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German Pages 251 [252] Year 2017
Tabea Strohschneider Natur und höfische Ordnung in Sir Philip Sidneys „Old Arcadia“
Tabea Strohschneider
Natur und höfische Ordnung in Sir Philip Sidneys „Old Arcadia“
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Diese Arbeit wurde 2016 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-11-055936-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056229-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055952-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Thomas Cole, Dream of Arcadia, oil paint on canvas, about 1838; 38.625 x 62.75 in. Denver Art Museum Collection: Gift of Mrs. Lindsey Gentry, 1954.71; Photography courtesy of Denver Art Museum. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort . .
VII
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Einleitung 1 Arkadien als politischer Ordnungsentwurf 1 Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe – Einige Leitbegriffe der 3 Textinterpretation Naturkonzepte 9 Natur und arkadische Ordnung – ein Inhaltsüberblick 11 13 Philip Sidney und die Arcadia – ein Forschungsüberblick
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Natur als Schauplatz 18 21 Der arkadische Wald Der Wald als Lebensraum 24 Der Wald als Handlungsraum 30 Natur als Kunstwerk und Gefahrenzone Der Umgang des Menschen mit der Natur Bäume, die es zu bewahren gilt 52 59 Tiere, die es zu bewahren gilt
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Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung Göttliche Providenz 72 72 Das delphische Orakel Pagane und christliche Providenz 81 Fortuna 100 Natur als Ordnungsinstanz in Arkadien 115
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Menschennatur und politische Ordnung „Bodies that matter“ 125 Der Körper des Herrschers 125 Körper und Geschlecht 132 Die Macht der Affekte 150
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Natur und Recht 165 Naturrecht und Widerstandslehre 165 Die Rebellion der Phagonier 171 „Ister Bank“ 174 Positives Recht und Naturrecht 181
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125
71
VI
Inhalt
Ausblick – Natur und die New Arcadia
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Literaturverzeichnis Abkürzungen 220 Quellen 220 Forschungsliteratur
Namenregister
239
220
224
203
Vorwort Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen der DFG-Forschergruppe 1986 „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ im Teilprojekt „Natur und Gesetz in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit: Shakespeare, Milton und Sidney“ entstand und im Wintersemester 2016/17 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Dank gebührt an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Andreas Höfele, der mir eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle in dem von ihm geleiteten Teilprojekt anbot und mich bei meinem Forschungsvorhaben von Anfang an aktiv unterstütze und förderte. Weiterhin möchte ich meinem Zweitgutachter PD Enno Ruge für seine hilfreichen Korrekturen und Anmerkungen danken sowie allen Mitgliedern der Forschergruppe „Natur“. Ohne den interdisziplinären Austausch mit den ‚Naturfreunden‘ wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Dank geht besonders an meinen Projektkollegen Dr. Björn Quiring, an Prof. Beate Kellner sowie an Prof. Susanne Lepsius, Prof. Friedrich Vollhardt und Prof. Michael Waltenberger, die mich an ihren Oberseminaren haben teilnehmen lassen und von deren Expertise in den Themenfeldern Naturrecht und Tierepik ich sehr profitieren konnte. Sehr herzlich danke ich auch Dr. Oliver Bach für seine gründlichen Korrekturen und seinen Beistand. Meinen Bürokollegen, Rebecca Faber und Bastian Kuhl, danke ich sowohl für ihre fachliche Unterstützung als auch dafür, dass sie das Büro zu einem heiteren und angenehmen Ort des Arbeitens gemacht haben, an dem ich gerne Zeit verbrachte. Ferner möchte ich Dr. Bettina Boecker, Dr. Daniella Jancsó, Dr. Gabriela Schmidt, Dr. Renate Schruff, Dr. Pia Selmayr, Fabian Prechtl, Anna Katharina Lauber, Sophia Schmitt, Lisa Schmitt und Eva Hajek für ihre Unterstützung und Hilfe danken. Prof. Klaus Garber bin ich sehr dankbar für seine Ermutigungen und seine Begeisterung über mein Forschungsvorhaben. Meine Eltern, Daniele und Peter, gaben mir schon früh ihre Liebe für Literatur mit auf den Weg, stärkten mir von Kindheit an den Rücken und haben immer an mich geglaubt. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Zudem wäre diese Arbeit ohne ihre Korrekturen, Hinweise und Literaturempfehlungen kaum möglich gewesen. Meinem großen Bruder Moritz danke ich für seine Ruhe und Gelassenheit und für sein Wissen über Augustinus und Raumtheorie(‐en), das er mit mir teilte. Dank geht ebenso an meinen kleinen Bruder Cornelius für seine ironische Distanz, die die Probleme und Aufregungen der Promotionszeit immer wieder in das rechte Licht rückte, und für Ablenkung, wann immer ich danach fragte. Ohne die Liebe, Unterstützung, Gelassenheit und Geduld von Fabian hätte ich diese Arbeit
VIII
Vorwort
nicht schreiben können. Ich danke ihm von Herzen. Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet. München im Juli 2017
Tabea Strohschneider
1 Einleitung 1.1 Arkadien als politischer Ordnungsentwurf In der Defence of Poesy (ca. 1580) legt Philip Sidney dar, dass einzig der Dichter dazu in der Lage sei, Dinge besser als in der Natur gegeben darzustellen oder neue Formen, wie sie nie in der Natur vorzufinden waren, zu erdichten: Nature never set forth the earth in so rich tapestry as divers poets have done, neither with so pleasant rivers, fruitful trees, sweet-smelling flowers, nor whatsoever else may make the too-much-loved earth more lovely: her world is brazen, the poets only deliver a golden.¹
Diesem locus classicus des Natur-Kunst-Dualismus zufolge hat nur der Dichter die Möglichkeit, das Goldene Zeitalter auferstehen zu lassen. Die Natur kann lediglich eine bronzene Welt schaffen. Die Idee des Goldenen Zeitalters findet sich auch im literarischen Topos von Arkadien wieder. Ebenso wie mit dem Goldenen Zeitalter ist mit Arkadien seit Beginn der arkadischen Dichtung in der Antike die Vorstellung von einem friedlichen, weltabgewandten Idyll verbunden, einem locus amoenus mit blühenden, sattgrünen Wiesen und hohen schattenspendenden Bäumen, wie er in der Defence anzitiert wird. In diesem Arkadien leben Schäfer, die ihren Tag damit verbringen, im Schatten der Bäume an einem kühlen Bach zu lagern und zu dichten und singen.² Sidney greift diese Vorstellungen von Arkadien und seinen Bewohnern in dem Titel seiner Romanze The Countess of Pembroke’s Arcadia auf. Er scheint in seinem fiktionalen Text eine goldene Schäferwelt entwerfen zu wollen, die besser ist, als die Natur es ermöglichen könnte. Und auf den ersten Blick bestätigt sich diese Annahme: Arkadien wird gleich zu Beginn der Old Arcadia als ein besonders schöner Ort vorgestellt, der von einem lobenswert friedliebenden Volk bewohnt wird: ARCADIA among all the provinces of Greece was ever had in singular reputation […] for the sweetness of the air and other natural benefits […] [and] for the moderate and well tem-
Philip Sidney: The Defence of Poesy. In: Sidney’s ‘The Defence of Poesy’ and Selected Literary Criticism. Hg. von Gavin Alexander. London [u. a.] 2004 (Penguin Classics). S. 1– 54. S. 9. Siehe hierzu etwa Bruno Snell: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 355). S. 14– 43. https://doi.org/10.1515/9783110562293-001
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1 Einleitung
pered minds of the people who […] were the only people which, as by their justice and providence gave neither cause nor hope to their neighbours to annoy them, so were they not stirred with false praise to trouble others’ quiet, thinking it a small reward for the wasting of their own lives in ravening that their posterity should long after say they had done so (S. 4, Hervorhebung im Original).³
Außerdem wird über die Arkadier berichtet, sie vertrieben sich ihre Zeit mit Sport, Dichtung und Gesang. Sie entsprechen also ganz jenem Typus von Schäferdichtern, den der literarische Topos von Arkadien etabliert: The manner of the Arcadian shepherds was, when they met together, to pass their time, either in such music as their rural education could afford them, or in exercise of their body and trying of masteries. But, of all other things, they did especially delight in eclogues (S. 50).
Unmittelbar im Anschluss heißt es aber: „[…] they would […] under hidden forms utter such matters as otherwise were not fit for their delivery“ (S. 50).Was könnten nun ‚such matters‘ sein? Wer weiterliest erfährt bald, dass es sich um politische Belange handelt, Belange, die in der Schäferwelt des klassischen Arkadiens eigentlich keinerlei Platz haben, in Sidneys Arkadien aber sehr wohl. Allerdings kann das politische Geschäft nur in versteckter Form kommentiert werden. Es scheint Zensurinstanzen zu geben, die aber nicht näher benannt werden. Dementsprechend stellt der Schäfer Philisides eindrücklich die Entstehung von Tyrannei und das Leid der Untertanen unter einer Gewaltherrschaft dar, verkleidet diese politische Erzählung aber als Tierfabel, sodass sein Schäferpublikum den Inhalt nicht versteht. Die politische Botschaft scheint hier also an die Rezipienten der Arcadia gerichtet zu sein, nicht an die Schäfer in der Arcadia. Und nicht nur in den Gedichten der Eklogen⁴ werden politische Themen aufgeworfen. Sidneys Arkadien als Ganzes ist kein schäferliches, friedliches, von der Außenwelt abgeschnittenes Idyll, sondern ein System der Macht mit politi-
Alle Angaben aus der Old Arcadia beziehen sich auf folgende Ausgabe: Philip Sidney: The Countess of Pembroke’s Arcadia (The Old Arcadia). Hg. von Katherine Duncan-Jones. Oxford [u. a.] 1985 (Oxford World’s Classics). Der Begriff ‚Ekloge‘ ist ein Polysem, da er sowohl ein einzelnes Gedicht bezeichnet als auch, wie es in der Arcadia der Fall ist, der Überbegriff für die gesamten schäferlichen Unterhaltungen sein kann. Um Missverständnissen vorzubeugen, verwende ich den Begriff ‚Ekloge‘ nicht für einzelne Gedichte, obwohl das nach Vorstellungen der Zeit die korrekte Bezeichnung wäre (vgl. etwa Sidney: Defence, S. 44 oder George Puttenham: The Art of English Poesy. In: Sidney’s ‘The Defence of Poesy’ and Selected Renaissance Literary Criticism. Hg. von Gavin Alexander. London [u. a.] 2004 [Penguin Classics]. S. 55 – 203. S. 88).
1.2 Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe – Einige Leitbegriffe der Textinterpretation
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schen Diskursen und mit einer Außenwelt.⁵ Nicht die Schäfer stehen bei Sidney im Vordergrund.Vielmehr sind die arkadische Herrscherfamilie – bestehend aus dem Herzog Basilius, der Herzogin Gynecia und den Prinzessinnen Pamela und Philoclea –⁶ sowie fremde Prinzen und Könige, namentlich Musidorus von Thessalien und Pyrocles und Euarchus von Makedonien, die zentralen Akteure. Sidney entwirft in seiner Arcadia eine politische Ordnung, und zwar genauer: eine höfische Ordnung. Diese Ordnung, so die These dieser Arbeit, greift ‚Natur‘ in ihren verschiedenen Konzeptionen in paradigmatischer Weise als Begründungsinstanz auf. Sowohl die Ordnung als solche als auch Einzelerscheinungen in ihr – etwa das Gesetz, dem die Ordnung unterliegt oder die Menschen, die in ihr leben – werden auf Natur zurückgeführt. Die Arcadia erweist so das Potential von Berufungen auf Natur in politischen Ordnungsentwürfen in vielfältiger Weise.
1.2 Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe – Einige Leitbegriffe der Textinterpretation Im Folgenden sollen zunächst die die Untersuchung leitenden Konzepte und Termini in einem ersten Zugang skizziert werden. Dieser soll im Sinne einer Begriffsheuristik die Begriffe ‚Hof‘, ‚das Politische‘, ‚die Politik‘, ‚Transzendenz‘ sowie ‚Kontingenz‘ als Interpretationsinstrumente der folgenden Textlektüre bestimmen. Meine Verwendung der Begriffe ‚Hof‘ und ‚höfische Ordnung‘ orientiert sich an der neuen Forschung zum Thema.⁷ ‚Hof‘ im hier gemeinten Sinne liegt ober Zur politischen Dimension der Arkadien-Literatur allgemein siehe auch Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. Basilius wird in der Regel duke genannt, aber auch prince. Sein Name wiederum bedeutet übersetzt ‚König‘. Die Arcadia ist nicht präzise bei der genauen Zuschreibung seines Adelstitels. Gewiss ist, dass Basilius der souveräne Herrscher Arkadiens ist. Definitionen und Vorstellungen von ‚Hof‘ finden sich mannigfach in der Forschungsliteratur verschiedener Fächer (beispielsweise in den Geschichtswissenschaften, den Philologien und der Soziologie). Eine Vorstellung verschiedener Positionen geben Reinhardt Butz und Lars-Arne Dannenberg: Überlegungen zu Theoriebildungen des Hofes. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hg. von Reinhardt Butz [u. a.]. Köln [u. a.] 2004 (Norm und Struktur 22). S. 1– 41. S. 5 f.; für grundlegende und systematische Darstellungen siehe außerdem Gert Melville: Um Welfen und Höfe. Streiflichter am Schluß einer Tagung. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hg. von Bernd Schneidmüller. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7). S. 541– 557; sowie Aloys Winterling: ‚Hof‘: Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. In: Zwischen ‚Haus‘ und ‚Staat‘. Antike Höfe im Vergleich. Hg. von Aloys Winterling. München 1997 (Historische Zeitschrift, Beihefte: Neue Folge 23). S. 11– 25.
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1 Einleitung
halb von historischen Spezifikationen von Hoftypen (etwa Herrensitz, Fürstenhof, Königshof in Antike, Mittelalter oder Frühneuzeit) und ist als Formbegriff zu verstehen, der auf ein interpretatorisch aufschlussreiches Konzept für meine literaturwissenschaftliche Analyse abzielt. Der Ausdruck ‚höfisch‘ sagt demnach aus, dass es einen Fürstenhof gibt und also einen Fürsten, denn: „Hof ist vor allem anderen ein Fürst und die multitudo der ingredientes et exeuntes, die Präsenz bei ihm such(t)en“.⁸ Das heißt also, dass der Hof – anders als der Palast oder die Residenz – nicht auf einen bestimmten Ort festgelegt ist, sondern auf eine Person zentriert ist: Der Hof ist dort, wo der Herrscher ist.⁹ Die höfische Ordnung ist eine personale Ordnung und nicht etwa eine bürokratische. Amt und Person sind nicht getrennt. Neben diesem Ordnungsmerkmal der Personalität bestimmen vier weitere Charakteristika die höfische Ordnung: Zum einen ist sie zentralistisch. Alle Akteure sind dem Fürsten zugeordnet, der als Zentrum der Ordnung zugleich deren hierarchische Spitze bildet. Die Höflinge sind ihm untergeordnet und versuchen stets, so nah wie möglich bei ihm zu sein und nicht in der Peripherie zu verharren oder in die Peripherie abgedrängt und damit degradiert zu werden. Ein weiteres Attribut ist, dass innerhalb einer höfischen Ordnung Interaktion grundlegend ist: Die höfische Kommunikation findet unter Anwesenheit der Beteiligten statt, also des Fürsten und der multitudo: „Die personalen Beziehungsgeflechte […] beruhen auf Kommunikationen unter Anwesenden in Räumen reziproker Sichtbarkeit, so dass Präsenz im Regelfall zugleich Visibilität impliziert“.¹⁰ Eine höfische Ordnung, so wie sie für die Zwecke dieser Studie bestimmt wird, ist immer eine politische Ordnung, da sie sich um einen Herrscher gruppiert. Für diese Untersuchung ist es sinnvoll, zwischen ‚dem Politischen‘ und ‚der Politik‘ zu differenzieren. Im Bereich des Politischen werden – knapp formuliert – Fragen der Macht und Herrschaft und ihrer Legitimierung, Fragen der Gesetzesgeltung und staatlichen Institutionalisierung verhandelt. Oliver Marchart entwirft einen Begriff des Politischen, der auf die Paradoxie der Unverfügbarkeit eines Fundaments des Politischen bei gleichzeitiger Notwendigkeit fundierter Begründungen ab Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014 (Germanisch-romanische Monatsschrift 55). S. 10. Die lateinischen Ausdrücke entstammen Walter Maps De Nugis Curialium (1181– 1193), siehe hierzu auch Gert Melville: Agonale Spiele in kontingenten Welten.Vorbemerkungen zu einer Theorie des mittelalterlichen Hofes als symbolische Ordnung. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hg. von Reinhardt Butz [u. a.]. Köln [u. a.] 2004 (Norm und Struktur 22). S. 179 – 202. S. 180 f. Vgl. Melville: Um Welfen und Höfe, S. 546: „Wenn Hof in seiner engsten Definition ‚Präsenz beim Herrscher‘ bedeutet, dann impliziert dies […], daß dort, wo der Herrscher ist, auch der Hof ist […] [Es] bleibt zu unterstreichen, daß ‚Hof‘ keineswegs ein architekturgeschichtlicher Begriff ist, sondern ein sozialgeschichtlicher“. Strohschneider: Textgeschichten, S. 10; vgl. auch Melville: Agonale Spiele, S. 180 f.
1.2 Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe – Einige Leitbegriffe der Textinterpretation
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zielt: „[…] der […] Begriff des Politischen der Gesellschaft [spiegelt] sowohl die Dimension ihrer eigenen Gründung als auch den Aspekt ihrer Ungründbarkeit zurück“.¹¹ Die Politik hingegen kann mit Marchart „auf Administrationsaufgaben reduziert werden“.¹² Für Marchart ist die Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen erst für die Moderne relevant,¹³ weil vormoderne Gesellschaften glauben, eine stabile Letztbegründung zu haben und damit keinen Begriff des Politischen benötigen: Eine Welt, die sich um stabile Fundamente – z. B. um eine göttlich legitimierte Feudalordnung oder um unhinterfragte Klassenhierarchien – zu organisieren glaubt, benötigt keinen Begriff des Politischen. Erst einer Gesellschaft, der kein archimedischer Punkt, kein substanzielles Gemeingut, kein unhinterfragbarer Wert verfügbar ist, steht die eigene Institution immer aufs Neue zur Aufgabe. Und zwar deshalb immer aufs Neue, weil diese Gesellschaft nie letztgültig instituiert werden kann.¹⁴
Diese Aussage reduziert jedoch die Komplexität von vormodernen Gesellschaften, da sie nicht hinreichend zwischen gesellschaftlicher Selbst- und Fremdbeobachtung unterscheidet: In ihrer Selbstwahrnehmung meinen vormoderne Gesellschaften, dass sie auf unhinterfragbaren und unverfügbaren Werten beruhen. Betrachtet man diese Gesellschaften aber aus der Außenperspektive historischer Distanz, so zeigt sich, dass es trotz einer jeweils angenommenen allgemein gültigen Letztinstanz aller Ordnungsgeltung sehr wohl Diskurse über andere Ordnungs- und Begründungsmöglichkeiten von Gesellschaft gibt.¹⁵ Gesellschaftliche Oliver Marchart: Die politische Differenz: Zum Denken bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Frankfurt/Main 2010 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1956). S. 17. Ebd., 97. Für eine andere Gewichtung siehe Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1582). Zu Luhmanns Politikbegriff siehe S. 254 f. Wie Barbara Stollberg-Rilinger anmerkt, unterscheidet Luhmann kaum ‚Politik‘ von dem ‚Politischen‘, außer in dem Sinne, dass ‚das Politische‘ für vormoderne Gesellschaften bevorzugt wird, weil es kein Funktionssystem im Luhmann’schen Sinne suggeriert (siehe Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? In: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Hg. von Barbara Stollberg-Rilinger. Berlin 2005 [Zeitschrift für historische Forschung: Beiheft 35]. S. 9 – 24. S. 14; siehe auch Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 69 f.). Marchart: Politische Differenz, S. 17. Dies trifft im Übrigen genau umgekehrt auch auf moderne Gesellschaften zu, wie etwa Hans Vorländer zeigt: „[…] moderne, demokratische Ordnungen [leben] mit dem Paradox […], dass sie in der eigenen Wahrnehmung zwar auf Autonomie und Selbstgesetzgebung beruhen, zu ihrer Begründung und Stabilisierung indes auf Voraussetzungen, Vorstellungen und Ressourcen zurückgreifen, über die sie nicht oder nur bedingt verfügen“ (Hans Vorländer: Demokratie und
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1 Einleitung
Ordnungen sind auch in der Vormoderne Entwürfe von Ordnungen, und als solche konkurrieren sie mit anderen Entwürfen, sind sie hinterfragbar oder änderbar. Anders wäre der Wandel von vormodernen Gesellschaften zum Typus jener modernen Gesellschaft kaum denkbar, den wir heute kennen und den Marchart in dem zitierten Passus von der Vormoderne unterscheidet. Diskurse über die gesellschaftliche Ordnung werden auch (und vielleicht sogar maßgeblich) in der Literatur ausagiert.¹⁶ Dort scheint vieles denk- und sagbar zu sein, was in der realen politischen Ordnung nicht möglich wäre. Für die englische Frühe Neuzeit lassen sich so in den imaginierten Welten der Literatur beispielsweise Diskurse über klassenlose Gesellschaften feststellen (Thomas Morus’ Utopia) oder über verschiedene mögliche Begründungsfiguren einer gesellschaftlichen Ordnung, wie ich es in Kapitel 3 dieser Arbeit für die Arcadia zeigen möchte. Literatur funktioniert realhistorisch auf ähnliche Weise wie die Gedichte der Schäfer in der Arcadia: „they would […] under hidden forms utter such matters as otherwise were not fit for their delivery“ (S. 50). Politische Ordnungen sind auch schon in der Vormoderne nicht „feststehend[…], überzeitlich, den Kontingenzen der Zeitläufe enthoben […] [sondern] labil, dem historischen Wandel ausgesetzt [und] immer [nur von] relative[r] Dauer“.¹⁷ Sie sind prozesshaft. Genau deswegen finden ja Diskurse über diese Ordnungen statt, in denen sie thematisiert und diskutiert werden und vermittels derer sie sich konstituieren oder dekonstruieren, legitimieren oder delegitimieren. Aus diesem Grund ist Marcharts Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen für die Interpretation der Arcadia nützlich und seine Definition des
Transzendenz. Politische Ordnungen zwischen Autonomiebehauptung und Unverfügbarkeitspraktiken. In: Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen. Hg. von Hans Vorländer. Bielefeld 2013 [Edition Politik 12]. S. 11– 37. S. 17). Zur Wichtigkeit der Literatur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskurswechseln in der Renaissance siehe auch Klaus W. Hempfer: Zur Enthierarchisierung von ‚religiösem‘ und ‚literarischem‘ Diskurs in der italienischen Renaissance. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hg. von Peter Strohschneider. Berlin [u. a.] 2009. S. 183 – 221. Hempfer stellt dar, wie Ariost die Hierarchisierung von religiöstheologischem Diskurs einerseits und literarischem Diskurs andererseits auflöst, indem er „die Bibel als d e n Wahrheitsdiskurs der christlichen Tradition mit dem hinsichtlich seines Wahrheitsstatus ambigen poetischen Diskurs identifiziert“ (ebd., 219; Hervorhebung im Original), sodass „Erkenntnismöglichkeit über die Auslegung von Texten [fragwürdig wurde]“ (ebd., 221) und ab dem 16. Jahrhundert allmählich „der naturwissenschaftliche Diskurs […] zum neuen Leitdiskurs wurde“ (ebd.). Hans Vorländer: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen: Eine Einführung in systematischer Absicht. In: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Hg. von Hans Vorländer. Berlin und Boston 2013. S. 1– 42. S. 13.
1.2 Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe – Einige Leitbegriffe der Textinterpretation
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Politischen durchaus für vormoderne Gesellschaften und damit auch für die Analyse von Sidneys Arcadia einschlägig. Die Gesellschaft Arkadiens unterliegt einer höfischen und damit einer legitimistischen Ordnung der Macht und Herrschaft. Sie muss „unbezweifelbar werden durch ein Absolutes, das jenseits des geschaffenen politischen Raumes situiert erscheint“¹⁸ und das der Ordnung Geltung, Stabilität und Dauer verleihen soll. Politische Ordnungen brauchen eine Begründung, deren Kontingenz nicht sichtbar wird. Kontingenz kann (und muss) also in einem politischen Ordnungsentwurf in Notwendigkeit umgemünzt werden. ‚Kontingenz‘ wird hier im aristotelischen Sinne verstanden als das, was auch anders sein könnte, als es ist: Kontingent […] ist das, was weder notwendig noch unmöglich ist. Anders gesagt: Kontingent ist das unvollständig Bestimmte und somit das, was auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet damit […] nicht die reine Unbestimmtheit, sondern jenen Bereich begrenzter, also signifikanter Unbestimmtheit, in dem sich das Auch-anders-sein-Können als wirkliche Alternative manifestiert […].¹⁹
Hans Vorländer formuliert die Forderung nach einer unhinterfragbaren Letztbegründung, die Kontingenz verschleiert, wie folgt: „Wie immer sich politische und soziale Ordnungen historisch auch konstituieren mögen, sie begründen und verstetigen sich im Rekurs auf Transzendenzen“.²⁰ ‚Transzendenz‘ wird in diesem Sinne nicht notwendigerweise in die Kant’sche Opposition zu ‚Immanenz‘ in einem – in unserem Kulturkreis zumindest – strengen Zusammenhang mit Gott (oder, um auch für die Antike zu sprechen, den Staatsgöttern) gesetzt. Stattdessen liegt meiner Untersuchung mit Vorländer ein formaler Transzendenzbegriff zugrunde: […] der Begriff Transzendenz [verweist] über die spezifische Transzendenzkonstruktion der Religion hinaus auf das […] skizzierte Grundproblem der Begründung von sozialen und
Ebd., 3. Michael Makropoulos: Kontingenz und Handlungsraum. In: Kontingenz. Hg. von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard. München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17). S. 23 – 25. S. 23; siehe außerdem die folgenden Aufsätze in diesem Band: Rüdiger Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, S. 3 – 21; Franz-Josef Wetz: Die Begriffe ‚Zufall‘ und ‚Kontingenz‘, S. 27– 34; sowie Hermann Lübbe: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, S. 35 – 47; siehe zudem Kurt Wuchterl: Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 58/2 (2016). S. 129 – 148. Wuchterl betont vor allem die Bedeutungsdifferenz von ‚Kontingenz‘ und ‚Zufall‘. Diese Begriffe werden in der vorliegenden Studie allerdings synonym verwendet. Vorländer: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, S. 4.
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1 Einleitung
politischen Ordnungen und die Legitimierung von Macht durch Figuren und Modi, Diskurse und Praktiken, welche die jeweilige Ordnung überschreiten oder ihr vorausliegen und dadurch für deren Sinnorientierung und Geltung konstitutiv sind.²¹
Nach diesem Verständnis kann eine Transzendenz ‚Gott‘ heißen, doch gibt es eine ganze Reihe von Konzepten, die (auch gleichzeitig) in einer Ordnung als begründende und stabilisierende, aber ebenso als konkurrierende und ordnungsbedrohende Mächte wirken können: Gott, Tradition, Vernunft, Fortschritt, Natur, Landschaft, Geschichte, Nation, Staat, Volk, Ehre, Freundschaft, Liebe etc. sind historisch je unterschiedlich zu identifizierende und interferierende Vorstellungen von etwas Transzendentem, mittels derer sich Transzendierungen in unterschiedlichen Formen der Aneignung und Verwerfung, Behauptung und Bestreitung, Interpretation und Auslegung vollziehen.²²
Vorländer nennt in dieser Aufzählung möglicher Transzendenzen auch die Natur. Das bringt uns zurück zu der These dieser Arbeit, dass nämlich Natur eine wichtige Begründungsinstanz der Ordnung der imaginierten Welt Sidneys ist. Indem sich sowohl der Erzähler als auch die arkadischen Akteure immer wieder auf Natur berufen,²³ werden Zustände und Prozesse unterstellt, die – auch wenn sie sich auf den Menschen beziehen können, etwa in Wendungen wie ‚Natur des Menschen‘ – den arkadischen Akteuren dennoch stets unverfügbar sind.²⁴ Unter dem Terminus ‚unverfügbar‘ verstehe ich dabei „solche Sachverhalte […], die in der Perspektive von Akteuren der unmittelbaren, alltäglichen Lebenswelt entzogen sind und deshalb quasi entrückt erscheinen, die gleichwohl aber auf sie zurückwirken und ihr Sinn und Geltung verleihen“²⁵ oder sie bedrohen und destabilisieren. In dieser Arbeit untersuche ich, wie gerade Natur als etwas Unverfügbares eingesetzt wird, um die politische Ordnung in Philip Sidneys Arcadia zu begründen, sodass die Kontingenzen dieser Ordnung für die Figuren nicht sichtbar werden, vielmehr diese Ordnung im Gegenteil als eine notwendige (und alternativlose) erscheint.
Ebd., 12. Ebd., 16. Dies fiel Lois Whitney bereits 1927 auf, wurde jedoch nie näher untersucht (siehe Lois Whitney: Concerning Nature in ‘The Countess of Pembrokes Arcadia’. In: Studies in Philology 24/2 (1927). S. 207– 222). Vgl. auch Lorraine Daston und Fernando Vidal: Doing What Comes Naturally. In: The Moral Authority of Nature. Hg. von Lorraine Daston und Fernando Vidal. Chicago und London 2004. S. 1– 20. S. 9: „nature appears as an external authority, even if its imperatives are lodged deep in the body or psyche“. Vorländer: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, S. 20.
1.3 Naturkonzepte
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1.3 Naturkonzepte Der Begriff ‚Natur‘ hat eine Vielzahl von Bedeutungen. So schreibt beispielsweise schon John Stuart Mill, „NATURE, natural, and the group of words derived from them, or allied to them in etymology, have at all times filled a great place in the thoughts and taken a strong hold on the feelings of mankind“.²⁶ Aus diesem Grund ist das Wort ‚Natur‘ Raymond Williams zufolge „perhaps the most complex word in the language“.²⁷ Zahlreiche Wissenschaftler haben sich auf verschiedene Art und Weise bemüht, dieses Begriffs in all seinen Facetten und der Vielzahl historisch veränderlicher Naturkonzepte, Herr zu werden. Ich möchte an dieser Stelle nur beispielhaft auf drei für die Literatur- und Kulturwissenschaften und damit auch für diese Studie besonders wichtige Ansätze eingehen. C. S. Lewis etwa beschäftigt sich unter anderem mit der Polysemie des Terminus ‚Natur‘ und seinen möglichen Gegenbegriffe.²⁸ Einige von ihnen spielen auch in der Arcadia eine Rolle, etwa „Natural and Unnatural“ (S. 43 f.), „The ‘Natural’ and the Interfered With“ (S. 44 f.), „The ‘Natural’ as an Element in Man“ (S. 47 f.) und hierbei unter anderem die Paradoxie, dass einerseits die Natur des Menschen definiert ist als „rational animal“ (S. 49) und andererseits die Triebe und Affekte als Naturgewalt verstanden werden: „[…] since the nature of man was defined as ‘rational animal’, it seems very odd that the absence, or opposite, of reason in him should be natural“ (S. 49).²⁹ Raymond Williams zeigt in seiner Erschließung von drei grundlegenden Bedeutungsfeldern des Wortes ‚Natur‘ ebenfalls die inhärente Diversität des Ausdrucks: „(i) the essential quality and character of something; (ii) the inherent force which directs either the world or human beings or both; (iii) the material world itself, taken as including or not including human beings“.³⁰ Natur bezeichnet also eine Einzelerscheinung und zugleich die Welt als ganze. Hinzu kommt bei ihm Natur als eine Gewalt, die die Welt (oder/und die Menschen) lenkt.
John Stuart Mill: Nature. In: Nature, The Utility of Religion, and Theism. London 1885. S. 3 – 65. S. 3, Hervorhebung im Original. Für einen Überblick über weitere Denker, die den vielfachen Gebrauch des Wortes ‚Natur‘ hervorheben, und für eine Zusammenstellung der vielfältigen Bedeutungen des Wortes durch die Jahrhunderte siehe Robert Spaemann: Natur. In: Philosophische Essays. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1994 (Reclams Universal-Bibliothek 7961). S. 19 – 40. Raymond Williams: Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. Überarbeitete Ausgabe. Oxford 1983. S. 219. C. S. Lewis: Nature (with Phusis, Kind, Physical etc.). In: Studies in Words. Cambridge 1967. S. 24– 74. Siehe hierzu auch diese Arbeit: Kapitel 4.2. Williams: Keywords, S. 219, Hervorhebung im Original.
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Niklas Luhmann geht ebenfalls auf die Paradoxie des Naturbegriffes ein: Ihm zufolge wird Natur heute einerseits als für den Menschen unerträglich verstanden, andererseits als unversehrter, ja geradezu idealer Rückzugsort des Menschen von der Gesellschaft. Beiden Positionen gemein sei, dass sie „Natur als eine (wie immer differenzierte) Einheit“³¹ verstehen. Luhman weist außerdem auf eine dritte Position hin: Sieht man […] genauer hin, dann gibt es auch eine andere Tradition, eine Natursemantik, die von einer in den Begriff eingebauten Unterscheidung lebt, also die Natur als eine Form mit zwei Seiten behandelt. Wenn man will, als einen Widerspruch oder als eine aufgelöste Paradoxie. Der Naturbegriff sagt dann: das Unterschiedene ist Dasselbe. Seine Einheit ist ein Konstrukt (oder im alteuropäischen Denken: die Natur der Natur), aber eben eine Einheit, die nur über ihre Auflösung operationsanleitend funktionieren kann.³²
Luhmann argumentiert gegen diese aufgelöste Paradoxie. Er meint, man solle „auf die Ausgangsparadoxie zurückgehen“,³³ denn: „Achtet man auf die […] im Begriff der Natur verborgene Differenz, dann gewinnt man ganz andere Ausgangspunkte für die Frage, wie die Rede von der Natur mit den strukturellen Bedingungen zusammenhängt, die die Gesellschaft ihr vorgibt“.³⁴ Eben dies wird in der vorliegenden Untersuchung versucht. Bereits dieser kurze Überblick zeigt, auf welche Mehrdeutigkeiten und Vielschichtigkeiten man sich einlassen muss, beschäftigt man sich mit ‚Natur‘ als einem Konzept von Ordnungsentwürfen beispielsweise spezifisch literarischer Art. Zugleich verweisen allein schon die drei hier angeführten Forschungspositionen auch auf Kontinuitäten der Naturvorstellungen von der Antike bis in die Moderne,³⁵ etwa auf die Unterscheidung von Partikular- und Universalnatur.³⁶
Niklas Luhmann: Über Natur. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt/Main 1995. S. 9 – 30. S. 10. Ebd. Ebd., 30. Ebd., 10. Vgl. außerdem beispielsweise Serge Moscovici: Versuch über die menschliche Geschichte der Natur. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/Main 1982; Spaemann: Natur; sowie Robin G. Collingwood: Die Idee der Natur. Frankfurt/Main 2005 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1747). Für einen Überblick über frühneuzeitliche Naturphilosophie mit dem Schwerpunkt auf der italienischen Renaissance siehe Eckhard Keßler: Naturverständnisse im 15. und 16. Jahrhundert. In: Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft und Technik. Band II: Renaissance und frühe Neuzeit. Hg. von Lothar Schäfer und Elisabeth Ströker. Freiburg und München 1994. S. 13– 57. Vgl. etwa Lewis: Nature, S. 35: „But already […] phusis had taken on, in addition to the meaning ‘sort’, a new and quite astonishing sense. The pre-Socratic Greek philosophers had had the idea of taking all the things they knew […] and impounding them under a single name […] and
1.4 Natur und arkadische Ordnung – ein Inhaltsüberblick
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1.4 Natur und arkadische Ordnung – ein Inhaltsüberblick Da es in dieser Arbeit um Natur und Politik in Sidneys Old Arcadia geht, wird dem soeben vorgestellen Luhmann’schen Ansatz, der Natur und Gesellschaft verbindet, bei der Textinterpretation besondere Bedeutung zukommen. Außerdem steht nicht ein Naturbegriff im Vordergrund, sondern verschiedene Naturkonzepte. ³⁷ Es geht mir nicht darum zu zeigen, welchen Naturbegriff Sidney in der Arcadia verwendet, sondern um die Frage, welche Naturkonzepte wie in der politischen Ordnung Arkadiens genutzt werden.³⁸ Der Arbeit liegt dementsprechend eine Heuristik zugrunde, die sich an vier für die Arcadia einschlägigen Naturkonzepten orientiert. Im Folgenden sollen diese anhand von kurzen Inhaltsangaben der einzelnen Kapitel vorgestellt werden. Kapitel 2 stellt den arkadischen Wald vor. Natur wird hier als Schauplatz verstanden, als die materiell wahrnehmbare, natürliche Umwelt. Spezifische Charakteristika der Romanze begründen in diesem Zusammenhang die These, dass man die Arcadia als Waldpastorale lesen kann. Zunächst wird die Frage behandelt, inwiefern der Wald als ursprünglich schäferlicher Lebensraum durch das Eindringen des Höfischen verändert wird. Der Wald wird außerdem als Handlungs- und Experimentalraum der Akteure untersucht. Gerade für die Adligen eröffnen sich in ihm Handlungsmöglichkeiten, die es in Palast und Stadt so nicht gibt. Nach der Analyse des arkadischen Waldes wendet sich das Kapitel 2.2 den ausführlichen Naturbeschreibungen der Arcadia, drei loci amoeni, zu und interpretiert die Textpassagen im Hinblick auf ihre Behandlung des Natur-KunstDualismus und die Verwandlung der loci amoeni in loci terribiles. Das abschließende Unterkapitel widmet sich der Thematisierung des Umgangs des Menschen mit der Natur in der Arcadia. Das nächste Kapitel (3) untersucht die formende und lenkende Natur. In der Arcadia erscheint Natur zum einen als Gesamtmacht, ähnlich der Konzeption einer Universalnatur, wie sie auch Lewis, Williams und Luhmann vorstellen; diese Gesamtmacht kann zum einen als solche auftreten, beispielsweise als personifizierte Natura in den Eklogen. Zum anderen manifestiert sie sich in einer Vielzahl einzelner, regelhafter Naturerscheinungen – man könnte sagen: Naturgesetze –, die den arkadischen Akteuren Antworten auf moralisch-ethische wie politische Fragen geben. Vermutete Verstöße gegen diesen course of nature werden von den Figuren als ‚widernatürlich‘ eingeschätzt. Hier zeigt sich die Paradoxie des Nafor some reason the name they chose for it was phusis […]. From phusis this meaning passed to natura“ (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Keßler: Naturverständnisse, S. 14 f. Vgl. auch Daston und Vidal: Doing What Comes Naturally, S. 4 f.
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turbegriffs, die auch die bereits vorgestellten Forschungsbeiträge betonen. Natur kann zum einen alles umfassen, zum anderen hat aber auch jede Einzelerscheinung ihre eigene Natur, folgt also dem Gesetz ihrer spezifischen Natur. Diese einzelnen Naturgesetze können sich gegenseitig widersprechen und als widernatürlich erscheinen, sodass unter Umständen ein und dieselbe Handlung zugleich als ‚natürlich‘ und ‚widernatürlich‘ erscheinen kann. Natur ist allerdings nicht die einzige Instanz in Arkadien, die die Geschicke der Figuren lenkt, sondern auch göttliche Providenz und Fortuna spielen eine Rolle. In Arkadien gibt es eine Pluralität der Geltungsmächte, deren Neben- und Ineinander dieses Kapitel in drei Unterkapiteln untersucht, deren Schwerpunkt jeweils auf einer Geltungsinstanz liegt. In Kapitel 4 steht die Menschennatur im Mittelpunkt der Untersuchung. Das Kapitel ergänzt Überlegungen, die bereits in Kapitel 3 zur menschlichen Tugend in Bezug auf Fortuna sowie zur Natürlichkeit des menschlichen Körpers und der menschlichen Tugend vorgestellt wurden. Hier zeigt sich wieder die Verbundenheit der einzelnen Aspekte von Natur. Das erste Unterkapitel analysiert, wie Herrschaft mit Körperkonzepten verbunden wird. Der Fokus liegt dabei auf dem Konzept der zwei Körper des Königs sowie auf Geschlechterfragen und wie diese im Hinblick auf die politische Ordnung verhandelt werden. Im zweiten Unterkapitel sind die Affekte der Herrscherfiguren das zentrale Thema. Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Natur und Recht. Den klassischen Vorstellungen von Naturrecht zufolge ist dieses ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur. Insofern hängt dieses Kapitel eng mit dem zur menschlichen Natur zusammen. Einmal mehr wird die Verwobenheit verschiedener Naturkonzepte deutlich, die keine klaren Grenzziehungen zulässt. Das Kapitel besteht aus zwei Unterkapiteln. Zunächst beschäftige ich mich mit Naturrecht und Widerstandslehre. Das Unterkapitel 5.2 betrachtet die Beziehung von positivem Recht und Naturrecht. Zentral hierfür ist das fünfte (und letzte) Buch der Arcadia, das den großen Gerichtsprozess gegen Gynecia, Musidorus und Pyrocles zum Thema hat und in einem überraschenden ‚Happy End‘ schließt, das zum Abschluss näher untersucht werden soll. Mit den Überlegungen zum Ende der Old Arcadia kommt auch meine Interpretation der Romanze zu ihrem Ende. In einem abschließenden Ausblick gehe ich auf die Revision der Old Arcadia, die New Arcadia ein, und zeige, dass Sidney die Prominenz der Natur in all den betrachteten Zusammenhängen in der New Arcadia zugunsten einer eindeutig definierten Autorität zurücknimmt.
1.5 Philip Sidney und die Arcadia – ein Forschungsüberblick
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1.5 Philip Sidney und die Arcadia – ein Forschungsüberblick Die Old Arcadia bietet sich aus mehreren Gründen für die Untersuchung von Natur in einem politischen Ordnungsentwurf an. Zum einen ist sie das Werk Sidneys, in dem ‚Natur‘ in all ihren Konzeptionen am prominentesten vertreten ist und behandelt wird. Zum anderen stellt sie ein Forschungsdesiderat dar, beschäftigt sich doch die Forschung zu Sidney mit überwältigender Mehrheit mit seinem Sonettzyklus Astrophil and Stella und mit seiner Defence – beide sind ebenso wie die Old Arcadia um das Jahr 1580 entstanden –,³⁹ sowie mit Sidneys Biographie und seiner Stellung in der englischen und protestantischen Philosophie und Politik um 1580, seinen Quellen und seinem Einfluss auf die Nachwelt.⁴⁰ Sidney wird dabei als wichtiger Vertreter protestantisch-humanistischer Philosophie und Politik begriffen. Besondere Beachtung finden hier häufig seine Freundschaften mit Hubert Languet und Philippe Duplessis-Mornay, zentralen reformierten Denkern der Zeit. Ein weiterer Schwerpunkt ist Sidneys Verhältnis zu Elisabeth I., das etwa anhand seines berühmten „Letter“, in dem er ihr von einer Heirat mit dem Herzog von Anjou abrät, untersucht wird.
Eine auch für diese Arbeit maßgebliche Analyse der Denfence im Zusammenhang mit philippistischen Lehren ist Robert E. Stillman: Philip Sidney and the Poetics of Renaissance Cosmopolitanism. Aldershot und Burlington 2008; immer noch grundlegend für Astrophil and Stella ist Theodore Spencer: The Poetry of Sir Philip Sidney. In: Selected Essays. Hg. von Alan C. Purves. New Brunswick 1966. S. 73 – 99. Sidney erweckt schon unmittelbar nach seinem Tod das Interesse seiner Zeitgenossen. Es finden sich eine ganze Reihe an Biographien und Elegien, die Sidney zu dem paradigmatischen Beispiel eines elisabethanischen Höflings verklären und den sogenannten Sidney Myth begründen, beispielhaft sind hierfür etwa Thomas Moffets Nobilis von circa 1592, Edmund Spensers Astrophel von 1595 und – wohl das berühmteste Beispiel – Fulke Grevilles A Dedication to Sir Philip Sidney von 1652. Siehe hierzu auch Dominic Baker-Smith [u. a.] (hg.): Sir Philip Sidney: 1586 and the Creation of a Legend. Leiden 1986 (Publications of the Sir Thomas Browne Institute Leiden: New Series 9); sowie Gavin Alexander: Writing after Sidney. The Literary Response to Sir Philip Sidney 1586 – 1640. Oxford [u. a.] 2006. S. 56 f. Für eine moderne, (aber nur zum Teil) wissenschaftlich distanziertere Betrachtung von Sidneys Leben und seinem intellektuellen Umfeld, auch anhand der zeitgenössischen Biographien, siehe beispielsweise John Buxton: Sir Philip Sidney and the English Renaissance. London und New York 1964; James M. Osborn: Young Philip Sidney, 1572– 1577. London und New Haven 1972 (The Elizabethan Club Series 5); Katherine Duncan-Jones: Sir Philip Sidney: Courtier Poet. London und New Haven 1991; sowie Edward I. Berry: The Making of Sir Philip Sidney. Buffalo [u. a.] 1998; und Richard Hillyer: Sir Philip Sidney: Cultural Icon. New York 2010.
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Die Arcadia hingegen hat weniger Aufmerksamkeit erlangt.⁴¹ Die Forschung, die sich mit der Arcadia beschäftigt, kann man unterscheiden nach der Textfassung, die jeweils untersucht wird: Es existieren drei Fassungen der Arcadia sowie weitere abweichende Manuskripte zu einzelnen Abschnitten. Zu den drei Fassungen, die in edierter Form vorliegen, zählen die Old Arcadia genannte Fassung, die als New Arcadia bezeichnete Version, die allerdings im dritten Buch mitten im Satz abbricht und posthum 1590 von Sidneys Freund Fulke Greville veröffentlicht wurde, und die sogenannte Composite Version, ein Hybrid aus den ersten zweieinhalb Büchern der New Arcadia und dem vierten und fünften Buch der Old Arcadia, das an diversen Stellen von den ersten beiden Fassungen abweicht – dies ist die Fassung, die jahrhundertelang gelesen wurde. Erstmals wurde sie von Sidneys Schwester Mary, der Countess of Pembroke, der das Buch gewidmet ist, im Jahre 1593 veröffentlicht.⁴² Noch weniger Aufmerksamkeit bekommen Sidneys weitere Werken, etwa The Lady of May und die Certain Sonnets. Ausnahmen für Untersuchungen der The Lady of May sind zum Beispiel Stephen Orgels einflussreiche Studie in The Jonsonian Masque: Stephen Orgel: The Jonsonian Masque. Cambridge 1965. S. 44 f.; sowie Robert E. Stillman: Justice and the ‘Good Word’ in Sidney’s The Lady of May. In: SEL 24/1 (1984). S. 23 – 38; und eine Betrachtung neueren Datums: Linda Shenk: Learned Queen: The Image of Elizabeth I in Politics and Poetry. New York [u. a.] 2010 (Queenship and Power). S. 55 f. Untersuchungen der Sonnets finden sich in der Regel in Studien zu Sidneys Lyrik. Die Übersetzungen der Psalms durch ihn und seine Schwester sind vor allem durch das Aufkommen des Feminismus hauptsächlich in Hinblick auf die geschwisterliche Beziehung oder Marys Beteiligung betrachtet worden, so etwa bei Ina Habermann: ‘Two, by their bloods, and by thy Spirit one’: Sir Philip Sidney and Mary Sidney Herbert, Countess of Pembroke. In: BiTextualität: Inszenierungen des Paares. Ein Buch für Ina Schabert. Hg. von Annegret Heitmann [u. a.]. Berlin 2001 (Geschlechterdifferenz & Literatur 12). S. 29 – 44. Fulke Greville und Mary Sidney kannten beide auch die Old Arcadia und besaßen Manuskripte. Fulke Greville befand aber, wie er in einem Brief an Sidneys Schwiegervater Francis Walsingham kurz nach Sidneys Tod im November 1586 schrieb, die revidierte Version „fitter to be printed than that first [version] which is so common“ (ein Faksimile des Briefes findet sich in Victor Skretkowicz: Building Sidney’s Reputation: Texts and Editors of the Arcadia. In: Sir Philip Sidney: 1586 and the Creation of a Legend. Hg. von Dominic Baker-Smith [u. a.]. Leiden 1986 [Publications of the Sir Thomas Browne Institute Leiden: New Series 9]. S. 111– 124. S. 114/15. Das Zitat steht auf S. 114). Weil die erste Fassung bereits in verschiedenen Manuskripten zirkulierte und bekannt war, wollte Greville also die neuere Version veröffentlichen (siehe zu Grevilles Fassung auch Alexander: Writing after Sidney, S. 229 f.). Mary Sidney wiederum war unzufrieden mit Grevilles Ausgabe und veröffentlichte deswegen die Composite Version. Zu Marys Gründen einer eigenen Veröffentlichung siehe Andrew Fleck: The Father’s Living Monument: Textual Progeny and the Birth of the Author in Sidney’s ‘Arcadias’. In: Studies in Philology 107/4 (2010). S. 520 – 547. S. 522 und 541 f.; zu Mary Sidneys Ausgabe und für einen Vergleich der beiden Ausgaben siehe Alexander: Writing after Sidney, S. 76 f.; für eine Vorstellung der Manuskripte und Überlieferungssituation siehe Jean Robertson mit dem Schwerpunkt auf der Old Arcadia (Jean Robertson: Textual Introduction. In: The Countess of Pembroke’s Arcadia [The Old Arcadia]. Hg.
1.5 Philip Sidney und die Arcadia – ein Forschungsüberblick
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Die Old Arcadia wurde erst im Jahre 1907 wiederentdeckt und im Jahre 1926 von Albert Feuillerat erstmalig herausgegeben. Doch auch nachdem es eine edierte Fassung dieser Version gab, wurde die Old Arcadia oft nicht beachtet. Der Großteil der Forschung nimmt die jahrhundertelang bekannte und gelesene Composite Version als Grundlage. Dies wird etwa von C. S. Lewis wie folgt begründet: „It alone is the book which lived; Shakespeare’s book, Charles I’s book, Milton’s book, Lamb’s book, our own book long before we heard of textual criticism“.⁴³ Erst in jüngerer Zeit werden auch die anderen Fassungen vermehrt in den Blick genommen. Dabei werden die Arcadias zumeist vergleichend interpretiert. Die ältere Version wird dabei oft als korrekturbedürftig gesehen und die jüngere Fassung wird als eben diese Korrektur verstanden und als insgesamt qualitativ hochwertiger, anspruchsvoller und komplexer eingeschätzt: „[…] it is worth insisting […] that, in comparison to the ‘old’ Arcadia, the revised Arcadia is really just bigger, better, and more fun“,⁴⁴ meint etwa Gavin Alexander. Nicht nur wird
von Jean Robertson. Oxford [u. a.] 1973. S. xlii–lxxi) und Victor Skretkowicz: Textual Introduction. In: The Countess of Pembroke’s Arcadia, 1590: the new Arcadia. Hg. von Victor Skretkowicz. Oxford [u. a.] 1987. S. liii–lxxxii mit dem Fokus auf der New Arcadia. C. S. Lewis: English Literature in the Sixteenth Century Excluding Drama. The Completion of the Clark Lectures, Trinity College, Cambridge 1944. Oxford 1954 (The Oxford History of English Literature 3). S. 333. Alexander: Writing after Sidney, S. 229. Sogar in Katherine Duncan-Jones’ Einleitung zur jüngsten Ausgabe der Old Arcadia heißt es, dass die revidierte Fassung „more ambitious, intricate and increasingly intellecual“ sei (Katherine Duncan-Jones: Introduction. In: The Countess of Pembroke’s Arcadia [The Old Arcadia]. Hg. von Katherine Duncan-Jones. Oxford [u. a.] 1985 [Oxford World’s Classics]. S.vii–xvi. S.viii). Die Hochschätzung der New Arcadia beziehungsweise der Composite Version ist aber keinesfalls zu allen Zeiten festzustellen. Während die Arcadia nach ihrer Veröffentlichung 1593 – also sieben Jahre nach Sidneys Tod – große, auch internationale Erfolge feierte (Martin Opitz etwa übersetzte sie ins Deutsche, siehe hierzu beispielsweise Peter Cersowsky: Magie und Dichtung: Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990. S. 92 f.) und zahlreiche Nachdichtungen und Übergangsdichtungen, die die ersten drei bestehenden Bücher der New Arcadia mit den letzten zwei Büchern der Old Arcadia verbinden sollten, inspirierte, wurde sie spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumeist negativ beurteilt, wie Duncan-Jones in der Einleitung zur Old Arcadia protokolliert: „Horace Walpole in 1768 called it ‘a tedious, lamentable, pedantic, pastoral romance, which the patience of a young virgin in love cannot now wade through’. Hazlitt in 1820 called it ‘one of the greatest monuments of the abuse of intellectual power upon record’ […] Virginia Woolf echoed Hazlitt, calling the Arcadia ‘one of those half-forgotten and deserted places’ which we pause over before returning ‘to its place on the bottom shelf’; and T. S. Eliot echoed him more concisely and damningly in calling it ‘a monument of dulness’“. (Duncan-Jones: Introduction. S. ix f.). Für eine Untersuchung der Dichtungen, die von Sidney inspiriert wurden, siehe Alexander: Writing after Sidney. Zur Arcadia siehe S. 262 f.; sowie Victor Skretkowicz: General Introduction. In: The
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indes die Old Arcadia mit der revidierten Version verglichen, sondern es finden sich auch vergleichende Interpretationen von Themen oder Motiven der Old Arcadia und Werken anderer Autoren.⁴⁵ Eingehendere Forschungspublikationen, die sich schwerpunktmäßig mit der Old Arcadia beschäftigen, sind jedoch nach wie vor vergleichsweise selten. Ausnahmen sind etwa die erste Monographie zur Old Arcadia aus dem Jahre 1965 von Richard A. Lanham, treffend einfach The Old Arcadia betitelt,⁴⁶ die für zahlreiche Textstellen genaue und hilfreiche rhetorische Analysen bietet, aber dennoch mittlerweile als veraltet gelten muss, Robert E. Stillmans Sidney’s Poetic Justice ⁴⁷ mit einem Fokus auf den Eklogen und pastoralen Traditionen sowie Blair Wordens Studie The Sound of Virtue: Philip Sidney’s
Countess of Pembroke’s Arcadia, 1590: the new Arcadia. Hg. von Victor Skretkowicz. Oxford [u. a.] 1987. S. xiv–lii. S. xlv f. Ein aktuelles und sehr interessantes Beispiel hierfür ist Verena Olejniczak Lobsien: Jenseitsästhetik. Literarische Räume letzter Dinge. Berlin 2012. Lobsien vergleicht die Old Arcadia nämlich mit so verschiedenen Werken wie C. S. Lewis’ Narnia oder W. G. Sebalds Austerlitz. Konventionell wird die Arcadia häufig in Verbindung mit Pastoraldichtung und/oder der Gattung der Romanze interpretiert, siehe hierzu etwa Judith Haber: Pastoral and the Poetics of SelfContradiction. Theocritus to Marvell. Cambridge [u. a.] 1994. S. 53 f.; Andrew King: Sidney and Spenser. In: A Companion to Romance. From Classical to Contemporary. Hg. von Corinne Saunders. Malden [u. a.] 2004 (Blackwell Companions to Literature and Culture) S. 140 – 159. S. 142 f.; oder Nandini Das: Renaissance Romance. The Transformation of English Prose Fiction, 1570 – 1620. Burlington und Farnham 2011. S. 55 f. Der Fokus meiner Studie im Hinblick auf Gattungsfragen liegt, wie vor allem im 2. Kapitel festzustellen ist, auf der Pastoraldichtung, da der pastorale Schauplatz eine wichtige Verwendung von ‚Natur‘ in der Old Arcadia aufzeigt. Auf Gattungsmerkmale der Romanze, die zum Teil auch die Old Arcadia auszeichnen, wesentlich stärker aber noch in der New Arcadia vertreten sind („predominantly fictional narratives […] further characterized by exotic setting, distant in time or place, or both; subject-matter concerning love or chivalry, or both; and high-ranking characters […] the shaking loose of narrative from precise time and space; quests; magic and the supernatural; a concern less with the communal good than with the indivudal hero’s inward thoughts, feelings, and aspirations, and, frequently, those of the heroine too; and a happy ending as normative, that ending often incorporating a return from an encounter with death – a symbolic resurrection“ [Helen Cooper: The English Romance in Time. Transforming Motifs from Geoffrey of Monmouth to the Death of Shakespeare. Oxford [u. a.] 2004. S. 9 f.]), wird zwar wiederholt eingegangen, aber sie sind für die Zwecke meiner Untersuchung eher zweitranging, da Naturkonzepte dort nicht so stark fokussiert werden. Richard A. Lanham: The Old Arcadia. In: Sidney’s Arcadia. Hg. von Walter R. Davis und Richard A. Lanham. New Haven [u. a.] 1965 (Yale Studies in English 158). S. 181– 405. Auch diese Arbeit wurde zusammen mit einer Studie Walter R. Davis’ zur New Arcadia veröffentlicht. Bezeichnenderweise steht sie an zweiter Stelle im Buch (Walter R. Davis und Richard A. Lanham: Sidney’s Arcadia. London [u. a.] 1965 [Yale Studies in English 158]). Robert E. Stillman: Sidney’s Poetic Justice. The Old Arcadia, Its Eclogues, and Renaissance Pastoral Tradition. Cranbury [u. a.] 1986.
1.5 Philip Sidney und die Arcadia – ein Forschungsüberblick
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Arcadia and Elizabethan Politics von 1996.⁴⁸ Wordens Ansatz ist historisch orientiert, auch wenn er dies verknüpft mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen.⁴⁹ Er interpretiert die Arcadia im Hinblick auf Sidneys Leben und Zeit als politische Allegorie: The Arcadia is, among other things, a political allegory […] Analogies between the real and the fictional world – analogies sometimes of situation, sometimes of character, sometimes of situation and character alike – are in the lifeblood of the Arcadia […] The Arcadia holds up contemporary politics to a revolving mirror, where our glimpses of them can be fleeting. But sometimes the mirror slows, sometimes it halts.⁵⁰
Wordens Arbeit ist überzeugend, und doch meine ich, dass Sidneys Romanze mehr ist als ein Kommentar zu konkreten zeitgenössischen Ereignissen oder Persönlichkeiten. Das heißt keineswegs, dass ich in meiner Untersuchung Sidneys Biographie und sein politisches und intellektuelles Umfeld ignoriere. Vielmehr möchte ich diese Aspekte in meiner Textinterpretation zwar berücksichtigen, die Arcadia zugleich aber auch in ihrem Funktionieren als literarisches Werk untersuchen.
Blair Worden: The Sound of Virtue: Philip Sidney’s Arcadia and Elizabethan Politics. London [u. a.] 1996. Auch Worden verhandelt die Old Arcadia nicht exklusiv, sondern zieht die New Arcadia zur ausführlichen Illustration hinzu, sein Fokus ist jedoch eindeutig auf der älteren Version, wie er auch selbst festhält (siehe S. xxii). Dies ist auch die Grundidee seiner Studie: „The approaches of literary critics to the Elizabethan political scene, especially when indebted to literary theory and its related abstractions, sometimes strike historians as fanciful or anachronistic. The approaches of historians to the same subject, especially those which anatomise parliamentary procedures or patterns of political allegiance, sometimes strike literary critics as narrow and antiquarian. There is, I believe, a middle way“ (Worden: Sound of Virtue, S. xxi). Siehe ebd., 6.
2 Natur als Schauplatz Die griechische Provinz Arkadien liegt im Zentrum des Peloponnes und hatte lange Zeit keine eigene Küstenlinie.¹ Sidneys literarisches Arkadien gleicht in seiner grundlegenden Anlage dem realen Arkadien: Zum einen ist es ebenfalls weit vom Meer entfernt, was sich darin zeigt, dass es sich als äußerst schwierig für Musidorus und Pamela gestaltet, zu einem Küstenort zu gelangen, um von dort nach Thessalien zu fliehen. Musidorus muss die Flucht vorbereiten und den Weg markieren, der durch den wildesten Teil Arkadiens zum Meer führt: „[…] he thrust himself forthwith into the wildest part of the desert where he had left marks to guide him from place to place to the next seaport […]“ (S. 172). Außerdem dauert die Flucht zur Küste länger als einen Tag, sodass Musidorus und Pamela im Wald übernachten müssen und dort in Lebensgefahr geraten (siehe S. 173). Zum anderen existiert die Stadt Mantinea, die in der Arcadia wiederholt erwähnt wird, weil dort der Palast steht (siehe S. 156) und sie nahe am Rückzugsort der Herrscherfamilie liegt (siehe S. 282), tatsächlich bereits seit der Antike und liegt relativ weit von Meer entfernt: Sie befindet sich im Osten nahe der Grenze zu Argolis. Sidney kannte also offenbar nicht nur die Geographie des antiken Griechenlands, sondern hielt sich auch an sie.² Dennoch finden sich – von der geo-
Die Provinz Kynuria, die im Südosten an Arkadien anschließt, ist heute an Arkadien angegliedert, sodass die Provinz nun eine eigene Küste hat. Es lassen sich weitere Anknüpfungspunkte an die Geographie der realen Welt in der Arcadia finden. Die Reise der Prinzen führt beispielsweise nach einem Schiffbruch von Lydien ausgehend durch Kleinasien nach Syrien und dann Ägypten, bevor Musidorus und Pyrocles nach Makedonien zurückkehren wollen und dafür über den Peloponnes und deswegen durch Arkadien reisen (siehe S. 10). Diese Reiseroute wäre tatsächlich genauso realisierbar. Weiterhin liegen Thrakien, Pannonien und Epirus, von denen es in der Arcadia heißt, sie versuchten Makedonien zu erobern (siehe S. 9), tatsächlich in Nachbarschaft zu Makedonien, sodass Kriege zwischen diesen griechischen Provinzen logistisch durchaus möglich wären. Diese geographischen Informationen finden sich beispielsweise in Strabons Geographika, die in der Frühen Neuzeit eines der bekanntesten Werke war für geographisches Wissen über die antike Welt und die Sidney sehr wahrscheinlich kannte – zumindest zitiert er sie in seiner Übersetzung von Philippe DuplessisMornays A Woorke Concerning the Truwnesse of the Christian Religion (Philippe Duplessis-Mornay: A Woorke Concerning the Truwnesse of the Christian Religion, written in French. Against Atheists, Epicures, Paynims, Jews, Mahometists, and other Infidels. Begunne to be translated into English by Sir Philip Sidney Knight, and at his request finished by Arthur Golding. London 1587. S. 76). Über Arkadien heißt es bei Strabon etwa: „In der Mitte [des Peloponnes] liegt Arkadien“ (VIII 2,2sq. p.335; S. 397) und auch die Stadt Mantinea findet Erwähnung (VIII 7,5 – 8,2 p.388; S. 541). Makedonien (VII fr.5 f.; S. 347 f.) mit seinen Nachbarn Epirus (322,3 f.; S. 323), Pannonien (VII fr.3, S. 345) und Thrakien (VII fr.5b; S. 347) werden ebenfalls vorgestellt (Strabon: Geographika. Band 2: Buch V–VIII: Text und Übersetzung. Hg. von Stefan Radt. Göttingen 2003). Die Korrektheit der https://doi.org/10.1515/9783110562293-002
2 Natur als Schauplatz
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graphischen Lage abgesehen – kaum Gemeinsamkeiten zwischen dem fiktiven und dem realen Arkadien. Denn die Natur von Sidneys Arkadien – in diesem Kapitel verstanden als der Schauplatz der Handlung – unterscheidet sich stark von der des realen Arkadien, das von zerklüfteten Bergketten geprägt, rau und karg ist.³ Die Natur im Reich des Basilius hingegen ist lieblich, wie bereits der erste Satz der Romanze zeigt: „ARCADIA among all the provinces of Greece was ever had in singular reputation […] for the sweetness of the air and other natural benefits“ (S. 4, Hervorhebung im Original). Beschreibungen der Natur, die im weiteren Verlauf der Arcadia folgen, bestimmen die natürlichen Vorzüge näher, die dieser Beginn bereits andeutet: Der Schauplatz von Sidneys Romanze besteht zu einem Großteil aus Waldgebiet, das mit Lichtungen und Wiesen durchsetzt ist. Man kann die Arcadia mit Jeffrey S. Theis als Waldpastorale bezeichnen. Ihm zufolge ist Sidneys Romanze „the most notable English example“⁴ für Wald als Schauplatz in der Pastoralliteratur. Bei Waldpastoralen handelt es sich nicht einfach nur um jenen Sonderfall von Pastoraldichtung, die im Wald spielt.⁵ Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Wald auch eine wesentliche handlungsbestimmende Rolle hat.⁶ Oftmals gibt es Theis zufolge wiederkehrende Charak-
geographischen Angaben setzt sich auch in der New Arcadia fort, wo Musidorus und Pyrocles vor der lakonischen Küste Schiffbruch erleiden und Musidorus dann mehrere Tage durch Lakonien reisen muss, um nach Arkadien zu kommen. Lakonien ist tatsächlich die südliche Nachbarprovinz von Arkadien auf dem Peloponnes, also die Provinz, in der man zunächst ankommen würde, käme man aus Nordafrika. Zudem heißt es von Messenien, es läge bei Arkadien am Meer (S. 13) und tatsächlich ist es die westliche Nachbarprovinz Arkadiens, die ebenso wie Lakonien eine eigene Küste hat. Hinzu kommt außerdem, dass „all these countries“ in der New Arcadia tatsächlich auch dem „Peloponnesus“ (S. 10) zugeordnet werden (alle Angaben zur New Arcadia beziehen sich auf folgende Ausgabe: Philip Sidney: The Countess of Pembroke’s Arcadia, 1590: the new Arcadia. Hg. von Victor Skretkowicz. Oxford [u. a.] 1987); siehe zur Geographie der Arcadias auch Dorothy Connell: Sir Philip Sidney. The Maker’s Mind. Oxford [u. a.] 1977. S. 131 f., die als weitere mögliche Quellen für Sidneys geographisches Wissen Abraham Ortelius’ Theatrum Orbis Terrarum von 1570 und Ovids Fasti und Metarmorphosen nennt. Zur Geographie und Topographie Arkadiens siehe beispielsweise Ernst Meyer: Arkadien. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Erster Band. Hg. von Walther Sontheimer und Konrat Ziegler. Stuttgart 1964. Spalte 593 – 594; oder Cay Lienau: Die griechischen Landschaften der Geographen, Maler, Dichter und Träumer. In: Griechische Landschaften. Sehnsuchts- und Erinnerungsorte: Arkadien – Kythera – Tempe – Delphi. Hg. von Horst-Dieter Blume und Cay Lienau. Münster 2009 (Münstersche Griechenland-Studien 7). S. 3 – 24. S. 9 f. Jeffrey S. Theis: Writing the Forest in Early Modern England. A Sylvan Pastoral Nation. Pittsburgh 2009 (Medieval and Renaissance Literary Studies). S. 22. Siehe ebd., 5. Siehe ebd.
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2 Natur als Schauplatz
teristika,⁷ die sich auf die Figuren, den Raum und die Themen der sylvan pastorals beziehen: Wie das Schäferleben nach Paul Alpers das definierende Merkmal der Pastorale ist,⁸ steht auch in der Waldpastorale oft das Leben der Hirten im Vordergrund.⁹ Dieses wird häufig kontrastiert mit dem Leben von Figuren, die nicht eigentlich im Wald zu Hause sind, beispielsweise Aristokraten, die für eine gewisse Zeit in den Wald kommen. Fragen nach individueller wie kultureller Identität und danach, wie diese im Raum des Waldes geschaffen werden, werden oftmals verhandelt:¹⁰ „English writers see their culture as intertwined with forests: forests are places where one can test and forge different identities that reflect a view that nature and society are multiple, inseparable, and alterable“.¹¹ Die Identitäten der Figuren manifestieren sich in Waldpastoralen zudem oftmals performativ in Aufführungssituationen,¹² etwa in Eklogen von Schäfern, in denen diese ihr Selbstbild in Bezug auf den Raum des Waldes in Dichtungen entwerfen. In der Regel behandeln sylvan pastorals außerdem die Themen Natur und Kultur im Hinblick auf den Wald. Dabei kann beispielsweise ein ökokritischer Ansatz verfolgt werden, indem etwa Eingriffe des Menschen in die Natur kritisch thematisiert werden. Diese Überlegungen sind hier insofern einschlägig, als der Wald, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch in Sidneys Arcadia weit mehr ist als bloße Kulisse. Er beeinflusst die politische Ordnung Arkadiens und die Menschen, die in ihr leben.¹³
Siehe ebd., 5 f. Siehe Paul Alpers: What is Pastoral? Chicago und London 1996. S. 22: „This book will argue that we will have a far truer idea of pastoral if we take its representative anecdote to be herdsmen and their lives, rather than landscape or idealized nature“. Siehe Theis: Writing the Forest, S. 6 f. Siehe ebd., 7. Ebd. Siehe ebd., 6. Insofern verstehe ich Pastoralliteratur hier nicht im Sinne der älteren Forschung (vgl. beispielsweise die grundlegenden Studien Annabel Pattersons und Paul Alpers: Annabel Patterson: Pastoral and Ideology. Virgil to Valéry. Berkeley und Los Angeles 1987; und Alpers: What is Pastoral), die argumentiert, dass bei der Pastoraldichtung der Renaissance im Gegensatz zu der ab dem 18. Jahrhundert nicht die Natur als Schauplatz im Mittelpunkt stehe, sondern dass frühneuzeitliche Pastoraldichtung eine höchst künstliche Gattung sei, die Kultur und Politik verhandele: „Understood this way, pastoral poetry is a mode of veiled writing that conceals biting critiques of contemporary politics behind pleasant tales of shepherds and their flocks“ (Ken Hiltner: What Else is Pastoral? Renaissance Literature and the Environment. Ithaca und London 2011. S. 1). Mein Ansatz gleicht vielmehr dem Ken Hiltners, der argumentiert, Kultur und Politik seien zwar in den Renaissancepastoralen grundlegend, aber das schließe das Thema der Natur nicht aus: „This book argues that (1) Renaissance pastoral, in addition to sometimes being a figurative mode masking political controversies, is also frequently concerned with literal land-
2.1 Der arkadische Wald
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2.1 Der arkadische Wald Die arkadische Natur wird zumeist als desert oder woods bezeichnet. Während desert vor allem die Einsamkeit, Abgeschiedenheit und somit zu einem gewissen Grad auch Wildheit eines Bereichs ausdrückt, der eben gerade nicht von Menschen geprägt ist, ohne seine Beschaffenheit und Vegetation näher festzulegen,¹⁴ sagt das zweite Wort – woods – wesentlich mehr über die Natur dieses Bereichs aus: Bäume – auch diese nicht von Menschenhand gepflanzt – sind hier das entscheidende Kriterium, wie auch die Definition im Oxford English Dictionary (OED) zeigt: A collection of trees growing more or less thickly together (esp. naturally, as distinguished from a plantation), of considerable extent, usually larger than a grove or copse (but including these), and smaller than a forest; a piece of ground covered with trees, with or without undergrowth.¹⁵
Woods sind also eine spezielle Variante von desert. Im arkadischen Wald leben nun aber auch Menschen. Insofern ist er von der bloßen ‚Einöde‘ zu unterscheiden und gleicht in seiner Anlegung dem frühneuzeitlichen forest,¹⁶ wie ihn vor
scapes, even though it does little to describe them, and (2) early modern England was indeed in the throes of what can only be described as a ‘modern’ environmental crisis, which engendered a number of contemporary debates, some of which address issues of environmental justice that informed […] both canonical and noncanonical literature of the period“ (ebd., 4). Siehe den zweiten Eintrag zu desert im Oxford English Dictionary (OED), Bedeutung 1b, in dem sogar extra betont wird, dass eine solche Landschaft auch einen Wald bezeichnen konnte: „formerly applied more widely to any wild, uninhabited region, including forest-land“ (Alle Angaben aus dem OED beziehen sich auf die Einträge in der Onlineversion des Wörterbuchs aus den Jahren 2015 und 2016. Der Artikelname und das Datum des letzten Aufrufs werden angegeben: OED: desert, n.² [24.02. 2016]). OED: wood, n.1 (24.02. 2016, Hervorhebungen im Original). Forest ist in der Frühen Neuzeit ein juristischer Terminus, mit dem Land bezeichnet wird, das für die königliche Jagd bestimmt ist, auch wenn es nicht unbedingt dem Monarchen gehört (siehe Theis: Writing the Forest, S. 11 f.); für eine etymologische Herleitung des Wortes im Hinblick auf seine Verwendung als Rechtsterminus siehe Robert Pogue Harrison: Forests. The Shadow of Civilization. Chicago und London 1992. S. 69; sowie Todd A. Borlik: Ecocriticism and Early Modern English Literature. Green Pastures. London und New York 2011 (Routledge Studies in Renaissance Literature and Culture 16). S. 88, der auch auf die frühneuzeitliche etymologische Erklärung eingeht, dass das Wort forest aus lateinisch fera und statio zusammengesetzt ist und ‚for rest‘ bedeuten würde.
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2 Natur als Schauplatz
allem der Jurist John Manwood¹⁷ in seinem grundlegenden Werk A Treatise and Discourse of the Lawes of the Forrest aus dem Jahre 1598 definiert: A forest is a certen Territorie of wooddy grounds & fruitfull pastures, privileged for wild beasts and foules of, forest, Chase, and Warren, to rest and abide in, in the safe protectio of the King, for his princely delight and pleasure, which Territorie of grond, so privileged, is meered and bourned with unremoveable, markes, meres, and boundaries […] And also replenished with wilde beasts of venerie or Chase, and with great coverts of vert, for the succor of the said wild beastes, to have there abode in.¹⁸
Ein forest untersteht also dem König. Dieser hat dort die Macht, bestimmt nach Belieben, wie mit dem Wald zu verfahren sei und nutzt ihn für die Jagd. Ein forest besteht wie die woods nicht nur aus Bäumen. Vielmehr gibt es sowohl bewaldete Flächen als auch Weideland, und es findet sich dort Wild wie Vieh. In solch einem königlichen Wald leben außerdem Menschen, die ihn kultivieren. Zum Teil gehört diesen Menschen auch Land im Wald, aber sie haben kein Verfügungsrecht über diesen Grundbesitz.¹⁹ In verschiedener Hinsicht gleichen die arkadischen woods dem frühneuzeitlichen englischen forest, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Zunächst wird der arkadische Wald als Lebensraum vorgestellt. Den Begriff ‚Raum‘ verstehe ich dabei im Sinne eines ‚sozialen Raums‘²⁰ mit Michel de Certeau als „ein[en] Ort, mit dem man etwas macht“.²¹ Oder wie Martina Löw es ausdrückt: „[D]ie
Manwood ist ein sehr treffender Name für einen Juristen in diesem Bereich, wie bereits Robert P. Harrison und andere feststellten (siehe Harrison: Forests, S. 70; sowie Borlik: Ecocriticism, S. 87). John Manwood: A treatise and discourse of the lawes of the forrest wherin is declared not onely those lawes, as they are now in force, but also the originall and beginning of forrestes: and what a forrest is in his owne proper nature, and wherein the same doth differ from a chase, a park, or a warren … Also a treatise of the purallee, declaring what purallee is, how the same first began, what a purallee man may doe, how he may hunt and vse his owne purallee … Collected and gathered together, aswell out of the common lawes and statutes of this land, as also out of sundry learned auncient aucthors, and out of the assisses and iters of Pickering and Lancaster, by John Manwood. London 1598. Fol. 1 f. Die Schreibung der Buchstaben wurde modernisiert; siehe auch Keith Thomas: Man and the Natural World. Changing Attitudes in England 1500 – 1800. London [u. a.] 1984. S. 200 f. Siehe auch Thomas: Man and the Natural World, S. 201. Siehe zum Begriff des sozialen Raums auch Jörg Dünne: Soziale Räume. Einleitung. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/Main 2012 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1800). S. 289– 303. Michel de Certeau: Praktiken im Raum. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/Main 2012 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1800). S. 343 – 353. S. 345, im Original kursiv. Wenn in der Raumwissenschaft bzw. den, wie Stephan Günzel es vorschlägt, Raumwissenschaften über etwas
2.1 Der arkadische Wald
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Konstitution von Raum [beinhaltet] auch eine Handlungsdimension“.²² Anders als der ‚Ort‘, der de Certeau zufolge dadurch eindeutig zu definieren ist, dass jedes Element seinen festgelegten Platz hat, und der somit statisch konzipiert ist,²³ ist für den Raum ein Element der Bewegung wesentlich.²⁴ Der Begriff ‚Ort‘ bezeichnet zum Beispiel geographische Punkte, die durch Namen eindeutig definiert werden: Arkadien ist solch ein Ort. Zugleich kann dieses Arkadien als ein (literarischer) Raum oder mehrere Räume konzipiert werden. ‚Raum‘ und ‚Ort‘ schließen sich nicht aus, sie bezeichnen unterschiedliche Aspekte und Funktionen. Der auf einer Landkarte als Ort definierbare arkadische Wald wird durch die in ihm lebenden und handelnden Figuren zum Raum, und zwar zu einem Lebens- und Handlungsraum von Schäfern und Adligen.²⁵ Auch die loci amoeni und loci terribiles sind dieser Definition der Termini zufolge zugleich Orte und Räume, denn zum einen handelt es sich bei ihnen um festgelegte Punkte im arkadischen Wald, die von den Figuren gesehen werden, zum anderen werden sie durch die Bewegung der handelnden Figuren konstruiert.²⁶ Es sind Teilräume im großen Gesamtraum des arkadischen Walds. Dem üblichen Sprachgebrauch gemäß bezeichne ich sie dennoch als loci, also als Lustorte oder Schreckensorte. Zugleich verstehe ich den sozialen Raum ‚Wald‘ in der Arcadia auch als politischgeographischen Raum: Nicht nur formen die Figuren sowie ihre Bewegungen und Handlungen den Wald, sondern die Figuren, ihre Bewegungen und Handlungen
Einigkeit herrscht, dann über die Schwierigkeit, den Begriff ‚Raum‘ einheitlich zu bestimmen (siehe Stephan Günzel: Einleitung. In: Raumwissenschaften. Hg. von Stephan Günzel. Frankfurt/ Main 2009 [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1891]. S. 7– 13. S. 12; siehe zu den Problemen einer Begriffsdefinition etwa auch Ingrid Baumgärtner [u. a.]: Raumkonzepte. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse. In: Raumkonzepte: disziplinäre Zugänge. Hg. von Ingrid Baumgärtner [u. a.]. Göttingen 2009. S. 9 – 25). Aber auch eine ‚nur‘ rein literaturwissenschaftliche Bestimmung des Terminus scheint geradezu unmöglich zu sein: Es „herrscht Uneinigkeit, welcher Raumbegriff die Forschung am ehesten befördern könne“ (Caroline Frank: Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. In: KulturPoetik 11 (2011). S. 277– 286. S. 277; vgl. hierzu auch Jürgen Joachimsthaler: Text und Raum. In: KulturPoetik 5/2 (2005). S. 243 – 255. S. 243). Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt/Main 2012 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1506). S. 111. Siehe de Certeau: Praktiken im Raum, S. 345. Siehe ebd. Zur paradigmatischen Funktion von (literarischen) Texten bei der Konstruktion von Räumen siehe Sylvia Sasse: Literaturwissenschaft. In: Raumwissenschaften. Hg. von Stephan Günzel. Frankfurt/Main 2009 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1891). S. 225 – 241. Siehe de Certeau: Praktiken im Raum, S. 348.
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werden auch in einer zyklischen Bewegung vom Wald geformt, die „naturräumliche[n] Bedingungen [beeinflussen] individuelles bzw. kollektives Handeln“.²⁷
2.1.1 Der Wald als Lebensraum Die Waldgesellschaft Arkadiens ist – und dies unterscheidet sie von der Vorstellung der Gesellschaft während des Goldenen Zeitalters – nicht klassenlos. Zum einen sind alle Schäfer dem Herrscher unterstellt, für den sie Eklogen aufführen und dessen Strafen sie erdulden müssen, wenn sie sich nicht nach seiner Vorstellung verhalten (siehe S. 50). Darüber hinaus gibt es auch innerhalb der Hirtengemeinde eine Hierarchie mit höher gestellten Schäfern, die eigene Tiere besitzen und bei den Eklogen auftreten dürfen (siehe S. 50), und niederen Schäfern, die keine eigenen Tiere haben und deswegen für andere arbeiten müssen. Musidorus beispielsweise begibt sich in den Dienst des Dametas (siehe S. 40), der von nun an sein Herr ist und für den er arbeiten muss, indem er beispielsweise „his master’s sheep“ (S. 109) weidet. Der arkadische Wald ist zwar in erster Linie ein Raum der Dichtung und des Genusses, ein festive space, zugleich ist er aber auch ein Raum der Arbeit, in dem Schäfer ihren Lebensunterhalt mit Tierhaltung und Landwirtschaft verdienen müssen.²⁸ Die schäferliche Lebenswelt wird vor allem in den Eklogen offensichtlich, in denen die Hirten oft über Aspekte ihrer Arbeit singen, wie etwa über die Schafe und ihre Wolle, die Teil der ökonomischen Infrastruktur des Waldes sind: „But so thy sheep may thy good wishes satisfy/With large increase, and wool of fine perfection/So she thy love, her eyes thy eyes may gratify“ (S. 122, meine Hervorhebungen). Die Aufgaben der Schäfer bestehen nicht nur aus dem Hüten der Schafe auf grünen Wiesen und dem Dichten und Singen, sondern eben auch aus Scherarbeiten oder Schlachtungen (siehe S. 212), um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Neben diesen Hirtentätigkeiten gehen die Schäfer überdies landwirtschaftlicher Arbeit nach. Diese wird in der Arcadia aber nur angedeutet, etwa, wenn es heißt, Dametas trage eine Hippe bei sich (siehe S. 39), die man nicht zum Hüten von Tieren braucht, wohl aber für andere Arbeiten
Jörg Dünne: Politisch-geographische Räume. Einleitung. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/ Main 2012 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1800). S. 371– 385. S. 371. Zum Verständnis von ‚Raum‘ im Zusammenhang mit arkadischer Dichtung allgemein siehe auch Winfried Wehle: Arkadien oder das Venus-Prinzip der Kultur. In: Arkadien in den romanischen Literaturen. Zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70. Geburtstag. Hg. von Roger Friedlein [u.a]. Heidelberg 2008 (Germanisch-romanische Monatsschrift 33). S. 41– 71. S. 46 f. Vgl. auch Theis: Writing the Forest, S. 39.
2.1 Der arkadische Wald
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in der Natur.²⁹ Der arkadische Wald als Lebensraum gleicht dem typisch englischen Wald, wie er von Manwood beschrieben wurde, denn in beiden leben Menschen, die das Waldgebiet, das mit Weide- und Ackerland durchsetzt ist, kultivieren. Sidney verortet die Lebenswelt der arkadischen Hirten somit zum einen in der pastoralen Tradition des an einem locus amoenus lagernden Schäferdichters, andererseits stattet er die Hirten aber mit Aufgaben aus, die durchaus der Lebenswirklichkeit englischer Schäfer in der Frühen Neuzeit entsprachen.³⁰ In dieses bäuerliche Umfeld zieht sich der arkadische Herrscher Basilius zurück, weil er einer Prophezeiung des delphischen Orakels entgehen möchte. Aufgrund des Spruches befürchtet er, dass fremde Prinzen ihn angreifen könnten, um ihm den Thron zu entreißen, dass seine ältere Tochter entführt werden und dass seine jüngere Tochter sich in einen der blutsverwandten Adligen verlieben könnte, die sich an seinem Hofe aufhalten.³¹ Deswegen verlegt er seinen Herrschersitz vom Palast in der Stadt in die freie Natur. Diese muss für ihn bereitet und deswegen kultivierend verändert werden: Er lässt als neuen Wohnsitz zwei kleine Häuser, in der Arcadia nur lodges (S. 6) genannt, auf einer Wiese errichten. Das Kommen des Basilius und der damit verbundene Einbruch des Höfischen in den Wald haben von Anfang an Auswirkungen auf die Schäfer. Die Eklogen dienen plötzlich nicht mehr dem bloßen Zeitvertreib und der Freude, sondern sind Aufführungen zur Unterhaltung des Herrschers. Es ist jedoch kein negativer Zwang, sondern eine Ehre, bei ihnen dabei zu sein. Ähnlich dem englischen Monarchen, für den der forest ein Raum des vergnüglichen Zeitvertreibs, nämlich der Jagd, ist, verbindet auch Basilius den Wald mit Vergnügen. Als er sich dorthin zurückzieht, heißt es, er würde „for his pleasure […] recreate […] [himself] with all those sports and eclogues wherein the shepherds of that country did much excel“ (S. 6). Nicht nur im natürlichen Aufbau gleichen sich also der englische und der arkadische Wald, sondern nun auch in ihrer Bestimmung als Räume der Freizeit und des Vergnügens für den Monarchen. Doch da Basilius als Herrscher seinen body natural nicht von seinem body politic trennen kann, kommt mit ihm auch das Politische in den Wald,³² was weitreichende Konsequenzen für die Hirten und ihre
In der New Arcadia werden die landwirtschaftlichen Tätigkeiten der Waldbewohner ausführlicher beschrieben, wenn beispielsweise Dametas Pamela darüber belehrt, wie und wann man Rinder füttert und wie man mit ihnen pflügt (siehe S. 151; siehe außerdem Borlik: Ecocriticism, S. 86). Vgl. auch Theis: Writing the Forest, S. 46. Mehr zum Orakel findet sich in dieser Arbeit: Kapitel 3.1.1. Aufgaben der Politik, wie sie in der Einleitung dieser Studie definiert wurde (also die Verwaltung und Steuerung des Reiches), überlässt Basilius hingegen seinen Beratern um den treuen Philanax.
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Umwelt hat, die plötzlich nicht mehr nur pastoral, sondern auch höfisch geprägt ist. Die Schäfer sind nun ein Teil der höfischen multitudo, die sich um den Fürsten schart. Da der Wald der Sitz des Herrschers ist, kommen außerdem Philanax und weitere arkadische Aristokraten, um nahe bei Basilius zu sein und die Regierungsgeschäfte mit ihm zu besprechen: „Philanax; who at that time was coming, accompanied with divers of the principal Arcadia lords […] thinking it was well his duty to see the duke as of good purpose, being so near, to receive his further direction […]“ (S. 247 f.).³³ Als Basilius dann zu sterben scheint, wird der Wald geradezu überschwemmt von Adligen und Städtern, die den Ort des Unglücks sehen wollen, über die Zukunft des Landes diskutieren und dem Gerichtsprozess gegen die angeblichen Herrschermörder beiwohnen. Für die einheimischen Hirten bleibt da kein Platz mehr: The shepherds, finding no place for them in these garboils, to which their quiet hearts (whose highest ambition was in keeping themselves up in goodness) had at all no aptness, retired themselves from among the clamorous multitude, and […] went up together to the western side of a hill (S. 284).
Die Schäfer sind von dieser ihnen so fremden Welt des Hofes überfordert. Sie möchten in Ruhe um ihren Herzog trauern und Elegien auf ihn dichten, doch müssen sie dafür das Tal, in dem die fürstlichen lodges und ihre eigenen Häuser stehen, verlassen und sich auf einen Hügel zurückziehen. Erst im Dunkel der Nacht können sie zurückkehren.³⁴ Der arkadische Wald als Hof entspricht allen Kriterien des formalen Hofbegriffs.³⁵ Er ist personal, zentralistisch und monarchisch angelegt. Interaktion und Anwesenheit sind wichtig. Basilius meint, nachdem er den Wald zu seinem Herrschersitz gemacht hat, diesen überwachen zu können. Er befiehlt, dass sich niemand seinen Häusern nähern dürfe außer ausgesuchten Dienern und den im Wald heimischen Hirten. Dabei verkennt er, dass der Wald eben gerade nicht sein Palast in Mantinea ist, sondern eine wilde Landschaft. Weder kann ein Wald durch Mauern abgegrenzt werden, noch ist er übersichtlich. Vielmehr erscheint er dem Menschen, der in ihm steht, unendlich und im wahrsten Sinne des Wortes undurchsichtig. Dies wird auch mehrfach in der Arcadia betont, etwa wenn beschrieben wird, wie Musidorus in Vorbereitung auf seine und Pamelas Flucht tagelang versucht, einen Weg
Mit Philanax kommt auch die Politik in den Wald. Vgl. auch Eckhard Lobsien: Imaginationswelten. Modellierungen der Imagination und Textualisierungen der Welt in der englischen Literatur 1580 – 1750. Heidelberg 2003 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 19). S. 77. Siehe diese Arbeit: Kapitel 1.2.
2.1 Der arkadische Wald
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durch den Wald zum Meer zu finden: „[…] having gotten leave for some days of his master Dametas […] he roamed round about the desert to find some unknown way, that might bring him to the next seaport“ (S. 163). Es ist deswegen unmöglich „ [to] ‘own’ the forest […]. [N]ature operates according to systems analogous to, but ultimately foreign from human social systems; thus, human political power is distinctively limited“.³⁶ Wiederholt wird in der Arcadia vorgeführt, dass Basilius keine Macht über den Wald hat. Wilde Tiere brechen beispielsweise in eine paradiesische Lichtung ein, auf der Hirten Eklogen für die Herrscherfamilie aufführen wollen. Eine Waldlichtung ist – anders als etwa ein Gartentheater – eben nicht eingegrenzt, sondern von allen Seiten her zugänglich. Außerdem sind ein Löwe und eine Bärin ihrer Natur nach nicht kontrollierbar. Ebenso wie die Wildtiere nicht zu beherrschen sind, kann Basilius im Wald aber auch die Menschen nur schwer überwachen. Bevor Pyrocles sich als Amazone verkleidet und zu der Herrscherfamilie zieht, gelingt es ihm, sich mit Musidorus wiederholt verbotenerweise in den herzoglichen Wald einzuschleichen, um nahe bei Philoclea zu sein und die Natur anschauen zu können, die auch die Prinzessin täglich betrachtet: Desirous he was to see the place where she remained […] [it] was his chief delight secretly to draw his dear friend a-walking to the desert of the two lodges where he saw no grass upon which he thought Philoclea might hap to tread but that he envied the happiness of it (S. 11).
Dies wäre in einem besser zu schützenden Palast nicht möglich. Im Wald aber ist ein undurchlässiger Schutz eines Ortes nicht möglich, und man kann nie wissen, wer oder was sich in den Tiefen der Wälder verbirgt. So ahnen weder Basilius noch die anderen Aristokraten oder die Hirten, dass nach der befriedeten Rebellion der Phagonier ein Teil der Aufständischen in die herzoglichen Wälder flieht, um möglichen Strafen zu entgehen:³⁷ […] a few to the number of dozen, in whom their own naughtiness could suffer no assurance, fled to certain woods not far off, where they kept themselves to see how the pardon should be observed; where feeding wildly upon grass and such other food, drinking only water, they were well disciplined from their drunken riots (S. 116).
Gesetzlose, die versteckt in Wäldern leben, haben in der englischen Literatur eine lange Tradition. Das berühmteste Beispiel ist Robin Hood, dessen Leben in
Theis: Writing the Forest, S. 87. Zur Rebellion der Phagonier siehe diese Arbeit: Kapitel 5.1.1.
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mehreren Balladen erzählt wird, die ab dem 14. Jahrhundert niedergeschrieben, zuvor aber bereits in der mündlichen Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben wurden.³⁸ Anders als Robin Hood und andere outlaws, die seinem Vorbild folgen, haben die arkadischen Rebellen aber keine hehren Ziele: Sie wollen nicht etwa den Armen helfen,³⁹ sondern denken nur an sich selbst. Dies zeigt nicht nur die unrechtmäßige Rebellion gegen den Herrscher und die anschließende Flucht, sondern später auch der Umgang der Gesetzlosen mit ihren Gefangenen Musidorus und Pamela, die sie nur deswegen nicht töten, weil sie sich einen Straferlass und eine zusätzliche Belohnung erhoffen: As for the killing, already they having answered themselves that that was a way to make them citizens of the woods for ever, they did in fine conclude they would return them [Musidorus und Pamela] back again to the duke, which they did not doubt would be a cause of a great reward, besides their safety from their fore-deserved punishment (S. 268 f.).
Die Vorstellung von Verbrechern, die in Wäldern leben und Reisende überfallen, entspricht durchaus der Realität im England zu Sidneys Zeit, denn die Wälder lagen – ebenso wie der arkadische Wald – außerhalb des Einflusses obrigkeitlicher Kontrolle, sodass dort relative Freiheit herrschte: Perhaps the most provocative, but least tangible, attraction of the forest was the relative freedom it afforded sixteenth and seventeenth century migrants. Forests were removed from the authority figures of church and state because squires and parsons were not close by to keep people in order. And the difficulty in controlling these people fostered a class of individuals quickly stirred to disorder.⁴⁰
Aus Sicht der geistlichen wie weltlichen Gewalten waren diese Gesetzlosen wenig besser als wilde Tiere, da sie nicht beherrscht werden konnten.⁴¹ Diese Vorstellung findet sich ebenfalls in der Arcadia, wo die geflohenen Rebellen mit beasts verglichen werden, als sie Pamela und Musidorus überfallen: For indeed these were the scummy remnant of those Phagonian rebels whose naughty minds could not trust so much to the goodness of their prince as to lay their hang-worthy necks upon the constancy of his promised pardon. Therefore, when the rest (who as sheep
Siehe auch Harrison: Forests, S. 77. Näheres zu Robin Hood (im Vergleich mit der Figur des Duke Senior aus Shakespeares As You Like It) findet sich bei Theis: Writing the Forest, S. 56 f.; für mehr Informationen zu outlaws und Vagabunden in der englischen Frühen Neuzeit siehe John Briggs [u. a.]: Crime and Punishment in England. An Introductory History. New York 1996. S. 18 f. Theis: Writing the Forest, S. 14. Siehe Thomas: Man and the Natural World, S. 45.
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had but followed their fellows) so sheepishly had submitted themselves, these only committed their safety to the thickest part of those desert woods; who, as they were in the constitution of their minds little better than beasts, so were they apt to degenerate to a beastly kind of life, having these few days already framed their gluttonish stomachs to have for food the wild benefits of nature, the uttermost end they had being but to draw out as much as they could the line of a tedious life (S. 265 f., meine Hervorhebungen).
Die phagonischen Aufständischen, die nur Mitläufer waren und dann das Gnadenangebot des Basilius angenommen haben, werden mit Schafen verglichen, da sie, ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, sowohl bei der Rebellion mitgemacht haben als auch dem Friedensabkommen zugestimmt haben. Die Aufwiegler, die die Schuld an der Rebellion tragen und aus Angst, Basilius könne das Gnadenversprechen womöglich nicht einhalten, in den Wald fliehen, sind hingegen wie die wilden Tiere und leben auch ebenso, da ihnen nur die Ressourcen des Waldes als Speis’ und Trank dienen. Anhand der Rebellen führt Sidney vor, wie instabil die Unterscheidung Mensch-Tier sein kann. Denn obwohl diese Trennung ebenso wie die von Mann und Frau grundlegend ist in der westlichen Kultur, ist sie keineswegs selbstverständlich,⁴² sondern kann, wie das Leben der Rebellen in den arkadischen Wäldern zeigt, sehr schnell brüchig werden. Basilius und die Rebellen haben ähnliche Motive für ihren Rückzug in den Wald. Um Dingen aus dem Weg zu gehen, die ihnen in ihrem Stadt- oder Palastleben drohen, beginnen sie ein neues und ganz anderes Leben im Wald.⁴³ Dieser dient ihnen als Refugium und ist für sie zugleich ein Ort der Freiheit. Basilius etwa meint, ohne Regierungsverantwortung nur für seine Vergnügungen leben zu können: And so for himself, being so cruelly menaced by fortune, he would draw himself out of her way by this loneliness, which he thought was the surest mean to avoid her blows; where for his pleasure he would be recreated with all those sports and eclogues wherein the shepherds of that country did much excel (S. 6).
Die Aufständischen führen im Gegensatz zu Basilius zwar ein erbärmliches Leben im Wald, aber sie überleben immerhin und sind außerdem frei, was für sie die widrigen Umstände dieses Waldlebens auszugleichen scheint. Sobald sie sich jedoch in der Hoffnung, in ihr altes Stadtleben zurückkehren zu können, anderen Menschen zeigen, wird ein Teil von ihnen von Philanax’ Soldaten getötet und zur
Siehe Andreas Höfele: Stage, Stake, and Scaffold. Humans and Animals in Shakespeare’s Theatre. Oxford [u. a.] 2011. S. 24; vgl. außerdem Bruce Boehrer: Shakespeare among the Animals. Nature and Society in the Drama of Early Modern England. Basingstoke und New York 2002 (Early Modern Cultural Studies). S. 27 f.; zur Trennung Mann-Frau siehe diese Arbeit: Kapitel 4.1.2. Vgl. auch Theis: Writing the Forest, S. 55.
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Abschreckung weiterer möglicher Gesetzloser im Wald zurückgelassen. Die anderen werden gefangen genommen (siehe S. 274). Der Wald in der Arcadia ist also durchaus kein durchweg ‚arkadischer‘ Raum. Er ist – zusammenfassend formuliert – ursprünglich die Heimat der Schäfer, die dort arbeiten und dichten. Durch den Versuch des Basilius, mit einem Rückzug in diesen Wald der Vorausdeutung des Orakels zu entgehen, wird der Wald außerdem zum Herrschersitz und damit zu einem politischen Raum. Er stellt nun die materielle Natur der höfischen Ordnung Arkadiens dar. Diese ist eindeutig unterschieden von der Umwelt des Palastes.⁴⁴ In dem klar begrenzten Bereich seiner Residenz kann Basilius leicht herrschaftliche Kontrolle und Macht ausüben. Im undurchsichtigen und unabgegrenzten Wald hingegen sind diese Kontrolle und Macht eingeschränkt, was der Fürst zwar nicht erkennt, aber wiederholt erleben muss.
2.1.2 Der Wald als Handlungsraum Der Wald als Lebensraum von Menschen verbindet auf komplexe Weise Natur und Kultur miteinander, sodass die beiden Konzepte einerseits untrennbar miteinander verbunden sind, andererseits aber doch unterschieden werden müssen. Denn der Wald ist nicht der Palast oder die Stadt und dem Menschen bis zu einem gewissen Grad immer unverfügbar. Aufgrund dieser speziellen Eigenschaft ist der Wald ein geeigneter Experimentalraum für alternative Lebensmodelle. Auch in der Arcadia fungiert der Wald als solch ein Ermöglichungsraum. Die Figuren können hier anders agieren, andere Verhaltensweisen und Handlungsmuster erproben als in ihrem bisherigen Lebensraum.⁴⁵ Der Wald dient vor allem den Prinzen Pyrocles und Musidorus als Raum, der ihren Rollenwechsel möglich macht. In ähnlicher Art wie ungefähr 20 Jahre später William Shakespeare in As You Like It die Bühne zum Wald macht und den Wald zur Bühne,⁴⁶ wird auch Sidneys arkadischer Wald zu einem Theater- und Verwandlungsraum, in dem es möglich ist, neue Rollen auszuprobieren. Dies entspricht ganz der Konvention: „[…] sylvan pastoral creates a forest stage where they [die Figuren] try on roles that
Vgl. auch ebd., 63. Siehe ebd., 41. Eine in diesem Zusammenhang interessante Hypothese besagt, dass As You Like It 1603 in Wilton uraufgeführt wurde, dem Landsitz der Pembrokes, wo Sidney 1580 Teile der Arcadia verfasste und sich von der Landschaft inspirieren ließ (siehe Michael Hattaway: Introduction. In: As You Like It. Hg. von Michael Hattaway. Cambridge [u. a.] 2009 [The New Cambridge Shakespeare]. S. 1– 81. S. 54).
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help them test and create different identities“.⁴⁷ Diese Verbindung von Raum und Rolle, also die Tatsache, dass „the […] woods had such a power to transform everybody“ (S. 38), wie Pyrocles es ausdrückt, thematisiert die Arcadia. Für das Verkleidungsspiel der beiden Prinzen ist der Wald grundlegend. Bei Pyrocles wird dies bereits zu dem Zeitpunkt deutlich, an dem er in die Rolle der Amazone Cleophila schlüpft. Denn er und Musidorus wohnen zu dieser Zeit in Mantinea, aber es wird betont, dass Pyrocles die Stadt eigens verlässt, um sich an einem Ort außerhalb Mantineas zu verkleiden, wo er nicht auffällt (siehe S. 12 und S. 24). Der Rollenwechsel scheint nicht in der Stadt möglich zu sein, sondern nur im Wald. Auch für Pyrocles’ erdachte Lebensgeschichte seiner Amazonenfigur ist der Wald wichtig. Denn nur dort ist seine Behauptung glaubhaft, er irre ziellos umher: „[…] uncertain wandering guided me to this place“ (S. 33). Zudem leben im Wald weniger Menschen als in Stadt und Palast, sodass Pyrocles nicht fürchten muss, entdeckt zu werden. Dies ist nämlich seine große Sorge, als Basilius ihm mitteilt, er wolle in seinen Palast zurückkehren: [Basilius] was now inclined to return to his palace in Mantinea, and there he hoped he should be better able to show how much he desired to make all he had hers [Pyrocles’/ Cleophila’s] […]. This, indeed, nearly pierced Cleophila; for the good beginning she had obtained of Philoclea made her desire to continue the same trade till unto the more perfecting of her desires; and to come to any public place she did deadly fear, lest her mask by many eyes might the sooner be discovered, and so her hopes stopped, and the state of her joys endangered (S. 156).
Für Musidorus ist der Wald als Handlungsraum sogar noch fundamentaler. Er nimmt die Rolle eines Schäfers, also eines Waldbewohners, an, da dies seiner Einschätzung nach der leichteste Weg ist, die Prinzessin Pamela kennenzulernen. Denn nur Hirten haben Zutritt zum Herrschersitz: […] he had not gone a little but that he met with a shepherd […] who was as then going to meet with other shepherds (as upon certain days they had accustomed) to do exercises of activity and to play new-invented eclogues before the duke. Which, when Musidorus had learned of him […] it came straight into his head that there were no better way for him to come by the often enjoying of the princess Pamela’s sight than to take the apparel of this shepherd upon him. Which he quickly did, giving him his own much richer; and withal, lest the matter by him might be discovered, hired him to go without stay into Thessalia […]. Yet before Menalcas departed (for so was his name), he learned of him both his own estate and the manner of their pastimes and eclogues (S. 37).
Theis: Writing the Forest, S. 75.
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2 Natur als Schauplatz
Um die Rolle eines Schäfers überzeugend darzustellen, verkleidet Musidorus sich nicht nur als einer, sondern informiert sich zusätzlich über die Tätigkeiten eines Hirten. Erst als er „thus furnished“ (S. 38) ist, beginnt er sein neues Schäferleben. Der Prinz hat keinerlei Schwierigkeiten, in der Schäfergemeinschaft aufgenommen zu werden. Dies liegt unter anderem daran, dass er als exzellenter Sänger in den Eklogen glänzen kann. Wie die anderen Schäferdichter übernimmt er dabei ebenfalls Motive aus der Lebenswelt der Hirten, etwa das des Wolfes, der eine Schafsherde bedroht: „O herds, taked heed! for I a wolf have found/Who, hunting round the strongest for to kill“ (S. 123). Musidorus besingt außerdem ebenso wie die anderen Schäfer den Lebensraum Wald. Im wohl einschlägigsten Beispiel, das auf den klassischen Topos des Baumkatalogs zurückgreift, zeigt der Prinz, wie seine Affekte den Bäumen und damit einem Teil der Natur entsprechen. An dieser Stelle wird die Interdependenz von sylvan environment und Figur in paradigmatischer Weise deutlich. Musidorus und die Bäume ‚verwachsen‘ geradezu miteinander: And when I meet these trees, in the earth’s fair livery clothed, Ease I do feel (such ease as falls to one wholly diseased) For that I find in them part of my estate represented. Laurel shows what I seek, by the myrrh is showed how I seek it, Olive paints me the peace that I must aspire to by conquest: Myrtle makes my request, my request is crowned with a willow. Cypress promiseth help, but a help where comes no recomfort. Sweet juniper saith this, though I burn, yet I burn in a sweet fire. Yew doth make me bethink what kind of bow the boy holdeth Which shoots strongly without any noise and deadly without smart. Fir trees great and green, fixed on a high hill but a barren, Like to my noble thoughts, still new, well placed, to me fruitless. Fig that yields most pleasant fruit, his shadow is hurtful, Thus be her gifts more sweet, thus more danger to be near her, But in a palm when I mark how he doth rise under a burden, And may I not (say I then) get up though griefs be so weighty? Pine is a mast to a ship, to my ship shall hope for a mast serve? Pine is high, hope is as high; sharp-leaved, sharp yet be my hope’s buds. Elm embraced by a vine, embracing fancy reviveth. Poplar changeth his hue from a rising sun to a setting: Thus to my sun do I yield, such looks her beams do afford me. Old aged cloak cut down, of new works serves to the building: So my desires, by my fear cut down, be the frames of her honour. Ash makes spears which shields do resist, her force no repulse takes: Palms do rejoice to be joined by the match of a male to a female, And shall sensive things be so senseless as to resist sense? Thus be my thoughts dispersed, thus thinking nurseth a thinking, Thus both trees and each thing else be the books of a fancy. But to the cedar, queen of woods, when I lift my beteared eyes,
2.1 Der arkadische Wald
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Then do I shape to myself that form which reigns so within me, And think there she do dwell and hear what plaints I do utter: When that noble top doth nod, I believe she salutes me; When by the wind it maketh a noise, I do think she doth answer (S. 76 f.).
Die Vorbilder für einen solchen enzyklopädischen Baumkatalog finden sich in Ovids Metamorphosen, in Geoffrey Chaucers The Parliament of Fowls und in Jacopo Sannazaros Arcadia. ⁴⁸ Doch wie Todd A. Borlik zeigt, ist „Sidney’s rendition […] unprecedented both in its length and the complexity of associations the trees evoke“.⁴⁹ Außerdem ist Sidneys Baumkatalog der erste, der in einer Zeit entstand, in der Baum- und Pflanzenkataloge auch in wissenschaftlichen Abhandlungen, Herbarien und landwirtschaftlichen Handbüchern niedergeschrieben wurden.⁵⁰ Im Gegensatz zu solchen Prosatexten, bei denen oftmals der wirtschaftliche Nutzen von Bäumen im Vordergrund steht, betont Sidneys literarischer Baumkatalog die symbolischen Bedeutungen der verschiedenen Bäume, die oftmals zurückgeführt werden können auf die Bibel oder die klassische Mythologie. Nur drei Bäume – die Pinie, die Eiche und die Esche – stehen in einem technischen Zusammenhang,⁵¹ der seinerseits die Wichtigkeit von Holz für die Kultur und vor allem auch für England zeigt: Die Bäume dienen dem Schiffsbau, dem Häuserbau und der Herstellung von Waffen.⁵² Zugleich sind diese drei Bäume Symbole für die Gefühlslage des Liebenden. Musidorus’ Baumkatalog ist im Handlungszusammenhang der Arcadia betrachtet in erster Linie ein Gedicht für die Prinzessin Pamela über die Liebe und das Leiden des Sprecher-Ichs. Dementsprechend finden sich sexuelle Anspielungen. Das Sprecher-Ich projiziert dabei seine Sehnsüchte auf die Bäume: So wie der wilde Wein die Ulme umarmt, möchte das Sprecher-Ich die Geliebte umarmen und so wie die Palmen jubeln, wenn eine männliche und eine weibliche Palme match, so möchte das Sprecher-Ich froh-
Sannazaros Arcadia, die auch in der Defence Erwähnung findet (Sidney: Defence, S. 25 und 44), gilt als eine der grundlegenden Quellen für Sidneys Arcadia: „Italian literature was his [Sidney’s] riches quarry. The enormously popular Arcadia of Jacopo Sannazaro (Naples, 1504, and many editions thereafter), which alternates twelve short prose descriptions with twelve verse eclogues, provided Sidney with his title, his setting, models for many verse forms, and even some specific lines“ (Duncan-Jones: Introduction, S. xi f., zu Sannazaros Arcadia siehe auch Wehle: Arkadien oder das Venus-Prinzip). Borlik: Ecocriticism, S. 78. Siehe ebd., 79. Ein Beispiel für einen solchen wissenschaftlichen Baumkatalog aus dem 16. Jahrhundert findet sich ebd., 75 f. Vgl. ebd., 79. Zur Wichtigkeit von Holz als Ressource im frühneuzeitlichen England siehe Theis: Writing the Forest.
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2 Natur als Schauplatz
locken, wenn es mit der Geliebten zusammenkommt.⁵³ Außerdem zeigt Musidorus mit dem Baumkatalog, dass er sich im Wald so gut auskennt, als hätte er schon immer in und mit der Natur gelebt. Ganz wie der Hirte, der er zu sein vorgibt, kann er die Natur ordnen und verstehen. Musidorus spielt seine Schäferrolle überzeugend, und sein neu erlerntes Wissen hilft ihm auch später weiter: Die Fähigkeit, einen eigentlich fremden und verwirrenden Raum wie den Wald in einen bekannten umzuwandeln, kommt dem Prinzen nämlich auch bei seinem Fluchtversuch mit Pamela zugute: Er lernt zunächst einige Tage die Wildnis kennen – liest sich gleichsam in sie ein – und findet dann tatsächlich einen Weg durch den Wald, um mit Pamela zum Meer fliehen zu können. Diese Flucht wird dann von Menschen gestört. Die Natur stellt sich ihm nicht in den Weg, sondern präsentiert sich gewissermaßen von ihrer besten Seite.⁵⁴ Der Wald ist jedoch nicht nur der Raum, in dem Figuren leicht neue Identitäten annehmen können, sondern auch einer, in dem die Figuren sich intensiv mit sich selbst auseinandersetzen können und ihre innersten Gedanken und Gefühle mit der Natur teilen.⁵⁵ Von allen Aristokraten, die ja (bis auf Pyrocles und Musidorus) nicht selbst bei den Eklogen auftreten, wird berichtet, wie sie von den lodges in die woods gehen, um der Natur ihr Liebesleid zu klagen. Als Beispiel sei hier ein Ausflug der Prinzessin Philoclea in die Natur zitiert: […] as one night that, the moon being full did show herself in her most perfect beauty, the unmatched Philoclea secretly stale from her parents […] and going with uncertain paces to a little wood, where many times before she had delighted to walk, her rolling eye lighted upon a tuft of trees, so closely set together as with the shade the moon gave though it, it bred a fearful devotion to look upon it […] laying all her fair length under one of the trees, for a while the poor soul did nothing but turn up and down and hide her face (S. 95f.).
Es scheint, als möchte die Prinzessin, dass die Natur ihr Trost spendet in ihrer Verzweiflung, die sie mit niemandem teilen kann. Deswegen ruft sie ihren Kummer in den Wald und in den Himmel: ‘O me, unfortunate wretch,’ said she, ‘what poisonous heats be these that thus possess me? How hath the sight of this strange guest invaded my soul? Alas, what entrance found this desire; or what strength had it thus to conquer me?’ Then looking to the stars, which had perfectly as then beautified the clear sky, ‘My parents’, said she, ‘have told me that in these fair heavenly bodies there are great hidden deities which have their working in the ebbing and flowing of our estates. If it be so, then, O ye stars, judge rightly of me’ (S. 97).
Siehe auch Borlik: Ecocriticism, S. 79. Zu diesem locus amoenus siehe auch diese Arbeit: Kapitel 2.2. Vgl. auch Theis: Writing the Forest, S. 43.
2.1 Der arkadische Wald
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Ihr Verhalten gleicht hier ganz dem der so viel späteren literarischen Heldinnen von Emily Brontë und Anna de Noailles, wie es Simone de Beauvoir beschreibt. Es ist sozusagen proto-romantisch: Die zitierten Texte machen deutlich, welchen Rückhalt das junge Mädchen in der offenen Landschaft, in den Wäldern findet. Im Elternhaus waltet die Mutter, es herrschen Gesetze, Sitten, routinemäßige Gewohnheiten. Die Jugendliche will weg von dieser Vergangenheit […] Das Geheimnis der Wälder offenbart ihr ein Bild von der Einsamkeit ihrer Seele.⁵⁶
Wie Philocleas Beispiel zeigt, eignen sich die Einsamkeit und Schönheit des Waldes dazu, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben. Überdies helfen sie dabei, in Ruhe nachzudenken, wie Musidorus in der ersten Strophe eines Gedichtes, das er in den Eklogen vorträgt, sehr poetisch zusammenfasst: O sweet woods, the delight of solitariness! O how much I do like your solitariness! Where man’s mind hath a freed consideration Of goodness to receive lovely direction; Where senses do behold th’order of heav’nly host, And wise thought do behold what the creator is. Contemplation here holdeth his only seat, Bounded with no limits, borne with a wing of hope, Climbs even unto the stars; nature is under it. Naught disturbs thy quiet, all to thy service yield, Each sight draws on a thought (thought mother of science), Sweet birds kindly do grant harmony unto thee, Fair trees’ shade is enough fortification, Nor danger to thyself, if be not in thyself (S. 145 f.; V. 1 f.).
In diesen fast schon romantisch verklärenden „verses, called asclepiadics“ (S. 145)⁵⁷ zeichnet das Sprecher-Ich das Bild eines harmonisches Waldes, der so einsam ist, dass man vollkommen alleine mit der Natur ist, sodass man dort seine Gedanken schweifen lassen und den Schöpfer erkennen kann. Ironischerweise ist der arkadische Wald aber fast das Gegenteil von diesem von Musidorus besungenen Wald. Das
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Hamburg 2000. S. 444 f. William A. Ringler weist darauf hin, dass es zwar in der Arcadia heißt, die Verse seien asklepiadeisch, aber das Versmaß in 16 der 42 Verse nicht eingehalten wird. Ringler zufolge deutet das darauf hin, dass „O sweet woods, the delight of solitariness“ ein frühes Gedicht Sidneys ist und nicht ursprünglich für die Arcadia komponiert wurde (siehe William A. Ringler: The Poems of Sir Philip Sidney. Oxford 1962. S. 404).
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2 Natur als Schauplatz
Gedicht wird in den zweiten Eklogen vorgetragen, also unmittelbar nachdem der Wald geradezu überschwemmt wurde von einem gewalttätigen Mob. Doch selbst wenn alles friedlich ist, sind die Figuren im arkadischen Wald so gut wie nie alleine und vor allem gerade dann nicht, wenn sie meinen, sie seien es. Philoclea, die, wie bereits dargestellt, ihr Liebesleid der Vollmondnacht verkündet, wird nicht entdeckt und trifft auch niemanden bei ihrem Waldausflug. Damit steht sie aber alleine da. Denn sogar wenn die Figuren selbst nicht belauscht werden, so belauschen sie dann doch in der Regel zumindest andere Figuren. Eines frühen Morgens beispielsweise vertraut die Herzogin Gynecia ihre Gefühle der Natur an: […] no sooner had the night given place to the breaking out of the morning’s light and the sun bestowed his beams upon the tops of the mountains but that the woeful Gynecia […] had left her loathed lodging and gotten herself into the solitary places those deserts were full of, going up and down with such unquiet motions as the grieved and hopeless mind is wont to bring forth (S. 80).
Dort, fernab der verhassten Häuser ruft sie in verzweifelten Apostrophen die Sonne, den Himmel und die Wildnis an: Die Sonne fragt sie, ob diese sich nicht schäme, „to impart the clearness of thy presence to such an overthrown worm“ (S. 80). Den Götterhimmel bittet sie, sie zu ihrer alten Tugend zurückzuführen, und der Wildnis erklärt sie, sie passe zu ihr, da ihr Herz ebenso mit wilden, raubgierigen Bestien gefüllt sei wie die abgeschiedene Gegend. In Gedanken versunken irrt sie nach dieser Klage weiter umher, bis sie auf einmal eine andere, ebenfalls unglücklich klingende Stimme vernimmt. Sie versteckt sich hinter einer Gruppe von Bäumen, um der Stimme zu lauschen und fühlt sich verstanden. Hinter der klagenden Stimme verbirgt sich Pyrocles, der ebenfalls früh morgens in den Wald gegangen ist, „to breathe out [his sorrows] in secret“ (S. 82) und deswegen im Wald dichtet und singt, nicht ahnend, dass Gynecia mithört. Anders als in den von de Beauvoir beschriebenen Werken suchen in der Arcadia nicht nur junge Mädchen Trost im Wald, sondern auch Männer und ältere Frauen. Die Fürstin, die nicht weiß, wen sie eigentlich belauscht, gibt sich nach einer Weile zu erkennen und erschrickt, als sie ihren geliebten Pyrocles sieht, so sehr, dass sie eine Art Nervenzusammenbruch erleidet. Pyrocles seinerseits befürchtet, dass er sich selbst mit seinem Gesang verraten hat. Und in der Tat ruft Gynecia: „Take pity of me, O Cleophila, but not as Cleophila, and disguise not with me in words, as I know thou dost in apparel“ (S. 83). Pyrocles bleibt daraufhin erschrocken stehen und weiß nicht, was er antworten soll. In diesem Moment sehen die Fürstin und der Prinz den Basilius, der seinerseits ebenso am frühen Morgen in den Wald gekommen ist, um diesem seinen Kummer zu klagen: „But as she [Pyrocles] was amazedly thinking what to answer her [Gynecia], they might see old Basilius pass
2.2 Natur als Kunstwerk und Gefahrenzone
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hard by them, without ever seeing them, complaining likewise of love very freshly, and ending his complaint with this song“ (S. 83). Die drei Figuren wollen gleichermaßen die vermeintliche Einsamkeit des Waldes nutzen, um in Zwiesprache mit der Natur ihr Leid zu kommunizieren. Dabei bleibt nur Gynecia als erste in der Kette unbeobachtet, kann aber ihre Affekte dann auch nicht vor Pyrocles verheimlichen. Der Prinz und der Fürst werden beide, ohne es zu wissen, belauscht. Dies ist nicht das einzige Mal, dass so etwas geschieht. Basilius versteckt sich zum Beispiel ähnlich wie seine Frau hinter einem Baum, um Pyrocles zu beobachten (siehe S. 100) und auch Philoclea belauscht die geliebte Amazone (siehe S. 103 f.). Selbst wenn die Figuren also meinen, alleine im Wald zu sein und offen zur Natur über ihre Gefühle sprechen zu können, befinden sie sich eigentlich in einer Aufführungssituation. Auch hier zeigt sich wiederum die höfische Dimension des Naturraums: Das Beobachten und Beobachtetwerden, das den frühneuzeitlichen Hof kennzeichnet und das geradezu modellhaft in Shakespeares Hamlet oder in Baldassare Castigliones Il Libro del Cortegiano vorgeführt wird, charakterisiert auch den Waldschauplatz der Arcadia. Der Wald gleicht einmal mehr einer Bühne. Diese unterscheidet sich allerdings von der Bühne, auf der Pyrocles und Musidorus als Amazone und Hirte auftreten, da sie von den Figuren nicht als solche erkannt wird. Außerdem werden keine Rollen gespielt. Vielmehr tragen die Figuren ihre innersten Gefühle und Gedanken nach außen. Dieses Außen ist die Wildnis, die sich – anders als die kultivierten Teile des Waldes um die Herrscherhäuser herum – dazu anbietet, den eigenen Gefühle Ausdruck zu geben, weil die Figuren – wie es beispielsweise Gynecia ausspricht – in ihr die Naturgewalt der eigenen Affekte zu erkennen glauben. Der Wald der Arcadia ist also weit mehr als bloße Kulisse. Er ist ein Lebensraum für Schäfer, Aristokraten und Rebellen und damit Handlungsraum, der den Plot möglich macht: Nur im Raum des Waldes kann das Verkleidungsspiel der Prinzen aufgeführt werden. Nur dieser Raum bietet den Figuren außerdem die Möglichkeit, offen ihre Gefühle und Gedanken zu verkünden, was immer wieder die Handlung vorantreibt.
2.2 Natur als Kunstwerk und Gefahrenzone In der Arcadia finden sich neben den eher allgemein gehaltenen Aussagen über den Wald als Raum drei ausführliche Naturbeschreibungen von spezifischen Bereichen in diesem Wald. Diese drei Naturausschnitte der Arcadia werden vom Erzähler oder von Figuren als loci amoeni beschrieben. Die Arcadia folgt hier der Tradition der Pastoraldichtung sowie dem literarischen Topos von Arkadien: Seit den Anfängen der Hirtendichtung bei Theokrit und vor allem seit Vergil, der Arkadien als den Schauplatz von Eklogen einführt, ist diese Ideallandschaft defi-
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2 Natur als Schauplatz
niert als idyllische sattgrüne Blumenwiese mit einem plätschernden Bach oder einer Quelle und Bäumen, unter denen die dichtenden Schäfer lagern und die ihnen Schatten spenden.⁵⁸ Die erste Naturbeschreibung in der Arcadia stammt von Pyrocles und ist die einzige, die nicht vom Erzähler, sondern von einer Figur kommt. Der Ort, den der Prinz hier seinem Cousin Musidorus beschreibt, als dieser fragt, warum er immerzu die Einsamkeit der Wildnis suche, ist der Rückzugsort der Herrscherfamilie: And lord! dear cousin […] doth not the pleasantness of this place carry in itself sufficient reward for any time lost in it, or for any such danger that might ensue? Do you not see how everything conspires together to make this place a heavenly dwelling? Do you not see the grass, how in colour they excel the emeralds, everyone striving to pass his fellow – and yet they are all kept in an equal height? And see you not the rest of all these beautiful flowers, each of which would require a man’s wit to know, and his life to express? Do not these stately trees seem to maintain their flourishing old age with the only happiness of their seat, being clothed with a continual spring because no beauty here should ever fade? Doth not the air breathe health, which the birds, delightful both to the ear and eye, do daily solemnize with the sweet concent of their voices? Is not every echo here a perfect music? And these fresh and delightful brooks, how slowly they slide away, as loath to leave the company of so many things united in perfection! And with how sweet a murmur they lament their forced departure! Certainly, certainly, cousin, it must needs be that some goddess this desert belongs unto, who is the soul of this soul; for neither is any less than a goddess worthy to be shrined in such a heap of pleasures, nor any less than a goddess could have made it so perfect a model of the heavenly dwellings (S. 14).
Das Refugium der Herrscherfamilie ist unverkennbar ein locus amoenus. Es finden sich in Pyrocles’ Beschreibung alle einen Lustort definierenden Merkmale: Das Gras ist grüner als Smaragde, wächst hoch und hat überall die exakt gleiche Länge, es blühen wunderschöne Blumen, es gibt immergrüne, hohe Bäume, die Luft ist rein, die Vögel singen lieblich, und Bäche plätschern fröhlich dahin. Pyrocles zeichnet ein Bild der Perfektion und Harmonie, in dem alle Konflikte aufgelöst scheinen.⁵⁹ Diese Idylle wirkt auf den Prinzen so schön, dass sie kaum naturwüchsig sein kann, sondern von einer Göttin geschaffen sein muss. Zweimal
Vgl. beispielsweise Garber: Arkadien, S. 12 f. Eine ausführliche vergleichende Betrachtung der loci amoeni bei Theokrit,Vergil und anderen findet sich bei Klaus Garber: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln und Wien 1974 (Literatur und Leben, Neue Folge 16). S. 85 f. Zur Entstehung des Begriffs ‚locus amoenus‘ siehe Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München 1961. S. 199. Sidney beschreibt einen solchen Ort in seiner Defence als Maß, an dem sich die Dichtkunst messen lassen muss: „[…] pleasant rivers, fruitful trees, sweet-smelling flowers […]“ (Sidney: Defence, S. 9). Vgl. hierzu auch Haber: Pastoral, S. 70 f.
2.2 Natur als Kunstwerk und Gefahrenzone
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– einmal zu Beginn der Beschreibung und einmal am Schluss – wird die Landschaft mit dem Götterhimmel verglichen, so vollkommen mutet sie Pyrocles an. Die Zufluchtsstätte kann also als ein kleines, der literarischen Tradition folgendes Arkadien im großen Fürstentum des Basilius verstanden werden.⁶⁰ Wolfgang Iser nennt sie deswegen ‚Binnenarkadien‘.⁶¹ Pyrocles ist zu dem Zeitpunkt dieser enthusiastischen Preisung bereits in Philoclea verliebt, und das scheint seine Wahrnehmung zu beeinflussen. Denn Musidorus, der hier noch nicht sein Herz verloren hat, reagiert keineswegs so begeistert auf die Landschaft wie sein Vetter. Er gesteht zwar zu, dass Arkadien nicht unerfreulich sei, meint aber, Pyrocles’ Vaterland Makedonien und das Tempe-Tal in seiner eigenen Heimat Thessalien seien nicht minder schön: „In truth, it is not unpleasant; but yet, if you would return into Macedon, you should see either many heavens or find this no more than earthly. And even Tempe, in my Thessalia […] is nothing inferior unto it“ (S. 15). Musidorus’ Einwand schmälert die Schönheit Arkadiens aber nur wenig: Auch Makedonien ist für seine landschaftliche Schönheit berühmt, und mit dem Tempe-Tal wählt Musidorus die geradezu exemplarisch schönste Landschaft Thessaliens als Vergleich zu Arkadien,⁶² die wie Arkadien selbst ebenfalls als beispielhafter locus amoenus im europäischen Gedächtnis verankert ist.⁶³
Helen Cooper weist darauf hin, dass Sidney der erste Autor ist, der Arkadien in der Pastoraldichtung nicht nur als einen locus amoenus konzipiert, sondern auch als einen Staat (siehe Helen Cooper: Pastoral: Mediaeval into Renaissance. Ipswich 1977. S. 146). Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/Main 1991. S. 110. Das Tempe-Tal gibt es tatsächlich in Thessalien und es war und ist (anders als das reale Arkadien) berühmt für seine landschaftliche Schönheit (siehe auch Lienau: Die griechischen Landschaften, S. 17 f. und Ismene Deter: Ein Tempe in Taunus.Vision eines hessischen Fürsten. In: Griechische Landschaften. Sehnsuchts- und Erinnerungsorte: Arkadien – Kythera – Tempe – Delphi. Hg. von Horst-Dieter Blume und Cay Lienau. Münster 2009 [Münstersche GriechenlandStudien 7]. S. 69 – 110. S. 73 f.). Siehe Curtius: Europäische Literatur, S. 205 f. Plinius der Ältere beschreibt das Tempe-Tal in der Historia Naturalis beispielsweise als locus amoenus und verwendet dabei sogar das Wort ‚amön‘: „in eo cursu Tempe vocant, Ṽ passuum longitudine et ferme sesquiiugeri latitudine, ultra visum hominis attollentibus se dextra laevaqur leniter convexis iugis, intus silva late viri dante, hac labitur Penius viridis calculo, amoenus circa ripas gramine, canorus avium concentu“ (Gaius Plinius Secundus: Naturkunde. Lateinisch – Deutsch. Geographie: Europa. Bücher III/IV. Hg. und übersetzt von Gerhard Winkler in Zusammenarbeit mit Roderich König. Düsseldorf und Zürich 2002 [Sammlung Tusculum]. S. 136, XV, 31; meine Hervorhebung; in der deutschen Übersetzung von Gerhard Winkler: „An diesem Lauf nennen sie in einer Länge von 5000 Schritten und in einer Breite von fast anderthalb Jucherten die Tempe, auf deren rechter und linker Seite sich in sanft gekrümmten Hängen die Berge weiter, als das Auge eines Menschen reicht, erheben, wobei innen
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Pyrocles’ Darstellung der arkadischen Natur erinnert in ihrem Überschwang an die Beschreibung von Philoclea, als der Prinz sie das erste Mal betrachtet, und der Erzähler gewissermaßen mit Pyrocles seinen Blick über ihren Körper wandern lässt sowie an die Liebesnacht von Pyrocles und Philoclea, wo der Prinz alle Körperteile der Geliebten in einem petrarkistischen Schönheitskatalog jeweils gesondert besingt.⁶⁴ Die Natur Arkadiens wird ebenfalls nicht als Ganzes betrachtet, sondern in ihre Einzelteile zergliedert: Wiese, Blumen, Bäume, Luft, Tiere und Bäche werden aus der landschaftlichen Gesamtkomposition herausgenommen. Pyrocles’ Lobpreis der Landschaft katalogisiert diese eher, als dass er sie beschreibt. Die Verbindung der arkadischen Natur mit der arkadischen Prinzessin Philoclea wird gestärkt durch die Vermutung des Pyrocles, die Natur sei das Werk einer Göttin: Pyrocles bezeichnet Philoclea wiederholt als seine Göttin (siehe etwa S. 74).⁶⁵ Das Frauenlob des Pyrocles dient zwar vordergründig der Verehrung Philocleas, vor allem aber hilft es dem Prinzen, die Prinzessin in Besitz zu nehmen und sie sich zu unterwerfen. In Analogie zu dieser Aneignung der Frau durch den männlichen Blick wie die männliche Dichtung kann man hier von einer Annektierung der Natur durch Pyrocles sprechen.⁶⁶ Und in der Tat gebraucht Pyrocles im
der Wald weithin grünt, und der durch den Stein grüne Peneios gleitet dahin, anmutig durch das mit Gras bewachsene Ufer und belebt vom Gesang der Vögel“ [ebd., 137]. Siehe außerdem Deter: Ein Tempe in Taunus, S. 75 f.). Siehe zu diesem Schönheitskatalog diese Arbeit: Kapitel 4.1.2. Für eine Untersuchung der Liebe Pyrocles’ und Philocleas im Hinblick auf Idolatrie und Ikonoklasmus siehe Jane Kingsley-Smith: „But if Pyrocles has made a fetish of Philoclea, he has also made her a god […] While it is true that profane love had long been described in terms of religious worship, the instinctual and compulsive idolatry with which Sidney’s lovers respond to one another in both texts of the Arcadia is striking […]“ (Jane Kingsley-Smith: Cupid, Idolatry, and Iconoclasm in Sidney’s Arcadia. In: SEL 48/1 (2008). S. 65 – 91. S. 65; vgl. hierzu außerdem Kingsley-Smiths spätere Monographie zu Amor: Jane Kingsley-Smith: Cupid in Early Modern Literature and Culture. Cambridge [u. a.] 2010. S. 44 f.). Die Auffassung, dass der Beziehung Mann-Natur die gleichen Strukturen von Beherrschung und Unterwerfung zugrunde liegen wie der Beziehung Mann-Frau, ist ein Gemeinplatz im Ökofeminismus, etwa bei Simone de Beauvoir: „Der geschichtliche Überblick hat gezeigt, daß die Männer immer alle konkrete Macht in Händen hatten. Seit den frühesten Zeiten des Patriarchats haben sie es für nützlich befunden, die Frau in einem Zustand von Abhängigkeit zu halten […] Als Gegenüber begegnet dem Menschen die Natur: er hat Gewalt über sie und versucht sie sich anzueignen“ (de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 190) und „Für den Seemann ist das Meer eine gefährliche, treulose, schwer zu erobernde Frau, die er aber besonders liebt, weil es ihn so viel Mühe kostet, sie zu bändigen. Der stolze, widerspenstige, jungfräuliche und bösartige Berg ist für den Alpinisten eine Frau, die er unter Lebensgefahr bezwingen will“ (ebd., 211). Für ein Beispiel solch einer ökofeministischen Lektüre frühneuzeitlicher englischer Texte siehe beispielsweise Gordana Galić Kakkonen und Ana Penjak: The Nature of Gender: Are Juliet, Desdemona and Cordelia to their Fathers as Nature is to Culture? In: Critical Survey 27/1 (2015). S. 18 – 35; zur
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Folgenden die Natur Arkadiens für seine Zwecke. Als Beispiel sei hier Pyrocles’ Nutzung der Grotte genannt, die in der Nähe der Landhäuser liegt und grundlegend für den bed trick ist, mit der der Prinz Basilius und Gynecia täuscht, sodass er die Möglichkeit hat, sich in Philocleas Gemach zu schleichen.Wie Klaus Garber zeigt, ist die Grotte in der Bukolik traditionell ein Ort erfüllter Liebe.⁶⁷ Sidney wandelt dieses Motiv ab: Nicht der junge Held Pyrocles erlebt das Liebesglück in der Grotte, sondern Basilius und Gynecia durch das Zutun des Pyrocles. Der Prinz hingegen verführt Philoclea in ihrem Schlafgemach, wo das Paar entdeckt und daraufhin eingesperrt wird. Auch im übertragenen Sinne nimmt Pyrocles Arkadien ein. Denn dadurch, dass der Herzog wie die Herzogin sich in ihn verlieben, gewinnt er Macht über sie und kann so beispielsweise Basilius dazu überreden, nicht in seinen Palast zurückzukehren, sondern weiter im Wald zu leben. Pyrocles übernimmt durch seine Macht über Basilius bis zu einem gewissen Grad die Herrschaft über das Land Arkadien. Dies wird auch thematisiert. Ein Grund, warum die Phagonier eine Rebellion beginnen, ist, dass ihrem Herzog die Regierungsmacht genommen wurde: „[…] a strange woman had now possessed their prince and government“ (S. 112). *** Der Naturraum der Arcadia gibt sich immer wieder als Kunstraum zu erkennen. In komplexer Weise spielt Pyrocles’ Landschaftsbeschreibung mit der Natur-KunstDifferenz, die Sidney auch in seiner Defence kommentiert: Only the poet […] lifted up with the vigour of his own invention, doth grow in effect into another nature, in making things either better than nature bringeth forth or, quite anew, forms such as never were in nature […]. So as he goeth hand in hand with nature, not enclosed within the narrow warrant of her gifts but freely ranging only within the zodiac of his own wit. Nature never set forth the earth in so rich tapestry as divers poets have done, neither with so pleasant rivers, fruitful trees, sweet-smelling flowers, no whatsoever else may make the too-much-loved earth more lovely: her world is brazen, the poets only deliver a golden.⁶⁸
Nützlichkeit dieser Forschungsposition siehe beispielsweise Val Plumwood: Feminism and the Mastery of Nature. London und New York 1993 (Opening out). S. 21: „[…] it is perilous for feminism to ignore the issue because it has an important bearing on the model of humanity into which women will be fitted and within which they will claim equality“. Kritik an solch einer Ausformung des Ökofeminismus äußert beispielsweise Sylvia Bowerbank, die eine Neuauslegung dieser Forschungsrichtung fordert mit dem Schwerpunkt auf der Untersuchung, wie Frauen (in der Frühen Neuzeit) selbst über Natur als Umwelt schreiben (Sylvia Bowerbank: Speaking for Nature. Women and Ecologies of Early Modern England. Baltimore und London 2004). Siehe Garber: Der Locus Amoenus, S. 179 f. Sidney: Defence, S. 8 f.
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Sidney zufolge ist die Natur nicht dazu in der Lage, einen so vollkommenen locus amoenus zu erschaffen, wie die Dichter – wie Sidney selbst – es können. Die Künstlichkeit von Sidneys eigener Dichtung, der Arcadia, wird im Text als solche markiert. Zu Beginn der Arcadia steht ein Widmungsbrief Sidneys an seine Schwester Mary, Countess of Pembroke. ⁶⁹ Sidney nennt die Arcadia in dem Brief sein Werk – work („this idle work of mine“ [S. 3]). Von Beginn an wird so deutlich gemacht, dass die Arcadia ein Kunstwerk ist. Zudem beschreibt der Brief die Entstehungsgeschichte der Romanze: „Your dear self can best witness the manner, being done in loose sheets of paper, most of it in your presence, the rest by sheets sent unto you as fast as they were done“ (S. 3). Außerdem bittet Sidney, als wäre es ihm peinlich, seine Schwester darum, das Werk für sich zu behalten oder es nur mit wohlwollenden Freunden zu teilen: „Now it is done only for you, only to you […] keep it to yourself, or to such friends who will weigh errors in the balance of goodwill“ (S. 3). Der Brief lässt den Eindruck entstehen, dass es sich bei dem auktorialen Erzähler der Arcadia um Sidney handele, der – schenkt man dem Brief Glauben – die Arcadia für Mary und ihre wohlwollenden Freundinnen dichtete. Wiederholt wendet sich der auktoriale Erzähler auch an eine weibliche Zuhörerschaft, die „fair ladies“ (etwa S. 34). Es gibt nun keine Quellen, die bezeugen, dass Sidney die Arcadia tatsächlich in Anwesenheit Marys oder ihrer Freunde erfand und dann unmittelbar erzählte, doch der Widmungsbrief und die extradiegetischen Textstellen, die immer wieder auf einen Erzähler und sein (weibliches) Publikum verweisen, wollen dies zumindest suggerieren.⁷⁰ Immerhin gilt es als gesichert, dass Sidney die Arcadia tatsächlich zum Großteil in Wilton House, dem Landhaus seiner Schwester, verfasste, nachdem er sich im Sommer 1580 vom Hof dorthin zurückgezogen hatte.⁷¹ Das Entstehungsnarrativ markiert den fiktionalen Charakter der Arcadia: Sie ist von Sidney geschaffene Dichtung und also Kunst, allerdings ist ihrer Genese
Siehe zu diesem Brief etwa auch Helen Hackett: Women and Romance Fiction in the English Renaissance. Cambridge [u. a.] 2000. S. 101. Fulke Greville deutet eine ähnliche Entstehungsgeschichte der Arcadia an, wenn er beschreibt, wie die Romanze von Sidney zur Unterhaltung von Freunden schnell und ohne große Anstrengung geschrieben wurde: „[…] they were scribbled rather as pamphlets for entertainment of time and friends“ (Fulke Greville: A Dedication to Sir Philip Sidney. In: The Prose Works of Fulke Greville, Lord Brooke. Hg. von John Gouws. Oxford 1986. S. 3 – 135. S. 11). Siehe hierzu beispielsweise Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 174 f.; sowie Marta Straznicky: Wilton House, theatre and power. In: The Intellectual Culture of the English Country House, 1500 – 1700. Hg. von Andrew Dimmock [u. a.]. Manchester 2015. S. 217– 231. S. 221 f.
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von der realen Landschaft Wiltshires, in der Wilton liegt, inspiriert.⁷² Die Ebenen vermischen sich hier also vielfach: Die tatsächliche Natur dient als Vorbild für eine fiktive Landschaft, die aber innerhalb der Fiktion als rein natürlich gekennzeichnet ist und aufgrund ihrer Perfektion wiederum mit einem Kunstwerk verglichen wird, denn einzig eine Göttin hätte solch ein Abbild des Götterhimmels schaffen können. An dieser Stelle zitiert sich Sidney geradezu selbst: In der Defence heißt es, nur der Dichter und nicht die Natur könne eine goldene Welt schaffen. In der Arcadia meint Pyrocles, nur eine Göttin und nicht die Natur könne solch einen perfekten locus amoenus schaffen. Auf der Handlungsebene ist Philoclea diese Göttin, die die Wahrnehmung des Pyrocles so verändert hat, dass er alles, was er mit ihr verbindet, ins Ideale verklärt. Auf der Erzählebene wiederum stammt die Landschaftsbeschreibung vom Erzähler, der dem Widmungsbrief zufolge mit Sidney gleichgesetzt werden kann, und der die Schilderung Pyrocles in den Mund legt. Wie der Dichter eine goldene Welt – in diesem Falle die loci amoeni Arkadiens und bis zu einem gewissen Grad auch das gesamte Land Arkadien – erschafft, das führt Sidney auch an den beiden folgenden Beispielen vor, die ebenfalls mit der Natur-Kunst-Differenz spielen.⁷³ Der zweite Lustort in der Arcadia ist der Aufführungsort der ersten Eklogen. Dieser wird vom Erzähler wie folgt beschrieben: Gynecia, with her two daughters, Cleophila, the shepherds Dorus and Dametas […] came into the fair meadow appointed for their shepherdish pastimes. It was, indeed, a place of great delight, for through the midst of it there ran a sweet brook which did both hold the eye open with her beautiful streams and close the eye with the sweet purling noise it made upon the pebble-stones it ran over; the meadow itself yielding so liberally all sorts of flowers that it seemed to nourish a contention betwixt the colour and the smell whether in his kind were the more delightful. Round about the meadow, as if it had been to enclose a theatre, grew all such sort of trees as either excellency of fruit, stateliness of growth, continual greenness, or poetical fancies have made at any time famous. In most part of which trees there had been framed by art such pleasant arbours that it became a gallery aloft, from one tree to the other, almost round about, which below yielded a perfect shadow, in those hot countries counted a great pleasure (S. 41 f.).
Siehe Adam Nicolson: Earls of Paradise. England and the Dream of Perfection. London 2008. S. 9 f.; Fotografien der Ländereien sind auf S. 78 – 79 eingefügt, S. 99 f. stellen Wilton und seine Bewohner zu der Zeit vor, als Sidney sich dort aufhielt. Zu der Behandlung der Natur-Kunst-Differenz in der arkadischen Dichtung allgemein siehe Christoph Strosetzki: Arkadiens Grenzen: Natur und Naturzustand. In: Arkadien in den romanischen Literaturen. Zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70. Geburtstag. Hg. von Roger Friedlein [u. a.]. Heidelberg 2008 (Germanisch-romanische Monatsschrift 33). S. 161– 174.
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2 Natur als Schauplatz
Auch hier finden sich neben Blumen die drei entscheidenden Merkmale des locus amoenus, wie Klaus Garber sie festhält („Lagerplatz, Bäume, Wasser“),⁷⁴ und die mit diesen Charakteristika einhergehenden Annehmlichkeiten, nämlich „bequeme Rast, Schatten, Geräusche, Bewegung“⁷⁵ sowie angenehme Gerüche. Die Lichtung wird außerdem mit einem Theater verglichen.⁷⁶ Die arkadische Lichtung mit dem Wald um sie herum, die ja auch als Theater, also als Bühne für die Eklogen, genutzt wird, gleicht in ihrem Aussehen einem künstlichen Theater, das extra dafür gebaut wurde, dass man in ihm Aufführungen jeglicher Art zeigen kann. Die Bäume stehen so um die Lichtung herum, dass sie sie umschließen wie Holzwände ein Theater. Die Beschreibung dieses ‚gewachsenen‘ („grew“) Theaters erinnert an Shakespeares Wooden O,⁷⁷ den „charmed circle“⁷⁸ in dem Schauspieler und im Falle der Eklogen Schäferdichter Kunst aufführen.
Garber: Der Locus Amoenus, S. 87. Ebd. Mit ‚Theater‘ ist hier kein natürlich entstandener Ort gemeint, wie das OED ihn in der Bedeutung 1c („A natural formation or place suggesting such a structure“ [OED: theatre│theater, n. (01.03. 2016)]) definiert, denn dann wäre die Vergleichsformel as if in der Beschreibung nicht notwendig. Es könnte einfach heißen, die Lichtung sei ein Theater, wie es in allen Beispielen zu dieser Bedeutung im OED der Fall ist. Stattdessen heißt es aber, die Bäume stünden um die Wiese, als ob sie ein Theater begrenzen würden. Deswegen ist davon auszugehen, dass theatre hier in der OED Bedeutung 1a zu verstehen ist als „A place constructed in the open air, for viewing dramatic plays or other spectacles“ (OED: theatre│theater, n. [01.03. 2016]). Die Betonung liegt hier auf constructed: Solch ein Theater ist kein natürlich entstandenes, sondern ein gebautes. Dieser berühmte Name für das Globe Theatre stammt aus dem Prolog von Shakespeares Henry V, in dem der Chorus fragt: „Can this cockpit hold/The vasty fields of France? Or may we cram/ Within this wooden O the very casques/That did affright the air at Agincourt?“ (William Shakespeare: King Henry V. Hg. von Andrew Gurr. Cambridge [u. a.] 2005 [The New Cambridge Shakespeare]. Prolog, V. 11 f.). Zu der grundlegenden Wichtigkeit von Bäumen für das frühneuenglische Theater siehe auch Vin Nardizzi: Wooden Os: Shakespeare’s Theatres and England’s Trees. Buffalo [u. a.] 2013, der zeigt, wie die Dramen jener Zeit auf den hölzernen Theaterbau und damit auf den Wald, aus dem dieses Holz ursprünglich stammt, Bezug nehmen („To this list of methods for inducing playgoers to believe that they were inside a virtual ‘green world’ during performance, I add the biggest and most solid theatrical instrument that an acting troupe had at its disposal: the playhouse itself“ [S. 21]) und so einen neuen Wald schaffen: „Wooden Os […] details the theatre’s constitutive woodenness in an age of this resource’s perceived and real shortage in an effort to claim now that the gain derived from expending untold sums on wood and timber was, counterintuitively, the erection and administration of ‘new woodlands’ dotting the urban core. In London’s theatres, consumers paid the price of admission to experience the pleasures and the frights of being inside virtual woods“ (S. 20). Meredith Anne Skura: Shakespeare the Actor and the Purposes of Playing. Chicago und London 1993. S. 8; siehe außerdem Höfele: Stage, Stake, and Scaffold, S. 12.
2.2 Natur als Kunstwerk und Gefahrenzone
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Die Bäume, die die Waldbühne begrenzen, sind dem Erzähler zufolge berühmt. Er zählt dafür vier mögliche Gründe auf. Die ersten drei gehen auf die natürliche Perfektion der Bäume ein: exzellente Früchte, stattlicher Wuchs und immergrüne Blätter haben sie bekannt gemacht. Als viertes Motiv werden „poetical fancies“ genannt, also die dichterische Imagination. Und in der Tat haben die Dichter der Bukolik seit der Antike mit Vorliebe bestimmte mediterrane Baumarten immer wieder an die Schauplätze ihrer Hirtengedichte ‚gepflanzt‘, sodass sie in die pastorale Tradition eingingen. Die Bäume aus Vergils Eklogen, die zum Großteil bereits auch bei Theokrit genannt werden, sind für die folgenden Jahrhunderte besonders wegweisend. Es handelt sich hierbei um Pinien, Tamarisken, Myrten, Lorbeerbäume, Eichen, Buchen, Pappeln, Ulmen und Apfelbäume.⁷⁹ Sidney nennt diese Baumarten hier aber gerade nicht.⁸⁰ Wie bereits bei Pyrocles’ Landschaftspreis werden auch bei diesem locus amoenus keine Details der Vegetation beschrieben. Es scheint Sidney also nicht um das konkrete Aussehen der Natur zu gehen, sondern um die Natur der Natur, die immer zwiespältig ist, denn sie enthält in sich selbst Natur wie Unnatur, Wildnis wie Ordnung und Kunst wie Kultur. Die Bäume, die die arkadische Lichtung begrenzen, sind durch ihre natürliche Schönheit bestimmt und durch Kunst verfeinert: „In most part of which trees there had been framed by art such pleasant arbours that it became a gallery aloft, from one tree to the other, almost round about […]“ (S. 42). Durch künstlichen Spalierwuchs formen sie eine Galerie, die fast das gesamte Rund der Lichtung umrahmt. Die natürliche Schönheit und Eignung der Lichtung als Aufführungsort der Eklogen wird so zusätzlich durch eine künstliche Spalierumfassung perfektioniert. Die Verwendung des Wortes gallery setzt die Lichtung überdies einmal mehr mit dem Theater in Zusammenhang, denn dort finden sich ebenfalls Galerien.⁸¹ Freilich dienen die arkadischen Spaliergalerien nicht als Tribüne, auf der Zuschauer sitzen können, sondern als Schattenspender, unter denen das Publikum Platz nimmt. Bevor die Eklogen beginnen, wird die Lichtung Schauplatz eines ganz anderen Spektakels. Dieses wird bereits vor der Beschreibung des locus amoenus angekündigt, da Basilius, der nicht an den Eklogen teilnimmt, sieht, dass „the shepherds […] came flying from the pastoral sports, crying to one another to stay and save the duchess and young ladies“ (S. 41). Da die Schäfer ihr Verhalten vor
Siehe hierzu den Katalog der Elemente aus Vergils Landschaftsbeschreibungen in Garber: Der Locus Amoenus, S. 94. An anderer Stelle ‚pflanzt‘ aber auch Sidney die Vergil’schen Bäume in sein Arkadien – etwa in Musidorus’ Baumkatalog – und macht sie damit ebenso wie andere Dichter berühmt. Zum Aufbau der englischen Theater in der Frühen Neuzeit siehe beispielsweise Andrew Gurr: The Shakespearean Stage: 1574– 1643. Cambridge [u. a.] 2009. S. 139 f.
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2 Natur als Schauplatz
lauter Aufregung nicht erklären können, nimmt sich der Erzähler der Darlegung des Sachverhalts an: „But fear possessed their inward parts that their breath would not serve to tell it him, but after such a broken manner that I think it best not trouble you, fair ladies, with their panting speeches; but to make a full declaration of it myself“ (S. 41). Es folgt die bereits zitierte Beschreibung der Lichtung. Ihr idyllischer Charakter widerspricht der erschreckenden Hinführung vollständig und wird auch unmittelbar darauf gestört, denn „suddenly there came out of the wood a monstrous lion, with a she-bear of little less fierceness, which, having been hunted in forests far off, had by change come to this place where such beasts had never before been seen“ (S. 42). Während die Hirten sofort fliehen, bleiben die Aristokraten (zunächst) auf der Lichtung. Philoclea fällt aus Angst in die Arme des Pyrocles. Durch ihre Nähe wird der Prinz so abgelenkt, dass er den Löwen gefährlich nah kommen lässt, bevor er seine Aufmerksamkeit von der Prinzessin auf den Löwen lenken kann: For, indeed, the sweet Philoclea no sooner espied the ravenous lion but that, opening her arms, she fell so right upon the breast of Cleophila, sitting by her, that their faces at unawares closed together, which so transported all whatsoever Cleophila was that she gave leisure to the lion to come very near them before she rid herself from the dear arms of Philoclea. But necessity, the only overruler of affections, did force her then gently to unfold herself from those sweet embracements; and so drawing her sword, waited the present assault of the lion who, seeing Philoclea fly away, suddenly turned after her (S. 42).
Pyrocles jagt daraufhin den Löwen, denn „[…] seeing how greedily the lion went after the prey she herself so much desired, it seemed all her spirits were kindled with an unwonted fire“ (S. 42 f.). Die Jagdlust des Löwen wird hier gleichgesetzt mit der sexuellen Begierde des Pyrocles.⁸² Philoclea ist die bevorzugte Beute des Tieres und des Prinzen. Pyrocles gelingt es schließlich, obgleich er verletzt wird, den Löwen zu töten. Dies geschieht nach einer Jagd durch den Wald auf der Wiese vor den Herrscherhäusern. Auf der theatergleichen Lichtung tobt indes noch ein weiterer Kampf, denn eine Bärin greift Pamela an: „ […] there came out of the woods a monstrous she-bear which […] came furiously towards the princess Pamela“ (S. 46). Gewaltig und „according to the manner of that beast’s fight“ (S. 47)⁸³ richtet sich die Bärin auf ihren Hinterfüßen auf, als Musidorus Pamela verteidigen möchte, wird aber von dem Prinzen unter Aufbietung seiner letzten Kräfte mit
Vgl. auch Haber: Pastoral, S. 73. Zu vormodernen Vorstellungen über das Kampfverhalten von Bären siehe Bernd Brunner: Bär und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung. Darmstadt 2010. S. 103 f.
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seinem Hirtenmesser erstochen. Die Lichtung wird so zur Bühne eines Bärenkampfes.⁸⁴ Wie bei Pyrocles und Philoclea führt auch bei Musidorus und Pamela der Angriff der wilden Tiere zu körperlicher Nähe. Die allerdings stellt sich erst ein, nachdem der Prinz die Bärin getötet hat: Which [die Tötung der Bärin] being done, he turned to his lady Pamela (at that time in a swoon with extremity of fear), and softly taking her in his arms, he took the advantage to kiss and re-kiss her a hundred times, with such exceeding delight that he would often after say he thought the joy would have carried his life from him, had not the grief he conceived to see her in such case something diminished it (S. 47).
Musidorus handelt hier also einerseits verantwortungsbewusster als Pyrocles, da er die Bärin nicht gefährlich nah an Pamela herankommen lässt. Andererseits nutzt er die Wehrlosigkeit der Prinzessin aus. Während Philoclea sich in Pyrocles’ Arme wirft und so die körperliche Nähe aktiv herbeiführt, ist Pamela bewusstlos und so außerstande, Musidorus’ Annäherung zuzustimmen oder sie abzulehnen. Sobald sie erwacht, stößt sie den Prinzen aber von sich: „for the lady Pamela, being come out of her swoon, opened her fair eyes, and seeing herself in the hands of the new-come shepherd, with great disdain put him from her“ (S. 47). Der Angriff der wilden Tiere am Ende des ersten Buches wird in der Regel als Metapher für den Zusammenbruch der politischen Ordnung Arkadiens gelesen.⁸⁵ Interessant an der Raubtierepisode ist nun, dass es hier natürliche Elemente der Welt sind, die zur tödlichen Gefahr werden, und zwar ohne dass die arkadische Landschaft dabei etwas von ihrer Lieblichkeit verlöre. Anders als bei Shakespeare, in dessen Dramen die Natur typischer Weise in einem sympathetischen Korrespondenzverhältnis mit dem Handlungsgeschehen steht, bleibt die arkadische Szenerie bei Sidney durch alle Wechselfälle der Handlung hindurch unverändert lieblich. Auch wenn „the wildest part of the desert“ (S. 172) geschildert wird, ist dieser doch ein locus amoenus, und das Wetter bleibt ebenfalls konstant schön. Selbst als das Reich im Chaos zu versinken droht, ist es weiterhin sonnig und warm. Bis auf den Löwen und die Bärin gibt es keine natürlichen Störfaktoren. Überdies sind die beiden Raubtiere nicht in Arkadien beheimatet, sondern aus weit entfernten Wäldern eingewandert, aus denen sie von Jägern vertrieben wurden. Die Tiere zeigen den Einbruch der unkultivierten Natur in amöne Gefilde. Die Wildheit der Bestien wird zwar durch die Prinzen abgewehrt, dennoch setzt sie sich in ihrem ‚wilden‘ Liebesbegehren gleichsam fort. In der Liebesnacht von Zur Ähnlichkeit von Tierkampfarenen und Theatern im frühneuzeitlichen England siehe Höfele: Stage, Stake, and Scaffold, S. 3 f. Vgl. beispielsweise Elizabeth Dipple: Harmony and Pastoral in the Old Arcadia. In: ELH 35/3 (1968). S. 309 – 328. S. 315 f.
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Pyrocles und Philoclea vollendet der Prinz, so kann man zuspitzen, den Angriff des Löwen, und Musidorus versucht zumindest die Attacke der Bärin fortzusetzen, indem er Pamela beinahe vergewaltigt. Dies wird zwar durch einen Überfall nun der outlaws abgewendet, der aber bringt neue Gefahr über die Prinzessin. Im Angriff der Bestien deuten sich die Ambivalenzen der Prinzen erstmals an. Am amönen Naturort kommt die Wildheit der Natur zum Ausdruck und Ausbruch. Nun sind freilich Bär und Löwe zugleich auch die Königstiere der politischen Zoologie. Beide werden zu verschiedenen Zeiten der europäischen Geschichte immer wieder als Herrscher der Tiere verstanden.⁸⁶ Bis ins Mittelalter hinein wurde der Bär, der wegen seiner Befähigung zu aufrechter Haltung auch als das dem Menschen ähnlichste Tier galt,⁸⁷ als König der Tiere angesehen und in dieser Position dann langsam vom Löwen abgelöst.⁸⁸ Die Tiere, die in der Arcadia die Prinzen und Prinzessinnen bedrohen, nehmen also in der Tierwelt eben jene Position ein, welche die Königskinder dereinst in der Menschenwelt einnehmen sollen: Sie sind Herrscher. Vormoderner Auffassung zufolge stehen sie als Könige des Tierreichs daher den menschlichen Herrschern nahe und vermeiden wegen dieses Äquivalenzverhältnisses, sie anzugreifen.⁸⁹ Diese Vorstellung ist auch in Sidneys Romanze zu fassen. Der Angriff der Bestien ist nämlich für Pyrocles alles andere als ein natürliches Ereignis. Vielmehr meint er, der Löwe habe wider seine Natur gehandelt, als er prinzliches Blut vergießen wollte, und sei deshalb zurecht bestraft worden: „Here see you the punishment of that unnatural beast which, contrary to his own kind, would have wronged prince’s blood“ (S. 44, meine Hervorhebungen). Bär wie Löwe verdanken ihre Position an der Spitze der tierischen Hierarchie vor allem ihrer unbezwingbaren Stärke, ihrer „naturgegebene[n] gewaltmäßige[n] Überlegenheit“⁹⁰ über alle anderen Tiere.⁹¹ Diese natürliche Wildheit wird im Rah-
Siehe hierzu auch Michel Pastoureau: Das mittelalterliche Bestiarium. Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Darmstadt 2013. S. 48 f. Siehe hierzu auch Brunner: Bär und Mensch, S. 7 f. Siehe Michel Pastoureau: Der Bär. Geschichte eines gestürzten Königs. Aus dem Französischen von Sabine Çorlu. Neu-Isenburg 2008. S. 167 f. Zum Löwen als königliches Tier in der englischen Frühen Neuzeit siehe auch Höfele: Stage, Stake, and Scaffold, S. 82 f. Siehe Dirk Jäckel: Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Früh- und Hochmittelalter. Weimar und Wien 2006 (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 60). S. 183. Michael Waltenberger: Die Legitimität der Löwen. Zum politischen Diskurs der frühneuzeitlichen Tierfabel und Tierepik. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hg. von Andreas Höfele [u. a.]. Berlin und Boston 2013 (Pluralisierung & Autorität 40). S. 203 – 228. S. 204. Weitere Eigenschaften, die Löwen und Bären zu geeigneten Königen machen und die sie mit menschli-
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men der politischen Zoologie zum wichtigen Merkmal eines eminenten Herrschers. Stets ist es die ira rationalis des Königs, welche die Stabilität seiner Herrschaft fundiert. Und diese „basiert im feudalen Verständnis zu nicht geringem Umfang auf der Furcht der Untertanen, die der Herrscher durch Zorndemonstrationen sicherstellen muß“.⁹² Gleichwohl droht regelmäßig die Gefahr, dass legitimer Zorn in eine ira irrationalis umschlägt, denn selbst beim Monarchen „[…] ist der Grad [sic] schmal zwischen einer legitimen Demonstration herrschaftlichen Zorns und ihrer Überschreitung bis hin zum Affekt“.⁹³ Und eben eine solche wilde Grenzüberschreitung, die Naturmacht der Affekte, die sich einer Beherrschung durch die Prinzen entzieht, sie ist es, die mit dem Auftritt von Löwe und Bärin in der Arcadia metaphorisch den beiden Prinzen Musidorus und Pyrocles zugeordnet wird. Der dritte in der Arcadia ausführlich beschriebene locus amoenus befindet sich weit weg vom herrschaftlichen Rückzugsort „in […] the wildest part of the desert“ (S. 172) und ist der Ort, an dem Pamela und Musidorus bei ihrer Flucht übernachten wollen. Er erinnert, obwohl in der Wildnis gelegen, in seinen Grundzügen an die vorigen beiden loci amoeni: […] they lighted down in a fair thick wood which did entice them with the pleasantness of it to take their rest there. It was all of pine trees, whose broad heads meeting together yielded a perfect shade to the ground, where their bodies gave a spacious and pleasant room to walk in. They were set in so perfect an order that every way the eye being full, yet no way was stopped; and even in the midst of them were there many sweet springs which did loose themselves upon the face of the earth. Here Musidorus drew out such provision of fruits and other cates as he had brought for that day’s repast, and laid it down upon the fair carpet of the green grass (S. 173 f.).
Dieses Wäldchen ist ein geeigneter Ruheplatz mit weicher grüner Wiese, Quellen und schattenspendenden Pinien – eine Baumart, die typisch für den Mittelmeerraum und
chen Herrschern gemein haben, sind beispielsweise Barmherzigkeit und Milde, aber auch Strenge (vgl. auch Jäckel: Der Herrscher als Löwe, S. 173 f.). Indem Herrscher in Analogie mit diesen Tieren gesetzt werden, wird ihre Position naturalisiert und damit legitimiert: Ebenso wie Bär und Löwe am stärksten sind und deswegen über das Tierreich herrschen, ist ein menschlicher Herrscher naturgegeben der Stärkste und deswegen zu recht an der Macht: „Die Herrschaftsmetaphorik greift zur demonstrativen Durchsetzung des Rechts […] auf herausgehobene Tiere zurück, denn im Kontext rivalisierender Haushalte inszeniert sich der Herrscher nicht nur als kluge, sondern auch als mächtige Ordnungsinstanz: als das stärkste Tier“ (Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 [Historische Semantik 5]. S. 188). Ebd., 286. Ebd., 287.
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die Bukolik ist und sich auch bei Theokrit und Vergil findet.⁹⁴ Die Symmetrie der Bäume, die einerseits so stehen, dass man sie überall sieht, aber andererseits so angeordnet sind, dass man dennoch einen weiten Blick hat, lässt an einen von Menschenhand gepflanzten Wald denken, der nicht natürlich entstanden ist. Dieser dritte locus amoenus gibt sich also ebenso wie die anderen beiden Lustorte als künstliches Arrangement zu erkennen, das er auf extradiegetischer Ebene ja auch ist. Die Natürlichkeit der arkadischen Landschaft wird durch die vollkommene Symmetrie der Bäume aufgehoben und in Kunst verwandelt. Die Quellen, die emporsprudeln, um dann wieder in der Erde zu versickern, können als Metapher für den Geschlechtsverkehr gelesen werden: Die Erde steht für die Frau und die versickernden Quellen können als Samenflüssigkeit gedeutet werden, die sich in die Frau ergießt. Damit spielt die Metapher auf die Vergewaltigung an, die sich wenig später fast ereignet, und antizipiert Motive, die der kurz darauf folgende Blason Pamelas wieder aufgreift: Musidorus’ Blasonierung von Pamelas Stirn, Haar, Lidern, Wangen, Lippen, Zähnen verfolgt von Anfang an eine fatale Bewegungsrichtung. Das von ihnen verborgene Körperinnere zieht sein Interesse an. Er sieht Oberflächen als zu öffnende Gefäße, in denen anderes, noch schöneres verschlossen ist […].⁹⁵
Der locus amoenus wird zuerst für Pamela beinahe zu einem locus terribilis, als Musidorus versucht, sie, während sie schläft, zu vergewaltigen. Rebellen, die sie überfallen, verhindern dies. Dadurch gerät auch Musidorus in Lebensgefahr, und der Wald wird nun für beide zu einem Ort des Schreckens. Anders als bei der Waldbühne ist hier der Störfaktor allerdings nicht natürlich. Keine wilden Tiere greifen Pamela und Musidorus an, sondern Menschen, die aber – wie gezeigt – mit Tieren gleichgesetzt werden. Es sind die bereits erwähnten phagonische Rebellen, die sich nach dem missglückten Aufstand gegen den Herrscher in die Wälder geschlagen haben. Neben diesen drei ausführlichen Beschreibungen der amönen Landschaft finden sich auch sonst immer wieder die topischen Elemente der arkadischen
Die erste Idylle des Theokrit ruft Pinien ebenso wie Quellen bereits im ersten Vers auf: „Süß läßt ihr Wispern die Pinie dort, Ziegenhirt, bei den Quellen erklingen“ (Theokrit: Gedichte: Griechisch – deutsch. Hg. und übersetzt von Bernd Effe. Berlin 2013 [Sammlung Tusculum]. S. 9). Bei Vergil finden sich Quellen und Pinien beispielsweise in der 7. Ekloge,V. 24, 45 und 65 (Publius Vergilius Maro: Bucolica – Hirtengedichte. Lateinisch/Deutsch. Hg. und übersetzt von Michael von Albrecht. Stuttgart 2001 [Reclams Universal-Bibliothek 18133]. S. 58 f.); siehe auch Garber: Der Locus Amoenus, S. 94. Eckhard Lobsien und Verena Olejniczak Lobsien: Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert. München 2003. S. 222.
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Landschaft. So zum Beispiel die Bäume, die die diversen Figuren, wie etwa die Schäfer, dazu einladen, in ihrem Schatten zu verweilen: Dorus had been upon a fine little hill not far off, in the company of some other shepherds, defending him from the sun’s heat with the shade of a few pleasant myrtle trees, feeding his master’s sheep, practicing his new-learned shepherd’s pipe, and singing with great joy […] (S. 109).⁹⁶
Doch die friedliche Ruhe von Musidorus und den Schäfern wird direkt nach dieser Darstellung von der Rebellion der Phagonier gestört. Denn in unmittelbarer Nähe fegen die Aufständischen „like a violent flood […] like enraged beasts“ (S. 108) und „like a furious storm“ (S. 112) über den Rückzugsort des Basilius hinweg, der zu Beginn der Handlung von Pyrocles noch als Ort der Perfektion und Einigkeit beschrieben wurde. Die Rebellen werden hier mit zerstörerischen Naturphänomenen und wilden Tieren verglichen. Unvermittelt – gewaltigen, nicht zu verhindernden Naturgewalten gleich – brechen sie in die Idylle der Aristokraten und Schäfer ein und drohen, alles zu vernichten, was ihnen im Wege steht. Der Vergleich mit den wilden Tieren erinnert überdies an den Angriff des Löwen und der Bärin am Ende des ersten Buches, der ebenfalls sowohl die Herrscherfamilie und Prinzen als auch die Schäfer bedroht. Die besprochenen Beispiele zeigen eine auffällige Gemeinsamkeit: Sidney geht immer dann ausführlich auf den lieblichen Naturschauplatz ein, wenn ein Unheil kurz bevorsteht,⁹⁷ wenn ein Einbruch chaotischer Kräfte den Frieden stört. So werden die loci amoeni zu Signalorten für Schrecken. Harmonie scheint sich in der Arcadia unweigerlich früher oder später in Disharmonie umzuwandeln, auch wenn es letzten Endes zum ‚Happy End‘ kommt.
Myrten sind eine typische Baumart der Pastorale und finden sich auch schon bei Vergil: „huc mihi, dum teneras defendo a frigore myrtos,/vir gregis ipse caper deerraverat“ (Vergil: Bucolica, 7,6 f.; in der Übersetzung von Albrechts: „Hierher hatte sich, während ich die zarten Myrten vor der Kälte schützen suchte, mein Bock, der Herr der Herde verlaufen“). Eine Ausnahme zu dieser unmittelbaren Abfolge findet sich bei der Schilderung des Rückzugsortes der Herrscherfamilie: Zwischen Pyrocles’ Darstellung des Lustortes und der ersten Störung durch die phagonischen Rebellen vergeht eine Weile. Aber der Aufstand wird dennoch durch die Darstellung eines locus amoenus angekündigt. Musidorus und andere Schäfer weiden, wie bereits dargestellt, ihre Schafe in der amönen Landschaft, die durch die Rebellen gestört wird. Nachdem der Aufruhr niedergeschlagen ist, kehrt scheinbar wieder Ruhe und Frieden am Rückzugsort ein. Doch ist die idyllische Atmosphäre trügerisch. Das Refugium wird nämlich noch einmal zu einem Ort des Chaos: Basilius erleidet an dieser Stelle seinen Scheintod, Arkadien droht, im Bürgerkrieg zu versinken, und Euarchus verurteilt Musidorus und Pyrocles auf dieser grünen Wiese zum Tode.
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2.3 Der Umgang des Menschen mit der Natur Bei der Gestaltung und Funktion der Naturschauplätze der Arcadia konnte ein komplexes Zusammen- und Gegenspiel von Natur und Kultur beobachtet werden. Dieses zeigt sich auch im Folgenden, wo zwei Episoden der Arcadia als Kommentare Sidneys zum Umgang der Menschen mit der Natur gelesen werden.
2.3.1 Bäume, die es zu bewahren gilt Bevor Pamela sich auf der Flucht aus Arkadien im Pinienwald schlafen legt und Musidorus von seinen Affekten überwältigt wird, macht sich die Prinzessin die Natur zu eigen und schreibt ihre Liebe zu Musidorus in den Wald ein. Während bisher die Figuren mündlich mit der Natur kommunizierten, wird hier die physische Ausformung der Natur durch die Gefühle Pamelas verändert. Anstatt sich zu Musidorus zu setzen und ihm körperlich nahe zu sein, findet Pamela mehr Vergnügen darin, durch das Wäldchen zu spazieren und in „pretty knots“ (S. 174) Musidorus’ und ihren Namen in die Bäume zu schnitzen, „sometimes intermixedly changing them to Pamedorus and Musimela, with twenty other flowers of her travailing fancies, which had bound themselves to a greater restraint than they could without much pain well endure“ (S. 174).⁹⁸ Knots bedeutet ‚Ornamente‘, weist aber zugleich auch auf den angestrebten Ehebund hin.⁹⁹ Die Eheschließung ist schließlich Sinn und Zweck der Flucht des Paares, und wie Pamela bereits
Ben Jonsons Beschreibung vom Familiensitz der Sidneys, Penshurst, in „To Penshurst“ zufolge, gibt es dort auch einen Baum, der zu Sidneys Ehren am Tag seiner Geburt gepflanzt wurde und an dem viele Liebende Namen hinterlassen haben: „That taller tree, which of a nut was set /At his great birth where all the Muses met./There, in the writhèd bark, are cut the names/Of many a sylvan, taken with his flames“ (Ben Jonson: The Forest. Hg. von Colin Burrow. In: The Cambridge Edition of the Works of Ben Jonson. Hg. von David Bevington [u. a.]. Cambridge [u. a.] 2012. S. 199 – 248.V. 13 – 16; siehe auch Raphael Falco: Conceived Presences. Literary Genealogy in Renaissance England. Amherst 1994 [Massachusetts Studies in Early Modern Culture]. S. 148; sowie Maureen Quilligan: Incest and Agency in Elizabeth’s England. Philadelphia 2005. S. 199). Jennifer Munroe untersucht in ihrer Betrachtung des Sonettzyklus Pamphilia to Amphilantus, den Sidneys Nichte Mary Wroth verfasste, unter anderem, inwiefern gerade knots als spezifisch weibliche Ausdrucksform in der Frühen Neuzeit verstanden werden können, da sie sowohl in der Konzeption der immer öfter von Frauen angelegten Gärten als auch in der der typisch weiblichen Handarbeit eine wichtige Rolle spielten (siehe Jennifer Munroe: Gender and the Garden in Early Modern English Literature. Aldershot und Burlington 2008 [Women and Gender in the Early Modern World]. S. 99 f.). Auch in der Arcadia werden die knots von Pamela gefertigt, nicht von Musidorus, und sind also Teil der weiblichen Ausdrucksform.
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zuvor betont hat, kann es erst nach der Hochzeit zur sexuellen Erfüllung kommen. Neben ihren Namen ritzt die Prinzessin zwanzig weitere Blüten ihrer Phantasie in die Rinde. Das Wort flower kann dabei auch für Pamelas Jungfräulichkeit stehen. Denn diese ist nicht nur, wie sich bald zeigen wird, durch Musidorus gefährdet, sondern auch durch ihr eigenes, nur mühsam beherrschtes Begehren. Außerdem ritzt Pamela auch ein italienisches Sonett in einen Baum. Dieses Gedicht hat so im wahrsten Sinne des Wortes einen „natural seat“¹⁰⁰ in der Baumrinde, um Sidneys Beschreibung für die geregelte Stellung von Wörtern in Versdichtungen aus der Defence aufzugreifen: Do not disdain, O straight upraised pine, That wounding thee, my thoughts in thee I grave; Since that my thoughts, as straight as straightness thine, No smaller wound – alas! far deeper have. Deeper engraved, which salve nor time can save, Giv’n to my heart by my fore-wounded ey’n: Thus cruel to myself, how canst thou crave My inward hurt should spare thy outward rine? Yet still, fair tree, lift up thy stately line, Live long, and long witness my chosen smart, Which barred desires (barred by myself) impart. And in this growing bark grow verses mine. My heart my word, my word hath giv’n my heart. The giver giv’n from gift shall never part (S. 174).
Pamelas Gedanken sind, so stellt sie es im ersten Quartett dar, so gerade wie der Wuchs der Pinie auf ein einziges Ziel gerichtet: ihren geliebten Prinzen. Außerdem kann straight nicht nur ‚gerade‘ bedeuten, sondern auch die Übersetzung ‚tugendhaft‘ ist möglich.¹⁰¹ In diesem Sinne bekräftigt Pamela ihr Tugendgebot. Ihre Phantasie – nun als ‚Gedanken‘ betitelt, obwohl vom Erzähler soeben noch „travailing fancies“ (S. 174) genannt – vergleicht sie mit dem aufrechten Wuchs der Pinie. Sie ist „as straight as straighntess thine“ (V. 101).¹⁰² Anschließend berichtet
Sidney: Defence, S. 32. OED: straight, adj., n., and adv. (Bedeutung 6 †b und c) (20.09. 2016). Diese Behauptung ist nicht ganz unproblematisch, ist Pamela doch heimlich und gegen den Willen ihres Vaters mit Musidorus geflohen und befindet sich zum Zeitpunkt des Gedichts alleine mit ihm im Wald. Das ist nicht das Verhalten, das von einer tugendsamen Frau in Arkadien erwartet wird (vgl. auch Quilligan: Incest and Agency, S. 199), wie beispielsweise Philocleas ungutes Gefühl zeigt, als sie erfährt, dass Pyrocles ein Mann und sie mit ihm alleine ist: „Yet did a certain spark of honour arise in her well disposed mind, which bred a starting fear to be now in secret with him“ (S. 106).
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Pamela von ihrer Liebesqual: Die Wunde der Prinzessin ist, gerade weil sie innerlich ist, größer als die äußere Wunde des Baumes. Im zweiten Quartett wird das Motiv der Liebesverletzung der Prinzessin weiter ausgeführt. Weder eine Heilsalbe noch Zeit können die Wunde heilen, die ihrem Herzen durch ihre Augen zugefügt wurde: Pamela hat sich unheilbar in Musidorus verliebt, als sie ihn sah. Da die Prinzessin sich selbst gegenüber so grausam handelt, kann die Pinie nicht erwarten, dass ihre Rinde verschont werde. Pamela muss ihre Verse in die Rinde ritzen. Die beiden Quartette spielen auf die drohende Vergewaltigung Pamelas durch Musidorus an. Fast klingen sie wie eine mögliche Rechtfertigung, die der Prinz der Prinzessin gegenüber hätte vorbringen können, hätte er tatsächlich mit ihr geschlafen: Pamela, die ihn gebeten hatte, ihre Ehre und Tugend zu akzeptieren, ist aufrecht (wie die Pinie). Musidorus’ Liebesqual aber ist schlimmer als Pamelas, sodass die Prinzessin nicht erwarten könne, dass er ihre Jungfräulichkeit, die „outward rine“, akzeptiere. Denn während Pamela friedlich schläft, nachdem sie ihn davor wiederholt gebeten hatte, ihre Tugend zu respektieren und mit allen Annäherungen zu warten, bis sie verheiratet seien (siehe S. 173), wird Musidorus so sehr von seinen Affekten gequält, dass er nicht mehr an sich halten kann: […] rising softly from her, overmastered with the fury of delight, having all his senses partial against himself and inclined to his well beloved adversary, he was bent to take the advantage of the weakness of the watch, and see whether at that season he could win the bulwark before timely help might come (S. 177).
Pamelas Bedürfnis, die Pinie zu verletzen, um so ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, gleicht also Musidorus’ Bedürfnis, Pamela zu verletzen und so seine Begierden zu befriedigen. Der Umgang der Prinzessin mit der Pinie und der Umgang des Prinzen mit der Prinzessin werden parallelisiert. Auf die beiden Quartette folgt die Volta, die durch das Adverb „yet“ (V. 9) gekennzeichnet ist: Im ersten Terzett fordert Pamela, dass die Pinie aufrecht wachsen und lang leben möge, um Zeuge der selbst erwählten Schmerzen der Prinzessin zu sein, die durch die von ihr selbst unterdrückten Sehnsüchte entstehen.¹⁰³ Im ersten Vers des zweiten Terzetts steigert die Prinzessin ihren Wunsch In zwei weiteren Gedichten in der Arcadia findet der Topos des Baumeinritzens ebenfalls Erwähnung, und in beiden Gedichten steht dabei im Mittelpunkt, dass der Baum Zeugnis ablegen soll über die Gefühle des Dichters. Die Schäfer Nico und Pas fordern, die Bäume mögen von der geliebten Cosma und damit auch vom Liebenden und seinem Gedicht zeugen: „Thy monument is laid in many a tree,/With name engraved; so though thy body die,/The after-folks shall wonder still at thee“ (S. 128). Und Philisides bittet die Bäume, sie sollen für immer vom Schmerz über den Tod des Basilius berichten: „And you, O trees (if any life there lies/In trees) now through your porous barks receive/The strange resound of these my causeful cries;/And let my breath upon
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nach Unsterblichkeit durch Poesie noch: Nicht nur soll die Pinie für immer Zeuge der Verse, der Liebe und der Tugend der Prinzessin sein, sondern diese sollen auch mit dem Baum größer werden. Wächst die Pinie, wachsen die in sie eingeschriebenen Buchstaben im wahrsten Sinne des Wortes mit und dieses natürliche Wachstum wird gleichgesetzt mit dem Wachstum der Liebe. Im rhyming couplet von Pamelas Gedicht heißt es in einer elliptischen Konstruktion, das Herz der Prinzessin hätte das Wort gegeben und ihr Wort hätte das Herz gegeben, sowie dass der Gebende niemals von dem Gegebenen getrennt werden sollte. Dieses Ende kippt Maureen Quilligan zufolge „in typical Sidney fashion […] the logic of the first twelve lines and leaves the conceit of the tree utterly behind“.¹⁰⁴ Dadurch, dass Basilius seinen Töchtern die Eheschließung verbietet, wird Pamela dazu gezwungen, selbst die Rolle des Vaters zu übernehmen, der seine Tochter dem Ehemann übergibt, und gleichzeitig die Tochter zu sein, die übergeben wird. Pamela ist also giver und gift in einem und kann sich deswegen dem schenken, den sie liebt – Herz und Hochzeitsversprechen gelten, ebenso wie die Worte, die sie in den Baum ritzt, Musidorus:¹⁰⁵ Sidney’s tree-poems artfully outline the problem Pamela faces: even though the “root” of her desire is virtuous and constant, her virtue can offer no solution to the problem posed by her attempt to be the giver of herself as a gift. The illogic of the couplet’s “paradox” makes the problematic Elizabethan traffic in women explicit. A woman cannot legitimately be both the giver of a gift and the gift itself.¹⁰⁶
Übersetzt man word im rhyming couplet aber nicht mit ‚Hochzeitsversprechen‘, sondern versteht es selbstreferentiell auf das Gedicht bezogen, so kann man festhalten, dass der Schluss des Sonetts nicht wie Quilligan meint, das Motiv des
your branches cleave,/My breath distinguished into words of woe,/That so I may signs of my sorrows leave./But if among yourselves some one tree grow/That aptest is to figure misery,/Let it ambassade bear your griefs to show./The weeping myrrh I think will not deny/Her help to this, this justest cause of plaint“ (S. 299). Die Gedichte greifen mit der Vorstellung, dass das Sprecher-Ich (und seine Liebe für eine Frau oder bei Philisides abgewandelt: die Liebe zum Herrscher) durch sein Werk unsterblich wird, dass Dichtung also, wie Horaz es ausdrückt, ein monumentum aere perennius ist, ein beliebtes Motiv der Liebes- und vor allem Sonettdichtung auf, wie es wohl am berühmtesten Shakespeare in seinem 18. Sonett formuliert: „So long as men can breathe or eyes can see,/So long lives this, and this gives life to thee“ (William Shakespeare: The Sonnets. Hg. von G. Blakemore Evans. Cambridge [u. a.] 2006 [The New Cambridge Shakespeare]. Sonett 18,V. 13 f.). Ein Baum ist aber, wie Pamela es in ihrem Gedicht festhält, in gewisser Weise dauerhafter als das Erz aus Horaz’ locus classicus, denn er ist nicht nur stabil, sondern wächst auch noch. Quilligan: Incest and Agency, S. 200. Siehe ebd. Ebd.
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Baumes hinter sich lässt, sondern vielmehr das bereits erörterte Thema ‚Zwiesprache mit dem Wald‘ externalisiert und materialisiert. Aus dem Herzen kommt das Gedicht (word) und das Gedicht im Baum gibt das Herz preis. Der gegebene Geber, also das Herz, wird nie von der Gabe (dem Gedicht) zu trennen sein. Geber und Gabe sind eins: Der Geber ist auch gegeben und also Gabe. Musidorus antwortet auf dieses Sonett Pamelas in einem Gedicht, das er ebenfalls in einen Baum ritzt: You goodly pines, which still with brave ascent In nature’s pride your heads to heav’nward heave, Though you besides such graces earth hath lent, Of some late grace a greater grace receive, By her who was (O blessed you) content, With her fair hand, your tender barks to cleave, And so by you (O blessed you) hath sent Such piercing words as no thoughts else conceive: Yet yield your grant, a baser hand may leave His thoughts in you, where so sweet thoughts were spent, For how would you the mistress’ thoughts bereave Of waiting thoughts all to her service meant? Nay higher thoughts (though thralled thoughts) I call My thoughts than hers, who first your rine did rent, Than hers, to whom my thoughts alonely thrall Rising from low, are to the highest bent; Where hers, whom worth makes highest over all, Coming from her, cannot but downward fall (S. 174 f.).
Auch Musidorus geht in seinem Gedicht zunächst auf den aufrechten Wuchs der Pinie ein, um diesen anschließend mit Pamela in Verbindung zu setzen: Die natürliche Grazie der Pinien wird durch die Grazie Pamelas, die in die Bäume huldvoll ihre Gedichte einritzt, zusätzlich veredelt. Die zweite Strophe vertieft diese Thematik: Die Pinien sind gesegnet, weil Pamela mit ihrer schönen, edlen Hand die Rinde geteilt hat. Hier steht Pamelas Körper im Vordergrund: In erster Linie haben nicht etwa die Worte der Prinzessin die Rinde gespalten, sondern ihre Hand. Die eindringlichen Worte kommen erst an zweiter Stelle. Dies weist einmal mehr auf die Vergewaltigungsszene hin, wo Pamelas Worte verdrängt werden durch ihren schönen Körper und Musidorus deswegen von seinen Affekten überwältigt wird. In der dritten Strophe bittet Musidorus die Pinien darum, dass sie zulassen sollen, dass auch eine gemeine Hand (verstanden im Sinne von niedrig gestellter als die der ehrenvollen Prinzessin) ihre Gedanken in die Rinde ritzen dürfe, denn die Bäume können der Prinzessin nicht die wartenden und zugleich dienenden Gedanken, die „waiting thoughts“ (V. 12), vorenthalten. Die Hand, die gemeiner ist als Pamelas, steht pars pro toto für Musidorus. Base (V. 9)
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ist hier dem Wortfeld des Dienens zugeordnet. In derselben Strophe sind nämlich außerdem noch die Wörter waiting und service (V. 12) zu finden: Der Prinz ist der Liebesdiener der Prinzessin. Außerdem trägt er nach wie vor sein Hirtenkostüm und ist als Schäfer niedriger gestellt als Pamela. Dies wird auch im Text thematisiert, als Pamela ihre Liebe zu Musidorus nicht zulässt, weil sie denkt, er sei ein Hirte. Zusätzlich könnte base auch die drohende Vergewaltigung andeuten, denn das Wort kann auch im Sinne von ‚unedel und niederträchtig‘ verstanden werden. Doch da die nächste und zugleich letzte Strophe des Gedichts Musidorus’ hohe und also edle Gedanken behandelt, die keinesfalls darum kreisen, Pamela Gewalt anzutun, ist diese Bedeutung hier eher zu vernachlässigen. Das Gewicht liegt auf dem Bedeutungsfeld des Dienens. Musidorus schreibt, dass seine Gedanken erhöht sind, weil sie sich auf Pamela beziehen. Deswegen sind sie zugleich auch versklavt. Im letzten Vers spielt Musidorus aber letztendlich doch auf einen möglichen moralischen Fall an, der ja später auch eintritt: „Coming from her, cannot but downward fall“ (V. 18). Da Pamela höher gestellt ist als alles andere, können seine Gedanken sich, sobald sie sich von der Prinzessin abwenden, nur niederen Dingen oder Personen zuwenden. Und auch wenn der Vergewaltigungsversuch durch Gedanken an Pamela ausgelöst wird, steht dort nicht ihre Ehrhaftigkeit oder Tugend im Vordergrund, sondern ihr Körper und aus dessen Anblick resultierend die Begierde des Prinzen. Der Topos des Einritzens von Namen und Gedichten in Bäume ist ein Gemeinplatz der pastoralen Literatur.¹⁰⁷ Er ist eine Variation der Metapher von der Natur als Buch, die sich schon bei den Denkern der Antike findet, aber vor allem im christlichen Mittelalter zu voller Blüte gelangt,¹⁰⁸ denn aus Genesis geht der Glaubenssatz hervor, Gott habe die Welt durch sein Wort geschaffen. Daraus entsteht die Vorstellung, dass die Welt selbst ebenso sprachförmig sei: „In the Middle Ages the book of nature […] written by the finger of God and the mirror of his mind, was by definition an edifying book, and like Holy Scripture, of which it is the earthly and manifest counterpart, a liber sanctae doctrinae“.¹⁰⁹ Das Buch der Natur ist ein Gesetzeswerk, dessen Regeln der Mensch in der Natur erkennen kann und an die er sich zu halten hat. Wenn nun der Mensch seine Gedanken in die Natur schreibt, verändert er dieses Buch. Pamela und Musidorus lassen so die Natur für sie sprechen.
Inwieweit das Einschreiben in Bäume nicht nur als Motiv der Literatur, sondern auch als „a practical and practiced mode of writing in early modernity“ zu verstehen ist, zeigt Leah Knight: Reading Green in Early Modern England. Burlington und Farnham 2014. S. 84 f.; Zitat S. 85. Vgl. auch Rensselaer Lee: Names on Trees. Ariosto into Art. Princeton 1977 (Princeton Essays on the Arts 3). S. 3 f. Ebd., 3.
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Wie die Metapher vom Buch der Natur gibt es auch das Spiel mit ihr in Form des Einschreibens in die Natur bereits seit der Antike. Erstmals findet es bei Callimachus im 3. Jahrhundert vor Christus Erwähnung,¹¹⁰ aber vor allem Vergils zehnte Ekloge ist der locus classicus, aus dem die Tradition hervorgeht:¹¹¹ certum est in silvis inter spelaea ferarum malle pati tenerisque meos incidere amores arboribus: crescent illae, crescetis amores.¹¹²
Sidney übernimmt mehrere Motive Vergils: Auch seine Liebenden befinden sich im wilden Wald (der zugleich ein locus amoenus ist). Außerdem will Pamela ebenso wie das Sprecher-Ich Vergils, dass die Bäume wachsen und dadurch auch ihre Liebe. In Vergils zehnter Ekloge findet sich zudem ebenfalls der Topos der Unsterblichkeit des Dichters aufgrund seiner Liebe und Liebesdichtungen: „o mihi tum quam molliter ossa quiescant,/vestra meos olim si fistula dicat amores“.¹¹³ Anders als das Vergil’sche Sprecher-Ich, das sich unglücklich verliebt alleine in die Wildnis zurückziehen will, lieben Pamela und Musidorus einander und sind gemeinsam im Wald. Sidneys Quelle für diese Konstellation ist vermutlich Ludovico Ariostos Orlando Furioso (1516), denn Ariost „inverts the topos so that now it celebrates the happiness of love in the pastoral paradise instead of recording the poet’s frustration and grief […]“.¹¹⁴ In der 28. Strophe des 19. Buches ritzen die glücklich verliebten Angelica und Medore nämlich ebenfalls ihre Namen in kunstvollen Ornamenten in Bäume:
Siehe Thomas G. Rosenmeyer: The Green Cabinet. Theocritus and the European Pastoral Lyric. Berkeley und Los Angeles 1969. S. 203. Bei Callimachus heißt es: „but may you bear so many letters, engraved in your bark/as will tell that Cydippe is beautiful“ (Callimachus: Aetia. In: Callimachus: Aetia. Introduction, Text, Translation, and Commentary. Volume 1. Hg. von Annette Harder. Oxford 2012. 73= fr. 73 Pfeiffer [S. 234]). Siehe Lee: Names on Trees, S. 9; sowie Falco: Conceived Presences, S. 151. Vergil: Bucolica, 10,52 f. In der Übersetzung von Albrechts: „Das ist gewiß: Lieber will ich in Wäldern, zwischen Höhlen wilder Tiere, mein Leid tragen und meine Liebe in zarte Bäumchen ritzen. Sie werden wachsen und meine Liebe mit ihnen“. Ebd., 10,32 f. In der Übersetzung von Albrechts: „O wie sanft mögen dann meine Gebeine ruhen, wenn einst eure Hirtenflöte von meiner Liebe kündet!“. Eugene R. Cunnar: Names on Trees, the Hermaphrodite, and ‘The Garden’. In: On the Celebrated and Neglected Poems of Andrew Marvell. Hg. von Ted-Larry Pebworth und Claude J. Summers. Columbia und London 1992. S. 121– 138. S 125; siehe außerdem Miriam Jacobson und Vin Nardizzi: The Secrets of Grafting in Wroth’s Urania. In: Ecofeminist Approaches to Early Modernity. Hg. von Rebecca Laroche und Jennifer Munroe. New York 2011 (Literatures, Cultures, and the Environment). S. 175 – 194. S. 177.
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Amid these joyes (as great as joyes might be) Their manner was on ev’rie wall within, Without on ev’rie stone and shadie tree, To grave their names with bodkin, knife, or pin: Angelica and Medore you plaine might see (So great a glorie had they both therein), Angelica and Medore in ev’rie place With sundrie knots and wreaths they enterlace.¹¹⁵
Ähnlich wie in der Arcadia sind diese Baumgravuren aber auch in Orlando Furioso nicht (nur) positiv konnotiert, denn sie lösen Orlandos Wahnsinn aus, als er sie sieht und erkennt, dass Angelica ihm untreu ist.¹¹⁶ Im Gegensatz zu Callimachus, Vergil oder Ariost, die nicht auf die Situation der Bäume eingehen, nennt Pamela in ihrem Sonett das Einritzen eine Verletzung des Baumes. Die Prinzessin relativiert, wie oben schon ausgeführt, diese Aussage zwar unmittelbar darauf, dennoch wird in ihrem Vers ein interessantes Thema angesprochen, eine ökokritische Perspektive avant la lettre, wenn man so will, die sich auch anderenorts in der Arcadia findet.¹¹⁷ Durch das Einritzen in die Rinde formt Pamela die Natur aktiv um und drückt ihr ihren Stempel auf, obwohl ihr bewusst ist, dass sie dem Baum schadet. Die Verletzung des Baumes kann insofern negativ bewertet werden, denn die Narbe der Einritzung bleibt für immer. Diese Episode könnte als implizite Kritik Sidneys am teilweise selbstbezogenen und rücksichtlosen Umgang der Menschen mit der Natur verstanden werden.¹¹⁸
2.3.2 Tiere, die es zu bewahren gilt Deutlicher als im Falle der ‚verletzten‘ Bäume wird ein proto-ökokritischer Impetus in der beast fable angesprochen, diesem archaisch anmutenden Gedicht,
Ludovico Ariosto: Orlando Furioso. In: Ludovico’s Orlando Furioso. Translated into English Heroical Verse by Sir John Harington (1591). Hg. von Robert McNulty. Oxford 1972. 19,28, Hervorhebung im Original. Ebd., 23,78 f. Vgl. diese Arbeit: Kapitel 2.3.2. Vgl. zu Ecocriticism im Zusammenhang mit dem Baumeinritzen auch Rosenmeyer: Green Cabinet, S. 203; Theis: Writing the Forest, S. 43; sowie Knight: Reading Green, S. 107: „An ideal fusion of nature and culture might be sought and might be represented in the motif of the carved tree, but that ideal’s absence, in the hollow slowly enclosed by a numb scar, is what remains. Arden might be a locus amoenus and a book of nature, too, until we decide to cultivate its feelings with our cutting tools“.
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das weder vom Ton noch vom Inhalt her in die Arcadia zu passen scheint.¹¹⁹ „Ister Bank“ kann als Kritik der frühneuzeitlichen Jagdkultur gelesen werden.¹²⁰ Die Tierfabel ist in diesem Verständnis eine Beanstandung des anthropozentrischen Weltbilds der abendländischen Kultur. Das klassische Dogma des Menschen, er sei der natürlichen Welt überlegen, lässt sich nach Bruce Boehrer mit drei grundlegende Prinzipien beschreiben: 1) that human beings are radically – at the root of their nature – different from all other life on earth; 2) that this difference renders humankind superior to the rest of earthly creation; and 3) that this superiority, in turn, designates the natural world as an exploitable resource, with the spheres of nature and culture replicating the traditional relationship between servant and master.¹²¹
Diese elementaren Ideen finden sich, wie Keith Thomas zeigt, sowohl in der klassischen Antike als auch in der Bibel. Sie werden prominent im Alten Testament vertreten.¹²² Bereits im ersten Kapitel von Genesis wird die Vormachtstellung der Menschen über die natürliche Welt herausgestellt:¹²³ Thus God created the man in his image: in the image of God created he him: he created them male and female. And God blessed them, and God said to them, Bring for the frute and multiplie, and fil the earth, and subdue it, and rule over the fish of the sea and over the foule of the heaven, & over every beast that moveth upon the earth (Gen. 1,27–28).¹²⁴
Zur Sprache von „Ister Bank“ siehe beispielsweise Lucy Munro: Archaic Style in English Literature, 1590 – 1674. Cambridge [u. a.] 2013. S. 171 f.; vgl. außerdem Jan van Dorsten: Recollections: Sidney’s Ister Bank Poem. In: Between Dream and Nature: Essays on Utopia and Dystopia. Hg. von Dominic Baker-Smith und C. C. Barfoot. Amsterdam 1987 (DQR Studies in Literature 2). S. 47– 60. S. 47 f. Die Gattungszuschreibung ‚Fabel‘ für dieses Gedicht ist nicht ganz unproblematisch. Siehe hierzu Laurie Shannon: The Accommodated Animal: Cosmopolity in Shakespearean Locales. Chicago [u. a.] 2013. S. 73. Da sie sich aber eingebürgert hat, wird sie hier übernommen. Siehe auch Borlik: Ecocriticism, S. 172 f. Boehrer: Shakespeare Among the Animals, S. 6. Siehe Thomas: Man and the Natural World, S. 17 f.; zu frühneuzeitlichen philosophischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema siehe auch Jill Kraye: Moral Philosophy. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Hg. von Eckhard Keßler [u. a.]. Cambridge [u. a.] 1988. S. 301– 386. S. 306 f. Vgl. Boehrer: Shakespeare Among the Animals, S. 7. Zitate aus der Bibel sind der Geneva Bible entnommen: Llyod E. Berry (hg.): The Geneva Bible – A Facsimile of the 1560 Edition. Peabody 1969. Die Schreibung der Buchstaben wurde modernisiert.
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Adam und Eva sind nach Gottes Ebenbild geschaffen. Diese Superiorität erlaubt es ihnen, sich die Erde und alle Lebewesen zu unterwerfen, ja Gott fordert es sogar von ihnen. Nach dem Sündenfall wiederholt Gott seine Aufforderung und bekräftigt Noah darin, die Erde zu beherrschen:¹²⁵ Bring for the frute, and multiplie, and replenish the earth. Also the feare of you, and the dread of you shalbe upon everie beast of the earth, and upon everie foule of the heaven, upon all that moveth on the earth & upō all the fishes of the sea: into your hand are thei delivered. Everie thing that moveth & liveth, shalbe meat for you (Gen. 9,1– 3).
In diesem Zitat wird noch stärker als in dem vorigen die Beherrschung der Tiere betont: Tiere sind ebenso wie Pflanzen Nahrung für den Menschen. Dieser darf sie jagen und essen. Diese göttliche Erlaubnis ist die Grundlage für das anthropozentrische Weltbild des Menschen und dementsprechend auch für die Jagd auf Tiere. Zunächst diente diese der Fleischbeschaffung, doch entwickelte sie sich schnell zu einem Sport für Aristokraten. Die Tiere wurden nun nicht mehr (nur) verfolgt und getötet, weil man ihr Fleisch essen wollte, sondern die Jagd wurde zu einem Ereignis, bei dem vor allem der Adel Tugend, Geschick und Tapferkeit unter Beweis stellen konnte. Die Essensbeschaffung spielte dabei nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle mehr. Im frühneuzeitlichen England wurde die Jagd hauptsächlich als hilfreiche Aktivität gesehen, um Müßiggang vorzubeugen, um für mögliche Kriege zu trainieren und sie galt außerdem als äußerst gesundheitsförderlich.¹²⁶ Zudem wurde die Jagd in England eng mit der eigenen Kultur und Geschichte verbunden: The symbolism of deer and the hunt lay close to the cherished histories of English culture, as the nobility of the hunt in the sixteenth and seventeenth centuries reflected both its antiquity and its descent from the mythic heroes of the distant past.¹²⁷
Als sich in der Frühen Neuzeit die Kritik am anthropozentrischen Weltbild verstärkte, wurde in diesem Zusammenhang auch die Jagd immer öfter als grausam verurteilt. Diese Einstellung findet sich auch in der Literatur, wie beispielsweise in Erasmus’ Praise of Folly von 1511, in Thomas Morus’ Utopia, die 1516 veröffentlicht wurde, bei Giordano Bruno und Cornelius Agrippa sowie bei Michel de Montai-
Siehe Boehrer: Shakespeare Among the Animals, S. 7. Siehe James Williams: Hunting, Hawking and the Early Tudor Gentleman. In: History Today 53/8 (2003). S. 21– 27. S. 23; sowie Dan Beaver: The Great Deer Massacre: Animals, Honor, and Communication in Early Modern England. In: JBS 38/2 (1999). S. 187– 216. S. 190 f. Beaver: The Great Deer Massacre, S. 189.
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gne.¹²⁸ In dem Essay „Of Crueltie“, das Michel de Montaigne im selben Jahr verfasste wie Sidney seine Arcadia, heißt es etwa: As for me, I could never so much as endure, without remorse and griefe, to see a poore, sillie, and innocent beast pursued and killed, which is harmeless and void of defence, and of whom we receive no offence at all. And as it commonly hapneth, that when the Stag begins to be embost, and finds his strength to faile-him, having no other remedie left him, doth yield and bequeath himselfe unto us that pursue him, with teares suing to us for mercie […] was ever a grievous spectacle unto me.¹²⁹
In Sidneys beast fable (S. 221– 225) ist die Jagd eines der Zeichen von unterdrückerischer Herrschaft: Der Mensch baut seine Tyrannei über die Tiere langsam auf. Nachdem er auf Wunsch der Tiere von ihnen selbst mit Hilfe des göttlichen Feuers geschaffen wurde, lebt er zunächst friedlich mit ihnen zusammen. Doch dann beginnt er, die Erde zu verletzen. Darüber empört sich aber niemand, da die Erde selbst sich nicht beschwert: But when his seat so rooted he had found That they now skilled not how from him to wend, Then gan in guiltless earth full many a wound, Iron to seek, which gainst itself should bend To tear the bowels that good corn should send. But yet the common dam none did bemoan, Because (thought hurt) they never heard her groan (V. 113 f.).
Die Einführung der Landwirtschaft bringt die Domestizierung einiger Tierarten mit sich, während die nicht zähmbaren Tiere in die Wildnis vertrieben werden: Then gan he factions in the beasts to breed; Where helping weaker sort, the nobler beasts (As tigers, leopards, bears, and lions’ seed) Disdained with this, in deserts sought their rests; Where famine ravin taught their hungry chests, That craftily he forced them to do ill; Which being done, he afterwards would kill
Siehe Borlik: Ecocriticism, S. 169 f.; sowie Matt Cartmill: A View to a Death in the Morning. Hunting and Nature through History. Cambridge 1996. S. 76 f. Michel de Montaigne: Of Crueltie. In: The Essays of Montaigne. Done into English by John Florio Anno 1603. The Second Book. Hg. von George Saintsbury. New York 1967. S. 109 – 127. S. 123. Siehe auch Cartmill: A View to a Death, S. 78; sowie Thomas: Man and the Natural World, S. 173 f.
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For murder done, which never erst was seen, By those great beasts. As for the weakers’ good, He chose themselves his guarders for to been Gainst those of might of whom in fear they stood, As horse and dog; not great, but gentle blood. Blithe were the commons, cattle of the field, Tho when they saw their foen of greatness killed. But they, or spent or made of slender might, Then quickly did the meaner cattle find, The great beams gone, the house on shoulders light; For by and by the horse fair bits did bind; The dog was in a collar taught his kind. As for the gentle birds, like case might rue When falcon they, and goshawk, saw in mew (V. 120 f.).
Die Wildtiere werden durch die Vertreibung in die Einöde gezwungen, andere Tiere zu töten, um ihren Hunger zu stillen. Sie werden also zu Raubtieren. Als Strafe dafür tötet der Mensch sie. Dass hier ein eklatanter Regelbruch geschieht, zeigt sich auch an der grammatikalischen Unabgeschlossenheit der 18. Strophe („Then gan he factions in the beasts to breed […]“), in der der Satz nicht zu Ende gebracht wird. Alle anderen 22 Strophen sind grammatikalisch in sich geschlossen. Nur hier, bei der ersten Tiertötung des Menschen, findet sich ein den Redebeziehungsweise Lesefluss störendes Strophenenjambement, das das Wort kill betont. Der Regelbruch des Menschen wird so in einen Regelbruch der Sprache transferiert. Da die Wildtiere den anderen Tieren gefährlich werden können, überzeugt der Mensch diese, dass sie ihn brauchen, da er sie schützt und sich um sie kümmert. So macht der Mensch einige Tiere zu seinen Nutz- und Haustieren, die für ihn arbeiten. Es findet sich hier der Herrscher-Knecht-Gedanke aus Genesis wieder. Die Abhängigkeit der Tiere weiß der Mensch wiederum auszunutzen: Worst fell to smallest birds, and meanest herd, Who now his own, full like his own he used. Yet first but wool, or feathers, off he teared; And when they were well used to be abused, For hungry throat their flesh with teeth he bruised; At length for glutton taste he did them kill; At last for sport their silly lives did spill (V. 141 f.).
Der Mensch beginnt, sich der Ressourcen, die die Tiere bereitstellen, zu bedienen. Zunächst nimmt er nur vom Äußeren, zum Beispiel Wolle oder Federn. Doch dann wendet er sich auch ihrem Inneren zu: Er tötet Tiere, um ihr Fleisch essen zu
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können. Auch diese Grausamkeit ist aber noch zu steigern, wie Vers 147 zeigt. In ihm heißt es, dass der Mensch die Tiere letztendlich nicht einmal mehr aufgrund ihrer Ressourcen tötet, sondern nur „for sport“, also ohne Sinn und Zweck einfach zum Vergnügen an der Jagd. Es folgt die Lehre der Fabel: But yet, O man, rage not beyond thy need; Deem it no gloire to swell in tyranny. Thou art of blood; joy not to make things bleed. Thou fearest death; think they are loath to die. A plaint of guiltless hurt doth pierce the sky (V. 148 f.).
In dieser Strophe wird der Mensch ermahnt, die Tierwelt gut zu behandeln: Perhaps most astonishingly, the poem envinces a remarkable empathy for animal suffering that comes to a crescendo in the phrase: “A plaint of guiltless hurt doth pierce the sky.” The line is nothing less than a collective howl of protest against the inhumane treatment of animals translated into an exquisite pentameter […].¹³⁰
In erster Linie ist „Ister Bank“, wie noch gezeigt werden wird, ein Gedicht über die Entstehung von Tyrannei und Möglichkeiten des Widerstands dagegen.¹³¹ Dabei wird die schleichende Unterdrückung der Tiere allerdings sehr genau und drastisch dargestellt. Dies lässt darauf schließen, dass das Gedicht nicht nur in klassischer Fabelmanier in dem Sinne zu deuten ist, dass die Tiere die in der Tyrannei unterdrückten Menschen darstellen. Vielmehr sind die Tiere auch als Tiere zu verstehen.¹³² Diese werden vom Menschen unterdrückt und getötet, was in der Grausamkeit der Jagd gipfelt. Es lassen sich bei dieser Kritik der Jagd Parallelelen zu Shakespeares As You Like It ausmachen.¹³³ Jaques nennt Jäger „usupers, tyrants, and what’s worse,/To fright the animals and to kill them up/In their assigned and native dwelling-place“.¹³⁴ Auch für Jaques sind Jäger Tyrannen, die Tiere ängstigen und töten. Ungleich komplexer als bei Shakespeare wird die Jagdkritik in der Arcadia aber durch den Rahmen des Gedichts. Die 16 Strophen der beast fable sind eine metadiegetische Erzählung, die auf der intradiegetischen Ebene umfasst ist von Borlik: Ecocriticism, S. 178. Siehe diese Arbeit: Kapitel 5.1.2. Vgl. auch Shannon: Accommodated Animal, S. 73. Siehe außerdem Borlik: Ecocriticism, S. 172 f., der die beiden Lesarten miteinander verbindet. Zur Kritik der Jagd in As You Like It und weiteren Dramen Shakespeares siehe Theis: Writing the Forest; sowie Borlik: Ecocriticism, S. 179 f. William Shakespeare: As You Like It. Hg. von Michael Hattaway. Cambridge [u. a.] 2009 (The New Cambridge Shakespeare). 2.1.61 f.
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sechs Strophen zu Beginn und einer am Ende, in denen der Schäfer Philisides erklärt, woher er die Fabel kennt und wann er sie das erste Mal sang. Auf extradiegetischer Ebene schließlich singt Philisides die insgesamt 23 Strophen in den dritten Eklogen während pastoraler Hochzeitsfeierlichkeiten. Sowohl der Sänger als auch sein Publikum sind also Schäfer. Durch ihren Kontext wird die Fabel über die Tyrannei der Menschen über die Tiere eng geführt mit der Figurengruppe der Arcadia, zu deren Selbstverständnis es gehört, über Tiere zu herrschen. Dementsprechend heißt es auch zu Beginn von „Ister Bank“: „As I my little flock on Ister bank/(A little flock, but well my pipe they couthe)/Did piping lead […]“ (V. 1 f.). Und die letzte Strophe lautet: Thus did I sing and pipe eight sullen hours To sheep whom love, not knowledge, made to hear; Now fancy’s fits, now fortune’s baleful stours. But then I homeward called my lambkins dear; For to my dimmed eyes began t’appear The night grown old, her black head waxen grey, Sure shepherd’s sign that morn would soon fetch day (V. 155 f.).
Philisides hütet und pflegt die Schafe, seine „lambkins dear“, liebevoll. Zugleich stellt er aber seine menschliche Überlegenheit heraus: Er ist derjenige, der die Tiere führt, diese folgen ihm treuherzig, aber unwissend, denn zu Wissen, so wird impliziert, ist einzig der Mensch in der Lage. Außerdem – und das wird zwar in dem Gedicht nicht explizit für Schäfer erwähnt, wohl aber, wie bereits gezeigt, in anderen Schäfergedichten und in der Prosahandlung der Arcadia – bereichern sich Schäfer an den Ressourcen ihrer Tiere. Sie scheren ihre Wolle und schlachten die Schafe für ihr Fleisch. Der Schäfer Klaius erzählt sogar, er habe früher jeden Morgen zum Vergnügen gejagt: „I that was once delighted every morning,/ Hunting the wild inhabiters of forests“ (S. 285). Die Hirten handeln also genauso, wie die Fabel es anprangert: „[…] wool […] off he teared“ (V. 143) und „[a]t length for glutton taste he did them kill“ (V. 146). Diese Spannung zwischen den die Fabel singenden und ihr lauschenden Schäfern und der Kritik am Verhalten eben dieser Schäfer in der Fabel selbst wird nicht aufgelöst. Das Verhältnis bleibt aporetisch, denn auf der extradiegetischen Erzählebene wird der Inhalt nicht kommentiert. Die Jagd wird in der Arcadia mehrfach erwähnt. Sie ist dabei in der Regel eher negativ konnotiert. Am Ende des ersten Buches bedrohen, wie bereits dargestellt, ein Löwe und eine Bärin die Bewohner des Waldes. Dabei wird betont, dass diese nicht in Arkadien heimisch seien, sondern durch eine Jagd in fernen Gebieten verstört und aufgehetzt worden waren, sodass sie nach Arkadien flohen (siehe S. 42). Der Grund für die ‚unnatürliche‘ Anwesenheit der wilden Tiere in den ar-
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kadischen Wäldern ist also eine Jagd. Sie ist indirekt die Ursache für den gefährlichen Angriff der Tiere, der beinahe die Herrscherfamilie Arkadiens und die Prinzen Musidorus und Pyrocles tötet. Ein zweites Mal wird die Jagd erwähnt, als berichtet wird, dass Basilius seinen Oberhirten Dametas das erste Mal auf der Jagd getroffen habe: The beginning of this Dametas’s credit with Basilius was by the duke’s straying out of his way one time a-hunting where, meeting this fellow, and asking him the way, and so falling into other questions, he found some of his answers touching husbandry matters (as a dog sure, if he could speak, had wit enough to describe his kennel) not unsensible; and all uttered with such a rudeness, which the duke interpreted plainness (although there be great difference betwixt them), that the duke, conceiving a sudden delight in his entertainment, took him to his court, with apparent show of his good opinion; where the flattering courtier had no sooner taken the prince’s mind but that there were straight reasons to confirm the duke’s doing, and shadows of virtues found for Dametas. His silence grew wit, his bluntness integrity, his beastly ignorance virtuous simplicity; and the duke (according to the nature of great persons, in love with that he had done himself) fancied that the weakness was in him, with his presence, would grow wisdom (S. 28).
Dametas wird hier, wie auch sonst oft in der Arcadia, als äußerst unsympathische Witzfigur dargestellt: Er ist rüpelhaft, ungehobelt und dumm. Wie die Rebellen wird auch Dametas mit unverständigen Tieren gleichgesetzt. Doch Basilius verkennt Dametas’ Derbheit als erheiternde Unbedarftheit, die es zu formen gilt. Dass der Herzog damit ganz falsch liegt, betont der Erzähler wiederholt, etwa mit Einwürfen der Art, dass Rüpelhaftigkeit und Schlichtheit keinesfalls dieselbe Charaktereigenschaft beschreiben.¹³⁵ Basilius lernt Dametas nun auf der Jagd kennen und dies ist die einzige Jagd, an der Basilius teilnimmt.¹³⁶ Dass er ausgerechnet auf dieser den furchtbaren Dametas trifft und an seinen Hof bringt, rückt gleichsam die Jagd in ein negatives Licht. Ein weiteres Jagdzitat stammt von dem alten Schäfer Geron, der, Shakespeares Polonius gleich, den jungen Schäfern ungefragt Ratschläge erteilt. In einem Gedicht in den ersten Eklogen fordert er den melancholischen Philisides auf, an den Gesängen und Tänzen teilzunehmen und fröhlich zu sein (siehe S. 64). Philisides aber reagiert gereizt auf die besserwisserischen Ratschläge Gerons und beschimpft ihn:¹³⁷
Vgl. hierzu auch Quentin Skinner: Visions of Politics. Volume 2: Renaissance Virtues. Cambridge [u. a.] 2002. S. 277. Obwohl der Herzog nach seinem Rückzug nur noch Freizeit hat („IN these pastoral pastimes a great number of days were sent to follow their flying predecessors“ [S. 80, Hervorhebung im Original]), geht Basilius nicht jagen, sondern genießt die Eklogen und den Müßiggang. Siehe auch Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 43.
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And herein most their folly vain appears, That since they still allege, When they were young, It shows they fetch their wit from youthful years. Like beast for sacrifice where, save the tongue And belly, naught is left; such sure is he, This ‘live-dead man in this old dungeon flung. Old houses are thrown down for new we see; The oldest rams are culled from the flock; No man doth wish his horse should aged be; The ancient oak well makes a fired block (S. 66, Hervorhebung im Original).
Auf diese Attacke antwortend, empfiehlt Geron dem Philisides, die Zeit mit Jagen, dem Stellen von Fallen, Fischen und ähnlichem zu verbringen, anstatt der Geliebten nachzutrauern:¹³⁸ If that thy face were hid, or I were blind, I yet should know a young man speaketh now, Such wand’ring reason in thy speech I find […] In hunting fearful beasts do spend some days, Or catch the birds with pitfalls, or with lime, Or train the fox that trains so crafty lays. Lie but to sleep, and in the early prime Seek skill of herbs in hills, haunt brooks near night, And try with bait how fish will bite sometime […] (S. 66 f.).
Darauf reagiert Philisides herablassend: „Hath any man heard what this old man said?/Truly, not I […]“ (S. 67). Die Jagd wird von Geron der Tradition entsprechend als gesunde und männliche Aktivität verstanden, die Müßiggang vorbeugen kann: „Such active mind but seldom passion sees“ (S. 67). Ausgerechnet der Schäfer, der als streitsüchtig und großtuerisch dargestellt wird, rät Philisides, der für Philip Sidney steht,¹³⁹ seine Zeit mit der Jagd und ähnlichen die Natur ausbeutenden Tätigkeiten zu verbringen. Wiederum ist die Jagd mit einer negativ konnotierten Figur verbunden. Die Lesart der beast fable als Kritik an der Jagd wird außerdem dadurch unterstützt, dass es als gesichert gilt, dass Sidney selbst die Jagd verabscheute.¹⁴⁰
Siehe auch ebd. Siehe hierzu dieses Kapitel: Fußnote 140. Siehe Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 94 f.; sowie Borlik: Ecocriticism, S. 174. Die Verbindung der beast fable mit ihrem Verfasser Philip Sidney, die eine autobiographische Interpretation hier zulässt, ist deswegen besonders eng, weil „Ister Bank“ in der Arcadia von Philisides vorgetragen wird, der als Sidneys Alter Ego verstanden werden kann: „Philisides is generally considered Sidney’s ‘fictionalized self-portrait’ on the grounds (a) that his name recalls the poet’s
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Dies zeigt sich zum Beispiel in einem Brief an Hubert Languet, in dem er sich über Hubert von Lüttich, den Schutzpatron der Jäger, lustig macht.¹⁴¹ Auch finden sich in Philipp Camerarius’ The Living Librarie Aufzeichnungen über eine Unterhaltung mit Sidney bei einem Abendessen in Prag, bei dem Sidney sich ebenfalls zum Thema der Jagd äußert:¹⁴² […] there was an Ordinance made by the king a great while since, that such persons as not of set purpose, but unwittingly had committed an offence deserving any grievous punishment (save the forfeiture of their lives) should be thus punished; namely, That they should stand banisht and discredited until they had brought the tongues and heads of some wolves by them […] the fugitives betooke themselves to seeke so narrowly for wolves and for their young, that in the end there were more hunters than wolves […] so as at length the race of them was as utterly extinguished.¹⁴³
In diesen Ausführungen über die Ausrottung von Wölfen in England setzt Sidney Verbrecher und Jäger gleich. Außerdem zeigt er, dass menschliche Handlungen das Aussterben von Tieren zu Folge haben können.¹⁴⁴ Deswegen kann Sidneys Erklärung, warum es in England keine Wölfe mehr gibt, durchaus auch als Kritik an der Jagd gelesen werden.¹⁴⁵ Auch in zeitgenössischen Biographien und Elegien zu und über Sidney finden sich mehrere Hinweise auf seine Abneigung gegen die
in two ways, ‘Philisides’ conflating the first syllables of the name Philip Sidney and, as ‘lover of a star’ (phili + sidus), comprising the etymological equivalent of Sidney’s other great persona, Astrophil; (b) that Philisides […] delivers a personal history approximating Sidney’s own […] and (c) that the present text refers to an actual event in Sidney’s biography“ (Martin N. Raitiere: Faire Bitts. Sir Philip Sidney and Renaissance Political Theory. Pittsburgh 1984 [Duquesne Studies, Language and Literature Series 4]. S. 57 f.; vgl. beispielsweise auch Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 42 f. und 69). Zu der Erzählung, die Philisides von seiner Geburt und Ausbildung in Samothea (=Britannien) und seinen Reisen vorträgt, und die an das erinnert, was wir über das tatsächliche Leben des jungen Sidney wissen, siehe Katherine Duncan-Jones: Sidney in Samothea: A Forgotten National Myth. In: RES 25/98 (1974). S. 174– 177. Siehe auch Borlik: Ecocriticism, S. 174. Siehe ebd., 174 und 245, Fußnote 26; sowie Osborn: Young Philip Sidney, S. 464 f. Philipp Camerarius: The Living Librarie or, Meditations and Observations Historical, Natural, Moral, Political, and Poetical. Written in Latin by P. Camerarius […] And done into English by John Molle. London 1621. S. 99 (im Original in Kursivsetzung). Vgl. auch Borlik: Ecocriticism, S. 245, Fußnote 26. Für eine gegenteilige Interpretation, die den Raubtiercharakter der Wölfe und die Gefahr für den Menschen, die von ihnen ausgeht, hervorhebt, und die die Erzählung Sidneys „as Protestant political allegory“ (S. 279) liest, siehe Barbara Brumbaugh: ‘Under the Pretty Tales of Wolves and Sheep’: Sidney’s Ambassadorial Table Talk and Protestant Hunting Dialogues. In: Spenser Studies. A Renaissance Poetry Annual XIV. Hg. von William A. Oram [u. a.]. New York 2000. S. 273 – 290.
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Jagd. Sir John Harington, der selbst auf seinen Ländereien die Jagd verbieten wollte, schreibt, dass „noble Sir Philip Sidney was wont to say, that next to hunting, he liked hawking worst“.¹⁴⁶ Edmund Spenser weist in seinem Astrophel ebenfalls auf Sidneys negative Einstellung gegenüber der Jagd hin:¹⁴⁷ „Besides in hunting such felicitie/Or rather infelicitie he found“.¹⁴⁸ Neben diesen (auto‐) biographischen Hinweisen und Episoden, ist es überdies durchaus möglich (wenn auch nicht erwiesen), dass Sidney von bedeutenden Denkern des Kontinents wie Giordano Bruno oder Cornelius Agrippa, mit denen er in Kontakt stand und/oder deren Werke er kannte, beeinflusst wurde.¹⁴⁹ Brunos allegorische Figur der Weisheit in seinem Werk The Expulsion of the Triumphant Beast, das Sidney sogar gewidmet ist, nennt die Jagd beispielsweise „a Princely Madness, a Royal Folly, and an Imperial Fury“.¹⁵⁰ Diese vielen Belege und Hinweise aus verschiedenen Quellen, die Sidney als Gegner der Jagd porträtieren oder die Jagd selbst kritisieren, unterstützen die These, dass „Ister Bank“ nicht nur eine politische Fabel über die Entstehung der Tyrannei ist, sondern auch eine im Fabelgewand versteckte Kritik Sidneys an den Jagdpraktiken der englischen Aristokraten seiner Zeit, für die die Jagd eine immens wichtige Bedeutung bei der Konstruktion der eigenen Identität als Edelmann hatte. Wie viele sylvan pastorals hat die Arcadia also Momente, in denen sie sich kritisch mit dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Auch die anderen Merkmale der Waldpastorale nach Theis lassen sich in der Romanze wiederfinden.Wie im Abschnitt zum arkadischen Wald gezeigt, wird das Leben von Hirten thematisiert, die, ebenso wie die Aristokraten, ihre Identitäten häufig performativ in Aufführungssituationen manifestieren. Dies geschieht im Raum des Waldes, in dem so individuelle wie aber auch kulturelle Identitäten geprägt werden. Denn der arkadische Wald und die arkadische Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Auch der Plot ist nicht in einer anderen Landschaft vorstellbar. Die Flucht- und Rückzugsbewegung der Aristokraten in den Wald stellt kein Entkommen dar. Stattdessen wandern mit der Herrscherfamilie auch der Hof und damit die höfischen Probleme in den Wald ein. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, dass erst durch den Auszug des Hofes in den Wald die politischen Probleme Arkadiens zum Ausbruch kommen, nämlich zum einen
John Harington: A New Discourse of a Stale Subject, Called the Metamorphosis of Ajax. Hg. von Elizabeth Story Donno. London 1962. S. 108. Vgl. auch ebd., Anmerkung 140 zu S. 108. Edmund Spenser: Astrophel. In: Colin Clouts Come Home Again. London 1595. Strophe 17. Siehe auch Borlik: Ecocriticism, S. 170 f.; sowie Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 271. Giordano Bruno: Spaccio della bestia trionfante. Or the expulsion of the triumphant beast. Translated from the Italian of Jordano Bruno. London 1713. S. 261.
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die dynastischen Probleme, die sich auf die Erbfolge beziehen, und zum anderen die Probleme, die die Regierung und Regierbarkeit des Landes betreffen. Zum politischen Raum wird der Wald gerade dadurch, dass er als Fluchtraum vor dem Politischen (und der Politik) intendiert ist – und dass diese Absicht spektakulär scheitert. Obwohl dem Schauplatz der Arcadia bisher in der Forschung mit Ausnahme der so typischen pastoralen Lustortbeschreibungen keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist er also dennoch eminent wichtig für die politische Ordnung Arkadiens.
3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung Es ist ein Gemeinplatz der Forschung, dass Sidney in seiner Arcadia eine Welt schafft, die einer providentiellen Ordnung gehorcht.¹ So formuliert zum Beispiel Clifford Davidson: And on the highest level – higher than nature – Providence sees that discord is translated into concord. Fortune plays its part in the production of the play; however, it is […] clear that ultimately the author of the scenario is the One (i. e., is God).²
Meine These unterscheidet sich von dieser konventionellen Forschungsmeinung. Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, dass es keine implizite oder explizite Hierarchisierung der Ordnungsinstanzen Providenz, Fortuna und Natur gibt, sondern dass sie auf einer horizontalen Achse nebeneinander existieren und jeweils für unterschiedliche Elemente und Ereignisse der arkadischen Welt verantwortlich sind.³ Dazu werde ich die drei Mächte und ihre Beziehungen zueinander betrachten. Die Aufteilung meiner Untersuchung in drei Unterkapitel zu jeweils einer der Instanzen soll dabei keineswegs implizieren, dass jede dieser Berufungs- und Begründungsfiguren für sich steht und einzig in dem jeweiligen Unterkapitel behandelt wird. Vielmehr werden die einzelnen Interpretationen zeigen, dass die Instanzen in der Arcadia so eng miteinander verwoben sind, dass man kaum eine von ihnen getrennt von den anderen betrachten kann. Die Gliederung dient deswegen eher einer Schwerpunktsetzung als der strikten Trennung der Ordnungsinstanzen. Außerdem gilt es, den Unterschied zwischen Figurenrede und Textaussage zu beachten. Denn es ist durchaus möglich, dass das, was die Figuren in Bezug auf die drei Instanzen meinen, nicht dem entspricht, was tatsächlich geschieht. Dies wird auch durch die zwei Wörter ‚Berufung‛ und ‚Begründung‛ deutlich: Nur weil die Figuren sich auf eine Macht berufen, heißt das nicht automatisch, dass diese Macht
Siehe beispielsweise Margaret E. Dana: The Providential Plot of the Old Arcadia. In: SEL 17/1 (1977). S. 39 – 57; Andrew D. Weiner: Sir Philip Sidney and the Poetics of Protestantism. A Study in Contexts. Minneapolis 1978. S. 51 f.; Worden: Sound of Virtue, vor allem S. 368 f.; oder Erica Fudge: Perceiving Animals. Humans and Beasts in Early Modern English Culture. Basingstoke und London 2000. S. 76 f. Clifford Davidson: Nature and Judgement in the Old Arcadia. In: PLL 6/4 (1970). S 348 – 365. S. 364 f. Vgl. zur Pluralität von Handlungszusammenhängen auch Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt/Main 1983 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 427). S. 389 f. https://doi.org/10.1515/9783110562293-003
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3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung
auch die arkadische Ordnung begründet. Zunächst wird der Fokus auf der Frage liegen, in welchem Ausmaß die arkadische Welt providentiell ist und auf welche Gottesinstanzen die Providenz zurückgeführt wird. Diese Untersuchung steht am Anfang dieses Kapitels, da das Orakel den Beginn der Handlung in der Arcadia markiert.
3.1 Göttliche Providenz 3.1.1 Das delphische Orakel Am Anfang der Arcadia steht eine Vorausdeutung, die das Orakel von Delphi dem Herzog Basilius gibt: Thy elder care shall from thy careful face By princely mean be stolen and yet not lost; Thy younger shall with nature’s bliss embrace An uncouth love, which nature hateth most. Thou with thy wife adult’ry shalt commit, And in thy throne a foreign state shall sit. All this on thee this fatal year shall hit (S. 5).
Obwohl Basilius versucht, dem Orakelspruch zu entgehen, wird dieser am Ende der Arcadia in der Tradition des Ödipusstoffes genau so eingetreten sein:⁴ „In essence, the prediction affirms that paradoxical events will take place, that is, that both alternatives of contradictory differentials will come true“.⁵ Pamela, Basilius’ ältere Tochter, wird versucht haben, mit dem thessalischen Prinzen Musidorus aus Arkadien zu fliehen, was nur von Rebellen verhindert wird. Philoclea, die jüngere Prinzessin, wird sich leidenschaftlich in den als Amazone verkleideten makedonischen Prinzen Pyrocles verliebt haben. Der Fürst selbst wird Ehebruch mit seiner Frau begangen haben: Er meint, mit der geliebten Amazone zu schlafen und so die Fürstin Gynecia zu betrügen, aber bei der Geliebten handelt es sich um seine Frau. Und Basilius’ Thron wird zunächst von Pyrocles bestiegen werden, als er eine Rebellion niederschlagen will,⁶ und dann von Euarchus als Protektor
Vgl. auch Michael McCanles: Oracular Prediction and the Fore-Conceit of Sidney’s Arcadia. In: ELH 50/2 (1983). S. 233 – 244. S. 234 f. Ebd., 234. „[…] she [Pyrocles] had time to get up to the judgement seat of the duke“ (S. 113).
3.1 Göttliche Providenz
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Arkadiens übernommen werden.⁷ Die Handlung der Romanze, so könnte man zugespitzt sagen, besteht im Wahrwerden der Prophezeiung. Diese enthält die entscheidenden Handlungselemente der Arcadia. Im Orakel manifestiert sich Providenz als eine wesentliche Begründungsinstanz in der arkadischen Welt. Das delphische Orakel bezieht sich mit seiner Vorausdeutung nicht nur auf den Mikrokosmos der Familie des Basilius, sondern auch auf die politische Ordnung des Landes als Ganzes, da der Orakelspruch von der Zukunft der arkadischen Herrscherfamilie handelt. Die Vorausdeutung ist also ein politischer Sprechakt:⁸ […] die Prophetie [ist] ein zwiespältiges Machtmittel: Sie kann bestehende Ordnungen legitimieren und erhalten, sie aber auch in Frage stellen und attackieren. Die Unterscheidung ist nicht immer klar und oft nur retrospektiv zu treffen, da Prophetien nicht nur ambig zu sein pflegen, sondern auch oft in Situationen ausgesprochen werden, in denen die Machtverteilung unbestimmt bleibt oder sich verschiebt.⁹
Basilius versteht das Orakel zunächst als Bedrohung für sein Reich, denn die Thronfolgerin soll entführt werden, und sein Thron soll ihm von einem fremden Prinzen geraubt werden. Doch am Ende der Romanze, also in der Retrospektive, zeigt sich, dass die Prophezeiung die arkadische Ordnung eigentlich legitimiert und festigt: Die zuvor ungesicherte Thronfolge – der Fürst hat keine Söhne, und Pamela ist unverheiratet und zu jung, um alleine zu regieren – wird durch die Heirat von Pamela und Musidorus stabilisiert. Außerdem werden durch die Hochzeiten der Königskinder drei wichtige griechische Provinzen verwandtschaftlich miteinander verbunden. Obwohl die Prophezeiung Arkadien also letztendlich in eine stabile und glückliche Zukunft führt, wird bereits die Anrufung des Orakels als Fehltritt des Herrschers dargestellt: […] the duke Basilius – not much stirred with the care for his country and children as with the vanity which possesseth many who, making a perpetual mansion of this poor baiting place of man’s life, are desirous to know the certainty of things to come, wherein there is nothing so certain as our continual uncertainty – Basilius, I say, would needs undertake a journey to Delphos, there by the oracle to inform himself whether the rest of his life should be continued in like tenor of happiness as thitherunto it had been […] (S. 4 f., meine Hervorhebungen).
Spätestens als Basilius aus seinem tiefen Schlaf erwacht, macht der Text deutlich, dass Euarchus als Protektor Arkadiens den Thron bestiegen hatte: „Euarchus […] came from the throne unto him [Basilius]“ (S. 360). Vgl. auch Björn Quiring: Shakespeares Fluch. Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance. München 2009. S. 10. Ebd., 97; vgl. hierzu auch Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth and Seventeenth Century England. London 1971. S. 397 f.
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Antike Quellen zeigen, dass das delphische Orakel traditionell von Menschen bei Problemen jeglicher Art um Rat gefragt wurde, etwa bei Kinderlosigkeit oder schwerer Krankheit.¹⁰ Basilius hat jedoch kein Problem, für das er die Hilfe der Götter benötigt. Vielmehr geht es ihm so gut, dass er sich versichern möchte, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Mit der Feststellung, Basilius handele deswegen aus Hochmut und nicht etwa aus Sorge um sein Land oder seine Familie, kritisiert der Erzähler den Herrscher. Kurz darauf nennt der Erzähler die Hybris des Basilius sogar „impiety“ (S. 5).¹¹ Basilius handelt vermessen und frevelhaft gegenüber einer Gottesinstanz. Andererseits gilt ja aber auch: Wenn der Herzog nicht vermessen handeln würde, könnte auch das Orakel nicht eintreffen. Also scheint auch die Hybris des Basilius Teil des providentiellen Gesamtplanes zu sein. Auf alle Fälle ist sie Teil des ‚providentiellen‘ Planes des Autors Sidney. Das Orakel ist auf Handlungsebene providentieller Auslöser von Basilius’ Flucht in die pastorale Schäferwelt und damit Ursprung und Grund aller weiteren Plotverwicklungen und konstituiert auf extradiegetischer Ebene ein literarisches Prinzip auktorialer Providenz. Der Erzähler erklärt außerdem in seiner Beurteilung der Orakelbefragung, dass Wissen um die Zukunft unmöglich ist. Er sagt, nichts sei für den Menschen so gewiss, wie die Ungewissheit.¹² Die Einstellung des Erzählers gleicht der von anglikanischen Theologen aus dem elisabethanischen Zeitalter, die lehrten, es sei unmöglich und gefährlich, zu versuchen, Gottes Plan zu erkennen. So heißt es etwa bei Richard Hooker: Dangerous it were for the feeble brain to wade far into the doings of the Most High; whom although to know be life, and joy to make mention of his name; yet our soundest knowledge is to know that we know him not as indeed he is, neither can know him: and our safest eloquence concerning him is our silence, when we confess without confession that his
Siehe hierzu etwa Richard Stoneman: The Ancient Oracles. Making the Gods Speak. London und New Haven 2011. S. 5 f. Dana und Weiner beziehen impiety auf das Orakel als solches, nicht nur auf die vermessene Konsultation des Basilius (Dana: Providential Plot, S. 44; sowie Weiner: Poetics of Protestantism, S. 56). Dana schlussfolgert deswegen, dass „the narrator’s distaste for pagan superstition is always evident“ (Dana: Providential Plot, S. 44). Die menschliche Ungewissheit zeigt sich in der Arcadia nicht nur in der Unmöglichkeit, den göttlichen Plan zu erkennen oder zu verstehen, sondern auch in der Impossibilität, das Walten der anderen beiden Geltungsinstanzen, Fortuna und Natur, zu erfassen und zu begreifen. Anders als den göttlichen Plan versuchen die arkadischen Akteure aber kaum, die anderen Mächte zu verstehen. Gerade Fortuna ist ja, wie noch gezeigt werden wird, für die Arkadier die Figur der Willkürlichkeit, der man die Verantwortung für die Zufälligkeiten des Lebens zuschreibt und die so von ihrer Natur her ungewiss ist.
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glory is inexplicable, his greatness above our capacity and reach. He is above, and we upon earth; therefore it behoveth our words to be wary and few.¹³
Nachdem der Orakelspruch verkündet wurde, fällt es dem Herzog in seiner menschlichen Unwissenheit schwer, diesen zu verstehen. Die Weissagung lässt aufgrund ihres scheinbar widersinnigen Inhalts keine eindeutige Interpretation zu. Basilius ist deswegen verblüfft und ratlos: „Which, as in part it was more obscure than he could understand, so did the whole bear such manifest threatenings, that his amazement was greater than his fore curiosity“ (S. 5). Der Herrscher kann die widersprüchlichen Aussagen der Prophezeiung kaum deuten. Aus seiner Sicht sagt das Orakel eine unmögliche Zukunft voraus,¹⁴ weil sich die prophezeiten Ereignisse eigentlich ausschließen: Denn wie kann Pamela, wenn der Herzog auf sie aufpasst, überhaupt entführt werden und wie kann sie – sollte sie entführt werden – dennoch nicht verloren sein? Wie kann eine Liebe zugleich natürlich und widernatürlich sein? Und wie kann Basilius Ehebruch mit seiner eigenen Ehefrau begehen?¹⁵ So opak wie der Inhalt der Prophezeiung ist auch ihre Sprache. Die Charakterisierung der Liebe beziehungsweise des Geliebten Philocleas als uncouth spielt beispielsweise mit den verschiedenen Bedeutungen, die dieses Adjektiv haben kann, nämlich ‚unbekannt‘ in all seinen Bedeutungsfacetten.¹⁶ Diese Attribuierung trifft in zweierlei Weise auf Pyrocles zu: Er gibt zum einen seine wahre Identität nicht zu erkennen und zum anderen ist er sowohl in seiner Rolle als Amazone Cleophila als auch als Pyrocles von Makedonien ein Fremder in Arkadien. Der Prinz ist unerkannt und unbekannt. Außerdem ist die Liebe der Prinzessin zu einer Amazone innerhalb des arkadischen Bezugsrahmens uncouth im Sinne von „of a strange and unpleasant […] character“,¹⁷ denn sie ist homoerotische Liebe zwischen zwei Frauen. Philoclea selbst kommentiert sie deswegen als unrechtmäßig (siehe S. 98), unmöglich (siehe S. 98) und sogar als ganz und gar widernatürlich, da sie nicht dem „natural course that each thing required“ (S. 95), folgt. Basilius versteht das Adjektiv uncouth ebenfalls im Sinne von ‚ungehörig‘, schlussfolgert daraus aber nicht eine drohende homoerotische Liebesbeziehung,
Richard Hooker: Of the Laws of Ecclesiastical Polity. In Two Volumes. Volume One (Books I– IV). Introduction by Christopher Morris. London und New York 1954 (Everyman’s Library 202). S. 150 f. Zu der unmöglichen Zukunft, die Prophezeiungen voraussagen, siehe auch Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. München 1962 (Literatur als Kunst). S. 111. Vgl. auch McCanles: Oracular Prediction, S. 235. OED: uncouth, adj. and n. (21.04. 2016). Ebd.
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sondern eine inzestuöse: „In the other lodge he and his wife would keep their younger jewel, Philoclea; and because the oracle touched some strange love of hers, have the most care of her, in especial keeping away her nearest kinsmen“ (S. 6). Dem Herzog kommt es gar nicht in den Sinn, Philoclea den Umgang mit der Amazone zu verbieten, da es sich bei ihr um keinen nahen Verwandten handelt. Im Ganzen interpretiert Basilius die Vorausdeutung zwar als Bedrohung für sich, seine Familie und sein Land, aber dabei versteht er manche Abschnitte der Vorausdeutung gar nicht und andere missversteht er, weil Inhalt wie Sprache des Orakelspruchs undurchsichtig sind. In der Anlegung des Orakels folgt Sidney den antiken Quellen zum realen Delphi, beispielsweise den Aufzeichnungen des Plutarch, der als Priester in Delphi diente.¹⁸ Gerade für Delphi war es nämlich charakteristisch, dass die Weissagungen unbestimmt und mehrdeutig waren und der Interpretation bedurften. Seit der Antike ist außerdem die Missinterpretation des Orakelspruchs durch den Empfänger ein gängiges literarisches Motiv.¹⁹
Sowohl Briefe Sidneys an seinen Freund und Mentor Hubert Languet als auch die Defence belegen, dass Sidney die Schriften Plutarchs kennenlernen wollte bzw. kannte und schätzte. Am 19. Dezember 1573 schreibt der junge Sidney an Languet, dass er gerne die französische Plutarchübersetzung von Jacques Amyot erwerben würde und dafür auch bereit sei, fünfmal mehr zu zahlen, als die zweibändige Folioausgabe eigentlich wert sei: „Oro te Vu mihi mittas opuscula Gallica plutarchi si viennæ emenda esunt. vellem enim libenter quienquies pretium dare, per Mercatorel aliquem opinor poteris mittere“ (Philip Sidney to Hubert Languet.Venice, 19 December 1573. In: The Correspondence of Sir Philip Sidney. Volume I. Hg. von Roger Kuin. Oxford 2012. S. 62– 65. S. 63; in der englischen Übersetzung Roger Kuins: „I beg you to send me the French version of Plutarch’s minor works if it can be had in Vienna: I should willingly pay five times the price for it. I imagine you could send it by the hand of some merchant“ [S. 64 f.]). Einen Monat später, am 15. Januar 1574 kommt Sidney in einem weiteren Brief auf die Plutarchübersetzung zu sprechen, bittet aber Languet, sich keine Umstände bei der Besorgung zu machen (siehe Philip Sidney to Hubert Languet. Padua, 15 January 1573/4). In der Defence erwähnt Sidney Plutarchs Essays über Orakel explizit: „Who list may read in Plutarch the discourses of Isis and Osiris, of the cause why oracles ceased, of the divine providence, and see whether the theology of a nation stood not upon such dreams, which the poets indeed superstitiously observed; and truly, since they had not the light of Christ, did much better in it than the philosophers who, shaking off superstition, brought in atheism“ (Sidney: Defence, S. 40; siehe außerdem Bart Westerweel: Plutarch’s Lives and Coriolanus: Shakespeare’s View of Roman History. In: Recreating Ancient History. Episodes from the Greek and Roman Past in the Arts and Literature of the Early Modern Period. Hg. von Karl Enenkel [u. a.]. Boston und Leiden 2002 [Intersections 1]. S. 187– 211. S. 189). Sidney steht Orakeln offenbar ambivalent gegenüber. Einerseits sind sie für ihn Aberglaube, andererseits ist die Aufklärung der Philosophen, die zu Atheismus führt, noch mehr abzulehnen als der Aberglaube der paganen Dichter. Bei dem Philosophen Heraklit heißt es zu den unbestimmten Prophezeiungen des delphischen Orakels beispielsweise: „Der Herr, der das Orakel von Delphi besitzt, sagt nichts und birgt nicht, sondern er deutet an“. (Heraklit: Fragmente. In: Die Fragmente der Vorsokratiker. Grie-
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Erst nachdem die Handlung fortgeschritten ist und Basilius und seine Familie die Rebellion der Phagonier dank des erfolgreichen Einschreitens des Pyrocles unbeschadet überstanden haben, meint Basilius, er habe den Orakelspruch nun vollständig verstanden und ein Großteil der Vorausdeutungen sei bereits eingetreten: But in his mind thus he construed it [the oracle]: That where the oracle said his elder care should by princely mean be stolen away from him, and yet not lost, it was now performed, since Cleophila had as it were robbed from him the care of his first begotten child; yet was it not lost, since in his heart the ground of it remained. His younger should with nature’s bliss embrace the love of Cleophila, because he had so commanded her for his service to do, yet should it be with as much hate of nature, for being so hateful an opposite to the jealousy he thought her mother had of him. The third was it which most rejoiced him; for now he interpreted the meaning thereof that he should accomplish his unlawful desires with Cleophila, and that after (by the death of Gynecia) she should become his wife. And no less comfort received he of the last point; for that he thought the threatening influence to his estate was in this passed, in respect Cleophila had, as you have heard, possessed his regal throne. Thus the fawning humour of false hope made him take everything to his own best; and such is the selfness of affection that, because his mind ran wholly upon Cleophila, he thought the gods in their oracles did mind nothing but her. These many good successes, as well essential as imaginative, made him grateful to Apollo; and therefore, excluding all the rest saving his wife and daughters (as their manner was when they privately made oblations to their household gods), after sacrifice done, they sang together […] their yearly-used hymn (S. 117).
Der Leser weiß, dass diese Auslegung der Weissagung durch Basilius falsch ist, denn er ist darüber informiert, dass die Amazone Cleophila eigentlich der Prinz Pyrocles ist, der in Philoclea verliebt ist.²⁰ Zusätzlich wird noch durch den Erzählerkommentar betont, dass die Interpretation der Phantasie des Herzogs entspringt. Aber aus Basilius’ Sicht stellt das delphische Orakel für ihn nun keine chisch/Deutsch. Hg. von Hermann Diels. Berlin [u. a.] 1912. Fragment B93, S. 96; zur Mehrdeutigkeit des delphischen Orakels siehe außerdem Stoneman: Ancient Oracles, S. 40 f.). Selbstverständlich gibt es aber auch zu dieser Regel Ausnahmen: Die berühmte Prophezeiung, die Laius über seinen Sohn Ödipus bekommt, ist beispielsweise unmissverständlich: Laius wird einen Sohn bekommen, dieser wird seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten (siehe hierzu auch Stoneman: Ancient Oracles, S. 5 f.). In Sophokles’ berühmten Drama König Ödipus erzählt Iokaste Ödipus davon: „Ein Orakelspruch erging an Laios einst – ich sage nicht,/von Phoibos selbst, doch seinen Dienern –,/daß über ihn das Schicksal kommen werde, durch den Sohn zu sterben,/der aus mir und ihm entstünde“ (Sophokles: König Ödipus. Übersetzt von Kurt Steinmann. Stuttgart 1998 [Reclams Universal-Bibliothek 630].V. 711 f.). Die Ödipusgeschichte kann insofern als Vorbild der Arcadia verstanden werden, als dass bei beiden das Orakel genauso eintritt, wie prophezeit, gerade weil die Akteure versuchen, es zu umgehen. Vgl. auch McCanles: Oracular Prediction, S. 238 f.; sowie Ȧke Bergvall: The ‘Enabling of Judgement’. Sir Philip Sidney and the Education of the Reader. Stockholm 1989 (Studia Anglistica Upsaliensia 70). S. 66 f.
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Bedrohung mehr dar. Vielmehr bringt es reichlich Positives mit sich: Basilius denkt, dass die Amazone Pyrocles/Cleophila ihn liebt und heiraten möchte, und außerdem ist er dankbar für die Rettung Pamelas und die Niederschlagung der Rebellion. Da der Ausgangspunkt aller Ereignisse die Prophezeiung des delphischen Orakels und damit der Gott Apollon ist, dankt Basilius ihm mit einem traditionellen Gebet, das von der Herrscherfamilie alljährlich gesungen wird: Apollo great, whose beams the greater world do light, And in our little world dost clear our inward sight, Which ever shines, though hid from earth by earthly shade, Whose lights do ever live, but in our darkness fade; Thou God, whose youth was decked with spoil of Python’s skin (So humble knowledge can throw down the snakish sin), Latona’s son, whose birth in pain and travail long Doth teach to learn the good what travails do belong; In travail of our life (a short but tedious space While brickle hour-glass runs) guide thou our panting race: Give us foresightful minds; give us minds to obey What foresight tells; our thoughts upon thy knowledge stay. Let so our fruits grow up that nature be maintained; But so our hearts keep down, with vice they be not stained. Let this assured hold our judgements ever take, That nothing wins the heav’n but what doth earth forsake (S. 117 f.).
In den ersten vier Versen dieser Hymne wird Apollon als Gott des Lichtes gefeiert, der Helligkeit in die Welt und Klarheit in das Innere der Menschen bringt. Vers 5 spricht einen der Gründungsmythen des delphischen Orakelkultes an, der […] einen religionsgeschichtlichen Paradigmenwechsel an[deutet]. Die in der mykenischen Zeit verehrte Muttergöttin wird sozusagen entthront und auf ihr religionsgeschichtliches Altenteil gesetzt. Zu den Reminiszenzen an sie gehören der alte Ortsname von Delphi, Pytho, und ein in der Literatur erwähnter Kultplatz der Erdmutter Gâ […] Ihr Attribut, die Schlange Python als Verkörperung der Mächte der Erde, wird als abscheulicher, todbringender Drache abgetan, den Apollon erlegt und damit zum Herrn des Orakels wird.²¹
Wie im Christentum ist also auch bei der Verehrung des Apollon die Schlange ein Symbol für das Böse. Im nächsten Vers wird die Schlange explizit mit Sünde in Verbindung gebracht („snakish sin“). Hier erinnert das Gebet an die frühneuzeitliche französische Ovide Moralisé en Prose-Tradition, in der die Python in geradezu typologischer Lesart als Teufel und Apoll als Jesus verstanden wird.²² Michael Maaß: Das antike Delphi. München 2007 (Beck’sche Reihe 2431). S. 13. Siehe Ringler: Poems, S. 398, Anmerkung zu V. 5 – 6.
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Apoll wird an dieser Stelle also stark christianisiert. Andererseits spielt Vers 7 („Latona’s son, whose birth in pain and travail long“) sehr spezifisch auf Einzelheiten des paganen Mythos an, nämlich die schwierige Geburt und Kindheit Apolls. Latona (im Griechischen Leto), Tochter der Titanen Phoibe und Koios, war eine der zahlreichen Geliebten des Zeus, von dem sie mit den Zwillingen Artemis und Apollon schwanger wurde. Hera war so eifersüchtig auf Latona, dass sie mit aller Macht verhindern wollte, dass die Kinder überhaupt auf die Welt kommen, was ihr auch beinahe gelang. Doch auch nachdem die Zwillinge geboren worden waren, verfolgte Hera sie und ihre Mutter weiter, sodass sie durch zahlreiche Länder irrten, ohne irgendwo Obhut zu finden. Aufgrund dieser Kindheitsgeschichte ist der Gott Apollon also schon immer Mühsal gewohnt, und deswegen folgt in den nächsten Versen des Dankgedichtes die Bitte, dass er die Menschen – und in diesem spezifischen Fall die arkadische Herrscherfamilie – durch die Mühen des kurzen Lebens leiten solle, indem er den Menschen Weitsicht geben und sie dazu bringen möge, dieser zu gehorchen und damit dem Wissen Apollons zu folgen. In Anbetracht des Handlungsverlaufes wirkt diese Bitte geradezu ironisch. Zum einen bittet Basilius, der selbst vollkommen verblendet ist, um Weitsicht. Zum anderen bedeutet foresight nicht nur ‚Weitsicht‘, sondern kann auch als Synonym für ‚Providenz‘ verwendet werden.²³ Versteht man foresight in diesem Sinne, so wird in der Apollon-Hymne darum gebeten, dass Apoll den Menschen seinen göttlichen Plan mitteilen solle,²⁴ dass er also durch die Orakel sprechen solle, und dass er die Menschen diesen Vorausdeutungen folgen lassen möge. Genau das geschieht aber in der Arcadia nicht, denn der Herzog Basilius versucht, dem Eintreten des Orakelspruchs zu entgehen, indem er sich mit seiner Familie in den arkadischen Wald zurückzieht. So kann Basilius das Resultat eines gottesfürchtigen Lebens, das in den folgenden Versen angesprochen wird, nicht erreichen. In Vers 13 heißt es: „Let so our fruits grow up that nature be maintained“. Wenn man gehorsam und gottesfürchtig lebt, so lässt das Früchte wachsen, und so wird die Naturordnung eingehalten. Da Basilius Apoll und dessen göttlichem Plan nicht vertraut und versucht, der Prophezeiung zu entgehen, können die Früchte nicht wachsen und die natürliche Ordnung wird nicht aufrechterhalten. Das Wort fruits hat hier verschiedene mögliche Bedeutungen. Zum einem kann fruits Nachkommen bezeichnen. Im Falle des Basilius sind das Pamela und Philoclea, die also gut aufwachsen sollen, sodass der Natur gefolgt wird. Gerade die Liebe Philocleas zu der Amazone Pyrocles wird in der Arcadia
OED: foresight, n. (24.04. 2016). Foresightful ist interessanterweise dem OED zufolge eine Wortschöpfung Sidneys: OED: foresightful, adj. (24.04. 2016).
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aber als widernatürlich charakterisiert, da sie (zunächst) homoerotisch ist. Die jüngere Tochter des Basilius verhält sich also keineswegs so, dass die natürliche Ordnung Arkadiens bewahrt wird. Dieser Vers kann außerdem auch als Anspielung auf Pyrocles verstanden werden, in dem Sinne, dass die wahre (männliche) Natur des Pyrocles trotz der Verkleidung als Frau erhalten bleiben soll.²⁵ Freilich muss die Apollohymne für dieses Verständnis außerhalb ihres Kontextes betrachtet werden. Denn dort heißt es, nur Basilius und seine Familie beteten zu Apoll. Von der Herrscherfamilie ist nun aber niemand besorgt um Pyrocles’ mögliche Geschlechtskonfusion. Nach der ausführlichen Diskussion zwischen Musidorus und Pyrocles über dessen drohende Effemination im ersten Buch schwingt die Thematik aber zumindest für den Rezipienten in diesem Vers mit. Fruits kann zudem auch die Ergebnisse einer Handlung bezeichnen und zwar im Sinne von Erträgen, die man aus einer Handlung zieht. Diese Handlung ist im Kontext der Apollon-Hymne das bewusste und gehorsame Leben nach dem göttlichen Plan, das Früchte tragen soll und so der Natur folgt.Vers 14 lautet: „But so our hearts keep down, with vice they be not stained“. Während in diesem Parallelismus die Früchte wachsen sollen, soll das Herz demütig ‚unten‘ bleiben, sodass es nicht durch Böses beschmutzt werde. Der Mensch soll also bescheiden und sittsam sein und nicht lasterhaft. Basilius ist nun aber keineswegs maßvoll, sondern anmaßend in seinem Begehren, die Zukunft zu (er‐)kennen. Dementsprechend sündigt er nach seinem ersten Vergehen, das man geradezu als die Ursünde in der Erzählung bezeichnen kann, wiederholt, etwa wenn er seine Regierungsaufgaben vernachlässigt oder seine Ehefrau betrügen möchte. Implizit werden so in diesem Gedicht die Vergehen der Herrscherfamilie auf die Hybris des Basilius zurückgeführt: Aus der Vermessenheit des Basilius und seinem anschließenden Versuch, den prophezeiten Ereignissen zu entgehen, resultieren die Affektkonfusionen der Herrscherfamilie, die ihrerseits zu unmoralischem Handeln führen.²⁶ Basilius, Gynecia und die Prinzessinnen handeln also keinesfalls so, wie die Lehre der Hymne, die in den letzten zwei Versen folgt, es fordert:²⁷ „Let this assured hold our judgements ever take,/That nothing wins the heav’n but what doth earth forsake“. Während am Anfang der apollinischen Dankeshymne der Gott Apollon im Verständnis der antiken Mythologie im Vordergrund steht, ist das Gedicht später immer mehr von christlichen Vorstellungen geprägt, die auf den antiken Gott Apoll übertragen werden. Aus diesem Grund versteht W. R. Ringler das Gedicht als
Siehe zu Pyrocles’ Geschlechterkonfusion auch diese Arbeit: Kapitel 4.1.2. Zu den Affekten der Aristokraten siehe diese Arbeit: Kapitel 4.2. Vgl. auch Stillman: Poetic Justice, S. 120.
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„entirely Christian“, räumt aber ein, dass „[t]he mythological details of the song are taken from Ovid’s Metamorphoses“.²⁸ Wegen solcher Verschmelzungen von apollinischen und christlichen Motiven, der häufigen Erwähnung christlicher Topoi, und weil Apoll der Begründer der providentiellen Ordnung Arkadiens ist, wird er in der Arcadia-Forschung – beispielsweise bei Elizabeth Dipple – gleichgesetzt mit Sidneys christlichem Gott, für den in der heidnisch-antiken Schäferwelt kein Platz sei: „Apollo [is] a direct substitution in the Old Arcadia for the Christian God“.²⁹ Doch scheint mir die Grundanlage der Ordnungs- und Geltungsinstanzen in der Arcadia komplexer zu sein. Alles auf Sidneys christlichen Gott zurückzuführen, hieße, das vielschichtige Gewebe – Sidney selbst vergleicht die Romanze in seinem Widmungsbrief mit einem „spider’s web“ (S. 3) – der verschiedenen Begründungsfiguren Orakel, antike Götter, christlicher Gott, Fortuna und Natur zu ignorieren, das Sidney über seine arkadische Welt legt. Im Folgenden soll dieses Netz der schöpfenden und lenkenden Mächte näher untersucht und – soweit möglich – entwirrt und erklärt werden.
3.1.2 Pagane und christliche Providenz Zunächst wird das Verhältnis der verschiedenen griechisch/römischen Götter zum christlichen Gott und das von antiken religiösen Auffassungen zu christlichen betrachtet, um zu zeigen, dass der Orakelspruch nicht dasselbe ist wie der göttliche Plan des einen christlichen Gottes und dass man Apoll nicht (nur) als Platzhalter für den christlichen Gott verstehen sollte. In der Arcadia gibt es, wie bereits gezeigt, keine scharfe Trennlinie zwischen den antiken Göttern und dem christlichen Gott und zwischen antiken religiösen Vorstellungen und christlichen, sondern vielmehr werden Motive gemischt. Außerdem findet keine Hierarchisierung der Gottesinstanzen statt. Das Pagane wird nicht unter das Christliche subsumiert, das Christliche aber auch nicht unter das Pagane. Die Eigengeltungen der religiösen Vorstellungen bleiben erhalten. Weitere Beispiele, die solche Verflechtungen besonders deutlich hervortreten lassen, sind die Gefangenschaftsepisoden im vierten und fünften Buch der Romanze. Hier kann man besonders gut verfolgen, wie verschiedene philosophisch-religiöse Traditionen zusammenkommen und nebeneinander stehen und eben nicht abgestuft werden.
Ringler: Poems, S. 397. Elizabeth Dipple: ‘Unjust Justice’ in the Old Arcadia. In: SEL 10/1 (1970). S. 83 – 101. S. 91; siehe etwa auch Dana: Providential Plot, S. 44 f.
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Die erste Gefangenschaftsszene thematisiert die Frage nach der Legitimität von Selbstmord. Pyrocles und Philoclea diskutieren, nachdem sie feststellen müssen, dass ihre heimliche Liebesnacht entdeckt worden ist und sie im Schlafgemach der Prinzessin festgesetzt worden sind, ob Suizid in dieser Situation rechtmäßig sei oder nicht. Hierbei werden nicht nur Vorstellungen hinsichtlich der Götter des homerischen Pantheons mit solchen über den christlichen Gott kombiniert, sondern auch pagan-philosophische Lehren mit christlichen gemischt wie auch konfrontiert. Während Philoclea noch schläft, durchdenkt Pyrocles die Situation. Nach langem Ringen mit sich selbst – „at length in difficulties“ (S. 252) – beschließt er, Selbstmord zu begehen: ‘Be it so,’ said the valiant Pyrocles, ‘never life for better cause, nor to better end, was bestowed; for if death be to follow this fact (which no death of mine shall ever make me repent), who is to die so justly as myself? And if I must die, who can be so fit executioners as mine own hands which, as they were accessaries to the fact, so in killing me they shall suffer their own punishment?’ (S. 252).
Der Vollzug dieser Handlung wird aber dadurch erschwert, dass Dametas alles außer einer Eisenstange aus dem Gemach entfernt hat, womit seine Gefangenen sich selbst verletzen könnten. In dieser Lage ruft Pyrocles zunächst Fortuna an: „‘Truly,’ said he, ‘fortune, thou hast well persevered mine enemy, that wilt grant me no fortune to be unfortunate, nor let me have an easy passage, now I am to trouble thee no more’“ (S. 253). Danach wendet er sich direkt an die Eisenstange und bittet sie, ihn umzubringen, und zuletzt wendet er sich in einem Gebet an Jupiter: ‘O great maker and great ruler of this world,’ said he, ‘to thee do I sacrifice this blood of mine; and suffer, O Jove, the errors of my youth to pass away therein. And let not the soul by thee made, and ever bending unto thee, be now rejected of thee. Neither be offended that I do abandon this body, to the government of which thou hadst placed me, without thy leave, since how can I know but that thy unsearchable mind is I should so do, since thou hast taken from me all means longer to abide in it? And since the difference stands but in a short time of dying, thou that hast framed my heart inclined to do good, how can I in this small space of mine benefit so much all the human kind as in preserving thy perfectest workmanship, their chiefest honour? O justice itself, howsoever thou determinest of me, let this excellent innocency not be oppressed. Let my life pay her loss. O Jove, give me some sign that I may die with this comfort.’ And pausing a little, as if he had hoped for some token: ‘And whensoever, to the eternal darkness of the earth, she doth follow me, let our spirits possess one place, and let them be more happy in that uniting’ (S. 253).
Bereits in der Anrede Jupiters vermischen sich antike mit christlichen Vorstellungen, denn Jupiter ist zwar der höchste der olympischen Götter und damit der Herrscher über den Olymp und die Welt, aber er hat die Welt – anders als Gott im
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christlichen Glauben – nicht geschaffen. Seinen Selbstmord verkleidet der Prinz als Opfergabe für Jupiter und bittet um Vergebung der Sünden. Menschenopfer finden im hellenistisch-römischen Glauben, wie die berühmte Geschichte von Iphigenie zeigt, ebenso Erwähnung wie im Alten Testament,³⁰ werden aber in der Regel in beiden Religionen abgelehnt.³¹ Die Vergebung der Sünden durch den Tod Christi, der auch zu einem Menschenopfer wird, ist jedoch für das Christentum konstitutiv.³² Pyrocles stellt sich in dem Gebet selbst geradezu als eine Jesusfigur dar, die aber anders als der Sohn Gottes nicht für andere Buße tut, sondern für sich selbst und, wie sich am Ende des Gebets zeigt, für die geliebte Philoclea. Im Anschluss an die Vergebungsbitte entschuldigt sich Pyrocles bei Jupiter dafür, dass seine Seele den Körper verlassen wird. Dabei wird die klassisch philosophische Idee aufgegriffen, die sich in unterschiedlicher Ausformung beispielsweise sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles findet,³³ dass der Tod die Tren-
Siehe zum Beispiel Genesis 22,2: „And he [God] sad, Take now thine onely sonne Izhák whome thou lovest, & get thee unto the lande of Moriáh, and offre him there for a burnt offring upon one of the mountains, which I will shewe thee“. Etwa muss Abraham Issak letzten Endes nicht opfern: „Then he [God] said, Lay not thine hand upon him […]“ (Gen 22,12). Zu einer Untersuchung des Themas ‚Menschenopfer‘ in der klassischen Antike sowie im Judentum und Christentum siehe Hyam Maccoby: The Sacred Executioner. Human Sacrifice and the Legacy of Guilt. London 1982. Siehe hierzu etwa die Darstellung des Leibes als Störfaktor in Phaidon, der die wahre Erkenntnis verhindert, da „wir seiner [des Leibes] Pflege dienstbar sind“ (Platon: Phaidon. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Stuttgart 1987 [Reclams Universal-Bibliothek 918]. 66d) oder eine Stelle im Gorgias, wo es über die Redekunst heißt: „Denn wenn nicht die Seele den Körper beaufsichtigte, sondern er sich selbst, und wenn nicht von ihr Kochkunst und Arztkunst beaufsichtigt und unterschieden würden, sondern der Körper selbst nach Maßgabe der ihm erwiesenen Gefälligkeiten urteilen würde, dann wäre wohl das Wort des Anaxagoras sehr gültig […], dass alle Dinge an einem Ort zusammengemischt würden, und Medizinisches, Gesundheitsförderndes und Kulinarisches wäre nicht geschieden. Was meiner Meinung nach Redekunst ist, hast du gehört, nämlich das entsprechende Gegenstück zur Kochkunst in der Seele wie jene es im Körper ist“ (Platon: Gorgias. Übersetzt von Michael Ehler, kommentiert von Theo Kobusch. Stuttgart 2014 [Reclams Universal-Bibliothek 18996]. 465c–d). Zu Sidneys Platonlektüre siehe zum Beispiel S. K. Heninger Jr.: Sidney and Serranus’ ‘Plato’. In: English Literary Renaissance 13/2 (1983). S. 146 – 161. Auch bei Aristoteles findet sich – obwohl er ein anderes Verständnis von Seele hat als Platon – die Auffassung, die Seele sei für den Körper verantwortlich: „Die Seele aber ist in erster Linie das, wodurch wir leben, wahrnehmen und denken […] so ist nicht der Körper die vollendete Wirklichkeit der Seele sondern diese die vollendete Wirklichkeit eines bestimmten Körpers“ (Aristoteles: Über die Seele. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 2011 [Reclams Universal-Bibliothek 18602]. II,2); siehe hierzu auch Lutz Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin und New York 2003 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 3). S. 231 f.; sowie
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nung von Körper und Seele bedeute und dass die Seele für die Regierung und Verwaltung des Körpers verantwortlich sei, da sie diesem überlegen ist. Platon zufolge zerfällt nach dem Tod der Körper, während die Seele unsterblich ist.³⁴ Deswegen lässt man, so stellt es Pyrocles dar, den Körper beim Selbstmord im Stich: Suizid ist seit der Antike³⁵ – und das gilt auch noch, wie Kantorowicz zeigt, für das elisabethanische Zeitalter – „an offense against Nature, since it was contrary to the law of self-preservation“.³⁶ Er widerspricht also der natürlichen Ordnung der Welt. Zudem geschieht Pyrocles’ Selbstmord ohne die Erlaubnis Gottes, „without thy leave“. Ohne Gottes Genehmigung soll man – so die christliche Argumentation – nicht aus der Welt scheiden. Suizid ist Mord und kein von Gott gewollter, also natürlicher Tod: „it was an offense against God as a violation of the sixth commandment“,³⁷ heißt es hierzu bei Kantorowicz. Obwohl Pyrocles weiß, dass er in mehrfacher Hinsicht ein Verbrechen begeht, versucht er, sich zu rechtfertigen: Er könne nicht mehr leben, denn Gott in seinem unergründlichen Ratschluss habe ihm jeglichen Lebenssinn genommen: „since how can I know but that thy unsearchable mind is I should so do, since thou hast taken from me all means longer to abide in [the body]“. Nachdem er noch um Gnade für Philoclea gebeten hat und darum, im Tod mit ihrer Seele vereinigt zu werden, versucht Pyrocles sich selbst umzubringen. Dieses Vorhaben scheitert, und Philoclea wacht von dem Lärm, den er dabei macht, auf „and saw now before her eyes the most cruel enterprise that human nature can undertake, without discerning any
George Karamanolis: The Philosophy of Early Christianity. London und New York 2013 (Ancient Philosophies). S. 182 f.: „Aristotle argues […] that the soul is a substance in the sense of being the form of the living body, and as such the soul is responsible for the life of such a body […] In the Phaedo, the soul is sometimes spoken of as an entity responsible for all living functions and at other times as an entity responsible primarily for thinking“. Zur Konzeption des Todes bei Platon siehe auch Rudolf Rehn: Tod und Unsterblichkeit in der platonischen Philosophie. In: Tod und Jenseits im Altertum. Hg. von Gerhard Binder und Bernd Effe. Trier 1991 (Bochumer altertumswissenschaftliches Colloquium 6). S. 103 – 121. Ausnahmen zu dieser Einstellung finden sich im Stoizismus und Epikureismus, wie noch gezeigt werden wird. Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Thought. With a New Preface by William Chester Jordan. Princeton 1997. S. 15. Ebd.; Kantorowicz zählt noch einen dritten verbrecherischen Aspekt von Selbstmord auf, wie ihn die elisabethanischen Juristen verstanden: „finally, it was a crime committed ‘against the King in that hereby he has lost a Subject’“ (ebd.). Hierauf kommt Pyrocles in seiner Rede nicht zu sprechen, vielleicht da er weiß, dass er selbst eines Tages König sein wird und so kein Subjekt mehr ist. Dagegen spricht jedoch die aristotelische Auslegung dieser Satzung, der zufolge nicht dem König direkt, „but […] the polis, the commonweal – in Christian language: the corpus mysticum“ (ebd., 269) durch Suizid geschadet würde. Denn der Verlust des Thronfolgers oder Königs würde Makedonien mit Sicherheit schaden.
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cause thereof“ (S. 254). Bereits Pyrocles’ Gebet zeigt, dass Selbstmord ein Verbrechen ist. Durch den Erzählerkommentar wird das noch einmal betont: Selbstmord ist das grausamste Unterfangen, zu dem die menschliche Natur überhaupt in der Lage ist. Pyrocles geht auf die Vorstellung ein, dass man bei Selbstmord gegen die eigene Natur, „against private nature“ (S. 254), handele. Er aber folge, so betont er, der allgemeinen Natur, der „general nature“ (S. 254), da das Ziel seines Suizids sei, Philoclea zu erhalten, die ein Meisterwerk eben dieser Natur sei.Von Göttern oder Gott ist hier nicht die Rede. Pyrocles setzt auf Natur als selbstständige Berufungsinstanz.³⁸ Es folgt eine Diskussion über die Legitimität von Selbstmord. Bereits die Grundeinstellung der beiden Liebenden unterscheidet sich voneinander, denn Philoclea spricht „not with an unshaked magnanimity, wherewith Pyrocles weighed and despised death, but with an innocent guiltlessness, not knowing why she should fear to deliver her unstained soul to God“ (S. 255). Der Prinz und die Prinzessin haben auch unterschiedliche Auffassungen von Ehre: Pyrocles stützt auf der Grundlage der pagan-antiken Tradition die Ehre und den „Ruhm eines Menschen auf das Urteil anderer Menschen“,³⁹ während Philoclea, die eher der christlich-augustinischen Tradition folgt, „den Maßstab des Ruhmes in das Innere des Menschen“⁴⁰ verlagert. Pyrocles’ Verständnis von Ehre erinnert an die Geschichte der Lucretia, die sich beispielsweise bei Livius findet und ein typisches exemplum der römischen Historiographie für ein tugendhaftes Leben ist:⁴¹ Die bereits verheiratete Lucretia wird vom Sohn des letzten römischen Königs vergewaltigt. Obgleich ihr niemand die Schuld an diesem Ereignis gibt, möchte Lucretia ihre Unschuld durch Selbstmord beweisen und bringt sich deswegen um. So wird sie zu einem Musterbeispiel römischer Tugend und ihre Geschichte zu einem der Gründungsmythen der römischen Republik: Um sie zu rächen, wird die Königsfamilie der Tarquinii vertrieben, sodass die Republik etabliert werden kann.⁴² Die Geschichte Lucretias gehört zum Gemeingut der Renaissance. Überdies lasen Sidney und Gabriel Harvey im Winter 1576/77 die ersten drei Bücher von Livius’ Römischer Geschichte,⁴³ „scrutinizing them,“ wie Harvey in seinen Rand-
Vgl. zu dem Unterschied von Partikular- und Universalnatur auch diese Arbeit: Kapitel 3.3. Karla Pollmann: Augustins Transformation der traditionellen römischen Staats- und Geschichtsauffassung (Buch I–V). In: Augustinus, De civitate dei. Hg. von Christoph Horn. Berlin 1997 (Klassiker auslegen 11). S. 25 – 40. S. 28. Ebd. Vgl. ebd., 27. Siehe ebd., 27 f. Siehe Deborah Shuger: Castigating Livy: The Rape of Lucretia and the Old Arcadia. In: RQ 51/2 (1998). S. 526 – 548. S. 527; für die biographischen Hintergründe von Sidneys Livius-Lektüre mit
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notizen kommentiert, „so far as we could from all points of view, applying a political analysis“.⁴⁴ Überzeugend stellt Deborah Shuger dar, wie Sidney sich für die letzten zwei Bücher der Arcadia von Livius und eben auch von der Geschichte Lucretias inspirieren ließ:⁴⁵ In der Arcadia handelt Pyrocles in der hier zu deutenden Textpassage in gewisser Weise wie Lucretia, da er sich umbringen möchte, um Unschuld zu beweisen, allerdings nicht seine eigene, sondern Philocleas. Die Prinzessin hingegen argumentiert wie Augustinus in seiner Abhandlung der Lucretia-Geschichte in De Civitate Dei: ⁴⁶ Augustinus wertet dieses traditionelle Musterbeispiel römischer Keuschheit […] um, indem er unter Berücksichtigung legaler, moralischer und psychologischer Aspekte Lucretia widersprüchliches Verhalten nachweist: Entweder ist sie unschuldig und hat ein reines Gewissen, dann hat sie unrecht gehandelt, indem sie durch ihren Selbstmord eine Unschuldige tötete, oder aber sie ist schuldig, da sie sich die Vergewaltigung gerne gefallen ließ. Dann ist ihre Selbsttötung eine gerechte Strafe, aber ihre Keuschheit dahin, da sie somit eine Ehebrecherin wäre. Augustinus will zeigen, daß Lucretia nicht aus Liebe zur Keuschheit, sondern aus schwächlichem Schamgefühl heraus Selbstmord begangen hat; von ihr anerkannte äußere Wertmaßstäbe treiben sie in dieses moralische Dilemma.⁴⁷
Philoclea zufolge ist das Paar unschuldig, und deswegen ist Selbstmord unrechtmäßig. In der ersten der zwei Reden, mit denen sie versucht, den Prinzen vom Suizid abzuhalten, fleht die Prinzessin Pyrocles zunächst jedoch an, sie nicht alleine zu lassen, da dies für sie ein Leben in nicht enden wollender Qual bedeuten würde, denn „[her] soul should suffer so oft as […] [she] call[ed] Pyrocles to mind, which should be as oft as […] [she] breathed […]“ (S. 255).Wenn überhaupt, so möchte sie nur mit Pyrocles gemeinsam sterben. Nach diesem emotionalen Appell nennt Philoclea zwei aus ihrer Sicht gewichtige Gründe gegen einen Selbstmord. Er widerspreche dem höfischen Ehrenkodex, denn
Harvey siehe Alan Stewart: Philip Sidney (1554– 1586). In: The Ashgate Research Companion to The Sidneys, 1500 – 1700. Volume 1: Lives. Hg. von Michael G. Brennan [u. a.]. Burlington und Farnham 2015. S. 41– 58. S. 43. Gabriel Harveys History of Rome; zitiert in: Anthony Grafton und Lisa Jardine: ‘Studied for Action’: How Gabriel Harvey Read His Livy. In: Past & Present 129 (1990). S. 30 – 78. S. 36. Siehe auch Shuger: Castigating Livy, S. 526. Siehe Shuger: Castigating Livy. Siehe ebd., 527; sowie Philip Sidney: The Countess of Pembroke’s Arcadia (The Old Arcadia). Hg. von Jean Robertson. Oxford [u. a.] 1973. Anmerkung zu S. 294, 23 – 36, S. 471. Pollmann: Augustins Transformation, S. 27, Hervorhebung im Original; siehe auch Augustinus: De Civitate Dei: Books I & II. Hg., übersetzt und kommentiert von P. G. Walsh. Oxford 2005 (Aris & Phillips Classical Texts). 1,19.
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[…] killing oneself is but a false colour of true courage […] Whatsoever […] comes out of despair cannot bear the title of valour, which should be lifted up to such a height that, holding all things under itself, it should be able to maintain his greatness even in the midst of miseries (S. 255)
Dieser Gedanke ist, wie auch Joan Rees darlegt, stoischer Natur und ähnelt zugleich der christlichen Vorstellung von der Unterwerfung des Menschen unter Gottes Willen:⁴⁸ „Philoclea’s use of the word ‘despair’ itself suggests Christian resonances“.⁴⁹ Die implizierte Christlichkeit des Arguments wird im nächsten Satz explizit,⁵⁰ denn Philoclea zufolge verstößt Selbstmord nicht nur gegen den höfischen Ehrenkodex, sondern auch gegen Gottes Bestimmung, denn „God had appointed us captains of these our bodily forts“ (S. 255). Hier geht die Prinzessin auf den klassisch-antiken Leib-Seele-Dualismus ein, den der Prinz bereits in seinem Gebet zu Jupiter angesprochen hat, und den das Christentum von Platon übernimmt. Um ihre Argumentation gewichtiger erscheinen zu lassen – immerhin ist sie ‚nur‘ eine Frau –, ruft die Prinzessin ihren Vater und andere weise Männer als Autoritäten auf:⁵¹ „I have heard my father and other wise men say […]“ (S. 255).⁵² Der Prinz lässt sich aber weder von Philocleas Flehen noch von ihren Argumenten überzeugen. Zunächst hält er fest, dass er nicht zulassen könne, dass Philoclea mit ihm gemeinsam sterbe, denn „it is fitter one die than both“ (S. 256). Außerdem erklärt er – und hier klingt wieder stoisches Gedankengut mit –, dass er lieber zufrieden und mit gutem Gewissen durch seine eigene Hand sterben wolle, als erbärmlich durch das Gesetz: „let me die contentedly than wretchedly; rather with a clear and joyful conscience than with desperate condemnation in myself that I, accursed villain, should be the mean of banishing from the sight of men the true example of virtue“ (S. 256).⁵³ Ferner schwört er vor Gott, der „immortal truth“ (S. 256), dass er nicht aus Angst handele, sondern – und das klingt ja auch schon
Siehe Joan Rees: Sir Philip Sidney and Arcadia. London und Toronto 1991. S. 133. Ebd. Vgl. auch ebd., 134. Vgl. auch Wendy Olmsted: The Gentle Doctor: Renaissance/Reformation Friendship, Rhetoric and Emotion in Sidney’s Old Arcadia. In: Modern Philology 103/2 (2005). S. 156 – 186. S. 183 f. Zum Status der Frau in der Frühen Neuzeit siehe auch diese Arbeit: Kapitel 4.1.2. Für eine Lesart, die die Ironie dieses Aufrufes in den Vordergrund stellt – immerhin ist Basilius zu diesem Zeitpunkt keineswegs eine moralisch achtenswerte Figur und Pyrocles sowie die Rezipienten wissen dies –, siehe Regina Schneider: Sidney’s (Re)Writing of the Arcadia. New York 2008 (AMS Studies in the Renaissance 43). S. 105. Vgl. auch Olmsted: Gentle Doctor, S. 183.
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in seiner vorigen Erwähnung des guten Gewissens an – dem höfischen Ehrenkodex folge, da er unbewegt sein Leben lebe und den Tod nicht fürchte: […] truly I do not see but that true fortitude, looking into all human things with a persisting resolution, carried away neither with wonder of pleasing things nor astonishment of unpleasant, doth not yet deprive itself of the discerning the difference of evils, but rather is the only virtue with which an assured tranquillity shuns the greater by valiant entering into the less (S. 257).
Stoische und epikureische Lehre vermischen sich in der Argumentation des Pyrocles in ähnlicher Weise wie in der Philosophie Senecas, der Epikur nicht nur für seine Tugend und Nüchternheit pries, sondern ihn wiederholt in Einklang mit seinen eigenen streng stoischen Ansichten brachte.⁵⁴ Vor allem die Erwähnung von tranquility ruft die epikureische Philosophie auf, denn für Epikur war Seelenruhe das summum bonum, das, wenn es erreicht werde, den Menschen sogar unter körperlicher Folter glücklich mache.⁵⁵ Zudem wird weder im Stoizismus noch im Epikureismus Selbstmord grundsätzlich abgelehnt, sondern in bestimmten Situationen empfohlen. So schreibt Seneca beispielsweise in seinem 70. Brief an Lucilius über Ethik: Itaque sapiens vivet quantum debet, non quantum potest. Videbit ubi victurus sit, cum quibus, quomodo, quid acturus. Cogitat semper qualis vita, non quanta sit. Si multa occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta esse fortuna, diligenter circumspicit numquid illic desinendum sit. Nihil existimat sua referre, faciat finem an accipiat, tardius fiat an citius: non tamquam de magno detrimento timet; nemo multum ex stilicidio potest perdere.⁵⁶
In vergleichbarer Weise argumentiert auch Pyrocles, dass es das Recht des Menschen sei, die Verantwortung für den Körper abzugeben, wenn es keinen guten
Siehe Kraye: Moral Philosophy, S. 375. Siehe ebd., 374. Lucius Annaeus Seneca: Episutlae morales ad Lucilium: Liber VIII – Briefe an Lucilius über Ethik: 8. Buch. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Rainer Rauthe. Stuttgart 2008 (Reclams Universal-Bibliothek 2140). Epistula LXX, 4– 5. In der Übersetzung Rauthes: „Deshalb wird der Weise leben, solange er muß, nicht, solange er kann. Er wird sehen, wo er leben wird, mit wem, auf welche Weise und was er tun wird. Er bedenkt immer, wie beschaffen das Leben ist, nicht wie lang es ist. Wenn (ihm) vieles begegnet, was beschwerlich ist und die Ruhe stört, entläßt er sich; und das tut er nicht nur in äußerster Notlage, sondern sobald ihm sein Schicksal verdächtig zu sein beginnt, schaut er sich sorgfältig um, ob er etwa an dieser Stelle aufhören muß. Er glaubt, daß es für ihn überhaupt nicht wichtig ist, ob er das Ende herbeiführt oder annimmt, ob es (ihm) später widerfährt oder früher: er fürchtet sich nicht davor, als ob es ein großer Verlust wäre: niemand kann viel von dem verlieren, was tropfenweise verrinnt“ (70. Brief: 4– 5).
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Grund für ihn gebe, zu verweilen: „And if we be lieutenants of God in this little castle, do you not think we must take warning of him to give over our charge when he leaves us unprovided of good means to tarry in it“ (S. 258). Damit wiederholt er seine Argumentation aus dem Gebet zu Jupiter und antwortet auf Philocleas Vorbehalte. Zugleich greift er mit der Formulierung „lieutenants of God“ ein christliches Motiv auf. Die Menschen sind eben keine Herren, sondern Stellvertreter Gottes auf Erden. Aber anstatt christlich Gottes Willen zu gehorchen, propagiert der Prinz Eigenverantwortung, also bis zum einem gewissen Grad mastership. Pyrocles’ Religionsauffassung scheint synkretistisch zu sein. Sie vermischt pagane und christliche Glaubensauffassungen. Philoclea widerspricht Pyrocles noch einmal vehement und ruft nun die üblicherweise Augustinus zugeschriebene, aber im Kontext von De Civitate Dei nicht vorkommende Sentenz „Misericordia domini inter pontem et fontem“, auf:⁵⁷ „‘No, certainly do I not,’ answered the sorrowful Philoclea, ‘since it is not for us to appoint that mighty majesty what time he will help us. The uttermost instant is scope enough for him to revoke everything to one’s own desire’“ (S. 258). Außerdem weist sie Pyrocles’ Behauptung der menschlichen Selbstbeherrschung zurück⁵⁸ und betont, dass Menschen nicht masters seien, wie Pyrocles bis zu einem gewissen Grad behauptet, obwohl er die Menschen lieutenants nennt: „That we should be masters of ourselves we can show at all no title, nor claim; since neither we made ourselves, nor bought ourselves, we can stand upon no other right but his gift, which he must limit as it pleaseth him“ (S. 258). Die Verwendung des Wortes bought erinnert an das christliche Konzept der Erlösung, wie Katherine Duncan-Jones anmerkt: „Philoclea’s use of the word ‘bought’ shows that she has insight into the concept of ‘redemption’, through which one day God’s son will ‘buy’ salvation for mankind“.⁵⁹ Pyrocles’ Verteidigung seiner Ehre wird von der Prinzessin ebenfalls in Frage gestellt:⁶⁰ „I cannot think your defence even in rules of virtue sufficient“(S. 258). Sie unterstellt dem Prinzen anstelle von Tugendhaf-
Siehe Sidney: The Old Arcadia, Anmerkung S. 381. Ich konnte diese Aussage nicht bei Augustinus finden, in Robert Burtons Anatomie of Melancholy (1621) wird sie aber beispielsweise zitiert und zwar auch im Zusammenhang mit der Beurteilung von Selbstmord: „[…] what shall become of their souls, God alone can tell; his mercy may come inter pontem & fontem, inter gladium & jugulum, betwixt the bridge and the brook, the knife and the throat“ (Robert Burton: The Anatomie of Melancholy. Oxford 1651. Part I, Sect. 4, Memb. 1; 454); vgl. hierzu auch Vera Lind: Selbstmord in der frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 146). S. 42. Vgl. Olmsted: Gentle Doctor, S. 184. Duncan-Jones: Sir Philip Sidney, S. 183. Siehe Olmsted: Gentle Doctor, S. 183.
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tigkeit „some other disguised passion“ (S. 258). In dieser Beweisführung gleicht Philocleas Einstellung wiederum der des Augustinus. Die Prinzessin verwendet seine Argumentation aus De Civitate Dei. Pyrocles’ Behauptung, er handele aus Tugendhaftigkeit und um Philoclea zu schützen, überzeugt sie nicht, […] since a virtuous man, without any respect whether the grief be less or more, is never to do that which he cannot assure himself is allowable before the everlasting rightfulness, but rather is to think honours or shames (which stand in other men’s true or false judgements), pains or not pains (which yet never approach our souls) to be nothing in regard of an unspotted conscience (S. 258, meine Hervorhebung).
Philoclea verurteilt hier ausdrücklich die Einstellung, dass Ehre von der Meinung anderer Menschen abhängig sei, und rät, stattdessen tugendhaft für das eigene reine Gewissen und in Vertrauen auf Gott, die „everlasting rightfulness“, zu leben. Obwohl Philoclea verzweifelt versucht, Pyrocles christliches Ausharren beizubringen, kann sie den Prinzen mit ihren Argumenten nicht überzeugen, wie wiederholt gezeigt wird: „Pyrocles […] still remained in his former purpose“ (S. 255) und „Pyrocles was not so much persuaded as delighted by her well conceived and sweetly pronounced speeches“ (S. 259).⁶¹ Letzten Endes lässt der Prinz sich überhaupt nur von seinem Vorhaben abhalten, da Philoclea auf Pyrocles’ Verständnis von Ehrenhaftigkeit eingeht und droht, sie werde öffentlich aussagen, dass sie den Geschlechtsverkehr gewollt habe und so Schande über sich bringen. Zudem plane sie, anschließend ebenfalls Selbstmord zu begehen, sodass Pyrocles’ Selbstmord umsonst gewesen sei: […] she sware by the highest cause of all devotions that, if he did persevere in that cruel resolution, she would not only confess to her father that with her consent this act had been committed but, if that would not serve, after she had pulled out her own eyes […] she would give herself so terrible a death as she might think the pain of it would countervail the never dying pain of her mind (S. 259).
Wie Nancy Lindheim herausarbeitet, kann man die Selbstmorddiskussion keinesfalls als „victory for Philoclea’s superior reasoning“⁶² lesen. Christliche Argumente überzeugen Pyrocles nicht. Zwar bringt sich der Prinz nicht um, aber er gibt Philoclea auch nicht ausdrücklich Recht. Er verabschiedet sich also nicht von seinen stoisch-epikureischen Vorstellungen. Andererseits kann man die christlichen Untertöne der Passage aber auch nicht ignorieren und nur die klassisch philosophischen Themen betonen. Vielmehr zeigen das Jupitergebet des Pyrocles
Siehe auch Nancy Lindheim: The Structures of Sidney’s Arcadia. Buffalo [u. a.] 1982. S. 137 f. Ebd., 138.
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und die anschließende Diskussion des Paares, wie geschickt christliche und antikpagane Argumentationsmuster in der Arcadia zusammengeführt, aber auch gegeneinander gesetzt werden, ohne dass notwendigerweise ein wertendes Urteil abgeben wird oder eine endgültige Lösung präsentiert wird. In der Suiziddiskussion finden sich zwar keine expliziten Referenzen auf pagane Göttergestalten, aber sehr wohl Motive aus der pagan-religiösen Philosophie der alten Griechen, die mit christlicher Philosophie in einen Zusammenhang gesetzt werden. Zum einen harmonisieren sie miteinander, etwa bei der Vorstellung vom guten, tugendhaften, geduldig ausharrenden Leben, die sich sowohl im Stoizismus und Epikureismus als auch im Christentum findet.⁶³ Zum anderen werden Argumentationsmuster aber auch gegeneinander ausgespielt: Der Mann vertritt mit Hilfe von stoischen und epikureischen Argumenten die Ansicht, dass Suizid in gewissen Lebenslagen vertretbar, ja sogar geboten sei, während die Frau Selbstmord als Verstoß gegen Gottes Willen darstellt, wie das Christentum es seit Augustinus’ De Civitate Dei lehrt.⁶⁴ Suizid ist, wie sie es ausdrückt, „wrong to God“ (S. 254). Es gibt in der Arcadia keine einheitliche Doktrin, die die Figuren leitet und der man zu folgen hat. Dennoch ist Gott – oder, um Missverständnissen vorzubeugen, eine Gottesinstanz – ein zentrales Thema des Gesprächs des Paares. Neben der Gottheit wird, wie bereits dargestellt, Fortuna von Pyrocles vor seinem Gebet zu Jupiter angerufen. Der Prinz ist unerwartet auf seine prekäre Situation aufmerksam geworden und gibt Fortuna die Schuld an seiner Lage. In vergleichbarer Weise macht auch Musidorus bei Pamelas und seiner Gefangennahme durch die Rebellen Fortuna für sein Unglück verantwortlich. Er beklagt, dass „all the ill fortunes of ill fortune“ (S. 269) ihren Weg kreuzen. Ebenso wie Pyrocles wendet sich auch der ältere Prinz einer Gottesinstanz zu. Musidorus ruft „that universal and only wisdom“ (S. 269) an und betet: „O mind of minds […] the living power of all things which dost with all these eyes behold our ever varying actions, accept into thy favourable ears this prayer […]“ (S. 270). In seinem Gebet hat Musidorus ähnliche Anliegen wie Pyrocles zuvor in der Schlafgemachszene: Er möchte, dass er, sollte er leben dürfen, sich mit Anmut, Weisheit und Tugend um Pamela kümmern kann, und sollte er sterben müssen, so bittet er, dass sein Tod in irgendeiner Weise der geliebten Pamela dienen solle: But if my last time approacheth, and that I am no longer to be among mortal creatures, make yet my death serve her to some purpose, that hereafter she may not have cause to repent herself that she bestowed so excellent a mind upon Musidorus (S. 270).
Zum Verhältnis von Stoizismus beziehungsweise Epikureismus zum Christentum siehe auch Kraye: Moral Philosophy, vor allem S. 367 f. und 382. Siehe auch Lind: Selbstmord, S. 21.
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Auch Pamela betet darum, aus dem Unglück befreit zu werden: „Pamela could not choose but accord the conceit of their fortune to these passionate prayers“ (S. 270). Später, in der Nacht vor dem Gerichtsprozess, in der die beiden Prinzessinnen zusammen eingesperrt sind, ist ebenfalls das Gebet die letzte Zuflucht für Pamela und Philoclea in ihrer Trauer um den toten Vater und in ihrer Verzweiflung über die eigene Gefangenschaft und die der geliebten Prinzen: „[…] from discourses to wishes, from wishes to prayers […]“ (S. 319) wandelt sich ihr Gespräch. Der Großteil der Figuren – neben den hier vorgestellten Aristokraten beten auch die Schäfer in den Eklogen immer wieder zu den olympischen Göttern – „[nimmt] zu Gebeten an die Götter […] Zuflucht“,⁶⁵ wie Cicero es in den Tusculanae Disputationes formuliert. Diese werden jedoch nicht erhört: Kein Gott und keine Göttin sind hier präsent, um den Irrenden beizustehen oder ihrer Verblendung und Verstellung Einhalt zu gebieten. Zwar berufen sich die Arkadier in ihren Eklogen wiederholt auf den gesamten griechisch-römischen Götterhimmel, von Venus und Apoll über Pan zu Saturn, aber keine der in Fragen kommenden Gottheiten scheint hier geneigt zu intervenieren.⁶⁶
Verena Lobsien kommt deswegen zu dem Schluss, dass die griechischen Gottheiten für die Handlung vollkommen irrelevant seien und sich das ‚Happy End‘ aufgrund kontingenter Umstände ergebe. Und in der Tat gibt es keine übernatürlichen Ereignisse oder ein übernatürliches Eingreifen, um die Handlung zum glücklichen Ende zu bringen, aber völlig irrelevant sind die Götter dennoch nicht: Das delphische Orakel setzt die Handlung überhaupt erst in Gang. Es trifft dann außerdem alles so ein, wie vom Orakel des Apoll geweissagt. Außerdem ist der Glaube an die Existenz der Götter für die Figuren in Notsituationen Hilfe und Trost. So sind Gott/ Götter als Berufungsfigur(‐en) eminent wichtig. Auch zu Beginn des vierten Buches wird vom Erzähler noch einmal zumindest implizit angedeutet, dass eine Gottesinstanz die Handlungen der Figuren lenkt, dass Gottesinstanz(‐en) also nicht nur Berufungs-, sondern auch Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung sind: „the everlasting justice“ (S. 230) macht den Oberhirten Damtas zum „instrument of
Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes – Gespräche in Tusculum: Lateinisch/ Deutsch. Hg. und übersetzt von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart 2008 (Reclams Universal-Bibliothek 5028). 5,1. Im lateinischen Original: „sin autem virtus subiecta sub varios incertosque casus famula fortunae est nec tantarum virium est, ut se ipsa tueatur, vereor ne non tam virtutis fiducia nitendum nobis ad spem beate vivendi quam vota facienda videantur“. Wie Peter Vogt betont, sieht Cicero die Gebete zu den Göttern als Ausflucht (siehe Peter Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Mit einem Vorwort von Hans Joas. Berlin 2011. S. 532). Lobsien: Jenseitsästhetik, S. 329.
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revealing the secretest cunning“ (S. 230) und lässt ihn Pyrocles und Philoclea im Schlafgemach der Prinzessin entdecken. In dieser Figur der immerwährenden Gerechtigkeit werden einmal mehr pagane und christliche Motive vermischt. Justitia ist eine wichtige Figur des antik-pagenen Götterinventars. Durch das Attribut everlasting wird sie mit der christlichen Vorstellung des ewigen Gottes verbunden.⁶⁷ Außerdem weist diese übernatürliche Macht bereits auf den für die Old Arcadia so zentralen Gerichtsprozess im fünften Buch hin, in dem Fragen danach, was rechtmäßig und was gerecht sei, zentral werden. Anders als ihre Töchter bittet Gynecia, die in der Nacht vor dem Gerichtsprozess, angeklagt des Mordes an ihrem Ehemann und Fürsten, alleine eingesperrt ist und ob ihres Schuldgefühls Höllenqualen leidet, nicht die Götter um Hilfe: She began to fear the heavenly powers she was wont to reverence, not like a child but like an enemy. Neither kept she herself from blasphemous repining against her creation. ‘O gods,’ would she cry out, ‘why did you make me to destruction? If you love goodness, why did you not give me a good mind? Or if I cannot have it without your gift, why do you plague me? Is it in me to resist the mightiness of your power?’ Then would she imagine she saw strange sights, and that she heard the cries of hellish ghosts. Then would she screech out for succor […] One time it would seem unto her Philanax was haling her by the hair of the head, and having put out her eyes, was ready to throw her into a burning furnance. Another time she would think she saw her husband making the complaint of his death to Pluto, and the magistrates of that infernal region contending in great debate to what eternal punishment they should allot her (S. 317, meine Hervorhebungen).
In ihrer einsamen Verzweiflung⁶⁸ klagt sie die Götter blasphemisch an, weil sie sie nicht tugendhaft gemacht haben und weil sie sie in ein solches Unglück gestürzt haben. Gynecia glaubt an die providentielle Weltordnung, denn wie sollte sie, ein einfacher Mensch, sich der Macht der Götter entgegensetzen? Ein möglicher freier Wille der Menschen scheint für die Fürstin in ihrem Gram nicht zu existieren. In ihren Phantasien hört sie die Höllenschreie und erwartet keinen Gerichtsprozess, der sich an das arkadische Recht hält und wie sie ihn später bekommt.⁶⁹ Philanax und Basilius werden stattdessen zu Totenrichtern des Jenseits. Der treue Berater
Zu der Signifikanz des abgeänderten Wortlauts „everlasting wisdom“ in der Composite Version im Vergleich zur „everlasting justice“ in der Old Arcadia siehe Alan D. Isler: Moral Philosophy and the Family in Sidney’s ‘Arcadia’. In: Huntington Library Quarterly 31/4 (1968). S. 359 – 371. S. 361. Für eine Analyse der einsamen Gefangenschaft Gynecias im Vergleich zu der Gefangenschaft mit einem Vertrauten, wie sie die Prinzessinnen und Prinzen durchleben, siehe Olmsted: Gentle Doctor, S. 182 f. Vgl. auch Jon S. Lawry: Sidney’s Two Arcadias. Pattern and Proceeding. Ithaca und London 1972. S. 140.
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wirft sie direkt in die feurige Hölle (oder den Tartaros, den Strafort der Unterwelt, der nach antiker Vorstellung an deren tiefsten Punkt liegt), während ihr Ehemann sie bei dem Gott der Unterwelt, Pluto, anklagt und dann mit den anderen Unterweltrichtern verhandelt, welche ewige Strafe sie bekommen soll. In dieser Szene werden wieder antik-mythologische Motive aufgerufen: Die Götter lenken Gynecia zufolge die Geschicke der Welt, und da sie gesündigt hat, erwartet sie ewiges Leid im Tartaros. Obwohl die christliche Vorstellung der Hölle durchaus aus der antiken Vorstellung der Unterwelt hervorgeht und die Phantasien Gynecias so auch christliche Konzepte aufrufen,⁷⁰ ist hervorzuheben, dass Gynecia sich eben gerade nicht (nur) die christliche Hölle als den Ort ihrer Strafe vorstellt, sondern die antike Unterwelt, die von Pluto beherrscht wird.⁷¹ Ihre Auffassung des Jenseits ist synkretistisch. Festzuhalten ist somit, dass in den Jenseitsvorstellungen in der Arcadia pagane Elemente erneut mit christlichen verwoben werden und dass durch diese Mischung eine eindeutige Zuordnung zu dem einen oder dem anderen religiösen System verhindert wird. Durch eine Diskussion der Prinzen über das Leben nach dem Tod bringt Sidney – wie zuvor bereits bei der Suiziddiskussion – auch im Hinblick auf Jenseitsvorstellungen klassisch philosophische Ansichten mit ins Spiel. Musidorus und Pyrocles verbringen die Nacht ebenso wie die Prinzessinnen gemeinsam in einer Zelle. Sie beten ebenfalls nicht (mehr). Im Text heißt es, dass „the whole sum of their thoughts rest[ed][…] upon the safety of their ladies and their care one for the other“ (S. 320). Zunächst ist jedoch keineswegs von den Geliebten die Rede. Stattdessen bemitleiden sich die beiden Prinzen gegenseitig und geben jeweils sich selbst die Schuld an der unglücklichen Lage, in der sich der andere befindet. Musidorus befürchtet, dass der Aufenthalt des geliebten Cousins in Thessalien und damit sein Land schuld sei an der Situation, „for if you had not been there brought up, the sea should not have had this power thus to sever you from your dear father“ (S. 320), und Pyrocles meint im Gegensatz dazu, wenn überhaupt müsse er sich Vorwürfe machen, denn:
Vgl. etwa die Ausmalung der Hölle in Dantes Göttlicher Komödie, in der die Sünder je nach Schwere ihres Verbrechens in einem der neun Kreise der Hölle, von denen einer tiefer in der Erde liegt als der nächste, ihr Dasein fristen und ebenfalls Strafen erleiden. In anderen Passagen, die den Zustand des Menschen nach dem Tod behandeln, ist die Arcadia viel eindeutiger christlich. Der tote Herzog Basilius etwa kommt nicht in das Elysium, das Land der Seligen in der Unterwelt, sondern in den christlichen Himmel, von dem aus er auf Arkadien herabschauen soll, wie es Philanax in einer Trauerrede darstellt: „And if your soul look down upon this miserable earth, I doubt not it had much rather your death were accompanied with well deserved punishment of the causers of it […]“ (S. 249).
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My father sends for you away out of your land, whence, but for me, you had not come. What after followed, you know; it was my love, not yours, which first stayed you here. And therefore, if the heavens ever held a just proportion, it were I, and not you, that should feel the smart (S. 320).
Musidorus’ Antwort auf diese Selbstbeschuldigung des Pyrocles enthält die dezidierteste Bejahung von Prädestination in der Arcadia: ‘O blame not the heavens, sweet Pyrocles,’ said Musidorus, ‘as their course never alters, so is there nothing done by the unreachable ruler of them, but hath an everlasting reason for it. And to say the truth of those things, we should deal ungratefully with nature if we should be forgetful receivers of her good gifts, and so diligent auditors of the chances we like not. We have lived, and have lived to be good to ourselves and others. Our souls (which are put into the stirring earth of our bodies) have achieved the causes of their hither coming. They have known, and honoured with knowledge, the cause of their creation. And to many men (for in this time, place and fortune, it is lawful for us to speak gloriously) it hath been behoveful that we should live […]’ (S. 321, meine Hervorhebungen).
In diesem Zitat kommen die drei Mächte, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt, als Berufungsinstanzen des Musidorus vor: heavens, nature, und Fortuna im Sinne von chance. Musidorus glaubt, dass Gott einen festgelegten Kurs hat, von dem er nicht abweicht, und dass deswegen alles, was geschieht, einen immerwährenden Grund hat. Dieser Vorstellung nach ist der Weltlauf nicht einer willkürlichen Gottesinstanz ausgeliefert, die mal dieses, mal jenes verfügt, sondern alles ist von Gott von vornherein und für immer angelegt, und Gott handelt immer aus gutem Grund. Insofern erwartet zumindest Musidorus gar kein göttliches Eingreifen. Das macht die Gottesinstanz aber dennoch nicht, wie Verena Lobsien meint, irrelevant. Immerhin ist sie letzten Endes für alles verantwortlich. Gerade weil es für alles einen guten Grund gibt, so belehrt der ältere Prinz den jüngeren, sei es der Natur gegenüber undankbar, wenn die Prinzen all die guten Gaben, die die Natur ihnen gegeben hat, vergessen würden. Daher sollten sie auch die unwillkommenen Umstände, die chances, erdulden. Zudem betont Musidorus, dass die Seelen der Prinzen, die an dieser Stelle von ihm ‚naturaffin‘ physisch in den Boden ihrer Körper implantiert werden, ja bereits alles erreicht hätten, wofür sie gelebt haben. Die Menschen werden sehen, dass es nützlich war, dass die Prinzen auf der Welt gewesen sind. Diese Aussage mag auf die Heldentaten anspielen, die Musidorus und Pyrocles auf ihrer Reise, bevor sie nach Arkadien kamen, vollbracht haben. Diese werden allerdings in der Old Arcadia, im Gegensatz zur revidierten Version, kaum ausgeführt. Die Aussage bleibt opak und kann sich ebenso auf die Liebe zu den Prinzessinnen beziehen: Um diese zu lieben, kamen Pyrocles und Musidorus auf die Welt, und ihr Zweck auf Erden hat sich mit dieser Liebe erfüllt. Wie um diese Lesart zu stützen, folgt nun auch die erste Erwähnung
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der beiden Prinzessinnen im Gespräch: Pyrocles stimmt Musidorus’ Aussage zu – die Prinzen haben auch seiner Meinung nach ihren Lebenssinn erfüllt – und führt außerdem an: „Add this to your noble speech, my dear cousin […] that […] we show a repentance of the love we bear to those matchless creatures“ (S. 321). Jon S. Lawry interpretiert die Einstellung der Prinzen als Beweis dafür, dass sie als wahre Helden zu verstehen seien: „They exactly qualify for Sidney’s definition of the propagative hero“.⁷² Richard A. Lanham hingegen charakterisiert die Aussage des Musidorus zwar als „inoffensive enough in itself“,⁷³ stellt aber auch die Frage, ob sie für die beiden Prinzen wirklich zutreffend ist: They have had other honorable adventures, true, but they certainly ought not to be quite so self-satisfied about their career in Arcadia. They leave – so far as they know – a dead duke, a ruined queen, two princesses dishonored, and a tumultuous kingdom ruled by a foreign king, as mementoes of their sojourn there.⁷⁴
Lanham vergisst bei dieser Aufzählung jedoch, dass die Prinzen sich für diese Taten entweder nicht verantwortlich fühlen oder die Ereignisse anders einschätzen. Am Tod des Fürsten und am Fall der Fürstin sind sie nicht schuld, und aus ihrer Sicht sind die Prinzessinnen nicht entehrt, da sich die Paare die Ehe bereits versprochen hatten, bevor sie Geschlechtsverkehr hatten oder gemeinsam flohen. Gerade weil die Prinzen nicht in der Lage sind, ihr Handeln kritisch zu hinterfragen, wirft Richard C. McCoy den Prinzen „arrogant immobility“⁷⁵ vor: „accused of numerous crimes, the princes remain obdurately self-satisfied“.⁷⁶ Dies ist eine zutreffende Kritik am Verhalten der Prinzen. Nicht nur fühlen sie sich vollkommen unschuldig, sondern sie denken nicht einmal darüber nach, warum andere sie für den Zustand Arkadiens verantwortlich machen könnten und ob etwas an dieser Einschätzung der Wahrheit entsprechen könnte. Musidorus und Pyrocles sind gefangen in ihrer Weltsicht. Die folgende Erörterung über den Zustand des Menschen nach dem Tode ist neben der Selbstmorddiskussion des jüngeren Liebespaares eine weitere bedeutende philosophische Debatte der Old Arcadia. Erneut werden die verschiedenen Ordnungsinstanzen, Jenseitsauffassungen und Gottesbilder miteinander verwoben. Ausgangspunkt ist, dass Pyrocles meint, die Prinzen sollten über den Charakter der wahren Liebe im Jenseits diskutieren, sofern dort Erinnerung existiere:
Lawry: Two Arcadias, S. 141. Lanham: The Old Arcadia, S. 288. Ebd. Richard C. McCoy: Rebellion in Arcadia. New Brunswick 1979. S. 124. Ebd.
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„Of [the pre-eminence of true loving][…] I perceive we shall have a debate in the other world – if, at least, there remain anything of remembrance in that place“ (S. 321). Es geht also nicht um die Frage, ob die Seele unsterblich sei oder nicht – sie ist den Prinzen zufolge ewig –, sondern darum, in welchem Zustand die Seele nach dem Tod existiere. Auch hier sind sich die Prinzen im Grunde einig, aber Musidorus vertritt um einer Diskussion willen die gängige Meinung, die der der Prinzen widerspricht. Die meisten Menschen meinen, mit dem Körper stürben die Sinne und deswegen auch jegliche Erinnerung an das irdische Leben: I do not think the contrary […] although you know it is greatly held that with the death of body and senses (which are not only the beginning but dwelling and nourishing of passions, thoughts, and imaginations), they failing, memory likewise fails (which riseth only out of them), and then is there left nothing but the intellectual part or intelligence which, void of all moral virtues […] doth only live in the contemplative virtue and power of the omnipotent God (the soul of souls and universal life of this great work); and therefore is utterly void from the possibility of drawing to itself these sensible considerations (S. 321 f.).
Pyrocles stimmt seinem Cousin bis zu einem gewissen Grad zu, besteht aber darauf, dass die Intelligenz der Seele von der wahren Liebe wisse, obwohl die Erinnerung, die der Mensch zu Lebzeiten kennt, mit dem Körper gestorben ist. Die Beschaffenheit einer Art Erinnerung – das Wissen um das, was war – steht im Vordergrund der Ausführungen der Prinzen. Diese Erinnerung ist Pyrocles zufolge nicht vergleichbar mit der Erinnerung eines lebendigen Menschen: „Neither do I think we shall have such a memory as now we have […] but it shall be a vital power“ (S. 322). Diese Erinnerung im Jenseits ist weder von den Sinnen gelenkt noch von den Affekten, denn durch den Tod ist die Seele befreit aus dem Gefängnis – „freed of that prison“ (S. 322) –, in das die körperlichen Bedürfnisse sie einsperren und sie kehrt zurück zum unendlichen Wissen, das – eben weil es unendlich ist – auch alles beinhaltet, was war, sein wird oder sein könnte: „[…] void of sensible memory or memorative passion, we shall not see the colours but lives of all things that have been or can be“ (S. 322). Die Differenz zwischen diesem allumfassenden Wissens und den Erinnerungen, die ein Mensch während seines Lebens erlangt, vergleicht Pyrocles mit der Ahnung, die der Mensch hat von seinem Zustand, bevor er geboren wurde: Diese Ahnung ist nicht auf Erinnerung zurückzuführen, sondern auf Wissen. Die hier entwickelte Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele fußt auf antik-paganen, speziell platonischen Annahmen und ist ein Gemeinplatz der Philosophie seit der klassischen Antike. Wie Katherine Duncan-Jones in ihrem Kommentar zur Old Arcadia anmerkt, sind verschiedene Quellen vorstellbar, die
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Sidney als Grundlage für diese Diskussion genutzt haben könnte.⁷⁷ Platons Phaidon ist sicherlich grundlegend. Dort heißt es: Denn wenn es nicht möglich ist, mit dem Leibe irgend etwas rein zu erkennen: so können wir nur eines von beiden, entweder niemals zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode. Denn alsdann wird die Seele für sich allein sein, abgesondert vom Leibe, vorher aber nicht […] Und so rein der Torheit des Leibes entledigt, werden wir wahrscheinlich mit ebensolchen zusammen sein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist eben wohl das Wahre.⁷⁸
Der Kontext dieser Diskussion bei Platon ist, wie Nancy Lindheim herausarbeitet, ähnlich wie der der Arcadia: ⁷⁹ Wie Sokrates in Platons Phaidon zeigen und begründen die Prinzen mit ihren langen Darstellungen des Zustandes der Seele nach dem Tod, dass und warum sie keine Angst vor diesem haben. Xenophon nimmt in seiner Kyropädie, deren Helden Kyros Sidney wiederholt in der Defence lobend hervorhebt, den platonischen Topos der Unsterblichkeit der Seele ebenfalls auf. Kyros erklärt seinen Söhnen auf dem Sterbebett, er habe keine Angst vor dem Tod, da die Seele nicht sterbe: Ich zum wenigstens, meine Söhne, habe mich niemals überzeugen können, daß die Seele würklich lebe, so lange sie sich in diesem sterblichen Körper befindet, und daß sie sterbe, wenn sie denselben verlasse. Denn ich sehe, daß die Seele, so lange sie sich in dem sterblichen Leibe aufhält, ihm das Leben mitteilt, und daher habe ich mich niemals bereden lassen, zu glauben, daß sie die Vernunft verliere, wenn sie von dem vernunftlosen Leibe geschieden wird, sondern daß sie vielmehr die Verstandeskräfte am stärksten ausübe, wenn sie von aller Materien frei und rein ist.⁸⁰
Die Prinzen bewegen sich in ihrem Gespräch also ganz im Rahmen der „sweet mysteries of philosophy“ (S. 320), die sie während ihrer Ausbildung in Thessalien kennenlernten. Explizit christliche Vorstellungen spielen hier nur insofern eine Rolle, als dass der platonische Leib-Seele-Dualismus vom Christentum übernommen wurde, dort aber um Kategorien wie Schuld und Sühne erweitert wurde.⁸¹ Das Bemerkenswerte an dieser Stelle ist deswegen auch nicht die pagan-
Siehe Sidney: The Old Arcadia, Anmerkung S. 384. Platon: Phaidon, 66e–67b. Siehe Nancy Lindheim: Vision, Revision, and the 1593 Text of the Arcadia. In: English Literary Renaissance 2/1 (1972). S. 136 – 147. S. 144. Xenophon: Xenophons sämmtliche Schriften: 1. Theil welcher die Kyropädie mit den vornehmsten Abhandlungen über selbige enthält. Aus dem Griechischen neu übersetzt von August Christian Borhek. Lemgo 1778. S. 387. Siehe beispielsweise Philippe Duplessis-Mornay, der in A Woorke Concerning the Truwnesse of the Christian Religion (1583), das Sidney zum Teil ins Englische übersetzte, dem Thema ein eigenes
3.1 Göttliche Providenz
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christliche Mischung, die die bisherigen Beispiele aufweisen, sondern der Befund, dass es in der Arcadia eben auch wichtige Partien gibt, in denen das Pagane stehen bleibt. Es zeigt sich eine unvermittelte Pluralität, in der verschiedene Möglichkeiten offen gelassen werden: Eine Aufklärung der Frage nach der Qualität der Seele nach dem Tod wird nicht gegeben. Die unterschiedlichen Auffassungen der Prinzen bleiben nebeneinander stehen. Musidorus antwortet nämlich nicht mehr auf Pyrocles’ lange Rede. Stattdessen singen die Prinzen „like quiet swans […] their own obsequies, and virtuously enable their minds against all extremities which they did think would fall upon them“ (S. 323). Auch in diesem Sinne gleicht diese Unterhaltung der Diskussion über die Legitimität von Selbstmord. Eindeutige Antworten auf philosophische oder religiöse Fragen werden in Sidneys Romanze nicht gegeben. Eine Vorstellung des Göttlichen spielt in jedem der hoffnungslosen Momente als Geltungsfigur eine wichtige Rolle. Gynecia verflucht die Götter geradezu. Die Prinzen und Prinzessinnen beten zu Jupiter oder einem nicht festgelegten Gott. Außerdem berufen sich die Königskinder auf Gott, um Argumente zu legitimieren: Philoclea meint in christlicher Argumentationsweise, Gott verurteile Suizid. Pyrocles hingegen nutzt stoische Argumente und sagt, Gott erlaube Selbstmord. So wird Gott zu einer Berufungsinstanz für verschiedene Auslegungen der Weltordnung. Der Text selbst bietet keine Harmonisierung dieser verschiedenen Positionen. Stattdessen werden sie miteinander verwoben oder kontrastierend gegeneinander gestellt. Ebenso wie diese verschiedenen religiös-philosophischen Standpunkte stehen auch die paganen antiken Götter neben dem christlichen Gott. Jupiter und Apollon haben in der Arcadia beide Ähnlichkeiten mit diesem, doch gehen sie nicht völlig in ihm auf. Verschiedene religiöse Vorstellungen werden zusammengebracht zu einer Pluralität an übernatürlichen Berufungsinstanzen. Und auch wenn die Vorstellung einer providentiellen Einflussnahme auf das Geschehen sich bei allen Akteuren durchsetzt und vom Handlungsverlauf letztlich bestätigt zu werden scheint – am Ende heißt es schließlich „all had fallen out by the highest providence“ (S. 360) –, so setzt sich diese Vorsehung doch aus heterogenen Elementen zusammen, nämlich aus paganen und christlichen Vor-
Kapitel widmet („That the immortalitie of the Soule hath bene taught by the Philosophers of old tyme, and beleeved by all people and Nations“), in dem er die Standpunkte der verschiedenen klassisch-antiken Philosophen zu der Frage der Unsterblichkeit der Seele darstellt (siehe Duplessis-Mornay: Truwnesse of the Christian Religion, S. 257– 287); zu Sidneys Übersetzung von Duplessis-Mornay siehe Roger Kuin: Life, Death, and the Daughter of Time: Philip and Mary Sidney’s Translations of Duplessis-Mornay. In: French Connections in the English Renaissance. Hg. von Catherine Gimelli Martin und Hassan Melehy. Burlington und Farnham 2013. S. 143 – 160.
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3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung
stellungen sowie aus teleologischem Fatum und arbiträrer chance beziehungsweise Fortuna: Das Fatum ist wie ein im voraus festgelegtes Programm, das im wirklichen Geschehen, es determinierend, zur Ausführung bzw. zum Ziel kommt. Dagegen waltet Fortuna im unberechenbaren, blind-willkürlichen Wechsel der Glücks- und Unglücksumstände, vor allem in den sog. äußeren Gütern des Lebens […]. Das als unabwendbar notwendig geltende Fatum und die Zufälligkeit der Fortuna […] sind bis heute zwei Stränge der Schicksalsthematik […] von denen je nach der dominierenden Weltauffassung der eine oder der andere betont wird (stoisch das Fatum, epikureisch Fortuna).⁸²
3.2 Fortuna Auch Fortuna wird in der Arcadia als Geltungsmacht innerhalb der arkadischen Ordnung dargestellt und so in Konkurrenz zur Providenz gesetzt. Das ist durchaus verwunderlich: Fortuna, diese heidnische-antike Verkörperung der Beliebigkeit irdischen Geschehens, hätte es im christlichen Mittelalter [und der Frühen Neuzeit] nicht geben dürfen. Sie hat in einer Welt nichts zu suchen, für die gilt, daß kein Sperling ohne den Willen Gottes zur Erde fällt.⁸³
Walter Haugs Bemerkung zu Fortuna trifft auch auf den von antiken Göttern und christlichem Gott beherrschten arkadischen Ordnungsentwurf zu: Arkadien gehorcht, wie soeben gezeigt, einer providentiellen Ordnung. Zugleich scheinen die Figuren den wankelmütigen Launen der Fortuna ausgeliefert zu sein. Bereits in der klassischen Antike ist Fortuna (beziehungsweise bei den Griechen: Tyche)⁸⁴ eine Geltungsinstanz mit bemerkenswerter Macht. Neben ihrer
Ingo Klaer: Schicksal III. In: Theologische Realenzyklopädie. Samuel–Seele. Band 30. Hg. von Horst Balz [u. a.]. Berlin und New York 1999. S. 110 – 116. S. 111. Walter Haug: O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung. In: Fortuna. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 14). S. 1– 22. S. 1. Zum Konzept der Tyche siehe beispielsweise Hartmut Böhme: Contingentia. Transformationen des Zufalls: Einleitung. In: Contingentia. Transformationen des Zufalls. Hg. von Hartmut Böhme [u. a.]. Berlin und Boston 2016 (Transformationen der Antike 38). S. 1– 36. S. 21 f.; zum Einfluss der Tyche auf die römischen Vorstellungen von Fortuna siehe Jerold C. Frakes: The Fate of Fortuna in the Early Middle Ages: The Boethian Tradition. Köln [u. a.] 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 23). S. 14; sowie Vogt: Kontingenz, S. 518 f.; siehe S. 519, Fußnote 35 für einen Forschungsüberblick, der auch die konträre Meinung berücksichtigt, dass Tyche und Fortuna nicht durch eine Kontinuitätsthese historisch verbunden werden können.
3.2 Fortuna
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Rolle als kultisch verehrter Göttin⁸⁵ ist sie eine literarische Figur, die für die Willkür und Beliebigkeit des Irdischen steht.⁸⁶ Zwei philosophische Diskurse über Fortuna können bei den Römern unterschieden werden: Zum einen wird sie als launenhafte und unberechenbare Macht verstanden, die die Angelegenheiten der Menschen kontrolliert und der man sich aus Notwendigkeit zu unterwerfen hat.⁸⁷ Zum anderen vertreten vor allem die römische Stoiker die Meinung, dass der Einfluss Fortunas auf das Leben beschränkt, ja sogar aufgehoben werden könne, sofern man tugendhaft lebe.⁸⁸ Im frühen Christentum wird Fortuna zunächst jegliche Macht abgesprochen, denn „[e]ine Fortuna als autonome Macht des Zufälligen ist für den Christen inakzeptabel, da alles, was geschieht, in Gottes Hand liegt“.⁸⁹ In nicht-theologischen Texten tritt Fortuna nichtsdestoweniger weiterhin auf und spätestens seit dem Werk De Consolatione Philosophiae (524) des Boethius kehrt sie zurück auf die Bühne der Religion, Philosophie und Literatur.⁹⁰ Hinter Boethius’ Fortuna-Konzeption stehen die zwei antiken Traditionen der unausweichlichen Willkür der Fortuna und der Möglichkeit des stoischen Entzugs durch ein Leben in Tugend.⁹¹ Außerdem tritt bei Boethius ein völlig neuer Aspekt zur Konzeption der Fortuna hinzu. Sie wird integriert in das im Christentum so dominante Konzept der Providenz, indem sie dieser als Dienerin unterstellt wird und somit nicht mehr schlechthin beliebig agiert, sondern von Gott aus gutem Grund eingesetzt wird. Ihr Emblem ist das Rad:⁹² Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascence, si placet, set ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes.⁹³
Für nähere Informationen hierzu siehe beispielsweise Frakes: Fate of Fortuna, S. 11 f.; sowie Vogt: Kontingenz, S. 509 f. Siehe Haug: O Fortuna, S. 4. Siehe Frakes: Fate of Fortuna, S. 14. Siehe ebd. Haug: O Fortuna, S. 4. Siehe ebd., 6 f. Siehe ebd., 7. Siehe ebd.; sowie Burkhardt Krause: ‚Ein rasend-freches Weib‘: Geschichten von der Göttin mit dem Rad. In: Glück – Zufall – Vorsehung. Hg. von Burkhardt Krause und Simone Finkele. Karlsruhe 2010 (Vortragsreihe der Abteilung Mediävistik des Instituts für Literaturwissenschaft im Sommersemester 2008). S. 1– 48. S. 21. Anicius Manlius Severinus Boethius: Trost der Philosophie – Consolatio Philosophiae. Lateinisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. München und Zürich 1990 (Sammlung Tusculum). 2,2. p. (S. 48); in der deutschen Übersetzung: „Dies ist unsere Macht, dies ununterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad im kreisenden Schwunge, wir
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3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung
In den folgenden Jahrhunderten bleiben Schriftsteller, etwa Dante, Boccaccio und auch Petrarca der Tradition des Boethius verhaftet. Fortuna ist in all ihren unterschiedlichen Ausformungen nie eine autarke Macht, sondern der göttlichen Providenz untergeordnet.⁹⁴ Erst im 15. Jahrhundert wird sie von Humanisten wie Leon Battista Alberti in Wiederaufnahme der antiken Traditionen als autarke, aber überwindbare Macht verstanden und nicht als ein Werkzeug Gottes.⁹⁵ Dementsprechend ist es für den Menschen, der nach humanistischer Auffassung die Fähigkeit zur Vervollkommnung besitzt,⁹⁶ möglich, sie mit virtù im Zaum zu halten.⁹⁷ Auch im 16. Jahrhundert bleibt Fortuna eine von Gott unabhängige Geltungsmacht. Niccolò Machiavelli etwa geht weder in Il Principe (ca. 1513) noch in den Discorsi (1513 – 1519) explizit auf die Frage der Existenz der Fortuna ein, sondern hält sie „als ein factum brutum nicht weiter für klärungsbedürftig, [ja sogar] […] im Sinne einer autarken geschichts- und lebensbestimmenden Macht und Instanz für ganz unbezweifelbar […]“.⁹⁸ Was sich bei Machiavelli im Vergleich zu den Humanisten des 15. Jahrhunderts aber ändert, ist seine Einstellung zum Verhältnis von Fortuna und virtù. Virtù hat seiner Auffassung nach nicht die
freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es dir gefällt, aber unter der Bedingung, daß du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn die Regel meines Spiels es fordert“ (S. 49); siehe auch Krause: Ein rasendfreches Weib, S. 20. Siehe Vogt: Kontingenz, S. 566. Siehe auch Peter Vogt: Virtù vince fortuna. Aufstieg, Wandel und späte Blüte eines frühneuzeitlichen Topos. In: Contingentia. Transformationen des Zufalls. Hg. von Hartmut Böhme [u. a.]. Berlin und Boston 2016 (Transformationen der Antike 38). S. 75 – 114. S. 89 f. Bei Giovanni Pico della Mirandola heißt es beispielsweise: „Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superior quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari“ (Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen. Übersetzt von Norbert Baumgarten, hg. und eingeleitet von August Buck. Hamburg 1990 [Philosophische Bibliothek 427]. S. 6; in der Übersetzung Baumgartens: „Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt“ [S. 7]); vgl. auch Verena Olejniczak Lobsien: ‘Transformed in Show, but more Transformed in Mind’: Sidney’s Old Arcadia and the Performance of Perfection. In: Performances of the Sacred in Late Medieval and Early Modern England. Hg. von Tobias Döring und Susanne Rupp. Amsterdam und New York 2005 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 86). S. 105 – 117; zum humanistischen Menschenbild allgemein siehe beispielsweise Eckhard Keßler: Psychology: The Intellective Soul. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Hg. von Eckhard Keßler [u. a.]. Cambridge [u. a.] 1988. S. 485 – 534; sowie Kraye: Moral Philosophy, S. 306 f.; und Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance. Cambridge [u. a.] 1978. S. 69 f. Siehe auch Skinner: The Renaissance, S. 94. Vogt: Kontingenz, S. 582.
3.2 Fortuna
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Macht, Fortuna zu besiegen oder sie sich gänzlich zu unterwerfen, wie es die Humanisten des 15. Jahrhunderts euphorisch behaupteten.⁹⁹ Neu in Machiavellis Denken und grundlegend für die Folgezeit ist vor allem seine semantische Umwertung des Terminus virtù, des Gegenbegriffs zu Fortuna.¹⁰⁰ Wie unter anderem Quentin Skinner darstellt, war bis zu Machiavelli der Besitz von virtù gleichbedeutend mit dem Besitz von Tugenden – seien es stoische Tugenden wie Beständigkeit und Geduld oder christliche wie etwa die Armut.¹⁰¹ Machiavelli nutzt im Gegensatz dazu das Konzept der virtù ganz pragmatisch dazu, die Summe an Eigenschaften zu beschreiben, die sich ein Herrscher aneignen muss, um seinen Staat zu erhalten oder um Großes zu erreichen:¹⁰² „It is […] clear that, while these qualities may sometimes overlap with the conventional virtues, the idea of any necessary or even approximate equivalence between virtù and the virtues is a disastrous mistake“.¹⁰³ Was auch immer zu einer beliebigen Zeit notwendig ist, um sich selbst auf dem Rad der Fortuna oben zu halten, ist eine virtù und als solche erstrebenswert. Wie in diesem Abriss dargestellt, beschäftigten die Figur der Fortuna und das Ausmaß ihrer Kontrolle über das menschliche Leben die Denker von der Antike bis in die Frühe Neuzeit hinein,¹⁰⁴ bevor ihre Existenz ab dem 17. Jahrhundert zunächst in der Philosophie, doch damit einhergehend auch in den anderen Wissensfeldern mehr und mehr negiert wurde.¹⁰⁵ Klaus Reichert zufolge war Fortuna in der Re-
Siehe ebd., 580. Siehe ebd., 588; siehe zum Begriff virtù bei Machiavelli auch John Plamenatz: In Search of Machiavellian Virtù. In: The Political Calculus. Essays on Machiavelli’s Philosophy. Hg. von Anthony Parel. Buffalo und Toronto 1972. S. 157– 178. Siehe Skinner: The Renaissance, S. 138; sowie Klaus Reichert: Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels. Frankfurt/Main 1985. S. 32. Siehe Reichert: Fortuna, S. 138. Skinner: The Renaissance, S. 138. Siehe Reichert: Fortuna, S. 19; zur Blüte der Fortuna in der Frühen Neuzeit vgl. außerdem Vogt: Kontingenz, S. 593 f., eine Abhandlung zur Figur der Fortuna in der englischen Frühen Neuzeit findet sich auf S. 621 f.; sowie Vogt: Virtù vince fortuna, S. 99 f., mit dem Fokus auf der englischen Literatur ab S. 102 f. Siehe hierzu etwa Lorraine Daston: Fortuna and the Passions. In: Chance, Culture and the Literary Text. Hg. von Thomas M. Kavanagh. Ann Arbor 1994 (Michigan Romance Studies). S. 25 – 47: „In the clamorous debates of seventeenth-century philosophy, which challenged the foundations of theology, natural philosophy, ethics, politics, and even mathematics, there was one unisonal chord stuck: the unanimous and resounding rejection of the reality of fortune. Antipathy to fortune united Protestant and Catholic, mechanical philosopher and Cambridge Platonist, Hobbesian with Christian virtuoso“ (S. 26).
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naissance vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie ein Gegenmodell zu den „fixierten Gestirneinflüssen der Schicksalsmächte“¹⁰⁶ darstellte: Fortuna hat diese Prominenz, so scheint es, erlangt, […] weil sich aus ihr ein geradezu konkurrierendes System – in ganz anderer Weise schicksalsmächtig – entwickeln ließ. Denn im Bilde Fortunas fixiert sich das Unfixierte, das Unfixierbare, die Wechselfälle des Lebens, die ja offenkundig erlebt wurden, nicht aber in ihrer Unvorhersehbarkeit aus den Planetengöttern abgeleitet werden konnten.¹⁰⁷
Für die Menschen der Frühen Neuzeit steht Fortuna so für das Kontingente in ihrem Leben. Ein weiterer Grund für den Erfolg Fortunas sieht Reichert in dem Krisenbewusstsein der Frühen Neuzeit: „[…] die Emanzipation der Göttin [entstammt] einer Welterfahrung, deren Widersprüchlichkeit selber ein Zeichen ihrer Neuzeitlichkeit ist: Dem Bewußtsein der Krise […]“.¹⁰⁸ Außerdem erscheint sie attraktiv, da der Mensch ihr nicht in der Weise ausgeliefert ist wie dem göttlichen Willen in einer rein providentiellen Weltordnung, in der „der Mensch all seine Vermögen und Leistungen ausschließlich der göttlichen Gnade verdankt“¹⁰⁹ und Gottes Wille unausweichlich ist: „Fortuna […] hat vor allem nicht die unangreifbare Entrücktheit der Planetengötter“.¹¹⁰ Das Interesse der Frühen Neuzeit an der Figur der Fortuna wird in der Arcadia greifbar. Sie ist eine der drei Ordnungsinstanzen, die die arkadische Welt grundlegend gestalten. So stellt etwa der Erzähler am Ende des ersten Buches die Gesamtheit der Liebeskonfusionen als Bühnenstück der Fortuna dar:¹¹¹ „[…] indeed, fortune had framed a very stage-play of love among these few folks […]“ (S. 49). Fortuna erscheint hier – in dem für die Frühe Neuzeit so typischen Bild des Theatrum Fortunae – in der Manier eines Marionettenspielers, der seine Puppen für sich tanzen lässt oder eben in der Manier des Erzählers der Arcadia, der seinem Publikum, den „fair Ladies“ (z. B. S. 34) zwar kein Bühnenstück aufführt, aber doch eine Romanze mit Sinn für das Theatralische erzählt.¹¹² Fortuna tritt an dieser Stelle
Reichert: Fortuna, S. 21, Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., 22, Hervorhebung im Original. Vogt: Kontingenz, S. 570. Reichert: Fortuna, S. 22. Siehe auch Lobsien und Lobsien: Unsichtbare Imagination, S. 218. Zur komödiantischen Struktur der Arcadia siehe etwa Robert W. Parker: Terentian Structure and Sidney’s Original ‘Arcadia’. In: English Literary Renaissance 2/1 (1972). S. 61– 78; sowie Clark L. Chalifour: Sir Philip Sidney’s Old Arcadia as Terentian Comedy. In: SEL 16/1 (1976). S. 51– 63. Zum Motiv der Welt als Theaterbühne Fortunas siehe beispielsweise Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs. Stuttgart 1970 (Metzler Studienausgabe). S. 55 f.
3.2 Fortuna
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als Begründungsfigur für die Handlung auf. Anders als der Erzähler, der die Liebesverwicklungen als solche Fortunas Macht zuschreibt, nehmen die Figuren vor allem in singulären Momenten, die nicht zu dem von ihnen Erwarteten passen und für sie vollkommen überraschend geschehen, Bezug auf Fortuna. Glück und Unglück, das „good and evil fortune“ (beispielsweise S. 10), ermöglichen es den Akteuren, Sinn zu generieren und die Kontingenz des Lebens zu bewältigen. Diese, wie Reichert es nennt,¹¹³ unfixierten und unfixierbaren Erfahrungen des menschlichen Lebens lassen sich für die Figuren mit Fortuna besser beschreiben als mit einem Konzept der Providenz. In der Arcadia sind dies vor allem negative Erfahrungen, die die Figuren machen. Mit Hilfe von Fortuna versuchen sie, einen Grund und/oder Verursacher für diese Widrigkeiten des Lebens zu finden. Die Figuren berufen sich auf „fortune’s daily blows“ (S. 185), „tempests of evil fortune“ (S. 221) oder „fortune’s baleful stours“ (S. 225). Fortuna wird in Arkadien ähnlich gesehen wie bei Plinius in der Naturalis historia: toto quippe mundo et omnibus locis omnibusque horis omnium vocibus Fortuna sola invocatur ac nominatur, una accusatur, rea una agitur, una cogitatur, sola laudatur, sola arguitur et cum conviciiis colitur, volucris volubilisque a plerisque vero et caeca existimata, vaga, inconstans, incerta, varia indignorumque fautrix. huic omnia expensa, huic feruntur accepta, et in tota ratione mortalium sola utramque paginam facit; adeoque obnoxii sumus sorti, ut ipsa pro deo sit qua deus probatur incertus.¹¹⁴
Auch wenn es bei Plinius heißt, dass die Menschen Fortuna auch loben, verehren und ihr ihren Gewinn verdanken, überwiegt doch der Eindruck, Fortuna bringe mehr negative als positive Erfahrungen über die Menschen: Sie wird angeklagt und beschuldigt, sie wird gerügt, und man macht ihr viele Vorwürfe, weil sie „vaga, inconstans, incerta, varia“ ist. In der Arcadia kommt zwar gelegentlich auch das Glück zur Sprache, viel öfter jedoch wird Fortuna mit Unglück in Verbindung gebracht und verflucht. In Sidneys Romanze tritt Fortuna aber, wie
Siehe Reichert: Fortuna, S. 21. Gaius Plinius Secundus: Naturkunde. Lateinisch – Deutsch. Kosmologie. Buch II. Hg. und übersetzt von Gerhard Winkler und Roderich König. Zweite, überarbeitete Ausgabe. Düsseldorf und Zürich 1997 (Sammlung Tusculum). 1,II,V (S. 28); in der Übersetzung Winklers und Königs: „in der ganzen Welt nämlich und an allen Orten und zu allen Stunden und von den Stimmen aller wird allein da Glück (Fortuna) angerufen und genannt, allein angeklagt und allein beschuldigt, allein bedacht, allein gelobt, allein bezichtigt und unter Vorwürfen verehrt, als veränderlich, von vielen als flüchtig, aber auch als blind betrachtet, unbeständig, unsicher, wechselreich und eine Gönnerin Unwürdiger. Ihr wird aller Verlust, aller Gewinn zugeschrieben und in der Gesamtabrechnung der Sterblichen füllt es allein beide Seiten; so sehr sind wir dem Schicksal unterworfen, daß dieses selbst als eine Gottheit gilt, wodurch doch die Gottheit als ungewußt erwiesen wird“ (S. 29).
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Lobsien richtig anmerkt, „[…] nicht mehr in Gestalt der Göttin [auf] […] sondern […] ent-allegorisiert, [als] gleichsam anonymisiertes Korrelat eines unberechenbaren Geschehens, das sich mal zum Unglück, mal zu Glück neigt“.¹¹⁵ Beispiele für die Berufung auf Fortuna finden sich, wie bereits gezeigt, in den Gefangenschaftsepisoden der Königskinder. Pyrocles ruft Fortuna an, als er entdeckt, dass er und Philoclea im Schlafgemach der Prinzessin eingesperrt worden sind. Bevor der Prinz sich in einem Gebet Jupiter zuwendet, beschuldigt er Fortuna, die seinen Feinden so sehr geholfen hat, dass ihm nun nicht einmal mehr ein einfacher Suizid möglich ist. Auch Musidorus beklagt sich zunächst bei Fortuna über Pamelas und seine Gefangennahme, bevor er sich dem Beten zuwendet. Ein weiteres wichtiges Beispiel für die Berufung der Akteure auf Fortuna ist die Sestine „Since wailing is a bud of causeful sorrow“,¹¹⁶ die der Hirte (und ehemalige Senator Athens [siehe S. 246]) Agelastus auf den toten Basilius singt: Since wailing is a bud of causeful sorrow, Since sorrow is the follower of ill fortune, Since no ill fortune equals public damage, Now prince’s loss hath made our damage public, Sorrow pay we unto the rights of nature, And inward grief seal up with outward wailing. Why should we spare our voice from endless wailing, Who justly make our hearts the seats of sorrow, In such a case where it appears that nature Doth add her force unto the sting of fortune, Choosing alas, this our theatre public, Where they would leave trophies of cruel damage? The since such pow’rs conspire unto our damage (Which may be known, but never helped with wailing) Yet let us leave a monument in public, Of willing tears, torn hair, and cries of sorrow. For lost, lost is by blow of cruel fortune Arcadia’s gem, the noblest child of nature. O nature doting old, O blinded nature, How hast thou torn thyself, sought thine own damage, In granting such a scope to filthy fortune By thy imp’s loss to fill the world with wailing
Lobsien: Jenseitsästhetik, S. 336. Dies ist die erste englische Sestine und das erste Mal, dass das Wort dem OED zufolge im Englischen verwendet wird, wie Duncan-Jones anmerkt (siehe Duncan-Jones: Introduction, Anmerkung S. 380; sowie OED: Sestine, n. [04.06. 2016]). Zu Sidneys möglichen Quellen und Vorbildern bei der Übertragung der Sestine in die englische Sprache siehe außerdem Ringler: Poems, S. 416.
3.2 Fortuna
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Cast thy stepmother eyes upon our sorrow, Public our loss, so see thy shame is public (S. 246 f.; meine Hervorhebungen).
Dieser Klagegesang zeigt die enge Verknüpfung, der verschiedenen arkadischen Ordnungsinstanzen, die bereits zu Beginn dieses Kapitels betont wurde. Denn die Schuld am plötzlichen, unvorhergesehenen Tod des Herrschers wird Fortuna und Natur gegeben, die sich zusammengetan haben, um Unglück über Arkadien zu bringen. Fortuna wird hier nicht wie bei Boethius als ancilla Dei verstanden, sondern ist der Natur unterstellt, mit deren Hilfe sie den Herrscher umgebracht und Arkadien ins Unglück gestürzt hat. Basilius selbst wird als Arkadiens Juwel bezeichnet und als edelstes Kind der Natur. Keinesfalls sind es also – wie nach der mittelalterlichen Vorstellung – seine eigenen Verfehlungen, die seinen tiefen Fall verursacht haben, sondern die willkürlichen Launen Fortunas in Zusammenarbeit mit der Natur. Indem die alte, blinde Natur der Fortuna die Ermordung des Herrschers erlaubt, verletzt sie sich selbst, wie es die vierte Strophe vorwurfsvoll ausruft. Warum sie das zulässt, ist unerklärlich für den Schäferdichter, und es bleibt ihm nichts, außer starkem Weinen, Haareraufen und Klagen, um die private Trauer in der Öffentlichkeit zu zeigen, in die sie gehört, da der Tod eines Herrschers keine private Angelegenheit ist: Fortuna hat durch die Ermordung des Basilius nicht nur seine Familie und seine Freunde, sondern das gesamte arkadische Volk in tiefen Kummer gestürzt. Agelastus möchte durch sein Gedicht und durch das Verhalten der Trauernden ein Monument der Trauer errichten. Diese Forderung nach öffentlicher Trauer wird im zweiten Teil der Elegie noch einmal verstärkt: Nun genügt Agelastus nicht mehr ein Monument, sondern er möchte, dass sich die menschliche Natur wegen der Klagen verändere. ‚Natur‘ ist in diesem Sinne nicht als Ordnungsinstanz zu verstehen, sondern bezieht sich auf den Menschen, der ebenfalls eine ihm eigene Natur hat:¹¹⁷ O that we had, to make our woes more public, Seas in our eyes, and brazen tongues by nature, A yelling voice, and hearts composed of sorrow Breath made of flames, wits knowing naught but damage, Our sports murdering ourselves, our music wailing, Our studies fixed upon the falls of fortune. No, no, our mischief grows in this vile fortune, That private pangs cannot breathe out in public The furious inward griefs with hellish wailing; But forced are to burden feeble nature
Siehe zur menschlichen Natur auch diese Arbeit: Kapitel 4.
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3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung
With secret sense of our eternal damage, And sorrow feed, feeding our souls with sorrow. Since sorrows then concludeth all our fortune, With all our deaths show we this damage public His nature fears to die who lives still wailing (S. 247).
Die Trauer soll im Äußeren der Menschen unmittelbar erkennbar sein. Der Schäferdichter wünscht sich und den anderen Klagenden von Natur aus anstatt tränenverhangener Augen ganze Seen als Augen, laute und schreiende Stimmen und einen Atem aus Flammen. Diese äußere Trauer soll natürlich sein und nicht aufgesetzt oder künstlich. Auch das Innere der Arkadier möchte Agelastus anpassen: Die Herzen sollten aus Schmerz geformt sein, und der Verstand sollte nichts anderes kennen als Schaden. Doch nicht nur jeder einzelne Trauernde, sondern – um mit Luhmann zu sprechen – alle Systeme der arkadischen Gesellschaft sollen sich dem Leid unterwerfen. Der Schäferdichter wünscht, dass die sports das Volk töten sollen, dass Musik und Gesang immer traurig seien und dass man sich in der Wissenschaft ausschließlich mit Unglück beschäftige. Das Leid, das durch den Tod des Basilius über das arkadische Volk gekommen ist, soll offensichtlich und öffentlich gemacht werden, obwohl das eigentlich, so meint Agelastus einschränkend, kaum möglich ist: Für jeden einzelnen der Trauernden bedeute das Ableben des Herrschers solch eine furchtbare private Tragödie, dass diese gar nicht öffentlich dargestellt werden kann, außer durch den eigenen Tod. Noch einmal wird das Ausmaß, das die öffentliche Trauer haben soll, gesteigert: Zunächst möchte Agelastus selbstreferentiell ein Monument der Klage errichten, dann möchte er die menschliche Natur und die arkadische Gesellschaft ganz auf das offensichtliche Klagen ausrichten und im abschließenden Terzett ist ihm auch das nicht mehr genug: Nun sollen alle sterben, um das Leid deutlich zu machen, das der Tod des Basilius über Arkadien gebracht hat. In dieser Sestine wird Natur widersprüchlich charakterisiert. Zum einen ist Natur eine Gewalt, die Macht hat über das Leben und über den Tod. Diese allmächtige Natur ist jedoch zugleich alt und blind – interessanterweise ein Attribut, das in der Regel mit Fortuna in Verbindung gebracht wird. Ihr unterlaufen Fehler, die sie selbst schwächen, etwa wenn sie sich selbst das vorzüglichste Kind nimmt. Fortuna hingegen wird von Agelastus nicht etwa als altersschwach und blind, als „doting old […] blinded“ (V. 19) und „feeble“ (V. 34), porträtiert, sondern als regelrecht bösartig. Sie ist „cruel“ (V. 17), „filthy“ (V. 21) und „vile“ (V. 31) und letzten Endes verantwortlich für den Tod des Basilius: „lost is by blow of cruel fortune/ Arcadia’s gem“ (V. 17 f.). Es entspricht der Konvention der Frühen Neuzeit, dass Fortuna die Schuld gegeben wird an einem Todesfall:
3.2 Fortuna
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Schon auf mittelalterlichen Darstellungen trat er [der Tod] unübersehbar neben Fortuna, die das Glücks- oder Lebensrad drehte. Seit dem Humanismus zeichnen sich in zunehmendem Maße Tendenzen ab, das drohende Skelett durch die Gestalt der ebenso schrecklichen Göttin zu ersetzen. Der Umformungsprozeß traditioneller Vorstellungen führt schließlich zur Übertragung der Todesfunktion auf Fortuna.¹¹⁸
Nur indem die Schäfer Fortuna die Verantwortung für den Tod ihres Herrschers geben, können sie dem für sie so sinnlosen Ereignis einen Sinn geben. Das würde ihnen ohne Fortuna als Geltungsinstanz verwehrt bleiben: Denn wie könnte ein so schrecklicher Vorfall in die göttliche Ordnung passen? Oder um es mit anderen Worten auszudrücken: Durch eine Figur der Unverfügbarkeit – Fortuna – versuchen die Schäfer paradoxerweise, sich den Tod des Herrschers verfügbar zu machen. Sie können die Kontingenz, die dem Ereignis innewohnt, nicht verstehen oder akzeptieren und wollen sie deswegen mit Fortuna bewältigbar machen. Fortuna ist in der Arcadia nicht das Werkzeug einer Gottheit und handelt nicht nach deren Willen. Die für die Arcadia so dominanten Geltungsfiguren – Gottesinstanz(‐en) und Fortuna – werden kaum aufeinander bezogen. Eine Ausnahme ist das Gedicht „Up, up, Philisides, let sorrow go“ (S. 64 f.) der Schäfer Geron, Philisides und Histor, in dem die Planetengötter neben Fortuna stehen und gleichermaßen den Liebenden Philisides beeinflussen, wenn man davon ausgeht, dass die stars, also die Himmelskörper, Instrumente Gottes sind:¹¹⁹ Geron: […] The stars thy state, fortune may change thy hap. Philisides: If fortune’s lap became my dwelling place, And all the stars conspired to my good, Still were I one, this still should be my case, Ruin’s relic, care’s web, and sorrow’s food; Since she, fair fierce, to such a state me calls, Whose wit the stars, whose fortune fortune thralls (V. 25 f.).
Fortuna und Natur hingegen stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. In dem Gedicht „Since wailing is a bud of causeful sorrow“ findet eine Hierarchisierung der zwei Instanzen statt, der zufolge Fortuna der Natur unterstellt ist. Zugleich ist die Natur aber schwächer als Fortuna. Die Unterwerfung der
Kirchner: Fortuna in Dichtung, S. 39. Siehe hierzu auch Alexandra Walsham: Providence in Early Modern England. Oxford [u. a.] 1999. S. 23; zur Identifikation von Göttern und Sternen in der klassischen Antike und zur Umwandlung dieses Konzepts zur Vorstellung der Sterne als Instrumente Gottes im Christentum siehe Jean Seznec: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München 1990. S. 31 f.
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3 Die Begründungsfiguren der arkadischen Ordnung
Natur unter Fortuna wird auch in Musidorus’ Gedicht „Fortune, Nature, Love, long have contended about me“ (S. 71) angesprochen. Fortuna, Natura und die Liebe treten hier als mythische Personifikationen im Sinne von Hans Robert Jauss¹²⁰ in einen Wettkampf darüber, wer dem liebeskranken Sprecher-Ich das meiste Leid zufügen könne (V. 1 f). Fortuna meint, dass sie als einzige Unglück über den Menschen bringen könne (siehe V. 3 f.). Naturas Argument für ihre Macht über den Menschen ist, dass sie ihm die Körpersäfte gebe, die ausschlaggebend für seine Gemütsverfassung seien und ihn dementsprechend mit schwarzer Galle, also Melancholie, ausstatten könne: „[…] But so his humour I frame, in a mould of choler adusted,/That the delights of life shall be to him dolorous“ (V. 9/10). Dennoch gewinnt Natura die Diskussion nicht. Der Liebe zufolge ist sie die „poor nature“ (V. 15), die all den ihr zustehenden Ruhm Fortuna überlassen habe: „Where thou, poor Nature, left’st all thy due glory to Fortune“ (V. 15). Auf diesen Vorwurf findet Natura keine Antwort („Nature abashed went back“ [V. 17]), während Fortuna zwar errötet, aber immerhin das letzte Wort behält: „And e’en in that love shall I reserve him spite“ (V. 18). Dies ist, wie Elsa Berndt zeigt, ein eher ungewöhnlicher Auftritt der Natura:¹²¹ In der Regel gewinnt Natura ob ihrer Größe und Macht Wettkämpfe und Diskussionen gegen andere mythische Personifikationen oder allegorische Figuren.Eine Natura, die durch ihr beschämtes Zurückweichen sogar als schwächste der drei Figuren erscheint, ist die Ausnahme in der Literatur, wenngleich Natur in der Arcadia wiederholt als zumindest Fortuna unterlegen dargestellt wird. Auch in einer weiteren Elegie des Schäfers Agelastus auf den toten Herzog Basilius, „Since that to death is gone the shepherd high“ (S. 299), wird die Verbindung von Fortuna und Natur eng gezogen, und wieder scheint Fortuna die stärkere Macht zu sein: „And thou, poor earth, whom fortune
Jauss zufolge gehen mythische Personifikationen auf die Remythisierung der antiken Götter im Mittelalter zurück. In der mittelalterlichen Literatur kommt es zu einem Wiedererstarken der antiken Gottheiten, aber auch ‚neue‘ Gottheiten wie eben Natura gewinnen an Bedeutung. Sie treten als allegorische Figuren auf, indem sie „das Numinose einer überpersönlichen, mythischen Macht [signalisieren]“ (Hans Robert Jauss: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4). S. 187– 209. S. 193). Eine mythische Personifikation kann Jauss zufolge „selbstständig, aus eigenen – oft uneinsichtigen – Motiven […] handeln. Sie kann Handlungen in Gang setzen, in den Ablauf eines Geschehens von außen eingreifen, unversehens wiederkehren und sich wieder entziehen.“ (ebd., 195). Auch wenn die Natura dieses Gedichts keinen Einfluss hat auf die extradiegetische Handlungsebene, ist sie innerhalb der intradiegetischen Handlung zum Handeln in der Lage, aber sie ist schwach und scheint all ihre Macht Fortuna gegeben zu haben. Siehe Elsa Berndt: Dame Nature in der englischen Literatur bis herab zu Shakespeare. Leipzig 1923 (Palaestra 110). S. 78.
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doth attaint/In nature’s name to suffer such a harm/As for to lose thy gem, our earthly saint,/Upon thy face let coaly ravens swarm“ (V. 16 f.). *** Fortuna, die dem Menschen das höchste Glück, aber auch den unerwarteten Fall ins größte Unglück bescheren kann, lässt sich in ihren frühneuzeitlichen Konzeptionen, wie bereits dargestellt, durch virtù beherrschen oder zumindest einhegen. Auch in Arkadien vertreten einige Figuren die Auffassung, Fortuna sei durch virtues im Zaum zu halten. Pamela sagt beispielsweise zu Musidorus: „Master Dorus […] methinks you blame your fortune very wrongfully, since the fault is not in our fortune but in you that cannot frame to your fortune“ (S. 88).¹²² Wie gezeigt, machen die Figuren der Arcadia Fortuna oft zum Sündenbock für ihre misslichen Erlebnisse, so auch Musidorus, der Fortuna verantwortlich macht für seinen Liebeskummer (siehe S. 87). In ihrer Antwort auf Musidorus’ Vorwurf widerspricht Pamela ihm jedoch und argumentiert ganz im Sinne Machiavellis:¹²³ Nicht Fortuna, ist schuld an der misslichen Lage des Musidorus, sondern nur er selbst, da er sich nicht gemäß seines fortune verhalte. Die von der Prinzessin verwendeten Possessivpronomina verdeutlichen ihre Auffassung: Anstatt eine die Welt lenkende Fortuna, „our fortune“, verantwortlich zu machen für sein Unglück, „your fortune“, sollte Musidorus sein Inneres lieber seinem fortune – zum zweiten Mal verwendet Pamela hier das Pronomen your – anpassen, also sich seiner aktuellen Lage entsprechend verhalten, um glücklich zu sein. Pamela wirft Musidorus vor, nicht auf Fortuna eingestellt zu sein und sie deswegen nicht steuern zu können. Julie Crawford liest Pamelas Aussage als stoisch im Sinne einer Aufforderung zur Besinnung auf die Tugenden, allen voran auf constantia. ¹²⁴ Diese Lesart der Aussage Pamelas ist möglich, versteht man das Verb frame
Diese Aussage erinnert an Cassius’ Rede zu Brutus in Shakespeares Julius Caesar (1599), die einen sehr ähnlichen Wortlaut hat: „The fault, dear Brutus, is not in our stars/But in ourselves, that we are underlings“ (William Shakespeare: Julius Caesar. Hg. von Marvin Spevack. Cambridge [u. a.] 2004 [The New Cambridge Shakespeare]. 1.2.140 f.). Auch Cassius verlegt die Fehler in das Innere der Menschen. Allerdings nimmt hier nicht Fortuna die Gegenposition ein, sondern das Schicksal, „our stars“. Im Vers davor, der die Aussage einleitet, heißt es dementsprechend: „Men at some time are masters of their fates“ (1.2.139). Cassius sagt hier, dass das Schicksal nicht allein verantwortlich ist dafür, wie ein Leben verläuft, sondern auch der Mensch. Ist er schwach, handelt er gegen seinen Willen und ist an den Fehlern selbst schuld. Zur Nähe von Sidneys und Machiavellis Denken (in Hinblick auf die New Arcadia) siehe bereits Irving Ribner: Machiavelli and Sidney: The ‘Arcadia’ of 1590. In: Studies in Philology 47/2 (1950). S. 152– 172. Siehe Julie Crawford: Mediatrix: Women, Politics and Literary Production in Early Modern England. Oxford [u. a.] 2014. S. 57. Ein tugendhaftes Leben kann nach Auffassung der Stoiker die
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im Sinne von „adapt/adjust“¹²⁵ und nicht, wie nach der machiavellistischen Lesart im Sinne von „shape/form/direct“.¹²⁶ Allerdings entspricht Pamelas Verhalten in der Old Arcadia zu keinem Zeitpunkt der Handlung der stoischen Maxime des geduldigen Ausharrens. Von ihrem Vater im idyllischen Exil gefangen gehalten, akzeptiert sie ihre Situation nur vorläufig und ergreift die erste günstige Gelegenheit, die sich ihr bietet, um zu entkommen.¹²⁷ Sie packt also, um mit einem berühmten Motiv Machiavellis zu sprechen,¹²⁸ Fortuna zur rechten Zeit bei ihrer Stirnlocke – oder, wie man heute sagen würde: sie packt die Gelegenheit beim Schopfe – und versucht, aus Arkadien zu fliehen. Auch ihre spätere Festsetzung durch Philanax akzeptiert sie nicht ohne Protest¹²⁹ und versucht auch aus der Gefangenschaft heraus noch die Geschicke zu lenken. So sind etwa die Verteidigungsbriefe, die die Prinzessinnen an das Gericht schicken, Pamelas Idee.¹³⁰ Pamela handelt in der Arcadia also in der Regel nicht stoisch, sondern im Sinne der machiavellistischen Ideologie, und in diesem Sinne ist auch Pamelas Aussage
Fortuna besiegen. Besinnt man sich nämlich allein auf virtus, so können einem die äußeren Wechselfälle des Lebens nichts anhaben. So schreibt Seneca in seinem 71. Brief an Lucilius „Sapiens quidem vincit virtute fortunam“ (Seneca: Epistulae morales, Epistula LXXI, 30; in der Übersetzung Rauthes: „Der Weise besiegt zwar mit seiner sittlichen Vollkommenheit das Schicksal“. Fortuna wird hier mehrdeutig mit Schicksal übersetzt). In Ciceros Tusculanae Disputationes heißt es: „cui refertae tot tantisque gaudiis Fortuna ipsa cedat necesse est“ (Cicero: Tusculanae disputationes, V,25. In der Übersetzung Kirfels: „Ihm, das angefüllt ist mit so vielen und großen Freuden, muß die Glücksgöttin selbst weichen“; siehe auch Vogt: Kontingenz, S. 513). Pyrocles gibt diese Ansicht in der Nacht vor dem Gerichtsprozess ebenfalls wieder, wenn er zu Musidorus sagt: „let not our virtue now abandon us. Let us prove our minds are no slaves to fortune, but in adversity can triumph over adversity“ (S. 275). OED: frame, v. (Bedeutung 5c) (09.06. 2016). OED: frame, v. (Bedeutung 5a) (09.06. 2016). Zum Verhältnis von Fortuna und Occasio, der günstige Gelegenheit, siehe beispielsweise Kirchner: Fortuna in Dichtung, S. 27 f. Vgl. zu Machiavellis Gebrauch dieses Motivs Herfried Münkler: Gewalthandeln, Rückzug ins Private oder Kalkülrationalität? Über den Umgang mit Kontingenz im Denken der Frühen Neuzeit. In: Contingentia. Transformationen des Zufalls. Hg. von Hartmut Böhme [u. a.]. Berlin und Boston 2016 (Transformationen der Antike 38). S. 305 – 325. S. 316 f. Es heißt im Text: „[…] in the end remembering how necessary it was for her not to lose herself in such an extremity, she strengthened her well created heart, and stoutly demanded Philanax what authority then they had to lay hands of her person […]“ (S. 276). Hierzu heißt es: „[…] when great part of the night was passed over the doleful music of these sweet ladies’ complaints, and that leisure (though with some strife) had brought Pamela to know that an eagle when she is an a cage must not think to do like an eagle, remembering with themselves that it was likely the next day the lords would proceed against those they had imprisoned, they employed the rest of the night in writing unto them, with such earnestness as the matter required, but in such styles as the state of their thoughts was apt to fashion“ (S. 320).
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über Musidorus’ fortune zu verstehen. Der Prinz versteht aber Pamelas machiavellistische Einstellung gerade nicht: Lady most worthy of all duty, how falls it out that you in whom all virtue shines will take the patronage of fortune, the only rebellious handmaid against virtue – especially since before your eyes you have a pitiful spectacle of her wickedness, a forlorn creature which must remain not such as I am but such as she makes me, since she must be the balance of worthiness or disparagement (S. 88 f.).
Klassisch stoisch stellt Musidorus hier Fortuna als Gefahr für das erstrebenswerte tugendhafte Leben dar und kann nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet Pamela Fortuna verteidigt, wo sie doch so tugendhaft ist und mit ihm ein Beispiel der schrecklichen Macht Fortunas vor sich hat. Denn Musidorus beschreibt sich selbst als Fortuna vollständig ausgeliefert. Musidorus vertritt in seiner Beschreibung Pamelas als Frau, in der die Tugend lebt, das bis zu Machiavelli klassische Verständnis von Tugend als eine für jeden und zu jeder Zeit geltende eindeutig definierte Palette an Eigenschaften: Denn wie könnte die Prinzessin, wenn die Tugenden je nach Situation im machiavellistischen Sinne wechselten, sie alle besitzen? Pamelas machiavellistischer Auslegung von Fortuna und Tugend zufolge braucht man aber nicht notwendigerweise einen festgelegten Satz an Eigenschaften, um tugendhaft zu sein und Fortuna zu zähmen, sondern, pragmatisch gedacht, die richtigen Eigenschaften zur richtigen Zeit. Musidorus und Pamela argumentieren also ebenso wie Pyrocles und Philoclea in der Suiziddiskussion auf unterschiedlichen Ebenen. Musidorus ist während des gesamten Handlungsverlaufs der stoischen Auffassung von Tugend treu, auch wenn er, von Affekten getrieben, sie nicht immer umsetzen kann. Auch der jüngere Prinz Pyrocles folgt diesem Tugendverständnis. Bevor die Prinzen nach Arkadien kamen, hatten sie sich in der Welt bereits als wahrhafte Helden präsentiert und, obwohl sie sich in Arkadien, von ihren Affekten gelenkt, in das passiv-beschauliche Schäferleben zurückziehen und nach frühneuzeitlichen Moralvorstellungen keineswegs immer tugendhaft handeln, vollbringen sie weiterhin Heldentaten, etwa wenn sie die Prinzessinnen vor dem Angriff wilder Tiere retten oder die Rebellion unzufriedener Arkadier niederschlagen.¹³¹ Zudem legt der Erzähler Wert darauf, Musidorus und Pyrocles auch in
Die Heldentaten der Prinzen, bevor sie nach Arkadien kamen, werden in der New Arcadia ausführlich in Analepsen dargestellt, beispielsweise wenn erzählt wird, wie Musidorus und Pyrocles Phrygien aus der Tyrannei befreien (siehe S. 169 f.). Die Erlebnisse vor der Ankunft der Prinzen in Arkadien und ihr Kampf gegen die wilden Tiere und die Rebellion in Arkadien können als aventuiren bezeichnet werden, was im mediävistisch literaturwissenschaftlichen Sinne bedeutet, dass ein „Held über einen Weg geführt wird, auf dem ihm Aventüren >zufallen