wenn er völlig zu recht die Rolle von »Bewusstsein« bei der Abgrenzung des Mentalen (oder genauer des »geistigen«) relativiert, da »Bewusstsein« in der Tat ein Sammelbegriff ist, der auch »natürliche« Phänomene unter sich fasst, weiterhin dazu tendiert, die Sphäre der »Geistigkeit« unter Rekurs auf Selbstbewusstsein zu bestimmen. Natürlich sind beide Beobachtungen konsistent, da Gabriel aus der Tradition des Deutschen Idealismus heraus feststellen kann, dass Selbstbewusstsein gerade vom simplen Faktum des Bewusstseins zu unterscheiden ist. Der Schmerz in meinem Knie ist schon rein analytisch bewusst, da es ansonsten kein Schmerz wäre; dieses Bewusstsein hat allerdings den Status eines vollständig natürlichen, sozusagen »meteoreologischen« Ereignisses, das beobachtet werden kann. Das ist nicht das, was mit Selbstbewusstsein gemeint ist: Selbstbewusstsein handelt von meiner Fähigkeit, beispielsweise diesen Schmerz als etwas zu behandeln, was mir geschieht, das Teil des Sinnes meines Lebens ist. Nun hat allerdings Selbstbewusstsein als oberste Definition von Geistigkeit seine eigenen Probleme. Warum sollte ich sagen, dass die Philosophie des Geistes wie sie in »Neo-Existentialismus« präsentiert wird, essentiell, in der Tradition des Deutschen Idealismus, eine Philosophie des »Selbstbewusstseins« ist? Aufgrund der herausragenden Rolle, die Selbsttäuschung in der Art und Weise spielt, in der Gabriel die zuvor erwähnte kategoriale Differenz artikuliert. Das grundsätzliche Argument lautet, dass Selbsttäuschung nicht bloß ein Beobachtungsfehler ist. Darin ist Gabriel grundsätzlich zuzustimmen. Der Unterschied ist, dass ein Fehler, den ich in Bezug auf Fermionen mache – oder tatsächlich über irgendetwas: so funktionieren Fehler überhaupt – nicht die Fermionen (oder irgendetwas anderes, in Bezug worauf er ein Fehler ist) verändert, wohingegen meine Selbsttäuschung mich selbst verändert. Das ist völlig wahr, wirft aber einige Fragen auf. Die Emphase auf Selbsttäuschung ist ein guter Zug, denn 98 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

»Existiert« der Geist?

sie deckt die Kluft auf, die zwischen etwas »Geistigem« und diesem selbst potentiell immer vorhanden ist. Was »geistig« ist, hat wesentlich diese Fähigkeit sowohl es selbst als auch nicht es selbst zu sein, wohingegen das, was nicht »geistig« ist – sondern natürlich –, einfach das ist, was es ist. In dieser Hinsicht trägt dasjenige, was geistig ist, in sich selbst stets eine konstitutive Distanz zur Ontologie: Es lässt sich niemals vollständig auf das herunterbrechen, was es ist. Nun könnte ein möglicher Fehler – es gibt einen – darin bestehen, diesen Abstand zur Ontologie zu ontologisieren: indem man sagt, dass das geistige Seiende, durch den einfachen Umstand, dass es selbst glaubt, etwas zu sein, was es nicht ist, dasjenige wird, was es nicht ist, und es schließlich das ist, was es ist (was soviel heißt wie: was es nicht ist). Das ist offensichtlich falsch. Um mich Gabriels Beispiel zu bedienen: Nur weil ich glaube, dass ich ein Squashchampion bin, bin ich noch lange keiner. Die Überzeugung macht mich nicht zu einem Squashchampion. Was bleibt, ist der Umstand, dass ich überzeugt bin, ein solcher Champion zu sein und dass diese Überzeugung sicherlich ein Teil von mir ist – und sie vielleicht sogar meine Existenz positiv strukturiert. In der Tat ist dies der klassische Zug, der typisch für die sogenannte moderne Philosophie des Selbstbewusstseins ist, den Gabriel seinerseits macht. Vielleicht bin ich zwar kein Squashchampion geworden, aber ich bin jemand geworden, der glaubt einer zu sein. Nun ist es nicht dasselbe, zu glauben ein Squashchampion zu sein und tatsächlich einer zu sein. Oder, um genauer zu sein, ist es in einem gewissen Sinn eine Eigenschaft, aber dann eine Eigenschaft wie jede andere – ein Teil dessen, was man meine (psychologische) »Natur« nennen könnte – und in einem gewissen anderen Sinn ist es überhaupt keine Eigenschaft, sondern nur der Anschein einer Eigenschaft. In dieser Hinsicht, gibt es etwas sehr Spezifisches an diesen Bestimmungen, das tatsächlich »spirituell« genannt werden könnte – das soll heißen, es handelt sich hierbei nicht bloß um 99 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Jocelyn Benoist

Fakten, sondern um Ansprüche, die als solche bewertbar und mehr oder weniger gerechtfertigt sind. Ich habe bestimmte Überzeugungen, und es ist vermutlich Teil meiner »Natur« sie zu haben. Allerdings ist es kein Bestandteil der Definition dieser Überzeugungen, dass sie korrekt oder nicht korrekt sind. Die Dinge könnten so sein, wie wir glauben oder aber nicht. Andernfalls wären sie keine Überzeugungen, sondern, abermals, so etwas wie der Schmerz in meinem Knie. Dies bedeutet, dass das, was der Geist der Natur als solcher hinzufügt, nicht eine komische Art von Ding ist, welches die ebenso komische Eigenschaft hat, zu bestimmen, was es unabhängig von jeglicher Norm ist, sondern, im Gegenteil, Normativität selbst. Die Dinge sind, was sie sind – das ist ihre Definition. Wir hingegen können uns darüber täuschen, was sie sind und wir können uns sogar darüber täuschen, was wir sind – wobei der Punkt hierbei ist, dass Sich-Täuschen dabei weiterhin ein Modus der spezifischen Weise zu »sein«, die wir haben, ist, da es sich dabei um eine Weise des Existierens unter einer Norm handelt, was nicht dasselbe ist wie bloße »Existenz«. An dieser Stelle sollten wir wohl so etwas wie Reflexivität einführen. Normativität ist jedoch eine essentielle Bedingung dieser Selbstreflexion. Selbsttäuschung ist mit Sicherheit nicht einfach ein Fehler. Aber Selbsttäuschung kann es nur da geben, wo es eine Norm zu verletzen gibt. Ohne die Priorität der Normen gibt es genauso wenig logischen Raum für Selbsttäuschung wie für Fehler. In Gabriels Text scheint diese fundamentale Normativität des Geistes nicht besonders hervorgehoben zu sein. Sie ist eher impliziert als explizit gemacht. Dies könnte zu Missverständnissen führen. Aus dieser Perspektive scheint es mir zum Beispiel so, dass das Pochen auf Fiktionen – »fiktionales Erzählen« als zentrales Merkmal des Geistes – mit einer Klausel versehen werden muss. Es ist vollkommen zutreffend, dass die Fähigkeit Fiktionen zu erschaffen ein essenzielles Merkmal des Geistes ist. 100 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

»Existiert« der Geist?

Man sollte sich jedoch die Grammatik der Fiktion anschauen und bemerken, dass es Fiktion immer nur im Kontrast zu einem Diskurs gibt, der nicht fiktional ist – d. h. im Kontrast zu den Normen dieses Diskurses, die im fiktionalen Diskurs eingeklammert werden, um einen neuen normativen Rahmen zu schaffen. Fiktion ist nichts anderes als ein bloßes Aufheben von Normen: sie zehrt von ihnen und spielt mit ihnen, was immer noch eine andere Art von Normativität ist – ein Spiel ist nichts anderes als reine Norm. Es ist möglich, einen verkehrten Gebrauch von dem Hinweis auf Fiktion, und auf Intentionalität ganz allgemein, zu machen – soll heißen, einen rein ontologischen Hinweis, als ob die Frage nur lautete »Was gibt es?« und nicht »Welche Normen sind in Gebrauch?«. Dann würde man glauben, dass man durch das Hinzufügen von Fiktion unserer Welt etwas hinzufügte – dieser Irrglaube ist genau das Ziel von Gabriels Kritik zu Beginn seines Beitrags. Nun ist fiktionales Sein aber nicht einfach ein zusätzliches Sein; Fiktion ist eine zusätzliche Norm, die nicht einfach dem Reich des natürlichen Seins weitere Naturen hinzufügt, sondern die vielmehr einen weiteren normativen Rahmen für Seiendes bestimmt – einen Rahmen, der nur in Beziehung (in Kontrast) zu Sein im nicht-fiktionalen Sinn selbst Sinn ergibt. Den Naturalismus zu überwinden, heißt nicht, wie Gabriel uns mehrfach erinnert, dem natürlichen Sein ein weiteres Fach – oder viele weitere Fächer – hinzuzufügen. Aber sollten wir dann nicht eine alternative Agenda anbieten: nämlich unseren Sinn für die Verschiedenheit der Sinne von Sein als normative Sinne zu öffnen?

101 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Menschliches Leben und sein Begriff Andrea Kern (aus dem Englischen von Marin Geier)

1. Der Begriff eines menschlichen Wesens ist Gabriel zufolge kein Begriff einer natürlichen Art. Der Grund dafür ist, so meint Gabriel, dass Menschen »genuin von ihren Selbstauffassungen abhängig [sind], da sie im Lichte einer Vorstellung davon handeln, wer sie sind.« (S. 77) Nichtsdestotrotz meint Gabriel, »dass Menschen Tiere sind«. (S. 40) Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass Gabriels Position in Schwierigkeiten gerät, wenn sie versucht, letzteren Gedanken plausibel zu machen. Seine Konzeption des Menschen lässt ihm keinen Raum, den von einem Menschen erwogenen Gedanken verständlich zu machen, dass ein menschliches Wesen ein Tier sei. Wenn jedoch ein menschliches Wesen sich nicht selbst als ein Tier verstehen kann, welches genau die Vermögen besitzt, durch die es sich selbst als menschliches Wesen verstehen, und folglich ein solches sein soll, dann gibt es, Gabriels Sichtweise zufolge, kein menschliches Wesen und folglich keines der verschiedenen Phänomene, die er unter dem Begriff Geist zusammenfassen möchte. Ich werde vorschlagen, dass es einen Weg gibt, vieles von Gabriels Konzeption von Geist beizubehalten, ohne in die obigen Schwierigkeiten zu geraten, die sich beim Versuch zeigen, zu verstehen, wie ein Wesen denken kann, dass ein menschliches Wesen ein Tier ist. Dies macht es allerdings erforderlich, dass man die tierische Natur eines menschlichen Wesens nicht als »Bedingung« von Geist versteht. Vielmehr sollte die tierische Natur menschlicher Wesen als eine spezifische Manifestation von Geist verstanden werden. 102 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Menschliches Leben und sein Begriff

2. Gabriel stützt sich auf eine philosophische Tradition (die Denker wie Kant, Hegel, Marx und Nietzsche einschließt), welche er dadurch charakterisiert, dass ihren Vertretern der Versuch gemeinsam ist, auf einen sui generis-Charakter desjenigen Merkmals zu insistieren, das menschliche Wesen einzigartig macht. Dieses Merkmal nennt Gabriel, in Einklang mit der Tradition, Geist. Er meint, die allgemeinste Charakterisierung dieser Eigenschaft besteht darin es als »Bereich derjenigen Phänomene […], die von ihrem Begriff abhängen« (S. 67) zu beschreiben. Vertreter dieser Tradition verwenden typischerweise den Begriff »Intellekt« oder »Verstand« oder »Vernunft«, um dieses einzigartige Merkmal zu bezeichnen, durch das sich der Mensch kategorial vom Rest des Tierreiches unterscheidet. Sie teilen mit Gabriel die Überzeugung, dass es nicht ein einzelnes Phänomen oder eine einzelne Realität gibt, die dem Begriff entspricht, sondern vielmehr eine indefinite Mannigfaltigkeit seiner Manifestationen. Im Folgenden werde ich nicht der Frage nachgehen, ob die Tradition, die Gabriel heranzieht, im Bezug auf das hier diskutierte Thema einen homogenen Korpus bildet. Ich nehme an, er würde zustimmen, dass dem nicht so ist. Vielmehr werde ich eine andere philosophische Tradition heranziehen, um die Art und Weise in Frage zu stellen, in der Gabriel versucht, den sui generis-Charakter von Geist auszubuchstabieren. Damit meine ich die aristotelische Tradition, welche bestreitet, dass die Animalität eines Menschen eine »Bedingung« für Geist ist. Vertreter der aristotelischen Tradition sind vielmehr der Ansicht, dass ein Mensch nichts anderes ist, als eine bestimmte Art von Tier. Nennen wir diese die Identitätsthese. Gabriel meint, dass eine Position die Identitätsthese bestreiten muss, wenn sie dem sui generis-Charakter von Geist Rechnung tragen möchte. Der Aristotelismus bestreitet nicht den sui generis-Charakter von Geist; vielmehr bestreitet er das genannte Konditional. 103 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Andrea Kern

3. Gabriel definiert geistige Phänomene mithilfe zweier Kriterien: 1. Geistige Phänomene sind solche, deren Einheit in der Tatsache begründet liegt, dass sie aus einem Versuch des Menschen resultieren, »sich einerseits vom bloß physischen Universum und andererseits vom Rest des Tierreichs zu unterscheiden.« (S. 25) 2. Geistige Phänomene sind Phänomene, die von den Begriffen, unter die sie fallen, abhängig sind. Kraft des ersten Merkmals erhält der Begriff des menschlichen Wesens Einzug in die Definition des Geistigen. Dies wirft die Frage nach der Natur des Begriffs eines menschlichen Wesens auf, der in dieser Definition verwendet wird. Stellen wir uns vor, der Begriff des menschlichen Wesens wäre der Begriff einer natürlichen Art, so wie Gabriel »natürliche Art« versteht. Dann wäre das Subjekt des »Versuchs« sich »vom bloß physischen Universum und andererseits vom Rest des Tierreichs« zu unterscheiden, etwas, dessen Existenz und Identität unabhängig von den Begriffen wären, die artikulieren, was es heißt ein menschliches Wesen zu sein. Dies, so Gabriel, definiere eine natürliche Art. Denn eine natürliche Art ist dergestalt, dass etwas, was zu dieser Art gehört, von allen spezifischen Beschreibungen abweichen kann, die mit dem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes verknüpft sind, mit dem »gewöhnliche Sprecher« diese Art identifizieren (S. 64). Wenn der Begriff des menschlichen Wesens, der in Gabriels Definition geistiger Phänomene eingeht, der Begriff einer natürlichen Art wäre, dann könnten menschliche Wesen von jeder spezifischen Beschreibung abweichen, die mit dem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes »menschliches Wesen« verknüpft ist. Nun ist die spezifische Beschreibung, die mit dem gewöhnlichen Gebrauch des Wortes verknüpft ist, die Beschreibung 104 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Menschliches Leben und sein Begriff

eines Wesens, das in der Lage ist, über sich selbst nachzudenken, und insbesondere über sich als etwas nachzudenken, was sich vom »bloß physischen Universum und dem Rest der Tierreiches« unterscheidet. Wäre der Begriff des menschlichen Wesens der Begriff einer natürlichen Art im Sinne Gabriels, müssten wir die Möglichkeit einräumen, dass menschliche Wesen nicht die Fähigkeit haben, über sich selbst nachzudenken und sich auf diese Weise zu begreifen. Dies würde allerdings die Möglichkeit untergraben, geistige Phänomene in der Weise zu erklären, wie Gabriel es vorschlägt, nämlich unter Rückgriff auf diese Fähigkeit. Deswegen bestreitet Gabriel, und ist auch darauf festgelegt zu bestreiten, dass der Begriff des menschlichen Wesens der Begriff einer natürlichen Art ist. Nehmen wir also an, dass der Begriff des menschlichen Wesens in Gabriels Sinne kein Element der »natürlichen Ordnung« beschreibt, sondern etwas von einer anderen Art: einen Gegenstand der, gemäß Gabriels Definition des Wortes, von seinem Begriff abhängt. Auf diese Weise muss Gabriel diesen Begriff verstehen, wenn er das Leben menschlicher Wesen folgendermaßen beschreibt: »Menschen leben ihr Leben im Lichte einer Vorstellung davon, was der Mensch ist. Diese Vorstellung verweist nicht auf eine natürliche Art.« (S. 73) Ich verstehe das so, dass das Wort »Mensch«, welches zweimal in diesem Satz auftaucht, in keiner dieser Verwendungen der Begriff einer natürlichen Art ist. Wenn ein menschliches Wesen sein Leben im Lichte seines Begriffs eines menschlichen Wesens lebt, dann lebt es sein Leben nicht gemäß eines Begriffs einer natürlichen Art. Dies wirft allerdings eine Frage auf, die im Mittelpunkt einer Debatte zwischen den Protagonisten der idealistischen Tradition stand, welcher Gabriel sich anschließen möchte. Die Frage, die bei dieser Debatte, insbesondere zwischen Kant und Hegel, im Zentrum stand, ist die Frage, wie diejenigen, die ihr Leben gemäß eines Begriffs dessen, was ein menschliches Wesen ist, leben, den Gedanken verstehen können, dass sie selbst, indem sie ihr Leben auf diese Art und Weise leben, auch eine Art von Tier sind (was auch immer sie sonst 105 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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noch sein mögen). Woher wissen diejenigen, von denen behauptet wird, dass sie ihr Leben gemäß eines Begriffs dessen, was ein menschliches Wesen ist, leben, dass sie selbst ein Tier einer bestimmten Art sind? Hegel hat Kant vorgeworfen, ein selbstbewusstes Wesen als ein Wesen zu denken, das sich selbst wesentlich nicht als lebendes Wesen, sondern lediglich als denkendes Wesen denkt. 1 Der fundamentale Gedanke, den dieses selbstdenkende Wesen in Bezug auf sich selbst hat, ist der Gedanke eines »Ichs«, welches, wie Kant unterstreicht, eine »einfache und für sich selbst an Inhalt gänzliche leere Vorstellung« 2 ist. Der Gedanke, dass dieses selbstdenkende Wesen ein Vermögen hat, das in »verschiedenen Phänomenen« aktualisiert werden kann, ist nicht notwendigerweise in dem fundamentalen Gedanken enthalten, den dieses selbstdenkende Wesen in Bezug auf sich selbst hat. Es handelt sich vielmehr um einen Gedanken, den dieses selbstdenkende Wesen hat, insofern es von sinnlichen Bedingungen abhängig ist. Gemäß des Kantischen Bildes, ist der Gedanke, den ein selbstbewusstes Wesen von sich selbst hat, nämlich dass seine Existenz und Identität von sinnlichen Bedingungen abhängt, kein Gedanke, den es qua selbstbewusstes Wesen denkt. Es ist ein zusätzlicher Gedanke. Denn es ist nicht selbst-widersprüchlich, sich einen unendlichen Intellekt, wie Kant ihn versteht, zu denken, dessen Denken nicht an die Mannigfaltigkeit dessen, was er denkt, gebunden ist, da er selbst, ganz im Gegenteil, diese Mannigfaltigkeit hervorbringt. Der unendliche Intellekt, wie Kant ihn definiert, hat eine ursprüngliche Anschauung von Gegenständen (intuitus originarius) – »d. i. eine solche […], durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird«, die »soviel wir einsehen, nur dem Urwesen zukommen kann«. 3 Dass folglich jenes Wesen, Vgl. beispielsweise Hegels Kritik an Kant in seinen Frühschriften in Hegel (1986a). 2 Kant AA3, B 404. 3 Ibid. AA3, B 72. 1

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Menschliches Leben und sein Begriff

das »Ich« denkt, sich selbst als Wesen denkt, das von sinnlichen Bedingungen abhängig ist, ist kein Gedanke, den es qua selbstbewusstes Wesen hat. Was es über sich selbst qua selbstbewusstes Wesen denkt, schließt vielmehr nicht die Möglichkeit aus, dass dasjenige, was diesen Gedanken denkt, unabhängig von solchen Bedingungen sein könnte. Selbstbewusste Wesen treten dieser Position zufolge also in zwei Gestalten auf: eine, die von sinnlichen Bedingungen abhängt und eine, die dies nicht tut. Da der Gedanke ihrer Abhängigkeit von sinnlichen Bedingungen kein Gedanke ist, den die abhängige Gestalt des Selbstbewusstseins von sich selber qua Selbstbewusstsein hat, muss ihre Abhängigkeit von sinnlichen Bedingungen eine Begrenzung ihres Selbstbewusstseins sein, und folglich als solche gedacht werden. Gemäß dieser Sicht muss sich der menschliche Verstand, wenn er sich als charakteristisch menschlicher Verstand denkt, als etwas denken, was durch sinnliche Bedingungen ermöglicht wird, von denen der Verstand nur auf empirischem Wege Wissen erlangen kann. Folglich hat ein menschliches Wesen nicht qua selbstbewusstes Wesen Wissen über die sinnlichen Bedingungen seiner Existenz und Identität, geschweige denn Wissen über die Tatsache dass es einer »gewissen Tierart« (S. 73) angehört. Ein menschliches Wesen weiß nicht qua selbstbewusstes Wesen, dass es als etwas, das selbstbewusst ist, in einer sinnlichen Welt existiert, geschweige denn, dass es als menschliches Wesen existiert. Das heißt, ein menschliches Wesen ist prinzipiell nicht in der Lage, durch sich selbst zu wissen, dass es unter gerade denjenigen Begriff fällt, demgemäß es lebt. Hegel denkt, dass dieses Bild zutiefst unbefriedigend ist. Er argumentiert, dass es der Idee eines Bewusstseins, welches nichts anderes ist als dasjenige, wovon es Bewusstsein ist – d. h. Selbstbewusstsein – geradezu widerspricht. Hegel schließt, dass es falsch ist, Selbstbewusstsein als das Vermögen eines Subjekts zu charakterisieren, welches, um sich selber vollständig begreifen zu können, die Existenz von etwas anderem als diesem Vermögen selbst voraussetzen müsste, namentlich »eine bestimmte Tierart«. Eine Konzeption des Selbstbewusst107 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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seins, die es als ein Bewusstsein präsentiert, das von solchen Voraussetzungen abhängt, muss, so meint er, eine Fehlkonzeption sein. 4 Gabriels Position, meine ich, sieht sich mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Das Problem kann folgendermaßen ausgedrückt werden. Wenn es richtig ist, zu denken, wie Gabriel es tut, dass »wir Menschen« »Angehörige einer gewissen Tierart« sind, mit welcher wir jedoch gleichzeitig nicht »identisch« (ebd.) sind, dann stellt sich die Frage, wie »wir Menschen« dazu gelangen können zu wissen, was »wir« selber sind. Diese Frage ist deshalb wichtig für Gabriel, weil er ein menschliches Wesen als ein Wesen charakterisiert, welches sein Leben gemäß einer Vorstellung davon lebt, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein. Damit es also überhaupt ein menschliches Wesen in diesem Sinne geben kann, muss es ein Lebewesen geben, das einen Begriff des Menschen hat – d. h. davon, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein –, unter dem es sein Leben ordnet. Dieser Begriff des Menschen, unter dem es sein Leben ordnet, muss den Gedanken enthalten, dass ein menschliches Wesen, was auch immer es außerdem noch ist, eine Art von Lebewesen ist. Denn andernfalls könnte dasjenige, was sein Leben gemäß eines solchen Begriffs lebt, nicht sein Leben unter diesem Begriff ordnen und sein Leben als eine Instanziierung dieses Begriffes auffassen. Dies macht allerdings die Frage dringlich, wie »wir Menschen« dazu kommen, diesen Begriff eines menschlichen Wesens zu haben (dem gemäß es »zu einer gewissen Tierart gehört«), den wir in der Tat haben müssen, wenn unser Leben die Form haben soll, die Gabriel ihm zuschreibt. Einige Passagen legen nahe, dass Gabriel diesen Begriff als ein Stück empirisches Wissen betrachtet. Beispielsweise wenn er schreibt: »Ich beabsichtige nicht zu verneinen, dass Menschen Tiere sind und dadurch zum Teil Gegenstände, die gelenkt werden von Parametern, welche von der Evolutionstheorie beschrieben werden« (S. 40), und diesen Abschnitt dann so fortführt: »Ich bin nicht daran 4

Vgl. Hegel (1986b: Kapitel 5).

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Menschliches Leben und sein Begriff

interessiert, von den Naturwissenschaften etablierte Fakten zu unterlaufen […]« (ebd.). Dies legt nahe, dass Gabriel zufolge die Tatsache, dass ein menschliches Wesen eine Art von Tier ist, ein »von den Naturwissenschaften etablierte« Tatsache ist, die wir Menschen zufälligerweise herausgefunden haben. Demnach hätte es sehr wohl passieren können, dass wir, aus welchen Gründen auch immer, diese Tatsache auf wissenschaftlichem Wege nicht herausgefunden hätten. Wenn wir Menschen jedoch nicht auf wissenschaftlichem Wege herausgefunden hätten, dass das menschliche Wesen eine Art von Tier ist, dann hätte es niemals ein Lebewesen gegeben, das einen Begriff des menschlichen Wesens hat, unter dem es sein Leben ordnen kann, und folglich hätte es überhaupt gar nicht erst ein menschliches Wesen gegeben. Denn Gabriel zufolge kann man kein menschliches Wesen sein, ohne sein Leben gemäß eines Begriffs eines menschlichen Lebens zu leben; und man kann sein Leben nicht gemäß des Begriffs eines menschlichen Wesens leben, ohne den Menschen als eine Art von Tier zu denken. Denn andernfalls könnte mein Begriff eines menschlichen Wesens nicht dasjenige sein, »im Lichte« dessen ich lebe; es könnte nicht dasjenige sein, was meinem Leben in der Art und Weise, die Gabriel beschreibt, Orientierung gibt oder es leitet. Denn dann wäre es für mich logisch unmöglich, mein Leben und seine Aktivitäten als etwas zu denken, das genau jenen Begriff instanziiert, im Lichte dessen ich lebe. Nur ein Begriff des menschlichen Wesens, der impliziert, dass es sich dabei um ein Tier einer bestimmten Art handelt, kann mein Leben in einer Art und Weise leiten oder ihm Orientierung verschaffen, die es mir erlaubt, mein Leben und seine Aktivitäten als seine Instanziierung zu denken. Damit mein Begriff eines menschlichen Wesens es mir ermöglichen kann, mein Leben und seine Aktivitäten – wie, zum Beispiel, mein Atmen und Verdauen, mein Schlafen und Wachsein, mein Wahrnehmen und Begehren, etc. – unter ihn auf eine Art und Weise zu subsumieren, die impliziert, dass ich mein Leben und seine Aktivitäten als Instanziierung gerade dieses 109 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Begriffs denke, muss mein Begriff des menschlichen Wesens den Gedanken beinhalten, dass ein menschliches Wesen, was auch immer es sonst noch ist, ein Lebewesen ist, eine Art von Tier. Folglich kann nach Gabriels eigener Konzeption der Gedanke, dass ein menschliches Wesen »zu einer gewissen Tierart gehört«, nicht auf empirischem Wege ins Denken eines menschlichen Wesens gelangen – d. h. als etwas, was durch Wissenschaft herausgefunden wurde. Da jegliche geistige Aktivität, wissenschaftliche Aktivität eingeschlossen, Gabriel zufolge durch die menschliche Fähigkeit, das menschliche Wesen »sowohl von ganz und gar unorganischen, anonymen Prozessen, als auch vom organischen nichtmenschlichen Leben« (S. 74) zu unterscheiden, definiert ist, wäre es im Lichte seiner eigenen Konzeption vielmehr logisch unmöglich, diese Tatsache jemals festzustellen. Dies legt nahe, dass er diese Tatsache als begriffsabhängig konzipieren muss: Dass ein menschliches Wesen »zu einer gewissen Tierart gehört«, das einen Platz in der natürlichen Ordnung hat, wäre dann keine Tatsache innerhalb der natürlichen Ordnung, sondern vielmehr eine, die von einer Konzeption davon abhängt, was ein menschliches Wesen ist. Diese Option steht Gabriel allerdings ebensowenig zur Verfügung. Die Tatsache, dass ein menschliches Wesen »zu einer gewissen Tierart gehört«, kann keine begriffsabhängige Tatsache in Gabriels Sinne sein, da die Existenz eines menschlichen Wesens bereits in seiner Konzeption der Begriffsabhängigkeit enthalten ist. Die Tatsache, dass ein menschliches Wesen »zu einer gewissen Tierart gehört«, kann folglich weder eine natürliche, noch eine begriffsabhängige Tatsache in Gabriels Sinn sein. Ich kann nicht erkennen, wie Gabriel diesem Dilemma entkommen kann. Seine Position kann die Intelligibilität eines von einem menschlichen Wesen gedachten Gedankens, dem zufolge ein menschliches Wesen eine Art von Tier ist, nicht erklären. Gleichzeitig setzt seine Konzeption des Geistigen je110 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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doch die Verständlichkeit dieses Gedankens voraus. Kant hat hierfür nie eine Lösung gefunden.

4. In seiner Enzyklopädie bemerkt Hegel zu Beginn seiner Behandlung von »Geist«, dass zeitgenössische Erklärungen von »Geist« keinen spekulativen Gehalt haben. »Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben«, schreibt er, »sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand.« (Hegel 1986c: § 378). Im Rest dieses Kapitels möchte ich konzise herausarbeiten, was es heißen würde, »Geist« auf die aristotelische Art und Weise zu behandeln, die Hegel in dieser Passage preist. Der Aristotelismus, so wird klar werden, denkt nicht, dass man die Identitätsthese aufgeben muss, um an der Einzigartigkeit des Menschen aufgrund seiner Geistigkeit festhalten zu können. Ein menschliches Wesen zu denken, ist vielmehr nichts anderes – nicht mehr und nicht weniger – als eine besondere Art von Tier zu denken. Ein menschliches Wesen ist demnach identisch mit einer bestimmten Art von Tier, aber es handelt sich um eine besondere Art. Dies liegt daran, dass die vitalen Aktivitäten von Menschen eine »Form« haben, die die Aktivitäten von nichtmenschlichen Tieren nicht haben: sie haben den »Intellekt« als ihre »Form«. Wie im Folgenden deutlich wird, denkt Aristoteles, dass es, um die Einzigartigkeit des Menschen zu erklären, nicht ausreicht, eine formale Unterscheidung zwischen natürlichen und begriffsabhängigen Tatsachen zu machen. Diese Unterscheidung muss ihren Platz vielmehr in einer Beschreibung der formalen Unterschiede zwischen verschiedenen Lebensformen haben. Aristoteles glaubt hierbei, eine formale Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Lebensformen und damit hinsichtlich dessen treffen zu können, was er »Seele« 111 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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nennt. Er definiert »Seele« als die Form eines Lebewesens qua Lebewesen. Sie ist dasjenige, was eine Antwort auf die Frage gibt: »Was ist es, kraft dessen dies ein Lebewesen ist?« Die aristotelische Idee einer »Seele« ist die Idee einer Lebensform bei der wir, so meint er, drei verschiedene Arten unterscheiden können. Aristoteles nennt sie vegetative Lebensform, animalische Lebensform und rationale Lebensform. Bevor wir uns einen Eindruck von der Art und Weise verschaffen können, in der Aristoteles die relevanten Unterscheidungen trifft, möchte ich zwei Dinge hervorheben, die – im Kontext unseres Themas – von besonderer Bedeutung dafür sind, was es heißt, über Menschen vermittels eines Unterschieds der »Form« nach nachzudenken. Erstens bedeutet es, diesen Unterschied nicht so zu denken, als läge er in bestimmten Fähigkeiten, die ein Subjekt entweder hat oder nicht hat. Vielmehr ist er als ein Unterschied hinsichtlich des Prinzips verstanden, kraft dessen bestimmte Fähigkeiten eine Einheit bilden, die ein Subjekt konstituieren, das bestimmte Fähigkeiten haben oder nicht haben kann. Dies beinhaltet die Ablehnung einer weitverbreiteten Art und Weise, über den Menschen nachzudenken: die Idee, dass es möglich sei, den Menschen als Tier zu denken, welches zusätzlich dazu, dass es ein Tier ist, noch weitere Vermögen besitzt, wie etwa den Intellekt oder das Vermögen, sich einen Begriff von sich selbst zu machen. Diese Idee liegt, so meine ich, auch Gabriels Auffassung zugrunde. Zweitens, und damit zusammenhängend, bedeutet es, dass Begriffe, die vitale Operationen von etwas Lebendigem bezeichnen, wie etwa Essen, Trinken, Verdauen, Wahrnehmen, Reproduzieren, Schlafen oder Wachsein, etc. keine bestimmte Bedeutung haben, so lange das Prinzip ihrer Einheit nicht spezifiziert wurde. Dies beinhaltet eine Zurückweisung der Art und Weise über Leben nachzudenken, die sowohl für die Positionen, die Gabriel schlagkräftig kritisiert, als auch für seinen eigenen Ansatz charakteristisch ist: Dabei handelt es sich um die Annahme, dass es einen bestimmten Sinn davon gäbe, was es 112 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Menschliches Leben und sein Begriff

heißt, ein Lebewesen zu sein, der das Leben einer Rose oder das Leben eines Hasen genauso beschreibt wie das Leben eines Menschen. Dem Aristotelismus zufolge wird die Bedeutung dessen, was es heisst, ein Lebewesen zu sein, vielmehr von den drei verschiedenen »Formen«, die eine Lebensform konstituieren, jeweils unterschiedlich bestimmt. Dies drückt Aristoteles aus, wenn er sagt, »dass das Leben auf vielfache Weise begriffen wird« (De Anima, 413a20 f.). Diesem Gedankengang zufolge, ist der Begriff des Lebens, als solcher betrachtet, ein abstrakter Begriff der Einheit von Vermögen, der nicht auf ein gegebenes Lebewesen angewendet werden kann, ohne dass das Prinzip spezifiziert wird, kraft dessen diese Vermögen zu ein und demselben Subjekt gehören. Der Begriff des Lebens ist insofern abstrakt, als er, Aristoteles zufolge, nicht mehr beinhaltet als den Gedanken einer Einheit von Fähigkeiten und Aktivitäten, die die Existenz und die Identität des unter diesen Gedanken fallenden Lebewesens erklären. Es handelt sich um einen abstrakten Begriff, da er keine spezifische Konzeption der Form beinhaltet, die diese explanatorische Relation in einem gegebenen Fall annimmt. Er erklärt zum Beispiel nicht, welche Fähigkeiten und Aktivitäten die Existenz und Identität eines Hasen erklären, die sich offensichtlich von denen unterscheiden, die die Existenz und Identität einer Rose erklären, welche sich ihrerseits wieder von denen unterscheiden, die erklären, wie ein menschliches Wesen entsteht. Daraus folgt, dass wir, obwohl diese abstrakte Charakterisierung auf alle Begriffe einer Lebensform zutrifft, den abstrakten Begriff des Lebens nicht auf ein beliebiges gegebenes Lebewesen anwenden können, ohne die Form zu spezifizieren, die diese explanatorische Relation in einem beliebigen gegebenen Fall annimmt, indem wir das Prinzip spezifizieren, kraft dessen seine Fähigkeiten und Aktivitäten die Einheit eines Lebewesens formen, dessen Existenz und Identität sie erklären. Selbstverständlich hat jedes Lebewesen das Vermögen zur Ernährung und Reproduktion. Und es gibt eine Art des Lebens, 113 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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die über nichts mehr verfügt, nämlich das Leben von Pflanzen. Tierisches Leben unterscheidet sich von pflanzlichem Leben dadurch, dass es über Selbstbewegung und Wahrnehmung verfügt. Allerdings wäre es ein Fehler, das tierische Leben als eine Spezies des vegetativen Lebens zu denken, welches noch weitere Vermögen zusätzlich zu seinen vegetativen Vermögen besitzt. Vielmehr ist tierisches Leben eine formal verschiedene Lebensform, insofern das Prinzip, das die Fähigkeiten und Aktivitäten zu ein und demselben Subjekt vereinheitlicht, dessen Existenz und Identität sie erklären, sich von demjenigen unterscheidet, das zur Erklärung der Existenz und Identität einer Pflanze gehört. 5 Eine vegetative Lebensform ist eine, die nicht qua Lebensform, eine Differenzierung zwischen einem Individuum, das die relevante Lebensform realisiert auf der einen Das bedeutet nicht, dass es keine Eigenschaften gibt, die allen Lebensformen gemein sind. Selbstverständlich gibt es solche. So ist es beispielsweise eine empirische Tatsache, dass DNA-Moleküle eine entscheidende Rolle in der Reproduktion sämtlicher irdischer Lebensformen spielen, sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren. Allerdings können wir nur dadurch anerkennen, dass DNA diese Rolle in einem gegebenen Fall spielt, dass wir dasjenige, was sie tut, durch ein Prinzip verstehen, welches sie in der Aktivität lokalisiert, die eine bestimmte Lebensform konstituiert. Dass dieses Prinzip im Falle von Tieren eine andere Form annimmt als bei Pflanzen bedeutet nicht, dass es nicht von derselben Art Molekül Gebrauch machen kann. Nichts kann so verstanden werden, dass es eine Funktion in der Reproduktion tierischen Lebens hat, außer innerhalb des Kontextes einer selbsterhaltenden Aktivität, deren Form durch sinnliches Bewusstsein und, spezifischer, durch Begehren definiert wird. Dies gilt nicht nur für Fortpflanzung und ihre Organe (DNA ist im weitesten Sinne ein Fortpflanzungsorgan), sondern genauso für Verdauung und Wahrnehmung. Dies müsste nun weiter ausgeführt werden (vgl. beispielsweise die Aufsätze in Kern und Kietzmann 2017, darunter mein »Kant über selbstbewusste Sinnlichkeit und die Idee menschlicher Entwicklung«). Es ist jedoch nicht mein Ziel, hier die aristotelische Konzeption formal verschiedener Lebensformen zu entwickeln, sondern nur uns an deren Existenz zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass sie gegen das Dilemma immun ist, dem, wie ich oben argumentiere, Gabriel zum Opfer fällt.

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Seite, und der Lebensform selbst auf der anderen Seite beinhaltet. Im vegetativen Leben gibt es lediglich konstante vitale Aktivität, konstantes Wachsen in alle Richtungen, die ganze Zeit, und folglich nichts, das einen logischen Unterschied zwischen einem Prinzip der Aktivitäten, das ein Individuum dieser Lebensform betrifft, und einem Prinzip der Aktivitäten, das die Lebensform selbst betrifft, reflektieren würde. Die Aktivitäten der Lebensform und die Aktivitäten der individuellen Entität, die diese Lebensform bilden, sind, so argumentiert Aristoteles, logisch identisch. Deswegen kann eine Pflanze nicht als individuelles Seiendes betrachtet werden – d. h. als etwas, das ein Prinzip der Aktivität manifestiert, welches sich logisch von demjenigen seiner Lebensform unterscheidet. Tierisches Leben ist formal davon verschieden. Tiere instanziieren ihre Lebensform durch Wahrnehmung. Dadurch wird die logische Beziehung, in der ein Tier zu seiner Lebensform steht, modifiziert. Ein Subjekt, das seine Lebensform durch Wahrnehmung instanziiert, konstituiert sich als eine Einheit, die logisch verschieden ist von der Einheit derjenigen Lebensform, die durch es instanziiert wird. Es konstituiert sich als eine partikulare Einheit und unterscheidet sich dadurch von der allgemeinen Einheit, die seine Lebensform ausmacht. Aus diesem Grund denkt Aristoteles, dass nur innerhalb des tierischen Lebens – i. e. wahrnehmenden Lebens – die Kategorie des Lebewesens angewendet werden kann. Tierisches Leben ist das Leben von Lebewesen. Nehmen wir zum Beispiel einen Löwen. Ein Löwe sieht eine bestimmte Antilope und, aufgrund seiner Wahrnehmung dieser bestimmten Antilope, tut dieser bestimmte Löwe das, was Löwen im Allgemeinen tun, wenn sie Antilopen sehen: der Löwe versucht sie zu fangen und zu fressen. Seine vitalen Aktivitäten sind bestimmte Manifestationen der Lebensform des Löwen, insofern sie in Wahrnehmungen eines bestimmten Individuums dieser Lebensform gegründet sind. Menschliches Leben ist nicht tierisches Leben. Menschliches Leben unterscheidet sich von tierischem Leben dadurch, dass es vernünftig ist. Und genauso, wie es verkehrt wäre, tie115 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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risches Leben als vegetatives Leben plus einige zusätzliche Vermögen, die dieser Lebensform hinzugefügt werden, zu denken, wäre es ebenso verkehrt, vernünftiges Leben als tierisches Leben plus einige zusätzliche Vermögen, die diesem Lebensform hinzugefügt wurden, zu denken. Vielmehr handelt es sich bei vernünftigem Leben um eine formal verschiedene Lebensform. Träger einer vernünftigen Lebensform instanziieren ihre Lebensform durch »Intellekt«. 6 Dies modifiziert abermals die logische Beziehung, in welcher ein menschliches Wesen zu seiner Lebensform steht, verglichen mit der logischen Beziehung eines nicht-menschlichen Tieres. Ein Subjekt, das seine Lebensform durch »Intellekt« instanziiert, konstituiert sich selbst als eine Einheit, die sowohl logisch verschieden von der Einheit der Lebensform, die sie instanziiert, als auch identisch damit ist. Dies liegt daran, dass das Vermögen des Intellekts sich vom Vermögen der Wahrnehmung dadurch unterscheidet, dass der Inhalt dieses Vermögens nicht etwas Bestimmtes ist, das diese Lebensform manifestiert, sondern etwas Allgemeines, nämlich die Lebensform selbst, oder, wie wir sagen könnten, ihr Begriff. Folglich konstituiert sich die Trägerin einer vernünftigen Lebensform genau dadurch als etwas Bestimmtes, dass sie einen Begriff ihrer Lebensform hat, als deren Manifestation sie sich begreift. Die Bedeutung des Begriffs des Lebens erfährt dadurch eine weitere Veränderung. Ein Subjekt, das seine Lebensform durch eine Konzeption desselben aktualisiert, konstituiert sich als eine Einheit, die es als bestimmte Manifestation von etwas AllDie aristotelische Position bestreitet nicht, dass es möglich ist, geistige Begriffe wie »Wissen« oder »Erinnerung« auf nicht-menschliche Tiere anzuwenden. Die Berücksichtigung sogenannter »animal minds« liefert keine Widerlegung der aristotelischen Sichtweise. Vielmehr behauptet diese Sichtweise, dass die Bedeutung dieser Begriffe in ihrer Anwendung auf tierisches Leben verschieden ist von der, die sie haben, wenn sie auf menschliches Leben angewandt werden. Die Allgemeinheit die sie nichtsdestotrotz auch besitzen wird gerade durch die Abfolge erklärt, in welcher Aristoteles die verschiedenen Formen der Lebensprinzipien platziert.

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gemeinem versteht. In diesem Sinne konstituiert es sich als ein Subjekt, das logisch sowohl bestimmt als auch allgemein und somit sowohl identisch mit seiner Lebensform als auch verschieden von ihr ist. Eine vernünftige Lebensform ist folglich eine, die qua Lebensform, mit Bewusstseinsformen verbunden ist, welche die Lebensform als etwas repräsentieren, das im Leben seiner Träger manifestiert ist, unter anderem in genau diesen Formen des Bewusstseins. Es ist eine Lebensform, die gar nicht existieren würde, wenn ihre Träger nicht über Bewusstseinsformen verfügten, in denen sie ihr Denken und Tun als eine Manifestation der von ihnen geteilten Lebensform vorstellen. Die grundlegende Bedeutung des Begriffs »Mensch« besteht diesem Gedankengang zufolge darin, eine solche vernünftige Lebensform zu bezeichnen. Er bezeichnet eine vernünftige Lebensform, weil es Verwendungsweisen des Begriffs »Mensch« gibt, die auf verschiedenen Weisen solche Bewusstseinsformen reflektieren.

5. Die aristotelische Konzeption von Geist lässt keinen Raum für das Dilemma, das, wie ich denke, Gabriel Sorgen bereiten sollte. Gabriel meint, er könne die Idee eines menschlichen Wesens nutzen, um zu erklären, was eine »begriffsabhängige Tatsache« ist. Dadurch wird seine Position durch das Dilemma bedroht, demzufolge ein menschliches Wesen sich seiner selbst als menschliches Wesen nur dann bewusst sein kann, wenn es bestreitet, dass ein menschliches Wesen, in welchem Sinn auch immer, ein Tier ist. Wenn ein menschliches Wesen sich jedoch umgekehrt als eine Art von Tier denkt, dann ist dasjenige, was diesen Gedanken denkt, unfähig, jemals zu wissen, dass es ein menschliches Wesen ist. Der Aristotelismus lehnt die Idee einer »begriffsabhängigen Tatsache« nicht ab. Vielmehr verwendet er sie in seiner Erklärung der »Form« einer charakteristischen Lebensform. Menschliches Leben hat deswegen eine 117 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Andrea Kern

charakteristische Form, weil seine Existenz und Identität von Bewusstseinsformen abhängig ist, deren Träger sich selbst als Manifestationen der menschlichen Lebensform betrachten. »Geist« ist in der Tat eine »explanatorische Struktur« (S. 65), wie Gabriel es ausdrückt. Allerdings ist es eine, die ihre Heimat in einer umfassenderen explanatorischen Struktur hat: diejenige, die im Begriff des Lebens enthalten ist. Der Begriff des Geistes spezifiziert die bestimmte Form, die diese »explanatorische Struktur« annimmt, wenn eine Lebensform nicht als etwas aufgefasst wird, dessen Existenz und Identität für diejenigen, die sie manifestieren, ein gegebenes Faktum ist, wie es bei pflanzlichem und tierischem Leben der Fall ist, sondern als etwas, das ist, was es ist, kraft der Tatsache, dass es von denjenigen, die es manifestieren, gewusst wird. Damit bleibt kein Raum mehr, um von der Frage umgetrieben zu werden, wie ein menschliches Wesen überhaupt in der Lage sein kann, zu wissen, dass es eine Art von Tier ist. Ein menschliches Wesen weiß, was es ist (und was es nicht ist) dadurch, dass es ist, was es ist.

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Repliken auf Jocelyn Maclure, Charles Taylor, Jocelyn Benoist und Andrea Kern (aus dem Englischen von Philipp Bohlen)

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I. Replik auf Maclure

In seiner Einleitung zu diesem Band wirft Jocelyn Maclure Fragen hinsichtlich der Haltung des Neo-Existentialismus zum Gehirn-Bewusstsein-Problem auf. In diesem Zusammenhang hebt er die Ähnlichkeit meiner Bemerkungen zu diesem Thema mit der Familie von Positionen hervor, die er »externalistisch« nennt (wie den Enaktivismus, die extended mindTheorie usw.). Gleichzeitig diagnostiziert er eine Kompatibilität prima facie meiner Position zu diesem Thema mit dem »nicht-reduktionistischen Physikalismus«, dem »Eigenschaftsdualismus« und dem »Emergentismus« (S. 16 f.). Aus Gründen, die er in seiner Einleitung andeutet, befürwortet er im Allgemeinen einen »vernünftigen Naturalismus« und keine vollständige Ablehnung des naturalistischen Programms. In meiner Antwort an Andrea Kern werde ich die Behauptung weiter ausführen, dass die Beziehung des Gehirns zum Bewusstsein (oder des Körpers zum Bewusstsein), wenn überhaupt, dann die Form eines »Konditionalismus« aufweist. Es scheint bei aktuellem Wissensstand eine empirische Tatsache zu sein, dass viele Aktivitäten, die wir dem Begriff des Mentalen zuordnen – (phänomenales) Bewusstsein mit eingeschlossen – mit verschiedenen Regionen des Gehirns korreliert sind. Aber ebenso muss die empirische Tatsache berücksichtigt werden, dass es nicht das Gehirn als Ganzes ist, das die mentale Aktivität trägt, wenn als das Hauptmerkmal des Mentalen, so wie es in den meisten Darstellungen charakterisiert wird, gilt, etwas mit Bewusstsein zu tun zu haben. Nur manche Teile unseres Gehirns und nur eine Teilmenge der dort stattfindenden Aktivität sind überhaupt auf signifikante Weise mit mentaler Aktivität verbunden. Es ist wichtig zu bedenken, dass es überhaupt nicht geklärt ist, ob es etwa so etwas wie ein neuro121 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Maclure

nales Korrelat des Bewusstseins gibt. Es gibt viele Gründe dafür, hier ein Problem zu sehen. 1 Eines der Hauptprobleme ist, dass das Wort »Bewusstsein« viele Verwendungsweisen hat. Wir müssen erst einmal herausfinden, welche dieser Verwendungsweisen überhaupt philosophisch kohärent genug sind, um mit irgendetwas in der Wirklichkeit unseres Gehirns korreliert sein zu können. Und selbst in dem Ausmaße, in dem wir über einen klaren Begriff des Bewusstseins verfügen, gibt es keine einhellig akzeptierte Antwort auf die Frage, was, wenn überhaupt, das neuronale Korrelat des Bewusstseins sein soll – um nicht das zusätzliche Problem zu erwähnen, dass unser Gehirn nur eine Art von Nervensystem im Tierreich ist, das ein Bewusstsein tragen könnte. Stellen wir uns – nur um des Arguments willen – einmal vor, dass so etwas wie Tononis und Kochs IIT (Theorie integrierter Information) ein Weg dazu ist, Bewusstsein zu messen – d. h. eine wissenschaftlich exakte Art, das neuronale Korrelat des Bewusstseins zu identifizieren. Ich habe keine allgemeinen begrifflichen Vorbehalte gegen die Möglichkeit, dass wir so ein neuronales Korrelat für das finden, was Tononi »Bewusstsein« nennt, also eine Art von mentalem Zustand, in dem wir uns Siehe Tononi und Koch (2015). Ich danke Giulio Tononi für die intensive Diskussion dieser Themen während des von der Chilenischen Regierung organisierten Congreso Futuro im Januar 2018. Glücklicherweise glaubten der Chilenische Senator Guido Girardi und sein Team, dass Giulio und ich es intellektuell angenehm finden könnten, gemeinsam durch Chile (einen Ausflug in die Antarktis und Patagonien mit eingeschlossen) zu reisen. Dies hat uns die Gelegenheit dazu gegeben, unsere Gedanken über das Bewusstsein auszutauschen. Zwei andere Wissenschaftler haben mir außerdem dabei geholfen, den Gehirn-Teil des Gehirn-Bewusstsein-Problems zu verstehen: Armin Cremers, ein hervorragender Computerwissenschaftler meiner Heimatinstitution, der Universität Bonn, und Robert Nitsch, Neurowissenschaftler und Direktor des Universitätsklinikums Münster. Ich danke beiden dafür, meine Illusion, dass wir mit Recht annehmen können, dass es da ein einheitliches Organ namens »Gehirn« in unserem Schädel gibt, zerstört zu haben.

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Replik auf Maclure

sowohl befinden, wenn wir wach sind, als auch, wenn wir träumen. Die philosophischen Details von Tononis Begriff des Bewusstseins ausfindig zu machen, ist eine wichtige Aufgabe. Der Neo-Existentialismus gibt uns in diesem Zusammenhang Hinweise, sagt aber nicht unmittelbar voraus, was die richtige Auffassung sein könnte. Offensichtlich muss hier noch viel Arbeit geleistet werden, um eine Theorie des Bewusstseins auszuformulieren, die mit dem Vorschlag des Neo-Existentialismus im Einklang steht. Es gibt noch andere Ausdrücke wie etwa »Wahrnehmung«, die prinzipiell kein neuronales Korrelat haben können. Bewusste Wahrnehmung schließt notwendigerweise das neuronale Korrelat des Bewusstseins mit ein, das von der besten empirischen Theorie identifiziert wird (IIT, die Global Workspace Theory o. ä.). Einige Vorkommnisse [token] bestimmter Typen [type], auf die wir mit unserem mentalistischen Vokabular verweisen, haben sicherlich ein neuronales Korrelat. Tononi und Koch nutzen hierfür den Ausdruck »tragen [support]«, der noch neutraler als der Ausdruck »korrelieren« ist. Einige Ereignisse, die im Lichte des Neo-Existentialismus als geistig gelten, sind klarerweise von neuronalen Ereignissen getragen. Ich pflichte der Position bei, dass Menschen notwendig verkörpert sind. Jeder Mensch ist, unter anderem, ein Tier. Die beste Erklärung für unsere Animalität findet sich meiner Ansicht nach in den Naturwissenschaften. Was es bedeutet, ein Tier einer bestimmten Art zu sein, ist abhängig davon, wo wir auf unserem Zweig der Evolutionskette zu verorten sind. Dies ist ein naturalistisches Element. Der Neo-Existentialismus (wie auch der gute alte Existenzialismus) hat weder Sympathien für den Vitalismus noch für eine unsterbliche Seele, die unseren Körper vorübergehend am Leben erhält. Ich stimme Maclures vernünftigem Naturalismus insofern zu, dass Philosophen nicht an wissenschaftlichem Wissen herumtüfteln sollten. Was das wissenschaftliche Wissen angeht (das nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt ist) zählen die Experten. Doch die Grenzen zwischen Wissenschaft und Metaphysik lassen sich nicht so einfach ziehen. Die Natur123 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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wissenschaften treffen oft stillschweigend metaphysische und begriffliche Annahmen. Daher können wir die Frage danach, was der Mensch ist, nicht einfach an die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften abgeben. Die Frage, in welchem Ausmaß das menschliche Bewusstsein verkörpert sein muss, hängt von dem verwendeten Begriff des Bewusstseins ab. Offensichtlich beantwortet die neo-existentialistische Auffassung eines irreduziblen Begriffs des Geistes nicht alle Varianten des Gehirn-Bewusstsein-, Körper-Bewusstsein- oder Materie-Bewusstsein-Problems. Als einen neuen Kandidaten in der Debatte schlage ich den Konditionalismus vor. Nach dem Konditionalismus ist jedes Ereignis, das als mental gelten kann, ein Ganzes, das aus Bedingungen besteht, die seine Teile ausmachen. Diese Bedingungen sind notwendig und zusammengenommen hinreichend dafür, dass das Ereignis stattfindet. Sofern es um menschliche mentale Aktivität geht, lassen sich einige der notwendigen Bedingungen für die Ausübung der menschlichen mentalen Fähigkeiten mit neuronalen Ereignissen identifizieren. Ohne Gehirn keine mentale Aktivität. Doch dies unterstützt keine Identitätstheorie von Bewusstsein und Gehirn; es besagt nur, dass einige notwendige Bedingungen für menschliche mentale Aktivität mit natürlichen Prozessen identisch sind, über die man am besten in der Terminologie natürlicher Arten nachdenkt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das gesamte mentale Ereignis in jedem Einzelfall am besten dadurch erfasst wird, dass wir es in eine Liste notwendiger natürlicher Bedingungen aufspalten. Mentale Ereignisse sind üblicherweise nicht auf solche Weise reduzierbar. Manche schon; manche aber auch nicht. Die Frage des Reduktionismus ist schlecht gestellt, da er in einem Rahmen agiert, in dem angenommen wird, dass es auf der einen Seite ein bestimmtes Ding, »das Bewusstsein«, und auf der anderen Seite ein bestimmtes anderes Ding, »das Gehirn«, gibt, sodass für ihn das Problem aufkommt, wie die beiden zusammenhängen könnten. In Wirklichkeit verhält es sich so, dass wir durch verschiedene Vokabulare, das mentalistische mit eingeschlossen, auf bestimmte Ereignisse verweisen. Der 124 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Neo-Existentialismus stellt Behauptungen darüber auf, welche Rolle dieses Vokabular spielt und warum der Naturalismus ein fehlgeleiteter Ansatz ist, einige der zentralen Aspekte des mentalistischen Vokabulars zu erklären. Die meisten Standardmeinungen, die in der Gehirn-Bewusstsein-Debatte der Bewusstseinsphilosophie zum Ausdruck gebracht werden, sind letztlich Verdinglichungen des vom jeweiligen Debattenteilnehmer präferierten Stücks eines gegebenen mentalistischen Idiolekts (meist anglophoner Art). In einigen Fällen besteht ein mentales Ereignis vollständig aus natürlichen Arten, obwohl es in einen größeren Bedeutungszusammenhang eingebettet ist. Man denke etwa an die vielfältigen kulturellen Praktiken, die in der Vergangenheit und Gegenwart das Phänomen der menschlichen Pubertät umgeben haben. Die Pubertät ist eine bestimmte Form hormonellen Wandels, der am besten von der Biologie erklärt werden kann. Dennoch spielen die Manifestationen der durch die Pubertät bedingten Handlungen eine bestimmte Rolle in der Geschichte der Menschheit, sodass die natürliche Art »Pubertät« eingebettet ist in einen größeren geistigen Zusammenhang. Andere Fälle, wie Wahrnehmung oder Wissen, sind objektiv existierende Relationen zwischen einem Tier, einem (Frege’schen) Sinn und einer Szene aus Tatsachen und Gegenständen. Wahrnehmung ist also kein ernsthafter Kandidat für eine Identitätstheorie von Bewusstsein und Gehirn. Wahrnehmung kann mit keiner Art von neuronaler Aktivität identifiziert werden, da sie wesentlich die Gegenstände mit einschließt, von der sie handelt. Üblicherweise sind die Gegenstände der Wahrnehmung nicht selbst neuronale Ereignisse. Meiner Ansicht nach sind wir gegenwärtig weit von einem auch nur annähernd vollständigen Verständnis des Universums (qua Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften) entfernt. Daher sind der Physikalismus und der Emergentismus bloße Spekulationen. Einige philosophisch gesinnte Wissenschaftler argumentieren sogar selbst gegen metaphysischnaturalistische Interpretationen gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse, und vertreten dagegen aktualisierte For125 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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men des Platonismus, Spinozismus, der Monadologie oder des hinduistischen Monismus. Die Wissenschaften zu respektieren, bedeutet, Wissenschaftler zu respektieren. Die Tatsache, dass einige der bahnbrechendsten Naturwissenschaftler (wie Einstein, Schrödinger und Heisenberg) die Metaphysik der Naturwissenschaften auf eine Weise bewertet haben, die vollkommen inkompatibel mit dem in der gegenwärtigen theoretischen Philosophie verbreiteten Physikalismus oder Naturalismus ist, spricht nicht gerade für diese beiden Theorien. 2 Das Fazit dieser Anmerkungen besteht gerade darin, dass es nicht ein einziges Gehirn-Bewusstsein, Körper-Bewusstsein oder Materie-Bewusstsein Problem gibt. Einer der vielen Fehler des Substanzdualismus und seinesgleichen liegt in dem Gedanken, dass die Wirklichkeit aus zwei Hälften besteht: einer mentalen und einer materiellen. Die Frage, wie beide Hälften in einer Beziehung zueinander stehen, ist genauso schlecht gestellt wie eine Meta-Physik, die das Universum in zwei Hälften aufspaltet. Darüber hinaus bricht die Hintergrundontologie des NeoExistentialismus mit der Idee der Einheit der Wirklichkeit und dem daran sich anschließenden Verortungsproblem. Nach der von mir so genannten »Keine-Welt-Anschauung« gibt es kein solches Ding wie die Wirklichkeit im Ganzen. Nachweislich ist nicht einmal das Universum als das von unseren Naturwissenschaften untersuchte Sinnfeld einheitlich. Ich gestehe dem Naturalisten bloß die Einheit der Naturwissenschaften zu, um seine Position zu stärken, bevor ich sie angreife. Wenn ich richtig liege, sind meine Argumente stärker, wenn sie einen stärkeren Gegner haben, einen, der mutmaßlich die allgemeine Struktur des Hume’schen Mosaiks entziffert hat. Der Neo-Existentialismus stellt einen Versuch dar, das Problem des menschlichen Bewusstseins im Rahmen eines ontologischen Post-Naturalismus anzugehen. Wie Maclure zuVgl. Ellis (2016). Für einen hilfreichen Überblick über philosophischen Positionen und Publikationen von Einstein, Schrödinger, Heisenberg und anderen siehe Scheibe (2012).

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126 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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recht hervorhebt, ist dieser Rahmen in strengem Sinne realistisch. Gemäß der Sinnfeldontologie müssen der inkohärente Begriff der Wirklichkeit als Ganzes und die noch schlimmere Identifikation der Wirklichkeit als Ganzes mit dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften durch eine bessere Theorie der Wirklichkeit ersetzt werden. Die Sinnfeldontologie, die ich anderswo ausformuliert und verteidigt habe, stellt den Anspruch, ein verbessertes Verständnis der Wirklichkeit bereitstellen zu können, indem sie diese als irreduzible Vielfalt begreift. Dieses anti-metaphysische Manöver soll schließlich zu einer Haltung führen, die ich »nicht-transzendentaler Empirismus« nenne (Gabriel 2016c: 353). Er besagt, dass die metaphysische Frage hinsichtlich der Ausstattung der Wirklichkeit oder ihrer Architektur Pseudoprobleme erzeugt, uns in die Irre führt und letztlich davon abhält, uns mit tatsächlichem wissenschaftlichen Wissenserwerb in der Wirklichkeit zu beschäftigen. Die mit diesem Projekt zusammenhängende Zurückweisung des Naturalismus soll daher eine wissenschaftsfreundliche Haltung zum Ausdruck bringen, die dazu führt, uns auf die philosophischen Probleme einlassen zu können, die innerhalb der Wissenschaften entstehen. Natürlich schließt dies Probleme ein, mit denen sich die Bewusstseinsphilosophie gegenwärtig beschäftigt, wie zum Beispiel die Frage, ob es ein hartes Problem des Bewusstseins und ähnliche Rätsel überhaupt gibt. Der Neo-Existentialismus stellt einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, in dem wir die Grundlagen der Bewusstseinsphilosophie neu überdenken können. Einmal formuliert, ist er dazu verpflichtet, Lösungen auch für Spezialprobleme zu liefern. Er greift auf den ontologischen Pluralismus zurück, weswegen es für ihn auch nicht ein allumfassendes GehirnBewusstsein Problem gibt. Wenn überhaupt gibt es viele verschiedene solcher Probleme, die untereinander nicht einmal eine gemeinsame Form haben müssen. Doch bietet der Neo-Existentialismus, wie ich ihn in meinem Beitrag zu diesem Buch beschrieben habe, gewissermaßen 127 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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auch etwas mehr als bloß einen theoretischen Rahmen, in dem man sich Klarheit über anderweitig (an der Schnittstelle der Spezialwissenschaften mit den Grenzen wissenschaftlichen Wissenserwerbs) aufkommende Probleme verschaffen kann. Denn der Neo-Existentialismus ist hinsichtlich des Geistes eine streng nicht-naturalistische und nicht-reduktionistische Position. Dieser Position gemäß ist es prinzipiell unmöglich, der offenen Vervielfältigung von Arten, wie Menschen ihr Menschsein bestimmen können, Einhalt zu gebieten. Das menschliche Bewusstsein wird auf vielfältige Weise aktualisiert, sodass wir kein privilegiertes Vokabular ausfindig machen können, das den Wesenskern des Bewusstseins erfasst und so ein wirksames Allheilmittel für das Gehirn-Bewusstsein, Körper-Bewusstsein oder Materie-Bewusstsein Problem wäre. Es gibt dieses eine Problem nicht. 3 Ich schließe meine Reflexionen zu Maclures einleitenden Bemerkungen mit einem kurzen Kommentar zum »Existenzialismus«. Viele Elemente des Neo-Existentialismus berufen sich auf das bekannte existentialistische Nachdenken über die menschliche Subjektivität, über die réalité humaine, wie Sartre sie genannt hat. Die beiden Hauptkomponenten, welche die in diesem Band skizzierte Position strukturieren, sind 1. Die Behauptung, dass der Mensch eine Existenz ohne Essenz ist; und 2. Der Gedanke, dass der Mensch sich selbst bestimmt, indem er seinen Zustand im Lichte seines Selbstverständnisses verändert. Ziel meines vorliegenden Beitrags zur Entwicklung des NeoExistentialismus als einer Option für die kommende post-naturalistische Ära philosophischer Theoriebildung ist es, einige Konsequenzen existentialistischer Schlagwörter für die Bewusstseinsphilosophie auszuarbeiten. Mein Projekt besteht darin, zentrale Probleme der Bewusstseinsphilosophie zu refor3

Hervorhebungen vom Übersetzer.

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Replik auf Maclure

mulieren, was angesichts des Stillstands und der Pathologien der naturalistischen Weltanschauung, die unter Philosophen noch weit verbreitet ist, auch dringend vonnöten ist. 4 Ich vermute dennoch, dass der Geist, den dieses Projekt atmet, mit dem vernünftigen Naturalismus insofern kompatibel ist, dass wir den Wunsch haben, modern zu sein. Wir wollen ein Leben führen, das sowohl unser wissenschaftliches Wissen von der ungeheuren Weite des Universums in Rechnung stellt, sich aber auch unseres immensen Unwissens von demselben Universum bewusst ist, das trotz des beeindruckenden Fortschritts der Naturwissenschaften, den wir im Laufe der letzten zweihundert Jahre im Zuge der Aufklärung erlebt haben, weiterhin besteht.

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Für mehr hierzu, vgl. Gabriel (2016d).

129 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

II. Replik auf Taylor

Soweit ich es auf Grundlage seines Beitrags zu diesem Band und meiner Kenntnis seines beeindruckenden Werks beurteilen kann, gibt es über die vorliegende Thematik keine tiefgreifenden Unstimmigkeiten zwischen Charles Taylor und mir. Ich stimme im Großen und Ganzen seiner Zusammenfassung des in meinem Kapitel vorgelegten Gedankengangs zu. Dennoch paraphrasiert er einige meiner Behauptungen derart, dass ich mich gezwungen fühle, sie klarzustellen. Ich werde diese Gelegenheit, auf Taylors Überlegungen zu meinen Behauptungen zu antworten, für eine Klarstellung nutzen. Taylor hebt als Zugangspunkt zu meinem neo-existentialistischen Begriff des Geistes hervor, welche Rolle die Signifikanz im menschlichen Leben spielt. Signifikanz entsteht in der menschlichen Gesellschaft auf der Basis unseres gegenseitigen (Miss-)Verstehens der Zwecke der Handlungen des je anderen. Wir interpretieren die Handlungen anderer im Lichte eines Vokabulars, das uns als Handelnden zur Verfügung steht, und wir vollziehen solche Interpretationen auf der Grundlage einer strukturierten Auffassung davon, welche (Art von) Handlungen oder Handlungszusammenhänge(n) in einer gegebenen Situation oder einem gegebenen Kontext am geeignetsten wären. Signifikanz ist gebunden an die Verwendung von Sprache und die Verwendung von Sprache hat eine Geschichte. Diese Geschichte ist nicht für alle Sprecher einer natürlichen Sprache die gleiche, da jeder Sprecher immer darin ausgebildet ist, nur die ein oder andere Teilmenge aller in einer Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt ihrer historischen Entwicklung realisierbaren linguistischen Aktivitäten zu verwenden. Sprache ist konstitutiv mit der Arbeitsteilung auf verschiedenen Ebenen verbun130 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Taylor

den, da Sprecher auf verschiedene Situationen, Stimuli und psychologisch signifikante Ereignisse mit einem Sprachverhalten reagieren, das zu einem diachron und synchron ausdifferenzierten mentalistischen Vokabular führt. Diese grundlegende hermeneutische Einsicht kann auf verschiedene Weise formuliert werden. Taylor erwähnt am Rande u. a. Sartres Dezisionismus, Merleau-Pontys Erwiderung, Heideggers Weltbegriff und Hegels avancierten Begriff des Geistes. All dies sind Elemente, die ich unter der weitreichenden Überschrift des »Neo-Existentialismus« zusammenfasse. Der Neo-Existentialismus ist insoweit eine Innovation, wie er behauptet, den gemeinsamen Nenner der Tradition des Existenzialismus auf die grundlegenden Fragen der gegenwärtigen Metaphysik und Bewusstseinsphilosophie anzuwenden. Dieser gemeinsame Nenner ist meiner Ansicht nach der Gedanke, dass wir »unentrinnbar selbst-bestimmende Tiere« sind, wie Taylor es ausdrückt. Er hat Recht damit, hinzuzufügen: »Aber dies beantwortet nicht die Frage nach dem Ort der Wahrheit in unseren Selbstverständnissen.« (S. 92) Dieser Zusatz ist genau das, was den Neo-Existentialismus vom Sartreschen Projektionismus unterscheidet, der besagt, dass die Selbstbestimmung niemals irgendeiner dem selbstkonstituierenden Akteur externen, sondern nur einer ihm unmittelbar vor Augen stehenden Wahrheitsnorm Folge leistet. Sich selbst zu bestimmen, heißt, ein Leben im Lichte eines Vokabulars zu führen, das dazu dient, für uns verständlich zu machen, wie und warum wir nicht einfach zur unbelebten Natur oder zum Rest des Tierreichs gehören. Dies ist meine Interpretation, oder vielmehr meine rationale Rekonstruktion des Sartreschen Mottos, dass wir dazu verdammt sind, frei zu sein. 5 Zusätzlich zu dieser bidirektionalen anthropologischen Differenz verpflichten sich einige (religiöse) Akteure auf eine weitere Unterscheidung des Menschen von Gott oder den Göt-

Zum Freiheitsbegriff, der im Rahmen meines Neo-Existentialismus (Aufsatz) zum Tragen kommt, siehe ebd., Kapitel 5.

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131 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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tern (abhängig von den Merkmalen der jeweiligen Religion). Wie dem auch sei: Jeder menschliche Akteur basiert seine Selbstbestimmung an irgendeinem Punkt seines Lebens und seiner psychologischen Architektur auf einer mehr oder weniger elaborierten Auffassung davon, sich selbst zumindest geringfügig sowohl von der anonymen Natur (dem Universum) als auch von anderen Lebensformen zu unterscheiden. Die Einzelheiten unserer verschiedenen Auffassungen davon, wie genau die Grenze zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen zu ziehen ist, haben Konsequenzen für das Wertesystem jedes einzelnen Akteurs, da er sozio-politische Schlussfolgerungen aus seinem Selbstverständnis im Zusammenhang mit der größtmöglichen Fülle der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten des Denkens und Handelns zu ziehen hat. Wir alle haben verschiedene Ansichten über die Zusammensetzung der menschlichen Gesellschaft, wie wir sie kennen. Diese Ansichten verleiten uns dazu, uns selbst und anderen konkrete Verhaltensnormen (Maximen) anzuraten oder gar aufzuerlegen. Das menschliche Leben hat unausweichlich die Form einer Empfehlung, wie gutes Leben gelingen kann. Denn wir glauben von uns selbst, dass wir diesen oder jenen Werten unterstehen, unabhängig davon, wie oft wir tatsächlich diesen Werten entsprechend handeln, von denen wir glauben, dass wir ihnen unterstehen. Darum reicht es nicht, die Frage nach der Wahrheit unserer Überzeugungen hinsichtlich unserer mentalen Architektur zu beantworten, um das Problem zu lösen, wer wir sein wollen. Wir wollen eine bestimmte Art von Person sein und werden dadurch zu dieser Person. Wozu wir uns selbst machen, ist aber nur eine Funktion davon, was wir über uns selbst für wahr halten. Dies wird weder bloß von unseren Entscheidungen noch bloß dadurch, wie wir wirklich sind, endgültig entschieden. Obwohl Selbstbestimmung nicht immer von Wahrheit abhängt, kann sie doch immer aus der Perspektive zum Beispiel von Naturtatsachen oder eines verbesserten Verständnisses des Vokabulars beurteilt werden, das wir im Rahmen der Einrichtung und Erhaltung unserer Selbstkonstitution verwenden. 132 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Man denke an unser Verhältnis zu natürlichen Krankheiten. Wir sind gegenwärtig weit davon entfernt, alles über den menschlichen Körper, die Voraussetzungen für seine Gesundheit und Krankheit usw. zu wissen. Der menschliche Körper ist und wird uns wahrscheinlich aufgrund der Komplexität seiner inneren Gliederung für immer zumindest teilweise ein Rätsel bleiben. Und hier ist noch nicht der zusätzlich zu seiner Komplexität beitragende Aspekt erwähnt, der auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass der menschliche Körper wesentlich Teil eines Ökosystems ist, dessen Komplexität wiederum weit über jede vollständig mechanistische oder kausale Beschreibung hinausgeht. Daher können wir uns auch auf unterschiedlichste Weise zu körperlichen Krankheiten verhalten. Wir können versuchen, sie als ein Eindringen der Natur ins Reich des Geistes zu akzeptieren, die zu einer heroischen Haltung oder zu einer Hinnahme der Zufälligkeiten führen kann, die uns als Einwohner eines Universums heimsuchen, das sich nun einmal nicht für unsere Existenz interessiert. Es gibt aber noch unzählige andere mögliche Erklärungen, die wir uns ausdenken können – angefangen von der Hoffnung, wir könnten unseren Körper durch das Bewusstsein von oben herab kontrollieren bis hin zu völlig religiösen Vorstellungen über die teleologische Natur der Krankheit zur Bestrafung für begangene Sünden. Darüber hinaus können wir uns ein bestimmtes Modevokabular aneignen, um unsere psychologische Ökonomie sich wandelnden Umständen anzupassen. Man vergleiche etwa jemanden, der sich entschließt, im neunzehnten Jahrhundert ein Dandy zu sein, mit Jerry Seinfelds Charakter aus der Fernsehserie Seinfeld, der wieder und wieder erfolglos versucht, ein New Yorker Dandy der 90er Jahre zu werden. Wie wir darüber nachdenken, was überhaupt ein Dandy sein soll, ist wesentlicher Teil davon, was ein Dandy ist. Was es heißt, ein Dandy zu sein, verändert sich im Laufe der Zeit, da es wesentlicher Bestandteil eines Dandys ist, dass mit seinem Begriff ein komplexes Netzwerk aus Erwartungen und Absichten zusammenhängt. Dies macht es uns unmöglich, den Begriff des Dandys 133 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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jemals vollständig zu erfassen. Ähnliches gilt für andere Bezeichnungen menschlicher Laufbahnen, die modischen Veränderungen unterlaufen. Es gibt keinen neutralen Boden, auf dem wir die Menschheit rebooten könnten, um von Grund auf ein neues Vokabular zu erstellen, das uns mit denjenigen Entitäten verbinden würde, deren Wesen nicht von diachronen und synchronen Variationen abhängig ist. Daher sind Ansätze der logischen Form eines eleminativen Materialismus und dergleichen auch letztlich nicht einmal verstehbar. Solche Ansätze machen nur Sinn vor dem Hintergrund eines Werturteils. Das Werturteil besagt im Fall des eliminativen Materialismus, dass wir uns selbst ausschließlich unter Berücksichtigung der besten verfügbaren naturwissenschaftlichen Vokabulare verständlich machen sollten. In den Diskussionen extrem reduktionistischer Ansätze des menschlichen Bewusstseins wird dabei oft verschwiegen, warum wir dies überhaupt tun sollten. Der Wunsch, den Menschen ein für alle Mal in Denkbereiche zu integrieren, an denen wir selbst keinen konstitutiven Anteil haben, ist nur eine andere Weise, Mensch zu sein. Oder mit Stanley Cavells berühmter Formulierung: »Nichts ist menschlicher als der Wunsch, seine Menschlichkeit zu verneinen« (Cavell 2006: 200). Mensch zu sein ist eine unentrinnbare Aufgabe für jeden Menschen. Menschsein ist eine Aufgabe und nicht etwas bloß Gegebenes, da wir nicht Mensch sein können ohne auf dem Weg ins Erwachsenenalter eine ganze Reihe von Entscheidungen treffen zu müssen. Das menschliche Leben besteht aus einer Unzahl von Stufen, die wir nicht in einer allgemeinen Theorie des Menschseins (wie zum Beispiel die der Kierkegaardschen Stadien) erfassen können. Es gibt keinen typischen, universalen Verlauf des menschlichen Lebens. Denn in dem Kontext, in dem wir unser Vermögen der Selbstbestimmung ausüben können, spielen soziale, historische, persönliche, natürliche, kulturelle, ökonomische und noch eine Vielzahl weiterer Faktoren eine entscheidende Rolle. Dieses Vermögen hat selbst keinen bestimmten Inhalt. Wir 134 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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reichern es kontinuierlich mit Inhalt an. Die Modi des Menschseins sind eine Funktion des Kontexts, in dem wir über die Rolle des Menschseins nachdenken. In vorliegenden Kontexten kann ein Mensch nur eine Person sein, wenn er darüber nachdenkt, was in verschiedenen Situationen, die begrifflich als Kontexte gelten, als menschliche Leistung zählen könnte. Dahingehend begrüße ich Taylors Empfehlung, meinen Vorschlag terminologisch als eine Unterscheidung zwischen dem Begrenzten und dem Unbegrenzten zu klassifizieren. Jedoch möchte ich nicht unterstellen, dass die Natur bloß ein Bereich »begrenzter Wirklichkeiten« (S. 92 f.) ist. Daher berufe ich mich auf ein neutraleres Verständnis von »Natur«, oder vielmehr von »natürlichen Arten«. Der dahingehende Grundgedanke im Neo-Existentialismus-Kapitel besagt, dass »das Universum« den Bereich (oder die Bereiche) bezeichnet, der (oder die) vom Ensemble unserer bestaufgestellten Naturwissenschaften untersucht wird (oder werden). Eine Naturwissenschaft ist eine Wissenschaft, deren Untersuchungsgegenstände natürliche Arten sind. Eine natürliche Art ist ein Gegenstand, der seine Eigenschaften nicht dadurch ändert, dass über ihn auf unterschiedliche Weise nachgedacht wird. Natürliche Arten sind reale Muster [real patterns], die wir vorfinden, wenn wir die Natur entlang ihren Fugen einteilen [carve nature at its joints]. Die beste Art, dies zu tun, ist das zu betreiben, was wir »Naturwissenschaften« nennen. Die Naturwissenschaften finden heraus, was elektrische Ladungen sind, wie weit wir von der nächsten Galaxie entfernt sind, in welchem Verhältnis die baryonische Materie zur dunklen Materie steht, welche Rolle Ionen für synaptische Transmitter spielen usw. Doch was die Naturwissenschaften tatsächlich herausfinden, lässt sich nicht nahtlos in unser Selbstverständnis als bewusste und selbstbewusste Kreaturen einfügen. Es ist immer ein weiterer Schritt nötig. Das liegt meiner Ansicht nach am Wesen der Naturwissenschaft qua empirisches Nachdenken über das Universum. Die Naturwissenschaften können niemals an ein Ende gelangen. Selbst wenn wir alle Tatsachen über das Universum kennen 135 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Taylor

würden, die man nur kennen kann, könnten wir auf Grundlage der Naturwissenschaften nicht auch noch wissen, dass wir sie alle schon kennen. Zusätzlich wissen wir auch eigens auf der Grundlage der Naturwissenschaften, dass wir niemals alle Tatsachen kennen werden, die man über das Universum wissen kann. Wir wissen aus der modernen Physik, dass dem Fortschritt der Physik Grenzen gesetzt sind, die vom Universum selbst festgelegt werden. Um Informationen über das Universum zu verarbeiten, müssen die Information uns erst einmal unter den von der Physik entdeckten Bedingungen erreichen, und es hat sich im letzten Jahrhundert herausgestellt, dass diese Bedingungen inkompatibel sind mit einer futuristischen Vorstellung von universaler Allwissenheit. Die Physik wird niemals zu einem Ende gelangen, an dem sie alle physikalischen Tatsachen kennt. Selbst wenn die Physik per impossibile wirklich eine ideale Untersuchungsgrenze erreichen würde, wäre sie nicht in der Lage, das zu bemerken. Als empirische Wissenschaft muss sie hinsichtlich der Tatsachen in ihrem Gegenstandsbereich, dem Universum, aufgeschlossen bleiben. Das Universum kann uns stets eines Besseren belehren, was aber nicht bedeutet, dass wir jederzeit bereit dazu sein müssen, unser gegenwärtiges Wissensgebäude weitreichend zu revidieren. Empirischer Wissenserwerb sollte gegenüber dem epistemischen Stellenwert skeptischer Hypothesen und Verschwörungstheorien nicht aufgeschlossen sein. Vor diesem Hintergrund ist meine neo-existentialistische Auffassung des menschlichen Bewusstseins ambitionierter als Taylors Verwendung derselben, selbst wenn der Unterschied an diesem Punkt der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung nicht ersichtlich ist. Taylor ist gerne dazu bereit, sich mit einem hinreichend guten Argument gegen allgemeine reduktionistische Auffassungen des Geistes zufrieden zu geben. Eine allgemeine reduktionistische Auffassung des Geistes kann jede Position sein, die es für tatsächlich möglich erachtet, (in naher oder zumindest nicht allzu ferner Zukunft) alle Elemente unseres mentalistischen Vokabulars, die nicht auf natürliche Arten verweisen, durch solche zu ersetzen, die es tun. 136 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Taylor führt Argumente dafür an, dass so ein Programm eine großangelegte Aufgabe darstellt, die sich kategorial von unseren bescheidenen Errungenschaften unterscheidet, natürliche Arten zu einer Erklärung etwa einer Episode von mentalen Störungen zu nutzen, wie es beim Cotard-Syndrom der Fall ist. Dieses Syndrom könnte möglicherweise am besten durch neuronale Fehlzündungen in bestimmten Hirnarealen erklärt werden. Um aber auf Grundlage bekannter Fälle aufwärtsgerichteter Kausalität bei mentalen Störungen wie diesem generalisieren zu können, müsste man eine Erklärung des menschlichen Bewusstseins vorweisen, die es uns erlaubt, unser gesamtes Vokabular, in dem wir unsere Selbstbestimmung ausdrücken, an denjenigen Einzelfällen auszurichten, bei denen so eine Erklärung wirklich gelungen ist. Es fällt aber schwer, einzusehen, wie so eine allgemeine Reduktion auf empirischer Basis durchgeführt werden sollte. Es gibt also eine explanatorische Lücke zwischen der Gesamtheit unseres mentalistischen Vokabulars mit all seinen synchronen und diachronen Variationen und unserer empirischen Erforschung von mentalen Funktionen, die auf neurobiologischem Vokabular beruht. Das allein zeigt natürlich noch nicht, dass eine reduktive Erklärung nicht möglich ist. Aber die Aufgabe ist augenscheinlich sehr viel anspruchsvoll als, sagen wir, Gedanken über X mit einer bestimmten Art von Neuronenfeuer zu korrelieren. Es ist nicht so, dass wir uns nicht täuschen können, wenn wir vorgeben, auf der Basis moralischer Überlegungen zu handeln. Meine Geschichte illustriert einen solchen Fall. Aber auf eine Erklärungsebene zu wechseln, in der Wertüberlegungen überhaupt keinen Platz mehr haben, bedeutet eine sehr viel anspruchsvollere Behauptung aufzustellen. Es ist nicht vollständig klar, wie eine solche Erklärung aussehen könnte […] (S. 90)

An dieser Stelle ist das Ziel meines Aufsatzes ambitionierter. Ich beharre darauf, dass ein allgemein reduktionistischer Ansatz unmöglich ist, prinzipiell. Dies ist nicht einfach eine epistemologische These, sondern eine Behauptung über die Wirklichkeit des menschlichen Bewusstseins. Das menschliche 137 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Bewusstsein entsteht in der Position der intentionalen Einstellung. Aber die intentionale Einstellung ist keineswegs eine Illusion oder Täuschung. Sie ist vielmehr Teil der Wirklichkeit. Auf dieser Reflexionsstufe kommt meine Keine-Welt-Anschauung (»die Welt gibt es nicht«) ins Spiel: das Universum ist nicht die Gesamtheit all dessen, was es gibt (Gabriel 2013, 2016c). Dies ist zudem keine metaphysische Behauptung über die Wirklichkeit im Ganzen, da es so etwas überhaupt nicht gibt. Es gibt keinen Bereich, der absolut alles in sich enthält. Dies setzt jede ontologische Reduktion begrifflich unter Druck, die behauptet, dass einige Phänomene, die wir in wahrheitsfähigen Aussagen charakterisieren, zu einem ganz anderen Bereich gehören als zu dem, in dem wir sie ursprünglich lokalisiert haben. Dieses Prinzip ist nicht an sich schon konservativ. Wir haben z. B. herausgefunden, dass Hexen und Zauberer dem Bereich der Figmente der menschlichen Einbildungskraft angehören. Dadurch haben wir aber die Ausweitung dieser Form ontologischer Reduktion auf andere Fälle gerechtfertigt, die Reduktion von Elfen und Einhörnern mit eingeschlossen. Aber dies lässt sich nicht auch auf Regenbögen, geschweige denn auf Schmerzen oder das Bewusstsein übertragen. Zu erklären, dass Regenbögen nicht das sind, was man erwartet hätte, unterscheidet sich deutlich vom Fall von Hexen, um einmal Gott, die Seele, oder andere Kandidaten für Reduktionen/Eliminierungen, an die man hier denken könnte, beiseite zu lassen. Mein Beitrag zur Ontologie (in Form der Sinnfeldontologie) bringt es mit sich, dass eine metaphysische Reduktion aller Phänomene auf einen fundamentalen Gegenstandsbereich (sei er physikalisch, mental, konkret oder abstrakt) aus prinzipiellen Gründen scheitert. Daher sollte man nicht danach streben (nicht einmal prinzipiell!), das menschliche Bewusstsein in all seinen Facetten metaphysisch auf natürliche Arten zu reduzieren. Auf den ersten Blick lässt diese Haltung offen, sich auf empirischen Wissenserwerb zurückzuziehen und so das menschliche Bewusstsein Schritt für Schritt zu reduzieren. Doch auch das ist unmöglich, da es einen kompletten 138 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Taylor

Überblick über das mentalistische Vokabular benötigen würde und dadurch eine Abschaffung der gesamten (linguistischen) Arbeitsteilung. Denn dieses Erfordernis ist inkompatibel mit dem Vorgehen des naturwissenschaftlichen Wissenserwerbs, der stark auf (linguistischer und wissenschaftlicher) Arbeitsteilung beruht. Es hilft auch nicht, an dieser Stelle eine futuristische Wissenschaft einzuführen, da dieser Schachzug aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft nicht gerechtfertigt ist. In einem Wort: weder die Naturwissenschaften noch die Metaphysik tragen auf irgendeine bedeutende Weise zu einer allgemeinen reduktionistischen Auffassung des menschlichen Bewusstseins bei. Dies bewegt den Neo-Existentialisten dazu, die Versuche, solche Auffassungen auszuarbeiten, im Lichte der darin enthaltenen existentiellen Entwürfe zu untersuchen. Der NeoExistentialist diagnostiziert solchen reduktionistischen oder eliminativen Bewusstseinsphilosophien eine schwerwiegende existentielle Täuschung. Unter den Begriff einer existentiellen Täuschung fällt jede Auffassung des Menschen, die die Tatsache leugnet, dass das Bündel der durch das Nachdenken über uns selbst generierten geistigen Vermögen keine natürliche Art ist. Es gibt verschiedene Arten, sich selbst-täuschend zu naturalisieren. Das Spektrum von Täuschungen ist sehr groß und reicht von hemmungslosem Materialismus bis hin zu religiösem Spiritualismus. Der hemmungslose Materialismus stellt die basale Behauptung auf, wir seien ein Haufen Neuronen oder Zellen (wenn man das menschliche Bewusstsein nicht mit dem Gehirn, sondern mit einer größeren natürlichen Struktur identifizieren will, die Teil des menschlichen Körpers ist). Der religiöse Spiritualismus ist der Glaube an zusätzliche natürliche Arten im Universum, die dem Auge der Naturwissenschaften verborgen bleiben, wie zum Beispiel unsterbliche Seelen, die unsere Zirbeldrüse kitzeln, oder sich auf der Quantenebene irgendwo in den Mikrotubuli von Nervenzellen tummeln. Eine andere Art der existentiellen Täuschung ist der Panpsychismus oder jede andere Position, die das menschliche Bewusstsein oder eines seiner herausragenden Merkmale einer 139 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Taylor

besonderen Kraft gleichsetzt, die es im Universum auf gleicher Stufe mit der Gravitation oder der elektromagnetischen Kraft geben soll. Ich schließe diese Bemerkungen mit einer leichten Korrektur von Taylors Aneignung meines Vokabulars in seinem hilfreichen Kommentar. Mit meiner Leugnung der Existenz der Welt möchte ich nicht einen Heideggerianischen Weltbegriff akzeptieren, wie er in Sein und Zeit, §§ 14–24 vorzufinden ist. Die menschliche Welt oder Lebenswelt ist meiner Ansicht nach ebenfalls nicht einheitlich oder zu vereinheitlichen. Was uns zu Menschen macht, ist etwas Formales, nämlich die Tatsache, dass wir eine bestimmte Art von Akteuren sind: Akteure, die ein Leben im Lichte einer Auffassung davon führen müssen, was sie von anderen tierischen Akteuren und von der nichtakteurhaften Natur unterscheidet. Menschen ziehen sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen aus ihrer Selbstkonstitution. Doch zuletzt sind wir alle durch diese formale Struktur verbunden. 6

Die formale Struktur des Menschseins ist (noch) nicht als Institution implementiert, obwohl seit Anbeginn der Moderne und insbesondere seit der französischen Revolution unter humanistischen Denkern die Hoffnung bestand, dass die sozialpolitische Geschichte zu einer Vereinigung aller Menschen unter der formalen Norm ihres Vermögens zur Selbstkonstitution tendiert. Es würde hier zu weit führen, dafür zu argumentieren, welche positiven sozialpolitischen Inhalte wir aus der Tatsache unserer Selbstkonstitution ableiten können, da so etwas im hier diskutierten Text nicht zur Debatte steht.

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140 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

III. Replik auf Benoist

Wenn ich es richtig sehe, meldet Jocelyn Benoist zwei Sorgen an. Seine erste Sorge dreht sich um meine Weise, eine Natur/ Bewusstsein-Distinktion zu ziehen. Seine zweite Sorge bezieht sich auf die Probleme der Selbsttäuschung und des Selbstbewusstseins. Die erste Sorge entsteht im Zusammenhang meiner Ablehnung eines globalen Verortungsproblems des Bewusstseins. Benoist stellt zurecht fest, dass mein »übergeordnetes Ziel […] darin [besteht], die Formulierung des Problems zurückzuweisen, der zufolge wir irgendwo in einer wesentlich geistlosen Welt einen Platz für den Geist finden sollten. In diesem Punkt sind wir uns einig. Ich frage mich dennoch, ob in seinem Ansatz nicht doch etwas von diesem Problem erhalten bleibt.« (S. 94 f.). In der Tat stellt Benoist eine Reihe von Fragen, die im Zusammenhang mit seinem Verdacht stehen, dass sich die neoexistentialistische Auffassung des Bewusstseins sozusagen immer noch zu sehr vom Verortungsproblem beeindrucken lässt. Ich werde seine erste Sorge in drei Teilprobleme aufteilen, die ich im Folgenden der Reihe nach angehe. Das erste Teilproblem ist das Problem der Negation. Benoist beschreibt es so: »Nichtsdestotrotz bleibt das Mentale etwas, was im Gegensatz zum Physikalischen postuliert werden muss. Nun bin ich nicht sicher, dass das der beste Weg ist um das Mentale einzufangen. Die Gefahr, die konstitutiv für dasjenige ist, was die Moderne ›Philosophie des Geistes‹ getauft hat, scheint dann darin zu bestehen, eine rein negative Philosophie des Geistes zu errichten.« (S. 95). Daraufhin führt er aus, warum genau er das für ein Risiko hält. Sein Grund dafür ist, dass man das Bewusstsein nicht im Gegensatz zum Physischen »ohne ein Genus« verstehen soll. »Da141 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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mit wäre Geist vermutlich eine andere Spezies des Seins als die Spezies des bloß Physikalischen.« (Ebd.). Er behauptet, dass ich ihm wahrscheinlich hierin zustimme, und führt dies auf eine Passage meines Textes zurück, in der ich den Gedanken zurückweise, die semantische Differenz zwischen unserem naturalistischen und unserem mentalistischen Vokabular liege »auf einer natürlichen Lücke zwischen unbelebter und belebter Materie einer bestimmten Komplexität« (ebd.). Natürlich sollte man die Natur/Bewusstsein-Distinktion nicht innerhalb des Genus »Natur« ziehen, was ich in der Passage auch betone. Ich weise jede Art von Dualismus zurück, der eine Distinktion innerhalb eines Genus des Seins oder der Substanz zieht derart, dass es (mindestens) zwei Arten von Wesen oder Substanzen gibt, die einen bewusster, die anderen nicht bewusster Art. Doch der Grund für diese Zurückweisung ist vielleicht nicht derjenige, den Benoist selbst für seine ähnliche Position hinsichtlich der Irreduzibilität des Mentalen präferiert. Zu den begrifflichen Ressourcen, die ich verwende, gehört, dass »Geist« mein Ausdruck ist für die nicht-physikalische formale Ganzheit, auf die wir uns ontologisch mit unserem mentalistischen Vokabular festlegen. Geist ist nicht-physikalisch dadurch, dass er formale Bestandteile hat, auf die wir uns nicht durch ein Vokabular beziehen können, dessen Referenzbedingungen sich wesentlich auf die Vorstellung von natürlichen Arten berufen, wie ich sie in meinem Kapitel bestimmt habe. Geist ist formal dadurch, dass er nicht entdeckt werden kann, wenn wir das Universum untersuchen. Im Gegensatz dazu ist eine Ganzheit wie z. B. ein Atom, ein Molekül oder ein Quasar substantiell (nicht-formal), wenn sie nur durch empirische Erforschung der material-energetischen Zusammensetzung des Universums entdeckt werden kann. Geist ist ein Gegenstand in dem formalen Sinne, dass er etwas ist, auf das wir uns mit einem wahrheitsfähigen Gedanken beziehen können. Er ist kein Gegenstand in einem substantiellen Sinne eines »Hindernisses für das ungehinderte Passieren [obstacle to free 142 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Benoist

passage]«. 7 Geist kann nicht von den Naturwissenschaften gefunden werden, wenn man nicht vorher schon wusste, dass er existiert. Das heißt wiederum nicht, dass wir hinsichtlich der Einzelheiten unserer Geistigkeit infallibel sind. Einer der Gründe für unsere Fallibilität hinsichtlich des Geistigen ist, dass er eine Ganzheit darstellt, die auch physische und biologische Teile hat. Mein Körper ist Teil meines Geistes. Während ich diese Zeilen schreibe, übe ich Tätigkeiten aus, die wesentlich dem Geist zugehören, nämlich etwa diejenige Tätigkeit, zwischen unbelebten, belebten und menschlichen Wesen eine Grenze zu ziehen. Diese Aktivität bezieht das Universum mit ein, da ich ohne material-energetische Ressourcen keine Informationen kodieren könnte. Diese Zeilen könnte ich ebenfalls nicht schreiben, wenn ich kein geeignetes Gehirn hätte, das mein mentales Leben tragen kann und verhindert, dass ich auf der Stelle einschlafe usw. Einige Teile des Geistes haben unsere Vorfahren als nichtphysisch aufgefasst, obwohl sie physisch sind, und umgekehrt. Ich halte es für eine begriffliche apriorische Wahrheit, dass Geist nicht gänzlich physisch sein kann. Alles andere steht jedoch offen. Welche Elemente unseres mentalistischen Vokabulars zu welchen Bits des Universums und auf welche genaue Weise in Beziehung stehen, muss empirisch erforscht und begrifflich aufgeklärt werden. »Bewusstsein«, »mind« und viele andere mentalistische Termini sind Sammelbegriffe, die gleichzeitig auf vielerlei Dinge verschiedener Kategorien referieren. Worauf auch immer sie unter präzisierten Bedingungen referieren, ist Teil der formalen Ganzheit des Geistes. Das Kriterium, aufgrund dessen ich letzten Endes zwischen Geist und Natur unterscheide, läuft auf den Gedanken hinaus, dass die Zusammensetzung des Geistes eine Funktion unserer Überzeugungen über ihn ist, Diese Formulierung von Charles Travis entstammt einem Manuskript zu einem Buch über Frege, das er in einer Reihe von Veranstaltungen am Internationalen Zentrum für Philosophie an der Universität Bonn im Sommersemester 2017 vorgetragen und zur Diskussion gestellt hat.

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wohingegen dies für die Natur nicht zutrifft. In diesem Zusammenhang heißt das, dass die Art und Weise, in der wir innerhalb unseres mentalistischen Vokabulars die Grenzen zwischen denjenigen Teilen ziehen, die im Universum begründet sind und denen, die es nicht sind, nicht nur davon abhängig ist, wie das Universum beschaffen ist. Es genügt nie, das Universum zu untersuchen, wenn wir herausfinden wollen, ob etwas, das in unserem Selbstverständnis als menschliche Denker eine bedeutende Rolle spielt, physisch ist oder nicht. Darum ist der Mensch grundlegend und unabdingbar historisch. Unser Selbstverständnis ändert sich stets in einem bestimmten Ausmaß, unabhängig davon, wie das Universum tatsächlich ist. Daher können ganze Zivilisationen kulturelle Symbolsysteme erschaffen, die auf falschen Annahmen über das Universum beruhen und die Konsequenzen dafür haben, wer und wie sie sind. Nehmen wir einmal an, dass eine Person, nennen wir sie »Paul«, keine unsterbliche Seele hat. Dennoch denkt Paul, er habe eine unsterbliche Seele, und er sieht die Tatsache, dass er ein menschlicher Denker und somit vieler Wunder des menschlichen Denkens fähig ist, als Beweis für die Anwesenheit einer unsterblichen Seele in seinem Gegenwartsbereich. Vielleicht ist Paul ein so charismatischer Autor und kennt so viele Leute in Städten rund um die ganze Welt, dass er viele Menschen davon überzeugt, eine unsterbliche Seele zu haben, sodass sie auf Grundlage von Pauls Überzeugungen eine Religion gründen. Später, wenn etwa ein Herrscher diese Religion annimmt, wird sie in einen Nationalstaat eingebunden. Natürlich sind solche Dinge schon vorgekommen und werden wahrscheinlich wieder passieren, da die Zukunft des menschlichen Selbstverständnisses nicht allein auf naturwissenschaftlichen Kenntnissen der Neurobiologie des Bewusstseins basieren wird. 8 Die Geist/Natur-Distinktion ist formal. Sie zergliedert weder die Natur noch irgendetwas anderes. Sie verändert sich 8

Für so etwas vgl. Assmann (2003, 1998).

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je nach den Überzeugungen der Menschen darüber, wer oder was sie sind. Aber es gibt einen invarianten Kern. Diese Invariante besteht in unserer Aktivität, der Tatsache Sinn abzugewinnen, dass wir nicht einfach zu dem passen, was unabhängig von unserem Selbstverständnis da ist. Wir können keine natürliche Tatsache ausfindig machen, die mit unserer Entfremdung angesichts der Unermesslichkeit des geistlosen Universums identisch ist. In diesem Sinne gibt es in meiner Position einen Überrest des Verortungsproblems – oder vielmehr ein Echo seiner ursprünglichen Motivationsstruktur. Ich glaube, dass seine Motivation dem menschlichen Vorurteil Ausdruck verleiht, dass wir normativen Ansprüchen unterstehen, die nicht in irgendetwas letztendlich Nicht-menschlichem gründen können. Deshalb sind Gott und die Götter der Mythologie und Religion auch am Menschen interessiert oder nehmen gar menschliche Gestalt an (sei es in der Form eines Avatars im Hinduismus oder Buddhismus, in der Form von Jesus, dem Sohn Gottes usw.). Der Mensch existiert im Angesicht einer Frage, die niemals dadurch beantwortet werden kann, dass wir auf einem natürlichen Standpunkt beharren. Dies führt mich zu Benoists zweitem Teilproblem, nämlich dem der Normativität. Seine präferierte Version der Irreduzibilität des Mentalen beruht nämlich auf einer Norm/NaturDistinktion, die er für »eine kategoriale Negation [hält], die eine kategoriale Differenz zwischen zwei Arten von Begriffen markiert – eine Differenz der Grammatik sozusagen. Die Grammatik des Geistes ist nicht dieselbe wie die Grammatik der Natur« (S. 97). Das Bewusstsein unterscheidet sich von der Natur nicht innerhalb eines bestimmten Bereichs oder innerhalb einer bestimmten Entität, sondern unterscheidet sich kategorisch von ihr. Ich verstehe Benoist so, dass er sich unter seiner Übertragung der Bewusstsein/Natur-Distinktion auf eine Norm/ Natur-Distinktion etwa das Folgende vorstellt. Damit ein geeigneter Akteur einer Norm unterstehen kann, muss sein Verhalten dahingehend bewertbar sein, ob es sich dabei um eine korrekte oder inkorrekte, gute oder schlechte Darbietung von 145 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Verhalten handelt. 9 Wenn ein Agent φ soll, aber χ tut, macht er einen Fehler. Was wir beobachten können, ist, dass er χ tut. Die Beobachtung allein sagt uns nichts darüber, ob er φ soll, während er gerade χ tut. Im Unterschied zu diesem oft angeführten Fall von Handlungen, die von einer normativen Bewertung abhängig sind, gilt bei Prozessen, die von Naturgesetzen abhängen, dass nur das eine Rolle spielt, was tatsächlich passiert. Wenn etwa der Fall diskutiert wird, dass eine Ansammlung von Partikeln in einem Quantenzustand verschränkt ist, müssen die Eigenschaften der Partikel auf eine bestimmte Weise beschrieben werden. Die Partikel sind φ, und in keinerlei Hinsicht sollen sie irgendetwas anderes sein. Führen wir als Beispiel für die Normativität des Mentalen die Rolle der Wahrheit in unserem Leben an. Wenn wir fälschlicherweise glauben, dass p, ist das ein Fehler. Aber die Tatsache, dass p falsch ist, ist nicht selbst ein Fehler. Um fälschlicherweise zu glauben, dass p, bedarf es mehr als nur die Falschheit der Proposition, dass p. Einen Fehler zu machen, kann man nicht auf die Falschheit einer Proposition zurückführen. Wir müssen irrtümlich etwas, das falsch ist, mit etwas verwechseln, das wahr ist. Doch auch dies ist nicht hinreichend für einen wirklich interessanten Fall, in dem man sich etwas epistemisch hat zu Schulden kommen lassen. Wenn ich nur eine Vermutung darüber aufstelle, wo sich Boris Johnson geEiner Norm zu unterstehen, selbst wenn es sich um eine rationale Norm (z. B. Inferenzschemata) handelt, muss nicht heißen, dass der Akteur sich dessen wiederum bewusst ist. Vgl. Burge (2013: 166 ff.). Normativität ist also nicht ausreichend für unsere Auffassung des Bewusstseins. Eher bedarf es spezifischer Formen von Normativität, etwa der Aktivität, als selbstbewusster Akteur die Wahrheit über das Bewusstsein herausfinden zu wollen. Solche spezifischen Formen sind für eine mögliche Norm-Natur Distinktion nötig, die die von Benoist angewiesene Rolle erfüllen könnte. Nehmen wir einmal an, dass die Details einer relevanten Auffassung der spezifischen Normativität des Mentalen vorliegen würden. Dann würde sich zeigen, dass manche Normen natürliche Arten in meinem Sinne sind, sodass Normativität ohnehin nicht dasjenige Merkmal des Mentalen sein kann, das es von der Natur oder dem Physischen unterscheiden könnte.

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146 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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rade befindet (indem ich zum Beispiel sage, er sei in Oxford, während er eigentlich gerade in Mombasa ist), mache ich nicht die gleiche Art von Fehler wie in dem Fall, in dem es für meine Gesprächspartner wirklich von Bedeutung ist, wo er gerade de facto ist. Die Wahrheit oder Falschheit von Propositionen führt im Rahmen unserer diskursiven Praktiken, in denen wir uns epistemische Zustände zuschreiben und dadurch nach Wahrheit streben, eine Art Eigenleben. Warum Geist keine natürliche Art ist, liegt also auch an der normativen Dimension des menschlichen Lebens. Doch wie präzise man diesen Gedankengang auch formuliert, ändert dies nichts daran, dass das Bewusstsein, oder eher Geist, existiert. Normativität existiert wie auch Fermionen, Galaxien und Erdbeben. Doch dies heißt gerade nicht, dass es ein Genus (die Existenz) gibt, von dem es verschiedene Arten und Modifikationen gibt, was ich anderswo detailliert gezeigt haben (Gabriel 2016c: 158–182). Wir können nicht alles, was es gibt, in einen großen Bereich einfügen, da so ein Bereich unmöglich existieren kann. Daher ist es auch ontologisch gesehen richtig, wenn Benoist sagt »dass der Geist überhaupt keine Art ist.« (S. 96) Benoist fügt diesem Gedanken eine weitere Wendung hinzu, der ich rückhaltlos zustimme. Er schreibt: Man könnte allerdings auch eine andere Interpretation sogenannter natürlicher Arten vertreten: was sie »natürlich« macht ist nicht der Umstand, dass sie zu einer Natur (in einem wie auch immer vorher konzipierten Sinne des Ausdrucks) gehören, sondern vielmehr irgendeine semantische Eigenschaft wie zu Beispiel die Starrheit (rigidity) der Referenz auf sie. Eine »natürliche Art« ist dann eine Art, auf die konstitutiv deiktisch Bezug genommen wird bzw. genommen werden sollte, wen man überhaupt auf sie referieren möchte. In diesem Sinne könnte Geist immer noch eine natürliche Art sein, ohne zur Natur im vorgefassten Sinn der Totalität alles Materiellen zu gehören. Der nun meiner Meinung nach interessanteste Aspekt von Gabriels Kritik jeder naturalistischen Auffassung des Geistes besteht darin, dass er nicht nur zu bestreiten scheint, dass Geist eine natürliche Art im ersten Sinne des Begriffs ist, son-

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dern auch, dass er es im zweiten ist. Der Geist lässt sich nicht auf diese Weise herausgreifen (pick out), denn es handelt sich bei ihm nicht um eine Art. (Ebd.)

In dieser Passage verallgemeinert Benoist zurecht mein Argument gegen die Idee einer naturalistischen Auffassung des Bewusstseins. Die historische Offenheit des Bewusstseins macht es uns unmöglich, unser mentalistisches Vokabular so exakt festzulegen, dass man die sich stets verschiebende semantische Lücke schließen könnte, die uns von den nicht-menschlichen Bereichen des Seienden trennt. Der Neo-Existentialismus verpflichtet sich in diesem Kontext auf eine Bündel-Theorie des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist ein Bündel verschiedener Vermögen und Handlungsweisen, die wir im Rahmen von Erklärungen von Handlungen und Denken zusammenbringen. Wir möchten herausfinden, wer wir als menschliche Wesen sind und welche Prognosen wir für unsere Zukunft angesichts phylo- und ontogenetischer Bedrohungen anstellen sollen. In diesem Kontext machen wir uns unseren eigenen Beitrag zu dem, was es gibt, verständlich, indem wir eine historisch offene Vielzahl von Termini und die Termini miteinander verbindenden Schlussregeln erschaffen. Das dritte und einfachste von Benoists Teilproblemen dreht sich um die Idee einer Ontologie des Bewusstseins oder des Geistes. Benoist zufolge besteht die Gefahr, das Mentale zu »ontologisieren«. (S. 107) Er besteht darauf, dass es sich beim Mentalen »um eine Weise des Existierens unter einer Norm handelt, was nicht dasselbe ist wie bloße ›Existenz‹.« (S. 102). Meine Antwort hierauf ist klar: Wenn wir unter einer Norm existieren, heißt dies offensichtlich nicht, dass wir nicht existieren. Geist und – als dessen Konsequenz – das Mentale sind selbst etwas, das es gibt. Sie existieren genauso wie andere formale Gegenstände. An ihrer Existenz ist nichts besonders. Daher sehe ich kein Problem darin, das Bewusstsein zu »ontologisieren«. Die zweite Gruppe von Problemen, die Benoist formuliert, dreht sich um meine Behauptung, dass Selbstbewusstsein und 148 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Selbsttäuschung wesentlich zusammenhängen. Ein selbstbewusster Akteur zu sein, der durch das eigene Selbstverständnis konstituiert ist, ist eine fallible Einstellung. Wenn wir uns selbst oder andere falsch verstehen, wenn es zu Missverständnissen kommt, sind wir dafür anfällig, unseren Status als Akteure so zu verändern, dass wir einer Selbsttäuschung unterliegen. Natürlich ist die Selbsttäuschung nicht die einzige Form einer existentiellen Pathologie. In meinem Kapitel ist sie nur das Paradebeispiel, das dazu dienen soll, zu zeigen, dass jeder von uns zu derjenigen Art von Gegenständen gehört, die sich verändern, wenn wir falsche Annahmen über sie treffen. Diese Art von Gegenständen ändert sich gerade dadurch, dass wir falsche Annahmen über sie treffen. An dieser Stelle stimme ich Benoist darin zu, dass dies voraussetzt, hierbei sei »Normativität als solche« beteiligt: »Dies bedeutet, dass das, was der Geist der Natur als solcher hinzufügt, nicht eine komische Art von Ding ist, welches die ebenso komische Eigenschaft hat, zu bestimmen, was es unabhängig von jeglicher Norm ist, sondern, im Gegenteil, Normativität selbst« (ebd.). Selbsttäuschung ist im Lichte dieser Aussage schon ein Missbrauch von Normen. Sie ist ein Fall einer Verfehlung, die voraussetzt, dass es Normen gibt, denen wir insofern unterstehen, wie wir danach streben, im Lichte einer Vorstellung vom Menschen ein Mensch zu sein. Aber dies widerspricht gerade nicht der Möglichkeit einer Ontologie des Mentalen. Geist existiert wirklich. Eine Art für ihn, sich zu manifestieren, ist das Medium der Fiktion. Wir erzählen uns wesentlich Geschichten darüber, wie wir wurden, wer wir zu sein glauben. Für menschliche Akteure ist es wesentlich, eine Biographie zu haben. Diese Biographien sind dafür geschaffen, der Tatsache Sinn abzugewinnen, dass wir nicht bloß zur Natur als dem Bereich des im Raum Vorfindlichen gehören. Wir sind Teil der Szene, die davon handelt, uns unser Leben verständlich zu machen. Das Fiktionale ist dem Existierenden nicht entgegengesetzt. Fiktionale Gegenstände, wie unser autobiographisches Selbst, existieren und haben wirklichen Einfluss auf unser be149 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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wusstes Leben. Ein fiktionaler Gegenstand ist ein solcher, der wesentlich in Relation steht zu einer Weise, denselben Gegenstand auf narrative Weise zu begreifen. 10 Der Unterschied zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Gegenständen beruht auf dieser wesentlichen Abhängigkeit. Eine Art, meine Ontologie fiktionaler Gegenstände zusammenzufassen, wäre zu sagen, dass fiktionale Gegenstände wesentlich im Rahmen einer Interpretation existieren. Die Existenz fiktionaler Gegenstände hängt davon ab, dass sie interpretiert werden. Ohne Interpretation hätten sie überhaupt keine bestimmten Eigenschaften. Man denke hier an das berüchtigte Problem der Unbestimmtheit fiktionaler Gegenstände wie z. B. von Macbeth. Hat er lange Haare? Hat er Haustiere? Wie viele Schuhe besitzt er? Wir sehen nicht-fiktionale Gegenstände als vollständig unabhängig davon an, was irgendjemand über sie denkt. Was immer ich über die genaue Anzahl von Zellen in einer bestimmten Region meines linken Ellenbogens glaube, es gibt diese genaue Anzahl. Wie aber sieht es mit der molekularen Komposition von Macbeth aus? Meine Antwort hierauf lautet, dass die Eigenschaften von Macbeth durch jede Interpretation festgelegt werden können, die mit den Grundfakten über ihn kompatibel ist. Einer dieser Grundfakten, der Bestandteil jeder akzeptablen Interpretation sein muss, ist, dass er ein Mensch ist. Nun wissen wir über Menschen, dass ihr Körper üblicherweise aus vielen Billionen Zellen besteht. Wir sind daher berechtigt dazu, Shakespeares Tragödie auf jede erdenkliche Weise zu interpretieren, die mit der Tatsache kompatibel ist, dass Macbeth nicht ein unbestimmter Gegenstand, sondern ein Mensch ist, der einen Körper hat. 11 Es gibt keinen Grund dafür, anzunehmen, dass Macbeth objektiv unbestimmt ist, sonst könnte das Stück nieHierzu vgl. die jüngste Verteidigung einer narrativen Ontologie des Selbst bei Hutter (2017). 11 Dieser Aspekt meiner Ontologie fiktionaler Gegenstände ist von Kablitz (2012) beeinflusst. Mehr hierzu bei Gabriel (2016b). 10

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Replik auf Benoist

mals aufgeführt werden. Die Tatsache, dass Macbeth von einem Schauspieler dargestellt wird, löst gewöhnlich das Problem der Unbestimmtheit gerade durch die Anwesenheit des Schauspielers auf der Bühne. Einer der vielen Unterschiede zwischen mir und Macbeth ist aber, dass meine physischen Eigenschaften nicht je nach legitimer Interpretation variieren. Es gibt nur eine bestimmte Menge von Tatsachen, die auf meinen Körper zutreffen und die sich nicht je nach zulässiger Variation der Einbildungskraft verändern. Geist hat Teil am Bereich des Fiktionalen. Als menschliche Akteure sind einige unserer formalen Bestandteile fiktional. Ein Tänzer, ein Ehemann, ein Reisender, ein freundlicher Kunde oder ein Gourmet zu sein, hängt wesentlich von einer Interpretation ab. Daher gibt es auch eine Geschichte des Tanzes, der Ehe, des Tourismus, der Gastronomie usw. Diese Geschichte besteht aus einer Reihe von Interpretationen, die je nach Zeit und Ort als zulässig gegolten haben. Das Fiktionale steht daher nicht im Gegensatz zum Wirklichen oder zum Existierenden. Eher ist es Teil von dem, was es gibt. Das fiktionale Sinnfeld (das außerdem nicht in einer Art von Sinnfeld vereinigt ist, aber dies zu erläutern, führte hier zu weit…) ist so wirklich wie das Universum.

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IV. Replik auf Kern

Kern hinterfragt eine basale Struktur, die im Zentrum des begrifflichen Aufbaus meiner Position steht. Dazu formuliert sie ein Dilemma, das ich das anthropologische Dilemma nenne. Sie skizziert daraufhin eine Position, die sie »Aristotelismus« nennt und argumentiert, dass diese Position nicht in das anthropologische Dilemma gerät. Diese Probleme werde ich im Folgenden durchgehen. Die Motivationsstruktur für das vermeintliche Dilemma, auf das Kern hinweist, beruht auf einer Reihe von Annahmen, von denen ich viele nicht teile. Sie behauptet etwa, »man kann sein Leben nicht gemäß des Begriffs eines menschlichen Wesens leben, ohne den Menschen als eine Art von Tier zu denken« (S. 111). Doch wie genau soll man an so einer überraschenden Behauptung festhalten? Die Behauptung ist überraschend, weil sie als die empirische Tatsache präsentiert wird, dass jemand nicht über den Begriff des Menschen verfügen kann, ohne sich selbst als Tier vorzustellen. Man muss hier nicht in tiefgreifende paläoanthropologische oder ethnologische Forschung über solche Fragen eingehen, denn es sollte klar sein, dass es überhaupt nicht schwierig ist, sich Menschen vorzustellen, die über einen Begriff ihrer selbst verfügen, ohne sich dabei den Menschen als ein Tier vorzustellen. Es genügt schon, auf hartgesottene religiöse Fundamentalisten unterschiedlichster Couleur hinzuweisen, die sich selbst durch die Verneinung des Darwinismus definieren. Viele Christen glauben zum Beispiel, dass Menschen keine Tiere im Sinne Darwins sind. Unabhängig von den biologischen Tatsachen über die menschliche Spezies sollte es klar sein, dass es eine natürliche Tatsache darüber gibt, ob wir Tiere sind oder nicht. Was es ist, ein Tier zu sein, besteht dann in genau dieser Tatsache. Mit 152 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Kern

anderen Worten haben wir als Tier wirklich eine Essenz, eine Essenz, auf die wir durch diejenige biologische Terminologie Bezug nehmen können, die auf die geeignete natürliche Art referiert. Nehmen wir einmal an, die gegenwärtige Biologie sucht diese Essenz in der Terminologie ihrer ontologischen Verpflichtung auf die Proteinsynthese, die RNA, DNA, Zellen usw. auszudrücken. Kern will dies sicher nicht leugnen, da sie auch die DNA ihrem Aristotelischen Begriff einer Lebensform zuordnet. In verschiedenen Auffassungen der Semantik der natürlichen Arten haben unsere Vorfahren und Zeitgenossen, die über diese Tatsachen nichts wussten oder sie leugnen, dennoch auf ein Arrangement natürlicher Arten referiert, wenn sie den Begriff »Tier« verwendeten. Sie widersprechen uns nur in der Frage, ob sie selbst Tiere sind. Daher müssen sie sich eine normative Untersuchung von der anderen Seite der Debatte hinsichtlich der Frage, ob wir Tiere sind, gefallen lassen. Es besteht viel Raum für Positionen, die akzeptieren, dass Menschen eine tierische Seite haben, dass aber der Mensch nicht schlichtweg ein Tier ist. Es genügt hier, auf dreiste Formen von ontischem Dualismus hinzuweisen, nach dem Menschen einen tierischen und einen nicht-tierischen Teil (wie z. B. eine unsterbliche Seele) besitzen. Diejenigen, die sich selbst nicht auf richtige Weise (welche auch immer die richtige ist) als Tiere vorstellen, machen einen Fehler. Dieser Fehler kann vielfältige Formen annehmen. Der Neo-Existentialismus behauptet dahingehend nur, dass jeder derartige Fehler nicht einfach ein Irrtum über eine natürliche Art ist, sondern auch ein Irrtum über uns selbst, der ernsthafte Rückwirkungen auf unser Selbstverständnis als Menschen haben wird. Daher sehe ich keinen Grund dafür, warum es unmöglich sein sollte, sein Leben im Lichte eines Begriffs des Menschen zu leben und dabei die Tatsache zu leugnen (oder von ihr nicht zu wissen), dass man als Mensch eine bestimmte Art von Tier ist. Gewissermaßen gewährt der Neo-Existentialismus solchen Optionen ausdrücklich einen gewissen Spielraum, ohne dabei 153 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Kern

zu leugnen, dass jeder Mensch ein Tier ist. Dass ein Mensch ein Tier ist, heißt nicht, dass er mit einem Tier identisch ist. Als Mensch bin ich unter anderem ein Tier. Die Bedeutung des Begriffs »Tier« wird von den Naturwissenschaften festgelegt. Im Vorbeigehen sei bemerkt, dass Aristoteles dem meiner Meinung nach zustimmen würde und dass er seinen Begriff von Tierheit angesichts des empirischen Wissens revidieren würde, das ihm damals nur nicht zur Verfügung stand. Wüsste Aristoteles, was wir wissen, hätte er seine Ansichten über Tiere geändert. Kern liegt richtig damit, dass ich in Schwierigkeiten gerate, »die sich beim Versuch zeigen, zu verstehen, wie ein Wesen denken kann, dass ein menschliches Wesen ein Tier ist« (S. 104). Das liegt aber daran, dass ich nicht glaube, dass der Mensch ein Tier ist. Ein Mensch – d. h. ein einzelner Mensch – ist ein Fall von Geist. Dennoch gibt es notwendige natürliche Realisationsbedingungen für die Instanziierung des Begriffs des Menschen. Jeder Mensch ist notwendig verkörpert. Unsere Verkörperung ist eine Bedingung unseres mentalen Lebens. Mentale Ereignisse haben natürliche und nicht-natürliche Bestandteile. Die Ganzheit eines mentalen Ereignisses ist jedoch nicht natürlich. Die Ganzheit des Menschen hat die Form des Geistes. Aber Geist kann nicht existieren, ohne dazu auf natürliche Ressourcen zurückzugreifen. Dies bedeutet offensichtlich nicht, dass jeder Mensch weiß, dass sein Bewusstsein auf dafür notwendigen natürlichen Ressourcen beruht. Noch offensichtlicher ist, dass kein Mensch gegenwärtig weiß, wo genau in seinem Leben die Grenze zwischen Natürlichem und Geistigem zu verorten ist. Was wir aus der begrifflichen Struktur des Neo-Existentialismus wissen können, ist, dass die synchrone und diachrone Divergenz unserer mentalistischen Idiolekte nicht auf natürliche Veränderungen zurückzuführen ist. Dies erlaubt es mir, den Gedanken aufzunehmen, dass unsere Tierheit »eine spezifische Manifestation von Geist« (ebd.) ist in folgendem Sinne: wie wir unsere Verkörperung in unsere Selbstportraits als Menschen aufnehmen, ist selbst nicht natürlich, sondern geistig. Im Allgemeinen ist Geist 154 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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die Fähigkeit, zwischen dem Menschlichen und dem NichtMenschlichen zu unterscheiden. Im Einzelnen aktualisiert sich Geist als eine bestimmte Auffassung dieses Unterschieds. Diese Auffassungen beruhen auf Empirischem, auf existenziellen Erfahrungen wie derjenigen, ein Kind zu gebären, zu leben, zu leiden, auf der Erfahrung von Gesundheit, Glück und Tod. Die vollständige Reichweite menschlicher Erfahrungen, wie sie in unseren vielfältigen ästhetischen, religiösen, wissenschaftlichen, philosophischen usw. Ausdrucksweisen artikuliert ist, ist eine Manifestation von Geist. Geist hat notwendigerweise tierische Anteile unabhängig davon, zu welchem Grad Menschen sich dessen vollständig und adäquat bewusst sind. Da Kern hinsichtlich der Frage, ob es Menschen geben könnte, die ihr Leben im Lichte einer solchen Vorstellung des Menschen leben, in der Animalität keine Rolle spielt, nicht mit mir übereinstimmt, formuliert sie das folgende Problem: Dies legt nahe, dass Gabriel zufolge die Tatsache, dass ein menschliches Wesen eine Art von Tier ist, eine »naturwissenschaftlich etablierte Tatsache« ist, die wir Menschen zufälligerweise herausgefunden haben. Wenn wir Menschen jedoch nicht auf wissenschaftlichem Wege herausgefunden hätten, dass das menschliche Wesen eine Art von Tier ist, dann hätte es niemals ein Lebewesen gegeben, das einen Begriff des menschlichen Wesens hat, unter dem es sein Leben ordnen kann, und folglich hätte es überhaupt gar nicht erst ein menschliches Wesen gegeben. (S. 111)

Dieses Problem stellt sich nur dann, wenn man annimmt – mit Kern, aber im Gegensatz zum Neo-Existentialismus – dass Menschen sich selbst wesentlich als Tiere vorstellen. Der Neo-Existentialismus hat aber den Raum, genau dies zu leugnen. Der Neo-Existentialismus kann sich dabei sowohl auf empirische Tatsachen, die unseren Wissenserwerb über unsere Animalität betreffen, als auch auf ethnologische Tatsachen berufen. Diese ethnologischen Tatsachen zeigen, dass es Menschen gibt und gegeben hat, die ihr Leben explizit nach einer Vorstellung des Menschen leben, die den Begriff der Animalität aus dem Portfolio ihres Selbstbewusstseins als Menschen 155 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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ausschließt. Dabei könnten sie falsch liegen (was ich glaube). Dennoch sind sie Menschen. Daraus folgt für diese Menschen ein existentielles Problem, denn ihr Irrglaube über sich selbst beeinflusst den Wesenskern ihres Daseins, da sie den Begriff von sich täuschenden Menschen instanziieren. Menschen befinden sich hinsichtlich ihrer selbst in einer falliblen Position, auch hinsichtlich ihrer tierischen Anteile. Es hätte also sehr wohl passieren können, dass wir, »aus welchen Gründen auch immer, diese Tatsache« unserer eigenen Animalität »auf wissenschaftlichem Wege nicht herausgefunden hätten.« (S. 111) In diesem Zusammenhang ist es wichtig, uns an die weitergehende Tatsache zu erinnern, dass es eine ganze Menge verschiedener Vorstellungen von unserer Animalität gibt. Als im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert moderne Vorstellungen aufgekommen sind, gab es – und gibt es immer noch – bedeutende Meinungsverschiedenheiten zwischen Positionen wie denen von Marx und Engels, Darwin, Nietzsche und gegenwärtigen Auffassungen wie denen z. B. der evolutionären Psychologie, der Kognitionsforschung, der Psychoanalyse, der Verhaltensökonomie usw. Geht es um Animalität, verweise ich gerne auf die Expertise der Lebenswissenschaften – nicht weil sie immer begrifflich besonders klar wäre. Begriffliche Klarheit fehlt oft genau da, wo es auf philosophische Interpretationen naturwissenschaftlicher Implikationen für den Begriff des Geistes ankommt. Wir sollten gut etablierte naturwissenschaftliche Tatsachen über unsere Animalität einfach deswegen akzeptieren, weil sie uns etwas über die sich wandelnde Grenze zwischen den tierischen und nicht-tierischen Teilen des Geistes verraten können. Wir wissen zum Beispiel, dass menschliches Verhalten oft durch nicht-bewusste biochemische Ereignisse hervorgerufen wird, für die ein Akteur nicht verantwortlich zu machen ist. Aber unser gegenwärtiges Wissen ist weit davon entfernt, auf dieser Basis eine reduktionistische Verallgemeinerung zu rechtfertigen (Gabriel 2016d: Kap. 5). Dennoch führt das, was wir über den menschlichen Körper herausfinden, zu einer Neuverhandlung der begrifflichen 156 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Nicht-Natürlichen. Die Anerkennung dieser neuen Grenzen ist nicht notwendig. Wenn man mit einem begrifflichen Wandel auf der Ebene des Geistes konfrontiert wird, sind viele Reaktionen denkbar. Wir können nicht vorhersagen, wie genau Menschen die Neuigkeiten aufnehmen. Man denke hier nur einmal daran, wie lange das deutsche Rechtssystem gebraucht hat, um endlich die biologische Tatsache anzuerkennen, dass Menschentiere nicht mit zwei Geschlechtern geboren werden, die sich in einer genau bestimmbaren Form männlicher oder weiblicher Körper zeigen. Bis zum Jahr 2017 wurden Babys, die in Deutschland geboren sind, regelmäßig verstümmelt, weil manche Naturtatsachen auf der Ebene des Geistes nicht anerkannt wurden. Hierzu gehören auch all die weiteren Probleme von Rasse, Gender, Körperform, Gesundheit, Krankheit usw., die gegenwärtig in sozio-politischer Realität und soziopolitischem Diskurs zur Debatte stehen. Nichts davon kann a priori geklärt werden. Wir müssen »die naturwissenschaftlich etablierte Faktenlage« anerkennen und herausfinden, wie man diese in unser Selbstportrait als Menschen einbringen soll. Der Neo-Existentialismus verurteilt diejenigen, die sich nicht den progressiven Kräften unterstellen, welche die Grenzen im Lichte des wissenschaftlichen Fortschritts der Moderne neu verhandeln. Er verurteilt sie deswegen, weil sie absichtlich auf der Ebene des Menschseins im Irrtum verbleiben. Der NeoExistentialismus ist eine moderne Einstellung. Dennoch lässt er Raum auch für seine eigene Fallibilität. Sollte sich zeigen, dass die modernen Wissenschaften Fehler gemacht haben, die relevante Auswirkungen auf den Geist haben und schon in ihm enthalten waren, hätten wir allen Grund, diese Irrtümer aus unserem Selbstportrait wieder zu entfernen. Dies trifft meiner Ansicht nach auf den Neurozentrismus zu, wie ich eine gewisse Ideologie nenne, deren Einstellung in dem Gedanken ausgedrückt wird, wir hätten keinen freien Willen, weil unsere tierische Bedingtheit inkompatibel mit dem Besitz einer so außergewöhnlichen Kraft sein soll (Gabriel 2016d). Kern konzipiert eine andere subtile Version des anthro157 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

Replik auf Kern

pologischen Dilemmas. Sie präsentiert ein Argument, das auf ihrer Rekonstruktion der Prämissen meiner Position beruht, um die Konklusion zu stützen: »Die Tatsache, dass ein menschliches Wesen ›zu einer gewissen Tierart‹ gehört, kann folglich weder eine natürliche, noch eine begriffsabhängige Tatsache« (S. 112) in meinem vorgeschlagenen Sinne sein. Hier ist meine Rekonstruktion ihres Argumentes auf der Grundlage von S. 110–113. P1 Der Gedanke, dass ein menschliches Wesen »zu einer gewissen Tierart gehört«, kann dem Menschen nicht auf empirischer Grundlage zugänglich sein, z. B. indem er von den Wissenschaften herausgefunden wird. P2 Alle mentale Aktivität ist bestimmt von der menschlichen Fähigkeit, den Menschen vom Nicht-Menschlichen zu unterscheiden. P3 Es ist logisch unmöglich, die in P2 konstatierte Tatsache (empirisch?) herauszufinden. 12 P4 Die in P2 konstatierte Tatsache ist begriffsabhängig. Das bedeutet, dass die Tatsache, dass ein Mensch »zu einer gewissen Tierart gehört«, die einen Platz in der Naturordnung hat, nicht selbst eine Tatsache aus der Naturordnung ist, sondern vom Begriff davon abhängt, was ein menschliches Wesen ist. P5 Die in P2 konstatierte Tatsache kann nicht begriffsabhängig sein, da die Existenz menschlicher Wesen in der Auffassung davon, was begriffsabhängig ist, schon vorausgesetzt ist. K Die Tatsache, dass ein Mensch »zu einer gewissen Tierart gehört«, kann weder eine natürliche Tatsache noch eine begriffsabhängige Tatsache in Gabriels Sinne sein. Dieses Argument kann sich nicht berechtigterweise darauf berufen, auf einer Ansammlung von Prämissen aus meiner AufSo lese ich den kataphorischen Bezug von »diese Tatsache« in Kerns Text.

12

158 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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fassung des Menschen zu beruhen. In dieser Rekonstruktion gibt es viele Details, mit denen ich nicht übereinstimme. Offensichtlich leugne ich P1. Die einzige berechtigte Frage ist, ob die Akzeptanz der anderen Prämissen mich letztlich doch auf P1 verpflichtet. Etwa der folgende Gedankengang könnte mich dazu motivieren, eine bestimmte Version von P2 zu akzeptieren. Mein Neo-Existentialismus beginnt mit einer zweistufigen anthropologischen Prämisse. Diese Prämisse beinhaltet (1), dass es weitreichende synchrone und diachrone Variationen in unseren mentalistischen Idiolekten gibt und (2), dass diese Variationen eine gemeinsame invariante Grundlage voraussetzen. Die gemeinsame Invariante der menschlichen mentalen Aktivität ist unser Vermögen, die Tatsache verständlich zu machen, dass wir nicht einfach zur unbelebten Natur passen. Unsere tiefe historische Vergangenheit wird, soviel wir wissen, von mythologischen und religiösen Instanzen einer solchen Auffassung bestimmt. Diese Auffassungen sind nicht empirisch im Sinne von Versuchen, natürliche Ereignisse zu erklären, die zum Universum gehören. Das Argument hierfür basiert auf meiner Version der von mir so genannten »Lücke«. Nach dieser Version trennt die Lücke natürliche Arten vom Menschen dadurch, dass der Mensch sich im Lichte seiner Überzeugungen über den Menschen verändert. Aus diesem Gedankengang ziehe ich nicht die Schlussfolgerung, dass der Mensch zu einer Tierart gehört, die Teil der Naturordnung ist. Zur Wiederholung: Ich erfasse die Relation zwischen unserer Animalität und dem Menschen in der Terminologie einer Struktur von notwendigen und zusammengenommen hinreichenden Bedingungen. Unsere Animalität ist notwendige Bedingung einer Ganzheit (Geist), die nicht auf natürliche Bedingungen reduziert werden kann. Animalität ist nicht hinreichend für das Menschsein. Das bedeutet, dass es keine spezifisch menschliche Animalität gibt. Als Tiere gehören wir tatsächlich zum Rest des Tierreichs, unabhängig davon, ob wir dies auf der Ebene des Menschseins akzeptieren oder nicht. Als Menschen können wir uns über unseren Platz 159 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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in der Natur täuschen, was wiederum eine begriffsabhängige Tatsache ist. Die in P2 ausgedrückte Tatsache ist daher begriffsabhängig. Der Naturalist und der antinaturalistische Neo-Existentialist widersprechen einander, was das menschliche Bewusstsein angeht. Der antinaturalistische Neo-Existentialist behauptet, dass es kein spezifisch menschliches mentales Ereignis gibt, das auf seine natürlichen Bedingungen reduziert werden kann. Der Naturalist widerspricht. Der Neo-Existentialist glaubt, dass sich der Naturalist nicht einfach im Irrtum über eine natürliche Art befindet, sondern sich auf verschiedenste Weise täuscht. Daher behandelt der Neo-Existentialist den Naturalismus als eine Ideologie und nicht als eine empirische oder metaphysische These über das Universum. Der Naturalismus ist nicht nur falsch; er ist eine pathologische Form von Selbsttäuschung. Unabhängig von den Details von Kerns Argument und von meiner Ablehnung einiger seiner Prämissen sowie seiner Motivationslage, könnte es nützlich sein, meine Haltung gegenüber der Konklusion explizit zu machen. Ist die Tatsache, dass ein Mensch »zu einer gewissen Tierart gehört«, eine Naturtatsache oder begriffsabhängig in meinem Sinne? Oder, um es auf eine Weise zu formulieren, die meiner Position näherkommt: Wie können wir die Tatsache, dass wir einer bestimmten Tierart angehören, in unsere Selbstbeschreibung als menschliche Wesen integrieren? Freilich können wir die natürlichen Bedingungen der menschlichen Existenz in der Terminologie der Evolutionsbiologie erfassen. Wir sind mit einer gewissen biologischen Ausstattung versehen, ohne die wir kein Erfahrungswissen über das Universum erlangen könnten. Unsere Körper sind Selektionsfunktionen, deren Programme in biologischem Code geschrieben sind. Grob gesagt bin ich angesichts unserer Animalität ein froher Naturalist. Das Menschentier ist in dem Ausmaß, in dem es Untersuchungsgegenstand der Biologie und der Medizin ist, ein komplexes Arrangement natürlicher Arten, ein Kausalnetz. 13 13

Eine interessante nicht-reduktionistische Auffassung eines mit dem

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Gleichzeitig gibt es eine andere Intelligibilitätsdimension, in der unsere Körper erscheinen: das Sinnfeld des Menschen. Hier tritt meine ontologische Hintergrundtheorie, die Sinnfeldontologie, auf den Plan. Das Universum (oder die Natur) ist nicht alles, was es gibt. Wir hinterlassen Spuren im Universum, die vom Standpunkt der Naturwissenschaften unsichtbar sind, wenn sie Wissen geistiger Form außer Acht lassen. Doch ist auch dieser Gedankengang nicht immun gegen empirische Revisionen. Die Schnittmenge des als »das Universum« betitelten Sinnfeldes mit dem des »Geistes« ist keine von oben herab geregelte Sache, sondern ein Hybrid aus verschiedensten Konditionen, die auf kontingente Weise interagieren. Kehren wir zu meinem bevorzugten Fahrradbeispiel zurück. Wenn ich mit dem Fahrrad nach Koblenz fahre, kann man beobachten, was währenddessen im Universum passiert. Dies schließt Wissen über den Druck in meinen Reifen, die Schwerkraft, elektrische Ladungen in Neuronen, Radiationsmuster auf meiner Netzhaut, alle anderen Kräfte der Universum und vieles weitere mit ein, was auf Skalen jenseits unseres gegenwärtigen physikalischen Wissens vor sich geht. Aber keine Ansammlung solcher Fakten über das Arrangement natürlicher Arten wird in dieser Situation eine vollständige Beschreibung davon liefern können, was vor sich geht, wenn ich mit meinem Fahrrad nach Koblenz fahre. Zum einen beinhaltet die Stadt Koblenz rechtliche Begriffe, eine Geschichte, eine vage Bezeichnung seiner Stadtgrenzen, romantische Träumereien über den Rhein usw. Mein Wunsch, nach Koblenz zu fahren, hat etwa mit meiner Bevorzugung des Rheintals zu tun, was darauf zurückzuführen ist, dass ich dort aufgewachsen bin. Es schließt meine Fähigkeit mit ein, Fahrrad zu fahren und meine Kenntnis des Wegs nach Koblenz entlang des Flussufers. Es ist unmöglich, allein auf der Basis von Wissen über das Universum zu erkennen, dass ich mit dem Fahrrad nach

Bewusstsein korrelierten Kausalnetzes findet man bei Tononi und Koch (2015).

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Koblenz fahre. Darum ist der Neo-Existentialismus antinaturalistisch. Im Kern dieses Antinaturalismus liegt eine Version einer Unhintergehbarkeitsthese: Unser nicht-naturalistisches Wissen über den Mensch ist unhintergehbarer Ausgangspunkt für jede Untersuchung der Zusammensetzung des Universums (Gabriel 2016d). Wir können den Menschen nicht aus einer Auffassung davon, was es gibt, eliminieren. Dies allein hat offenkundig keine metaphysischen anthropischen Konsequenzen, weil das Universum schlichtweg der Gegenstandsbereich ist, der den Menschen nicht enthalten kann. Wir hinterlassen Spuren im Universum, die nur vom Standpunkt eines Menschen aus sichtbar sind und anderweitig unsichtbar bleiben. Ich möchte meine Antwort auf Kern mit einigen Anmerkungen zum Aristotelismus abschließen, da sie ihn in die Debatte einbringt. Zunächst einmal leugne ich die Identitätsbehauptung, was sowohl aus meinem Kapitel als auch aus dem Grundriss dieser Antwort klar hervorgehen sollte. Es stimmt nicht, dass der Mensch nichts anderes ist als eine bestimmte Tierart. Kern stellt die Identitätsbehauptung dar als »die Ablehnung einer weitverbreiteten Art und Weise, über den Menschen nachzudenken: die Idee, dass es möglich sei, den Menschen als Tier zu denken, welches zusätzlich dazu, dass es ein Tier ist, noch weitere Vermögen besitzt, wie etwa den Intellekt oder das Vermögen, sich einen Begriff von sich selbst zu machen. Diese Idee liegt, so meine ich, auch Gabriels Auffassung zugrunde.« (S. 114) Leider führt sie in ihrem Kommentar nicht aus, was sie für den grundsätzlichen Fehler in so einer additiven Vorstellung hält, und es ist mir nicht klar, wo man möglicherweise einen substantiellen Konfliktpunkt zwischen dem Neo-Existentialisten und dem Aristoteliker verorten könnte. In einer bestimmten Interpretation ist der Neo-Existentialist letztlich auch ein Aristoteliker. Was ich mir darunter vorstelle ist Folgendes: Wenn wir das aus tierischen und geistigen Teilen bestehende Ganze die menschliche Lebensform nennen, können alle Dialogparteien Kerns Sichtweise zustimmen, dass »menschliches Leben […] nicht tierisches Leben [ist]. Mensch162 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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liches Leben unterscheidet sich von tierischem Leben dadurch, dass es vernünftig ist. Und genauso, wie es verkehrt wäre, tierisches Leben als vegetatives Leben plus einige zusätzliche Vermögen, die dieser Lebensform hinzugefügt werden, zu denken, wäre es ebenso verkehrt, vernünftiges Leben als tierisches Leben plus einige zusätzliche Vermögen, die diesem Lebensform hinzugefügt wurden, zu denken.« (S. 117 f.) Aber dies führt nicht zu einem substantiellen Problem für den anti-naturalistischen Neo-Existentialisten, solange Kern nicht zeigt, dass »menschliches Leben« in ihrem Sinne eine natürliche Art in meinem Sinne ist. Denn dann würde sie aus der Sicht des Neo-Existentialismus am Rande der Befürwortung einer naturalistischen Position stehen, was bedeuten würde, dass der neo-existentialistische Anspruch, eine anti-naturalistische Position zu sein, nicht vollständig berechtigt wäre. Im Allgemeinen ist meine bevorzugte Variante des »Körper-Bewusstseins-Problems«, dass Bewusstsein und Körper nicht auf die üblicherweise vorgebrachte Weise miteinander in Beziehung stehen (Identität irgendeiner Art, Substanzdualismus, Supervenienz, Grounding usw.). Das Modell für ihre Beziehung, das ich vorschlage, kann man als Konditionalismus bezeichnen. Der Konditionalismus ist die Position, dass jedes Ereignis, das als eine Ausübung der menschlichen Vermögen gilt, sich selbst im Lichte eines Begriffs des Menschen zu verstehen, sowohl mentale als auch nicht-mentale Bedingungen involviert. Die nicht-mentalen, natürlichen Prozesse, die Teil des menschlichen Lebens sind, sind keine unabhängigen Schichten, sondern Elemente eines Sinnfelds, das dem naturwissenschaftlichen Wissenserwerb über natürliche Arten offensteht. Daher sind die geistigen Dimensionen unseres Lebens nicht einfach eine Hinzufügung zur nicht-mentalen Wirklichkeit. Sie sind selbst eine Art von Wirklichkeit derart, dass Elemente der nicht-mentalen Wirklichkeit (aber nicht das All der nicht-mentalen Wirklichkeit) Teil von ihnen sind. Geist ist eine Ganzheit, die im Fall des Menschen einen Körper zu seinem Teil hat. Zusammengefasst bin ich nicht davon überzeugt, dass mei163 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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ne Position wirklich »durch das Dilemma bedroht [wird], demzufolge ein menschliches Wesen sich seiner selbst als menschliches Wesen nur dann bewusst sein kann, wenn es bestreitet, dass ein menschliches Wesen, in welchem Sinn auch immer, ein Tier ist. Wenn ein menschliches Wesen sich jedoch umgekehrt als eine Art von Tier denkt, dann ist dasjenige, was diesen Gedanken denkt, unfähig, jemals zu wissen, dass es ein menschliches Wesen ist.« (S. 119) Es stimmt nicht, dass ein Mensch sich nicht für eine Art von Tier halten kann. Wenn ich mich selbst für eine Art von Tier halte, stelle ich mir meinen Körper als ein Arrangement natürlicher Arten vor, die am besten von den Naturwissenschaften verstanden werden. Die Biologie weiß besser, was ein Tier wirklich ist, als jedes Räsonieren über die menschliche Lebensform, die im Lehnstuhl stattfindet. Was ich sagen wollte, ist, dass der Mensch keine Art von Tier ist, sondern eine Instanz von Geist, wobei »Geist« nicht auf eine natürliche Art verweist und daher ein Ganzes ist, das nicht vollständig naturwissenschaftlicher Forschung unterzogen werden kann. Es stimmt ebenfalls nicht, dass ein Wesen, das sich selbst für eine Art von Tier hält, »unfähig [ist], jemals zu wissen, dass es ein menschliches Wesen ist.« Was ich sagen wollte, ist, dass jemand, der sich selbst für eine Art von Tier hält und dabei »Tier« im Sinne der modernen Naturwissenschaften meint, einen Irrtum auf existentieller Ebene begeht. Er irrt sich nicht bloß über eine natürliche Art, sondern über sich selbst, da er über sich in einer Terminologie nachdenkt, die dazu dient, auf natürliche Arten zu verweisen. Es gibt verschiedene Grade von Täuschung, die sich daraus ergeben. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass Kerns Aristoteliker sich selbst für ein Tier im Sinne eines gänzlich biochemischen autopoietischen emergenten Ganzen hält, oder für etwas, das genauer dem Begriff des Lebens entspricht, der dem aktuellen Wissensstand und Geist der Biologie entspricht. 14 Viel eher würde ein Aristoteliker einen Begriff des menschlichen Lebens 14

Für eine Übersicht über die gegenwärtigen naturwissenschaftlichen

164 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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einführen, der es schwer machen würde, den Menschen als ein Tier anzusehen. Schließlich könnten der Anti-Naturalist und der Aristoteliker hinsichtlich der menschlichen Animalität miteinander übereinstimmen, sobald die Bedeutung von »Tier« im Rahmen des semantischen Rahmens festgelegt wurde, den ich in meiner Auffassung »wissenschaftlich etablierter Tatsachen« angenommen habe. Es scheint mir, dass Kerns Begriff des menschlichen Lebens mit dem Gedanken inkompatibel ist, dass unsere Animalität am besten von den gegenwärtigen Lebenswissenschaften beschrieben wird. Sie könnte mir zustimmen, dass Menschen über sich selbst nachdenken können, ohne ihre Menschlichkeit in der Terminologie der (vermeintlichen) Tatsache erfassen zu müssen, dass wir eine bestimmte Art von Tier sind. Denn dies ist genau das, was Kern unter der Überschrift des Aristotelismus vorschlägt.

Entwicklungen nicht-mechanistischer Auffassungen des Lebens siehe Capra und Luisi (2017).

165 https://doi.org/10.5771/9783495823248 .

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