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German Pages XIII, 435 [439] Year 2020
Wirtschaft + Gesellschaft
Stefanie Hiß Agnes Fessler Gesa Griese Sebastian Nagel Daniela Woschnack
Nachhaltigkeit und Finanzmarkt Zur soziologischen Vermessung eines Reflexionsraums
Wirtschaft + Gesellschaft Reihe herausgegeben von Andrea Maurer, Fachbereich IV Soziologie, Universität Trier, Trier, Deutschland Uwe Schimank, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Wirtschaft und Gesellschaft ist ein wichtiges Themenfeld der Sozialwissenschaften. Daher diese Buchreihe: Sie will zentrale Institutionen des Wirtschaftslebens wie Märkte, Geld und Unternehmen sowie deren Entwicklungsdynamiken sozial- und gesellschaftstheoretisch in den Blick nehmen. Damit soll ein sichtbarer Raum für Arbeiten geschaffen werden, die die Wirtschaft in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachten oder aber soziale Effekte des Wirtschaftsgeschehens und wirtschaftlichen Denkens analysieren. Die Reihe steht für einen disziplinären wie theoretischen Pluralismus und pflegt ein offenes Themenspektrum.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12587
Stefanie Hiß · Agnes Fessler · Gesa Griese · Sebastian Nagel · Daniela Woschnack
Nachhaltigkeit und Finanzmarkt Zur soziologischen Vermessung eines Reflexionsraums
Stefanie Hiß Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland
Agnes Fessler Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland
Gesa Griese Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland
Sebastian Nagel Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland
Daniela Woschnack Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland
ISSN 2626-6156 ISSN 2626-6164 (electronic) Wirtschaft + Gesellschaft ISBN 978-3-658-30258-0 ISBN 978-3-658-30259-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Das diesem Buch zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und dem Autor.
Danksagung
Das vorliegende Buch ist Ergebnis des Forschungsprojekts ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘, das von April 2015 bis September 2018 unter der Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß am Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Märkte, Organisationen und Governance an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt wurde. Unser erster Dank richtet sich an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die finanzielle Förderung unseres Projekts im Rahmen der Initiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘. Administrativ versorgt wurde es vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) als Projektträger. Hier waren es insbesondere Frau Dr. Monika Wächter und Frau Dobrila Tesanovic, die uns von Anfang bis Ende durch die Feinheiten der Projektadministration begleitet und geleitet haben. Mit Informationen rund um das Thema Finanzmarkt, Gesellschaft und Nachhaltigkeit wurden wir umfassend von der ‚Servicestelle Information‘ versorgt. Hier gilt unser Dank Dr. Claudia Czingon, Sonja Kleinod und Korbinian Zander für die kontinuierliche Bereitstellung stets aktueller Nachrichten. Danken möchten wir auch Frau Cori Antonia Mackrodt und Katharina Gonsior von Springer VS sowie Prof. Dr. Andrea Maurer und Prof. Dr. Uwe Schimank für die Möglichkeit, unsere Forschung in der Reihe ‚Wirtschaft + Gesellschaft‘ zu veröffentlichen. Tatkräftig unterstützt haben uns auch unsere Sekretärin Jessica Morgenroth und unsere studentischen Hilfskräfte, die in verschiedenen Phasen und Teilprojekten mit dabei waren. Hier geht unser Dank an Ingrid Bambynek, Robert Bowen, Anne Carstensen, Denny Tien Günther, Marie Klieme, Sabrina Leheis, Nariman Nadimiamiri, Niklas Patzek, Rieke Schmidt, Leo Schwarz und Sven Trendow. Dank auch an unsere Kollegin Hanna Schulte, die nicht müde wurde, uns für Fragen, mit Anregungen und bei der Korrektur erster Texte zur Verfügung zu stehen. Christian Geiselmann hat wie immer zuverlässig alle Transkriptions-Dienste im Zusammenhang mit dem Projekt erfüllt. Dagmar Binder und Bernd Teufel haben die Texte zum Teil mehrfach Korrektur gelesen. Auch ihnen ein herzliches Danke.
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Danksagung
Zu großem Dank sind wir allen unseren Interviewpartner/innen verpflichtet, die unsere Forschung erst möglich gemacht haben, und den Teilnehmer/innen unseres Workshops ‚Divestment – (Mit) Geld bewegen? Bestandsaufnahme einer sozialen Bewegung‘ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) in Berlin, sowie der Jungen Akademie für die Co-Finanzierung dieser Tagung. Während der dreieinhalbjährigen Projektlaufzeit haben wir unsere Ergebnisse auf zahlreichen nationalen und internationalen Tagungen und Konferenzen zur Diskussion gestellt und dort umfangreiche konstruktive Rückmeldungen und Hinweise zu unserer Forschung erhalten. Das Thema Nachhaltigkeit in Banken wurde verantwortet von Gesa Griese, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß und auf dem 33. Kolloquium der European Group for Organizational Studies (EGOS) im Juli 2017 in Kopenhagen (Gesa Griese, Stefanie Hiß), dem 112. Annual Meeting der American Sociological Association (ASA) im August 2017 in Montreal (Stefanie Hiß) und beim Workshop des BMBF-Projekts ‚Privatanleger auf dem Finanzmarkt‘, organisiert von Prof. Dr. Uwe Schimank, Lydia Welbers und Dr. Michael Walter, im Februar 2018 in Frankfurt am Main (Gesa Griese) präsentiert. Die Divestment-Bewegung wurde federführend von Agnes Fessler, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß bearbeitet und im Kolloquium des artec-Forschungszentrums Nachhaltigkeit im Juni 2016 an der Universität Bremen (Stefanie Hiß), beim Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie im Juni 2017 in Zürich (Stefanie Hiß), bei der 29. Annual Conference der Society for the Advancement of S ocio-Economics (SASE) im Juni 2017 in Lyon (Agnes Fessler, Sebastian Nagel), dem 112. Annual Meeting der ASA im August 2017 in Montreal (Stefanie Hiß), beim Workshop ‚Decision-Making in the Realm of Finance – Interdisciplinary Conversations‘ im Juni 2018 an der Universität Münster (Stefanie Hiß), der Economic Sociology Midterm Conference der European Sociological Association (ESA) im September 2018 an der Universität Konstanz (Agnes Fessler) und bei der Ad-Hoc-Gruppe ‚NGOs und soziale Bewegungen im Klimaregime – Ausdruck eines neuen Spannungsfeldes sozialer und ökologischer Fragen?‘ beim 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) im September 2018 an der Universität Göttingen (Agnes Fessler) vorgetragen. Die Forschung über Nachhaltigkeitsberichterstattung wurde verantwortet von Daniela Woschnack, unter Mitarbeit von Sebastian Nagel und Stefanie Hiß und bei einem Stockholm Centre for Organizational Research (SCORE) Seminar im März 2015 in Stockholm (Stefanie Hiß), beim 11. Workshop on New Institutionalism in Organization Theory im März 2015 in Wien (Daniela Woschnack, Sebastian Nagel), bei der 1. und 2. Social and Sustainable Finance and Impact Investing Conference im April 2015 an der SAID Business School der University of Oxford (Daniela Woschnack, Stefanie Hiß) sowie im September 2017 an der University of Cambridge (Daniela Woschnack), bei der 27. Annual Conference der SASE im Juli 2015 in London (Daniela Woschnack, Sebastian Nagel, Stefanie Hiß), beim 3. Geneva Summit on Sustainable Finance im März 2016 in Genf (Daniela Woschnack), beim 32. Annual Colloquium der EGOS
Danksagung
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im Juli 2016 in Neapel (Daniela Woschnack, Stefanie Hiß), bei der 20. Conference of the Environmental and Sustainability Management Accounting Network (EMAN) im September 2016 in Lüneburg (Daniela Woschnack) und bei der 29. Annual Conference der SASE im Juni 2017 in Lyon (Daniela Woschnack) vorgestellt. Allen Feedback-Gebenden gebührt unser herzlicher Dank. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt natürlich bei den Autorinnen und dem Autor. Jena im März 2020
Stefanie Hiß Agnes Fessler Gesa Griese Sebastian Nagel Daniela Woschnack
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt – zur soziologischen Vermessung eines Reflexionsraums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Stefanie Hiß 1.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Zur Genese des Projekts: Wie passen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zusammen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Unser theoretischer Rahmen: Institutionelle Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.4 Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘. . . . . . . 13 1.6 Unsere empirischen Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.7 Vorschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Teil I Darstellung des Untersuchungsgegenstands und methodische Herangehensweise 2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts – ein Vorschlag zur Kartierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stefanie Hiß 2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Ein Vorschlag zur Kartierung des nachhaltigen Finanzmarkts . . . . . . . . . . 46 2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung. . . . . . . . . 50 2.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit – Institutionelle Logiken, Deutungsmuster, Frames und Narrative im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Daniela Woschnack, Agnes Fessler, Gesa Griese und Stefanie Hiß 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 XI
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3.2 Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3 Institutionelle Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.4 Deutungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.5 Frames. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.6 Narrative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sebastian Nagel 4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.2 Systemische Risiken und Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.3 Resilienz von Finanzmärkten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Teil II Empirische Studien 5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Gesa Griese, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.2 Nachhaltigkeit im Bankwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.3 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland. . . . . . . . . . . . 181 5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit. . . 198 5.6 Clusterung: Perspektiven auf die Stabilitätswirkung durch die Befragten im Feld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5.7 Fazit und Zusammenführung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken. . . . . . . . . . . . 231 Gesa Griese 6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2 Empirie 1: Organisationsidentität als Hemmnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit. . . . . . . 245 6.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung – geteilte und umkämpfte Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Agnes Fessler, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 7.4 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der DivestmentBewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts. . . . . . . . . . . . 319 7.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der finanzialisierten Altersvorsorge. . . . . . 355 Agnes Fessler und Sebastian Nagel 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung und Auswirkungen auf Risiken und Instabilitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge. . . . . . . . . . 367 8.4 Nachhaltigkeitsverständnis vor dem Hintergrund koexistierender institutioneller Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 8.5 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse in der kapitalgedeckten Altersvorsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 8.7 Diskussion und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten? Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Daniela Woschnack 9.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 9.2 Gesellschaft und Unternehmen – gegenseitige Erwartungsstrukturen, Aushandlungsprozesse und Interdependenzgeflechte. . . . . . . . . . . . . . . . . 402 9.3 Unternehmerische Verantwortlichkeit: Das Konzept der Accountability im Kontext von gesellschaftlicher Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 9.4 Unternehmen, Nachhaltigkeit und die Veröffentlichung von nichtfinanziellen Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . 411 9.6 Fazit: Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
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Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt – zur soziologischen Vermessung eines Reflexionsraums Stefanie Hiß
Inhaltsverzeichnis 1.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Zur Genese des Projekts: Wie passen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zusammen?. . . . . 3 1.3 Unser theoretischer Rahmen: Institutionelle Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.4 Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.5.1 Was passiert im Reflexionsraum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.5.2 Wer reflektiert?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.5.3 Über was wird reflektiert?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.5.4 An welchen Untersuchungsfeldern analysieren wir den Reflexionsraum?. . . . . . . 16 1.5.5 Mit welchen Methoden analysieren wir den Reflexionsraum?. . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.6 Unsere empirischen Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.6.1 Teilprojekt Banken: Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren (Griese, Nagel, Hiß) . . . . . . . 20 1.6.2 Teilprojekt Divestment: Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung – geteilte und umkämpfte Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiken (Fessler, Nagel, Hiß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.6.3 Teilprojekt Nicht-finanzielle Berichterstattung: Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten? Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft (Woschnack). . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.7 Vorschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Zusammenfassung
Diese Einleitung bildet den Auftakt des vorliegenden Buches und führt in die zentralen Hintergründe, Ansätze, Forschungsfragen und empirischen Ergebnisse des zugrundeliegenden Forschungsprojekts ein. Zunächst wird die Genese des Projekts © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_1
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
rekonstruiert, die sich an der Frage entwickelt hat, wie Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zusammenpassen und was passiert, wenn sich Nachhaltigkeit mehr und mehr auf dem Finanzmarkt ausbreitet. In einem zweiten Schritt wird mit dem Soziologischen Institutionalismus und den institutionellen Logiken der theoretische Rahmen des Projekts skizziert. Auch wird geschildert, warum das Thema Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts einen relevanten Referenzpunkt darstellt. Im Anschluss daran wird der Ansatz erläutert, der alle empirischen Teilprojekte verbindet und einen gemeinsamen Untersuchungsrahmen bildet: der Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘. Schließlich werden die zentralen empirischen Ergebnisse aus den drei wichtigsten Teilstudien präsentiert: die Analyse von institutionellen Logiken und Deutungsmustern im Bankwesen, die Analyse von Frames der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und die Analyse von Narrationen im Bereich der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen.
1.1 Einleitung In diesem Buch präsentieren wir die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘, das von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Das Projekt wurde unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß und unter Mitarbeit von Agnes Fessler, Gesa Griese, Sebastian Nagel und Daniela Woschnack an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt.1 Auf Basis des Neuen Soziologischen Institutionalismus und den darin zu verortenden institutionellen Logiken blicken wir aus einer soziologischen Perspektive auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt sowie der Resilienz des Finanzmarkts. Wir identifizieren dabei eine Nachhaltigkeitslogik im Finanzmarkt, der wir mit Methoden der qualitativen Sozialforschung, in unserem Fall der Analyse von Deutungsmustern, Frames und Narrativen, nachspüren. In drei größeren Teilprojekten haben wir uns mit dem Bankwesen, dem Fossil-Fuel-Divestment und der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen auseinandergesetzt. Ergänzend haben wir die nachhaltige Altersvorsorge in den Blick genommen. Wir verfolgen im Buch zwei übergeordnete Fragen: In einer ersten Fragestellung untersuchen wird die Ausgestaltung dieser Nachhaltigkeitslogik auf dem Finanzmarkt. Hier wollen wir wissen, welche Ausprägungen Nachhaltigkeit in den verschiedenen Teilbereichen zeigt und wie sich diese konkret in institutionellen Logiken, Deutungsmustern, Frames und Narrativen niederschlagen. In einer zweiten Fragestellung betrachten wir das
1Das
Förderkennzeichen des Vorhabens lautet 01UF1504. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und dem Autor.
1.2 Zur Genese des Projekts
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Verhältnis dieser Nachhaltigkeitslogik zur Resilienz des Finanzmarkts. Hier interessiert uns, welche Auswirkungen die vorgefundenen Ausprägungen von Nachhaltigkeit auf die Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts zeitigen. In der vorliegenden Einleitung werde ich zunächst die Genese der Projektidee nachzeichnen, unsere theoretische Verortung im Neuen Soziologischen Institutionalismus darlegen, unseren Fokus auf Resilienz erläutern und unseren Ansatz eines Reflexionsraums vorstellen. Darauffolgende Einblicke in unser methodisches Vorgehen und unsere empirischen Ergebnisse sollen zur weiteren Lektüre des Buches und weiterer Forschung anregen.
1.2 Zur Genese des Projekts: Wie passen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zusammen? ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt – ein Oxymoron‘: So lautete der Titel meiner Antrittsvorlesung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Januar 2014. Schon damals hat mich die Frage fasziniert, wie die Nachhaltigkeit auf den Finanzmarkt kommt, was sie auf und mit dem Finanzmarkt macht und was auf dem Finanzmarkt aus ihr (gemacht) wird. Wie passen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zusammen und wie verändern sich Nachhaltigkeit und Finanzmarkt unter wechselseitigem Einfluss? In der damaligen Vorlesung habe ich argumentiert, dass Nachhaltigkeit und Finanzmarkt ein recht gegensätzliches Paar sind. In seiner Gesamtschau ‚Sustainability – A History‘ skizziert Jeremy L. Caradonna (2014) Nachhaltigkeit als Gegenspieler zu Kapitalismus und Finanzmarkt. In dem Maße, in dem das kapitalistische Wirtschaften und Investieren immer weiter auf Natur und Umwelt ausgreift, formiert sich unter dem Label Nachhaltigkeit eine Gegenbewegung, die Land und Luft zurückgewinnen will. Dies betrifft sowohl die materiellen als auch die ideellen und symbolischen Ebenen dieses Ringens um Ressourcen, Moral und Deutungshoheit: Nachhaltigkeit und Kapitalismus beziehungsweise Finanzmarkt stehen sich demnach antagonistisch gegenüber. Laut Definition ist ein Oxymoron eine rhetorische Figur, die sich aus zwei sich widersprechenden Begriffen zusammensetzt – ein Widerspruch in sich. Typische Beispiele für Oxymora sind ‚stummer Schrei‘ oder ‚rundes Quadrat‘. Der Widerspruch besteht darin, dass der zusammengesetzte Begriff Merkmale enthält, die ihm selbst widersprechen. Das Adjektiv ‚rund‘ widerspricht dem Sinn des Wortes ‚Quadrat‘. Widerspricht Finanzmarkt dem Sinn von Nachhaltigkeit? Ist ein nachhaltiger Finanzmarkt tatsächlich ein Widerspruch in sich? Oder passen Nachhaltigkeit und Finanzmarkt doch irgendwie zusammen? Eine Antwort auf diese Fragen hängt stark davon ab, was unter ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Finanzmarkt‘ verstanden wird. Bei einem ‚runden Quadrat‘ ist die Unvereinbarkeit offensichtlich. ‚Rund‘ und ‚Quadrat‘ sind jeweils klar definiert, nicht jedoch ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚(Finanz-)Markt‘. Insofern hängt die vermeintliche Gegensätzlichkeit eines ‚nachhaltigen Finanzmarkts‘ vor allem von den Begriffen und Konzepten ab, die
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
damit jeweils verbunden werden. Greifen wir zwei altbekannte Interpretationen der beiden Antipoden heraus: einerseits Nachhaltigkeit als Ausdruck der Prinzipien, ökologische, soziale und ökonomische Aspekte gleichmäßig zu berücksichtigen und im Sinn einer Generationengerechtigkeit und Zukunftsorientierung mit langfristiger Perspektive zu agieren; andererseits ein Finanzmarkt, der quasi als idealtypischer Markt Angebot und Nachfrage nach Geld entlang einer klaren Profitorientierung lenkt und der in Zeiten des Turbokapitalismus kurzfristig schwindelerregend hohe Gewinne und Verluste Einzelner hervorbringt. In einer plakativen Darstellung wäre es ‚Gemeinwohl versus Profit‘, oder ‚Kooperation versus Konkurrenz‘ oder ‚langfristige versus kurzfristige Horizonte‘, mit denen die Unvereinbarkeit schnell attestiert werden könnte. Doch dies bleibt unzufriedenstellend vage und unterkomplex. Erlauben wir uns noch einen genaueren Blick in die Konzepte Nachhaltigkeit und Markt. Nachhaltigkeit ist ein Terminus, der heutzutage fast schon inflationär verwendet wird.2 Was heute als gut und zukunftsfähig gelten soll, wird gerne mit dem Label der Nachhaltigkeit verziert. Organisationen verfolgen Nachhaltigkeitsziele, Regierungen entwickeln Nachhaltigkeitsstrategien, Verbraucher/innen folgen Nachhaltigkeitsratgebern. Es gibt Nachhaltigkeits-Messen und zahlreiche Anstrengungen, auch unsere Wirtschaftsweise nachhaltiger auszurichten. Was in den einzelnen Fällen unter Nachhaltigkeit verstanden wird, bleibt dabei oft unklar und erscheint beliebig. Was genau versteckt sich aber hinter dem Prinzip der Nachhaltigkeit? Das Konzept der Nachhaltigkeit hat seine Wurzeln in gewisser Weise in Jena, dem Ort unseres Forschungsprojekts. Hans Carl von Carlowitz, der die Idee der Nachhaltigkeit vor gut 300 Jahren geprägt hat, studierte in Jena Rechts- und Staatswissenschaften. Nach seinem Studium sah er sich als Oberberghauptmann im sächsischen Freiberg mit dem Problem des Holzmangels konfrontiert. Der dortige Silberbergbau hatte alle Reserven aufgebraucht – entweder für den Ausbau der Gruben oder die Schmelzhütten. In der damaligen Zeit gab es zum Bau- und Brennstoff Holz keine wirkliche Alternative. In seinem berühmten Werk ‚Sylvicultura oeconomica: oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht‘ (Carlowitz 1713) schrieb er eine Art Anleitung nieder, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Er forderte erstmals in der Geschichte, dass in einer Periode nur so viel Holz geschlagen werden dürfe, wie durch eine planmäßige Aufforstung, durch Säen und Anpflanzen neuer Bäume in derselben Periode, wieder nachwachsen könne. Damit entwickelte von Carlowitz eine simple und dennoch höchst effektive Formel, um die drohende Rohstoffkrise abzuwenden und nachhaltig zu wirtschaften: ‚verbrauche nicht mehr Holz als nachwächst‘ oder im übertragenen Sinn: ‚lebe von den Zinsen und nicht vom Kapital‘.
2Auch
die Literatur zum Thema ist kaum mehr überschaubar. Einen Einstieg und Überblick geben beispielsweise Grober (2013); Grunwald und Kopfmüller (2012); Hauff (2014); Portney (2015) oder Pufé (2017).
1.2 Zur Genese des Projekts
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Nach diesem Auftakt vor 300 Jahren ist das Konzept der Nachhaltigkeit zunächst wieder in den Hintergrund getreten – bis es dann in den 1980er Jahren eine neue Konjunktur erlebte. Die Brundtland-Kommission unter Leitung der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die 1987 im Auftrag der Vereinten Nationen den Bericht ‚Our Common Future‘ vorlegte, definierte nachhaltige Entwicklung als „development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (WCED 1987, S. 41). Es geht also bei Nachhaltigkeit um Langfristigkeit im Sinn einer Generationengerechtigkeit. Unsere Kinder und Kindeskinder sollen die gleichen Chancen und Möglichkeiten vorfinden, ein gutes Leben zu führen wie wir selbst – ökonomisch, ökologisch und sozial. Das heißt, die Art und Weise, wie wir wirtschaften, darf die dafür notwendigen Ressourcen nicht in einer Weise aufzehren oder schmälern, dass das Wirtschaften in Zukunft zum Erliegen käme. Diese Definition der Brundtland-Kommission ist vermutlich die am häufigsten zitierte; und sicherlich auch deshalb so beliebt, weil sie trotz aller Konkretheit so vage formuliert ist, dass sie auf viele Bereiche und Phänomene angewendet und angepasst werden kann. Eine weitere sehr häufig anzutreffende Darstellung des Nachhaltigkeitskonzepts finden wir in Form des sogenannten Nachhaltigkeitsdreiecks – der gleichberechtigten Berücksichtigung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Belangen, die auch unter den Stichworten triple-bottom-line oder people, planet, profit bekannt ist (Elkington 1999, 2004). Doch auch dies gibt uns wenig konkrete Hinweise darauf, was genau unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Es ist und bleibt ein sehr dehnbares und interpretationsoffenes Konzept. Das Gleiche trifft auf Märkte und Finanzmärkte zu. Auch Märkte sind nicht gleich Märkte, sondern kommen in vielfältigen Ausprägungen vor. Folgt man gängigen Marktdefinitionen, dann sind Märkte, vereinfacht gesprochen, Orte, an denen sich Angebot und Nachfrage treffen (Fritsch 2018); wo rationale Akteur/innen mit klaren Präferenzordnungen Waren und Dienstleistungen tauschen; wo – ganz im Sinn von Friedrich August von Hayek (1945) – der Marktpreis alle relevanten Informationen enthält und damit eine optimale Allokation von Gütern und Kapital erlaubt. Allerdings ist dies eine sehr modellhafte Vorstellung von Märkten und eignet sich nur für eine erste Annäherung. Auch bei Märkten treffen wir in der empirischen Wirklichkeit eine große Vielfalt an. Wir finden illegale Märkte, die außerhalb und entgegen der erlaubten rechtlichen oder politischen Ordnung stattfinden (Beckert und Dewey 2017); künstlich geschaffene Märkte, wie etwa den Markt für CO2-Emissionen, bei denen die zu handelnde Ware, nämlich hier das Recht zur Verschmutzung der Atmosphäre, sowie der gesamte dazugehörige rechtliche Rahmen, erst konstruiert werden mussten (Knox-Hayes 2010; MacKenzie 2009); Märkte, auf denen Machtstrukturen oder Netzwerke einen starken Einfluss auf die Preisgestaltung haben sowie darauf, wer sich am Markt beteiligen darf (Baker 1990; Beckert 2010); Märkte, auf denen kulturelle Werte bestimmen, was gehandelt werden darf und was nicht – etwa beim Organhandel oder der Frage, wie Leichen für medizinische Zwecke gehandelt werden dürfen (Anteby 2010); Märkte, in denen sich die Preise an Status oder Reputation orientieren, wie auf dem
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
Wein- oder dem Kunstmarkt (Beckert und Rössel 2004; Beckert et al. 2017); Märkte, an denen sich die Anbieter/innen nicht an den Konsument/innen orientieren, sondern vor allem an den anderen, konkurrierenden Anbieter/innen (White 1981), wie zum Beispiel auf dem Mode-Markt (Aspers 2010; Aspers und Godart 2013); oder Märkte, auf denen Produkte gehandelt werden, die moralische oder ethisch-religiöse Werte beinhalten, wie den Markt für fair gehandelten Kaffee (Koos 2016) oder das islamische Finanzwesen (Pitluck 2014). Was ich mit dieser – sicherlich noch unvollständigen Aufzählung – zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass es nicht den einen Markt oder die eine Vorstellung von Nachhaltigkeit gibt. Von beiden existieren vielfältige Konzepte und Interpretationen. Über definitorische Klärungen kommen wir der Sache also kaum näher. Wie also können wir dann die Frage beantworten, ob es sich bei nachhaltigen Finanzmärkten um ein Oxymoron handelt?
1.3 Unser theoretischer Rahmen: Institutionelle Logiken Der Neue Soziologische Institutionalismus (NI) hält mit seinen Grundannahmen Ansatzpunkte für eine differenziertere Sichtweise auf nachhaltige Finanzmärkte bereit (Greenwood et al. 2017; Hasse und Krücken 2005; Hasse und Krüger 2020; Powell und DiMaggio 1991; Senge 2011; Senge und Hellmann 2006; Walgenbach und Meyer 2008). Grundgedanke des NI ist es, und hier unterscheidet sich diese Theorie von klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen und Theorien, dass es nicht das alleinige Ziel von Organisationen ist, effizient zu wirtschaften oder als Unternehmen Profite zu erzielen. Ziel ist es vielmehr, das Überleben der Organisation zu sichern, doch dies gelingt nicht nur über Effizienz, sondern ebenso über Legitimation durch Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen. In diesem Zusammenhang spielen Institutionen eine entscheidende Rolle, in die diese Erwartungen in gewisser Weise eingeschrieben sind und die sich auch auf organisationaler Ebene, in den Strukturen der Organisation, abbilden (DiMaggio und Powell 1983; Meyer und Rowan 1977). Auf Basis dieser Grundannahmen aus den 1970er und 1980er Jahren hat sich insbesondere in den letzten Jahren eine hochdynamische und kaum noch überschaubare Weiterentwicklung des NI ihren Weg gebahnt und erinnert zuweilen an den Bau der Sagrada Familia in Barcelona. In diesem Buch fokussieren wir uns auf eine Teildebatte des NI – der zu institutionellen Logiken (Ocasio et al. 2017; Thornton und Ocasio 1999, 2008; Thornton 2012), um zu ergründen, wie sich Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zueinander verhalten. Greenwood et al. (2011, S. 318) definieren institutionelle Logiken wie folgt: Institutional logics are overarching sets of principles that prescribe how to interpret organizational reality, what constitutes appropriate behaviour, and how to succeed. Logics, in other words, provide guidelines on how to interpret and function in social situations. Organizations comply with logics in order to gain endorsement from important referent audiences and because logics provide a means of understanding the social world and thus for acting confidently within it.
1.3 Unser theoretischer Rahmen: Institutionelle Logiken
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Gemäß dieser Definition können institutionelle Logiken als Handlungsrationalitäten verstanden werden, denen individuelle oder organisationale Akteur/innen folgen. Institutionelle Logiken stellen Erwartungen dar, auf die Akteur/innen ihr Denken und Handeln beziehen, denen sie zugleich aber auch entsprechen wollen, um sich die notwendige Legitimation zu sichern. Die für das Forschungsprojekt zugrunde gelegte These lautet, dass bei nachhaltigen Märkten unterschiedliche, widersprüchliche, entgegengesetzte, sich ergänzende, sich überlagernde institutionelle Logiken aufeinandertreffen: die Logik der Nachhaltigkeit und die Logik des Marktes. Akteur/innen müssen mit den divergierenden Logiken, also den sich widersprechenden Handlungserwartungen, die an sie gestellt werden, umgehen, sich dazu verhalten und sie, soweit möglich, austarieren. Welche institutionelle Logik kennzeichnet den konventionellen Finanzmarkt und welche den nachhaltigen Finanzmarkt? Für eine erste annähernde Klärung an Finanzmärkte können wir die Überlegungen des Wirtschaftssoziologen Paul Windolf heranziehen, auch wenn er in seiner vielzitierten Forschung zu Finanzmärkten nicht die institutionellen Logiken als Theorierahmung nutzt. Windolf (2005, 2008) geht davon aus, dass sich auf den Finanzmärkten eine „neue Dienstklasse“ (Windolf 2008, S. 516) an Finanzspezialist/innen herausgebildet hat, die die institutionelle Logik konventioneller Finanzmärkte über verschiedene Transfermechanismen (Windolf 2005) in die Realwirtschaft hineinträgt. Zu dieser dominanten Klasse gehören zum Beispiel Finanzökonom/ innen und -jurist/innen, Analyst/innen, Fonds-Manager/innen oder Investment-Banker/ innen. Im Zentrum dieser neuen Konstellation von Akteur/innen stehen jedoch die institutionellen Investoren wie etwa Versicherungen oder Pensionsfonds, die durch das große Volumen des von ihnen verwalteten Anlagevermögens und die Konzentration des Eigentums über eine große Macht verfügen. Damit sind die institutionellen Investoren zu den wichtigsten Eigentümer/innen der großen Aktiengesellschaften avanciert: In den USA besaßen bereits im Jahr 2005 die 20 größten Fonds „im Durchschnitt 40 % des Aktienkapitals der 1000 größten US-Aktiengesellschaften“ (Windolf 2008, S. 518). Auch wenn jeder einzelne Fonds jeweils nur vergleichsweise geringe Anteile an einem Unternehmen hält, so können Fonds in der Summe aufgrund der Gleichgerichtetheit ihrer Interessen ihr Verhalten koordinieren und damit als „Kollektiv“ (Windolf 2008, S. 518) die Unternehmen beeinflussen. Untereinander stehen die institutionellen Investoren in einer „atomistischen“ Konkurrenz (Windolf 2005, S. 35) zueinander. Jeder einzelne Fonds versucht durch über dem Marktdurchschnitt liegende Versprechungen neue Anleger/innen zu werben und überdurchschnittliche Renditen zu erzielen. Damit wird der Wettbewerb fortwährend verschärft. Unter diesen Bedingungen, bei denen alle Akteur/innen den Markt ‚schlagen‘ und den Marktdurchschnitt überbieten wollen, wächst der Maßstab, an dem die institutionellen Investoren gemessen werden, von Jahr zu Jahr – mit stetig steigendem Risiko der Investition. Dies geht einher mit sehr kurzfristigen Anlagehorizonten, in der Regel nicht länger als ein Jahr, da sich mit zunehmender Dauer das Risiko mehr und mehr in statistisch nicht mehr berechenbare Unsicherheit verwandelt (Windolf 2008, S. 526 f.). Empirisch zeigt sich die Kurzfristigkeit der Investor/innenperspektive
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
b eispielsweise in einer seit Jahren kontinuierlich wachsenden Umschlaghäufigkeit von Aktien an der New York Stock Exchange. Während ein Investmentfonds seine Anteile im Jahr 1960 noch durchschnittlich mehr als acht Jahre lang hielt, ist es heute weniger als ein Jahr (Windolf 2008, S. 527). Die vielfach kritisierte Tendenz zur Kurzfristigkeit ist damit eine rationale Reaktion auf die mit der steigenden Umschlaghäufigkeit einhergehenden wachsenden Volatilität der Märkte. Das entsprechende Pendant auf Unternehmensebene sind Quartalsberichte, in denen Unternehmen alle drei Monate über ihre finanzielle Performance Rechenschaft ablegen. Doch es sind nicht nur Quartalsberichte, über die die institutionelle Logik der konventionellen Finanzmärkte in Unternehmen und die Realwirtschaft hineingetragen wird. Die Implementierung einer generellen Shareholder-Value-Orientierung; die Steuerung des Unternehmensmanagements über – rein finanzielle – Kennziffernsysteme und Zielvereinbarungen; die Disziplinierung des Managements über den Markt für Unternehmenskontrolle; oder die Kopplung der Interessen von Investor/innen und Management über Aktienoptionen: Sie alle gehören zu den Transfermechanismen, die disziplinierend auf die Akteur/innen in der Realwirtschaft wirken, im Interesse der institutionellen Investoren zu agieren. „Die prinzipiell neue Konstellation im Finanzmarkt-Kapitalismus ist darin zu sehen, dass die operatorische Logik der Aktienmärkte unmittelbarer auf die Strategien und internen Kontrollstrukturen der Unternehmen einwirkt“ (Windolf 2005, S. 52). In der Realwirtschaft wird es so zu einem rationalen Ziel, möglichst viele Kosten zu externalisieren. Die institutionelle Logik des konventionellen Finanzmarkts, insbesondere der starke Renditedruck, lässt kaum Raum für die Berücksichtigung sozialer oder ökologischer Faktoren, zumindest dann nicht, wenn sie mit Kosten einhergehen, die sich nicht schnellstmöglich wieder amortisieren. Welche Auswirkungen dies auf Mensch und Natur, auf Beschäftigte und die Umwelt hat, lässt sich am besten an den Produktionsstätten globaler Konzerne in sich entwickelnden Ländern wie Bangladesch, Vietnam oder Kambodscha beobachten. Überspitzt formuliert sind abbrennende oder einstürzende Textilfabriken in der Dritten Welt die Kehrseite hochrationaler und effizienter Finanzmärkte. Hier profitieren Märkte auch davon, dass die (Markt-)Grenze zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘ in vielen Ländern fast beliebig gezogen werden kann. Globale Konzerne holen Human- oder Umwelt-Ressourcen aufgrund ihrer beeindruckenden Macht (nicht nur ihrer Marktmacht, vgl. Davis 2009) teilweise zu Dumpingpreisen ‚von außen‘ in den Markt, verarbeiten sie innerhalb des Marktes effizient weiter und erwirtschaften teilweise phantastische Gewinne, verweisen aber die Probleme, die bei der Herstellung für Mensch und Umwelt entstehen, anschließend wieder ‚nach außen‘, wo sie von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen getragen werden. Diese Externalisierung von Kosten, die fast zwangsläufig aus der institutionellen Logik konventioneller Finanzmärkte dieser Spielart resultiert, ist nicht auf Entwicklungsländer beschränkt, wie wir alle in der letzten Finanzkrise leidvoll feststellen mussten (Lessenich 2016). Auch hierzulande war zu
1.3 Unser theoretischer Rahmen: Institutionelle Logiken
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beobachten, wie vor der Krise immense Profite privatisiert wurden, denen nach der Krise gigantische Kosten gegenüberstanden, die fast allesamt sozialisiert wurden, das heißt, vor allem von Menschen getragen wurden, die sich am Spiel im globalen Kasino gar nicht beteiligt haben oder hätten beteiligen können. Vielleicht ist dies ein besonderes Beispiel, keineswegs aber ein Einzelfall. Märkte funktionieren also auch deshalb in vielen Fällen so beeindruckend effizient, weil sie sich ‚von außen‘ zu Vorzugspreisen bedienen können. Würden Märkte ihre Kosten nicht weiter nach außen externalisieren, sondern vollständig internalisieren und ihren Marktteilnehmer/innen in Rechnung stellen, dann würden zahlreiche Märkte schlicht und ergreifend zusammenbrechen, da sich Produktion und Verkauf von Gütern nicht mehr rechnen würden. Die Preise würden dann die tatsächlichen Kosten widerspiegeln (Engelsman und Geier 2018). Die institutionelle Logik eines nachhaltigen Finanzmarkts scheint sich in einem ersten Zugriff auf die Thematik deutlich von der gerade skizzierten institutionellen Logik eines konventionellen Finanzmarktgeschehens zu unterscheiden (Hiß 2012). Beim nachhaltigen Finanzmarkt handelt es sich um eine noch relativ junge Nische innerhalb des Finanzmarkts (Hiß 2011; Hiß et al. 2017).3 Dies bringt es mit sich, dass die institutionellen Regeln des Finanzmarkts bereits existierten, bevor nachhaltige Akteur/ innen den Finanzmarkt überhaupt betreten konnten. Um Zugang zu erhalten, mussten sie sich selbstverständlich diesem Regelwerk ebenfalls unterwerfen. Während die institutionelle Logik des konventionellen Finanzmarkts also völlig unabhängig vom nachhaltigen Finanzmarkt operieren kann, stößt der nachhaltige Finanzmarkt umgekehrt an Grenzen, die durch den konventionellen Finanzmarkt gesetzt werden. Beispielsweise sind nachhaltige Banken genauso dem Bankenrecht, etwa Basel III, unterworfen wie konventionelle Banken oder haben sich nachhaltige Investor/innen genauso an das Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften zu halten wie konventionelle Investor/innen. Für nachhaltige Finanzmarktakteur/innen bedeutet dies, dass sie die institutionelle Logik des konventionellen Finanzmarkts stets mitberücksichtigen müssen, und damit eine Gegenüberstellung zwischen einer konventionellen und einer nachhaltigen Logik innerhalb dieses einen Handlungsrahmens immer ein wenig hinkt. Nichtsdestotrotz möchte ich einige Punkte hervorheben, bei denen sich die institutionelle Logik des nachhaltigen Finanzmarkts von der des konventionellen Finanzmarkts unterscheidet; und bei denen nachhaltige Akteur/innen – trotz aller Zwänge – einen Kontrapunkt setzen (siehe ausführlicher dazu Hiß 2012). Dazu gehört in erster Linie, dass für viele nachhaltige Akteur/innen Profitmaximierung nicht das alleinige oder übergeordnete Ziel ist. Durch die sogenannte zweite oder doppelte Dividende im sozialen oder ökologischen Bereich, die sie durch ihr Investment erzielen oder wenigstens zu erzielen hoffen, sind sie offenbar bereit, bei der finanziellen Rendite Abstriche hinzunehmen. Die Sparer/innen bei der GLS-Bank, einer der größten
3Vgl.
dazu auch den Beitrag von Hiß in diesem Band.
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
deutschen auf Nachhaltigkeit spezialisierten Banken, konnten zu Zeiten, als es noch Zinsen auf Spareinlagen gab, auf diese freiwillig verzichten. Institutionellen Investoren setzt hier die konventionelle Finanzmarktlogik zumeist Grenzen, da sie als Treuhänder verpflichtet sind, das finanzielle Maximum für diejenigen herauszuholen, für die sie Geld verwalten. Wenn der Eindruck entsteht, dass die Berücksichtigung nachhaltiger Anlagekriterien diesen treuhänderischen Auftrag infrage stellt, hat die Nachhaltigkeit das Nachsehen. Ob oder inwieweit nachhaltige Investments weniger Rendite abwerfen als konventionelle Anlagen, war lange eine in Wissenschaft und Praxis heftig diskutierte Frage. In den letzten Jahren verdichten sich aber mehr und mehr die Anzeichen, dass nachhaltige Anlagen mindestens ebenso rentabel sind wie konventionelle (Friede et al. 2015; Kleine et al. 2013). Durch den als geringer empfundenen Renditedruck können sich nachhaltige Investor/innen längerfristige Anlagehorizonte erlauben und ziehen ihr Geld auch in Zeiten von Finanzkrisen nicht so schnell wieder ab wie konventionelle Akteur/innen. Zudem können sie auf hochriskante Anlagestrategien verzichten und Spekulationen mittels hochkomplexer Finanzprodukte, zum Beispiel in mehrfach abgeleiteten Derivaten, vermeiden. Ein weiterer entscheidender Unterschied besteht in der zusätzlichen Berücksichtigung nicht-finanzieller Kriterien bei der Investitionsentscheidung. Neben rein finanziellen Faktoren werden hier auch soziale, ökologische, ethische oder Corporate-Governance-Indikatoren und -Risiken mit in den Blick genommen. Das ‚magische‘ Dreieck der klassischen Vermögensanlage – Sicherheit, Rentabilität und Liquidität – wird hier um eine vierte Dimension ergänzt: Inhaltliche Wertschöpfung. Darüber gelangen ethische Werte und Normen mit auf den Finanzmarkt. Ziel dieser Inrechnungstellung nicht-finanzieller Faktoren ist es, einen Beitrag zur Internalisierung externer Kosten zu leisten. Indem Unternehmen oder Staaten Investitionsmittel verweigert werden oder deren Gewährung an Bedingungen geknüpft wird, werden Anreize für eine Internalisierung von Kosten gesetzt. Konkret sieht dies so aus, dass einige Investor/innen zum Beispiel ihr Geld aus Unternehmen abziehen, wenn diese dauerhaft gegen bestimmte Klima-, Umwelt-, Menschenrechts- oder Arbeitsschutzvorgaben verstoßen. Nachhaltiges Investieren stellt sich insofern als eine Alternative innerhalb des Finanzsystems dar,4 da es in weiten Teilen anderen Rationalitäten und Logiken folgt, als sie auf dem konventionellen Finanzmarkt dominieren. Während auf dem konventionellen Finanzmarkt hoher Renditedruck, kurzfristige Anlagehorizonte oder eine Fokussierung
4Vgl.
zum nachhaltigen Finanzmarkt u. a.: Bettignies und Lépineux (2009); Faust und Scholz (2008); Fung et al. (2010); Gabriel (2007); Gabriel und Schlagnitweit (2009); Kessler und Schneeweiß (2010); Louche und Lydenberg (2011); Scherhorn (2007); Sullivan und Mackenzie (2006); Ulshöfer und Bonnet (2009).
1.4 Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts
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auf finanzielle Kennzahlen vorherrschen,5 zeichnet sich das nachhaltige Investieren durch eine Logik aus, bei der die Berücksichtigung (auch) nicht-finanzieller, das heißt sozialer, ökologischer oder ethischer, Kriterien im Mittelpunkt steht und Rendite nicht oberstes Gebot ist. Im vorliegenden Buch sind wir von diesem Ausgangspunkt zweier konfligierender Logiken gestartet. Aufbauend auf den Neuen Soziologischen Institutionalismus und anknüpfend an die Theorie institutioneller Logiken haben wir uns die Frage gestellt, wie sich diese Logiken in der Praxis zeigen und was bei ihrem Aufeinandertreffen zu beobachten ist. Oder anders formuliert: Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei den skizzierten Logiken nur um Idealtypen handelt – welche Varianten von Kombinationen aus Nachhaltigkeit und Finanzmarkt sind dann real zu beobachten? Bilden sich hybride Logiken heraus (Battilana et al. 2017; Battilana und Dorado 2010; Battilana und Lee 2014), wird eine Logik von der anderen kolonisiert, wie es für das Beispiel Microfinance beschrieben worden ist (Mader 2015) oder können beide konfligierenden Logiken nebeneinander bestehen bleiben, ohne sich merklich zu beeinflussen? Welche weiteren institutionellen Logiken, etwa die der Religion oder des Staates (Thornton et al. 2012), spielen noch in das Segment des nachhaltigen Finanzmarkts mit hinein? Und wie verändert die Nachhaltigkeit auch den Finanzmarkt selbst –wird er krisenanfälliger oder resilienter? Obgleich uns alle Fragen im Projekt beschäftigt haben, möchte ich im Folgenden zunächst das Augenmerk auf diesen letztgenannten Aspekt der Resilienz lenken.
1.4 Resilienz beziehungsweise Stabilität des Finanzmarkts Unter dem Eindruck der großen Finanzkrise um das Jahr 2008 hat die ‚doppelte Dividende‘ nachhaltigen Investierens eine weitere Bedeutungsaufladung erhalten. Bis dato war dem nachhaltigen Investieren lediglich nachgesagt worden, nicht nur eine positive finanzielle Rendite zu generieren, sondern durch Investitionen in Soziales und Ökologisches auch noch eine ‚grüne‘ oder ‚soziale Dividende‘ zu erzielen. Nun wurde offensichtlich, dass das nachhaltige Investieren auch relativ unbeschadet durch die Finanzkrise und ihre Folgen gekommen war. Zeigte sich hier eine weitere Facette der ‚doppelten Dividende‘? Ist das nachhaltige Investieren nicht bloß für den Geldbeutel und das Gewissen gut – stabilisiert es vielleicht sogar noch den Finanzmarkt? Neben der Frage nach der Ausgestaltung der Nachhaltigkeitslogik wurde diese Frage
5Vgl.
zum konventionellen Finanzmarkt auch: Deutschmann (2005); Deutschmann (2008); Engels und Knoll (2012); Kädtler (2009); Kädtler (2010); Kalthoff und Vormbusch (2012); Knorr-Cetina und Preda (2012); Knorr Cetina und Preda (2005); Kraemer und Nessel (2012).
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
nach Stabilisierung beziehungsweise Resilienz die zweite forschungsleitende Frage in unserem Projekt. Doch werfen wir zunächst noch einmal einen Blick zurück auf die Zeit der damaligen Finanzkrise. Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 (Swedberg 2010, 2013) erlebte die damalige Finanzkrise einen ihrer Höhepunkte. Dieses Ereignis markiert zugleich das vorläufige Ende einer bis dahin über 70-jährigen gleichsam unhinterfragten Erfolgsgeschichte, die die Finanzmärkte nach der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren geschrieben hatten. Spätestens mit der Auflösung des B retton-Woods-Systems 1973 und einer umfassenden Liberalisierungswelle des Kapitalverkehrs seit den 1970er Jahren (Helleiner 1994; Lütz 2002) erwuchsen die Finanzmärkte zu Gravitationszentren und zum Leitbild wirtschaftlichen Handelns. Kurzfristigkeit, Profitmaximierung und Risikobereitschaft waren die prägenden Elemente der Logik des Finanzmarkts. Steigende Unsicherheiten und kumulierende Risikobilanzen wurden ausgeblendet; der Mythos, dass die Risiken beim Verleih und (Ver-)Kauf von Geld beherrschbar seien, etablierte sich als eine Art gesellschaftliche Fiktion. Erst mit dem Ausbruch der Subprime-Krise im Jahr 2007 (Carruthers 2010; Fligstein und Goldstein 2010; Helleiner 2011; Rona-Tas und Hiß 2010) begann die Entzauberung dieses Mythos. Plötzlich war die Rede vom ‚Kasino-Kapitalismus‘ (Sinn 2009) oder vom durch die Finanzkrise ausgelösten ‚freien Fall‘ (Stiglitz 2011) der Weltwirtschaft. Zur Überwindung der Krise und zur künftigen Prävention kamen alsbald Forderungen nach politischer Intervention und regulatorischer Aufsicht auf. Die Funktionsfähigkeit und der Erfolg dieser Regulierung haben sich seitdem jedoch eher als fraglich erwiesen (Giegold et al. 2016; Helleiner et al. 2010; Mayntz 2010, 2012); das zuvor stabile Vertrauen in ihre langfristig stabilisierende Wirkung wurde weiter untergraben. Auf der Suche nach stabilisierenden Elementen der Finanzmärkte jenseits von Regulierung fallen jene Finanzmarktakteur/innen auf, die sich dieser anderen, nachhaltigen Logik verschrieben haben. Es scheint offensichtlich, dass die Einbringung dieser neuen Logik auch Auswirkungen auf das Finanzsystem nach sich ziehen könnte. Die Beobachtung, dass bestimmte Akteur/innen auf dem Finanzmarkt einer anderen Logik folgen als andere, sagt zunächst aber noch nichts darüber aus, welche Auswirkungen diese Logik auf das Finanzsystem zeitigt. Wenn nachhaltige Logik bedeutet, dass soziale und ökologische Kriterien über allem stehen und darüber eine finanzielle Risikoprüfung aus dem Blick gerät, kann dies die Stabilität des Finanzsystems sehr wohl gefährden (Pinski 2007); und ein Ausgleich der teils widerstrebenden Zielsetzungen ist nicht immer trivial. Eine einfache Antwort gespeist aus dem häufig anzutreffenden normativ aufgeladenen Duktus, dass alles was nachhaltig ist, schon per se moralisch überlegen und sicherlich für alles andere auch gut sei, würde also der hier vorliegenden Komplexität nicht ausreichend Rechnung tragen. Wir bedienen uns einer primär wirtschaftssoziologischen Herangehensweise, die nicht versucht, den Einfluss nachhaltigen Investierens auf Finanzmarktstabilität im engeren Sinn zu messen oder zu quantifizieren. Stattdessen stehen die qualitative
1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘
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Beschreibung, Rekonstruktion und damit das Verstehen sowie das Erklären einer nachhaltigen Logik und ihrer Auswirkungen auf den Finanzmarkt im Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses. Wir wollen die Unterschiede zwischen einem konventionellen und einem nachhaltigen Finanzmarkthandeln analysieren, um darauf aufbauend etwaige Auswirkungen auf den Finanzmarkt beleuchten zu können. Im Vordergrund steht die qualitative Beschreibung von Handlungslogiken konventionellen und nachhaltigen Investierens. Mit unseren Beobachtungen und Analysen in diesem Band unternehmen wir eine qualitativ-soziologische Annäherung an den von uns als solchen charakterisierten Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘. Wir wollen diesen Raum systematisch ausleuchten und ergründen, warum welche Themen für den Finanzmarkt überhaupt relevant werden, um darüber auch Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage zu bekommen, ob und inwieweit Nachhaltigkeit den Finanzmarkt resilienter oder stabiler machen könnte (zur Unterscheidung der Konzepte Stabilität und Resilienz siehe auch den Beitrag von Nagel).
1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘ Auf dem nachhaltigen Finanzmarkt und beim nachhaltigen Investieren werden andere Produkte und Strategien verwendet als am konventionellen Finanzmarkt. Mit unserer Empirie versuchen wir, die diskursiven Hintergründe hinter diesen Produkten und Strategien zu identifizieren. Uns interessiert dabei insbesondere das Reflektieren über die Nachhaltigkeit am Finanzmarkt. Insofern verstehen wir das nachhaltige Investieren nicht nur als ein Finanzmarktsegment, in dem ‚anders‘ agiert wird. Vielmehr steht für uns die Tatsache im Vordergrund, dass durch diese ‚anderen‘ Mechanismen eine Reflexion ermöglicht wird. Es sind nicht die realen, vergleichsweise kleinen Finanzströme, die für uns die Wirkung des nachhaltigen Finanzmarkts ausmachen. Es ist der dadurch aufgespannte Reflexionsraum. Wir verstehen das Finanzmarktsegment des nachhaltigen Investierens als Teil eines Reflexionsraums, in dem der Finanzmarkt, beziehungsweise über den Finanzmarkt und sein Verhältnis zur Gesellschaft, reflektiert wird. Der Reflexionsraum ist kein realer Ort mit einer eindeutigen Adresse; er ist ein metaphorischer Ort, der die Debatten und Diskurse rund um die Nachhaltigkeit des Finanzmarkts ermöglicht. In diesem Reflexionsraum wird diskutiert und kritisiert. Gegner/innen werden aufgefordert, sich zu rechtfertigen, warum sie der Nachhaltigkeit keine Beachtung schenken; oder Städte, die den Klimanotstand ausrufen, müssen sich kritische Fragen nach der Anlage ihrer Pensionsrückstellung in klimaschädlichen Produkten gefallen lassen. Mit unseren empirischen Untersuchungen durchleuchten wir die verschiedenen Debatten darüber, wie denn der Finanzmarkt aussehen und wie ein nachhaltiger Finanzmarkt gestaltet sein sollte. Was unter N achhaltigkeit
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
genau zu verstehen ist und wie dies Eingang in den Finanzmarkt finden kann, darüber gehen die Ansichten weit auseinander. Sie füllen inhaltlich den Reflexionsraum aus. Und das macht es unserer Meinung nach so wichtig und wertvoll, mit dem Blick der qualitativen Sozialforschung den Dynamiken institutionellen Wandels, die sich in diesem Reflexionsraum entfalten, auf die Spur zu kommen.
1.5.1 Was passiert im Reflexionsraum? Im Reflexionsraum wird der Finanzmarkt, beziehungsweise über den Finanzmarkt, reflektiert, das heißt, ihm wird von den verschiedensten Akteur/innen der Spiegel vorgehalten – über destabilisierende Praktiken, problematische Produkte, oder über sein Verhältnis zur Gesellschaft. Es wird ernsthaft nachgedacht, leidenschaftlich theoretisiert, lebhaft debattiert, betont ignoriert und hitzig kritisiert. Es ist auch der Ort des offenen Austauschs, in dem überzeugte Finanzmarkt-Insider auf ebenso (aber eben ‚andersherum‘ überzeugte) Outsider treffen, oder Expert/innen auf Laien – und damit auch ein Ort des voneinander Lernens. Zudem ist der Reflexionsraum zum einen dafür da, Neuerungen und Innovationen durchzuspielen, zu testen, auszuprobieren und gegebenenfalls sogar umzusetzen, beispielsweise wenn neue Initiativen zur Offenlegung von nicht-finanziellen Informationen angestoßen werden, die es dann nach ein paar Jahren in den Gesetzesrang schaffen. Zum anderen ermöglichen Innovationen am Finanzmarkt die Reflexion über bisher unhinterfragte Vorgehensweisen. Schließlich ist der Reflexionsraum auch ein Raum der Auseinandersetzung und des Ringens, um die ‚richtige‘ oder ‚angemessene‘ Art und Weise des Investierens und Wirtschaftens, und damit letztlich auch ein Raum, in dem mitunter heftig um Deutungsmacht gekämpft wird.
1.5.2 Wer reflektiert? Der Reflexionsraum ist in den letzten Jahren offener, bunter und diverser geworden. Über lange Zeit, und insbesondere bis vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008, waren die Foren zur Reflexion über den Finanzmarkt eher klein und exklusiv; waren – so die Kritiker/innen – bevölkert von ‚Überzeugten‘, viele andere wurden kaum zur Kenntnis genommen (vgl. dazu auch Hiß 2010). Auch wenn heute im Prinzip alle ihre Meinungen einbringen können, werden nicht alle im gleichen Maß gehört. Bestimmte Sichtweisen dominieren oder entfalten besondere (politische) Wirkungen. Das Ziel unserer empirischen Erhebungen ist es, die unterschiedlichen Deutungen, Rahmungen und Erzählungen sichtbar zu machen und vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts der institutionellen Logiken zu analysieren (siehe den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß). Die kontinuierliche Verbreitung des Nachhaltigkeits-Leitbilds, die Zunahme des nachhaltigen Investierens und die De-Legitimierung des Finanzmarkts durch das Krisengeschehen haben nach und nach den Raum für Reflexion erweitert. Heute ist der
1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘
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Reflexionsraum nach wie vor von vielen Finanzmarkt-Insidern bevölkert, darunter auch so manche kritischen Geister. Es sind aber auch Außenstehende aus Wissenschaft, Politik oder Zivilgesellschaft mit hinzugekommen (Nagel et al. 2016). Über den engen Kreis der Finanzmarktakteur/innen hinaus ist es damit noch weiteren gesellschaftspolitischen Akteur/innen möglich geworden, bei der Frage um die Zukunft des Finanzmarkts mitzureden, ihre Stimme zu erheben und sich Gehör zu verschaffen (siehe dazu auch den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß zur Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung).
1.5.3 Über was wird reflektiert? Die Mehrzahl dieser Akteur/innen, insbesondere die von außen kommenden, sind (mehr oder weniger stark) daran interessiert, den Finanzmarkt besser zu verstehen und kennenzulernen, ihn kritisch zu hinterfragen, neue Möglichkeiten nachhaltiger Finanzierung mit ins Spiel zu bringen und auszuloten, wie das Zusammenspiel von Finanzmarkt und Gesellschaft neu justiert werden kann. Viele teilen die Absicht, den durch Krisen geschüttelten und de-legitimierten Finanzmarkt durch diese Neujustierung wieder zu festigen (Krisen gehen schließlich immer zulasten von Mensch und Umwelt), und die Hauptzielrichtung des Systems ein Stück weit vom alleinigen Fokus auf Effizienz und Profitmaximierung wegzubringen und einer stärkeren Berücksichtigung und Integration von (weiteren) sozialen, ökologischen und ethischen Faktoren zuzuleiten; bis hin zur Offenheit gegenüber Debatten einer radikaleren systemischen Transformation der Finanzwirtschaft mit (implizit) kapitalismuskritischen Ideen. Im Reflexionsraum wird zur Diskussion gestellt, welche Rolle der Finanzmarkt im Gesamtgefüge der Gesellschaft spielen soll: Was ist sein Ziel, seine Funktion, seine Aufgabe, sein Sinn? Damit werden an diesem Ort auch die ‚großen‘ Fragen verhandelt, die das System an sich betreffen. Manche beantworten dies beispielsweise mit dem Wunsch nach einem Zurück zu einer Idee, die den Finanzmarkt in den Diensten der Realwirtschaft und damit als Diener des Menschen versteht. Für andere ist der Finanzmarkt ein Medium, um nachhaltige Themen wie Klimaschutz, Soziales und Ethik durchzusetzen – wenn schon, so eine weitgehend geteilte Meinung in diesen Kreisen, die Politik hier nicht ausreichend vorankommt. Wieder andere möchten den Finanzmarkt so bewahren, wie er aus den Lehrbüchern bekannt ist: als effizienten Mechanismus zur Allokation von Kapital mit einer klaren Trennung der Zuständigkeiten von Markt und Staat. Der effizient erwirtschaftete Profit könne dann immer noch über Regulierung, etwa durch Steuern, nicht-finanziellen Wertvorstellungen, wie etwa der Nachhaltigkeit, zugeführt werden. Die Reflexion über die Rolle von Nachhaltigkeit am Finanzmarkt ist somit untrennbar verbunden mit unserem besonderen Fokus auf Resilienz: Auf der einen Seite wird an das nachhaltige Finanzieren der Anspruch formuliert, die soziale, ökologische oder ethische Wirkung auf die Gesellschaft als nicht-finanzielle Kriterien den finanziellen hinzuzugesellen. Auf der anderen Seite ist es der genuine Gedanke der Nachhaltigkeit,
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für Generationengerechtigkeit zu sorgen, die gerade durch einen resilienteren Finanzmarkt leichter zu bewerkstelligen wäre. Eine Altersvorsorge hilft nur dann weiter, wenn sie sich nicht in einer Finanzkrise auflöst, ganz ungeachtet ihrer nachhaltigen oder konventionellen Anlagekriterien. Wir deuten hier also nur an, wie komplex und vielfältig die Bezüge zwischen Nachhaltigkeit, Finanzmarkt und einem resilienten Finanzmarkt sein können.
1.5.4 An welchen Untersuchungsfeldern analysieren wir den Reflexionsraum? Wir haben drei zentrale Fokusse innerhalb des nachhaltigen Investierens ausgewählt, um den Reflexionsraum qualitativ-empirisch zu untersuchen: das Bankwesen, die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und die nicht-finanzielle Berichterstattung (sowie ergänzend betrachtet die nachhaltige Altersvorsorge). Zu dieser Auswahl haben uns die folgenden Überlegungen getragen. Mit den Banken als Organisationstyp haben wir eine zentrale Akteurin im deutschen Finanzsystem ausgewählt. Deutschland galt lange Zeit als traditionell bankbasiertes im Gegensatz zum angelsächsischen marktbasierten Finanzsystem. Wir finden inzwischen eine Hybridisierung der Systeme vor, und dennoch prägen Banken bis heute etwa den ebenfalls für Deutschland typischen industriellen Mittelstand mit seinen besonderen Finanzierungsbedarfen (Krahnen und Schmidt 2003; Lütz 2005, 2017; Vitols 1998, 2004). Zudem liegen die Ursprünge des nachhaltigen Investierens in Deutschland mit der Ökobank und später der GLS-Bank im Bankenbereich (Brockemühl und Kerler 1985; Förster 1997; Huber und Schwendter 1988). Mit dem Fossil-Fuel-Divestment haben wir eine aktuelle soziale Bewegung in den Blick genommen, die in Deutschland erst vor ein paar Jahren und damit im internationalen Vergleich relativ spät in Erscheinung getreten ist. Sie hat ihre Ursprünge in den USA und sich von dort ausgehend als internationale Bewegung verbreitet. Öffentliche und private institutionelle Investor/innen, Vermögensverwalter/innen und Aktieninhaber/innen werden dabei zum De-Investieren aus fossilen Energien aufgefordert. Mit der nicht-finanziellen Berichterstattung lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf die Schnittstelle von Finanzmarkt und Unternehmen und die Frage, wie Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsleistung an den Finanzmarkt und die Gesellschaft kommunizieren. Wir begreifen diese Berichterstattung als eine Informationsinfrastruktur für Nachhaltigkeit. Mit der nachhaltigen Altersvorsorge haben wir schließlich anhand eines exemplarischen Einblicks auf der Basis von Sekundärdaten und in geringerem Umfang zudem auch Finanzprodukte (etwa Fonds) aus dem nachhaltigen Investieren analysiert. Unsere Auswahl begründet sich in dem Wunsch, im Rahmen des Projekts möglichst unterschiedliche Fälle zu untersuchen, um den Reflexionsraum breit zu erfassen. Gleichwohl erhebt diese Auswahl nicht den Anspruch, den Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘ damit auch nur annähernd vollständig zu erfassen.
1.5 Unser Ansatz: Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘
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1.5.5 Mit welchen Methoden analysieren wir den Reflexionsraum? Wir nähern uns in diesem Buch dem beschriebenen Reflexionsraum mit Instrumenten aus der qualitativen Sozialforschung. Konkret setzen wir bei unserer Untersuchung vor allem folgende qualitative Methoden ein, um den theoretischen Rahmen der institutionellen Logiken auch auf empirischer Ebene auszufüllen: Deutungsmuster-, Frame- und Narrationsanalyse. Dafür identifizieren wir zuerst in Rekursion auf institutionelle Logiken die Makro-Logik der Nachhaltigkeit im Spannungsfeld zu anderen Logiken und in ihrem Niederschlag auf empirisch zu beobachtende Feldebenen. Darauf aufbauend rekonstruieren wir verschiedene Deutungsmuster im Feld der Banken, analysieren Frames beziehungsweise Rahmungen der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und machen vorherrschende Narrative beziehungsweise Erzählungen im Bereich der nicht-finanziellen Berichterstattung von Nachhaltigkeit sichtbar. Insgesamt wurden im Projekt 90 Interviews und vier Fokusgruppendiskussionen geführt (für eine ausführliche Darstellung unserer methodischen Herangehensweise siehe den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß). Zu Beginn der empirischen Phase des Projekts haben wir im Mai 2016 einen Workshop „Divestment – (Mit) Geld bewegen? Bestandsaufnahme einer sozialen Bewegung“ mit im deutschen Kontext sichtbaren Aktivist/innen, Praktiker/innen und Expert/innen klimabezogenen Divestments und nachhaltigen (Re-)Investierens in Berlin organisiert. Trotz dieser thematischen Fokussierung auf ein Teilprojekt ebnete uns dieser Workshop auch den Zugang zu Praktiker/innen für die beiden anderen Teilprojekte und eröffnete eine Vielzahl an Interviews im Nachgang. Als Teil des Workshops haben wir zudem vier Fokusgruppendiskussionen organisiert (siehe dazu den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß). Für das Teilprojekt Banken waren Deutungsmuster die zentrale Herangehensweise. Unter Deutungsmustern verstehen wir kollektive Sinngehalte, die normative Geltungskraft besitzen und über verfestigte rein subjektive Deutungen hinausgehen. Durch die gemeinsame Suche nach (Orientierungs-)Mustern im Diskurs der interviewten Vertreter/ innen aus Banken verhilft die Deutungsmusteranalyse in unserem Fall dazu, die von den interviewten Akteur/innen gemeinsam geteilten Bezugsprobleme zu identifizieren. Empirische Basis sind 18 Interviews, die mit Vertreter/innen von 18 Banken aus allen drei Säulen (Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken sowie Sparkassen und Landesbanken) geführt wurden (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß). Zur Vertiefung wurden zudem 10 biografisch-narrative Interviews geführt, um Erkenntnisse zu Treibern und Hemmnissen zu erlangen (siehe dazu den Beitrag von Griese in diesem Band und die Dissertationsschrift von Griese (2020)). Für das Teilprojekt Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung war die Framing-Analyse die zentrale Herangehensweise. Für die Frames rekurrieren wir auf Basis von 20 qualitativen Interviews und vier Fokusgruppen auf die von Benford und Snow (2000) eingeführte Deutungsarbeit (framing work) sozialer Bewegungen. Sie unterscheiden auf analytischer
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Ebene die diagnostische, prognostische und motivationale Rahmung. Soziale Bewegungen sind demnach dann wirksam, wenn ihnen eine gemeinsame Problemdiagnose gelingt, sie Problemlösungen prognostizieren und zudem eine Beteiligungsmotivation erwirken. Für die Untersuchung sozialer Bewegungen konzeptualisieren Frames, auf welche Weise bestimmten Ereignissen und Anliegen Bedeutung zugewiesen werden, um Sinn und Legitimität für kollektives Handeln bereitzustellen und letztlich eine soziale Bewegung zu mobilisieren (Snow et al. 1986; siehe dazu den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß in diesem Band). Für das Teilprojekt der nicht-finanziellen Berichterstattung wurden Narrative herausgearbeitet. Diese Rekonstruktion von Narrativen zum Thema der nicht-finanziellen Berichterstattung eröffnet uns die Möglichkeit, die von den Interviewten im Feld konstruierte soziale Welt zu rekonstruieren und die dahinterliegenden latenten Sinnzusammenhänge zu identifizieren. Diese geben Aufschluss über die von den Individuen unhinterfragt genutzten Denkmuster, die deren soziales Handeln maßgeblich prägen und damit unternehmerische Aktivitäten bestimmen. Wir nutzen dabei die Rekonstruktion von Narrativen als „erzähltheoretisch fundiert[e]“ Analysemethode (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 223). Auf der Basis von 38 qualitativen, problemzentrierten, diskursiven Interviews wurden die im Feld vorhandenen Narrative mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse rekonstruiert und herausgearbeitet, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft (neu) zu verhandeln (siehe dazu den Beitrag von Woschnack). Tab. 1.1 gibt einen Überblick über die im Reflexionsraum Nachhaltigkeit untersuchten Teilprojekte. Diese methodische Auseinandersetzung mit unserem Untersuchungsgegenstand bündeln wir zudem in einem eigenen Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß, der zwei Ziele verfolgt: Zum einen wird unser Konzept der Makro-Nachhaltigkeitslogik eingeführt, vorgestellt und erläutert. Zum anderen werden wir unsere methodischen Herangehensweisen darstellen, erklären und vergleichend diskutieren sowie die gewählten Forschungsansätze systematisieren und ihre Reichweiten und Grenzen ausloten. Damit möchten wir auch einen Beitrag zur Methodendiskussion liefern (siehe dazu auch die illustrierende Abbildung zum Vergleich der von uns verwendeten Methoden im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß).
1.6 Unsere empirischen Ergebnisse In den nachfolgenden Kapiteln will ich ausgewählte, zentrale empirische Ergebnisse in den drei Teilprojekten zu Banken, zum Divestment und zur nicht-finanziellen Berichterstattung ausführen, die zur eingehenden Lektüre der detaillierten Darlegung aller Ergebnisse in den entsprechenden Kapiteln des Buches anregen sollen. Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich an den zwei für unser Projekt leitenden Fragestellungen. Zum einen: ‚Wie gestaltet sich die Nachhaltigkeitslogik auf dem Finanzmarkt aus?‘ und zum anderen: ‚Wie verhält sich die N achhaltigkeitslogik
Insider und Outsider, institutionelle Investoren (private und öffentliche, z. B. Versicherungen, Stiftungen, Versorgungswerke), NGOs, Klimaaktivist/innen, Städte, etc.
Gruppen, die sich an der Standardsetzung bzw. -entwicklung beteiligen Akteur/innen, die das Feld von Unternehmen und die Schnittstelle zur Gesellschaft abbilden und die entwickelten Richtlinien bzw. Standards in der unternehmerischen Praxis umsetzen (und für diese interpretieren)
Nicht-finanzielle Berichterstattung
Quelle: Eigene Darstellung
Über was wird reflektiert?
Institutionelle Logiken, Deutungsmuster
Mit welcher Methode?
Unternehmen und ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft? Nichtfinanzielle Berichterstattung und ihre Funktion?
Narrative
Frames Sollen wir de-investieren (aus welchen Branchen/unter welchen Bedingungen)? Sind Investor/innen Teil des Problems und/oder Teil der Lösung? Umgang mit Klimarisiken und Carbon Bubble? Was ist ‚richtige‘ Kapitalallokation in Zeiten der Klimakrise?
Mitarbeiter/innen in NachhaltigWofür sind Banken da? Was sind keits-Banken oder Nachhaltigkeits- Ziele und Identitäten des BankAbteilungen von Banken wesens? Was ist eine ‚gute‘ Bank und was sind legitime Renditen?
Fossil-Fuel-Divestment
Banken
Wer reflektiert?
Tab. 1.1 Reflexionsraum Nachhaltigkeit
1.6 Unsere empirischen Ergebnisse 19
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zur Stabilisierung beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts?‘. Für das Teilprojekt Banken und das Teilprojekt Divestment haben wir die Bearbeitung der beiden Fragen analytisch und in der Ergebnisdarstellung getrennt, für das Teilprojekt der nicht-finanziellen Berichterstattung sind beide Fragestellungen und ihre Ergebnisse miteinander verschränkt. Im Weiteren folgen zuerst die Ergebnisdarstellungen zu Banken, gefolgt von Divestment und schließlich für die nicht-finanzielle Berichterstattung.
1.6.1 Teilprojekt Banken: Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren (Griese, Nagel, Hiß) Wie gestaltet sich die Nachhaltigkeitslogik auf dem Finanzmarkt aus? Im Teilprojekt zu Banken haben wir die institutionellen Logiken auf Makro- und Feldebene rekonstruiert und eine Deutungsmusteranalyse zur ersten, projektübergreifenden Fragestellung durchgeführt. Die institutionellen Logiken, die wir auf Feldebene identifizieren konnten, helfen, das deutsche Bankwesen zu typisieren und Nachhaltigkeit darin zu verorten. Wir konnten nachvollziehen, wie sich die Makro-Logiken der Nachhaltigkeit, des Marktes, des Staates, der Gemeinschaft und der Religion jeweils auf Feldebene ausprägen. Empirische Phänomene wie Nachhaltigkeitsbanken, Sparkassen und Landesbanken, Genossenschaftsbanken und Kirchenbanken mit ihren unterschiedlichen Nachhaltigkeitspraktiken werden so besser verständlich. Gleichzeitig wurde dabei sichtbar, was Banken gegenwärtig im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit umtreibt, was von ihnen als Problem gedeutet wird und welche Möglichkeiten sie sehen, diese zu lösen. Basierend auf den geführten Interviews wurden drei Deutungsmuster herausgearbeitet: Das erste Deutungsmuster beinhaltet die Abgrenzung zu ‚schlechten‘ Banken, das zweite verweist auf die Verantwortung von Banken für die Gesellschaft und das dritte Deutungsmuster dreht sich um die ‚Richtige‘ Rendite, die Banken zu erwirtschaften haben. Die Deutungsmuster lassen sich jeweils durch drei Merkmale beschreiben: Problemdefinition, Wertvorstellung und Handlungsregel (Was ist zu tun?). Im ersten Deutungsmuster wird die Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken thematisiert: Ein gemeinsamer Bezugsrahmen ist die Finanzmarktkrise von 2007/2008 und das dabei diagnostizierte und als problematisch angesehene Verhalten der Großbanken. Demnach werden Großbanken mit ihren aggressiven und zum Teil illegalen Strategien als Mitverursacherinnen der Krise gesehen; ihre Profitmaximierungsziele, die auf Kosten der Gesellschaft gehen, werden angemahnt; und das Handeln dieser Großbanken wird als unethisch und riskant für die Zukunft der Gesellschaft betrachtet. In diesem Deutungsmuster wird die negative Referenzfolie aufgespannt, nach der es die Großbanken und ihre schädlichen Geschäftsmodelle sind, von denen man sich distanziert. Das nachhaltige Bankwesen und die damit einhergehenden Praktiken bieten innerhalb dieser Deutung die Möglichkeit, zu den ‚guten‘ Banken gezählt zu werden. Es stellt, so eine postulierte Deutung, dem konventionellen Bankwesen ein völlig andersartiges Geschäftsmodell und
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eine andere Wertorientierung entgegen und kritisiert dabei das konventionelle Bankwesen mit Nachdruck. Die Handlungsregel empfiehlt: ‚Grenze Dich glaubwürdig von ‚schlechten‘ Banken ab‘. Im zweiten Deutungsmuster geht es um die Rolle der Banken in der Gesellschaft. Problematisiert wird der allgemeine Vertrauensverlust der Banken und ihr damit einhergehender Bedeutungsverlust als wichtige Akteurinnen in der Gesellschaft. Als Lösung dieses Problems wird ein neues Rollenverständnis mitsamt Zielen vorgeschlagen, die aufzeigen, worin Banken ihre (neue) Verantwortung sehen. Darin steckt die Wertvorstellung, dass Banken gesellschaftlich relevante Akteurinnen sind, die Verantwortung übernehmen und die Zukunft der Gesellschaft mitgestalten sollen. Die daraus abgeleitete Handlungsregel lautet: ‚Nutze deinen Gestaltungsspielraum und nimm Verantwortung für die Gesellschaft wahr‘. Das nachhaltige Bankwesen versucht hier nicht nur Schäden zu reparieren, sich fair zu verhalten und ganz bestimmte Geschäftspraktiken zu unterbinden, sondern eine viel weiter gefasste Rolle einzunehmen. Dazu gehört die Idee, wieder zum ‚ursprünglichen Bankgeschäft‘ zurückzukehren, das heißt, vor allem die Realwirtschaft mit Geld zu versorgen und der Gesellschaft zu dienen. Das nachhaltige Bankwesen begreift sich daher als Akteurin mit gesellschaftlichem Transformationspotenzial, unter anderem durch das Aufklären der Kund/innen und das Schaffen eines Bewusstseins in der Gesellschaft für Geld und Geldflüsse. Im dritten Deutungsmuster wird die ‚Richtige‘ Rendite thematisiert. Renditemaximierung wird als Problem gesehen. Das Renditestreben dürfe nicht als Selbstzweck verfolgt werden, sondern müsse mit anderen Wertorientierungen im Einklang stehen. In diesem Deutungsmuster steckt also die Werthaltung, dass Rendite legitim, notwendig und legitimitätsstiftend ist, aber nicht als Selbstzweck verfolgt werden darf. Daraus leitet sich die Handlungsregel ab, den Widerspruch zwischen Rendite und Wertorientierung aufzulösen. Rendite ist gewissermaßen nur dann ‚richtig‘, wenn sie zusätzlich an Werte gebunden ist. Produkte und bestimmte Geschäftsmodelle des nachhaltigen Bankwesens erscheinen dabei wiederum als mögliche Lösung, da mit Nachhaltigkeit bereits bestimmte Werte einhergehen, die Gesellschaft und Umwelt nicht oder zumindest weniger zu schädigen. Wie verhält sich die Nachhaltigkeitslogik zur Stabilisierung beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts? Die bereits für die erste Fragestellung ausgearbeiteten Deutungsmuster haben wir auch für diese zweite Frage genutzt und mit einem spezifischen Fokus ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Analyse skizzieren Möglichkeiten einer Stabilisierung aus Sicht unserer Interviewpartner/innen, erheben aber nicht den Anspruch, konkrete, bereits stabilisierend wirkende Maßnahmen aufzeigen zu können. Deutungen sind keine empirischen Wahrheiten, können aber durch ihre den Diskurs prägende Wirkung ihre Macht, Realitäten erschaffen zu können, entfalten. Das erste Deutungsmuster Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken verweist zugleich auf eine Abgrenzungsstrategie von den potenziellen Verursacher/innen der Finanzkrise.
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Demnach liefere das nachhaltige Bankwesen alternative Orientierungen und Handlungsstrategien, die durch ihre langfristige und sozialökologische Anlagemotivation einen Kontrapunkt zu den ‚schlechten‘ Banken setzten. Der Rückzug auf das Kreditgeschäft und risikoarmes Spekulieren sei einer der damit einhergehenden stabilisierenden Mechanismen. Ein ‚nachhaltiges‘ Agieren, so die Deutung, sei damit automatisch Hinweis für das Sinnbild einer ‚guten‘ Bank. Zugleich hinge die Glaubwürdigkeit der ‚guten‘ Banken von diesem Handeln ab, sodass der dadurch entfaltete disziplinierende Druck auch zugleich für den Finanzmarkt stabilisierend wirke. Diesem Deutungsmuster ist eine Ebene der Reflexion über den Finanzmarkt an und für sich inhärent. Das zweite Deutungsmuster Rolle der Banken in der Gesellschaft verweist auf die Potentiale des nachhaltigen Bankwesens, unter anderem den durch die Krise verursachten Vertrauensverlust in Banken zu relativieren. Die Perzeption nachhaltiger Banken als Akteurinnen mit Anspruch auf Verantwortungsübernahme für die breitere Gesellschaft grenzt sich ab von der Perzeption der Banken als Treuhänderinnen eines engen Kreises Vermögender. Nachhaltige Banken werden demnach als Aufklärerinnen, Gestalterinnen und Transformatorinnen gesehen, die eine Re-Positionierung als gesellschaftlich wichtige Akteurinnen und eine Wiedereinbettung in die Gesellschaft bewirken wollen. Der von nachhaltigen Banken etablierte Anspruch, gegenüber den Menschen das System Geld und Banken transparent zu gestalten und aufzuklären, übe Druck auf das gesamte Banksystem aus, ihnen dies gleichzutun. Die Kreditvergabe an gesellschaftlich sinnhafte Projekte und nicht lediglich kreditwürdige Projekte ist eines der Beispiele, die illustrieren, wie die Reflexion über die Rolle der Banken für eine nachhaltige Gesellschaft und einen stabilen Finanzmarkt in diesem Deutungsmuster aufgefasst werden. Im dritten Deutungsmuster ‚Richtige‘ Rendite geht es um eine alternative Definition von Rendite, die neben der für Banken auch eine Rendite für ‚alle‘ im Sinn hat. Angestrebt wird dabei eine produktive Kopplung von Gemeinwohlorientierung und Profit. Darin liegt zugleich auch das reflexive Moment, das Verhältnis von Wert- und Renditeorientierung zu problematisieren und die Auswirkungen der verschiedenen denkbaren Konstellationen zwischen beiden Orientierungen auch im Hinblick auf die Gesamtstabilität zu thematisieren. In dieser Deutung ist es die Nachhaltigkeit, die eine reine Renditeorientierung irritiert und zu einer Abwägung von renditestarken, aber hochriskanten Modellen gegenüber nachhaltigen, weniger spekulativen und potenziell den Finanzmarkt stabilisierenden Modellen aufruft. Angestoßen werden auch hier, so die Annahme, Diskussionen zu gesamtgesellschaftlich wünschenswerten Entwicklungen und der dafür notwendigen finanzmarktlichen Voraussetzungen. Obgleich sich für unsere Interviewpartner/innen die Frage nach der Stabilität des Finanzmarkts nicht als explizites Deutungsmuster herausgestellt hat, sind es doch die darin enthaltenen Bezüge, die ein Mitdenken dieser Dimension ersichtlich machen. Die negativ assoziierte Projektionsfläche krisenverursachender Großbanken, fehlender gesamtgesellschaftlicher Verantwortung oder grenzenloser Renditeorientierung erlaubt es
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dem nachhaltigen Bankwesen, als Alternative zutage zu treten und zur Reflexion über gangbare alternative Wege anzuregen. Insgesamt erlaubt die Rekonstruktion einer institutionellen Nachhaltigkeitslogik und das Nachzeichnen ihrer Wirkung im Bankwesen, die dadurch ausgelösten Dynamiken im Bankenfeld und ihre Potentiale zur Stabilisierung des Finanzmarkts sichtbar zu machen. Ihre Präsenz kann die gesellschaftliche Legitimation eines krisenbedingt kritisch hinterfragten Bankwesens befördern und etwa durch den damit einhergehenden Vertrauensaufbau stabilisierend wirken. Kritik und Alternativwege bleiben freilich systeminhärent und streben lediglich Modifikationen an.
1.6.2 Teilprojekt Divestment: Die F ossil-Fuel-DivestmentBewegung – geteilte und umkämpfte Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiken (Fessler, Nagel, Hiß) Wie gestaltet sich die Nachhaltigkeitslogik auf dem Finanzmarkt aus? Im Teilprojekt zur Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung haben wir – korrespondierend zur ersten übergeordneten Fragestellung des Projekts – darauf abgezielt, welche kollektiven Deutungsrahmen die Bewegung konstituieren und die heterogenen Akteur/ innen mobilisieren. Fossil-Fuel-Divestment ist eine soziale Bewegung, die im Auftrag des Klimaschutzes zugleich Kritik und Mobilisierung des Finanzmarkts, seiner Akteur/ innen und Instrumente betreibt. Mit einer Framing-Analyse basierend auf Benford und Snow (2000) haben wir eine entsprechende Rahmungsarbeit der sozialen Bewegung des Fossil-Fuel-Divestments für den deutschen Kontext herausgearbeitet. Es zeigen sich dabei aber auch divergierende Akzentsetzungen und Sichtweisen, bis hin zu Deutungskonflikten innerhalb des Deutungsrahmens des Divestments, die die Resonanz unterschiedlicher Gruppen kennzeichnen, aber auch auf symbolische Auseinandersetzungen und Deutungskämpfe im Feld verweisen. Für die diagnostische Rahmung werden als Probleme und Ursachen in der sozialen Bewegung zum einen das Profitieren vom ‚Falschen‘ (A) und zum anderen die Klimarisiken als finanzielles Problem (B) identifiziert. Demnach bedroht das fossile Geschäftsmodell der Kohle-, Öl- und Gasunternehmen und die entsprechenden Investitionen und Finanzprofite nicht nur das planetare Klima und unsere öko-sozialen Lebensgrundlagen (A); sondern bringt auch systemische Risiken einer Kohlenstoffblase (Carbon Bubble) – angesichts der zur Begrenzung der Erderwärmung auf unter 2-Grad stark überbewerteten CO2-intensiven Sektoren – und daraus resultierender Finanzinstabilitäten mit sich (B). Als prognostische Rahmung einer potenziellen Lösung haben wir drei Rahmungen ausgemacht: Sich die Macht des Geldes zu Nutze machen (C), durch öffentlichen Druck politische Regulierung vorantreiben (D) und im Klimawandel die materiellen Risiken und Opportunitäten sehen (E). Demnach werden also Lösungswege zum Schutz des Klimas darin gesehen, Finanzströme als zentrale gegenwärtige Machtmittel für die
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Dekarbonisierung umzulenken (C), durch die soziale Bewegung den Druck auf die (Finanz-)Politik, klimapolitisch konsequent zu handeln, zu erhöhen (D) oder durch die Konstruktion des Divestment als Win–win-Situation zwischen profitorientierten Anleger/ innen (Investor/innenschutz) und gesellschaftlicher Werteorientierung (Klimaschutz) eine klimafreundliche neue Risikostrategie zu etablieren (E). In einer motivationalen Rahmung wird an die Verantwortung für das große Ganze appelliert. Langfristige Konsequenzen für das Klima sollen mit dem eigenen Finanzhandeln abgeglichen werden. Öffentliche Finanzakteur/innen werden zur Konsistenz mit den klimapolitischen Ansprüchen angehalten und sollen zugleich ihre treuhänderische Verantwortung auf das Thema Klima ausweiten. Insgesamt übersetzt und überträgt die Bewegung die Klimakrise in die Finanzsphäre. Sie problematisiert Widersprüche zwischen gegenwärtiger („falscher“) Kapitalallokation und den gesellschaftlichen Klimazielen. Ein Erfolgsmittel scheint gerade in der Brücken schlagenden Ausgestaltung von Problemdimensionen und Lösungsansätzen zu liegen, die eine Vielzahl von ansonsten kaum kooperierenden Akteur/innen etwa aus Zivilgesellschaft und Finanzwelt gemeinsam bewegt. Dennoch zeichnen sich auch innerhalb der Bewegung konkurrierende Deutungsfraktionen und umkämpfte Deutungshoheiten ab (z. B. Radikalität versus Kompromissbereitschaft, Ja oder Nein zum Investor/innenschutz oder öffentlich-politischer Protest versus technische Expert/innendebatte), die die Bewegung auf eine Zerreißprobe stellen könnten. Wir attestieren dieser sozialen Bewegung einen Doppelcharakter mit paradoxen Konsequenzen: Die Bewegung trägt einerseits zur Politisierung des Investierens sowie der Re-Politisierung nachhaltigen Investierens bei, indem sie Finanzflüsse normativ und klimapolitisch prüft. Der Finanzmarkt als scheinbar wertneutrale Plattform für Finanzströme wird offensiv für eine normativ-politische Forderung genutzt: Das Klima soll geschützt und die ökosozialen Lebensgrundlagen gesichert werden! Anstatt gegen die Klimaziele zu spekulieren, sollen Finanzakteur/innen diese im Sinn des Klimaschutzes bei Finanzentscheidungen berücksichtigen. Die Bewegung treibt das Thema in die Sphäre öffentlicher Investitionen und in den Verantwortungsbereich (finanz-)politischer Institutionen. Sie treibt damit die Übertragung der Nachhaltigkeitslogik auf den Finanzmarkt, aber auch in die dort wirksamen öffentlichen und politischen Institutionen voran. Andererseits läuft die Bewegung Gefahr, sich gerade dadurch entpolitisieren zu lassen, wenn sie sich in die auf dem Finanzmarkt etablierten Risiko-Rendite-Muster einfangen lässt. Finanzmarktakteur/innen werden in ihrer Machtfülle bestätigt, sich freiwillig und nach ihren Erfolgsmaßstäben am Klimaschutz und der Definition klimabezogener, nachhaltiger Kriterien zu beteiligen und diese zu prägen. Wie verhält sich die Nachhaltigkeitslogik zur Stabilisierung beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts? Korrespondierend zur zweiten übergeordneten Fragestellung des Projekts haben wir auf die explizite wie implizite Bezugnahme des Klima-Divestments auf seine Auswirkungen auf Stabilität und Krisenfestigkeit beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts geblickt.
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Unsere empirische Basis von eigens dafür generierten Fokusgruppendiskussionen und Themenblöcken in den geführten Interviews erlaubt die Rekonstruktion von Deutungsregeln der Akteur/innen der Bewegung. Wir haben vier Frames herausgearbeitet, die uns zum Verhältnis von Finanzmarkt- und Nachhaltigkeitslogik aus Sicht der Befragten im Hinblick auf Divestment und Stabilität Hinweise geben. Finanzstabilität ist bisher kein zentrales Thema der Bewegung, eine direkte Wirkung wird nicht angemaßt. Vielmehr geht es hier um implizite und explizite Neujustierungen im Risikoumgang und um etwaige finanziell wie moralisch destabilisierende Effekte auf fossile (Finanz-)Märkte als Nebenfolge von Divestment. Mit dem ersten Frame Klimarisiken reduzieren werden die potenziell positiven Auswirkungen auf die Berücksichtigung klimabezogener Marktrisiken gefasst. Der zweite Frame Langfristig investieren stellt die widersprüchlichen Zeithorizonte von Finanzmarkt und Weltklima(schutz) gegenüber und betont die Notwendigkeit einer langfristigen Handlungsstrategie zur rechtzeitigen Eindämmung der Klimakrise, die zugleich potenziell stabilisierend auf das Finanzsystem wirken kann. Der dritte Frame Gesellschaftlich orientieren thematisiert Divestment als Beitrag zur Rückbindung des Finanzmarkts an gesamtgesellschaftlich-ökologische Bedarfe (z. B. dauerhaft tragfähige Energiesysteme), wodurch die Produktion systemischer Risiken sowie riskante, spekulative Verhaltensweisen eingeschränkt werden könnten. In einem vierten Frame Investitionen politisieren wird auf den möglichen gesellschaftlichen Einfluss auf eine klimafreundliche politische (Finanz-)Regulierung verwiesen, die auch zu einem resilienteren Finanzsystem und dem Abbau der Carbon Bubble führen könnte. Im Ergebnis argumentieren wir, dass die Rahmungsaktivität innerhalb der Divestment-Bewegung zur Entwicklung und vor allem Mobilisierung von neuen kollektiven Risikoperzeptionen am Finanzmarkt beitragen kann. Wir unterscheiden idealtypisch zwei Ausprägungen. Zum einen werden als riskante Investitionen diejenigen gerahmt, deren Auswirkungen nicht nur für (institutionelle) Investor/innen und ihr Vermögen riskant sind, sondern auch gesellschaftlich-ökologische Risiken und Schäden erzeugen. Zum anderen wird der Klimawandel als ein weiteres externes Marktrisiko in die bereits etablierte Risiko-Rendite-Kalkulation integriert. Die klassische Risikosicht wird also lediglich additiv erweitert. Insgesamt rückt die Klimakrise mittels der Nachhaltigkeitslogik und als Stabilitätsthema gerahmt auf die Agenda von Finanzpolitik und öffentlichen Institutionen.
1.6.3 Teilprojekt Nicht-finanzielle Berichterstattung: Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten? Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft (Woschnack) Daniela Woschnack fokussiert in ihrer Forschung auf die nicht-finanzielle Berichterstattung, die im Sinn einer Schnittstelle zwischen Unternehmen und Gesellschaft
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das Thema Transparenz und Sichtbarmachung potenzieller Risikofaktoren aufruft.6 Die Beachtung von Risikoformen nicht-finanzieller Art entstammen dem Umweltoder Sozialbereich, etwa wenn der Klimawandel die Vegetationsperioden in der Landwirtschaft verschiebt. Ihr Beitrag bearbeitet die Frage, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu verhandeln. Die empirische Basis bilden 38 qualitative, problemzentrierte, diskursive Interviews mit Vertreter/innen von Unternehmen verschiedener Größen, von Initiativen zur Entwicklung von Standards und Richtlinien im Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung, von Finanzmarktakteur/ innen sowie von Nichtregierungsorganisationen und Fachverbänden, Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Die im Feld vorhandenen Narrative wurden auf Basis einer Narrationsanalyse mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) rekonstruiert. Im Ergebnis hat Woschnack sechs nicht disjunkte Narrative herausgearbeitet. Ein gleichsam übergreifendes Ergebnis wie auch erstes Narrativ ist die Sichtweise auf die nicht-finanzielle Berichterstattung als Anfang und zugleich Ende eines Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen und damit als Reflexionsraum für eine Neuverhandlung der bisherigen Wirtschaftsweise und des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen. Die Berichterstattung setzt Themen auf die gesellschaftliche und unternehmerische Agenda, denen ansonsten diese Aufmerksamkeit nicht zuteil geworden wäre. Erst indem Unternehmen mit der gesellschaftlichen Erwartung nach mehr Transparenz im Hinblick auf ihre nicht-finanzielle Performance konfrontiert werden, tauchen entsprechende Themen mehr und mehr im Unternehmensalltag auf, werden Teil der unternehmerischen Abläufe und bekommen somit eine entsprechende – wenn auch nicht mit monetären Aspekten vergleichbare – Aufmerksamkeit. Unternehmen sehen sich gezwungen, über ihre Rolle als Teil der Gesellschaft beziehungsweise als Akteur der Gesellschaft zu reflektieren. In einem zweiten Narrativ zeigt sich, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung die Aufmerksamkeit für und die Anerkennung von neuen (systemischen) Risiken sowie Chancen fördert und folglich als eine Art Handlungsanleitung in Krisenzeiten verstanden werden kann. Damit setzt das zweite Narrativ an den genannten Reflexionsprozessen an und veranschaulicht sehr klar, dass auch ein neues Risikoverständnis Einzug in Unternehmen hält. Nicht mehr nur finanzielle Aspekte werden als potenziell riskant oder gewinnbringend betrachtet; vielmehr treten nun auch nicht-finanzielle Aspekte in den Fokus – gerade auch mit Blick auf mögliche Krisen. Dabei wird in einem dritten Narrativ die nicht-finanzielle Berichterstattung als ein systemstabilisierendes Instrument wahrgenommen. Damit wird sehr
6Daniela
Woschnack arbeitet dieses Teilprojekt im Rahmen ihres Promotionsvorhabens noch weiter aus und plant für das Jahr 2021 die Vorlage einer Dissertation mit dem Arbeitstitel ‚Unternehmen als verantwortungsbewusste gesellschaftliche Akteure?! Eine soziologische Betrachtung am Beispiel der nicht-finanziellen Berichterstattung‘.
1.7 Vorschau
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deutlich, dass die Interdependenz zwischen unternehmerischen Handlungen und dem Gesellschaftssystem an sich immer wichtiger zu werden scheint. Allerdings, so zeigt das vierte Narrativ, entfaltet sich diese Wirkung eines langfristig stabilen Reflexionsraums nur, wenn die nicht-finanzielle Berichterstattung auch die unternehmerische Realität abbildet. Durch die kaum vorhandene Standardisierung können Unternehmen starken Einfluss auf die Themensetzung und die offengelegten Informationen nehmen und laufen Gefahr, das Instrument im Sinn einer Imagebroschüre zu delegitimieren. Aus diesem Grund fordern die Interviewten, so ein fünftes Narrativ, eine zunehmende Regulierung als zentralen Hebel zur stärkeren Ausbreitung und Etablierung von nicht-finanzieller Berichterstattung. An dieser Stelle wird die zentrale Rolle der Politik hervorgehoben. In einem sechsten Narrativ, welches von der Mehrheit der Interviewten getragen wird, wird die nicht-finanzielle Berichterstattung als ein dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordneter Anreiz gesehen. Die (Neu-)Verhandlung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Unternehmen stellt das monetäre Anreizsystem nicht grundlegend in Frage, sondern wirkt bisher lediglich relativierend.
1.7 Vorschau In den nachfolgenden Kapiteln werden wir tiefer in den Reflexionsraum ‚Nachhaltigkeit und Finanzmarkt‘ eintauchen. Dazu haben wir das vorliegende Buch in zwei Teile untergliedert. In Teil I legen wir die notwendigen Voraussetzungen, die für das Verständnis unserer in Teil II dargestellten empirischen Studien den Hintergrund bilden, und stellen dazu den Untersuchungsgegenstand, unser methodisches Vorgehen und unser Verständnis von finanzmarktlicher Resilienz beziehungsweise Stabilität vor. In Kap. 2 (Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts – ein Vorschlag zur Kartierung) skizziert Stefanie Hiß den Wandel der Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts und unterbreitet einen Vorschlag, wie das in den letzten Jahren zunehmend unübersichtlich gewordene Feld kartiert werden könnte. Sie sortiert die Akteur/innen im Feld anhand dreier Wirkungskreise, die deren Verhältnis zu Geld differenzieren. Kap. 3 (Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit – Institutionelle Logiken, Deutungsmuster, Frames und Narrative im Vergleich) schildert die methodischen Ansätze des Projekts. Daniela Woschnack, Agnes Fessler, Gesa Griese und Stefanie Hiß beschreiben nicht nur im Einzelnen, wie das Konzept der institutionellen Logiken, der Deutungsmuster-, Frame- und Narrationsanalyse auf die unterschiedlichen Teilbereiche Banken, Divestment und nicht-finanzielle Berichterstattung angewendet wurden, sondern vergleichen die Ansätze miteinander und stellen deren jeweiligen Reichweiten und Grenzen dar. In Kap. 4 (Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts) erläutert Sebastian Nagel die grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Resilienz und Stabilität im finanzmarktlichen Bereich. Er resümiert Herkunft und Verwendung der beiden Zugänge und erklärt, inwieweit wir in unseren empirischen Studien auf Resilienz beziehungsweise Stabilität zurückgegriffen haben.
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1 Einleitung: Nachhaltigkeit und Finanzmarkt
Teil II des Buches präsentiert die diversen empirischen Ergebnisse unseres Projekts. Kap. 5 (Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren) und Kap. 6 (Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken) behandeln mit den Banken eine zentrale Akteurin im deutschen Finanzsystem. In Kap. 5 zeichnen Gesa Griese, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß nach, wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren. Die rekonstruierten Deutungsmuster wurden einerseits daraufhin untersucht, wie sich in ihnen die Nachhaltigkeitslogik im Bankwesen widerspiegelt, andererseits wurden sie auf ihre Implikationen für die Stabilität des Finanzmarkts geprüft. In einer an die Ergebnisse in Kap. 5 anknüpfenden kleineren Teilstudie zeigt Gesa Griese in Kap. 6 wesentliche Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken auf. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, wer oder was die Diffusion von Nachhaltigkeit in Banken befördert oder behindert. In Kap. 7 (Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung – geteilte und umkämpfte Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiken) beleuchten Agnes Fessler, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung in Deutschland und beschreiben die dort vorgefundenen geteilten und umkämpften Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiko. Wie im Kapitel zu Banken wurde auch hier das Framing dahin gehend analysiert, inwiefern es zum einen Hinweise auf die Ausgestaltung der Nachhaltigkeitslogik in diesem Bereich gibt. Zum anderen wurden die Wirkungen der Frames auf die Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts interpretiert. In Kap. 8 (Nachhaltigkeitsverständnisse in der finanzialisierten Altersvorsorge) nehmen Agnes Fessler und Sebastian Nagel die Nachhaltigkeitsverständnisse in der finanzialisierten Altersvorsorge unter die Lupe. Als einzige unserer empirischen Analysen bedient sich diese lediglich sekundärer Daten. Daniela Woschnack setzt in Kap. 9 (Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten? Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft) den Schlusspunkt. Sie orientiert ihre Untersuchung an der Frage, warum Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten sollten und erläutert am Beispiel der nicht-finanziellen Berichterstattung die in diesem Bereich vorgefundenen Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft.
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Teil I Darstellung des Untersuchungsgegenstands und methodische Herangehensweise
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Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts – ein Vorschlag zur Kartierung Stefanie Hiß
Inhaltsverzeichnis 2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2.1 Wie hat sich das Marktsegment entwickelt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2.2 Rechnen sich nachhaltige Geldanlagen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.3 Wie sind die Aussichten des nachhaltigen Investierens?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.3 Ein Vorschlag zur Kartierung des nachhaltigen Finanzmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3.1 A: Geld direkt lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.3.2 B: Geld indirekt lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3.3 C: Geld durch Regulierung lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.4.1 A: Geld direkt lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.4.2 B: Geld indirekt lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.4.2.1 B. 1: For-Profit-Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.4.2.2 B. 2: Non-Profit-Organisationen, -Initiativen oder -Bewegungen . . . . . . . 57 2.4.3 C: Geld durch Regulierung lenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.4.3.1 C. 1: Internationale Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.4.3.2 C. 2: Europäische Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.4.3.3 C. 3: Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
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2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts Zusammenfassung
In den letzten Jahren hat sich die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts signifikant gewandelt. Entwicklungen auf internationaler Ebene, insbesondere die Verabschiedung der Agenda 2030 und der Sustainable Development Goals sowie das Pariser Klimaabkommen, haben nicht nur das Thema Klimakrise in den Fokus internationaler Debatten gerückt, sondern auch die Überzeugung wachsen lassen, dass eine Transformation hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft auch auf einen Finanzmarkt angewiesen ist, der eine nachhaltige Wirtschaftsweise befördert und auch selbst nachhaltiger wird. Im Zuge dieser Entwicklungen hat sich der nachhaltige Finanzmarkt sehr dynamisch entwickelt und zunehmend ausdifferenziert: Auf allen Ebenen (international, europäisch, national) sind vielfältige Akteur/innen und Initiativen zu beobachten, die um die zukünftige Ausgestaltung des nachhaltigen Finanzmarkts ringen. In diesem Beitrag unterbreite ich einen Vorschlag zur Kartierung dieses bunten und unübersichtlichen Feldes. Ausgehend von der Fragestellung Welches Verhältnis zu Geld ist für die Akteur/innen handlungsleitend? spanne ich ein Kontinuum an idealtypischen Handlungsorientierungen zwischen Geld als Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck auf. Die jeweilige Ausprägung dieser Handlungsorientierungen kann sich in unterschiedlichen Wirkungskreisen auf Geld realisieren, von denen ich – ebenfalls wieder idealtypisch – drei unterscheide: A: Geld direkt lenken (eigenes/fremdes), B: Geld indirekt lenken (for-profit/non-profit), C: Geld durch Regulierung lenken (soft/hard law). Diese Wirkungskreise dienen dazu, das heterogene Feld des nachhaltigen Finanzmarkts systematischer erfassen und begreifen zu können. Im zweiten Teil des Beitrags ordne ich relevante Akteur/innen und Initiativen exemplarisch den Wirkungskreisen zu.
2.1 Einleitung1 Den eigenen Untersuchungsgegenstand klar abzugrenzen und sauber zu kartieren steht am Anfang eines jeden Forschungsprojekts und sollte keine große Herausforderung darstellen. In unserem Fall war es jedoch eine erhebliche Herausforderung. Wir haben es beim nachhaltigen Finanzmarkt mit einer solchen Vielzahl an unscharf voneinander
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin.
2.1 Einleitung
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abgegrenzten Konzepten zu tun, dass die definitorische Begriffsarbeit schwerfällt. Im Prinzip geht es lediglich darum, der Investitionsentscheidung, die üblicherweise laut Lehrbuch von Liquiditäts-, Profit- und Risiko-Überlegungen getragen wird, noch ein viertes Entscheidungskriterium hinzuzufügen: das der nicht-finanziellen Kriterien. Diese Begrifflichkeit des Nicht-finanziellen ist vage und kann vieles beinhalten: Soziales, Umwelt, Ethik, religiöse Werte, Governance, Nachhaltigkeit, etc. Wir finden in der deutschen und der englischen Sprache – und dies ist nur eine kleine Auswahl – einen bunten Blumenstrauß an Termini wie etwa: Nachhaltiges Investieren, Verantwortliches Investieren, Green Finance, Sustainable Finance, ESG – Environmental, Social, Governance, SRI – Socially Responsible Investment, Impact Investing oder Ethische Geldanlage. Aktuell entsteht der Eindruck, dass von diesen Begriffen in internationalen Dokumenten bevorzugt von Sustainable Finance gesprochen wird, unter Berücksichtigung von Teilkonzepten wie Climate Financing und Green Financing.2 Die genannten, mannigfaltigen Termini sind nicht zu verwechseln mit Begriffen, die ähnlich klingen, doch mit dem nachhaltigen Finanzmarkt nicht in Verbindung stehen, wie etwa die sogenannten Alternativen Investments, die eine konventionelle Anlagestrategie jenseits der klassischen Anleihe oder Aktie verkörpern.3 Zudem lässt sich beobachten, dass das Feld beziehungsweise das Marktsegment, auf dem sich Nachhaltigkeit und Finanzmarkt begegnen, seit Ende 2015 eine noch nie dagewesene Dynamik entwickelt hat. Dementsprechend vervielfältigt und vermehrt haben sich nicht nur die beteiligten Akteur/innen auf den verschiedenen Ebenen, sondern auch die diversen Politik- und Regulierungsansätze. Wie ist diese überraschende Entwicklung nach Jahren vergleichsweiser Ruhe zu erklären? Wie beziehungsweise durch wen und was wurde diese plötzliche Dynamik angestoßen? Eine ähnlich rasante Entwicklung konnten wir zum Jahrtausendwechsel beim Thema Corporate Social Responsibility (CSR) in Deutschland beobachten. Damals gab es einen zunächst recht zögerlichen, dann aber geradezu rasanten Aufstieg von CSR, nachdem das Konzept im angelsächsischen Kontext bereits seit längerem fest etabliert war (Hiß 2006, 2009). Allerorten entwickelten sich neue Verhaltenskodizes, Nachhaltigkeitsberichte oder CSR-Beratungsunternehmen. Die Frage, welche Verantwortung Unternehmen für ihre Produktion oder ihre Lieferketten übernehmen sollten, wurde zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert.
2Siehe
für eine Übersicht an Definitionen auch UN Environment und World Bank Group (2017, S. 84 ff.). 3Siehe dazu https://bvai.de/alternative-investments/was-sind-alternative-investments.html, am 13.03.2020; für eine mögliche Differenzierung siehe auch UN Environment und World Bank Group (2017, S. 84).
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2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
Allerdings, und das ist das eigentlich Überraschende, blieb wie ein blinder Fleck das Thema der damit verbundenen Finanzströme in Deutschland weiterhin kaum beachtet. Zwar sah sich die Textilindustrie öffentlichem Druck ausgesetzt, ihre T-Shirts ohne Kinderarbeit herzustellen; die Versicherungsbranche, als große Kapitalsammelstelle, musste sich hingegen nicht die Frage gefallen lassen, wie sie die Gelder anlegt, mit denen sie ihren Versicherten die immerwährend günstigen Prämien schmackhaft zu machen versucht. Während es für manche Milieus geradezu zum Statussymbol wurde, im Bioladen einzukaufen, konnten sie dort – ohne zu zögern – mit den EC- und Kreditkarten privater Großbanken bezahlen, deren finanzakrobatische ‚Machenschaften‘ die im Bioladen versprochenen Werte von Umwelt- und Sozialstandards geradezu konterkarierten (z. B. durch die Kreditfinanzierung von umweltzerstörenden und menschenverachtenden Staudammprojekten). Obwohl das Thema CSR eine Hausse erlebte, wollte das Thema nachhaltiger Finanzmarkt lange nicht abheben und verharrte in der Nische. Wie Jahrzehnte vorher bei CSR, hinkte Deutschland auch beim Volumen des (freiwilligen) nachhaltigen Finanzmarkts den USA oder GB lange deutlich hinterher (Hiß 2012a; Preu und Richardson 2011).4 Mit der Finanzkrise 2007/2008 lässt sich dann ein erstes Aufflammen von sozial nachhaltigem Investieren in Deutschland beobachten. Der Crash machte alternative Strategien zum bis dato herkömmlichen Modell effizienter Finanzmärkte und profitmaximierender Akteur/innen populär – vielleicht wegen der risikoärmeren Geschäftsmodelle nachhaltiger Banken, vielleicht nur aus schlechtem Gewissen oder vielleicht auch, weil viele anfingen, sich über die Verflechtungen und Verwicklungen von Finanzströmen auf der Welt Gedanken zu machen. Nachhaltige Banken, wie etwa die GLS-Bank, hatten damals einen enormen Kundenzuwachs zu verzeichnen (u. a. Dohmen 2011, 2012). Betrachtet man die vom Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG) verzeichneten Entwicklungen, so lässt sich ebenfalls eine deutliche Zunahme konstatieren (FNG 2019b, S. 13). Und dennoch stellt sich die Frage, warum erst seit etwa dem Jahr 2015 ein wirklicher Aufschwung des Feldes zu beobachten ist. Anscheinend hat hier die Verabschiedung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) (UN 2015b) etwas angestoßen, das durch die Einigung auf das Pariser Klimaabkommen Ende 2015 (UN 2015a) richtig ins Rollen gebracht wurde und durch den Sonderbericht des Weltklimarats (Special Report of the Intergovernmental Panel
4Im
Jahr 2019 publizierte Facing Finance zusammen mit dem Südwind-Institut die Studie ‚Made in Cambodia‘, um explizit nicht nur die Arbeitsrechtsverstöße in der Textilindustrie, sondern auch die damit verbundene Rolle von Investor/innen in den Blick zu nehmen und insofern CSR mit dem Thema nachhaltiger Finanzmarkt explizit zusammenzubringen (Schneeweiß und Buch 2019).
2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen
41
on Climate Change) vom Oktober 2018 (IPCC 2018) weiter an Fahrt aufgenommen hat.5 Die schnelle Aufeinanderfolge dieser weitreichenden Gipfelbeschlüsse und Zielsetzungen hat offensichtlich der Einsicht zum Durchbruch verholfen, dass die Lösung der Klimakrise dringend einer nachhaltigen Finanzierungsstrategie bedarf, um die dafür notwendigen Innovationen und die dafür unerlässlichen Infrastrukturprojekte auf den Weg zu bringen. Diese Erkenntnis hat sich damals scheinbar sowohl auf globaler (UN-)Ebene als auch auf der europäischen (z. B. EU-Aktionsplan) und nationalen Ebene manifestiert. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und weitere am Klimaschutz Interessierte begannen oder erneuerten ihre Anläufe, den Finanzmarkt neu zu betrachten und dem nachhaltigen Finanzieren neue und verstärkte Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. In Anlehnung an Russell Sparkes, der für die USA konstatiert hat: „If Vietnam unlocked the door to socially responsible investment, South Africa kicked it open“ (2002, S. 52), können wir für Deutschland die These vertreten: Während die Finanzkrise die Tür für das nachhaltige Investieren aufgeschlossen hat, hat die Klimakrise sie aufgestoßen. Während der Laufzeit unseres Forschungsprojekts von 2015 bis 2018 hat sich die Nachhaltigkeit als präsentes und dynamisches Thema im Finanzmarkt etabliert. Die Vielfalt der Entwicklungen kann nicht mehr, wie noch einige Jahre zuvor, vollumfänglich nachgezeichnet werden (Hiß 2011; Hiß et al. 2017). Es stellt sich also die Frage, wie Akteur/innen, Initiativen und Regulierungen in einer Weise dargestellt werden können, die auf Basis eines Systematisierungsangebots eine Verortung auch nicht genannter Akteur/innen, Initiativen und Regulierungen erlaubt und einer bloß additiven Aufzählung einen Mehrwert hinzufügen kann. Hierzu werde ich weiter unten ein Schema vorschlagen. Zuvor will ich kurz skizzieren, wie sich die Marktvolumina nachhaltigen Investierens in den letzten Jahren entwickelt haben.
2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen 2.2.1 Wie hat sich das Marktsegment entwickelt? Der Markt für nachhaltige Geldanlagen befindet sich noch immer in einer Nische. Diese Nische ist in den letzten Jahren allerdings merklich gewachsen und hat wahrnehmbar an Bedeutung gewonnen. Für den deutschsprachigen Raum verfolgt das Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG), ein Fachverband für nachhaltige Geldanlagen, die Entwicklungen
5„Dem
Pariser Klimaschutzübereinkommen von 2015, den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung und dem Sonderbericht des Weltklimarats vom Oktober 2018 (Special Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change) ist eines gemeinsam: Sie alle rufen zu beschleunigten und entschiedenen Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen (THG) und zur Schaffung einer CO2-armen, klimaresistenten Wirtschaft auf“ (Europäische Kommission 2019, S. 2).
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2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
und veröffentlicht jährlich einen Marktbericht. Im Bericht aus dem Jahr 2019 attestiert das FNG, dass spätestens seit dem Erscheinen des EU-Aktionsplans zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums6 im März 2018 der Markt für verantwortliche Investments und nachhaltige Geldanlagen eine „bis dahin nicht gekannte Dynamik“ erhalten hat (FNG 2019a, S. 1). Der vom FNG herausgegebene Marktbericht 2019 konstatiert, dass die Summe nachhaltiger Geldanlagen mit 219 Mrd. € einen neuen Höchststand erreicht hat. Die darin enthaltenen nachhaltigen Fonds und Mandate verzeichneten ihr größtes Wachstum seit Beginn der Erhebung und legten um insgesamt 41 Mrd. € zu. Damit erreichten sie einen Marktanteil von 4,5 % (FNG 2019b, S. 1; siehe auch S. 47 zur Unterscheidung nachhaltige Geldanlage versus verantwortliches Investment). Auch die Global Sustainable Investment Alliance (GSIA) weist in ihrem Bericht, dem Global Sustainable Investment Review 2018, eine hohe Wachstumsdynamik dieses speziellen Finanzmarktsegments aus. Demnach seien im Jahr 2018 30,7 Billionen US$ in den fünf betrachteten Märkten Europa, USA, Japan, Kanada, Australien und Neuseeland nachhaltig investiert worden, was einer Wachstumsrate von 34 % innerhalb von zwei Jahren entspricht (GSIA 2018, S. 8). Susanne Bergius, die als freie Journalistin den nachhaltigen Finanzmarkt seit vielen Jahren beobachtet, sieht diese Zahlen jedoch kritisch: „Überall, außer in Europa, seien die Marktanteile gestiegen und lägen zwischen 18 % (Japan) und 49 % (Europa) bis 63 % (Australien/Neuseeland). Wenn’s doch bloß so wäre! Die GSIA fasst nachhaltiges und verantwortliches Investieren explizit zusammen. Dabei existieren enorme Unterschiede. Für fast zwei Drittel der Summe gelten Ausschlusskriterien. Geächtete Streumunition oder Tabak auszuschließen bedeutet jedoch mitnichten, Vermögen nachhaltig anzulegen! Dem gegenüber sind Best-in-Class-Konzepte oder wirkungsorientierte Impact Investments verschwindend klein“ (Bergius 2019e, S. 2). Sie verweist mit ihrer Kritik auf die vielfältigen Möglichkeiten, bisher konventionelle Finanzanlagen in nachhaltige zu transformieren. Bekannte Methoden sind die Ausschlusskriterien, bei denen explizit nicht in bestimmte Branchen investiert wird, aber fraglich bleibt, wie streng die Kriterien auch für die Zulieferketten gelten oder ob es einen Mindestprozentanteil gibt. Bei Best-in-Class-Konzepten werden die jeweils als Nachhaltigkeitsvorreiter in ihrer Branche beachteten Unternehmen bevorzugt, obgleich diese sich insgesamt auf sehr niedrigem Niveau eines Nachhaltigkeitsengagements bewegen können. Noch schwammiger wird es bei dem Thema wirkungsorientiertes Impact Investment, bei dem die erzielte Wirkung auf eine tatsächliche und objektivierbare Nachhaltigkeitsverbesserung in der Realität messbar gemacht werden soll (Golka 2019).7
6Im
März 2018 hat die Europäische Kommission einen ‚Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums‘ veröffentlicht (Europäische Kommission 2018a). 7Siehe UN Environment und World Bank Group (2017, S. 84).
2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen
43
Wie vielfältig die Möglichkeiten einer Definition dessen sind, was als Nachhaltigkeit auf dem Finanzmarkt verstanden wird, macht etwa die Diskussion um sogenannte ESG-Kriterien deutlich. Demnach geht es darum, Umwelt- (E/Environmental), soziale beziehungsweise gesellschaftliche (S/Social) und G/Governance-Aspekte (Richtlinien guter Führung, etwa auf Unternehmensebene als Corporate Governance bekannt) in der Investitionsentscheidung angemessen zu berücksichtigen. Was genau vorliegen muss, damit diese Kriterien erfüllt sind, wird jedoch sehr unterschiedlich aufgefasst.8 Das CFA Institute hat gemeinsam mit den United Nations Principles of Responsible Investment (UN PRI)9 2018 eine Studie vorgelegt, die einen Überblick über die Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen gibt (CFA und PRI 2018). Die Studie konstatiert, dass sich bisher kein „one best way“10 für die Integration von ESGKriterien beobachten lässt. Tendenziell würde Governance bei den meisten Investor/ innen integriert, wohingegen Umwelt und Soziales bisher nur auf sehr geringem Niveau Beachtung geschenkt werden würde. Als zentrale Treiber für die Integration von ESGKriterien werden Risikomanager/innen und Nachfragen von Kund/innen gesehen. Als Hemmnisse sehen die Autor/innen die bisher nicht vollzogene Vereinheitlichung der ESG-Standards, die die Datensammlung für die Branche erschweren. Auch auf regionale Besonderheiten wird eingegangen, wenn beispielsweise Islamic Finance als komplementär zum ESG-Investment thematisiert wird und demnach für die arabische Golfregion wiederum andere Definitionen zugrunde gelegt werden, die dennoch auch als nachhaltig bezeichnet werden können (Pitluck 2014). Die gern gestellte Frage, wie groß denn das Segment des nachhaltigen Investierens mittlerweile sei, ist also nicht trivial zu beantworten. Die bisherige Abhandlung stellt nur einen kleinen Ausschnitt der vielfältigen Entwicklungen und Stränge der Diskussionen in diesem Bereich dar. Wir finden aber eine Vielzahl an Anhaltspunkten, dass es eine Wachstumsdynamik gibt. Ohne also letztlich an dieser Stelle klären zu können, wie hoch nun genau der wachsende Anteil ist, lohnt sich die Thematisierung dieser häufig verhandelten Frage.
8Siehe
UN Environment und World Bank Group (2017, S. 84). UN PRI ist nicht Teil der Vereinten Nationen, wie der Name suggerieren könnte, wird aber von den Vereinten Nationen unterstützt. Siehe auch www.unpri.org, am 14.03.2020. 10Siehe https://www.unpri.org/download?ac=6036%20/%20https://www.unpri.org/investor-tools/ esg-integration-in-europe-the-middle-east-and-africa-markets-practices-and-data-/4190.article, am 14.03.2020. 9Das
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2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
2.2.2 Rechnen sich nachhaltige Geldanlagen? Lohnt es sich denn überhaupt, unter Berücksichtigung des Themas Nachhaltigkeit zu investieren? Auch hier gibt es keine eindeutige Antwort.11 Es existiert eine Vielzahl an sogenannten Metastudien, die bereits vorhandene Studien zusammenfassen. Bergius (2019e, S. 6) zieht etwa die Hamburger Metastudie (Friede et al. 2015) zu Rate: „Knapp zwei Drittel der mehr als 2.000 Studien zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen ESG-Aspekten und Finanzergebnissen.“ Und auch die Steinbeis-Metastudie (Kleine et al. 2013) gelangt nach Bergius (2019e, S. 6) hinsichtlich des Rendite-Risiko-Profils zu diesem Fazit: „Tendenziell wirkten sich Nachhaltigkeitsaspekte bei einer Gesamtbetrachtung sogar leicht positiv aus. Umwelt, Soziales und Governance zu berücksichtigen stärkt demnach das Rendite-Risiko-Verhältnis, weil Risiken früher erkennbar sind.“ Auch die Investmentbank Barclays findet mehr und mehr Anhaltspunkte für die positiven Effekte nachhaltigen Investierens. Ihre Studie aus dem Jahr 2018 ‘The Case for Sustainable Bond Investing Strengthens’ stellt gleich auf der Titelseite klar: “Barclays finds more evidence of the positive effect of responsible investing on credit portfolios in different regions and sectors.” Barclays sieht dabei die Ergebnisse ihrer Vorgänger-Studie aus dem Jahr 2016 bestätigt, “that tilting a credit portfolio in favour of high-ESG bonds, while keeping all other risk characteristics unchanged, tends to lead to higher performance” (Barclays 2018, S. 5). Mit den Worten von Bergius (2018c, S. 9): „Wer Bond-Emittenten mit hohen Noten für Umwelt-, Sozial- und Organisationsführung (kurz ESG) bevorzugt, kann über Märkte, Regionen und Branchen hinweg positivere Ergebnisse erzielen als bei Emittenten mit schwachen Noten.“ Insgesamt fällt das Votum also eher positiv aus, dennoch bleibt auch hier wieder anzumerken, dass diese Studien alle eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen, Messskalen, Auswertungsmethoden etc. zugrunde legen, die dann noch vergleichend aggregiert werden. Doch auch aufgrund der aktuellen Entwicklungen rund um den Klimawandel wird das Thema Nachhaltigkeit auf dem Finanzmarkt weiter Aufwind erhalten.
2.2.3 Wie sind die Aussichten des nachhaltigen Investierens? Für die zur Erreichung der Klimaziele notwendige Transformation kommt den Finanzmärkten eine Schlüsselrolle zu. Das Pariser Klimaschutzübereinkommen (COP21) hat
11Siehe
auch Deutsche Bundesbank (2019, S. 19).
2.2 Der Markt für nachhaltige Geldanlagen
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im Jahr 2015 formuliert, dass auch die Finanzflüsse mit den Klimazielen in Einklang gebracht werden sollen: „Under the Paris Agreement, countries committed to make finance flows consistent with a low-emission, climate-resilient pathway, to help achieve the long-term climate goals.“12 In der direkten Folge zum Pariser Abkommen hat die EU nicht nur den bereits erwähnten EU-Aktionsplan ins Leben gerufen, sondern auch mit anderen Staaten zusammen eine Plattform mit dem Titel ‚International Platform on Sustainable Finance‘ (IPSF) gegründet.13 Weitere Initiativen auf EU-Ebene lassen sich nachlesen unter dem eigens von der EU dazu eingerichteten Webauftritt mit dem Titel ‚International Climate Finance‘.14 Diese Rahmenbedingungen spiegeln sich auch in Umfragen wider, die sich über die Prognosen von Nachhaltigkeit und Finanzmarkt Gedanken machen. Laut einer Umfrage der Allianz Global Investors vom April 2019 mit dem Titel ‚Active is: Regaining Trust in Active Management‘ rechnen von rund 500 befragten institutionellen Investoren über 70 % damit, bis 2030 ESG-Faktoren für das gesamte Vermögen zu beachten. Zum Zeitpunkt der Studie 2019 würden aber nur ein Prozent der Befragten ihr Portfolio bereits entsprechend managen (Allianz Global Investors 2019, S. 10). Eine Studie der Beratungsgesellschaft Mercer mit dem Titel ‚Investing in a Time of Climate Change‘ zum Thema Erderwärmung ebenfalls aus dem April 2019 könnte Investor/innen den Schweiß auf die Stirn treiben und zu Umschichtung in nachhaltige Anlagen beitragen. Die Studie konstatiert, dass die negativen Effekte auf die Renditen umso größer ausfallen, je stärker sich der Planet erwärmt. Der Bericht kommt zu der Schlussfolgerung: “The Sequel provides investors with a clear framework and tools to start actively supporting the transition to a 2° C scenario – as ‘Future Makers’. Fiduciaries, motivated by the economic and social interests of their beneficiaries and clients, have the opportunity – and, arguably, the obligation – to use their portfolios and their influence to help guide us toward this more economically secure outcome” (Mercer 2019, S. 14). Ich schließe an dieser Stelle diese allgemeinen Betrachtungen ab und wende mich im Folgenden dem Hauptanliegen dieses Beitrags zu: Ein Kartierungsangebot für die große Vielzahl an Akteur/innen und Initiativen vorzuschlagen und damit zugleich dazu anzuregen, sich – davon ausgehend – noch intensiver mit der Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts vertraut zu machen.
12Siehe
https://ec.europa.eu/clima/policies/international/finance_en, am 07.03.2020. https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/banking-and-finance/sustainable-finance_ en#ipsf, am 07.03.2020. 14Siehe https://ec.europa.eu/clima/policies/international/finance_en, am 07.03.2020. 13Siehe
46
2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
2.3 Ein Vorschlag zur Kartierung des nachhaltigen Finanzmarkts Für eine Verortung der Vielzahl an Akteur/innen im Bereich Nachhaltigkeit und Finanzmarkt möchte ich ein Schema vorschlagen, das sich entlang der Frage orientiert: Welches Verhältnis zu Geld ist für die Akteur/innen handlungsleitend? Idealtypisch spannt sich dabei für die Handlungsorientierung der Akteur/innen ein Kontinuum zwischen zwei Polen auf. An dem einen Ende des Kontinuums können wir die Herangehensweise Geld als Selbstzweck, am anderen Ende die Herangehensweise Geld als Mittel zum Zweck idealtypisch konstruieren.15 Mit Geld als Selbstzweck ist die im Finanzmarkt dominierende Orientierung an der Mehrung des Geldes an und für sich verbunden. Der nicht-finanzielle Wert des Umweltschutzes oder sozialer Belange findet Eingang in die gewohnten Risiko-Rendite-Überlegungen, ohne diese grundlegend zu irritieren. So wird beispielsweise Klimaschutz als Klimarisiko für die Renditeerwartung gerahmt und integriert, ohne die dominierenden Handlungslogiken und Vorstellungen in Frage zu stellen. Am anderen Ende des Kontinuums befindet sich Geld als Mittel zum Zweck. Geld wird hier als ein Mittel betrachtet, welches einen Zweck jenseits der Geldmehrung erfüllen kann und soll. Geld wird im Sinne der Nachhaltigkeit als Mittel zur nachhaltigen Gestaltung von Gesellschaft und Umwelt eingesetzt. Entscheidend ist hierbei, dass bereits die Geldanlage mit dieser Zweckorientierung untrennbar verbunden wird. Gemeint ist hier also nicht der Fall Bill Gates, der zunächst ohne weitere Berücksichtigung von Sozial- und Umweltstandards sein Geld mehrt beziehungsweise gemehrt hat (im Sinne des Friedmanschen „the business of business is business“ (Friedman 1970)), um dann mit einem Teil dieses Gewinnes im Rahmen einer Stiftung philanthropische Charity-Projekte zu finanzieren. Ebenfalls ist damit nicht die Spende gemeint. Die hier in diesem Band betrachtete Spannbreite des Themas Nachhaltigkeit und Finanzmarkt bewegt sich immer im Rahmen von Finanzströmen, die finanziellen Return für Anleger/innen konzeptionell vorsehen.
15Der Idealtypus „ist kein Abbild der empirischen Realität“, „sondern eine Konstruktion des Wissenschaftlers, ein Vorgang der Abstraktion und gedanklichen Steigerung einiger Elemente dessen, was man in der empirischen Realität vorfindet, sowie ein Vorgang der Herstellung von Kohärenz, die sich in der Wirklichkeit nicht in derselben Weise findet. In diesem Sinne trägt der Idealtypus laut Weber den Charakter einer ‚Utopie‘, im Sinne eines Nicht-Ortes“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 329).
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2.3 Ein Vorschlag zur Kartierung des nachhaltigen Finanzmarkts Welches Verhältnis zum Geld ist für die Akteur/innen handlungsleitend?
A: Geld direkt lenken (Eigenes/ Fremdes)
Wirkungskreise
B: Geld indirekt lenken (for-profit/ non-profit) C: Geld lenken durch Regulierung (internat./ europ./ dt. Ebene) A
B
C
Geld als Selbstzweck
Geld als Mittel zum Zweck
Abb. 2.1 Drei Wirkungskreise. (Quelle: Eigene Darstellung)
Die jeweilige Ausprägung dieser Handlungsorientierung kann sich in Wirkungskreisen auf Geld realisieren, von denen ich – ebenfalls wieder idealtypisch – drei unterscheide: A: Geld direkt lenken, B: Geld indirekt lenken, C: Geld durch Regulierung lenken.16 (Abb. 2.1).
2.3.1 A: Geld direkt lenken Wir finden am Markt die Akteur/innen, die über Entscheidungsmacht über eigenes oder fremdes Geld verfügen. In ihrer Handlungsorientierung im Verhältnis zu Geld finden wir an einem Ende des Kontinuums eine (idealtypische) Ausprägung, die Geld als Selbstzweck betrachtet. Diese Orientierung kann kurz-, mittel- oder langfristig ausgeprägt sein. Dabei kann beispielsweise entweder in klimaschädliche oder klimafreundliche Anlageobjekte investiert werden, aber die Zielgröße ist stets die Mehrung des Geldes, egal womit. An einem Beispiel mit idealtypischer Zuspitzung illustriert, wären bei einer kurzfristigen Orientierung gute Gewinne aus dem Kohleabbau zu realisieren. Langfristig wären diese Gewinne kaum mehr zu realisieren, jedenfalls dann nicht, wenn die durch den Klimawandel provozierte Gefahr einer Regulierung und eines eventuell nicht mehr möglichen Kohleabbaus mit eingepreist werden. Wer sein Geld zum Selbstzweck mehren
16Die
Wirkungskreise unterscheiden sich bewusst von der häufig in der Praxis anzutreffenden Unterscheidung in Investor/innen und Intermediäre, um der für das Schema leitenden Fragestellung zum Verhältnis zum Geld nachkommen zu können. In Wirkungskreis B und C sind nicht nur die klassischen Marktintermediäre verortet, die Informationsdefizite ausgleichen, sondern auch darüberhinausgehende Akteur/innen und Initiativen.
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2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
will, nimmt dann von der Investition in Kohle Abstand, aber nicht aus Klimaschutzüberlegungen. Vielmehr findet der nicht-finanzielle Wert des Klimaschutzes Eingang in die gewohnten Risiko-Rendite-Überlegungen. Geld als Selbstzweck will Geld mehren und jedes (legale) Mittel ist dabei akzeptabel. Anders gelagert ist der Fall bei einer Handlungsorientierung entlang von Geld als Mittel zum Zweck. Hier geht es beispielsweise um die Lenkung von Finanzströmen, die in erneuerbare Energien investiert werden, um das Zwei-Grad-Ziel im Sinne einer nicht-finanziellen Werteorientierung zu erreichen. An dieser exemplarischen Gegenüberstellung wird deutlich, warum ich an dieser Stelle von Idealtypen spreche: Die motivationalen Lagen und Einstellungen zum Verhältnis zu Geld sind nur analytisch zu trennen. Wir finden in der Realität eine Vielzahl an Kombinationen und selbst innerhalb einer einzigen Organisation können unterschiedliche Ausprägungen koexistieren. Eine Investition in einen klimafreundlichen Aktienfonds kann entsprechend Ergebnis unterschiedlicher idealtypisch differenzierbarer Handlungsorientierungen sein. Innerhalb einer vornehmlich nach Risiko-Rendite-Gesichtspunkten aufgestellten Bank (Geld als Selbstzweck) können Produkte auf dem ganzen Spektrum des Kontinuums angeboten werden, die den Kund/innen erlauben, ihre spezifische Handlungsorientierung auch deutlich stärker in Richtung Geld als Mittel zum Zweck durch die Investition in eines der Finanzprodukte auszudrücken. Letztlich kann die konkrete Verortung auf dem Kontinuum meist nur nach eingehender Beschäftigung mit den entsprechenden Akteur/innen erfolgen. In unserem Forschungsprojekt nutzen wir die Methoden der qualitativen Sozialforschung, insbesondere die Deutungsmusteranalyse, die Framinganalyse oder auch die Analyse von Narrativen, um das Verhältnis von Finanzmarkt und Nachhaltigkeit zu untersuchen. In der nun folgenden exemplarischen Zuordnung von Organisationen, Initiativen oder sozialen Bewegungen in das Schema nutze ich lediglich die auf den ersten Blick zu erkennenden Differenzierungsmerkmale als erste Anregung für eine eingehendere Beschäftigung damit. Das hier vorgestellte Schema will in der vielfältigen Landschaft von Organisationen, Initiativen und sozialen Bewegungen durch eine Kartierungsmöglichkeit lediglich eine Orientierungshilfe bieten. Sowohl Geld als Selbstzweck als auch Geld als Mittel zum Zweck benötigen (mindestens) zweierlei: Zum einen eine Infrastruktur mit Expertise und Informationen (B). Zum anderen eine Regulierung, die den Finanzmarkt über Soft oder Hard Law so rahmt, dass Markthandeln ermöglicht wird (C).
2.3.2 B: Geld indirekt lenken Betrachten wir zuerst die Notwendigkeit einer Infrastruktur für Expertise und Informationen, die jeweils indirekt lenkend auf die Anlageentscheidung Einfluss nehmen (B). Damit bei der Entscheidung über eine Geldanlage ein etwaiges Risiko (im Sinne von Geld als Selbstzweck) oder ein besonderes Thema aus dem Umwelt- oder Sozialbereich
2.3 Ein Vorschlag zur Kartierung des nachhaltigen Finanzmarkts
49
(im Sinne von Geld als Mittel zum Zweck) berücksichtigt werden kann, benötigen die Anleger/innen Informationen und Expertise. Diese können sie sich entweder auf dem Markt zukaufen (B.1. gewinnorientiert/for-profit) oder erhalten sie frei verfügbar (B.2. nicht gewinnorientiert/non-profit).17 Zukaufen können sie sich beispielsweise die Ergebnisse der Arbeit von auf Nachhaltigkeitsthemen spezialisierten Ratingagenturen. Wir finden mittlerweile eine Vielzahl an Akteur/innen, die zwar kein eigenes Geld verwalten, aber ihr Geld damit verdienen, dass sie andere bei der Geldanlage beraten. Die kritische Zivilgesellschaft hingegen, häufig in der Gestalt von N icht-Regierungsorganisationen und/oder Vereinen, deckt Skandale auf und stellt Expertise bereit, ohne damit eine Gewinnorientierung zu verbinden. Benötigen die Investor/innen Informationen, etwa darüber, welches Unternehmen in Kohle investiert oder in mit Blick auf Menschenrechte fragwürdige Geschäfte involviert ist, wird in der Regel aus der Fülle der Informationen aus for-profit und non-profit geschöpft. Der Wert dieser Informationen ist deswegen hoch oder interessant, weil es kaum zugrunde liegende Regulierungen gibt, die eine Offenlegung dieser Informationen verpflichtend einfordern und damit allen Marktteilnehmer/ innen frei zugänglich machen würde. Doch selbst wenn eine Regulierung etwa zur Berichterstattung aufruft, ist meist die fehlende Standardisierung, die Fülle der ansonsten noch zu beachtenden Informationen etc. so groß, dass dennoch weitere Expertise in diesem komplexen Feld notwendig ist und gerne in Anspruch genommen wird. Zudem ist ein stetiges Lobbying ebenfalls gerne über Verbände oder Vereine im non-profitBereich organisiert. Durch beide Bereiche hindurch, for-profit und non-profit zieht sich das gesamte Spektrum an Orientierungen auf dem Kontinuum von Geld als Selbstzweck bis hin zu Geld als Mittel zum Zweck. Wir finden die den Investor/innen sehr freundlich gegenüberstehenden Beratungsunternehmen, die die Integration von Klimarisiken in die konventionell etablierte Gewinnorientierung unterstützen, wie auch die Beratungsunternehmen, die fast schon wie kritische NGOs institutionelle Investoren zu Geld als Mittel zum Zweck beraten. Gleiches gilt für den N on-Profit-Bereich. Es ist für alle Akteur/ innen einzeln zu prüfen, wie die Handlungsorientierung zum Geld auf dem Kontinuum zwischen Geld als Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck ausgeprägt ist.
2.3.3 C: Geld durch Regulierung lenken Betrachten wir zum anderen die Maßnahmen, die durch Regulierung verfügt werden (C). Diese können auf sehr vielfältige Art und Weise in den Markt eingreifen, etwa durch freiwillige (soft law) oder rechtlich bindende (hard law) Standardisierungsinitiativen.
17Die
Unterscheidung zwischen Non-Profit- und Not-for-Profit-Organisationen ist nicht einheitlich definiert. Im Folgenden verwende ich den Begriff non-profit und möchte damit lediglich anzeigen, dass die Organisationen ihre Orientierung nicht primär an der Mehrung des Gewinns orientieren, sondern am damit ermöglichten Zweck.
50
2 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts
Für Akteur/innen mit einer Handlungsorientierung Geld als Selbstzweck ist dies dann ein weiterer rechtlicher Rahmen (d. h. eine Spielregel), der in der Risiko-Rendite-Optimierung beachtet werden muss, wie so viele andere Regulierungen auch. Für Akteur/innen mit einer Handlungsorientierung Geld als Mittel zum Zweck ist damit die eigene Entscheidung über eine Werteorientierung mit der Geldanlage (entweder rechtlich bindend oder durch soft law moralisch fordernd) nicht mehr gänzlich im eigenen Ermessensspielraum. Die Möglichkeiten, über freiwillige Entscheidungen den eigenen Werten bei der Finanzanlage zu folgen, ist eingeschränkt. Regulierung kann sich aber auch auf das Einfordern einer Informationsinfrastruktur beziehen, wenn etwa auf EU-Ebene eine sozial-ökologische Berichtspflicht für Großkonzerne verbindlich gefordert wird. Was dann mit diesen Informationen geschieht, ist offen. Beide Handlungsorientierungen profitieren von einem Mehr an Informationen. Doch eine Berichtspflicht hat vermutlich auch unintendierte (Neben-)Folgen. Indem Themen expliziert werden, kann leichter öffentlicher Druck entstehen und das Reputationsrisiko steigen, was insbesondere für Anleger/innen mit einer Orientierung Geld als Selbstzweck relevant sein könnte. Doch Regulierung kann auch deutlich weniger sichtbar eingreifen. Nehmen wir das in Deutschland übliche Stiftungsrecht. Es ist das Recht von Stifter/innen, einen Stiftungszweck festzulegen. Will die Stiftung das dafür zu bewirtschaftende Stiftungskapitel zudem unter Berücksichtigung nicht-finanzieller Kriterien anlegen, kann dies Spannungen zu den Stiftungsstatuten mit sich bringen. Sind die Stifter/ innen davon ausgegangen, dass das Kapital im Sinne einer Risiko-Rendite-Optimierung bestmöglich gemehrt werden soll, um möglichst viel Geld dem Stiftungszweck zukommen zu lassen, dann sind etwaige Renditeabstriche oder die Berücksichtigung nicht mit dem Stiftungszweck konformer nicht-finanzieller Kriterien inakzeptabel. Oder ziehen wir noch ein weiteres Beispiel zur Illustration aus dem Bankbereich heran. Die GLS-Bank macht transparent, welche Unternehmen mit Krediten finanziert werden. Dabei müssen sie aber an Vorgaben zum Datenschutz halten und ihre offengelegten Informationen entsprechend anpassen. Wie auch bereits für die Wirkungskreise A und B ausgeführt, ist auch hier jede Regulierung wieder dahin gehend neu zu prüfen, wie sie sich auf einem Kontinuum von Geld als Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck verorten lässt.
2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung Im Folgenden will ich exemplarisch jeweils einzelne Akteur/innen, Initiativen etc. aufzeigen, die dem jeweiligen Wirkungskreis zugeordnet werden können. Dies erhebt nicht den Anspruch einer abschließenden Aufzählung, sondern dient als Illustration für mögliche Zuordnungen im Schema.18 18Siehe für internationale Fallstudien etwa zu Brasilien, China, Marokko, Indien, verschiedene europäische Länder oder Russland auch UN Environment und World Bank Group (2017, S. 87 ff.).
2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung
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2.4.1 A: Geld direkt lenken Im Wirkungskreis Geld direkt lenken haben die Akteur/innen direkte Entscheidungsmacht über eigenes oder fremdes Geld. Ihre Handlungsorientierung ist auf dem idealtypischen Kontinuum zwischen Geld zum Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck in ganz unterschiedlicher Realisation vorzufinden. Prinzipiell sind fast alle Anlageprodukte, die es im konventionellen Finanzmarkt gibt, auch in nachhaltiger Variante erhältlich (Aktienfonds, Aktienindizes, usw.). Lediglich die hochspekulativen Produkte sind mit den Grundwerten nachhaltigen Anlegens (meist) nicht vereinbar und deswegen nicht im nachhaltigen Finanzmarkt anzutreffen. Im Folgenden will ich exemplarisch für diesen Wirkungskreis Akteur/innen und Initiativen aus den Bereichen Banken, kritische Aktionär/innen, Impact Investing und aus der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung aufzeigen. Banken. Banken spielen nach wie vor in Deutschland eine gewichtige Rolle auf dem Finanzmarkt. Obgleich sich mittlerweile eine Hybridisierung mit Elementen einer marktbasierten Finanzierung eingestellt hat (Lütz 2005, 2017), ist die Tradition eines bankbasierten Systems bis heute prägend und hat auch die Geschichte der Nachhaltigkeit am Finanzmarkt in Deutschland mit initiiert. Mit der Ökobank, die später in der GLS-Bank aufgegangen ist, war es eine Bank, die in Deutschland wahrnehmbar damit begonnen hat, die Berücksichtigung nicht-finanzieller Kriterien bei der Finanzierung einzufordern (Brockemühl und Kerler 1985; Förster 1997; Hiß 2011, 2012b). Aktuell gibt es mindestens 14 Spezialbanken (laut Zählung des Forums Nachhaltige Geldanlagen), deren Fokus die Veranlagung der Kundeneinlagen nach Nachhaltigkeitskriterien ist.19 Dennoch haben zunehmend auch ehemals rein konventionelle Banken Nachhaltigkeitsprodukte im Angebot. In allen drei Säulen – Privatbanken, Sparkassen und Landesbanken, Raiffeisenund Genossenschaftsbanken – finden sich mittlerweile vielfältige Beispiele für die Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit (siehe ausführlicher zu Nachhaltigkeit und Banken den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band). Kritische Aktionär/innen. Zunehmend auch in Deutschland aktiv sind kritische Aktionär/innen, die sich für mehr unternehmerische Nachhaltigkeit einsetzen (Bergius 2012; Bergius 2019a; Keltsch 2012; Riedel und Schneeweiß 2008). Über die Ausübung von Rede- und Stimmrechten auf Hauptversammlungen zielen sie darauf ab, auf die Unternehmen Einfluss zu nehmen, indem sie Aufsichtsräte, Vorstände und die Aktionär/ innen für problematische Geschäftsaktivitäten sensibilisieren; zum Teil suchen sie auch
19Diese 14 Banken (Bank im Bistum Essen eG, Bank für Kirche und Caritas eG, Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank, Bank für Orden und Mission, Bank für Sozialwirtschaft AG, DKM Darlehnskasse Münster eG, Evangelische Bank eG, EthikBank, Evenord-Bank eG-KG, GLS Bank, Pax-Bank eG, Steyler Ethik Bank, Triodos Bank N.V. Deutschland, UmweltBank AG) verzeichneten von 2017 bis 2018 ein Wachstum von acht Prozent an Kundeneinlagen (FNG 2019b, S. 17).
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den direkten Dialog mit den Unternehmen, um diese zu einem verantwortlicheren und nachhaltigeren Wirtschaften zu bewegen. Sie bevorzugen die Strategie Voice (d. h., ihre Stimme zu erheben) über Exit (d. h., ihre Aktien zu verkaufen wie etwa beim Divestment). Neben der Einzelnutzung von Stimmrechten machen sie teilweise auch vom sogenannten Proxy Voting Gebrauch. Dabei werden Stimmrechte von Aktionär/innen an Dienstleister/innen vergeben, die diese Stimmrechte dann bei Hauptversammlungen im Sinne der Auftraggeber/innen gebündelt ausüben. In der Praxis ist die Bandbreite aktiven Aktionärstums groß, denn es gibt keine etablierten Regeln.20 In Deutschland ist darüberhinaus der Dachverband Kritische Aktionärinnen und Aktionäre e. V. aktiv.21 Aktionär/innen treten ihre Stimmrechte ab, sodass die Vertreter/innen des Dachverbandes auf Hauptversammlungen mit Rederecht ausgestattet Beiträge platzieren können. Ihnen geht es hierbei vor allem auch um den dadurch öffentlich ausgeübten Druck auf die Konzerne, etwa durch die begleitende Medienberichterstattung.22 Auf europäischer Ebene gibt es beispielsweise das Netzwerk Shareholders for Change (SFC), unter anderem mitbegründet von der deutschen Bank für Kirche und Caritas eG, das über Shareholder Engagement mit dem folgenden Ziel arbeitet: “to enhance a sustainable development as an essential element of their role as bond- and shareholders […] [and] to support the development of sustainable financial markets and a global economy aligned with the Sustainable Development Goals (SDG) Framework.”23 SFC hat Ende 2018 die Studie ‚Bad Connection‘ vorgelegt, in der sie auf die mangelnde Steuertransparenz bei fast allen europäischen Telekommunikationsriesen hinweist, und eine Handreichung für Investor/innen entwickelt, wie sie von den Unternehmen mehr Transparenz einfordern können (Shareholders for Change 2018).
20Ein
Beispiel führt Bergius aus: „So beauftragte das Bundesland Sachsen-Anhalt im November 2018 nach einer Ausschreibung die britischen Hermes Equity Ownership Services (EOS) für 200.000 € mit Proxy Voting und ESG-Engagement für sein Anlageportfolio von gut 2,2 Mrd. €, inklusive des Pensionsfonds (844 Mio. €). Hermes EOS durchleuchtet dafür Unternehmensanleihen, Wandelanleihen und Aktien nach Nachhaltigkeitskriterien. Stellt Hermes EOS dabei Missstände fest, ist ‚eine aktive und begleitende Dialogführung mit den betreffenden Unternehmen zur Beseitigung der Missstände‘ vereinbart, wie es in der Vertragsnotifizierung heißt. Der Dienstleister soll eine positive Entwicklung bei solchen Unternehmen erwirken. Er hat Rechenschaft abzulegen, ob die Gespräche fruchten oder nicht“ (Bergius 2019a, S. 4 f., dort auch weiterführende Informationen zur Hermes EOS). 21Siehe
https://www.kritischeaktionaere.de/, am 07.03.2020. gäbe auch gute Argumente, diese Aktivitäten auch in den Bereich B.2 dieses Schemas einzuordnen, denn der teilweise nur symbolische, aber faktisch sehr geringe Stimmanteil ist lediglich als Eintrittskarte zur Hauptversammlung zu verstehen, aber nicht als Entscheidungsmacht über die Lenkung von Finanzströmen. 23Siehe https://www.shareholdersforchange.eu, am 07.03.2020. 22Es
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Impact Investment/Impact Investing. Zum Thema Impact Investment oder Investing gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen, deren Gemeinsamkeit der Fokus auf die tatsächliche Wirkung eines Investments ist (Golka 2019). Impact Investing will nicht bei der formalen Erfüllung von Anlagekriterien oder Berichtstätigkeiten stehen bleiben, sondern ergründen, wie viel Nachhaltigkeits-Wirkung ein Investment tatsächlich erzielt. In diesem Sinne will beispielsweise das Global Impact Investing Network (GIIN) zu einem wirkungsorientierten Anlegen verhelfen.24 In einer Studie aus dem Jahr 2019 mit dem Titel ‚Sizing the Impact Investing Market‘ schätzt es das Volumen des weltweiten Marktes für wirkungsorientiertes Investieren auf 502 Mrd. US$, angelegt von circa 1300 Impact Investor/innen (Vermögensmanager/innen, Stiftungen, Banken, Entwicklungsbanken, Privatinvestor/innen, Versicherungsunternehmen, Pensionsfonds, etc.) (GIIN 2019). Aufgrund des vielfältigen Verständnisses hat GIIN auch den Versuch unternommen, Minimalerwartungen an das Impact Investing zu formulieren, sogenannte Core Characteristics of Impact Investing. Das Phänomen Impact Investing ist analytisch im Schema dem Wirkungskreis Geld direkt lenken zuzuordnen. Impact Investing wird begleitet von einer Vielzahl von Akteur/innen aus dem Wirkungskreis Geld indirekt lenken (B: for-profit und non-profit). Neben dem GIIN sei an dieser Stelle noch die sogenannte Bundesinitiative für Impact Investing e. V. erwähnt. Sie verfolgt das Ziel, „durch den Aufbau des Impact-Investing-Ökosystems in Deutschland Voraussetzungen [dafür zu] schaffen, dass zusätzliches Kapital zur Bewältigung sozialer und ökologischer Herausforderungen eingesetzt wird.“25 Ein Vorreiter im Investment Asset Management mit Spezialisierung auf Nachhaltigkeit im deutschsprachigen Raum ist das seit über 20 Jahren aktive Schweizer Unternehmen SAM beziehungsweise RobecoSAM. Es bietet eine Vielzahl an Aktienfonds und -indizes für institutionelle Anleger/innen an und verfolgt dabei die Zielsetzung, den Anspruch des Impact Investings zu erfüllen (Lehner et al. 2019).26 Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung. Dies ist eine soziale Bewegung, die im Gegensatz zu einer Organisation keine klare Mitgliedschaftszugehörigkeit ausweisen kann. Ihren Ausgang nahm die Bewegung 2008 an US-amerikanischen Hochschulen und den dortigen studentischen Protesten gegen Investitionen in fossile Energien. Die internationale Klimaschutz-Organisation 350.org27 ist mittlerweile die tragende Organisation hinter der Bewegung, die auch in Deutschland aktiv ist. Wenn Investor/innen ihr Geld divestieren, also abziehen, dann im Sinne dieser Bewegung aus klimaschädlichen
24Siehe
https://thegiin.org, am 07.03.2020. https://bundesinitiative-impact-investing.de/about/, am 18.03.2020. 26Siehe https://www.robecosam.com/de/investmentansatze/, am 20.03.2020. 27Siehe https://350.org/, am 20.03.2020. 25Siehe
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Anlagen (obgleich der Vorgang als solcher sich auf viele verschiedene Themen beziehen kann und in der Vergangenheit auch schon bezogen hat, etwa auf das ApartheidRegime in Südafrika in den 1980er Jahren). Sie werden dazu entweder von der sozialen Bewegung des Divestments gedrängt oder sind selbst Mittragende dieser Bewegung. Es ist also nicht die Bewegung, die dem Wirkungskreis A zugeordnet wird, sondern die in diesem Kontext tatsächlich divestierenden Investor/innen (siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß in diesem Band).
2.4.2 B: Geld indirekt lenken Im Wirkungskreis Geld indirekt lenken werden diejenigen Akteur/innen und Initiativen erfasst, die eine Infrastruktur mit Expertise und Informationen rund um Nachhaltigkeit anbieten. Die Bereitstellung von Informationen in komplexen Systemen ist bei jedem Aufbereitungsschritt meist untrennbar mit Entscheidungen verbunden – welche Informationen werden hervorgehoben, erhoben, mit welcher statistischen Methode der Aggregation wird gearbeitet etc. Informationsaufbereitung und Expertise sind nicht wertneutral, dienen dem Lobbying und prägen den Markt tiefgreifend. Expertise und Informationen lenken damit indirekt Geldströme. Für diesen Wirkungskreis will ich im Folgenden zudem noch die Unterscheidung in For-Profit- und Non-Profit-Organisationen und -Initiativen einführen.
2.4.2.1 B. 1: For-Profit-Organisationen Die Infrastruktur wird einerseits von Organisationen mit einer Gewinnorientierung (for-profit) am Markt angeboten. Exemplarisch verweise ich hier auf die Aktivitäten der Börsen, Rating- und Researchagenturen, von Finanzberater/innen, Beratungsunternehmen und von Anbieter/innen von Weiterbildungsangeboten. Börsen. Auch die mittlerweile überwiegend als Unternehmen aufgestellten Börsen haben in den letzten Jahren das Thema Nachhaltigkeit verstärkt in den Blick genommen. Die Deutsche Börse AG mit Sitz in Frankfurt am Main hat beispielsweise ein Segment für Green Bonds (grüne Anleihen) geschaffen.28 Mit der Begebung von Green Bonds beschaffen sich Emittenten Mittel für Umwelt- und Sozialprojekte.29 Die an der
28Siehe
https://www.boerse-frankfurt.de/widgets/anleihen/green-bonds, am 07.03.2020. Kritisch zu Green Bonds die Publikation von Südwind (Schneeweiß 2019). 29Siehe https://www.db.com/cr/de/konkret-Deutsche-Bank-unterstuetzt-Leitlinien-fuer-gruene-Anleihen.htm, am 13.03.2020.
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Deutschen Börse gelisteten Unternehmen richten sich nach den 2014 verabschiedeten und 2018 aktualisierten Green Bond Principles (GBP), die von der International Capital Markets Association (ICMA) als freiwilliger Standard entwickelt wurden (ICMA 2018). Dieser Markt wächst rasant und wird explizit mit der notwendigen Finanzierung zum Schutz des Klimas in Verbindung gebracht. Im März 2020 hat die Deutsche Börse AG zudem einen neuen Nachhaltigkeits-Index aufgelegt, den sogenannten DAX 50 ESG.30 Allerdings werden Aktienindizes von einer Vielzahl an Organisationen, nicht nur Börsen, aufgelegt und bilden ein eigenes Betrachtungsfeld für die stattfindende Entwicklung nachhaltiger Varianten31 von Aktienindizes. Die Deutsche Börse trat zudem im Mai 2017 mit ihrer Initiative Accelerating Sustainable Finance32 in die Öffentlichkeit. Sie wurde ins Leben gerufen von der Gruppe Deutsche Börse gemeinsam mit Akteur/innen des Finanzplatzes Frankfurt am Main und wurde von einer Auftaktkonferenz begleitet, auf der die ‚Frankfurter Erklärung‘ zur Schaffung nachhaltiger Infrastrukturen in der Finanzwirtschaft verabschiedet wurde (Deutsche Börse 2018). Im April 2018 kam es zu einer Fortführung der Accelerating Sustainable Finance-Initiative gemeinsam mit dem Green Finance Cluster des Hessischen Wirtschaftsministeriums im Green and Sustainable Finance Cluster Germany (GSFCG). Das GSFCG will den Charakter eines Netzwerks pflegen und mit Expertise für die Umsetzung von Nachhaltigkeit oder Klimaschutz am Finanzmarkt zur Seite stehen. Ziel ist die Stärkung der Sustainable F inance-Initiativen vor allem für den Finanzplatz Deutschland.33 Rating- und Researchagenturen nehmen die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen, Staaten oder Finanzprodukten in den Blick und können damit das bekannte Rating zur Kreditwürdigkeit (Hiß und Nagel 2019) ergänzen. Sie bieten ihre Informationen als Marktleistung an und arbeiten gewinnorientiert.34 Gegenwärtig sind sie etwa damit beschäftigt, Messinstrumente dafür zu entwickeln, welchen Beitrag Unternehmen zu den SDGs leisten (vgl. hierzu auch Eurosif 2017). Aktuell gibt es dazu noch sehr heterogene Ansätze. Dies ist auch darin begründet, dass Unternehmen zu den Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf SDGs noch uneinheitliche Informationen liefern (Bergius 2018a, S. 11; siehe dazu auch Novethic 2018, S. 1). Vergleichbar zum Markt der klassisch auf Kreditwürdigkeit spezialisierten Ratingagenturen kam es auch
30Siehe
https://www.dax-indices.com/index-details?isin=DE000A0S3E04, am 13.03.2020. wurde der Dow Jones Sustainability Index bereits im Jahr 1999 gegründet. Weitere Hinweise auf in Deutschland gelistete nachhaltige Indizes liefert zum Beispiel die Seite https://www.nachhaltiges-investment.org/Indizes/Indexprovider.aspx, 20.03.2020. 32Siehe https://deutsche-boerse.com/dbg-de/nachhaltigkeit/unsere-verantwortung/accelerating-sus tainable-finance, am 07.03.2020. 33Siehe https://gsfc-germany.com, am 07.03.2020. 34Das Forum Nachhaltige Geldanlagen listet ca. 20 Mitglieder für den Bereich Rating- /Researchagenturen auf. https://www.forum-ng.org/de/fng/mitglieder-6/fng-mitglieder/rating-agentur-research einrichtung.html, am 13.03.2020. 31Beispielsweise
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für die auf Nachhaltigkeit spezialisierten Agenturen in den letzten Jahren zu einer Konsolidierung des Marktes mit amerikanischer Dominanz. Aktuell sind einer Studie von Novethic folgend die drei Agenturen MSCI, ISS und Sustainalytics dominierend (Novethic 2018). Eine weitere Ratingagentur in Deutschland, die sich bisher nicht an der beschriebenen Marktkonsolidierung beteiligt, ist die Imug Beratungsgesellschaft, die 1995 als ein Spin-off des Instituts für Markt-Umwelt-Gesellschaft an der Leibniz Universität Hannover in der Rechtsform einer GmbH gegründet wurde. Die Agentur kooperiert mit Vigeo Eiris und damit mit einem der großen Dienstleister für nachhaltige Investments.35 Finanzberater/innen und Beratungsunternehmen. Mittlerweile hat sich der Markt für Beratung zum Thema Finanzmarkt und Nachhaltigkeit auch in Deutschland deutlich weiterentwickelt und kann hier nicht in Gänze abgebildet werden.36 Wir finden klassische Finanzberater/innen sowohl für individuelle als auch für institutionelle Anleger/innen. Wir beobachten aber auch Unternehmen, die Beratung und eigene wissenschaftliche Tätigkeiten verbinden. Es existieren in diesem Marktsegment ganz vielfältige Geschäftsmodelle im For-Profit-Bereich und auch in Kombination mit dem Non-Profit-Bereich. Exemplarisch seien hier genannt das NKI – Institut für nachhaltige Kapitalanlagen GmbH.37 Es beschreibt sich als unabhängiges Beratungs- und Forschungsinstitut und zielt auf institutionelle Investor/innen, Vermögensverwalter/ innen und Unternehmen. Das NKI weist ebenfalls eine Publikations- und Studientätigkeit aus. Die später noch ausgeführte Studie zusammen mit dem WWF Deutschland zum Bankenrating (Hafner, Häßler und Shahyari 2020) ist Ausdruck für die vielfältigen Kooperationen zwischen For-Profit- und Non-Profit-Sektor. Beratungsunternehmen wie etwa adelphi, welches genau genommen aus zwei Unternehmen besteht (adelphi consult GmbH mit dem Tochterunternehmen research gemeinnützige GmbH)38, fokussieren beispielsweise für das Thema Klimafinanzierung auf öffentliche Auftraggeber/innen (wie z. B. die die Bundesregierung unterstützende GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH)39 und beraten zum Green Climate Fund (GCF; Grüner Klimafonds) und dessen Umsetzungspotentiale. Der GCF will mit öffentlichen
35Siehe
https://www.imug.de/imug-rating/, am 07.03.2020. FNG listet in der Kategorie ‚Finanzberater und Vermögensverwalter‘ fast 50 Mitgliedsorganisationen auf. Die Zuordnung des FNG zu den Kategorien ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem hier vorgestellten Schema, dient aber als guter Anhaltspunkt für die Anzahl besonders aktiver Marktteilnehmer/innen. Siehe https://www.forum-ng.org/de/fng/mitglieder-6/fngmitglieder/kategorie-finanzberater-und-vermoegensverwalter.html, am 13.03.2020. 37Siehe https://nk-institut.de/, am 07.03.2020. 38Siehe https://www.adelphi.de/de/themen/klima/klimafinanzierung, am 13.03.2020. 39Siehe https://www.giz.de, am 13.03.2020. 36Das
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Geldern maßgeblich die Transformation von Entwicklungs- und Schwellenländern im Sinne des Klimaschutzes nach dem Pariser Abkommen unterstützen und wurde vom United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) bereits 2010 ins Leben gerufen, erlebt allerdings erst jetzt größere Aufmerksamkeit. Weiterbildungsangebote. Weiterhin gibt es eine wachsende Anzahl an Organisationen, die zertifizierte Weiterbildungsangebote entwickeln. Eines der ersten am deutschsprachigen Markt war das Unternehmen ECOreporter GmbH, das den Fernlehrgang ECOanlageberater seit vielen Jahren anbietet.40 Auch (Privat-)Universitäten haben den Markt für Weiterbildung erkannt, wie etwa die Executive School der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht gGmbH mit ihrem Kompaktstudium Sustainable & Responsible Investments (SRI).41
2.4.2.2 B. 2: Non-Profit-Organisationen, -Initiativen oder -Bewegungen Die Infrastruktur an Expertise und Informationen wird andererseits von Organisationen, Initiativen oder Bewegungen ohne primäre Gewinnorientierung (non-profit) erbracht. Exemplarisch verweise ich a) auf ausgewählte Verbände, die ein breites Spektrum an Handlungsorientierungen abdecken – von der Interessenvertretung aus dem inneren Wirkungskreis mit einer Orientierung Geld zum Selbstzweck bis hin zu denjenigen mit einer Orientierung hin zu Geld als Mittel zum Zweck. Zudem nenne ich b) einige NGOs, die auch durchaus explizit die Interessen derjenigen vertreten, die kein oder nur wenig eigenes Geld haben. Schließlich erwähne ich c) die sozialen Bewegungen, insbesondere die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung, die mit den und gegen die Akteur/innen des inneren Wirkungskreises (A) agieren. Vielen ist gemein, dass sie in unterschiedlicher Intensität auch auf den äußeren Wirkungskreis Lenken durch Regulierung einwirken wollen, um hier Lobbying in ihrem Sinne zu betreiben. Fachverbände für nachhaltiges Investieren finden sich mittlerweile in vielen Ländern sowie in überregionalen Zusammenschlüssen. Auf europäischer Ebene bildet das European Sustainable and Respon`sible Investment Forum (Eurosif) einen europaweiten Zusammenschluss von vor allem nationalen Fachverbänden zum nachhaltigen Investieren (siehe dazu auch die achte Ausgabe der SRI Studie: Eurosif 2018). Auch das bereits angesprochene, im Jahr 2001 gegründete Forum Nachhaltige Geldanlagen e. V. (FNG) ist als Fachverband für den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Lichtenstein, Schweiz) Mitglied bei Eurosif und hat diesen einst sogar mitgegründet. Die aktuell mehr als 160 Mitglieder des FNG kommen aus allen Teilbranchen, unter anderem
40Siehe
https://www.ecoanlageberater.de/, am 08.03.2020. https://www.ebs.edu/de/zertifikatsprogramm/sustainable-und-responsible-investments, am 07.03.2020. 41Siehe
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Banken, Kapitalanlagegesellschaften, Versicherungen, Ratingagenturen, Investmentgesellschaften, Vermögensverwalter/innen, Finanzberater/innen und Nichtregierungsorganisationen. Hinzu kommen rund 30 Privatpersonen.42 Das FNG will ganz im Sinne eines Verbandes über nachhaltige Geldanlagen informieren, deren Bekanntheitsgrad steigern, positive Lenkungseffekte aufzeigen, Akteur/innen vernetzen, Entwicklung, Transparenz und Qualität nachhaltiger Anlagen fördern sowie Rahmenbedingungen mitgestalten. Es bietet mittlerweile auch die (kostenpflichtige) Weiterbildung Nachhaltige Geldanlagen an.43 Das FNG ist eine gute Adresse, um sich über die Mitgliedsliste einen ersten Überblick über einige der im Feld aktiven Akteur/innen zu verschaffen. Ein weiteres, im deutschen Kontext aktives Netzwerk für professionelle Mitglieder ist der Verein für Umweltmanagement und Nachhaltigkeit in Finanzinstituten e. V. (VfU). Er wurde bereits 1994 gegründet und besteht aktuell aus fast 50 Finanzunternehmen, unter anderem Banken, Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften und entsprechende Verbände. Sein Ziel ist die „Förderung und Verbreitung von ‚Sustainable Finance‘, verstanden – in Übereinstimmung mit der Definition des UN Environment Programm (UNEP) – als ‚ein umfassender Ansatz zum Management der ökonomischen, sozialen und umweltbezogenen Dimensionen des Finanzgeschäfts, um einen substantiellen Fortschritt in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu ermöglichen‘“.44 Der Weltbörsenverband World Federation of Exchanges (WFE) ist der globale Verband der Börsen. Er nimmt sich ebenfalls zunehmend dem Nachhaltigkeitsthema an und veröffentlicht beispielsweise einen WFE ESG Guidance and Metrics (WFE 2018a) oder die WFE Sustainability Principles (WFE 2018b) und betreibt auch darüber hinaus Forschung beziehungsweise veröffentlicht zu Nachhaltigkeitsthemen.45 Bergius kritisiert die Aktivitäten des Verbands als „noch immer zu konventionell“, da er nach wie vor auf Finanzkennzahlen fokussiert sei (Bergius 2019b, S. 1). Eine Initiative, die ebenfalls die Börsen betrifft, ist die Sustainable Stock Exchanges Initiative (SSE). Sie wurde im Jahr 2009 durch den UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon ins Leben gerufen und ist als UN-Partnerschaftsprogramm organisiert von UNCTAD, dem UN Global Compact, dem UNEP FI und den PRI. Die Initiative zählt mittlerweile 94 Börsen als Mitglieder und hat eine Vielzahl an Aufsichtsbehörden als aktive Mitglieder in den Arbeitsgruppen. Die SSE beschreibt ihre Mission wie folgt: “To build the capacity of stock exchanges and securities market regulators to promote responsible
42Siehe
https://www.forum-ng.org/de/fng/mitglieder-6/fng-mitglieder.html, am 13.03.2020. https://www.forum-ng.org/de/bildung/weiterbildung-nachhaltige-geldanlagen.html, 07.03.2020. 44Siehe https://vfu.de/, am 08.03.2020; und UN Environment und World Bank Group (2017). 45Siehe https://www.world-exchanges.org/am 07.03.2020. 43Siehe
am
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investment in sustainable development and advance corporate performance on environmental, social and governance issues.”46 Sie will die an den Börsen gelisteten Unternehmen etwa dazu motivieren, beispielsweise ESG-Kriterien offenzulegen oder die SDGs umzusetzen. Bergius merkt dazu kritisch an: „Das bedeutet aber nicht, dass deren [gelistete Unternehmen, SH] gesamter Marktwert von 85 Billionen US-Dollar komplett nachhaltig erwirtschaftet würde. Die Börsen versuchen meist nur, Transparenz zu ESGLeistungen der Firmen zu schaffen“ (Bergius 2019e, S. 5). SSE berichtet jährlich über die Fortschritte und gibt Empfehlungen, etwa für Aufsichtsbehörden, zur Umsetzung der SDGs.47 Die Börsen werden wiederum selbst nach Nachhaltigkeitskriterien bewertet, deren Ergebnisse öffentlich frei zugänglich sind. Der Global Green Finance Index in mittlerweile dritter Auflage (GGFI 3) hat sich zum Ziel gesetzt, durch eine detaillierte Analyse einen Wettbewerb zwischen den Börsen um die besten Nachhaltigkeitsplätze anzuregen (race to the top). Der GGFI 3 unterscheidet die Tiefe (depth) von der Qualität (quality) der Green Finance von Finanzplätzen (Z/Yen und Watch 2019). Er wurde entwickelt von der Denkfabrik Z/Yen und der später noch zu erwähnenden NGO Finance Watch. Ihre Ergebnisse basieren auf der Befragung von Finanzprofessionellen und auf quantitativen Faktoren. Beispielsweise befindet sich Frankfurt beim ‚Ranks and Ratings of the Depth of Green Finance 3‘ auf Platz 25 von 63 (Platz 1 Amsterdam) und bei ‚Ranks and Ratings of Green Finance Quality 3‘ auf Platz 23 von 63 (Platz 1 London) wieder (Z/Yen und Watch 2019, S. 10 ff.).48 Nichtregierungsorganisationen (NGOs – Non Governmental Organisations) verfolgen in der Regel keine gewinnorientierten, sondern ideelle Ziele (Frantz und Martens 2006). Sie generieren ihre Einnahmen aus Spenden, Steuern etc. und verfügen damit über teils beeindruckend große Budgets. Einige der NGOs haben sogar in ihrem Namen einen Bezug zum Thema Finanzmarkt und Nachhaltigkeit, bei anderen bereits seit Jahren in diesem Bereich (sehr) aktiven ist es zu einem zunehmend wichtigen Thema unter (vielen) anderen geworden. Die Betrachtung der vielfältigen Landschaft der NGOs muss – auch hier – wieder zwangsläufig lückenhaft erfolgen. In Reaktion auf die letzte Finanzkrise haben einige Europaabgeordnete die NGO Finance Watch als europäische NGO und als Gegenkraft zur konventionell geprägten Finanzlobby gegründet. In Bezug auf Sustainable Finance spricht sich Finance Watch
46Siehe
https://sseinitiative.org/about/, am 07.03.2020. hat im Jahr 2018 den ‚Report on Progress‘ (SSE 2018a) veröffentlicht, der veranschaulicht, was die Mitgliedsbörsen der SSE alles in puncto Nachhaltigkeit auf den Weg bringen. Im gleichen Jahr kam auch der Bericht mit dem Titel ‚How Securities Regulators Can Support the Sustainable Development Goals“ (SSE 2018b) heraus, in dem SSE den Aufsichtsbehörden empfiehlt, die SDGs besser zu berücksichtigen. 48Siehe dazu auch Bergius (2018b, S. 2). 47SSE
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sowohl für einen ambitionierten legislativen Rahmen als auch für wirtschaftliche Regeln aus, die negative Externalitäten angemessen einpreisen, wenn die dringend benötigte Kapitalverschiebung zu nachhaltigen Investitionen gelingen soll. Finance Watch begleitet, kommentiert und kritisiert die vielfältigen politischen Initiativen zu Sustainable Finance durch regelmäßige Presseerklärungen, Stellungnahmen oder Feedback.49 Dabei kooperiert sie eng in einem internationalen Netzwerk mit anderen NGOs. Für Deutschland ist das entsprechend aktive Netzwerk die Bürgerbewegung Finanzwende e. V., die im Jahr 2018 in Berlin gegründet wurde. Die Bürgerbewegung Finanzwende spricht nicht von Sustainable Finance, sondern setzt sich für eine ökologische Finanzwende ein, die darüber eingeleitet wird, dass „wissenschaftlich fundierte, ethische Investitionsstandards“ festgelegt werden.50 Eine NGO mit besonderem Fokus auf Banken ist BankTrack.51 Die Klimakrise ist eines ihrer zentralen Themen und spiegelt sich beispielsweise in der Mitherausgeberschaft des Berichts ‚Banking on Climate Change. Fossil Fuel Finance Report Card 2019‘ wider (Rainforest Action Network et al. 2019). Demnach steckten weltweit „33 globale Banken seit dem Pariser Klimaabkommen 2015 und ihm zum Trotz 1900 Milliarden Dollar in die Finanzierung fossiler Energien (Erdöl, Kohle, Gas). Jährlich steigen die Summen.[…] Von der Gesamtsumme seien 600 Mrd. an 100 Unternehmen gegangen, die nach Ansicht der NGOs die Förderung fossiler Energien am aggressivsten ausweiten“ (Bergius 2019g, S. 4). Die NGO urgewald fokussiert sich auf die Finanzierung von Projekten und beschreibt ihren Aktivitätsschwerpunkt wie folgt: „Ohne Kredite, Versicherungen und sonstige Investitionen wird kein Atomkraftwerk, kein Staudamm und keine Pipeline gebaut. Auch Bergbaukonzerne und Waffenhersteller benötigen ständig frisches Geld. urgewald macht die Finanzierung von Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen sichtbar und benennt die Verantwortlichen. ‚Follow the Money‘ ist der strategische Ansatz unserer Kampagnen gegen Investoren und sonstige Finanziers. Er zielt genau auf die Achillesferse dieser Vorhaben: das Geld.“52 Beispielsweise hat urgewald im Jahr 2019 die Studie ‚World Bank Group Financial Flows Undermine the Paris Climate Agreement‘ (Mainhardt 2019) zum Investitionsgebaren der Weltbank veröffentlicht, die belegt, dass
49Siehe
https://www.finance-watch.org/topic/sustainable-finance/, am 07.03.2020. https://www.finanzwende.de/themen/oekologische-finanzwende/, am 07.03.2020. 51Siehe https://www.banktrack.org, am 07.03.2020. 52Siehe https://urgewald.org/follow-money, am 07.03.2020. 50Siehe
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die Weltbank deutlich mehr in fossile Energieträger investiert als in klimafreundliche Technologien: „Die laufende Energieprojektfinanzierung der Weltbankgruppe für fossile Energieträger ist rund drei Mal so hoch wie die für klimaschonende erneuerbare Energieträger: Rund 21 Milliarden US-Dollar fließen in die Sektoren Kohle, Öl und Gas – lediglich 7 Milliarden in Bereiche wie Solarenergie oder Windkraft.“53 NGOs und Initiativen, die eine nicht-finanzielle Berichterstattung zu Themen der Nachhaltigkeit für mehr Transparenz einfordern, waren maßgebliche Wegbereiter für die später noch beschriebenen Gesetzesinitiativen auf EU-Ebene (Wirkungskreis C). Besonders sichtbar ist etwa die NGO Global Reporting Initiative (GRI). Sie ist eine im Jahr 1997 gegründete Pionierin für die nachhaltige Berichterstattung und das weltweit am häufigsten verwendete Rahmenwerk zur freiwilligen Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsthemen.54 In aktuellen Initiativen will GRI die SDGs in die bestehenden Reporting-Prozesse integrieren (GRI und United Nations Global Compact 2018). Unternehmen sollen nicht nur positive Effekte, sondern auch negative Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf die SDGs berichten (siehe auch Bergius 2019f, S. 1). Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) hat bereits im Jahr 2011 den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) entwickelt, der Unternehmen mit und ohne Berichtspflichten zu einer Nachhaltigkeitsstrategie verhelfen will.55 Dabei rekurrieren er sowohl auf die Indikatoren der GRI als auch auf die der EFFAS.56 Die EFFAS (European Federation of Financial Analysts Societies) ist ein Netzwerk von europäischen Finanzanalyst/innen, das 2009 zusammen mit der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA) eine Richtlinie zur Integration von Umwelt- und Sozialaspekten in die Finanzberichterstattung herausgegeben hat (DVFA 2009) (siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Woschnack in diesem Band). Das Carbon Disclosure Project (CDP) ist eine bereits im Jahr 2000 in London gegründete Non-Profit-Initiative von Investor/innen, die sich dem Thema Carbon Accounting verschrieben hat. „Im Namen von 534 institutionellen Investoren erhebt das CDP jährlich von den großen gelisteten Unternehmen in 50 Ländern alle relevanten Klimadaten. Diese Daten werden dann dem Kapitalmarkt zur Verfügung gestellt.“ Damit halten sie eine der weltweit größten Datenbanken zu Klimadaten
53Siehe
https://urgewald.org/sites/default/files/Weltbank%20und%20Fossile%20-%20Pressemitteilung%20-%2011.4.2019.pdf, am 07.03.2020. 54Siehe https://www.globalreporting.org, https://csr-news.net/news/2017/09/28/gri-standardsfuer-nachhaltigkeitsberichterstattung/, beides am 07.03.2020. 55Siehe https://www.nachhaltigkeitsrat.de/projekte/deutscher-nachhaltigkeitskodex/, am 07.03.2020. 56Siehe
https://www.deutscher-nachhaltigkeitskodex.de/de-DE/Home/DNK/DNK-Overview, am 07.03.2020.
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von Unternehmen.57 Zudem beraten sie Unternehmen, Städte, Staaten oder Regionen, wie sie ihren ökologischen Fußabdruck messen und managen können. CDP versteht sich zudem als eine Art Plattform für Nachhaltigkeitsinformationen und hat beispielsweise vor vier Jahren eine jährlich aktualisierte Non-DisclosureKampagne gestartet, in denen Unternehmen, die dies bislang nicht tun, öffentlich dazu aufgerufen werden, Informationen über ihre Geschäftstätigkeiten im Hinblick auf Klimaschutz, Waldschutz und Wassersicherheit zur Verfügung zu stellen.58 Die NGO Corporate Accountability (CorA) ist ein Netzwerk für Unternehmensverantwortung. Über 60 Mitgliedsorganisationen aus der Zivilgesellschaft tragen das Netzwerk und kommen aus breit gestreuten Bereichen wie Menschenrechte, Entwicklung, Umwelt- und Verbraucherschutz oder Gewerkschaften. Ein Themenschwerpunkt sind die Berichtspflichten von Großunternehmen in ihren Bilanzen über soziale, ökologische oder weitere nicht-finanzielle Kriterien. Sie setzen sich damit dafür ein, dass die Voraussetzungen für eine entlang von nachhaltigen Kriterien gelenkte Investition in Unternehmen gelingen kann.59 In Großbritannien ist beispielsweise das International Integrated Reporting Council (IIRC) verbreitet, das maßgeblich auf die von Prince Charles ins Leben gerufene Initiative Accounting for Sustainability (A4S) zurückgeht.60 In den USA ist es die Initiative Sustainability Accounting Standards Board (SASB), die zudem trotz Freiwilligkeit auch eine Integration und Anerkennung in die regulativen Vorgaben der U.S. Securities and Exchange Commission (SEC) zu Transparenz und Berichtspflicht versucht61 (siehe zur nicht-finanziellen Berichterstattung auch ausführlicher den Beitrag von Woschnack in diesem Band). Der Verein Facing Finance e. V. setzt sich für einen „verantwortungsbewussten Umgang mit Geld ein und sensibilisiert institutionelle, öffentliche und private Finanzdienstleister/innen sowie Bank- und Versicherungskund/innen, keine Unternehmen zu finanzieren beziehungsweise nicht in Unternehmen zu investieren, die von Menschenund Arbeitsrechtsverletzungen (z. B. Kinderarbeit), Umweltverschmutzung, Korruption
57Siehe
https://www.forum-ng.org/de/fng/mitglieder-6/fng-mitglieder/kategorie-gemeinnuetzigeorganisation-wissenschaftliche-einrichtung/15-carbon-disclosure-project-germany.html, am 13.03.2020. 58Siehe https://www.cdp.net/en/investor/engage-with-companies/non-disclosure-campaign, am 07.03.2020. 59Siehe https://www.cora-netz.de/, am 07.03.2020. 60Siehe https://www.accountingforsustainability.org/en/index.html, am 20.03.2020. 61Siehe https://www.sasb.org/, am 20.03.2020.
2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung
63
und der Herstellung völkerrechtswidriger Waffen sowie von Waffenexporten in Krisenregionen profitieren“.62 Facing Finance ist unter anderem Partner von BankTrack und Mitglied des CorA-Netzwerks für Unternehmensverantwortung, des European Responsible Investment Networks (ERIN), des Fair Finance Guide International (FFGi), sowie Mit-Herausgeber des Fair Finance Guide (FFGi) Deutschland.63 Eine auch in diesem Feld sehr bekannte NGO ist die Stiftung World Wide Fund For Nature (WWF). Der WWF spielt beim Thema Sustainable Finance in Deutschland eine überraschend aktive Rolle; überraschend deshalb, da der WWF zunächst mit Umwelt- und Naturschutz assoziiert wird und weniger mit dem nachhaltigen Finanzmarkt.64 Bei den aufgeführten Themen und Projekten liegt der Schwerpunkt auch tatsächlich bei klassischen Naturschutzthemen wie etwa bedrohte Tier- und Pflanzenarten, biologische Vielfalt, Wälder, Meere und Küsten etc.; der Finanzmarkt ist als Themenstichwort noch nicht einmal erwähnt.65 Erst der Blick ins Organigramm von WWF Deutschland verrät eine Abteilung ‚Finanzmarkt‘66, die Studien und Diskussionsanregungen wie etwa die ‚Policy Roadmap Sustainable Finance‘ (gemeinsam mit dem später noch beschriebenen Green and Sustainable Finance Cluster Germany e. V. GSFCG) auf den Weg bringt (Jeromin und Kopp 2018). Der WWF Deutschland baut hier explizit auch die Brücke vom Finanzmarkt zum Klimaschutz und fordert zur Erreichung der Klimaziele eine „grundsätzliche Klima- und Umweltverträglichkeit von Investitionen und Finanzierungen (‚greened Finance‘), statt um einen abgrenzbaren Teilbereich oder einer Nische (‚Green Finance‘)“ (WWF 2018).67 Ebenfalls erwähnenswert ist die als ‚1. WWF-Bankenrating‘ (Hafner, Häßler und Shahyari 2020) bezeichnete Studie des WWF Deutschland in Zusammenarbeit mit dem NKI – Institut für nachhaltige Kapitalanlagen, in der die Integration von Nachhaltigkeit bei den 14 größten deutschen Banken im Sinne eines Ratings auf den Prüfstand gestellt wird. Das Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene (getragen von Südwind e. V.)68 wurde bereits 1991 gegründet und thematisiert ein breites Spektrum an Themen für die
62Siehe
https://www.facing-finance.org/de/die-kampagne/facing-finance-e-v/, am 07.03.2020. https://www.facing-finance.org/de/our-projects/fair-finance-guide/bzw. https://www. fairfinanceguide.de/, am 07.03.2020. 64Siehe https://www.wwf.de/themen-projekte/interview-darum-arbeitet-der-wwf-am-thema-finan zsystem/, am 13.03.2020. 65Siehe https://www.wwf.de/themen-projekte, am 07.03.2020. 66Siehe https://www.wwf.de/ueber-uns/organisation/organigramm-des-wwf-deutschland/, am 07.03.2020. 67Siehe dazu auch die vom ‚Head Sustainable Finance‘ des WWF Deutschland, Matthias Kopp, mitherausgegebene Publikation (Stapelfeldt, Granzow und Kopp 2018). 68Siehe https://www.suedwind-institut.de/index.php/de/, am 19.03.2020. 63Siehe
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Vision einer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gerechtigkeit weltweit. Bereits 1996 hat Antje Schneeweiß, eine Pionierin auf diesem Gebiet, damit begonnen, für den Fachbereich ‚Sozialverantwortliche Geldanlagen‘ zum nachhaltigen Finanzmarkt sowie Kirchen und ethische Geldanlagen zu arbeiten und zu publizieren (Kessler und Schneeweiß 2004, 2010; Schneeweiß 2002).69 Ihre Bücher waren Impulsgeber für die Konzeptionalisierung unseres Forschungsprojekts. Germanwatch ist eine thematisch breit aufgestellte NGO, die sich dem Thema Finanzmarkt und Nachhaltigkeit über den Klimawandel nähert.70 In einer Vielzahl an Studien thematisiert Germanwatch die Klimafinanzarchitektur, wie sie in der Folge des Pariser Abkommens diskutiert wird (Grimm et al. 2018). Zusammen mit dem Think Tank E3G71 hat Germanwatch etwa ein sehr informatives Factsheet zu den letzten Entwicklungen im Bereich Sustainable Finance zusammengestellt (Reitzenstein und Ostrower 2020). Da Germanwatch sich für eine glaubwürdige Umsetzung der von Deutschland in den Bereichen Klima-, Ernährungs- und Entwicklungsfinanzierung eingegangenen internationalen Zusagen einsetzt, erarbeitet die NGO etwa im Rahmen des Bündnisses Klima-Allianz Deutschland72 Empfehlungen für die Bundesregierung (Bingler et al. 2018). Ebenfalls in Deutschland sehr präsent ist die NGO Corporate Responsibility Interface Center (CRIC), ein Verein zur Förderung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage. CRIC bezeichnet sich selbst als „größte Investorengemeinschaft zur Förderung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage im deutschsprachigen Raum“ und will seine Mitglieder dabei unterstützen, ihre Geldanlage entlang von ethisch-nachhaltigen Kriterien zu gestalten, die dafür notwendigen Kompetenzen zu vermitteln und zugleich die Entwicklungen des Marktes ethisch-nachhaltiger Geldanlagen zu beobachten.73 Im Zuge ihres Investor-Engagements will CRIC Überzeugungsarbeit leisten und wendet sich an „Unternehmen und Institutionen, die große Summen veranlagen, aber dabei die Möglichkeit der ethisch-nachhaltigen Geldanlage ungenutzt lassen.“74 Ziel ist es, diese Unternehmen und Institutionen davon zu überzeugen, dass die Berücksichtigung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage vielfältige Möglichkeiten bietet und nicht mit Nachteilen verbunden ist, sondern sogar Vorteile bieten kann. CRIC setzt sich auch mit den aktuellen politischen Entwicklungen auseinander und hat beispielsweise einen
69Siehe
https://suedwind-institut.de/nachhaltige-geldanlagen.html, am 13.03.2020. https://germanwatch.org/de/thema/finanzierung-klima-entwicklung, am 07.03.2020. 71Siehe https://www.e3g.org/about, am 13.03.2020. 72Siehe https://www.klima-allianz.de/ueber-uns/das-buendnis/, am 07.03.2020. 73Siehe https://cric-online.org/, am 07.03.2020. 74Siehe https://www.cric-online.org/aktivitaeten/engagement, am 07.03.2020. 70Siehe
2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung
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informativen Fragenkatalog zum EU-Aktionsplan beziehungsweise zur Taxonomie zusammengestellt (CRIC 2019). Soziale Bewegungen. Die soziale Bewegung des Fossil-Fuel-Divestments arbeitet auf die Umlenkung von Finanzströmen hin. Als soziale Bewegung sind die Aktiven nur zum Teil selbst entscheidungsmächtig über Geld (Wirkungskreis A), zumeist sind es zivilgesellschaftliche Akteure, NGOs und Einzelpersonen, die hier besonders aktiv in der Bewegung sind (weswegen sie auch vor allem hier in den Wirkungskreis B zugeordnet wird). Die aus dem anglo-amerikanischen Kontext auch nach Deutschland gekommenen Aktivitäten zum Divestment werden maßgeblich von 350.org koordiniert. Die internationale soziale Bewegung will den Ausstieg aus fossilen Energien vor allem dadurch erzielen, dass sie Anleger/innen zu Divestment, Desponsoring und Defunding motiviert.75 Doch es gibt mittlerweile auch eine Vielzahl weiterer Projekte, wie etwa ‚Kommunales Divestment und Re-Investment‘. Es beleuchtet die Investitionsstrategien von Städten76 und wird von adelphi, FNG und dem Klima-Bündnis in Zusammenarbeit mit 350.org durchgeführt und durch die Nationale Klimaschutzinitiative (NKI)77 der Bundesregierung gefördert. Das „Projektziel ist es, Divest- und Re-Investment mit und in den deutschen kreisfreien Städten weiter in die Fläche zu tragen.“78 Diejenigen Investor/ innen, die dann ihr Kapital abziehen, sind in der Systematik dem ersten Abschnitt A zuzuordnen. In der Divestment-Bewegung sind ebenfalls Akteur/innen aktiv, die selbst Geld anlegen (wie etwa die Allianz als große Kapitalsammelstelle; siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß in diesem Band). Mittlerweile bilden sich auch explizite Multi-Stakeholder-Vereinigungen, wie etwa das 2017 gegründete Green and Sustainable Finance Cluster Germany e. V. (GSFCG) mit Sitz in Frankfurt am Main, dem deutschen Finanzzentrum. Als Mission formuliert das GSFCG ein Konzept, bei dem „ein Netzwerk entstehen [soll], in dem Expertise bezüglich Finanz- und Risikofragen gebündelt wird. Das GSFCG soll als zentrale Ansprechstelle für nachhaltigkeits- und klimarelevante Fragen der Akteure innerhalb des Finanzsektors und darüber hinaus dienen. Dadurch sollen eine Stärkung der unterschiedlichen Green und Sustainable-Finance-Initiativen am Finanzplatz Deutschland und in Europa gefördert sowie bereits bestehende Impulse aufgenommen werden.“79 Der bereits erwähnte Verein für Umweltmanagement und Nachhaltigkeit in Finanzinstituten (VfU) ist neben dem
75Siehe
https://350.org/de/uber350/, am 07.03.2020. https://kommunales-divestment.de/projekt/projekt, am 07.03.2020. 77Siehe https://www.klimaschutz.de/, am 08.03.2020. 78Siehe https://kommunales-divestment.de/projekt/projekt, am 07.03.2020. 79Siehe https://gsfc-germany.com/mission/, am 08.03.2020. 76Siehe
66
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Hessischen Wirtschaftsministerium, der Frankfurt School of Finance & Management, der Wirtschafts- und Infrastrukturbank Hessen (WIBank), der KfW Bankengruppe, dem Center for Financial Studies mit Sitz an der Goethe-Universität und dem Gründerzentrum TechQuartier eines der Gründungsmitglieder des Green Finance Clusters.
2.4.3 C: Geld durch Regulierung lenken Finanzmarktliche Regulierung und Regulierungsversuche schlagen sich in der globalen Finanzarchitektur häufiger als Soft Law, das heißt als rechtlich nicht bindende Leitlinien oder Absichtserklärung, denn als weitestgehend verbindliches oder gar gerichtlich einklagbares Hard Law nieder (Abbott und Snidal 2000). Die jeweils von souveränen Nationalstaaten abgegebene Rechtssetzungskraft auf die dem Nationalstaat übergeordnete Ebene oder auch die vielfältigen transnationalen Regime, die ein Zusammenspiel von Zivilgesellschaft, Unternehmen oder Staaten im Rahmen internationaler Initiativen erlauben, ergeben eine hochausdifferenzierte Landschaft an Regulierungsvariationen, die hier nur angedeutet werden kann (Djelic und Sahlin-Andersson 2006; Graz und Nölke 2008). Sie alle setzen einen regulativen Rahmen für marktliches Handeln. Im Folgenden will ich die auf diese Rahmensetzung abzielenden Initiativen nach Ebenen (international, europäisch, national) in einer Auswahl nachzeichnen.
2.4.3.1 C. 1: Internationale Ebene Die Bezeichnung internationale Ebene wird hier als bewusst unscharfer Sammelbegriff für alle Regulierungen (Soft und Hard Law) verwendet, die sich auf einer dem Nationalstaat übergeordneten (und in unserem Fall auch der EU übergeordneten) Ebene abspielen. Wir finden in den Internationalen Beziehungen sehr differenzierte Debatten zur Abgrenzung der Begriffe, wie etwa internationale, supranationale oder G lobal-Governance-Ebene, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann (Mayntz 2009). Auf internationaler Ebene gibt es durch das Thema Klimawandel eine deutliche Intensivierung der Aktivitäten zum Thema Nachhaltigkeit und Finanzmarkt seit 2015. Der Dreiklang aus der Verabschiedung der Agenda 2030 mit den 17 Nachhaltigkeitszielen (kurz SDGs – Sustainable Development Goals) (UN 2015b), dem Pariser Übereinkommen (UN 2015a) und dem Weckruf des Weltklimarates IPCC (IPCC 2018) hat eine Vielzahl an Aktivitäten provoziert. Die zuvor zu verzeichnenden Entwicklungen werden auszugsweise ebenfalls angedeutet, denn auch sie erhalten durch das Thema Klimawandel vermehrte Aufmerksamkeit. Auf der Ebene der Vereinten Nationen wurde 2006 mit den United Nations Principles for Responsible Investment (UN PRI oder auch nur PRI) eine erste Initiative
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gegründet, die sich explizit mit dem Thema Nachhaltigkeit und Finanzmarkt auseinandersetzt. Wie oben bereits erwähnt, sind die PRI keine Teilorganisation der UN, sondern lediglich in enger Kooperation mit den UN verbunden, insbesondere mit den UN-Unterorganisationen United Nations Environment Programme Finance Initiative (UNEP FI) und dem UN Global Compact. Auf Betreiben des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan wurden die PRI 2006 sehr symbolträchtig in der New Yorker Börse ins Leben gerufen. Institutionelle Investoren und eine Vielzahl an Expert/innen gehörten zur anfänglichen Gruppe an Unterstützer/innen. Ziel der PRI ist die freiwillige Orientierung des globalen Finanzsystems entlang von sechs Prinzipien80, die sich mit ESG – Environmental, Social, Governance befassen. Sie sind sehr vage formuliert und lassen den freiwilligen Unterzeichner/innen viel Interpretationsspielraum. Als Beispiel sei hier das erste Prinzip erwähnt: „Principle 1: We will incorporate ESG issues into investment analysis and decision-making processes.“ Die PRI wollen Wirkung durch die öffentliche Unterzeichnung und Evaluation entfalten, zielen also auf die Reputation als Treiberin ab. Auch bei den PRI zeigt sich der auch andernorts zu beobachtende deutliche Anstieg an Mitgliedern seit dem Jahr 2015.81 Die Vereinten Nationen haben mit ihrer 2016 in Kraft getretenen Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung und mit der darin zentralen Verabschiedung der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) einen Referenzpunkt in der Debatte gesetzt (UN 2015b).82 Wie die allgemein gehaltenen SDGs konkret umgesetzt und finanziert werden können, ist weiterhin ein stetiger Quell der Diskussion, meist unter dem Titel ‚SDG Investment Case‘, und provoziert fortlaufend neue Initiativen und Projekte. Es ist zu erwarten, dass sich zukünftig nachhaltige Anlagestrategien auf die SDGs berufen und sich die bisherige konzeptionelle Vielfalt sprachlich weiter auf die (vage) formulierten SDGs eingrenzt.
80Diese
sechs Prinzipien lauten: „Principle 1: We will incorporate ESG issues into investment analysis and decision-making processes. Principle 2: We will be active owners and incorporate ESG issues into our ownership policies and practices. Principle 3: We will seek appropriate disclosure on ESG issues by the entities in which we invest. Principle 4: We will promote acceptance and implementation of the Principles within the investment industry. Principle 5: We will work together to enhance our effectiveness in implementing the Principles. Principle 6: We will each report on our activities and progress towards implementing the Principles.” Siehe https://www. unpri.org/pri/an-introduction-to-responsible-investment/what-are-the-principles-for-responsibleinvestment, am 13.03.2020. 81Siehe https://www.unpri.org/pri, am 07.03.2020. 82Siehe zu SDGs auch https://sustainabledevelopment.un.org/post2015/transformingourworld, https:// sustainabledevelopment.un.org/sdgs oder https://germanwatch.org/de/15309, alle am 19.03.2020.
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Insbesondere durch das fast zeitgleich im Dezember 2015 verabschiedete Pariser Klimaabkommen wurde von Seiten der Vereinten Nationen auf globaler Ebene deutlich expliziter auf die Rolle der Finanzen für die Klimawende aufmerksam gemacht. Die Vereinbarung der 197 Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) mit dem Ziel des Klimaschutzes in Nachfolge des K yoto-Protokolls formuliert in Artikel 2(1)c: „Making finance flows consistent with a pathway towards low greenhouse gas emissions and climate-resilient development“ (UN 2015a). Diese explizite Nennung, dass der Klimaschutz auf eine Veränderung der Finanzströme angewiesen ist, wird auch mit dem Hinweis verbunden, dass öffentliche Finanzen nicht ausreichen, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Der Appell geht insbesondere auch an private Akteur/innen, ihre Finanzströme umzulenken, sowie an staatliche Akteur/innen, entsprechende Anreizsysteme zu schaffen. Hierfür hat sich unter anderem auf der Ebene der G20 im Nachgang zum Pariser Abkommen im Jahr 2016 ebenfalls das Thema deutlicher etablieren können. Im Rahmen der G20 wurde eine Green Finance-Study Group gegründet, später in Sustainable Finance-Study Group (SFSG) umbenannt, deren Aktivitäten im ‚Sustainable Finance Synthesis Report‘ (G20 SFSG 2018) nachgelesen werden können. Ihr Auftrag war unter anderem die oben erwähnte Aktivierung von Privatkapital zur Zielerreichung des Pariser Abkommens, aber auch die sozialen Dimensionen gemäß den SDGs durch eine Analyse möglicher institutioneller und marktlicher Hürden zu befördern. Eine der ausgesprochenen Empfehlungen ist die Stärkung von Green Bonds (die bereits bei der Entwicklung der Börsen aufgezeigt wurde). Die Arbeiten der G20 und der SFSG haben die Entwicklung mit befördert, dass Zentralbanken und Aufsichtsbehörden zunehmend prüfen, ob und wie Finanzmarktakteur/innen Nachhaltigkeitsrisiken berücksichtigen (G20 SFSG 2018). Ende 2015 hat auch das Financial Stability Board (FSB) eine FSB-Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD), also eine Arbeitsgruppe für klimabezogene Finanzberichterstattung eingerichtet. Ihr Ziel ist eine deutlich risikoorientierte Transparenzmachung von Klimarisiken für Investor/innen. Die TCFD „will develop voluntary, consistent climate-related financial risk disclosures for use by companies in providing information to investors, lenders, insurers, and other stakeholders.[…] Better access to data will enhance how climate-related risks are assessed, priced, and managed.”83 Im Juni 2017 hat das TCFD dann Empfehlungen im TCFD-Final Report ‘Recommendations of the Task Force on Climate-related Financial Disclosures’
83Siehe
https://www.fsb-tcfd.org/about/, am 07.03.2020.
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formuliert (TCFD 2017). Diese richten sich an alle Finanz- und Nichtfinanzunternehmen zur Information von Anleger/innen, Kreditgeber/innen und Versicherungsnehmer/innen über klimarelevante finanzielle Risiken. Bestimmte Initiativen fokussieren sich auf Banken. Erwähnung finden sollen hier die im November 2018 während eines UNEP FI Global Roundtable vorgestellten UNEP FI Principles For Responsible Banking, die im Jahr 2019 auf der UN Vollversammlung von 130 Banken aus 49 Ländern ins Leben gerufen wurden.84 Sie wurden von Banken und 12 zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter vom bereits erwähnten WWF, entwickelt. Als Ziel wird formuliert: „These Principles align banks with society’s goals as expressed in the Sustainable Development Goals (SDGs) and the Paris Climate Agreement. They set the global benchmark for what it means to be a responsible bank, and provide actionable guidance for how to achieve this“ (UNEP FI 2019) (siehe zu Banken ausführlicher den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band). Obgleich hier nur einige Aktivitäten auf internationaler Ebene skizziert werden konnten, will ich kurz resümieren. Auch auf internationaler Ebene wirkt die Klimakrise wie eine Beschleunigerin für die viele Jahre seicht dahinplätschernden Diskurse zum Thema Nachhaltigkeit und Finanzmarkt. Die Rolle des Finanzmarkts zur Finanzierung von Maßnahmen zum Schutz des Klimas (Geld als Mittel zum Zweck) finden genauso Anklang wie die fieberhafte Suche nach neuen Modellen, das Klimarisiko in die Rendite-Risiko-Modelle zu integrieren. Der in dieser Dynamik seit etwa 2015 vorherrschende Diskurs zu ‚Green‘ und ‚Climate‘ hat die sozialen Belange vernachlässigt. In jüngerer Zeit ist eine Änderung des Wordings hin zu Sustainable Finance zu verzeichnen, um explizit der Idee der Nachhaltigkeit als ökologische und soziale Agenda gerecht zu werden.
2.4.3.2 C. 2: Europäische Ebene Im Folgenden werden Meilensteine der sehr lebendigen Entwicklung auf der europäischen Ebene (EU-Kommission und EU-Parlament) – seitdem es seit etwa 2016 deutliche Dynamiken zu verzeichnen gibt – etwas ausführlicher nachgezeichnet. Sogar die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde European Securities and Markets Authority (ESMA) attestiert der Europäischen Union „Sustainable Finance: The transition towards a greener and more sustainable economy has become a priority for the European Union (EU).“85 Zuvor wurde das Thema Finanzmarkt und Nachhaltigkeit auf
84Siehe 85Siehe
https://www.unepfi.org/banking/bankingprinciples/, am 07.03.2020. https://www.esma.europa.eu/policy-activities/sustainable-finance, am 20.03.2020.
70
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EU-Ebene kaum berücksichtigt. Dennoch sind die folgenden Ausführungen bei weitem nicht vollständig, orientieren sich aber am Versuch einer chronologischen Skizze. Auch auf europäischer Ebene kommt im Dezember 2016 mit der Gründung der HighLevel Expert Group on Sustainable Finance (HLEG) durch die Europäische Kommission Bewegung in das Thema. Bestehend aus anfänglich „20 senior experts from civil society, the finance sector, academia and observers from European and international institutions“86, legt die HLEG im Januar 2018 ihren Abschlussbericht mit dem Titel ‚Financing a Sustainable European Economy‘ (EU HLEG 2018) vor. Die Kernempfehlung sieht eine Taxonomie im Sinne eines Sustainable Finance-Klassifikationssystems vor. Im März 2018 veröffentlicht die Europäische Kommission, anknüpfend an die Vorarbeiten der HLEG, ihren ‚Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums‘ (Europäische Kommission 2018a). Dieser Plan wird von der Kommission deutlich als Umsetzung des Auftrags präsentiert, der aus der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit den 17 SDGs aus dem Jahr 2015 sowie dem Pariser Klimaschutzübereinkommen erwachsen sei. „Ein einheitliches Klassifikationssystem beziehungsweise eine einheitliche Taxonomie innerhalb der EU wird für Klarheit sorgen, welche Tätigkeiten als ‚nachhaltig‘ angesehen werden können. Dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die wichtigste und dringlichste Maßnahme dieses Aktionsplans“ (Europäische Kommission 2018a, S. 5). Zudem wird der Fokus auf ein Labelling von nachhaltigen Finanzprodukten, der Erhöhung der Transparenzrichtlinien für Unternehmen nach ESGKriterien oder auch die Integration von Klimarisiken in das Banken-Risikomanagement gelegt.87 Im Mai 2018 wird der EU-Aktionsplan durch konkrete Gesetzgebungsvorschläge der Kommission unterlegt (Europäische Kommission 2018b). Insbesondere die Entwicklung der Taxonomie ist neben anderen Aspekten vorgesehen. Ebenfalls im Mai 2018 verabschiedet das Europaparlament einen (Initiativ-)‚Bericht über ein nachhaltiges Finanzwesen‘ (Europäisches Parlament 2018). Ziele sind unter anderem eine Stabilisierung des Finanzsystems, die Ausrichtung an langfristigen Zielen und mehr Investitionen in nachhaltige Projekte. Der Bericht fordert dabei eine umfassende Klassifikation nachhaltiger Geldanlagen, die Einbeziehung von Nachhaltigkeitsfaktoren in treuhänderische Pflichten und Offenlegungsregeln und ein Label für nachhaltige Finanzprodukte. Laut Sven Giegold übertrifft der Bericht „in vielen Punkten die Pläne der EU-Kommission.“88 Ein Auszug aus dem Originaldokument illustriert, wie umfassend und nachdrücklich das Thema Nachhaltigkeit und Finanzmarkt von der
86Siehe
https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/banking-and-finance/sustainable-finance_ en#implementing, am 07.03.2020. 87Siehe https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/banking-and-finance/sustainable-finance_ en#implementing, am 07.03.2020. 88Siehe https://sven-giegold.de/nachhaltiges-finanzwesen/, am 07.03.2020.
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EU auf die Agenda gesetzt wird: „in der Erwägung, dass die Finanzmärkte entscheidend dazu beitragen können und sollten, den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft in der EU zu erleichtern, der nicht nur den Klimaschutz und Umweltbelange, sondern auch soziale Fragen und den Bereich der Unternehmensführung betrifft; in der Erwägung, dass es dringend notwendig ist, gegen das Marktversagen in diesem Bereich vorzugehen; in der Erwägung, dass die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen eng miteinander zusammenhängen; in der Erwägung, dass sich dem Bericht der Sachverständigengruppe vom Juli 2017 zufolge die Finanzierungslücke, die sich bei den Dekarbonisierungsmaßnahmen, die in Europa ergriffen werden müssten, auf fast 180 Mrd. EUR beläuft – ohne die anderen Ziele für nachhaltige Entwicklung in die Berechnung einzubeziehen“ (Europäisches Parlament 2018, S. 9). Im Juli 2018 nimmt dann die Technical Expert Group (TEG) on Sustainable Finance – eingesetzt durch die EU-Kommission – ihre Arbeit auf, um dem Auftrag des EU-Aktionsplans zur Erarbeitung einer Taxonomie und damit zu einer Schärfung der bisher sehr vagen Begrifflichkeiten wie ‚sustainable‘ oder ‚green‘ nachzukommen. In einem ersten Fokus soll vor allem „climate change mitigation and climate change adaptation“ berücksichtigt werden.89 TEG führt im März 2019 die Second High-Level Conference on Sustainable Finance mit dem Titel ‘A global approach to sustainable finance’ durch.90 Im März 2019 verabschiedet das Europäische Parlament einen Verordnungsentwurf über eine Klassifizierung (Taxonomie) nachhaltiger Geldanlagen, der in einigen Bereichen über den gemeinsamen Verordnungsentwurf von Kommission und Rat hinausgeht (European Parliament 2019). Laut Verordnung dürften nun als neu erreichtes Verhandlungsergebnis, so Giegold, „feste fossile Brennstoffe (Kohle), Atomkraft und Gasinfrastruktur nie als nachhaltig bezeichnet werden“.91 Anbieter/innen nachhaltiger Finanzprodukte müssten die im Vergleich zur International Labour Organization (ILO) höheren Menschenrechtsstandards der Vereinten Nationen sicherstellen. Greenwashing würde durch den Verordnungsvorschlag für Anbieter/innen grüner Finanzprodukte erschwert. Und dennoch, so Giegold, bliebe die Taxonomie auf die grüne Nische beschränkt, anstatt „auf alle Bereiche angewendet zu werden“.92 Am 18. Juni 2019 veröffentlicht die Technical Expert Group (TEG) on Sustainable Finance ihre Empfehlungen für einen nachhaltigen Finanzmarkt in ihrem über 400 Seiten umfassenden ‚Taxonomy Technical Report‘ (TEG 2019). Im März 2020 hat
89Siehe
https://ec.europa.eu/info/publications/sustainable-finance-technical-expert-group_en, am 09.03.2020. 90Siehe https://ec.europa.eu/info/events/finance-190321-sustainable-finance_en, am 07.03.2020. 91Siehe https://sven-giegold.de/taxonomie-nachhaltiges-finanzwesen/, am 07.03.2020. 92Siehe https://sven-giegold.de/taxonomie-nachhaltiges-finanzwesen/, am 07.03.2020.
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sie bereits ihren finalen Report zur Taxonomie vorgelegt (TEG 2020), der ein rechtlich bindendes Regelwerk etablieren will. In der Taxonomie werden sechs Bereiche ausgewiesen, die gefördert werden und die sich damit nicht gegenseitig schaden sollen.93 Ergänzend wird auf internationale Schutzrechte und Menschenrechte verwiesen. Perspektivisch soll unter anderem auch eine „platform for sustainable finance“ eingerichtet werden (TEG 2020, S. 54). Ebenfalls im März 2020 hat die TEG den Aufruf des EU-Aktionsplans weiter umgesetzt, für ‚Green Bonds‘ Standards und Labels zu entwickeln. In ihrem Bericht formuliert sie für die EUKommission die Empfehlung, einen freiwilligen EU-Green-Bond-Standard zu etablieren.94 Zudem formuliert die TEG Forderungen für die Berichterstattung von Unternehmen, ob und inwieweit sie im Hinblick auf die in der Taxonomie angesprochenen sechs Bereiche förderlich agieren. Die genaue Umsetzung soll bis Mitte 2021 ausgearbeitet werden (TEG 2020). Blicken wir auf die europäische Ebene, dann wird der EU-Aktionsplan zum neuen Referenzpunkt in der Debatte. Es bleibt abzuwarten, ob die angemahnten Umsetzungen sich bis hinein in die lokalen Ebenen der Gemeinden und Städte, der großen wie der kleinen Unternehmen etc. auch manifestieren werden.
2.4.3.3 C. 3: Deutschland Deutschland war mit Blick auf das Thema Nachhaltigkeit und Finanzmarkt lange eher ein Nachzügler. Halten wir uns kurz die hier zum Zwecke der Pointierung nur sehr skizzenhaft dargestellten Entwicklungspfade vor Augen. In der Historie war der deutsche Finanzmarkt durch sein bankbasiertes System, eingebettet in einen koordinierten Kapitalismus, stärker auf die Kreditvergabe ausgerichtet (Krahnen und Schmidt 2003). Da das Sparguthaben kein Mitspracherecht bei der Kreditvergabe der Bank mit sich bringt, ist das Potenzial, Banken in die moralische Pflicht für ihre Kreditvergabe zu nehmen, lange Zeit weder erkannt noch ausgeschöpft worden. Zudem haben die staatliche Rentenvorsorge und das steuerfinanzierte Bildungssystem nicht dazu angeregt, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Finanzen oder eine financial literacy aufzubauen. Das traditionell marktbasierte angelsächsische Finanzsystem hingegen, eingebettet in einen liberalen Kapitalismus, ist offensichtlicher als Hebel für Werte im Bewusstsein der allgemeinen Bevölkerung präsent. Die Notwendigkeit einer vornehmlich privaten
93Die
sechs Bereiche sind: climate change mitigation; climate change adaptation; sustainable and protection of water and marine resources; transition to a circular economy; pollution prevention and control; protection and restoration of biodiversity and ecosystems (TEG 2020). 94Siehe https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/business_economy_euro/banking_and_finance/ documents/190618-sustainable-finance-teg-report-overview-green-bond-standard_en.pdf, am 07.03.2020.
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Vorsorge für die Rente oder die Erfordernisse enormer Finanzvolumina für das Studium der Kinder anzusammeln, hat den Aufbau von Kenntnissen zum Finanzmarkt und einer financial literacy auch in der breiten Bevölkerung notwendig gemacht (Erturk et al. 2007). Zudem regen Aktienanteile zur Reflektion an, sich mit den damit ‚eingekauften‘ Unternehmen und deren Werteorientierung aktiv auseinanderzusetzen. Die Aktie als Anteil an einem Unternehmen stellt eine unmittelbarere Verbindung zum Finanzmarkt her als der Kredit. Mit der Hybridisierung des Finanzmarktes in Deutschland, mit der damit einhergehenden Liberalisierung und mit der zunehmenden Relevanz der Aktienmärkte ist auch das nachhaltige Investieren in Deutschland präsenter geworden. Das Vehikel Aktienmarkt ist gewissermaßen die Plattform, auf der die Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit auch den Transmissionsmechanismus Finanzmarkt erkannt haben (Hall und Soskice 2001; Hiss 2009; Matten und Moon 2008). Der im Jahr 2001 von der Bundesregierung einberufene Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) diagnostiziert dementsprechend auch noch im März 2020 auf seiner Homepage: „Deutschland hinkt im europäischen Vergleich bei dem Thema ‚Sustainable Finance‘ hinterher – so die leider immer noch aktuelle Diagnose. Wo die Akteurinnen und Akteure aus Bundesregierung, Landesregierungen und -verwaltung, aus dem Finanzmarkt und Zivilgesellschaft mittlerweile eine Frontstellung einnehmen, ist in der Diskussion um das ‚wie‘. Die Frage, ‚ob‘ eine nachhaltige Finanzwirtschaft aufgebaut werden muss, hat sich mit den Aktivitäten der letzten drei Jahre überholt.“95 Der RNE hat im November 2016 das Thema ‚Nachhaltige Finanzwirtschaft‘ in sein Arbeitsprogramm aufgenommen und unter anderem in den Jahren 2017 und 2018 jeweils einen Sustainable Finance Gipfel ausgerichtet (RNE und H4SF 2018). Ein Ergebnis der Arbeit des RNE ist der von der Bundesregierung 2019 einberufene Sustainable Finance Beirat, zu dem weiter unten zur Wahrung einer gewissen Chronologie in der vorliegenden Darstellung noch weitere Ausführungen folgen.96 Von 2017 bis 2019 organisierte der Rat zudem den Hub for Sustainable Finance (H4SF) als ein offenes Netzwerk für Finanzmarktakteur/innen und weitere Stakeholder zur Förderung eines nachhaltigen Finanzsystems in Deutschland.97 „Ziel des Hubs ist es, das Wissen um Nachhaltigkeit als relevantes Finanzmarktthema zu verbreitern und ESG-Kriterien flächendeckend im Anlageverhalten zu integrieren“ (Bassen und Zwick 2018, S. 7). Der H4SF orientiert sich an den zehn Thesen für eine nachhaltige Finanzwirtschaft in Deutschland, die von den Mitgliedern des Steuerungskreises des Hubs entwickelt worden sind (H4SF 2017).
95Siehe
https://www.nachhaltigkeitsrat.de/projekte/sustainable-finance/, am 20.03.2020. https://www.nachhaltigkeitsrat.de/projekte/sustainable-finance/, am 07.03.2020. 97Siehe https://www.h4sf.de/, am 07.03.2020. 96Siehe
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Dass Deutschland hinterherhinkt, ist auch ein Ergebnis des gemeinsam von FSUNEP Collaborating Centre at Frankfurt School of Finance & Management98 und WWF entwickelten 3fP-Trackers, der versucht, Finanzmarktregulation und -Aufsicht im internationalen Vergleich zu messen und zwar im Hinblick auf ihre Tauglichkeit, die Klimaziele von Paris zu erreichen (daher auch der Titel 3fP – finance fit for Paris)99. Der Tracker untersucht Finanzmarktregulation und -aufsicht sowie Politikansätze, die über die klassische Finanzmarktregulierung hinausgehen. Insgesamt sollen Fortschritte auf dem Weg zur Erreichung des Paris-Ziels sichtbar gemacht werden. Im Ergebnis kommt Frankreich auf 5,6 von zehn möglichen Punkten, Deutschland erhält nur 4,1 Punkte; insbesondere „bei der Transparenz und den Offenlegungspflichten für die Wirtschaft zu klimarelevanten Aspekten bleibt Deutschland mit nur 2,5 von zehn Punkten besonders weit hinter den Möglichkeiten zurück“. Bei der Frage, „ob und inwieweit die Politik ein ‚grünes‘ Finanzsystem und grüne Finanzierungen voranbringt“, liegt Deutschland mit 4,4 Punkten deutlich hinter den 6,7 Punkten, die Frankreich erzielt; während andere Länder wie die Niederlande bereits im Mai 2019 mit großem Erfolg die ersten grünen Staatsanleihen emittiert haben, soll in Deutschland zunächst geprüft werden, „ob die Emission grüner Bundesanleihen wirtschaftlich ist“. Auch die Bundesbank agiert im internationalen Vergleich noch eher defensiv, „etwa bei der Offenlegung klimarelevanter Aspekte der Kapitalanlage“ (Bergius 2019d, S. 11). Im Februar 2019 hat die Sitzung des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung unter Leitung von Bundesminister Prof. Helge Braun im Bundeskanzleramt beschlossen, eine Sustainable Finance-Strategie der Bundesregierung zu entwickeln, um Deutschland zu einem führenden Standort für Sustainable Finance auszubauen, sowie einen Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung ins Leben zu rufen (Die Bundesregierung 2019). Der Beschluss versteht unter Sustainable Finance, „dass Nachhaltigkeitsaspekte von Finanzmarktakteuren bei Entscheidungen berücksichtigt werden“ (Die Bundesregierung 2019, S. 1), aber nicht etwa den Umbau zu einem nachhaltigen oder wenigstens nachhaltigeren Finanzsystem. Susanne Bergius kritisiert, dass der Beschluss deutlich hinter den internationalen oder europäischen Empfehlungen in diesem Bereich zurückbleibt: „Völlig fehlt, ESG als treuhänderische Verantwortung von Institutionellen zu verankern; Berater und Produktverkäufer zu verpflichten, Anleger über ESG-Aspekte wenigstens zu informieren; von Finanzmarktakteuren langfristige Szenarien zum
98Siehe
https://www.frankfurt-school.de/home/international-advisory-services/fs-unep-collaborationcentre, am 07.03.2020. 99Siehe https://www.3fp-tracker.com, am 07.03.2020.
2.4 Die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts à la Kartierung
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besseren Risikomanagement zu verlangen; oder ein Risikoaufschlag für Investitionen, die eine nachhaltige Entwicklung behindern. Progressiv wäre, im E U-Konzert das Wettbewerbsrecht mit einem Halbsatz zu ändern: Müssten Firmen ökosoziale Folgen von Geschäftsmodell und Produkten bedenken, dürften sie Konkurrenz nicht mehr zulasten von Mensch und Natur austragen, und dann käme auch der Finanzmarkt nicht um Nachhaltigkeit herum“ (Bergius 2019c, S. 1). Im Juni 2019 wurde der bereits oben im Zusammenhang mit dem RNE erwähnte Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung konstituiert.100 Er legte im März 2020 seinen Zwischenbericht vor, dessen Einleitung sich ambitioniert liest und mit dem Satz beginnt: „Deutschland soll führend in Sustainable Finance werden“ (Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung 2020). Die Bundesbank hingegen begründet ihre Zurückhaltung bei dem Thema Nachhaltigkeit mit einem dadurch entstehenden Zielkonflikt. Der Bundesbankpräsident Jens Weidmann erläutert bei einer Rede im Oktober 2019: „Unser Mandat lautet Preisstabilität, und bei der Umsetzung unserer Geldpolitik ist der Grundsatz der Marktneutralität zu beachten […]. Bevorzugt grüne Anleihen zu kaufen, würde diesem Grundsatz widersprechen.“ Das Vorstandsmitglied Sabine Mauderer formuliert entsprechend, „Finanzregulierung sei allerdings kein Instrument der Klimapolitik, sondern diene der Stabilität des Finanzsystems.“101 Sie sieht vielmehr die Politik und die Realwirtschaft in der Pflicht. Dennoch verweist der Vorstand der Bundesbank darauf, dass Mittel und Wege geprüft werden, ebenfalls Wegbereiter für das Thema Nachhaltigkeit sein zu können, beispielsweise durch die Überprüfung des Euro-Eigenportfolios. Auch die Bundesbank vernetzt sich international mit anderen Zentralbanken, etwa in dem von ihr im Januar 2018 mitbegründeten Network for Greening the Financial System (NGFS),102 das inzwischen auf 40 Mitglieder (Zentralbanken und Aufsichtsbehörden) weltweit angewachsen ist. Dabei handelt es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss, bei dem es vor allem um Erfahrungsaustausch zum Thema Green Finance geht.103 Das NGFS hat im April 2019 seinen ersten Comprehensive Report veröffentlicht ‚A Call for Action. Climate Change
100Siehe
die gemeinsame Presseerklärung von BMF und BMU: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2019/06/2019-06-06-SustainableFinance.html, die Zusammensetzung des Beirats siehe hier: https://www.bundesfinanzministerium. de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2019/06/2019-06-06-Sustainable-Finance-Liste. pdf?__blob=publicationFile&v=2, beide am 07.03.2020. 101Siehe https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/themen/weidmann-und-mauderer-klimaschutzist-fuer-notenbanken-sehr-bedeutendes-thema--812586, am 20.03.2020. 102Siehe https://www.bundesbank.de/de/bundesbank/green-finance/network-for-greening-thefinancial-system-805112, am 20.03.2020. 103Siehe https://www.banque-france.fr/en/financial-stability/international-role/network-greeningfinancial-system/about-us, am 07.03.2020.
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as a Source of Financial Risk‘ (NGFS 2019), der Zentralbanken, Aufsichtsbehörden und alle relevanten Stakeholder dazu aufruft, das Finanzsystem nachhaltiger zu gestalten. Zudem nimmt die Bundesbank eine Beobachterrolle im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung ein.104 Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ist bislang zum Thema Sustainable Finance ebenfalls noch wenig in Erscheinung getreten.105 Sie will das Thema zukünftig stärker in den Blick nehmen und Klima- und Umweltrisiken explizit berücksichtigen, sodass auch die von der BaFin beaufsichtigten Unternehmen diese in ihr Risikomanagement integrieren müssten. Am 9. Mai 2019 hat die BaFin eine Konferenz zum Thema ‚Nachhaltige Finanzwirtschaft‘ veranstaltet.106 Ihr im Folgemonat Juni im BaFin Journal erschienener Beitrag mit der Überschrift ‚Wie sicher ist nachhaltig?‘ schlägt eher skeptische Töne an. Als Ergebnis einer Verbraucherbefragung stellt sich heraus, dass nachhaltige Geldanlagen häufig naiv für sichere Geldanlagen gehalten werden (Röstel 2019). Das Bundesministerium für Finanzen (BMF) positioniert sich sehr zuversichtlich zum Thema und schreibt auf seiner Homepage im März 2020: „Sustainable Finance steht im Rampenlicht und führt kein Schattendasein mehr. Das ist ein großer Erfolg, der auch den Arbeiten auf G20-Ebene (Green/Sustainable Finance Study Group), der Europäischen Kommission, aber auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Bundesbank zu verdanken ist. Die Diskussionen haben sich – vielleicht auch gerade wegen der kontroversen Diskussion auf globaler/ G20-Ebene – auf der europäischen und nationalen Ebene intensiviert […]. Wir unterstützen das Ziel, die EU und den Finanzplatz Deutschland zum ‚Global Sustainable Finance Champion‘ zu machen. Dazu arbeitet das BMF sehr eng mit den anderen Ministerien, insbesondere dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), sowie der BaFin und der Bundesbank zusammen und ist im Dialog mit der Finanzindustrie, Realwirtschaft, Zivilgesellschaft und der Wissenschaft.“107
104Siehe
https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/bankenaufsicht/einzelaspekte/sustainablefinance/sustainable-finance-805570, am 07.03.2020. 105Siehe https://www.bafin.de/DE/Startseite/startseite_node.html, am 07.03.2020. 106Siehe https://www.bafin.de/SharedDocs/Veranstaltungen/DE/190509_sustainable_finance.html, am 07.03.2020; siehe auch die Ausgabe 2/2019 der BaFin Perspektiven vom 09. Mai 2019, die dem Thema ‚Nachhaltigkeit. Chancen und Risiken für den Finanzsektor‘ gewidmet ist (BaFin 2019). 107Siehe https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/BaFinPerspektiven/2019_02/ bp_19_2_Holle.html, am 20.03.2020.
2.5 Fazit
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Auch die Bundesministerien für Finanzen suchen in Netzwerken den Austausch zu ihresgleichen auf internationaler Ebene. Das BMF ist im April 2019 der ‚Coalition of Finance Ministers for Climate Action‘ (deutsch: Koalition für Klimaschutz) beigetreten.108 In den sogenannten Helsinki-Prinzipien bekräftigen die beteiligten Finanzministerien109 ihre Ambitionen, den Wandel zu einer „low-carbon, climate-resilient economy“110 zu unterstützen. In Deutschland war das Thema nachhaltiger Finanzmarkt lange Zeit eine Nische. Es ließen sich dennoch bereits seit vielen Jahren Aktivitäten im Wirkungskreis A und B verzeichnen. Die Finanzkrise hat diese Nischen-Infrastruktur sichtbar gemacht und befördert. Es gab zudem erste Mainstreaming-Tendenzen. Die Klimakrise hat letztlich dafür gesorgt, dass das Thema aus der Nische seinen Weg herausgefunden hat. Als wir 2015 mit unserem Forschungsprojekt anfingen, hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass innerhalb von wenigen Jahren das Stichwort ‚Sustainable Finance‘ in zentralen Ministerien und Finanzinstitutionen ernsthaft diskutiert wird. Der EU-Aktionsplan fordert zu messbaren Handlungen auf. Der Legitimationsdruck auf die Klimakrise zu reagieren, in Verbindung mit der Notwendigkeit, die europäischen und international eingegangenen Verpflichtungen umzusetzen, haben zumindest zu einer Intensivierung des Diskurses geführt. Ob und wie viel tatsächlich realisiert wird, wie viel Greenwashing es geben wird und wie viel tatsächliche Verbesserung der sozialen und ökologischen Situation durch einen umorientierten Finanzmarkt geschieht, bleibt jedoch abzuwarten.
2.5 Fazit In den letzten Jahren hat sich die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts signifikant gewandelt. Bereits mit der Finanzkrise 2007/2008 ist die Nachhaltigkeits-Nische auf dem Finanzmarkt gewachsen. Seither haben Entwicklungen auf internationaler Ebene, insbesondere die Verabschiedung der Agenda 2030 und der Sustainable Development Goals sowie das Pariser Klimaabkommen, sowohl das Thema Klimakrise in den Fokus internationaler Debatten gerückt, als auch die Überzeugung wachsen lassen, dass eine
108Siehe
auch The Coalition of Finance Ministers for Climate Action (2019). Finanzministerien: „Austria, Chile, Costa Rica, Cote d’Ivoire, Denmark, Ecuador, Finland, France, Germany, Iceland, Ireland, Kenya, Luxembourg, Marshall Islands, Mexico, Netherlands, Nigeria, Philippines, Spain, Sweden, Uganda, and the United Kingdom. Since the formal announcement the following countries have also signed on: Colombia, Fiji, Guatemala and Norway“ https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2019/04/13/coalitionof-finance-ministers-for-climate-action, am 20.03.2020. 110Siehe The Coalition of Finance Ministers for Climate Action (2019, S. 2). 109Unterzeichnende
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Transformation hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft auch auf einen Finanzmarkt angewiesen ist, der eine nachhaltige Wirtschaftsweise befördert und auch selbst nachhaltiger wird. Im Zuge dieser Entwicklungen hat sich der nachhaltige Finanzmarkt sehr dynamisch entwickelt und zunehmend ausdifferenziert: Auf allen Ebenen (international, europäisch, national) sind vielfältige Akteur/innen und Initiativen zu beobachten, die um die zukünftige Ausgestaltung des nachhaltigen Finanzmarkts ringen. In diesem Beitrag habe ich einen Vorschlag zur Kartierung dieses bunten und unübersichtlichen Feldes unterbreitet. Ausgehend von der Fragestellung Welches Verhältnis zu Geld ist für die Akteur/innen handlungsleitend? kann ein Kontinuum an idealtypischen Handlungsorientierungen zwischen Geld als Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck aufgespannt werden. Die jeweilige Ausprägung dieser Handlungsorientierung kann sich in unterschiedlichen Wirkungskreisen auf Geld realisieren, von denen ich – ebenfalls wieder idealtypisch – drei unterscheide: A: Geld direkt lenken (eigenes/fremdes), B: Geld indirekt lenken (for-profit/non-profit), C: Geld durch Regulierung lenken (soft/hard law). Diesen drei Wirkungskreisen habe ich exemplarisch einige Akteur/innen und Initiativen des nachhaltigen Finanzmarkts zugeordnet. Durch den hohen Grad an Ausdifferenzierung, die insbesondere seit 2015 angestoßen wurde, verbleibt diese Darstellung zwangsläufig im illustrativen Bereich. Sie will aber Anregungen liefern, neu hinzukommende Akteur/innen und Initiativen durch eine Verortung im Schema einordnen und ins Verhältnis zu anderen setzen zu können. Welche Handlungsorientierung die Akteur/innen und Initiativen auf dem Kontinuum von Geld als Selbstzweck und Geld als Mittel zum Zweck haben, lässt sich nur durch eine genauere qualitativ-motivierte Sozialforschung eruieren. Zugleich verbleibt das Kontinuum immer in der aufgezeigten Dichotomie und ignoriert damit eine Vielzahl anderer Dimensionen, die für eine weitere Differenzierung des Schemas herangezogen werden könnten. Die jedem Schema inhärente Vereinfachung ist zugleich seine Begrenzung. Und doch helfen uns erfahrungsgemäß Schemata bei der Orientierung. In unserem Projekt sind wir ebenfalls deutlich differenzierter vorgegangen und haben mit Deutungsmustern, Frames und Narrativen am Beispiel von Banken, der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und der nicht-finanziellen Berichterstattung das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Finanzmarkt herausgearbeitet. Die Ergebnisse dieser Studien finden sich im empirischen Teil dieses Bandes. Die Zeilen zu diesem Beitrag schreibe ich im März 2020 aus dem durch die Corona-Pandemie erzwungenen Home-Office. Die Finanzmärkte sind in Unruhe, die Wirtschaft ist auf Talfahrt und die Frage, ob diese Pandemie dem Klima guttut oder nicht, wird bereits kontrovers diskutiert. Unser Forschungsprojekt, welches wir in den Jahren 2015 bis 2018 durchgeführt haben, wird bald historischen Wert haben – als Zeugnis aus der Zeit vor der Pandemie. Wie sich das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Finanzmarkt zukünftig entwickeln wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt offener denn je.
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Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit – Institutionelle Logiken, Deutungsmuster, Frames und Narrative im Vergleich Daniela Woschnack, Agnes Fessler, Gesa Griese und Stefanie Hiß
Inhaltsverzeichnis 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2 Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3 Institutionelle Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.3.1 Die Konzepte der institutionellen Makro-Logiken versus Feld-Logiken . . . . . . . . 92 3.3.2 Rekonstruktion einer Nachhaltigkeitslogik auf Makro-Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.3.3 Zur theoretischen Rekonstruktion einer Makro-Logik der Nachhaltigkeit. . . . . . . 99 3.4 Deutungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.5 Frames. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.6 Narrative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag skizziert, wie wir uns dem Reflexionsraum Nachhaltigkeit aus methodologischer Sicht genähert haben: Zunächst haben wir unter Bezugnahme auf die Theorie institutioneller Logiken eine Makro-Logik der Nachhaltigkeit rekonstruiert. Darauf aufbauend haben wir verschiedene organisationale Felder und Untersuchungsgegenstände wie das Bankwesen, die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung oder die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen empirisch dahin gehend untersucht, welche vielfältigen Vorstellungen und Interpretationen von Nachhaltigkeit dort ko-existieren. Methodologisch haben wir uns dazu eines Multi-Methoden-Ansatzes bedient, der unter Verwendung von institutionellen Logiken, Deutungsmustern, Frames und Narrativen unterschiedliche
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_3
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
Perspektiven auf den Gegenstand entwickelt. Mithilfe dieser Methoden haben wir die symbolischen Repräsentationen und Aushandlungen unserer Makro-Nachhaltigkeitslogik in den verschiedenen Teilbereichen und Untersuchungsgegenständen analysiert. Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag zwei Ziele: Zum einen wird unser Konzept der Makro-Nachhaltigkeitslogik eingeführt, vorgestellt und erläutert. Zum anderen werden wir unsere methodischen Herangehensweisen darstellen, erklären und vergleichend diskutieren sowie die gewählten Forschungsansätze systematisieren und ihre Reichweiten und Grenzen ausloten.
3.1 Einleitung1 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der methodischen Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit. Wie in der Einleitung ausgeführt, verstehen wir das nachhaltige Investieren als Reflexionsraum, in dem über Gegenwart und Zukunft eines nachhaltigen Finanzmarkts verhandelt wird. Dieser Reflexionsraum ist kein realer, sondern ein metaphorischer Ort, der die Debatten und Auseinandersetzungen rund um die Frage von Nachhaltigkeit und Finanzmarkt bündelt. Der Reflexionsraum wurde durch die kontinuierliche Verbreitung des Nachhaltigkeitsleitbildes in den letzten Jahrzehnten nach und nach eröffnet; heute verkörpert er den Ort, an dem verschiedene Akteur/innen, aber auch unterschiedliche Stimmen und Stimmungen, das heißt, diverse Ansichten, Meinungen, Einstellungen und Haltungen zu Nachhaltigkeit aufeinandertreffen. Im Reflexionsraum wird debattiert und gerungen um die Vorstellung dessen, was Nachhaltigkeit eigentlich sein soll und sein kann. Einerseits ist es die Vielfalt an Vorstellungen und Interpretationen von Nachhaltigkeit, die hier aufeinanderprallen. Andererseits scheint es einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu geben, der Nachhaltigkeit als einen Ausgleich zwischen dem Sozialen, dem Ökologischen und dem Ökonomischen versteht (Elkington 2007), um zukünftigen Generationen eine entsprechende Lebensgestaltung zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Nachhaltigkeit erscheint als ein vages Konzept mit einem harten und beständigen Kern. Diesen beiden Seiten der Nachhaltigkeit in seiner Anwendung auf den Finanzmarkt spüren wir in diesem Buch nach. Der vorliegende Beitrag schildert, wie wir uns dem, was Nachhaltigkeit eigentlich im Feld des Finanzmarkts darstellt, aus methodologischer Sicht genähert haben. In einem ersten, theoriegeleiteten Schritt haben wir im Rückgriff auf das Konzept der institutionellen Logiken aus dem neuen soziologischen Institutionalismus versucht, den
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.
3.1 Einleitung
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harten und beständigen Kern von Nachhaltigkeit ‚herauszupräparieren‘ und sichtbar zu machen. Im Zuge dessen haben wir eine Makro-Logik der Nachhaltigkeit rekonstruiert, die den Reflexionsraum in seiner Breite und Tiefe durchzieht. Demnach verstehen wir die Logik der Nachhaltigkeit als Ergänzung zu den von Patricia H. Thornton et al. (2012) entwickelten Makro-Logiken beziehungsweise institutionellen Ordnungen des Staates, der Religion, der Familie, der Gemeinschaft und des Marktes sowie der Profession und des Unternehmens. Die Nachhaltigkeitslogik verkörpert die gesellschaftlichen Prozesse der letzten Dekaden und den damit einhergehenden Aufstieg von Nachhaltigkeit als gesellschaftlich verankerte neue institutionelle Ordnung, die Einfluss auf verschiedene soziale Systeme und damit auch auf das Finanzsystem und seine Ausgestaltung hat. Damit einher geht das wachsende Verständnis für die Endlichkeit von sozialen und ökologischen Ressourcen. Aufbauend auf dieser theoretisch abgeleiteten Makro-Logik der Nachhaltigkeit haben wir den Reflexionsraum anhand verschiedener organisationaler Felder und Untersuchungsgegenstände wie dem Bankwesen (siehe dazu die Beiträge von Griese, Nagel und Hiß sowie von Griese in diesem Band), der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen (siehe dazu den Beitrag von Woschnack), der Altersvorsorge (siehe dazu den Beitrag von Fessler und Nagel) oder auch der Divestment-Bewegung (siehe dazu den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß) empirisch dahin gehend untersucht, welche vielfältigen Vorstellungen und Interpretationen von Nachhaltigkeit dort (ko-)existieren. Methodologisch haben wir uns dazu eines Multi-Methoden-Ansatzes bedient, der unter Verwendung von Deutungsmustern, Frames und Narrativen unterschiedliche Perspektiven auf das Finanzsystem entwickelt. Mithilfe dieser Methoden versuchen wir, die symbolischen Repräsentationen und Aushandlungen unserer Makro-Nachhaltigkeitslogik in den verschiedenen organisationalen Feldern und Untersuchungsgegenständen aufzudecken. Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag zwei Ziele: Zum einen soll unser Konzept der institutionellen Makro-Nachhaltigkeitslogik eingeführt, vorgestellt und erläutert werden. Zum anderen wollen wir unsere (theoretischen und) methodischen Herangehensweisen darstellen, erklären, vergleichend diskutieren und Reichweiten und Grenzen der verschiedenen Forschungsansätze ausloten. Hinter diesem zweiten Ziel steckt auch die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Stand der Literatur. Lange haben wir nach einem Überblicksartikel gesucht, der uns institutionelle Logiken, Deutungsmuster, Frames und Narrative vergleichend vorstellt und voneinander abgrenzt. Diesen konnten wir jedoch trotz intensiver Literaturrecherche nicht finden. Daher der Wunsch, einen solchen Artikel als Ergebnis unserer Forschung selbst zu verfassen und unsere Überlegungen zur Anregung weiterer Diskussionen etwa mit Blick auf den Mehrwert eines Multi-Methoden-Ansatzes zu teilen. Unser Beitrag ist wie folgt organisiert. Im nächsten Abschn. (3.2) stellen wir in einer knapp gehaltenen Übersicht unsere empirische Datenbasis vor. Daran anschließend (Abschn. 3.3) befassen wir uns mit der Einführung, Herleitung und Rekonstruktion sowie mit der Darstellung und Analyse beziehungsweise Interpretation der
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
akro-Nachhaltigkeitslogik auf Basis des Konzepts der institutionellen Logiken. In den M darauffolgenden Abschn. (3.4, 3.5, 3.6) stehen die Darstellung und der Vergleich unserer verschiedenen Forschungsmethoden im Mittelpunkt. Die von uns verwendeten Ansätze der Deutungsmusteranalyse, der Frameanalyse und der Narrationsanalyse werden zunächst einzeln vorgestellt, diskutiert und auf ihre Reichweiten und Grenzen hin geprüft. Dabei konkretisieren wir die Konzepte, indem wir deren Anwendung in unserem Forschungsprozess beschreiben. Im Anschluss daran (Abschn. 3.7) werden die Ansätze – auch unter Bezugnahme auf das Konzept der institutionellen Logiken – vergleichend gegenübergestellt und herausgearbeitet, inwiefern sie sich gegenseitig ergänzen. Im Fazit (Abschn. 3.8) fassen wir unsere Ergebnisse abschließend zusammen.
3.2 Datenbasis Der Erhebung unserer empirischen Datenbasis in Form von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen sowie Dokumentenrecherchen (u. a. Gesetzestexte, Webauftritte und Presseartikel) ging eine intensive Phase der Felderschließung voraus. Wer oder was zum organisationalen Feld des nachhaltigen Finanzmarkts in Deutschland im Sinne des neuen soziologischen Institutionalismus und damit zum Untersuchungsgegenstand gehört, stand nicht von Anfang an fest, sondern hat sich unter anderem durch die Dynamiken des Feldes erst im Laufe der Erhebungsphase ergeben (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 39–41; Wooten und Hoffman 2008). Ein anschauliches Beispiel für diesen Umstand ist die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung, die sich in Deutschland erst ab dem Jahr 2013 entwickelt und ab 2015 weiter an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Während wir diesen Teilbereich des nachhaltigen Investierens zunächst nicht in unserer ursprünglichen Projektkonzeption bedacht hatten, nahmen wir diesen im Projektverlauf als Untersuchungsphänomen auf, um auch diese neuen Facetten des nachhaltigen Finanzsystems zu betrachten und die sich neu entwickelnden Dynamiken und hinzustoßenden Akteur/innen zu erfassen. Eine entsprechende Flexibilität ist vor allem bei der Analyse von jungen, dynamischen und sich stets im Wandel befindenden organisationalen Feldern, wie dem nachhaltigen Finanzmarkt, geboten. Um eine möglichst große Varianz in den Dynamiken des nachhaltigen Investierens einzufangen, entschieden wir uns bei der Auswahl der Themensetzung für die Teilprojekte nach der Methode der größtmöglichen Unterscheidbarkeit: Wir haben Organisationen, Finanzinstrumente, soziale Bewegungen und Finanzprodukte ausgewählt. Die Wahl fiel erstens auf das für das bankorientierte deutsche Finanzsystem zentrale Bankwesen, hier vor allem auf die Organisation Bank, und seine sich entwickelnde nachhaltige Facette (siehe dazu die Beiträge von Griese, Nagel und Hiß sowie von Griese in diesem Band). Zweitens haben wir mit der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen ein Finanzinstrument ausgewählt, das die Schnittstelle zwischen Unternehmen, dem Finanzsystem und weiteren gesellschaftlichen Akteur/innen mitgestaltet (siehe dazu den Beitrag von Woschnack). Mit der
3.2 Datenbasis
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ossil-Fuel-Divestment-Bewegung haben wir drittens eine soziale Bewegung aufF genommen, die mit ihrer aktuellen sozialen Dynamik Wandlungsprozesse auch im Finanzmarkt vorantreiben will (siehe dazu den Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß). Neben diesen drei Hauptteilprojekten haben wir mit der Altersvorsorge zudem noch den Fokus auf Finanzprodukte gelenkt (siehe dazu den Beitrag von Fessler und Nagel). Dieses in einer frühen Projektphase entstandene vor allem historisch-rekonstruierende und Sekundärdaten berücksichtigende Teilprojekt ohne primäre Empirie wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels jedoch vernachlässigt. Die für das Forschungsprojekt erhobene empirische Datenbasis stützt sich vor allem auf insgesamt 93 qualitative Interviews, die jeweils eine Länge von 50 bis 90 min haben. Für das Teilprojekt zum nachhaltigen Bankwesen wurden insgesamt 31 qualitative Interviews geführt, das Teilprojekt zur Divestment-Bewegung basiert auf 20 qualitativen Interviews und vier Fokusgruppen-Diskussionen. Für das Teilprojekt zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen wurden insgesamt 38 qualitative Interviews erhoben. Zur Eröffnung des Feldzugangs haben wir im Mai 2016 einen zweitägigen Workshop mit dem Titel „Divestment – (Mit) Geld bewegen? Bestandsaufnahme einer sozialen Bewegung“ in Berlin durchgeführt.2 Die Auswahl der eingeladenen Expert/innen folgte dem Kriterium der Sichtbarkeit in der öffentlichen Debatte und der größtmöglichen Varianz. Neben lokalen Aktivist/innen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Kirchen, Ärzt/innen-Verbänden und Stiftungen waren auch Vertreter/innen von Banken und kritische Journalist/innen an der Tagung beteiligt. Leider konnten wir keine Vertreter/ innen einer von Klima- und Anti-Kohle-Bewegung besonders betroffenen Gewerkschaft für eine Teilnahme motivieren, obgleich oder gerade weil das Thema Divestment innerhalb der Gewerkschaften Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Klimaschutz und Arbeitsplatzerhaltung hervorruft. Darüber hinaus konnten wir die damalige Staatssekretärin der Senatsverwaltung für Finanzen Berlin, Dr. Margaretha Sudhof, als Rednerin gewinnen und haben dadurch Einblicke in die Überlegungen der Stadt Berlin zum Divestment bekommen.3
2Gefördert
wurde die Tagung neben der regulären Projektförderung durch das BMBF zudem von der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, da Prof. Dr. Stefanie Hiß zum Zeitpunkt der Tagung Mitglied in der Jungen Akademie war. 3Wenige Wochen nach diesem Workshop hat die Stadt Berlin den Entschluss zum Divestment gefasst. Siehe dazu den Beschluss der Stadt Berlin zum Ausschluss von fossilen, nuklearen und Rüstungssektoren sowie zu verbindlichen Nachhaltigkeitskriterien für Geldanlagen aus der Versorgungsrücklage des Landes Berlin (vgl. https://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/ vorgang/d17-3074.pdf, am 19.02.2020). Erstellt werden die Nachhaltigkeitskriterien von der Nachhaltigkeits-Ratingagentur oekom research AG (seit März 2018 ISS oekom) und dem Indexanbieter Solactive AG. Verwaltet durch die Deutsche Bundesbank ging der entsprechende fossil-freie Aktienindex im April 2017 an den Start (vgl. https://www.berlin.de/sen/finanzen/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.546128.php, am 20.02.2020).
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
Den Expert/innen-Workshop haben wir für eine erste empirische Erhebung fruchtbar gemacht. Für diesen Zweck organisierten wir im Rahmen der Tagung zwei thematische Fokusgruppenrunden, in denen wir die Teilnehmenden unter unserer Moderation zu verschiedenen Fragestellungen des Divestments diskutieren ließen. Die Diskussionen wurden aufgezeichnet, verschriftlicht und ausgewertet. Zudem wurden die Diskussionen durch die gemeinsame Erarbeitung von Postervorlagen an den Gruppentischen visuell unterstützt. Diese wurden ebenfalls von uns bei der Auswertung berücksichtigt. Die Fragestellung der ersten Fokusgruppenrunde mit zwei parallelen Gruppen zu je fünf bis acht Teilnehmenden zielte auf die Erstellung einer Übersicht über die Divestment-Landschaft in Deutschland. Dabei ging es uns insbesondere um die Sicht der Teilnehmenden auf die verschiedenen Akteur/innen im Feld, ihre eigene Verortung beziehungsweise die ihrer Organisation sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb der Divestment-Bewegung. Wir haben dafür eine theoretische Strukturierung in Anlehnung an den Framing-Ansatz (Benford und Snow 2000) vorgenommen und gefragt: a) Welche Probleme adressiert ihre Organisation als Divestment-Akteurin?, b) Woher kommt die Motivation ihrer Organisation für das Thema Divestment? und c) Inwiefern sieht ihre Organisation Divestment als eine Lösung für die adressierten Probleme? Die Teilnehmenden haben ihre Antworten auf Karten festgehalten. In drei Schritten haben sie diese Karten auf Feldern für Probleme, Motivationen und Lösungen auf dem Poster platziert und zusammen mit den anderen Gruppenmitgliedern nach einer Ordnung oder Strukturierung von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden gesucht. Letztlich konnten wir so entlang der drei Framing-Dimensionen die Spannbreite und Diversität der im organisationalen Feld der Divestment-Bewegung vorzufindenden Sichtweisen aufzeigen und eine Visualisierung der Divestment-Landschaft erarbeiten. Vor allem aber waren die dadurch angeregten und aufgezeichneten Argumente, Rechtfertigungssemantiken und Deutungen der Teilnehmenden für unsere Datenerhebung und empirische Analyse relevant. In der zweiten Fokusgruppenrunde mit erneut zwei parallelen Gruppen haben wir die Reflexion über die Bedeutung von Divestment für den Finanzmarkt in den Blick genommen. Alle Teilnehmenden wurden gebeten, die folgenden Satzanfänge auf bereitliegenden Karten zu ergänzen: a) Divestment regt bei Investor/innen kein/ein Umdenken an, indem/weil…, b) Vergleicht man Divestment mit dem nachhaltigen Investieren, also der Berücksichtigung nicht-finanzieller Kriterien bei Investitionsentscheidungen, dann fällt auf, dass…, c) Divestment befördert/verhindert zukünftige Krisen am Finanzmarkt, indem/weil… Die Teilnehmenden wurden dann aufgefordert, sich ihre Satzergänzungen nacheinander gegenseitig vorzustellen und auf einem Tisch zu platzieren. Ziel der darauf aufbauenden gemeinsamen Diskussion war es, die übergeordnete Frage zu beantworten, wie Divestment den Finanzmarkt verändert. Erneut ging es uns vor allem auch um die dadurch angeregten Diskussionen, die uns Aufschluss über explizite oder implizite Deutungen und die hinter den ausgetauschten Argumenten stehenden latenten Schemata gaben.
3.3 Institutionelle Logiken
91
Darüber hinaus hat uns die von uns veranstaltete Divestment-Tagung einen sehr guten Feldzugang nicht nur für das Teilprojekt Divestment, sondern auch für die anderen beiden Teilprojekte eröffnet, sodass in deren Nachgang eine Vielzahl von Interviews geführt werden konnte. Zusätzlich dazu haben wir einschlägige Veranstaltungen des Feldes wie des Roundtable der United Nations Environment Programme Finance Initiative (UNEP FI), des Vereins für Umweltmanagement und Nachhaltigkeit in Finanzinstituten e. V. (VfU), des Forums nachhaltige Geldanlagen (FNG), sowie des Econsense-Forums für nachhaltige Entwicklung der deutschen Wirtschaft besucht, um den Austausch mit Praktiker/innen zu gewährleisten und einen Einblick in das Feld und die dort verhandelten Themen zu erhalten. Weiterhin haben wir für das Teilprojekt zum nachhaltigen Bankwesen eine teilnehmende Beobachtung bei einer Förderbank durchgeführt (Bachmann 2009). Ein Projektmitglied, Gesa Griese, hat an Teamsitzungen der Risikocontrolling-Abteilung und diversen Gruppengesprächen sowie bei einem öffentlichen Auftritt der Bank im Rahmen einer Messe teilgenommen. Dies erlaubte einen tiefgehenden Einblick in das Alltagsgeschehen der Organisation ‚Bank‘, im Speziellen einer Förderbank. Diese so generierten Eindrücke und Beobachtungen konnten genutzt werden, um die im Beitrag von Griese, Nagel und Hiß identifizierten verschiedenen Handlungslogiken im Bankwesen, die zur Ausprägung von fünf verschiedenen Feld-Logiken führen, zu untermauern, zu kontrastieren und nachzujustieren.
3.3 Institutionelle Logiken Das Konzept der institutionellen Logiken stammt aus dem neuen soziologischen Institutionalismus (NI) und ist damit innerhalb der Organisationssoziologie zu verorten. Im Mittelpunkt des NI steht die Frage nach dem Einfluss von verschiedenen Institutionen, verstanden als soziale Regelwerke, auf Organisationen oder organisationale Felder (Greenwood et al. 2017; Hasse und Krücken 2005; Powell und DiMaggio 1991; Senge 2011; Senge und Hellmann 2006; Walgenbach und Meyer 2008). Der NI grenzt sich bewusst von der Annahme eines rationalen Akteurs ab und richtet den Blick stattdessen auf kulturelle Einflüsse wie beispielsweise Handeln nach Routinen, Nachahmung oder Selbstverständlichkeiten, die den Handlungssubjekten nur bedingt reflexiv verfügbar sind. In der Frühphase der theoretischen Herausbildung des NI verengte die angenommene Notwendigkeit einer Legitimation und Angleichung an die Erwartungen und Einflüsse der institutionellen Umwelt den Fokus auf die Phänomene des Isomorphismus. In darauffolgenden Phasen der Theorieentwicklung wurde der zuvor vernachlässigte Blick auf den institutionellen Wandel intensiviert (Mahoney und Thelen 2010). Die Überlegungen zu institutionellen Logiken wollen daran anknüpfen und sowohl die Analyse von Wandel vorantreiben als auch zur „Rückkehr der Gesellschaft in die Organisationswissenschaft“ beitragen (Friedland und Alford 1991).
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
3.3.1 Die Konzepte der institutionellen Makro-Logiken versus Feld-Logiken Das Konzept der institutionellen Logiken bringt den Einfluss von Institutionen auf Wandel in die Organisationstheorie zurück (Thornton und Ocasio 1999, 2008; Thornton et al. 2012). Darüber hinaus dient der Ansatz der institutionellen Logiken zur Untersuchung von institutioneller Komplexität, Heterogenität und (ko-)existierenden, konfligierenden institutionellen Erwartungen in organisationalen Feldern sowie innerhalb von Organisationen und deren Wechselwirkungen auf den verschiedenen Analyseebenen (z. B. Battilana und Dorado 2010; Besharov und Smith 2014; Cobb et al. 2016; Greenwood et al. 2011; Lee und Lounsbury 2015; Lounsbury und Boxenbaum 2013; Purdy und Gray 2009). Prozesse der (De-)Institutionalisierung lassen sich mithilfe des Konzepts ebenfalls beschreiben und erklären (Lounsbury et al. 2003; Maguire und Hardy 2009).4 Aber was genau meint das Konzept der institutionellen Logiken? Sie sind den zumeist etwas vagen Definitionen folgend sozial konstruierte, historische Muster von Praktiken, Annahmen, Werten sowie Glauben und Regeln, die Individuen dazu verhelfen, ihre reale Existenz sowie Zeit und Raum zu organisieren und ihre soziale Realität mit Bedeutung zu versehen (Thornton et al. 2012, S. 2). Vereinfacht ausgedrückt beschreiben institutionelle Logiken, welche tiefverwurzelten Vorstellungen, Glaubenssätze und Annahmen es über die soziale Wirklichkeit in der Gesellschaft gibt. Sie verdeutlichen, welches soziale Verhalten als legitim erachtet wird und welche Werte und Normen für soziales Handeln maßgebend sind. In Form von fest institutionalisierten Strukturen und kulturellen Regeln repräsentieren Logiken eine Vielzahl an Mechanismen, die die soziale Ordnung und die darin stattfindenden Prozesse und Handlungen prägen, bestimmen und leiten. Indem sie Sets von Erwartungen für soziale Beziehungen und das Verhalten von Individuen repräsentieren, formen sie sowohl individuelle als auch organisationale Praktiken (Goodrick und Reay 2011, S. 375). Sie sind somit als eine Art sozial konstruierte, implizit und latent wirkende Leitbilder zu verstehen, die das soziale Leben systematisieren (Thornton et al. 2012, S. 2), wie es auch im folgenden Zitat zum Ausdruck gebracht wird: Institutional logics are assumed social prescriptions that guide action in an organizational field. They refer to the predominant belief systems and related practices that shape individual and organizational actions […]. Before they manifest in action, institutional logics are cognitive templates of a highly abstract nature. They are causal relationships, collective means-ends frames that designate which goals to pursue and how to pursue them […] (Boxenbaum und Battilana 2005, S. 358). 4Mit
Blick auf die Motive und Rolle von institutionellen Entrepreneuren wird der Institutionalisierungsprozess der Nachhaltigkeitslogik im Feld der Banken im Dissertationsprojekt von Gesa Griese auf Mikroebene untersucht und somit eine Verzahnung von Meso- und Mikroebene hergestellt (Griese 2020).
3.3 Institutionelle Logiken
93
Eine weitere Grundannahme des Konzepts der institutionellen Logiken ist, dass diese sowohl aus materiellen als auch aus symbolischen Elementen bestehen (siehe u. a. Friedland und Alford 1991, S. 804; Thornton und Ocasio 1999, 2008, S. 105–106, 201; Thornton et al. 2012, S. 2, 10). Die Bezeichnung ‚materiell‘ bezieht sich an dieser Stelle auf Praktiken und materialisierte Strukturen. Gemeint sind beispielsweise Gesetze und etablierte Techniken, die eine bestimmte materialisierte ‚Form‘ angenommen haben. Symbolische Elemente sind hingegen abstrakte Strukturen und Gebilde ohne eine ähnlich manifestierte Form, wie sie materialisierte Strukturen aufweisen. Beispiele für solche symbolischen Elemente sind Gedanken, (Be-)Deutungen, Glauben oder Werte. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet diese Dualität, dass institutionelle Logiken einerseits durch sprachliche Elemente und andere Symbole kommuniziert werden und andererseits materiell beobachtbar sind (Ocasio et al. 2017, S. 510; Thornton et al. 2012, S. 168). Der Geltungs- und Wirkungsbereich von institutionellen Logiken erstreckt sich auf verschiedene soziale Ebenen (Thornton et al. 2012). Auf der Makro-Ebene und damit auf der Ebene der Gesellschaft sind sogenannte institutionelle Makro-Logiken zu verorten, auch bekannt unter der Bezeichnung inter-institutionelles System (Thornton et al. 2012, S. 2, 50, 53 f.). Beispiele für Makro-Logiken sind die institutionelle Makro-Logik des Staates, des Marktes, der Familie, des Unternehmens, der Profession, der Religion und der Gemeinschaft (vgl. Abb. 3.1). Diese sieben, auf der Makro-Ebene der Gesellschaft wirkenden, institutionellen Logiken werden von Thornton et al. (2012) anhand von neun Dimensionen beschrieben: Wurzelmetapher, Legitimationsquelle, Autoritätsquelle, Identitätsquelle, Basis der Norm, Basis der Aufmerksamkeit, Basisstrategie, informelle Kontrollmechanismen sowie ökonomisches System (Thornton et al. 2012, S. 73). Sie beschreiben diese
Makro-Logik der Profession
Makro-Logik des Marktes
Makro-Logik der Gemeinschaft
Makro-Ebene der Gesellschaft Makro-Logik der Religion
Makro-Logik des Staates
Makro-Logik der Unternehmen
Makro-Logik der Familie
Abb. 3.1 Makro-Logiken der Gesellschaft. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Thornton et al. 2012)
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
Dimensionen, die wir im späteren Verlauf auch noch ausführlicher erläutern werden, als… […] elemental categories [that] are grounded in the conventional nomenclature of social science empirical research, sociological, anthropological, archeological, psychological, political science, or economic concepts that assist scholars in the comparative interpretation of cognition and practice within and across institutional orders. (Thornton et al. 2012, S. 55)
Folglich können institutionelle Logiken anhand dieser Dimensionen rekonstruiert werden. Wir werden uns dies zu einem späteren Zeitpunkt für die M akro-Nachhaltigkeitslogik zu Nutze machen. Ocasio et al. (2017) betonen nämlich, dass die neun Dimensionen nur provisorisch sind und je nach (empirischem) Forschungskontext auch nur bestimmte Dimensionen relevant sein können. Doch was genau heißt das? Makro-Logiken sind abstrakte Beschreibungen, die sich in unterschiedlichen konkreten organisationalen Feldern ganz unterschiedlich ausprägen können. Veranschaulichen wir uns dies am Beispiel des Gesundheitssystems. Die Makro-Logiken sind durch allgemeine Informationen zu einem Handlungsmuster, einer Wertvorstellung oder einer Glaubensüberzeugung charakterisiert. Demnach beinhaltet die Makro-Logik des Marktes, dass in einer Transaktion zwischen zwei Marktteilnehmer/innen Güter mithilfe von Preisen getauscht werden. In einem Marktgeschehen finden wir es ganz normal, Eigeninteresse zu verfolgen und gestehen Organisationen zu, Profite zu machen. Analyst/innen spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie die Informationen bereitstellen, die über Angebot und Nachfrage mitentscheiden. Das Gesundheitssystem ist zunehmend von einer Marktlogik der Fallpauschalen und der Wirtschaftlichkeitsüberlegungen durchdrungen. Im Gegensatz dazu würden wir in der Makro-Logik des Staates nicht akzeptieren, wenn sich politische Akteur/innen oder Bürger/innen nur nach dem Eigeninteresse orientierten, sondern wir erwarten, dass sie ihre Rechte und Pflichten als Bürger/innen und politische Organe im Sinne des Gemeinwohls wahrnehmen. Das anvisierte Ziel und damit auch die Legitimität gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt verspricht nicht die Verfolgung von Rendite, sondern die Wohlfahrtssteigerung und demokratische Partizipation für alle. Vom Gesundheitssystem erwarten wir dieser Logik folgend den uneingeschränkten Fokus auf Heilung und Gesunderhaltung für alle. Der Alltag der Ärzt/innen ist und die Abläufe in Krankenhäusern sind jedoch mindestens im Spannungsfeld dieser beiden Makro-Logiken verortbar – rechnet sich die Belegung des Bettes noch oder sollte der/die Patient/in doch bereits halbgesund nach Hause geschickt werden oder wird doch die weitere, nicht lukrative Heilung abgewartet bis der/die ältere Patient/in sich daheim ohne Angehörige wieder selbst versorgen kann (siehe Eigenschaften der Markt- und Staatslogik bei Thornton et al. 2012, S. 73)? Die beschriebenen institutionellen Ordnungen auf der Makro-Ebene der Gesellschaft haben also Auswirkungen auf konkrete organisationale Felder und gesellschaftliche Teilsysteme. Hierzu zählt neben dem bereits erwähnten Gesundheitssystem auch das Finanz-, das Wirtschafts-, das Wissenschafts- sowie das Bildungssystem oder auch das politische System (vgl. Abb. 3.2).
3.3 Institutionelle Logiken
Makro-Logik der Profession
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Makro-Logik des Marktes
Makro-Logik der Gemeinschaft
Makro-Logik der Unternehmen
Makro-Ebene der Gesellschaft Makro-Logik der Religion Makro-Logik des Staates
Gesundheitssystem
Makro-Logik der Familie
Wirtschaft
Politik Wissenschaft
Finanzsystem Bildungssystem
Abb. 3.2 Auswirkung der Makro-Logiken der Gesellschaft auf gesellschaftliche Teilsysteme. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Thornton et al. 2012)
Institutionelle Logiken, die in solch einem spezifischen Teilsystem oder organisationalen Feld untersucht werden, werden als Feld-Logiken bezeichnet und repräsentieren die für das spezifische Feld angepasste ‚Übersetzung‘ und zumeist auch Kombination der korrespondierenden institutionellen Makro-Logik(en) (Thornton et al. 2012, S. 4). Sie beinhalten folglich die für ein bestimmtes Feld relevanten und gültigen Handlungs- und Denkmuster. In unserem Fall ist dann die Feld-Logik die des nachhaltigen Bankwesens im Finanzsystem (siehe dazu auch den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band). Zur Bildung dieser spezifischen Feld-Logik rekonstruieren wir die Einflüsse etwa der Makro-Logiken des Marktes und der der Nachhaltigkeit. Mithilfe der Feld-Logik lässt sich unter anderem das Ziel des Alltagsgeschäfts von nachhaltigen Banken rekonstruieren; mithilfe der Marktlogik auf gesellschaftlicher Ebene wäre das nicht möglich, da sie zu abstrakt und wenig organisations- und feldbezogen ist. Dennoch stehen beide Arten institutioneller Logiken in Wechselbeziehungen; sie interagieren miteinander und beeinflussen sich gegenseitig, auch über verschiedene Ebenen – Makro-Ebene und Feld-Ebene – hinweg (Thornton et al. 2012, S. 13). Thornton und Ocasio betonen, dass es sich bei institutionellen Logiken stets um Idealtypen handelt, also um formale analytische Modelle, die empirische Beobachtungen sortieren und vergleichbar machen. Deshalb sind die Idealtypen immer mindestens in
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
Paaren und nicht isoliert zu rekonstruieren (Thornton und Ocasio 2008, S. 119). Ziel ist es, aggregierte und generalisierbare Idealtypen zu bilden. Es geht folglich nicht darum, einzelne Fälle wie beispielsweise eine konkrete Organisation mithilfe der institutionellen Logiken zu beschreiben. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Logiken nicht aus einem organisationalen Feld stammen, sondern in diesem nur an die spezifischen Feldeigenschaften angepasst und damit als feldspezifische ‚Übersetzung‘ einer entsprechenden institutionellen Makro-Logik wirken (Thornton und Ocasio 2008, S. 118–120). Dies bedeutet also, dass sich Feld-Logiken ausgehend von den institutionellen Makro-Logiken des inter-institutionellen Systems entwickeln (siehe dazu auch Abb. 3.2). Gerade diese Mehrebenen-Perspektive macht den Mehrwert des Konzepts der institutionellen Logiken aus, denn durch den Rückbezug der empirischen Beobachtungen in einem bestimmten organisationalen Feld auf die Makro-Logiken des inter-institutionellen Systems ist es auch möglich, kausale Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen zu identifizieren (Thornton und Ocasio 2008, S. 119 f.). Kurzgefasst: Institutionelle Feld-Logiken sind durch Makro-Logiken geformt, aber dennoch von diesen klar zu unterscheiden, da sie unterschiedlich ausgestaltete Dimensionen und Abstraktionsniveaus besitzen (Thornton et al. 2012, S. 148). Während die Makro-Logiken die Institutionen der Gesellschaft repräsentieren, spiegeln die FeldLogiken in Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Funktionen jeweils spezieller organisationaler Felder beziehungsweise Teilsysteme den Einfluss dieser Institutionen wider: Wie formen sich Identität und Ziel einer Bank, wenn die Staatslogik Einfluss auf das Bankwesen nimmt? Gleichzeitig sind auch Rückschlüsse von Feld- auf MakroLogiken möglich: Welche Hinweise auf Makro-Logiken lassen sich aus der Zielsetzung einer Bank ableiten? Auf das Feld des Finanzsystems bezogen ergeben sich vor diesem Hintergrund zahlreiche Fragen, wie beispielsweise, warum in den letzten Jahren zunehmend nachhaltige Finanzprodukte angeboten werden. Handelt es sich hierbei um einen neuen Absatzmarkt für sich neu entwickelnde oder artikulierte Kund/innenWünsche im Sinne einer Marktlogik? Oder versteckt sich dahinter ein verändertes Verständnis vom Bankgeschäft durch den Einfluss einer Nachhaltigkeitslogik? Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass es sich bei institutionellen Makro- und Feld-Logiken um institutionalisierte, idealtypische Annahmen, Vorstellungen und Handlungsanleitungen handelt, die ihre Wirkungen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen entfalten. Als sozial konstruierte Leitbilder von sozialen Praktiken und Annahmen sowie Werten, Glauben und Regeln dienen sie gesellschaftlichen Akteur/ innen als eine Art Schablone, um ihr soziales Leben zu organisieren, zu strukturieren und mit Bedeutung zu versehen (Thornton et al. 2012, S. 2). Aufgrund ihres hohen Institutionalisierungsgrades sind institutionelle Logiken den Handlungssubjekten nicht reflexiv verfügbar; sie fungieren vielmehr als implizite und latente Strukturen zur Organisation von Gesellschaft.
3.3 Institutionelle Logiken
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Für das vorliegende Buch dient die Konzeption institutioneller Logiken als theoretischer Rahmen, der sich durch alle Beiträge als verbindende Perspektive zieht5 und uns bei der Bearbeitung der zentralen Projektfragen unterstützt: Was sind die Merkmale einer Nachhaltigkeitslogik auf dem Finanzmarkt? Welche Reaktionen, Veränderungen, Widersprüche und Dynamiken sind durch die Etablierung von Nachhaltigkeitspraktiken im zahlendominierten Feld des Finanzsystems ausgelöst worden? Wie verhalten sich die neu etablierten institutionellen Erwartungen rund um das Thema Nachhaltigkeit im Verhältnis zu den bereits bestehenden und dominierenden Logiken?
3.3.2 Rekonstruktion einer Nachhaltigkeitslogik auf Makro-Ebene Bisher gibt es keinen uns überzeugenden Versuch innerhalb der neo-institutionalistischen Organisationsforschung, eine idealtypische Nachhaltigkeitslogik auf Makro-Ebene den bereits etablierten Idealtypen hinzuzufügen. Nachhaltigkeit wird bis dato anderen institutionellen Makro-Logiken, wie etwa der Familie oder der Gemeinschaft, untergeordnet und damit nicht als eigenständige Institution anerkannt (Ciulli et al. 2015, S. 3). Als Reaktion auf diesen Stand der Debatte haben Ciulli und Kolleg/innen eine sustainable development logic (Ciulli et al. 2015, S. 2 f., 25) entwickelt. Diese Logik folgt in wesentlichen Grundzügen der Definition institutioneller Logiken nach Thornton et al. (2012), ist aber für unser Verständnis noch zu eng an die spezifische Feldausprägung der Entwicklungspolitik angepasst und nicht konsequent als davon unabhängige Makro-Logik konstruiert (Ciulli et al. 2015, S. 4). Kok, Bakker und Groenewegen (2017) operieren ebenfalls mit einer Nachhaltigkeitslogik und einer Marktlogik, um deren Zusammenspiel mit intraorganisationalen Subkulturen von Unternehmen zu erklären. Aber auch hier fehlt eine konkrete Konzeptualisierung und Herleitung der Nachhaltigkeitslogik, die analog zu den anderen Makro-Logiken des inter-institutionellen Systems aufgebaut ist. Sie fokussieren auf den Umgang der Bank und deren Verarbeitung der institutionellen Umwelt hinsichtlich deren Nachhaltigkeitsforderungen. Ähnliche Gedanken zu der später im Textverlauf von uns formulierten Nachhaltigkeitslogik findet man im New Ecological Paradigm (Catton und Dunlap 1980). Dieses wissenschaftliche Paradigma, das auch Einfluss auf die Umweltsoziologie hatte, propagiert einen Wandel weg vom menschenzentrierten hin zum ökozentrischen Denken,
5Der
NI und das Konzept der institutionellen Logiken stellen die theoretische Klammer für das Forschungsprojekt und alle Beiträge des vorliegenden Bandes dar. Diese Setzung war ein Beweggrund, die Theorie der Economie des Conventions, die einige Ähnlichkeiten zur Perspektive der institutionellen Logiken aufweist, hier nicht weiter zu vertiefen. Für weiterführende Informationen siehe u. a. Diaz-Bone (2015).
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
bei dem Menschen nur eine von vielen Spezies auf der Erde sind (Hoffman und Jennings 2015, S. 24). Im Folgenden zeigen wir auf, welche konkreten Entwicklungen uns dazu veranlasst haben, der bestehenden Systematik zu institutionellen Makro-Logiken mit der Nachhaltigkeitslogik eine weitere institutionelle Ordnung hinzuzufügen. Darauf aufbauend werden wir anhand der vorgestellten Analysedimensionen (Wurzelmetapher, Legitimationsquelle, Autoritätsquelle, Identitätsquelle, Basis der Norm, Basis der Aufmerksamkeit, Basisstrategie, informelle Kontrollmechanismen sowie ökonomisches System) die institutionelle Makro-Logik der Nachhaltigkeit rekonstruieren. Wir führen damit die Annahme ins Feld, dass Nachhaltigkeit eine gesellschaftliche Institution auf der Makro-Ebene der Gesellschaft geworden ist. Diese Institution formt sich auf der Feld-Ebene auch im Feld des Finanzsystems auf eine bestimmte Art und Weise aus. Nachfolgend rekonstruieren wir zuerst die institutionelle Logik der Nachhaltigkeit als Idealtyp auf Makro-Ebene und analysieren anschließend am Beispiel des Feldes der Banken die Übersetzung dieses Idealtypus von der Makro- in die Feld-Ebene. Bevor wir jedoch aufzeigen, wie wir die Makro-Logik der Nachhaltigkeit rekonstruiert haben, gilt es zunächst das Konzept der Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen. Nachhaltigkeit ist bis heute ein vages Konzept. Wenn wir für die Einführung einer Nachhaltigkeitslogik plädieren, dann ist diese Vagheit kein Hinderungsgrund. Im Gegenteil: Dass in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik das Thema als Referenzpunkt diskutiert und aufgenommen wird, eine bewusste Abgrenzung davon erfolgt oder eine Überformung mit Feldspezifika beobachtbar ist, ist geradezu idealtypisch charakteristisch für die definitorische Konzeption von Makro-Logiken. Wir führen diese Vagheit kurz an der Genese des Begriffs aus.6 Das Prinzip der Nachhaltigkeit stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft und bezieht sich auf den Leitsatz, nicht mehr Holz zu schlagen als auch nachwachsen kann. Dieser Leitsatz prägt bis heute das Kernverständnis von Nachhaltigkeit (Sächsische Carlowitz-Gesellschaft 2013). Auch die von der World Commission on Environment and Development (WCED) im Jahre 1987 veröffentlichte Definition einer nachhaltigen Entwicklung greift dieses Kernverständnis auf. So heißt es in dem von der Kommission formulierten Brundtland-Bericht, eine nachhaltige Entwicklung ist „[a] development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (WCED 1987, S. 41). Darauf aufbauend haben sich diverse Konzepte zur analytischen Erfassung von Nachhaltigkeit etabliert, wie beispielsweise das sogenannte Nachhaltigkeitsdreieck oder die Triple-Bottom-Line (Elkington 2007). Kerngedanke dieser Konzepte ist, dass Nachhaltigkeit sowohl eine ökologische als auch eine soziale und eine ökonomische Komponente beinhaltet, die als gleichwertig zu
6Die
Literatur zu Nachhaltigkeit und einer nachhaltigen Entwicklung füllt inzwischen ganze Regale. Einen Überblick über zentrale Strömungen geben beispielsweise Grober (2013), Grunwald und Kopfmüller (2012), Hauff (2014), Neckel et al. (2018), Portney (2015), Pufé (2017).
3.3 Institutionelle Logiken
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betrachten sind, um – mit Blick auf zukünftige Entwicklungen – eine Generationengerechtigkeit zu gewährleisten (Hauff 2014, S. 165 f.). Unsere weiteren Überlegungen zu einer Makro-Logik der Nachhaltigkeit basieren auf diesem grundlegenden Verständnis zum Konzept der Nachhaltigkeit.
3.3.3 Zur theoretischen Rekonstruktion einer Makro-Logik der Nachhaltigkeit Wir plädieren für die theoretische Rekonstruktion einer eigenständigen Makro-Logik der Nachhaltigkeit, die sich gleichwertig zu den von Thornton et al. (2012) etablierten institutionellen Logiken einordnen lässt. Ausgangspunkt unseres Vorhabens ist die Beobachtung, dass wir zwar einen Aufstieg des Konzepts der Nachhaltigkeit in vielen Gesellschafts- und Wirtschaftsbereichen sowie vielfältige Indizien für eine tiefgreifende Institutionalisierung beobachten können, diese Entwicklung aber bisher nicht zufriedenstellend mit der theoretischen Konzeption der institutionellen Logiken nach Thornton et al. (2012) eingefangen werden kann. Die gesellschaftliche Verbreitung von Nachhaltigkeit deuten wir als Manifestation einer Makro-Logik der Nachhaltigkeit auf verschiedenen Feld-Ebenen. Dabei ist auch diese Makro-Logik auf der Feld-Ebene immer im Verbund mit anderen Logiken wie der Markt-, Unternehmens-, Gemeinschafts- oder Staatslogik zu beobachten. Beispielsweise verbinden sich unserer Lesart folgend im Wohlfahrtssystem die Staatslogik der sozialen Sicherung mit der Nachhaltigkeitslogik der Generationengerechtigkeit. Das Konzept der Nachhaltigkeit beziehungsweise seine konkrete Ausdeutung ist in den jeweiligen Feldern aufgrund der beschriebenen Unschärfe umkämpft und umstritten. Wir sehen genau diese Vagheit des Konzepts als seinen Erfolg an: Es ist dehnbar und anpassungsfähig, um mit anderen im Feld vorhandenen Logiken eine neue Melange einzugehen. Das Konzept der Nachhaltigkeit kann sich also wie ein Chamäleon an die gegebenen Bedingungen anpassen und zeitweilig bis zur Unkenntlichkeit tarnen. Für unsere empirische Untersuchung stellt dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Vor diesem Hintergrund erscheint es unumgänglich, zunächst das genuin Nachhaltige herauszuarbeiten. Dazu haben wir versucht, eben dieses aus den gesellschaftlichen Entwicklungen, Praktiken und Symboliken, die mit Nachhaltigkeit assoziiert werden, abzuleiten. Wir haben für diesen Analyseschritt die ausformulierten Logiken von Thornton et al. (2012, S. 73) als eine Art Referenzfolie genutzt. Das heißt, wir haben anhand der Ausführungen der drei Wissenschaftler/ innen Praktiken und Manifestierungen von Strukturen identifiziert und sortiert und den bereits etablierten institutionellen Logiken zugeordnet (siehe zur Identifizierung von Logiken auch das methodische Vorgehen bei Dahlmann und Grosvold 2017, S. 269 f.; Reay und Jones 2016). Auf Basis dieser Systematisierung konnten wir die Komponenten der Makro-Logik der Nachhaltigkeit herausarbeiten und überlegen, wie diese institutionelle Logik im Vergleich zu den anderen Logiken ausgestaltet sein muss,
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
um die „Nachhaltigkeits-Dynamiken“ in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern erklären zu können.7 Die Herausarbeitung der Komponenten einer institutionellen Logik ist ein zentraler Schritt, um analysieren und bestimmen zu können, was in der Empirie tatsächlich zu einer Nachhaltigkeitslogik gehört und um die Dynamiken von verschiedenen Logiken in organisationalen Feldern (z. B. Kämpfe, Widerstände oder auch Hybridisierungen) verstehen zu können (Friedland 2012, S. 585). Für das vorliegende Buch haben wir uns der Empirie des Finanzsystems bedient, da sich Nachhaltigkeit nicht nur weltweit als politische Leitidee8 verbreitet hat, sondern in vielfältigen Diskursen – unter anderem auch in dem des Finanzsystems – Einzug gehalten hat. Vor dem Hintergrund der immer sichtbarer werdenden Endlichkeit unseres sozial-ökologischen Systems entwickeln unter anderem NGOs und soziale Bewegungen neue Ideen für nachhaltige Lebensstile und ein neues sozial-ökologisches Wirtschaftssystem, welche auch das Finanzsystem beachtlich prägen. Ausdruck dieser Entwicklungen sind beispielsweise neue, sich von der Profitmaximierung und der Kurzfristigkeit abwendende Handlungsorientierungen und Praktiken in den unterschiedlichsten Feldern des Finanzsystems, die der Verbreitung einer neuen Institution gleichzusetzen sind. Damit einher gehen alternative Wahrnehmungsmuster mit Blick auf die (gesamtgesellschaftlichen) Funktionen des Finanzsystems, den Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen sowie anderen zeitlichen Horizonten. Als Folge etablieren sich neue Quellen von Legitimität und neue Identitäten im Kontext einer weltweiten Krise des sozial-ökologischen Systems, die durch keine der von Thornton et al. (2012) entwickelten institutionellen Logiken erfasst werden können. Dies nutzen wir als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion einer eigenen institutionellen Handlungslogik im Feld des Finanzsystems, die sich um die Institution der Nachhaltigkeit anordnet und sich der vorgeschlagenen analytischen Herangehensweise von Thornton et al. (2012) bedient. Für die Rekonstruktion folgen wir dem Ansatz von Thornton und Ocasio (2008, S. 119 f.). Wir nutzen die von ihnen vorgeschlagenen neun Dimensionen zur Charakterisierung einer institutionellen Logik: Wurzelmetapher, Legitimationsquelle, Autoritätsquelle, Identitätsquelle, Basis der Norm, Basis der Aufmerksamkeit, Basisstrategie, informelle Kontrollmechanismen und ökonomisches System. Für einen ersten Überblick ist Tab. 3.1 für die institutionelle Ordnung der Nachhaltigkeit aufgeführt, die die neun Dimensionen zeigt. Im sich daran anschließenden Text werden wir auf diese
7Kok,
Bakker und Groenewegen (2017) haben zwar nicht die Makro-Logik der Nachhaltigkeit expliziert, aber dafür auf der Organisationebene einer einzelnen Bank Unterschiede von zwei verschiedenen Departments aufgeführt. So haben sie Logiken und Subkulturen einer Organisation untersucht (siehe dazu unter anderem die Tabelle auf Seite 27). 8Thornton et al. verstehen die Logiken sehr ähnlich wie das in Deutschland innerhalb der Institutionentheorie entwickelte Konzept der Leitdee: „Our perspectives sees […] views institutional logic much like German institutionalists conceptualize Leitidee – more or less insitutionalized with various manifestations (such as in practice) and always in flux […]“ (Thornton et al. 2012, S. 129).
3.3 Institutionelle Logiken
101
Tab. 3.1 Institutionelle Ordnung der Nachhaltigkeit Dimension
Institutionelle Ordnung der Nachhaltigkeit
Wurzelmetapher, Basismetapher
Schutz des Planeten Erde als Lebensgrundlage
Legitimitätsquelle
Wahrung der endlichen Ressourcen aller Lebewesen, vorausschauendes Handeln, Langfristigkeit
Autoritätsquelle
Naturgesetze
Identitätsquelle
Verbindung mit „Natur“, Planet Erde, Welt
Basis der Norm
Teil eines komplexen Netzwerks vielfältiger Lebewesen sein
Basis der Aufmerksamkeit/Wahrnehmung
Gleichberechtigter Teil eines Ganzen sein
Basisstrategie
Ressourcenschonung (ökonomische, soziale und ökologische)
Informelle Kontrollmechanismen
Wissenschaft, internationale Organisationen, NGOs, globale Zivilgesellschaft
Ökonomisches System
Sozial-ökologische Marktwirtschaft, Postwachstumsökonomie
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Thornton et al. (2012, S. 73)
Dimensionen Bezug nehmen und sie zur Veranschaulichung im Vergleich zur Logik der Familie und der des Marktes erläutern. Die institutionelle Makro-Logik der Nachhaltigkeit zeichnet sich durch die Wurzelmetapher des Planeten Erde als Lebensgrundlage aus. Mit dieser grundlegenden Metapher grenzt sich die Nachhaltigkeitslogik deutlich von anderen Logiken ab. So sind beispielsweise die Transaktion bei der Marktlogik oder die Familie als unerschütterliches und beständiges Gebilde bei der Familienlogik die jeweils grundlegenden Metaphern. Bereits in der Wurzelmetapher wird das Sinnbild für die neue Logik bestimmt: Sie führt eine neue Bezugsgröße und Einheit ein, auf die sich die folgenden Dimensionen beziehen. Damit bildet sie die Grundlage aller weiteren analytischen Dimensionen zur Bestimmung und Beschreibung einer institutionellen Logik. Als Legitimitätsquelle gilt im Kontext der Nachhaltigkeitslogik die Wahrung der endlichen Ressourcen des Planeten Erde, wobei alle Lebewesen eingeschlossen sind und als gleichberechtigt verstanden werden. Folglich kann durch vorrausschauendes und langfristig orientiertes Handeln Legitimität generiert werden. Diese Handlungsorientierung ermöglicht den Schutz und Erhalt des Planeten Erde, der die Lebensgrundlage für alle Lebewesen und damit auch für die Menschheit darstellt. Die Autoritätsquelle innerhalb der Nachhaltigkeitslogik verkörpern die Naturgesetze, die die Menschen nur zum Teil kennen oder nicht beeinflussen können. Im Gegensatz zur Markt- oder Familienlogik, bei denen die Aktionär/innen (und ihr ‚Aktivismus‘) beziehungsweise die patriarchale Vorherrschaft die Autoritätsquelle darstellen, verweist die der Nachhaltigkeitslogik auf von Menschen nicht kontrollierbare Gesetzmäßigkeiten.
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
Die Lebenswissenschaften in all ihren Facetten ermöglichen es zu einem Teil, diese Gesetzmäßigkeiten zu erfassen und teilweise auch vorausschauend und langfristig auf sie reagieren zu können. Folglich bildet die Wissenschaft neben diversen internationalen Institutionen sowie NGOs und die globale Zivilgesellschaft einen informellen Kontrollmechanismus.9 Zum Vergleich: In der Familienlogik ist der informelle Kontrollmechanismus die Familienpolitik und bei der Marktlogik sind es Industrieanalyst/innen. Während die Identitätsquelle bei der Marktlogik gesichtslos und bei der Familienlogik die Reputation der Familie ist, stellt die Verbindung mit der Natur, dem Planeten Erde und der Welt die Quelle von Identität in der Nachhaltigkeitslogik dar. Dabei geht es nicht nur um die ökologische Bedeutung dieser Begriffe, sondern mit Bezug auf die Wurzelmetapher auch um eine Verbindung zu einer großen Einheit, die alle Lebewesen mit einbezieht. Die Basis der Norm ist folglich, Teil oder Mitglied eines komplexen Netzwerks vielfältiger Lebewesen zu sein, die alle die gleiche Berechtigung zum Leben haben. Das Gefühl, sich als Teil eines großen Ganzen zu fühlen, ist die Basis der Wahrnehmung. Im Vergleich dazu: Die Basis der Norm ist innerhalb der Familienlogik die Mitgliedschaft im Haushalt und innerhalb der Marktlogik das Selbstinteresse. Die Basis der Wahrnehmung ist der Status im Markt und der Status im Haushalt. Während in der Familienlogik die Erhöhung der Familienehre und in der Marktlogik die Maximierung des Gewinns die jeweilige Basisstrategie ist, geht es bei der Nachhaltigkeitslogik um die Ressourcenschonung. Gemeint ist damit der bewusste Umgang mit ökologischen, sozialen und ökonomischen Ressourcen sowie die Einhaltung natürlicher Grenzen, die auch die menschlichen Grenzen einschließen. Darauf aufbauend wird innerhalb der Nachhaltigkeitslogik im Gegensatz zum Familien- und Marktkapitalismus als ökonomisches System ein ökosoziales Wirtschaften angestrebt beziehungsweise eine Ökonomie, in der qualitatives anstatt quantitativem
9Beispielhaft
sind hier die Klimaberichte des Weltklimarats, des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der Vereinten Nation zu nennen, in dessen Auftrag Wissenschaftler/innen weltweit den aktuellen Stand der Klimaforschung zusammentragen und bewerten und anhand anerkannter Veröffentlichungen den jeweils neuesten Kenntnisstand zum Klimawandel veröffentlichen (IPCC, https://www.de-ipcc.de/119.php, am 20.02.2020). Ebenfalls Ausdruck der voranschreitenden Nachhaltigkeitslogik und der Ausweitung dieser informellen Kontrollmechanismen ist der Weltbiodiversitätsbericht des Weltbiodiversitätsrates der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES). Dort werden ähnlich zum Klimabericht der aktuelle Zustand und Wissensstand zu Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen berichtet. Derartige zwischenstaatliche Organisationen erfassen den Zustand des Planeten Erde sowie den der Weltgesellschaft und bereiten so Informationen auf, die für die Umsetzung der Basisstrategie der Nachhaltigkeitslogik vonnöten sind. Ebenso dienen sie der Kontrolle der eingeleiteten Praktiken mit Blick auf deren Einklang mit den Grundannahmen der institutionellen Logik (https:// www.ipbes.net/news/media-release-biodiversity-nature%E2%80%99s-contributions-continue%C2%A0dangerous-decline-scientists-warn, am 20.02.2020).
3.4 Deutungsmuster
103
Wachstum und Wohlstand (für alle) innerhalb ‚natürlicher‘, sozial-ökologischer Grenzen anstelle von grenzenlosem Wachstum leitende Prinzipien sind. Die von uns rekonstruierte Makro-Logik der Nachhaltigkeit repräsentiert einen Zusammenhang von vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen in Bezug auf soziale Beziehungen und individuelles Verhalten. Dadurch nimmt sie Einfluss auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen und sozialen beziehungsweise organisationalen Feldern. In diesen wird die Makro-Logik der Nachhaltigkeit gegenstandsbezogen oder besser gesagt feldbezogen übersetzt und modifiziert. Anhand von Rechtfertigungen, Rollenvorstellungen, Identitätskonstruktionen oder auch niedergeschriebenen Leitbildern und Gesetzen lässt sich dieser Transfer rekonstruieren. Der Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band untersucht explizit diesen Transfer und damit den Einfluss von gesellschaftlichen Makro-Logiken auf das Feld der Banken. Sie nutzen hierfür die Systematik der Makro- und Feld-Logiken nach Thornton et al. (2012) und ergänzen zu den bereits herausgearbeiteten institutionellen Makro-Logiken die von uns rekonstruierte institutionelle Makro-Logik der Nachhaltigkeit. Ziel des Beitrags ist es, die vorherrschenden Handlungsorientierungen, Strukturen und kulturellen Bedeutungen auf Feld-Ebene zu erfassen und zu ordnen, um herauszuarbeiten, was genau Nachhaltigkeit im deutschen Bankwesen bedeutet. Durch die Anwendung des Konzepts der institutionellen Logiken ist es unter anderem möglich, den Einfluss der Nachhaltigkeitslogik auf die Identität und das Ziel einer Bank zu identifizieren und zu zeigen, gegenüber welchen anderen Identitätskonstruktionen sich diese im Feld abgrenzen. Dabei nutzen die Autor/innen die diversen Makro-Logiken um zu erklären, woher die dargelegten Unterschiede im Ziel und der Identität der Akteur/innen innerhalb des Bankwesens stammen. Nachfolgend möchten wir die Perspektive der institutionellen Logiken kontrastieren und erweitern, indem wir die von uns darüber hinausgehend angewendeten Forschungsmethoden Deutungsmusteranalyse, Frameanalyse und Narrationsanalyse darstellen. Wir zielen darauf ab, unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand des Finanzsystems beziehungsweise seine vielfältigen Dimensionen einzunehmen und die symbolischen Repräsentationen und Aushandlungen der institutionellen Makrologik der Nachhaltigkeit in verschiedenen Teilbereichen des Finanzsystems aufzudecken. Nachdem die drei Ansätze eingeführt wurden, verknüpfen wir die so generierten Erkenntnisse zu den Forschungsmethoden und vergleichen die verschiedenen Ansätze.
3.4 Deutungsmuster Unser alltägliches Handeln ist geprägt von vielfältigen Situationen, die die Einordnung, Sortierung und Bewertung der uns umgebenden sozialen Welt sowie eine angemessene Reaktion auf eben diese verlangen. Dabei müssen wir jedoch nicht jedes Mal aufs Neue über (ähnliche) Situationen nachdenken, um entsprechende Handlungen einleiten
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3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
zu können. Vielmehr passiert dies relativ automatisiert und wie selbstverständlich. Wir greifen unbewusst auf bestehende ‚Sortierraster‘ – sogenannte Deutungsmuster – zurück, die ihren Ursprung nicht im einzelnen Individuum haben, sondern als gesellschaftliches Konstrukt zu fassen sind. Es handelt sich bei diesen Hilfskonstrukten also um eine Art Rezeptwissen mit „eingelagerten kollektiven Sinnzusammenhängen“ und damit um „überindividuelle Bestandteile eines zumeist fraglos gegebenen und gemeinsam geteilten Alltagswissens, das sich vorreflexiv im Rahmen von alltäglichen Handlungsvollzügen praktisch umsetzt“ (Kassner 2008, S. 37). Der Begriff des (sozialen) Deutungsmusters10 erfreut sich vor allem innerhalb der Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten zunehmender Beliebtheit (Lüders und Meuser 1997, 2011, S. 31). Die damit verbundene wissenschaftliche Konzeption ist als ein spezifisch deutscher Beitrag zur soziologischen Debatte zu verstehen, die sich stets mit Fragen rund um das Verhältnis von Handlung und Struktur beschäftigt. Seinen Ursprung hat die Debatte um Deutungsmuster und ihre Analyse in einem im Jahr 1973 von Ulrich Oevermann als Manuskript entworfenen und 2001 veröffentlichten Artikel (Oevermann 2001c). Im Zuge dessen haben sich unzählige Forschungsansätze etabliert, die sich dieser Konzeption bedienen und sie an ihre jeweils eigenen Forschungsgegenstände und -interessen anpassen (Lüders und Meuser 1997; Meuser 2011; Meuser und Sackmann 1992, S. 14; Oevermann 2001a; Oevermann 2001b; Plaß und Schetsche 2001; Schetsche und Schmied-Knittel 2013; Schmitt 2017, S. 118). Dabei wird der Begriff des Deutungsmusters oftmals synonym mit anderen Begrifflichkeiten wie (Deutungs-) Rahmen, Orientierungsmuster, Wahrnehmungsschema, Skript oder auch Habitus verwendet (siehe u. a. Kreissl und Sack 1998, S. 42 f.; Lüders und Meuser 1997, S. 57; Meuser 2011, S. 31), wodurch vielfältige Begriffs- und Konzeptverständnisse im wissenschaftlichen Diskurs vorzufinden sind.11 Doch was lässt sich – ganz allgemein betrachtet und ohne Bezug zu einem spezifischen Untersuchungsgegenstand – unter dem Begriff des Deutungsmusters verstehen? Folgt man der etablierten wissenschaftlichen Literatur, so sind Deutungsmuster „die praktisch handlungsrelevanten überindividuell geltenden und logisch konsistent miteinander verknüpften Sinninterpretationen sozialer Sachverhalte“ (Dewe und Ferchhoff 1991, S. 76). Sie stellen damit „die generative, sich historisch wandelnde Tiefenstruktur des gesellschaftlichen Bewußtseins [sic!] dar, aus der heraus Vorstellungen, Argumentationen und Handlungsintentionen ihrerseits erst erzeugt werden“ (Dewe und Ferchhoff 1991, S. 76). Deutungsmuster sind also als kollektive Sinngehalte zu verstehen, die das soziale Denken und Handeln strukturieren und leiten. Als eben solche Orientierungshilfen beziehen sie sich nicht ausschließlich auf ein Individuum, sondern
10Im Folgenden verwenden wir die Begriffe Deutungsmuster und soziales Deutungsmuster synonym. 11Für einen Überblick über verschiedene Ansätze siehe unter anderem Arnold (1983), Lüders (1991), Lüders und Meuser (1997) sowie Meuser und Sackmann (1992).
3.4 Deutungsmuster
105
sind als vom einzelnen Individuum abgekoppelt zu verstehen. Das meint, dass sie sich dem subjektiv gemeinten Sinn und dem intentionalen Handeln von sozialen Akteur/ innen entziehen (Kassner 2008, S. 37; Meuser 2011, S. 31; Oevermann 2001c, S. 5). Als Repräsentant von sozialem Sinn unterscheiden sich Deutungsmuster wesentlich von individuellen Einstellungen, Erwartungen und der subjektiven, systematischen Interpretation der sozialen Umwelt des/der Handelnden (Oevermann 2001c, S. 4, 28) sowie von habituell verfestigten Sinndeutungen (Lüders und Meuser 1997, S. 59). Deutungsmuster besitzen eine „innere Logik im Sinne eines nach inneren Konsistenzregeln strukturierten Argumentationszusammenhangs“ (Oevermann 2001c, S. 5; Schmitt 2017, S. 199) und sind somit keine willkürlich geschaffenen und wirkenden Strukturen. Sie sind durch ihre relative Autonomie und ihre normative Geltungskraft innerhalb von gesellschaftlichen Strukturen charakterisiert. Das heißt, sie entfalten ihre Wirkung als eine Art Richtlinie innerhalb von sozialen Strukturen selbstbestimmt und damit unabhängig von einzelnen Individuen oder anderen sozialen Leitbildern. Soziale Deutungsmuster sind folglich eine eigenständige Dimension der uns umgebenden sozialen Realität, wobei die Reichweite der Geltungskraft zwischen verschiedenen Deutungsmustern variieren kann (Dewe und Ferchhoff 1991, S. 76; Lüders und Meuser 1997, S. 59; Meuser 2011; Meuser und Sackmann 1992, S. 19; Neuendorff und Sabel 1978; Schmitt 2017, S. 119). Ein sehr anschauliches Beispiel für ein Deutungsmuster ist das der Mutterliebe, welches sich im 18. Jahrhundert etablierte und bis heute das Dasein von Frauen und ihre Beziehung zum Kind bestimmt, indem es unter anderem Deutungen und Normen über die Natur der Frau, ihre Persönlichkeitsmerkmale und die Mutter-Kind-Beziehung enthält (Schütze 1992). Weitere Beispiele sind das Deutungsmuster Generation (Sackmann 1992), das zu Väterlichkeit und Männlichkeit (Wolde 2007) oder auch das Deutungsmuster zu Strafe (Bögelein 2016). All diese Deutungsmuster geben – mit Bezug zum jeweiligen thematischen Rahmen – Sortierraster vor, an denen sich soziale Akteur/ innen in ihrem Handeln und Denken orientieren, ohne dass sie permanent neu darüber reflektieren müssen. Deutungsmuster sind folglich als kontextabhängige Orientierungshilfe im sozialen Alltag zu verstehen, die auf der Ebene der Tiefenstrukturen wirken, die wiederum das Handeln sowie das Denken und damit die subjektiven Wahrnehmungen, Deutungen und Interpretationen von Individuen implizit steuern. Sie sind keine explizit sichtbaren Konstrukte, sondern latente Strukturen, die den sozialen Handlungssubjekten nur bedingt diskursiv verfügbar sind. Dennoch oder gerade deshalb helfen sie Individuen als eine Art Rezeptwissen, um in sozialen Situationen und auf „deutungsbedürftige Handlungsprobleme“ (Schmitt 2017, S. 199) und Strukturprobleme angemessen reagieren zu können (siehe auch Lüders und Meuser 1997, S. 59; Meuser 2011, S. 31; Meuser und Sackmann 1992, S. 15 f., 19; Oevermann 2001a). Kurz gesagt: „Deutungsmuster stellen eine kulturelle, kollektiv beziehungsweise überindividuell (re-)produzierte Antwort auf objektive, Handlungsprobleme aufgebende gesellschaftliche Bedingungen dar“ (Meuser und Sackmann 1992, S. 15). Sie strukturieren damit die „alltägliche[n] Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsprozesse“
106
3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
(Kassner 2008, S. 39) und reduzieren in der Folge die Komplexität der sozialen Welt für die in ihr handelnden Akteur/innen. Damit ist der Deutungsmusteransatz vor allem innerhalb der Wissenssoziologie von zentraler Bedeutung. Trotz der Vielfalt der im wissenschaftlichen Diskurs etablierten Forschungsansätze, die sich mit Deutungsmustern und ihrer analytischen Aufarbeitung beschäftigen12, lassen sich sechs gemeinsame Grundannahmen all dieser Ansätze identifizieren, die als grundlegende Charakteristika des Konzepts des (sozialen) Deutungsmusters gelten (siehe dazu Meuser und Sackmann 1992, S. 19). Diese wurden in den vorherigen Abschnitten bereits ausformuliert und sollen nun noch einmal systematisch aufgezählt und jeweils kurz erläutert werden. 1. Deutungsmuster stehen in einem funktionalen Bezug zu objektiven Handlungs- und Strukturproblemen. Deutungsmuster beziehen sich stets auf ein objektives und damit vom einzelnen Individuum abgekoppeltes Handlungs- oder Strukturproblem, für das sie als eine Art Orientierungshilfe eine Anleitung für das Denken und Handeln von sozialen Akteur/innen liefern. Damit leisten sie einen funktionalen Beitrag zur Lösung dieses Handlungs- und Strukturproblems. 2. Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte. Habituell verfestigte subjektive Deutungen konstituieren noch kein Deutungsmuster. Deutungsmuster sind überindividuelle, kollektive Strukturen, die sozial akzeptierte Normen, Werte und Handlungsempfehlungen vereinen. Diese haben sich über Generationen hinweg verfestigt, sodass sie sich dem subjektiv gemeinten Sinn und dem intentionalen Handeln einzelner Individuen entziehen. Sie sind fest institutionalisierte und damit latent wirkende Strukturen, die einen sozialen Sinn widerspiegeln. 3. Deutungsmuster haben normative Geltungskraft. Der Geltungsbereich eines Deutungsmusters variiert zwischen der Gesamtgesellschaft und einzelnen sozialen Gruppen. Deutungsmuster haben als überindividuelle Orientierungsmuster eine weitreichende Geltungskraft, die jedoch stark vom jeweiligen objektiven Struktur- und Handlungsproblem sowie dem sozialen Kontext abhängig ist. Es existieren Deutungsmuster, deren Geltungsbereich sich auf die gesamte Gesellschaft bezieht, wie beispielsweise das Deutungsmuster der Mutterliebe, und wiederum andere Deutungsmuster, deren
12Zu Systematisierung der diversen Forschungsansätze zu Deutungsmustern sozialer Akteur/innen möchten wir, in Anlehnung an Kassner (2008); siehe weiterführend auch Schmitt (2017, S. 119– 121), besonders folgende wissenssoziologische Ansätze zur Konzeptualisierung von Deutungsmustern hervorheben – den Ansatz zu Deutungsmustern nach Oevermann (2001a; 2001c), nach Ullrich (1999a; 1999b) sowie den Ansatz nach Plaß und Schetsche (Höffling, Plaß und Schetsche 2002; Plaß und Schetsche 2001; Schetsche und Schmied-Knittel 2013).
3.4 Deutungsmuster
107
Geltungsbereich deutlich eingeschränkter ist, da sie sich in speziellen Kontexten oder nur innerhalb kleiner Gruppen vorfinden lassen. 4. Deutungsmuster sind intern konsistent strukturiert, was durch allgemeine generative Regeln gewährleistet wird. Deutungsmuster folgen einer ihnen innewohnenden Logik, die ihre grundlegenden Argumentationsmuster strukturiert. Diese Logik hat sich im langen Prozess der Habitualisierung und Institutionalisierung des Deutungsmusters bewährt, sie ist somit als konsistent zu betrachten. Diese Konsistenz ist durch generative Regeln, die ein bestimmtes Verhalten nahelegen, begründet. Gleichzeitig ist das Deutungsmuster aber als entwicklungsoffen zu verstehen, da das Verhalten einzelner Individuen durch diese Regeln nicht determiniert ist. 5. Deutungsmuster sind im Gegensatz zu singulären Deutungen, Einstellungen und Meinungen auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und daher nur begrenzt reflexiv verfügbar. Deutungsmuster entziehen sich dem subjektiv gemeinten Sinn von sozialen Akteur/ innen sowie ihrem intentionalen Handeln, da sie als überindividuelle, implizite Orientierungsmuster wirken. In der Folge sind sie den einzelnen Individuen nur bedingt reflexiv und diskursiv verfügbar oder anders gesagt, die Handlungssubjekte sind sich nicht bewusst, dass sie nach verschiedenen Deutungsmustern handeln. Soziale Deutungsmuster stellen institutionalisiertes Rezeptwissen zur Verfügung, welches sich über Generationen hinweg verfestigt hat und in der Folge nicht mehr hinterfragt wird. 6. Deutungsmuster haben den Status ‚relativer Autonomie‘. Trotz des funktionalen Bezugs auf objektive Handlungsprobleme sind sie hinsichtlich der Konstruktionsprinzipien und Gültigkeitskriterien autonom und konstituieren so eine eigene Dimension sozialer Wirklichkeit. Das erklärt die beträchtliche Stabilität von Deutungsmustern. Dennoch sind Deutungsmuster prinzipiell als entwicklungsoffen zu verstehen. Deutungsmuster bilden eine eigenständige soziale Dimension, die trotz ihrer impliziten Handlungsanleitungen und inneren Konsistenz nicht als starres Gebilde zu verstehen, sondern stets von sozialen Wandlungsprozessen betroffen ist. Deutungsmuster sind neben anderen gesellschaftlichen Strukturen (z. B. Gesetze, Werte und Normen) und Institutionen (z. B. Ehe, Familie, Religion), die unsere Handlungen stark prägen (können), eine weitere Möglichkeit, gesellschaftliche beziehungsweise kollektive Einflüsse auf individuelles Handeln zu erfassen. Ansätze zur Analyse sozialer Deutungsmuster bedienen sich dieser vorgestellten Charakteristika und wenden das Konzept gegenstandsbezogen an, sodass die unterschiedlichen Deutungsmusteranalysen oftmals nicht einfach miteinander verglichen werden können. Die Deutungsmusteranalyse ist daher eher ein forschungspragmatisch-heuristisches Konzept und weniger eine klar definierte empirische
108
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Forschungsmethode.13 Aufgrund dieser grundsätzlichen konzeptionellen und methodologischen Unschärfe sind Deutungsmusteranalysen stark von ihrem jeweiligen Forschungsinteresse, dem Forschungsgegenstand und der Forschungsfrage abhängig (Lüders 1991, S. 379 f.). Es ist daher notwendig, dass zu Beginn jeder Untersuchung neben dem Grundverständnis von sozialen Deutungsmustern auch das jeweilige Forschungsinteresse und die sich daraus ableitende Form der Deutungsmusteranalyse dargestellt werden. Für unsere Deutungsmusteranalyse (siehe dazu auch den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) orientieren wir uns an dem von Carsten G. Ullrich eingeführten Konzept (siehe u. a. Ullrich 1999a, 1999b). Analog zu Ullrich greifen wir damit auf die von Rolf Arnold verfasste Definition zu Deutungsmustern zurück. Demnach sind Deutungsmuster… […] die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe […], die diese zu ihren alltäglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben. Im Einzelnen bilden diese Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbeständen in der Form grundlegender, eher latenter Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identität präsentiert und seine Handlungsfähigkeit aufrechterhält. (Arnold 1983, S. 894; siehe auch Ullrich 1999a, S. 429)
Darauf aufbauend beschreibt Ullrich soziale Deutungsmuster als auf spezifische Handlungskontexte bezogene Konstrukte, die zur Handlungsorientierung und -bewältigung dienen. Grundlage hierfür ist, dass sie Komplexität im gesellschaftlichen Alltag reduzieren, Heterogenität und Widersprüche auflösen und so Konsistenz herstellen können (Kassner 2008, S. 47 f.; Ullrich 1999b, S. 2 f.). Deutungsmuster befähigen so „in routinisierter Weise zu praktischer Handlungsfähigkeit und wechselseitigem Sinnverstehen“ (Kassner 2008, S. 48). Die Analyse sozialer Deutungsmuster nach Ullrich baut auf diesem Verständnis auf und untersucht die „Konstitutionsbedingungen von Handlungsorientierungen“ (Ullrich 1999a, S. 429) als überindividuelle soziale Phänomene über die sprachlichen Äußerungen von Individuen. Wir orientieren uns an dieser Ausrichtung und analysieren die durch verschiedene Akteur/innen geäußerten Derivationen von sozialen Deutungsmustern, um eben diese zu rekonstruieren. Zur Erfassung dieser individuellen Derivationen sozialer Deutungsmuster wenden wir eine besondere Form des leitfadengestützten Interviews – das diskursive Interview – als Erhebungsmethode für unsere empirischen Daten an. Diese Interviewform zeichnet sich durch einen konfrontativen Interviewstil aus. Indem beispielsweise bewusst hypothetische oder provokante Fragen gestellt werden, werden die Befragten zur Formulierung von Begründungen
13Einen
umfassenderen Einblick in die Diversität der Ansätze bieten Fallstudien zur Analyse von Deutungsmustern wie beispielsweise Bögelein (2016), Markova (2013), Opielka et al. (2010) sowie Sachweh (2010).
3.4 Deutungsmuster
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und Rechtfertigungen gedrängt, die sich wiederum besonders gut dafür eignen, die Derivationen in Form von Handlungsbegründungen zu erfassen (Kassner 2008, S. 51 f.; Ullrich 1999a, S. 437). Wir streben einen systematischen Vergleich zwischen den Aussagen verschiedener Handlungssubjekte an, da sich Deutungsmuster nie vollständig in einem Individuum manifestieren und über dieses rekonstruiert werden können. Ziel ist es, „einzelne Deutungsmuster zu entdecken, voneinander abzugrenzen und insgesamt in eine typologische Ordnung zu bringen“ (Kassner 2008, S. 52). Der Fokus dieses rekonstruktivistischen Ansatzes liegt demnach nicht darauf, den Interviewten oder die Interviewte ins Zentrum der Analyse zu stellen, sondern seine/ihre sprachlichen Äußerungen zu nutzen, um „Rückschlüsse auf die Struktur des zugrundeliegenden Deutungsmusters“ (Kassner 2008, S. 52) ziehen zu können. Um diese Struktur umfassend rekonstruieren und verstehen zu können, leiten wir in Anlehnung an Hristina Markova (2013) und Michael Schetsche (1992) für alle identifizierten Deutungsmuster die zugrundeliegende Problemdefinition, die damit verbundene Wertvorstellung sowie die sich daraus ergebende Handlungsregel ab. Dieses Vorgehen haben wir für die Analyse nachhaltiger Banken im Beitrag von Griese, Nagel und Hiß angewendet und so Deutungsmuster von Banken im Kontext des Auftauchens von Nachhaltigkeit auf dem Finanzmarkt sowie von vielfältigen Krisen identifiziert. Vor dem Hintergrund des immer stärker werdenden Wettbewerbsdrucks im Bankenfeld, welcher beispielsweise durch Fintechs und Niedrigzinsphasen hervorgerufen und verschärft wird, dem enormen Legitimations- und Vertrauensverlust im Bankensektor infolge der letzten Finanzkrise sowie der strengeren Regulierungen etwa für Eigenkapitalvorschriften und Wertpapierhandel rekonstruieren wir die kollektiven Problemdeutungen und Wertvorstellungen der interviewten Akteur/innen. Wir stellen insbesondere die Praktiken und Handlungen des nachhaltigen Bankwesens als eine Lösungsmöglichkeit für die als problematisch identifizierten Umstände und Sachverhalte innerhalb jedes Deutungsmusters vor. Als Ergebnis haben wir drei zentrale Deutungsmuster herausgearbeitet: Im ersten Deutungsmuster, Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken, wird das Geschäftsmodell und -gebaren der konventionellen Banken problematisiert. Das nachhaltige Bankwesen löst dieses Problem, indem es die Reflexion über Geschäftsmodelle von Banken anregt, die andere Akteur/innen im Feld der Banken nicht in dieser Weise vorantreiben. Gerade das nachhaltige Bankgeschäft formiert sich als nahezu perfekter Gegenspieler zu den delegitimierten Großbanken und fördert so weniger riskante und ethische Bankpraktiken. Im zweiten Deutungsmuster, Rolle der Banken in der Gesellschaft, wird der Bedeutungsverlust der Banken als gesellschaftlich wichtige Akteurinnen thematisiert und aufgezeigt, wie das nachhaltige Bankgeschäft durch eine veränderte Rollendefinition neues Vertrauen in Banken ermöglichen kann. Das dritte Deutungsmuster, ‚richtige‘ Rendite, in dem die Profitmaximierung problematisiert wird und Akteur/innen aufgefordert sind, einen Ausgleich zwischen Gemeinwohlorientierung und Rendite zu finden, bietet dem nachhaltigen Bankwesen bereits Alternativen an, um diese Gegensätze zu harmonisieren.
110
3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
3.5 Frames Im folgenden Abschnitt stellen wir das Konzept der Frames zunächst allgemein, dann als Forschungsmethode zur Untersuchung von sozialen Bewegungen vor und beleuchten zugleich dessen Eignung für unseren konkreten empirischen Untersuchungsgegenstand, die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung. Wie sich dieser Zugang gegenüber der Perspektive institutioneller Logiken verorten lässt und welcher Erkenntnisgewinn dabei durch seine Anwendung auf unseren Forschungsgegenstand generiert werden kann, zeigen wir im späteren Abschnitt „Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte“ auf. Frames bezeichnen ein Analysekonzept und eine Forschungsmethode, welche heute in den Sozialwissenschaften eine breite und multi-disziplinäre Anwendung finden.14 Bezugnahmen auf und Verwendungen des Konzepts gibt es neben der Soziologie in der Psychologie (Druckman 2001; Tversky und Kahneman 1986) sowie den Sprach- und Kognitionswissenschaften (Tannen 1993; Wehling 2016), den Medien- und Kommunikationswissenschaften (Dahinden 2006; Entman 1993; Marcinkowski 2014; Scheufele 1999) und in der Politikwissenschaft (Schön und Rein 1994; Triandafyllidou und Fotiou 1998). Ihre Wurzeln hat die Framing-Forschung vor allem in drei wissenschaftlichen Traditionen: Der Soziologie, der Psychologie und der Kommunikationswissenschaft, die jeweils eigene konzeptionelle Meilensteine mit eigenen Begrifflichkeiten, Untersuchungsgegenständen und Methoden beinhalten (siehe z. B. Matthes 2014, S. 24–36). Doch auch innerhalb der Forschungstraditionen gibt es kein einheitliches Bild. Vielmehr haben sich bis heute zwischen und auch innerhalb der verschiedenen Disziplinen unzählige Ansätze etabliert, die Frames teilweise mit verwandten Konzepten synonym verstehen: Während sich die psychologische Verwendung beispielsweise etwa stärker auf kognitive und implizite Schemata bezieht (z. B. Tversky und Kahneman 1986) und individuelle Informationsverarbeitung oder das individuelle Entscheidungsverhalten betrachtet, werden soziologisch konzipierte Frames in kollektiven Aushandlungen und symbolischen Interaktionen explizit artikuliert (Snow und Benford 1988). Als gemeinsamer Ursprung heutiger Framing-Forschung gilt Erving Goffmans Arbeit zum Begriff im 1974 veröffentlichten Buch „Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen“ (Goffman 1993), das insbesondere in der Soziologie sowohl in analytischer als auch empirischer Hinsicht viel Aufmerksamkeit gewann (vgl. für einen Überblick Benford und Snow 2000). Allerdings werden in der Breite der Forschung erstaunlich selten Aussagen von Goffman unmittelbar übernommen und umgesetzt (Matthes 2014, S. 25). Vielmehr hat sich ein jeweils auf die spezifischen
14Dies
geht zugleich mit einem sehr breiten und heterogenen Begriffsverständnis einher und beförderte eine zuweilen unübersichtliche und an analytischer Schärfe einbüßende Verwendung des Konzepts. Der Abschnitt verfolgt nicht das Ziel, die konzeptuelle Debatte hier umfassend darstellen zu können.
3.5 Frames
111
Disziplinen und Fachbereiche angepasstes Begriffsverständnis von Framing beziehungsweise Frames durchgesetzt, welches sich insbesondere auf die Prozesse beziehungsweise Ergebnisse selektiven Hervorhebens (und Ausblendens) von bestimmten Realitäten und Fakten (für Sprach- und Kognitionswissenschaften z. B. Wehling 2016, S. 42) oder gewissen Informationen und Positionen (für Kommunikations- und Medienwissenschaften z. B. Matthes 2014, S. 10 f.), die auch strategisch eingefärbt sein können, bezieht.15 Frames werden in diesem Zusammenhang als eine Art ‚Sinnhorizonte‘ von Akteur/innen verstanden, die dieses Hervorheben und Ausblenden strukturieren. Das zugrundeliegende Akteurs- und Handlungsbild basiert auf der Annahme, dass Menschen und kollektive Akteur/innen wie zum Beispiel Organisationen ihre Entscheidungen maßgeblich aufgrund sinngebender Frames anstatt rational aufgrund von Fakten treffen (Wehling 2016, S. 42 f.). Es geht häufig darum, welcher Blickwinkel sich auf ein Thema in der öffentlichen, gesellschaftlichen oder politischen Debatte durchsetzt, und damit letztendlich auch um den ‚Kampf um Deutungshoheit‘ über ein Thema (Matthes 2014, S. 9). Goffman entwickelte in seiner für das soziologische, bewegungsanalytische Framing-Konzept richtungsweisenden Arbeit den Begriff der ‚Rahmen‘ (Frames), um Organisationsprinzipien alltagsweltlicher Erfahrung zu erfassen und zu analysieren (Goffman 1993). Situationen und Ereignisse müssen demnach sinnvoll strukturiert werden, damit wir sie verstehen und damit wir handlungsfähig sind. Diese notwendige Definition von Situationen geschieht anhand strukturierender Rahmen, mit denen Goffman sozial vermittelte Interpretationsschemata bezeichnet: Sie helfen Akteur/ innen dabei, „Gegenständen, Ereignissen, Handlungen und Situationen Sinn zu verleihen“ (Lüders 1994, S. 108).16 Er entwickelte damit ein grundlegendes analytisches ‚System‘, um die Strukturierung der Alltagserfahrung zu erfassen und schließt (teils explizit) an andere theoretische Arbeiten der Gegenstands- und Bedeutungskonstitution an, zum Beispiel Gregory Bateson, Alfred Schütz, William James, Peter Berger oder Thomas Luckmann (Goffman 1993, S. 10 ff.). Goffman geht es mit seinem Ansatz um Fragen, die sich Menschen in bestimmten Situationen stellen („Was geht hier eigentlich vor?“) beziehungsweise um die Aufdeckung der Strukturen, auf die Menschen zur Beantwortung dieser Fragen zurückgreifen können (Goffman 1993, S. 16).17 Er zeigt
15Das breite Begriffsverständnis von Frames geht nach Matthes darauf zurück, dass sich in der Literatur kein kohärentes Theoriegebäude eines Framing-Ansatzes findet, wenngleich gerade im englischen Sprachraum sogar von einer ‚Framing-Theorie‘ die Rede ist (Matthes 2014, S. 10). 16„Ich gehe davon aus, daß [sic!] wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich „Rahmen“. (…) Mein Ausdruck „Rahmen-Analyse“ ist eine Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation der Erfahrung“ (Goffman 1993, S. 19). 17„Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewißheit [sic!] besteht – die Frage wird gestellt, und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen“ (Goffman 1993, S. 16).
112
3 Die methodische Vermessung des Reflexionsraums Nachhaltigkeit
etwa, wie Rahmen Aufschluss darüber geben, was bei alltagsweltlichen Darstellungen wie einem Gruß oder einem Spiel eigentlich vor sich geht, warum Menschen diese erkennen und wissen wie zu handeln ist. Die Rahmenmetapher verweist dabei mit ‚frames‘, welches sinngemäß zu übersetzen ist als ‚Gerüst‘, ‚Gestalt‘, ‚Figur‘, ‚Verfassung‘ oder auch ‚Zustand‘, auf ihre gegenstandskonstituierende Funktion (Lüders 1994, S. 109): Es geht weniger – in Analogie zum Bilderrahmen – um eine äußere Begrenzung bestehender Inhalte, als um sinn- und bedeutungskonstituierende „Bezugssysteme“ (Goffman 1993, S. 50, zit. n. Lüders 1994, S. 109). Betont werden die verschiedenen und wechselnden Bezugssysteme einer Situation: „was für den Golfspieler Spiel ist, ist für den Balljungen Arbeit“ (Goffman 1993, S. 17). Besonders interessiert sich Goffman in seiner Rahmenanalyse für die Transformation von Rahmen im Alltag. Er fragt also danach, wie Situationen durch einen Wechsel der Rahmen und verschiedene Rahmungsmethoden als andere wahrgenommen (transformiert, moduliert) werden können, und wie somit etwa der Ausbruch aus derzeit als verbindlich wahrgenommenen Rahmen beziehungsweise das Irritieren oder Verletzen von Situationsdefinitionen durch Akteur/innen erklärbar wird. Anhand zahlreicher Beispiele wie Täuschung, Phantasie, Scherz oder Experiment identifiziert und analysiert er in seinem Buch eine Vielfalt solcher Varianten der Transformation oder Modulation von Rahmen im Alltag (Goffman 1993, S. 52 ff., 602 f., 605 ff.). Vorstellen können wir uns die „Transformation von Rahmen (…) als Variation, Ergänzung, Entfernen, Austausch und Aufschichtung einzelner Elemente oder kompletter unterschiedlicher gegenstandskonstituierender ‚Bezugssysteme‘“ (Lüders 1994, S. 109). Gerade die Idee der verschiedenartigen Zusammenstellung, Verbindung und Kombination von Frames und ihrer Elemente, wodurch modifizierte und neue Interpretationsschemata geschaffen werden, ist auch für die Deutungsaktivität sozialer Bewegungen ein zentrales Erklärungsmoment. Obwohl sich aktuelle soziologische Framing-Forschung wenig unmittelbar aus Goffmans Werk speist und einen anderen Untersuchungsgegenstand hat, sind die skizzierten Annahmen und Ideen – wie etwa die der Transformation von Frames und ihrer Elemente, die neue Bezugssysteme sozialer Realitäten und Situationen hervorbringt – als grundlegend für den Framing-Ansatz sozialer Bewegungen anzusehen, den wir für unsere Analyse der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung genutzt haben. Frame-Analyse sozialer Bewegungen David A. Snow und Robert D. Benford (Snow und Benford 1988, 1992; Snow et al. 1986) haben an die soziologische Tradition im Anschluss an die Arbeit von Erving Goffman angeknüpft und den Framing-Ansatz für die Analyse sozialer Bewegungen
3.5 Frames
113
fruchtbar gemacht (vgl. auch Kern 2008, S. 141; Peters 2018, S. 47).18 Daran angelehnt bezeichnen Snow und Benford (1992, S. 137) einen Frame zunächst grundlegend als „an interpretive schemata that simplifies and condenses ‚the world out there‘ by selectively punctuating and encoding objects, situations, events, experiences and sequences of actions within one’s present or past environment“ und verweisen zusätzlich zur fokussierenden Funktion von Frames auf Eigenschaften des Zuschreibens und Artikulierens von Bedeutung. Das Konzept wird auf soziale Bewegungen angewandt und konzentriert sich auf die Entstehung, den Wandel und das Wirken solcher kollektiver Deutungsrahmen19 innerhalb dieser und durch diese. Der Framing-Ansatz führte mit einer sozial-konstruktivistischen Theorieperspektive in der Mitte der 1980er Jahre – im Kontrast zu bis dahin einflussreichen stärker individualistisch oder strukturalistisch ausgerichteten Positionen – eine eher unterbelichtete Dimension in die Analyse sozialer Bewegungen ein: Es geht um die Bereitstellung und Erarbeitung von Definitionen und Deutungen von Problemen, Missständen und Anliegen, die dabei kollektiv artikuliert erst soziale Wirklichkeit erlangen (Kreissl und Sack 1998, S. 41 f.).20 Soziale Missstände und Probleme erscheinen hier weder als gegebene, objektive Fakten, auf die Bewegungen reagieren, noch als ausschließlich subjektiv wahrgenommen. Vielmehr werden sie als Ergebnis sozialer Definitionsprozesse, auf die Bewegungen als kollektive Akteur/innen im Kampf um die ‚gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ (Berger und Luckmann 2012) Einfluss nehmen, wahrgenommen. Während beispielsweise noch im Bismarckschen
18Soziale Bewegungen gelten als spezifische Form kollektiven Handelns und werden – trotz sehr heterogener Definitionen in der Bewegungstheorie – häufig mit der Eigenschaft außerinstitutionellen bzw. nicht-institutionalisierten Handelns beschrieben (gerade außerhalb von politischen Parteien und Interessengruppen, die über Mittel und Kanäle politischer Institutionen verfügen). Snow, Soule und Kriesi definieren soziale Bewegungen als „collectivities acting with some degree of organization and continuity outside of institutional or organizational channels for the purpose of challenging or defending extant authority, whether it is institutionally or culturally based, in the group, organization, society, culture, or world order of which they are a part“ (Snow et al. 2004, S. 11). Trotz oder gerade wegen dieser charakteristischen Eigenschaft sind sie interessant für das Verstehen institutioneller Wandlungsprozesse und haben ihren Platz in der institutionenanalytischen Perspektive, worauf wir im Abschnitt zur Abgrenzung der Konzepte näher eingehen. 19Kollektive Deutungsrahmen werden häufig synonym mit dem Begriff der ‚kollektiven Deutungsmuster‘ verwendet. Kollektive Deutungsmuster stehen innerhalb der deutschen Theorietradition allerdings für ein eigenständiges Konzept mit teils abweichenden Eigenschaften (siehe dazu auch den vorangegangenen Abschnitt zu Deutungsmustern in diesem Beitrag). 20Als sozial-konstruktivistisch charakterisiert sich der Ansatz auch durch sein spezifisches Erkenntnisinteresse: „Thus, social constructionists are especially concerned with the processes whereby existing structures of meaning are challenged or modified and new ones are created, deployed, and diffused through processes of collective discourse and action.“ (Snow und Oliver 1995, S. 586).
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Deutschland der 1880er Jahre Ungleichheit und Verteilungspolitik wesentlich in der Begrifflichkeit eines ‚Arbeiterproblems‘ gerahmt wurden – produziert durch den Industriekapitalismus war(en) die Arbeiter(klasse) im Vergleich zu ‚den Armen‘ eine inklusivere Bevölkerungsgruppe und damit nicht leicht zu ignorieren – wurde erst mit den 1980ern ‚das Armutsproblem‘ (der ‚sozial Ausgeschlossenen‘) wesentlicher Teil der europäischen Debatte (Banting und Myles 2016, S. 517). Damit rücken die Deutungsleistungen einer sozialen Bewegung, also ihre ideologischen Komponenten, als Erklärungsbeitrag für ihr Entstehen und Wirken sowie für Mechanismen der Mobilisierung, Partizipation und kollektiven Handelns in den Fokus. Snow und Benford beleuchten die Funktion einer sozialen Bewegung als Trägerin und Übersetzerin vorhandener Glaubens- und Bedeutungssysteme sowie als Produzentin eben solcher (Snow und Benford 1988, S. 198). Der Framing-Ansatz konzentriert sich hier also auf die „Produktion und Reproduktion kultureller Deutungsstrukturen“, mit denen soziale Bewegungen kollektives Handeln und ihre Adressat/innen mobilisieren (Kern 2008, S. 142). Ihre Analyse lässt sich daher auf der (Meso-)Ebene kollektiv produzierter und geteilter Deutungsstrukturen verorten: Frames sind weder reduzierbar auf individuelle Kalküle noch gehen sie unmittelbar aus Sozialstrukturen oder politischen Institutionen und Faktoren hervor, sondern haben ihre Eigenstruktur und -dynamik und entfalten ein „Eigenleben“ (Kreissl und Sack 1998, S. 42). Indem soziale Bewegungen (neue) Frames bereitstellen, bestehende aufnehmen und übergreifende Deutungszusammenhänge herstellen, die ihrerseits Resonanz erzeugen, mobilisieren sie kollektives Handeln. Das Framing konzeptualisiert diese Rahmungsaktivität beziehungsweise Deutungsarbeit einer Bewegung: We use the verb framing to conceptualize this signifying work precisely because that is one of the things social movements do. They frame, or assign meaning to and interpret, relevant events and conditions in ways that are intended to mobilize potential adherents and constituents, to garner bystander support and to demobilize antagonists. (Snow und Benford 1988, S. 198)
Das Framing sozialer Bewegungen enthält demnach intentionale, strategische Bemühungen, die Realitätswahrnehmung der Adressat/innen zu beeinflussen und zu koordinieren. Es ist ein interaktiver und kontroverser Aushandlungsprozess, der existierende Realitätsanalysen herausfordert und in ein kollektiv geteiltes Verständnis einer Situation, die als problematisch identifiziert wurde, münden kann (Peters 2018, S. 48).21 Frames (re-)interpretieren aber nicht nur Realität, sie legitimieren und motivieren dabei auch kollektives Handeln. Solche collective action frames einer sozialen Bewegung werden definiert als „action oriented set of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization“
21Hier werden die Wurzeln von Goffmans – symbolisch interaktionistischem – Interesse an Transformationen von Situationsdefinitionen in sozialen Aushandlungen deutlich.
3.5 Frames
115
(Benford und Snow 2000, S. 614). Innerhalb dieser Deutungsarbeit (framing work) (beziehungsweise der Struktur kollektiver Deutungsrahmen) sozialer Bewegungen unterscheiden Snow und Benford analytisch drei Kernelemente beziehungsweise Kernaufgaben, die auch als Dimensionen zur Frame-Analyse genutzt werden: a) die Identifikation bestehender sozialer Realitäten als problematisch und veränderbar sowie die Entwicklung von Problemdiagnosen – mit Elementen wie Ursachen und Verantwortungszuschreibung (diagnostic framing), b) das Angebot von Lösungsvorschlägen sowie die Benennung von legitimen Mitteln, Strategien und Zielen (prognostic framing), c) die Herstellung von Beteiligungsmotiven und (moralischen) Handlungsaufforderungen (motivational framing) (Benford und Snow 2000, S. 615–618; Kern 2008, S. 142–146). Bereits die Etablierung einer gemeinsamen Problemdiagnose ist in Anbetracht der heterogenen Akteur/innen, die sich in einer sozialen Bewegung versammeln können, keine Selbstverständlichkeit (Kern 2008, S. 143). So teilt(e) beispielsweise die AntiGlobalisierungsbewegung weitgehend die Identifikation des Neoliberalismus als ‚das Problem‘ und als verantwortlich für wesentliche soziale, politische und ökologische Verwerfungen, allerdings mit unterschiedlichen Ansichten, was die Ursachen anbelangt (Imperialismus und Hegemoniebestreben der USA versus Entfesselung kapitalistischer Dynamiken), welche sich zwar nicht gänzlich ausschließen, aber unterschiedliche Gruppen mobilisieren (Ayres 2004, S. 15–20). Benford und Snow argumentieren, dass indem die interpretativen Schemata der Bewegung mit jenen (potenzieller) Adressat/ innen (ihren Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erfahrungen) zumindest in Teilen kongruent und komplementär gestaltet werden, Mobilisierung und kollektives Handeln ermöglicht und befördert wird – diesen Prozess bezeichnen sie als frame alignment (Snow et al. 1986, S. 464).22 Untersuchungen von Frames und Framing(-Prozessen) betrachten zumeist entweder ihren Inhalt oder solche Alignment-Mechanismen und Strategien (Jones et al. 2017, S. 633). Für das von uns verwendete (bewegungsanalytische) Konzept von Frames und Framing-Prozessen bleibt festzuhalten, dass sinn- und gegenstandskonstituierende Bezugssysteme auch von kollektiven Akteur/innen wie einer sozialen Bewegung getragen und produziert werden und wesentlich kollektiv handlungsmobilisierend sind. Sie helfen Entstehen, Wirken und Partizipation von Bewegungen zu verstehen, aber auch ihre Rolle in Prozessen des (institutionellen) Wandels und der (De-)Mobilisierung. Das Framing von Bewegungen ist dadurch charakterisiert, dass es bestehende Situationen und Realitäten nicht nur (re-)definiert, sondern vor allem problematisiert, sowie daran arbeitet, alternative Wege und Mittel vorzuschlagen und diesen Werte zuschreibt. Die analytische
22Die
Autoren identifizieren dabei verschiedene Frame-Alignment-Mechanismen, die die Deutungsschemata koordinieren (frame bridging, frame amplification, frame extension, frame transformation) und auch als grundlegende Framing-Strategien sozialer Bewegungen verstanden werden (Benford und Snow 2000, S. 624 f.).
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Unterscheidung in diagnostisches, prognostisches und motivationales Framing schärft den Blick dafür. Für den mit dem Framing-Ansatz arbeitenden Divestment-Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß in diesem Band ist die Feststellung wichtig, dass Frames sozialer Bewegungen eine Situation und Realität nicht nur als problematisch (re-)definieren, sondern dabei auch kollektive Handlungen legitimieren und mobilisieren. Für die Bewegung und die Praktiken um das Fossil-Fuel-Divestment lassen sich damit die Produktion geteilter und übergreifender Deutungen und ‚kollektivierte‘ Wahrnehmungen äußerst heterogener Akteur/innen wie Klimaaktivist/innen, NGOs und Nachhaltigkeitsprofessionelle diverser Finanzakteur/innen beziehungsweise privater und öffentlicher Investor/innen in den Blick nehmen. Der Ansatz beleuchtet einerseits, inwiefern Überschneidungen zwischen den diversen Klima- und Finanzakteur/innen entstehen, und andererseits, wo und wie Deutungskämpfe und -konflikte um die Desinvestitions- und Nachhaltigkeitspraktiken stattfinden. Er sensibilisiert damit für die (neuen) kollektiven Problemdiagnosen, Lösungsvorschläge und legitimen Mittel sowie Beteiligungsmotive, die im Spannungsfeld Klimabewegung und Finanzmarkt vorangetrieben werden. Es geht also um die Offenlegung der Dynamiken im Feld, das heißt darum, herauszustellen, inwiefern bestehende Situationsdefinitionen und Realitäten des Investierens – mit Goffman gesprochen – moduliert oder transformiert werden. Zum anderen geht es darum, welche bisherigen Herangehensweisen und Deutungen am Finanzmarkt verteidigt und (re-)stabilisiert werden. Für das vorliegende Buch nutzen wir das analytische Modell außerdem, um die Risiko- und Stabilitätsbezüge der Divestment-Bewegung im Kontext der Debatte um Klimaauswirkungen und Finanzverhalten zu rekonstruieren. Dabei hilft uns das Werkzeug der Frames aufzuzeigen, inwiefern etwa neue Bezugssysteme die Risikosichtweisen und –praktiken modifizieren.
3.6 Narrative Die uns umgebende soziale Welt kann als gesellschaftlich konstruiert (Berger und Luckmann 2012; Maines 2001) und als Ergebnis von Kommunikationsprozessen begriffen werden (Maines 1993). In der Folge beinhalten Sprechakte und Selbstdarstellungen von Individuen stets Elemente von Narrativen (Maines 1993, S. 21 f.), denn “[a] narrative does more than simply indicate features of the social world. It is constitutive of the social world” (Pentland 1999, S. 716; siehe auch Gadinger et al. 2014, S. 4). Narrative als spontane Erzählungen23 bringen folglich die individuellen Handlungen und dahinterliegenden Denkmuster von Individuen zum Ausdruck (Boje 2008,
23In Anlehnung an den wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe Erzählung(en) und Narration(en) beziehungsweise Narrativ(e) im Folgenden synonym verwendet.
3.6 Narrative
117
S. 7; Shapiro 2015, S. 2). Obwohl oder gerade weil sich die individuellen Erzählungen von Subjekten stets auf die eigenerlebten Erfahrungen von diesen beschränken (Schütze 1987, S. 15), können Erzählungen als „goals and intentions of human actors“ (Richardson 1990, S. 117) beschrieben werden. In diesem Zusammenhang gelten Narrative auch als Instrumente zur Sinnstiftung (Boje 1991, S. 106; Delgado 1989, S. 2414; Pentland 1999; Shapiro 2015, S. 3), als „elementares Medium des Weltverstehens und Weltveränderns“ (Gadinger et al. 2014, S. 3), und dienen zur Abgrenzung der Handlungssubjekte gegenüber anderen Subjekten ihrer institutionellen Umwelt beziehungsweise ihrer Verortung innerhalb dieser institutionellen Umwelt (Delgado 1989, S. 2412). Narrative haben damit eine praktische Bedeutung für soziale Prozesse, indem sie zur Sinnvermittlung und Herstellung von Legitimität (Gadinger et al. 2014, S. 10) und damit zur Erzeugung von „subjective meaning for human actors” (Beattie 2014, S. 112; weiterführend auch Contrafatto 2014; Long 2016) beitragen. Doch was genau meinen wir, wenn wir den Begriff der Erzählung verwenden? Fritz Schütze fasst es wie folgt zusammen: Eine erzählte ‚Geschichte‘ ist eine Abfolge von tatsächlichen oder fiktiven Ereignissen, die (a) in einer Beziehung zeitlicher und bedingender Aufeinanderfolge zueinander stehen, die (b) allesamt, wenn auch sicherlich nicht in allen Aspekten, von mit Intentionen und Selbstbewußtsein [sic!] begabten Wesen zumindest erfahren oder gar ‚erlitten‘, mit Notwendigkeit jedoch zum Teil auch hervorgerufen werden und die (c) in gerafftem Zusammenhang von einer oder mehreren Personen faktischen oder möglichen Adressaten berichtet werden. Geschichten sind somit stets der Gegenstand von Erzählungen, in denen in grundsätzlicher Anlehnung an die chronologische Abfolge der Geschichten-Ereignisse über letztere berichtet wird. (Schütze 1987, S. 60)
Narrationen als Berichte über tatsächliche oder fiktive Ereignisse gehen also immer mit der subjektiven Darstellung von Sachverhalten einher, die einen bestimmten sozialen Prozess oder Umstand wiedergeben und damit auch der Versprachlichung von sozialem Wandel dienen. Erzählungen prägen somit das Handeln und Denken von Individuen (mit) und bestimmen folglich auch gesellschaftliche Prozesse (mit) (u. a. Polkinghorne 1988; Richardson 1990, S. 118), sodass sie bei der Bildung von gesellschaftlich geteilten Normen und Werten mitwirken (Ewick und Silbey 1995, S. 198; Lucius-Hoene 2010, S. 587). Als „Form, in der Menschen die Erfahrungen der Zeitlichkeit ihrer Existenz in Sprache umsetzen und mitteilbar machen“ (Lucius-Hoene 2010, S. 584), gewinnen Erzählungen infolge der „narrativen Wende“ (Bochner 2001; Brockmeier und Harré 2005; Polkinghorne 1988) sowie der „biographische[n] Wende in den Sozialwissenschaften“ (Chamberlayne et al. 2000; Wattanasuwan et al. 2009, S. 361) als neues
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Forschungsparadigma eine fach- und disziplinübergreifende Beachtung (Clandinin 2007; Czarniawska 2008; Wiedemann 1986, S. 4–8).24 In diesem Zusammenhang werden Narrative vor allem als Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung thematisiert.25 Das vorliegende Buch verfolgt diese Perspektive auf Narrationen und ihre Analyse. Dabei verstehen wir die Narrationsanalyse als ein Auswertungsverfahren. Wir grenzen uns damit bewusst von anderen wissenschaftlichen Arbeiten ab, die das narrative Interview als Verfahren zur Auswertung von empirischen Daten bezeichnen. In Anlehnung an Kleemann et al. (2013, S. 64) verstehen wir hingegen diese Interviewform lediglich als Erhebungsverfahren zur Generierung empirischer Daten (siehe weiterführend auch Schütze 1983) und arbeiten mit der Narrationsanalyse zur Auswertung. Ausgangspunkt für die Überlegungen der wissenschaftlichen Ansätze, die Narrative als Forschungsobjekt fassen, ist die strukturale Linguistik und hier vor allem die narrative Semiotik.26 Ziel dieser Disziplinen ist es, durch die Analyse von Erzählungen die Übertragung von Bedeutungen zu untersuchen (Biegoń und Nullmeier 2014,
24Die
sogenannte narrative Wende bezeichnet die seit den 1980er Jahren einsetzende Erkenntnis, dass Erzählungen „nicht nur einen sprachlichen, sondern auch einen psychologischen, kulturellen und philosophischen Rahmen für viele unserer Versuche bilden, uns unser Leben und unser Handeln sowie den Sinn und die Bedingungen unserer Existenz zu vergegenwärtigen“ (Brockmeier und Harré 2005, S. 32). Infolgedessen sind Narrationen in den letzten Jahrzehnten zunehmend zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung avanciert. Damit einher geht auch die biographische Wende innerhalb der Sozialwissenschaften, die die zunehmende Bedeutung von subjektiven Darstellungen der individuellen Lebensführungen und der persönlichen Deutung dieser bezeichnet. Erzählungen bilden die Grundlage für eben diese Darstellungen und Deutungen, da sie die Biographie von Individuen als „Sinnzusammenhang der Lebensführung“ (Fuchs-Heinritz 2010, S. 85) konstituieren. 25Neben Ansätzen, die Narrative als Forschungsobjekt thematisieren, existieren wissenschaftliche Arbeiten, die sich Narrativen als Forschungsstrategie annähern. Dabei handelt es sich meist um methodologische Debatten, die Erzählungen als Kategorie der Erkenntnistheorie deuten (Biegoń und Nullmeier 2014; Wagenaar 2011, S. 208–210). Ausgangspunkt für diese Sicht auf Narrationen bilden die Selbstverständigungsdebatten der Geschichtswissenschaft (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 45–53). Auch in den sozialwissenschaftlichen Debatten ist dieses Verständnis von Erzählungen vertreten, wobei sich drei grundlegende Ansätze unterscheiden lassen: a) Narratologische Arbeiten, die sich – ausgehend von Whites Plotstrukturen – mit der Rekonstruktion der literarischen Basis von Narrationen beschäftigen, b) hermeneutische Theorien der Narration, die den Beitrag von Narrationen zum Verstehen von Gegenständen betonen und c) narrative Theorien, die ihren Fokus auf den expliziten Charakter von Narrationen legen und sie damit als eine spezifische Form der Erklärung verstehen (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 54–60). 26Die strukturale Linguistik und speziell die narrative Semiotik sind Strömungen innerhalb der Sprachwissenschaft, die ihren Fokus auf die Identifikation und Analyse von Strukturmodellen innerhalb von Sprache legen. Grundannahme ist, dass auch Narrationen jeweils spezielle Strukturmodelle aufweisen, die, aufbauend auf der grundlegenden Struktur Einleitung – Mittelteil – Schluss, näher analysiert werden können (Amborn 1992, S. 339; Titscher et al. 1998, S. 161–170).
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S. 39 f.). Im Zuge der narrativen und biographischen Wende fanden Erzählungen schließlich auch in sozialwissenschaftlichen Disziplinen zunehmend Anwendung als Forschungsobjekt (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 40). Innerhalb dieses Forschungsfeldes lassen sich grob zwei Ansätze untergliedern: So existieren zum einen (post-) strukturalistische Ansätze, die „Narrationen vor allem als soziale Entität begreifen“ (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 40), das heißt, als soziale Tatsache und damit als Teil der sozialen Realität, die durch die Interaktion zwischen Individuen entstanden ist. Der Fokus dieser Ansätze liegt vorrangig auf der durch Erzählungen erzeugten sozialen Struktur und weniger auf den Individuen, die die Narrationen hervorgebracht haben. Auf der anderen Seite existieren akteurszentrierte Arbeiten, die vor allem die individuelle und damit akteursbezogene Dimension von Narrationen hervorheben (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 40–45). Das vorliegende Buch und speziell der Beitrag von Woschnack orientieren sich an diesem Strang narrationsanalytischer Arbeiten. Der Fokus dieser Arbeiten liegt auf den erzählenden Subjekten und ihren jeweils spezifischen Narrationen. Grundprämisse für diese Analysen ist, dass Individuen in ihrem alltäglichen Handeln nur selten über Ereignisse unvoreingenommen berichten und Sachverhalte ungefiltert wiedergeben. Vielmehr stecken in den Erzählungen strategische Elemente, beispielsweise die Absicht, sich selbst oder ausgewählte Sachverhalte in einem bestimmten Licht darzustellen, ohne dass diese Intention dem Zuhörer oder der Zuhörerin sofort ersichtlich sein muss. Illustrierende Beispiele liefert unser Alltag in Hülle und Fülle – sei es das Kind, welches sich den kritischen Fragen seiner Eltern zu den Gründen für die schlechte Note in der Matheklausur stellen oder auch ein Unternehmen, welches auf einer Pressekonferenz die Fragen der anwesenden Journalist/innen zu den jüngst bekannt gewordenen Manipulationen an seinen Produkten und damit einhergehenden Qualitätsmängeln beantworten muss. In beiden Fällen werden die Erzählenden sicherlich versuchen, bestimmte Aspekte des Geschehenen aus der Erzählung auszublenden und andere wiederum hervorzuheben, um mögliche Sanktionen abzuwenden oder abzumildern und ein bestimmtes Bild von sich, dem eigenen Verhalten oder bestimmten Sachverhalten zu zeichnen. Dabei handelt es sich zumeist um sogenannte Stegreiferzählungen, das heißt, um Darstellungen zu fiktiven oder tatsächlichen Ereignissen und Sachverhalten, die die Erzählenden ohne vorherige Überlegungen formulieren. Derartige Stegreiferzählungen werden vor allem von Narrationsanalysen, die Erzählungen als Forschungsobjekt begreifen und einen akteurszentrierten Blick auf diese einnehmen, genutzt, um die soziale Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie die beforschten Akteur/innen selbst darstellen (Kleemann, Krähnke und Matuschek 2013, S. 64 f., 73). Allgemein kann zu den wissenschaftlichen Zugängen zu Narrationen, die eben diese als Objekt ihrer Forschung fassen, gesagt werden, dass sie als ein erzähltheoretisch fundiertes Verfahren „auf den epistemologischen, linguistischen, strukturellen und kommunikativen Besonderheiten von Erzählungen“ (Lucius-Hoene 2010, S. 587) beruhen. Ihr Ziel ist es, die den Erzählungen innewohnenden subjektiven Darstellungen zu Sachverhalten und Prozessen zu analysieren und verschiedene Sinnebenen der
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Narrationen abzuleiten. Es geht also darum, die von den Erzählenden dargestellten Sachverhalte sowie Beschreibungen von Prozessen systematisch zu analysieren und herauszuarbeiten, welche impliziten Botschaften und Sinnzusammenhänge mit dem Erzählten transportiert werden. Darüber hinaus geht es darum, die durch die Subjekte vermittelten verschiedenen Sachverhaltsdarstellungen zu untersuchen, miteinander zu vergleichen und zueinander in Beziehung zu setzen. Auf dieser Grundlage ist es schließlich möglich, die von den Subjekten dargestellten sozialen Prozesse wissenschaftlich zu rekonstruieren. Welche impliziten Anschuldigungen gegenüber der Lehrerin oder dem Lehrer baut beispielsweise das Kind in seine Rechtfertigung ein? Inwieweit bezieht es sich auch auf seine Mitschüler/innen, um seine schlechte Note in der Matheklausur als Sachverhalt zu erklären? Welche anderen Kontextbedingungen werden zur Erklärung herangezogen und miteinander in Beziehung gesetzt – was bedingt was? Die so identifizierten Sinnzusammenhänge, auch Sinnebenen genannt, und impliziten Aussagen können schließlich beispielsweise auf ihre Konsistenz hin analysiert oder auch mit den Aussagen anderer Individuen zum gleichen Sachverhalt verglichen werden. Die Generierung von Erkenntnissen basiert letztendlich auf der Bestimmung, Analyse und Interpretation der gegenseitigen Bezüge der identifizierten Sinnebenen eines Individuums oder zwischen Individuen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 223). Diese Ansätze der Narrationsanalyse können noch einmal anhand ihres spezifischen Erkenntnisinteresses und ihrer Schwerpunktsetzung unterschieden werden. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Ebene oder auch Tiefe der Analyse. Bezieht sich der Analyseansatz ausschließlich auf das Was des Erzählten (the told) oder wird auch das Wie des Erzählten (the telling) mit einbezogen (Mishler 1995)? In welchem Ausmaß werden die Kontextfaktoren der Erzählung (nicht) mit in die Analyse integriert? Darauf aufbauend lassen sich nach Riessman (2008) drei verschiedene Ebenen oder Formen der Narrationsanalyse, die Narrationen als Forschungsobjekt begreifen, unterscheiden: a) Thematische Analyse; b) strukturelle Analyse und c) Analyse von Interaktion und Performanz. Diese sind im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn als aufeinander aufbauend zu betrachten (siehe dazu auch Lucius-Hoene 2010, S. 588–590). Aber was genau bedeutet das? Die thematische Analyse als ‚grundständigste‘ Zugangsweise zu Narrativen fokussiert sich – unter Beachtung der jeweiligen Forschungsfrage – auf die Erfassung und Interpretation der Inhalte des Erzählten. Das heißt, es wird analysiert, Was erzählt wird und welche Informationen damit transportiert werden. Erinnern wir uns an das Beispiel des Kindes, welches sich vor seinen Eltern für die schlechte Note in der Matheklausur rechtfertigen oder auch das Unternehmen, welches den kritischen Fragen von Journalist/innen Rede und Antwort stehen muss. Im Rahmen einer thematischen Analyse wird ergründet, welche Argumente das Kind beziehungsweise das Unternehmen für sein vermeintliches Fehlverhalten anbringt. Dabei werden Narrative als komplexe Sinneinheiten verstanden (Lucius-Hoene 2010, S. 588; siehe weiterführend auch Riessman 2008, S. 53–76).
3.6 Narrative
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Die darauf aufbauende strukturelle Analyse als zweite Ebene bezieht in die Untersuchung von Narrativen neben dem Inhalt des Erzählten auch die sprachliche Verfasstheit der Erzählung selbst mit ein und erweitert ihren Blick auch auf das Wie des Erzählens und damit auf die „Art und Weise, wie die Erzählung als komplexes Ganzes durch Verknüpfungen und Beziehungen der Teilkomponenten hergestellt wird“ (Lucius-Hoene 2010, S. 588). Damit berücksichtigt die strukturelle Analyse auch strategische Aspekte von Erzählungen, indem beispielsweise offengelegt wird, wie thematische Prioritäten gesetzt und bestimmte Themen hervorgehoben beziehungsweise ausgeblendet werden, oder auch wie bestimmte Sequenzen angeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden (Lucius-Hoene 2010, S. 589). Mit Blick auf die Beispiele des erzählenden beziehungsweise sich rechtfertigenden Kindes oder Unternehmens würde eine strukturelle Analyse neben den inhaltlichen Informationen auch untersuchen, wie die jeweils Erzählenden sich rechtfertigen, welche Argumente wie angebracht werden und welche Begründungen gegebenenfalls besonders hervorgehoben werden, während andere wiederum nicht thematisiert oder abgeschwächt werden. Ziel ist es, auch einen Blick auf die impliziten Aussagen der Narration zu werfen und strategische Elemente offenzulegen, um so die Sachverhaltsdarstellungen und Sinnzusammenhänge besser interpretieren zu können. Die Analyse von Interaktion und Performanz wiederum baut auf der thematischen und der strukturellen Analyse auf und bezieht die performative Funktion von Erzählungen mit ein. Erzählungen werden somit „als situierte und inszenierte Handlungen, als sprachliche Handlungsmuster oder diskursive Praktiken“ (Lucius-Hoene 2010, S. 589) verstanden. Damit wird der gesamte Kontext des Erzählens in die Analyse integriert und es finden beispielsweise auch Interaktionen und Beziehungen zwischen den beteiligten Akteur/innen, die Situation und der Herstellungs- sowie der Verwendungskontext des Erzählens Beachtung (Lucius-Hoene 2010, S. 589; Quasthoff und Becker 2005). Folglich wird das Erzählen „als Darstellung und als interaktive Herstellung sozialer Realität betrachtet“ (Lucius-Hoene 2010, S. 589; Herv. i. O.). Mit Blick auf unsere Beispiele bedeutet dies, dass neben dem Inhalt der Erzählung und den strategischen Elementen zum Aufbau der Narration auch deren Kontextbedingungen eingebunden werden. In welcher Situation befand sich das Kind, als es seine Eltern auf die Note angesprochen haben? Welche beeinflussenden Faktoren gab es gegebenenfalls, als sich die Unternehmens-Pressesprecherin zu den Vorfällen äußerte – gab es beispielsweise erst vor Kurzem einen ähnlichen Unternehmensskandal oder steht die Wahl des Vorstandes kurz bevor? Zudem wird auch die Wirkung der Erzählung analysiert, das heißt, es wird gefragt, welche Konsequenzen sich aus der Narration ergeben könnten. Kann durch die Narration eine neue soziale Wirklichkeit geschaffen werden? Können die Eltern des Kindes beispielsweise durch ein Gespräch mit der Schulleitung und die Unterstützung durch andere, unzufriedene Eltern Konsequenzen für den Lehrer erzwingen, der ihr Kind vermeintlich ungerechtfertigt schlecht bewertet hat? Obwohl viele wissenschaftliche Disziplinen zunehmend entdecken, „[…] dass ihre Wissensbestände, ihre Geschichte oder ihre Daten narrative Strukturen aufweisen“
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(Lucius-Hoene 2010, S. 584; siehe auch Biegon und Nullmeier 2014, S. 39, Gadinger et al. 2014, S. 3), existieren bisher vergleichsweise eher wenig systematische Ansätze zur Analyse von Erzählungen als Forschungsobjekt und zur Auswertung der generierten narrativen Daten. Das vorliegende Buch und speziell der Beitrag von Woschnack zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen leisten einen Beitrag dazu, diese Forschungslücke weiter zu schließen. Wir nutzen dabei die Rekonstruktion von Narrativen als „erzähltheoretisch fundiert[e]“ Analysemethode (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 223), um einen Blick in die Tiefenstrukturen des empirischen Materials zu werfen und die hinter spezifischen Aussagen stehenden allgemeinen, latenten Sinnzusammenhänge aufzudecken, die wiederum Rückschlüsse auf die von den Individuen unhinterfragt genutzten Denkmuster zulassen (Wattanasuwan et al. 2009, S. 361). Wie bereits dargelegt wurde, basiert die Narrationsanalyse auf der Untersuchung der Verhältnisse verschiedener Sachverhaltsdarstellungen und Sinnebenen. Dadurch ist es möglich herauszuarbeiten und zu vergleichen, wie verschiedene Akteur/innen in ihren jeweils subjektiven Erzählungen einen Bezug zu den thematisierten Sachverhalten herstellen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 229). Dies ist vor allem für die Analyse von Organisationen, organisationalen Feldern und Prozessen zentral, „because people do not simply tell stories – they enact them“ (Pentland 1999, S. 711). Der Beitrag von Woschnack bedient sich genau dieses Charakteristikums von Narrationen und Narrationsanalysen und untersucht die nicht-finanzielle Berichterstattung als möglichen Reflexionsraum für das Verhältnis von Gesellschaft und Unternehmen. Dabei werden Narrationen als Forschungsobjekt verstanden und mithilfe einer strukturellen Analyse rekonstruiert. Für den Forschungsgegenstand der nicht-finanziellen Berichterstattung eignet sich der Zugang über Narrative in besonderer Weise, da es sich um ein noch relativ wenig institutionalisiertes Feld handelt, welches vor allem durch Diversität, Heterogenität und eine geringe Standardisierung geprägt ist. Es existieren demnach bisher kaum etablierte Strukturen wie Standards, Richtlinien oder auch Gesetze zur Berichterstattung von Unternehmen, die das Handeln der Akteur/innen steuern könnten. Vielmehr müssen sich die Akteur/innen allgemeinen Strukturen und Deutungsrahmen bedienen und diese für das Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung permanent neu interpretieren und modifizieren. Aufgrund des geringen Institutionalisierungsgrades des Forschungsgegenstandes ist es besonders spannend, sich die konkreten Aushandlungsprozesse und Deutungsversuche der Akteur/innen anzuschauen, die sich in ihren Erzählungen widerspiegeln.
3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte Nachdem wir die von uns verwendeten Konzepte und Forschungsmethoden vorgestellt haben, wollen wir diese nun miteinander vergleichen. Dabei geht es uns nicht um ihren allgemeinen methodologischen Vergleich, sondern vielmehr darum, aufzuzeigen, wie sie uns in ihrer Anwendung durch ihre jeweiligen Spezifika dabei helfen, die verschiedenen
3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte
123
Aspekte und Prozesse des gemeinsamen empirischen Forschungsgegenstands ‚Finanzmarkt‘ zu erfassen. Ziel ist es überdies herauszustellen, wie sich Deutungsmuster, Frames und Narrative von dem Konzept der institutionellen Logiken als auch untereinander abgrenzen und inwiefern sie sich gegenseitig bereichern können. Wir greifen dazu auch auf die von uns anhand der verschiedenen empirischen Forschungen zu sozialen Bewegungen, zum nachhaltigen Bankwesen und zur nicht-finanziellen Berichterstattung generierten Ergebnisse zurück. Als kleiner Rückblick: Wir haben durch die Frame-Analyse des Fossil-FuelDivestments beispielhaft eine Arena des Kampfes und der Koordination kollektiver Deutungen zwischen Klimabewegung und Finanzmarktakteur/innen beleuchten können. Wir zeichnen die Entwicklung geteilter, mobilisierender Problemdiagnosen und Lösungsvorschläge ebenso nach wie die dabei auftretenden Konfliktlinien. Mit dem Werkzeug der institutionellen Logiken haben wir das Konzept der Nachhaltigkeit in einem bereits sehr ausdifferenzierten organisationalen Feld, dem Feld des Bankwesens in Deutschland, erfassen können. Wir konnten dadurch das Typische der Handlungslogiken identifizieren. Durch die Anwendung des Konzepts der Deutungsmuster im Kontext von Finanzkrise und Nachhaltigkeit konnten wir latente, von konkreten Akteur/ innen oder Akteursgruppen unabhängige, kollektive Handlungsprobleme und deren Lösungen aufzeigen. Durch die Rekonstruktion von Narrativen in einer bisher eher wenig institutionalisierten organisationalen Praxis, dem der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen, haben wir den Fokus auf individuelle Deutungen und das Sensemaking von Expert/innen gelegt. Da all diese Untersuchungen vor dem Hintergrund einer übergeordneten Forschungshypothese und -heuristik durchgeführt wurden, ist es uns möglich, soziale Prozesse und Dynamiken der Institutionalisierung einer institutionellen Logik der Nachhaltigkeit im Finanzsystem rekonstruieren zu können. Wir zeigen zudem auf, inwiefern die von uns verwendeten Forschungsansätze und -methoden für die Rekonstruktion dieser Entwicklungen hilfreich sein können. Unsere Ergebnisse spiegeln – je nach konkretem Untersuchungsgegenstand und verwendetem Forschungsansatz – auf sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen die Übersetzung und Modifikation der institutionellen Makro-Logik der Nachhaltigkeit wider. Sie offenbaren zudem sehr eindrücklich den anhaltenden Aushandlungscharakter sowie damit einhergehend die Konflikte und Widerstände solcher Diffusions- und Übersetzungsprozesse. Durch unsere breit angelegte Analyse des Finanzsystems mit vielfältigen Forschungsgegenständen konnten wir verschiedene soziale Einheiten – vom Individuum, über die Organisation beziehungsweise kollektive Akteur/innen und verschiedene organisationale und multiorganisationale Felder (z. B. Banken, soziale Bewegung zum Divestment, nicht-finanzielle Berichterstattung) bis hin zur Gesellschaft (d. h. Rekonstruktion der Nachhaltigkeitslogik) – untersuchen. Je nach gewählter Forschungsmethode können also sowohl Erkenntnisse auf der Mikro- als auch auf der Meso- oder auch der gesellschaftlichen Makro-Ebene generiert werden.
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Entgegen einer Vielzahl wissenschaftlicher Beiträge zur Perspektive der institutionellen Logiken möchten wir uns nicht auf einen reinen institutionentheoretischen Blick beschränken. Vielmehr wollen wir durch den gewählten Multi-Methodenansatz auch eine multidimensionale Analyse ermöglichen. Indem wir zum Beispiel Narrative rekonstruieren, integrieren wir auch die individuelle Akteur/innen-Sicht in unsere Analyse. Der bewegungsanalytische Frame-Ansatz mit seinen Grundlagen aus dem symbolischen Interaktionismus bringt Dimensionen wie Agency und Aushandlung(sprozesse) stärker mit in die Betrachtungen zum Finanzsystem ein. Zudem setzen wir mit den verschiedenen Analysekonzepten an sehr unterschiedlichen Punkten im Prozess der (De-)Institutionalisierung und damit der Dynamiken des Wandels oder der (Re-)Produktion von Institutionen und institutionellen Logiken an. Diese weisen folglich unterschiedlich starke Bezüge zu bereits institutionalisierten Strukturen auf. Wir bezeichnen dies als Grade der Institutionalisierung, also der Kollektivierung und Sedimentierung von Handlungsorientierungen, von Rezeptwissen und von Praktiken, welche sich mit ihrer zunehmenden Institutionalisierung vom konkreten Individuum entfernen und schlussendlich Strukturen beschreiben, die den Individuen selbst immer weniger reflexiv verfügbar sind. Zur Systematisierung der Forschungsansätze – institutionelle Logiken, Frames, Deutungsmuster, Narrative – nutzen wir die eben vorgestellten Dimensionen (soziale Einheit, Grad der Institutionalisierung) und ordnen sie in einer Art Koordinatensystem an. Durch die als Koordinatenachsen fungierenden Dimensionen wird ein Vergleichsraum aufgespannt, der die Verortung der einzelnen Ansätze ermöglicht. Wir möchten damit einen Vorschlag zur gegenseitigen Abgrenzung und Verortung der verschiedenen Konzepte in die Debatte einbringen. Bevor wir diese Systematisierung näher erläutern, führen wir zur Illustration zunächst die Abb. 3.3 ein. Die Achsen und darauf abgebildeten Konzepte stehen aber nicht für eine lineare Entwicklung, an dessen „Endpunkt“ etwa die institutionalisierte Feld-Logik eines nachhaltigen Finanzmarkts steht. Die X-Achse bildet den Grad der Institutionalisierung ab, also das Entstehen von als selbstverständlich empfundenen Strukturen. Sie impliziert damit eine Zeitlichkeit, da sich Institutionen erst über die Weitergabe von Handlungserwartungen verselbstständigen und sich so über einen langen Zeitraum hinweg von ihrem Ursprungskontext loslösen und als eigenständige soziale Gebilde etablieren. Die Y-Achse steht für die soziale Einheit, das heißt, den Bezugspunkt innerhalb der sozialen Welt, auf den sich die Konzepte beziehen. Wir suggerieren keine lineare Entwicklung einer institutionellen Logik, auch wenn ein möglicher (idealtypischer) Ausschnitt eines Institutionalisierungsprozesses abgebildet ist. Die Abb. 3.3 soll folglich nicht missverstanden werden als Darstellung einer aufeinander aufbauenden, in einer Nachhaltigkeitslogik mündenden Kausalkette der konzeptuell erfassten Prozesse. Vielmehr zeigt die Abbildung sowohl die Parallelität von verschiedenen Stufen der Institutionalisierung (in unserem Beispiel von Nachhaltigkeit im Finanzmarkt) als auch das Verhältnis der von uns untersuchten sozialen Phänomene (Narrative zu Nachhaltigkeitsberichterstattung im Unternehmenskontext,
3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte Soziale Einheit (Bezugspunkt)
Institutionelle Makro-Logiken/ Ordnungen
Gesellschaft
Institutionelle Feld-Logiken
Feld Frames Organisation/ kollektiver Akteur
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Deutungsmuster
Narrative
Individuum niedrig
hoch
Grad der Institutionalisierung/ Sedimentierung/ Kollektivierung
Abb. 3.3 Systematisierung der Konzepte. (Quelle: Eigene Darstellung)
Frames einer sozialen Bewegung am Finanzmarkt, Deutungsmuster von Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit, institutionelle Logiken im Feld des deutschen Bankwesens). Ziel ist es in diesem abschließenden Kapitel herauszustellen, welche besondere Perspektive die jeweiligen Ansätze auf den Untersuchungsgegenstand „Nachhaltigkeitslogik am Finanzmarkt“ zulassen. Wir stützen uns auf unsere Ausführungen zur gesellschaftlichen Makro-Logik der Nachhaltigkeit beziehungsweise unsere Annahme, dass sich diese im Finanzsystem wirkungsvoll etabliert hat. Wir haben dargelegt, warum wir mit der Annahme einer gesellschaftlichen (Makro-)Logik der Nachhaltigkeit arbeiten. Mithilfe der verschiedenen Forschungsansätze können wir unterschiedliche Reaktionen und Wechselwirkungen mit dieser neu auftauchenden Logik im Feld des Finanzmarkts auf verschiedenen Ebenen und anhand verschiedener sozialer Einheiten beobachten, die wir auf mehreren Ebenen mithilfe der Konzepte und den jeweils untersuchten organisationalen Feldern und sozialen Einheiten anschauen. Die spezifischen Eigenschaften unserer Anwendung der Analysekonzepte erlauben diese in verschiedenen Stufen der Institutionalisierung existierenden Prozesse und Wechselwirkungen überhaupt erst zutage zu fördern. Narrative Narrative sind unter den vier Konzepten (institutionelle Logiken, Deutungsmuster, Frames und Narrative) im Vergleichsraum das einzige Konzept, welches beim Individuum ansetzt und sich darüber hinaus auf Organisationen und organisationale Felder beziehen kann. Das heißt, ihre Reichweite erstreckt sich von der Mikro- über
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die Meso-Ebene sozialer Einheiten. Demgegenüber steht jedoch ein niedriger Grad der Institutionalisierung, Sedimentierung und Kollektivierung, sodass die von uns rekonstruierten Narrative den handelnden Akteur/innen reflexiv noch relativ gut verfügbar sind. Sie können strategische Elemente der bewussten Darstellung im Sinne einer Hervorhebung oder Ausblendung von (Einzelaspekten von) Sachverhalten beinhalten. Die Analyse zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen, wie sie Woschnack in ihrem Beitrag dargelegt hat, basiert auf eben diesen Charakteristika von Erzählungen und lässt durch die Analyse einzelner Vertreter/innen von Unternehmen und weiteren Akteur/innen im Unternehmensfeld sowie an der Schnittstelle zum Finanzsystem Schlüsse auf eben dieses organisationale Feld und einzelne Organisationen zu. Aussagen für die Gesellschaft als solche sind auf der Grundlage dieser Narrationsanalyse nicht direkt möglich. Die Narrationsanalyse dient auch der Aufdeckung der Tiefenstrukturen von Erzählungen. Ziel ist es, die hinter spezifischen Aussagen stehenden allgemeinen, latenten Sinnzusammenhänge zu offenbaren, wodurch Rückschlüsse auf die von den Handlungssubjekten unhinterfragt genutzten Denkmuster möglich sind (Wattanasuwan et al. 2009, S. 361). Wie bereits dargelegt wurde, basiert diese Analyse auf der Untersuchung der Verhältnisse verschiedener Sachverhaltsdarstellungen und Sinnebenen innerhalb von Erzählungen, um herauszuarbeiten, wie Handlungssubjekte in ihren jeweils subjektiven Narrationen einen Bezug zu den thematisierten Sachverhalten herstellen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 229). Damit sind Narrationen als individuelle Darstellung von Sachverhalten beziehungsweise tatsächlichen oder fiktiven Ereignissen weniger stark auf bereits institutionalisierte Strukturen fokussiert. Vielmehr beziehen sich Erzählungen und ihre Analyse auf die konkreten Handlungssubjekte und ihre Wahrnehmung von der sozialen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu Deutungsmustern und Frames sind Narrative damit die Analyseform, die am stärksten auf Einzelindividuen und ihre Einschätzungen zu sozialen Prozessen oder Strukturen referiert und weniger institutionalisierte Strukturen in die Untersuchung einbezieht. Erzählungen prägen und bestimmen das Handeln und Denken von Individuen (mit) und haben dadurch auch einen Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse sowie die Herausbildung von gesellschaftlich geteilten Normen und Werten. Narrationen sind damit als Vorstufe von sozialem Wandel anzusehen, genauer: als konkrete Versprachlichung eben dieser Wandlungsprozesse (u. a. Ewick und Silbey 1995, S. 198; Lucius-Hoene 2010, S. 587; Polkinghorne 1988; Richardson 1990, S. 118). Das heißt, die subjektiven Aussagen von Akteur/innen werden als Grundlage betrachtet, aus denen heraus sich im Laufe der Zeit institutionalisierte Strukturen entwickeln können. Gleichzeitig sind sie von eben diesen bereits bestehenden Strukturen beeinflusst. Die Identifikation der beeinflussenden Strukturen ist jedoch nicht Teil der Narrationsanalyse. Frames Frames beziehungsweise Framing als bewegungsanalytische Konzepte (nach Benford und Snow 2000) zielen auf die Analyse von sinn- und gegenstandskonstituierenden
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Deutungsstrukturen, die von sozialen Bewegungen getragen und produziert werden. Sie helfen, das Entstehen und Wirken solcher kollektiver Rahmungen zu erfassen, die vorhandene Realitäten als problematisch identifizieren (d. h. neben Diagnostik auch potenzielle Lösungen und Beteiligungsmotive generieren) und dabei kollektives Handeln und potenzielle Adressat/innen mobilisieren, indem sie deren (Problem-)Bewusstsein, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erfahrungen kollektivieren und koordinieren. Frames in unserer Anwendung beziehen sich weder auf individuelle Schemata, noch sind sie direkt ableitbar von Institutionen oder gehen in institutionalisierten Handlungslogiken auf. Vielmehr verstehen wir Frames als Deutungsrahmen, die noch diskursiv verfügbar und somit strategisch beeinflussbar sind und die durch eine Eigendynamik Handeln mobilisieren. Schon in der Goffmanschen Konzeptualisierung existieren ‚Rahmen‘ unabhängig von ihrer Institutionalisierung und können unterschiedliche Institutionalisierungsgrade aufweisen:27 Er illustriert dies am Beispiel des Spiels (beziehungsweise der spielerischen Aktivität), die er als einen Rahmen bezeichnet, während erst im organisierten Spiel oder ‚Sport‘ selbiges auf institutionalisierte Weise, das heißt, mit formalisierten Regeln, ‚organisiert‘ geschieht (Goffman 1993, S. 70). Auch unsere Anwendung des Framing-Konzepts auf das Fossil-Fuel-Divestment verdeutlicht, wie auch außerinstitutionelle Kräfte wie Graswurzelaktivist/innen und NGO-Kampagnengruppen mithilfe von diversen Protestmitteln oder öffentlichen Stellungnahmen Deutungsanteile in das Framing der finanzmarktlichen Praktiken tragen, obwohl sie außerhalb oder am Rande der etablierten Finanzmarkt-Infrastrukturen nachhaltigen Investierens zu verorten sind. Die Frame-Analyse im Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß erweitert die anderen konzeptionellen Perspektiven bezüglich der sozialen Einheit, indem mit einer sozialen Bewegung ein heterogenes Feld von Akteur/innen untersucht wird, das sich um den Gegenstand des Fossil-Fuel-Divestments als sogenanntes „issue-based field“ (Hoffman 1999, S. 352) bildet. Soziale Bewegungen sind als spezifische Form kollektiven Handelns von institutionalisierten Praktiken abzugrenzen, lassen sich aber fruchtbar ins Verhältnis setzen zu Dynamiken von Institutionen, Organisationen und organisationalen Feldern. So gilt in der Bewegungsforschung gerade außerinstitutionelles, nicht-institutionalisiertes kollektives Handeln als charakteristisch für soziale Bewegungen (Snow et al. 2004, S. 11): They are „challengers to established structures that pursue their objectives through noninstitutional means“ (Peters 2018, S. 38; Snow et al. 2004). Sie lassen sich so von politischen Parteien oder Interessensgruppen abgrenzen, die über Kanäle und Mittel politischer Institutionen verfügen. Soziale Bewegungen haben trotz oder gerade wegen dieses Charakteristikums ihren Platz in der institutionenanalytischen Perspektive. Beforscht wird ihre Rolle für institutionelle Dynamiken sowie deren Genese und Wandel, aber auch ihr Einfluss auf
27Die konzeptionelle Ableitung der ‚field frames‘ von Lounsbury et al. (2003) erfasst solche auf Feld-Ebene dominierenden, stärker institutionalisierten Frames.
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die institutionelle Reproduktion (vgl. Schneiberg und Lounsbury 2017). Sie können etablierte Institutionen und Ordnungen in Feldern (Feld-Logiken) von einer randständigen oder zentralen Position im Feld angreifen aber auch verteidigen. Das ist etwa wichtig für die Frage, wie der Wandel unhinterfragter institutioneller Handlungslogiken überhaupt möglich ist. Mit der Untersuchung sozialer Bewegungen können somit auch Dimensionen wie Agency, Kontroversen und Auseinandersetzungen (‚contestation‘) für institutionelle Wandlungsprozesse berücksichtigt werden (Schneiberg und Lounsbury 2017, S. 281 ff.). Indem wir die Framing-Aktivität einer DivestmentBewegung beleuchten, werden mögliche kulturelle Ressourcen fassbar, die eine (De-) Institutionalisierung und Veränderungen institutioneller Logiken am (nachhaltigen) Finanzmarkt mit mobilisieren. In ihrem Verhältnis zu institutionellen Logiken kennzeichnet das Analysewerkzeug der Frames spezifische konzeptionelle Eigenschaften und Funktionen: Sie können als symbolische Repräsentation und Ressource entstehender, sich wandelnder aber auch schlicht bestehender institutioneller Feld-Logiken aufgefasst und zu deren Erklärung herangezogen werden.28 Sie betonen dabei die sprachliche und kognitive Dimension der institutionellen Logiken. Im Gegensatz zu Logiken werden Frames sprachlich expliziert und artikuliert und sind den Akteur/innen daher (prinzipiell) reflexiv zugänglich. Sie sind rhetorisch wirksam und können als eine Art ‚Motto der Institution‘ ausfallen. Zugleich können Frames eine institutionelle Logik, die bereits objektiviert und den Akteur/innen nicht mehr reflexiv verfügbar ist, sprachlich konkret und eher fragmentarisch, ohne ihre Dimensionen vollständig abbilden zu müssen, übersetzen und artikulieren. Das zeigt ihre identitätsstiftende und mobilisierende Eigenschaft gegenüber institutionellen Logiken an (Thornton et al. 2012, S. 154). Während diese sich sedimentiert und objektiviert bereits verfestigt haben und den Akteur/innen nicht mehr zugänglich sind, können Frames und Re-Framing(-Strategien) durch Neu-Kombination, Zusammenstellung, Variation etc. von Frame-Elementen oder die Transformation ganzer Frames zur Erklärung des Wandels institutionalisierter Strukturen beitragen. Für die Divestment-Bewegung konnten wir beispielsweise durch die Rekonstruktion ihres diagnostischen Framings aufzeigen, welche geteilten Problemdiagnosen entstehen – die ‚(planetarischen) Grenzen vom fossilen Profit‘ oder die ‚finanziellen Klimarisiken‘ – und wie diese separat oder auch in Kombination miteinander die heterogenen Akteur/innen und ihre Praktiken legitimieren und mobilisieren. Indem Frames die Bemühungen erfassen, ideologische Schemata der adressierten Akteur/innen zu koordinieren, enthalten sie auch strategisch-politische Elemente sowie Elemente ideologischer (Deutungs-)Kämpfe, die institutionelle Logiken – als theoretisches Gegen-
28Bewegungstheoretische
Frames werden von Thornton et al. (2012, S. 148–169) als ein Baustein verstanden in der Theorie, wie sich institutionelle Logiken auf Feldebene herausbilden, bestehen und wandeln können. Diese Perspektive verhilft uns hier wesentlich zur Abgrenzung der beiden Konzepte.
3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte
129
wicht zu strategisch-politischen Faktoren für institutionellen Wandel – selbst nicht direkt erfassen. Logiken sind analytisch außerhalb von Akteur/innen und daher weiter weg von aktiven, dynamischeren Auseinandersetzungen um Deutungen konzipiert, während die bewegungstheoretischen Framing-Prozesse ja gerade beleuchten, wie (strategisch eingefärbte) Realitätsinterpretationen und Ziele einer Bewegung mit jenen potenziell Teilnehmender verbunden werden, um (neues) kollektives Handeln anzustoßen (Lounsbury et al. 2003). Mit dem Konzept können wir daher die Komponente symbolischer Verhandlung und Kämpfe um eine Institution (wie Nachhaltigkeit) sowie die Beteiligung verschiedener Gruppen – im Fall Divestment insbesondere Aktivist/innen, NGOs und Finanzakteur/innen vor allem aus dem Nachhaltigkeitssegment – in der (De-) Legitimierung von institutionellem Wandel mit einbeziehen. Der Framing-Ansatz verhalf uns somit im Beitrag von Fessler, Nagel und Hiß, gegenstandsadäquat die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und ihre Deutungsarbeit innerhalb dieses „issue-based field“ ‚Divestment‘ (Hoffman 1999, S. 352) querliegend zum nachhaltigen Investieren zu untersuchen, und damit eine soziale Bewegung im Kontext der umkämpften Entwicklung der Nachhaltigkeitslogik im Feld des Finanzmarkts zu beleuchten. Noch bevor sich einheitliche materielle Praktiken vollständig institutionalisiert haben, zeigen geteilte Frames an, wie auf der symbolischen Repräsentationsebene an Problemdiagnosen, Lösungsvorschlägen und Beteiligungsmotiven gefeilt wird. Anhand der rekonstruierten diagnostischen, prognostischen und motivationalen Rahmungen nehmen wir in den Blick, inwiefern übergreifende Deutungen kollektives Handeln und neue Praktiken der unterschiedlichen Akteur/innen aus Klimaaktivismus, NGOs und dem Nachhaltigkeitssegment am Finanzmarkt bis hin zu öffentlichen Investor/innen (z. B. Städte) rechtfertigen und aktivieren. Zudem zeigen sich die Konfliktlinien verschiedener Gruppen um das Verständnis der Desinvestitionspraxis, die bestehende Definitionen und Realitäten des Investierens herausfordern und modifizieren, aber auch verteidigen und (re-)stabilisieren könnten. Zusammenfassend (und bezugnehmend auf Abb. 3.3) verorten wir demnach Frames (sozialer Bewegungen) in unserer Anwendung – zunächst im Vergleich zu Narrativen – als kollektiv geteilte und produzierte Deutungen stärker auf der Ebene kollektiver Akteur/innen beziehungsweise Organisationen und (multi-)organisationaler Felder. Sie wirken durch die ‚Koordinierung‘ des kollektiven interpretativen Schemas mit potenziellen Adressat/innen und Mitgliedern der Bewegung bis zur Ebene der Individuen. Frames sozialer Bewegungen können als symbolische Ressourcen institutionellen Wandels in Feldern und von institutionalisierten Strukturen (Gesellschaftsebene) verstanden werden, indem sie gerade nicht in diesen und ihren assoziierten Handlungslogiken aufgehen. Bezüglich des Institutionalisierungsgrades erfassen wir somit in unserer Anwendung auch vor- oder außer-institutionelle Prozesse und Kanäle, die sich von der Institutionalisierung objektivierter, unhinterfragter Logiken unterscheiden. Allerdings können Framing-Prozesse von außen bis hinein in institutionelle Felder wirken und dynamischer Bestandteil und Motor von institutionellen Prozessen sein.
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Deutungsmuster Deutungsmuster verorten wir anhand unserer empirischen Untersuchungen zwischen den Konzepten Frames und institutionelle Logiken. Die ursprüngliche Konzeption von Deutungsmustern nach Ulrich Oevermann und die von uns in Anlehnung an Carsten G. Ullrich durchgeführte Deutungsmusteranalyse auf der Grundlage von diskursiven Interviews ist eine im deutschsprachigen Raum beheimatete Forschungspraxis. Im Gegensatz zum Konzept der institutionellen Logiken zeichnet sich dieser Ansatz durch seine Offenheit gegenüber der zu rekonstruierenden Struktur aus, die wiederum Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata beeinflusst. Während die Perspektive der institutionellen Logiken mit einer ausformulierten Metatheorie, den sieben institutionellen Ordnungen (Markt, Staat, Religion, Familie, Unternehmen, Profession, Gemeinschaft), uns vorab schon auf eine klare Struktur festgelegt hat, die auf allgemeine Strukturen innerhalb der Gesellschaft verweist, bietet die von uns durchgeführte Deutungsmusteranalyse die Möglichkeit, situations- und kontextspezifische Wissensbestände zu rekonstruieren und zu analysieren. Die von uns offengelegten Deutungsmuster fördern die geteilten Wissensbestände in einem Problemfeld, hier im Bankwesen im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit, zutage. Folglich geht es bei unserer Deutungsmusteranalyse nicht darum, die allgemeinen unterschiedlichen symbolischen und materiellen Praktiken in einem sozialen Feld wie dem Bankwesen zu identifizieren und zu typisieren, wie wir es etwa mit dem Ansatz der institutionellen Logiken verfolgen. Wir finden beispielsweise nicht das Deutungsmuster von Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken (staats-, gemeinschafts- und marktbasierte Banklogik) heraus, sondern rekonstruieren die übergreifenden, bei den heterogenen Akteur/innen (also sozusagen logikunabhängigen und -übergreifenden) gemeinsam auftauchenden Deutungsmuster. Im Gegensatz dazu repräsentieren institutionelle Logiken Sets von Erwartungen für soziale Beziehungen und das Verhalten im gesellschaftlichen Gefüge, wodurch sie sowohl individuelle als auch organisationale Praktiken beeinflussen (Goodrick und Reay 2011, S. 375). Über die Analyse von institutionellen Logiken können diese verschiedenen ‚Erwartungssets‘, ihr Ursprung, ihre Legitimationsbasis und ihre materiellen Praktiken beschrieben werden. Im Unterschied dazu zielt der Deutungsmusteransatz, wie wir ihn verstanden und angewendet haben, auf weniger institutionalisierte Strukturen, da die materielle Ebene nicht in die Analyse mit einbezogen ist (im Gegensatz zu der Rekonstruktion der Logiken, wo eben auch Gesetze und Praktiken, wie eine andere Geldanlage und Kreditvergabepraxis mit in die Typenbildung einfließen). Durch die gemeinsame Suche nach (Orientierungs-)Mustern im Diskurs der interviewten Banken verhilft die Deutungsmusteranalyse in unserem Fall dazu, die von den interviewten Akteur/innen gemeinsam geteilten Bezugsprobleme zu identifizieren. Eine umfassende Darstellung zu diesem Vorgehen findet sich in dem Beitrag von Griese, Nagel und Hiß zum Feld der Banken. Die Identifikation des Problembezugs ist mithilfe der Perspektive der institutionellen Logiken nicht möglich, da es bei der Rekonstruktion der Logiken um die idealtypische
3.7 Abgrenzung und Systematisierung der Konzepte
131
Trennung und Aufspaltung von unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern geht. Institutionelle Logiken können den Deutungsmusteransatz aber gewinnbringend ergänzen, indem diese Perspektive, oder genauer gesagt die Wirkung dieser institutionalisierten Ordnungen, beispielsweise in die Analyse und Erklärung der offengelegten Differenzen beziehungsweise unterschiedlichen Facetten oder Ausprägungen eines Deutungsmusters einbezogen wird. Gleichzeitig verhilft die Deutungsmusteranalyse zu einer Wahrnehmung der bei den Interviewten gemeinsam geteilten Problemfelder, die letztendlich auch ihr Handeln strukturieren. Damit bieten sie einen weiteren Erklärungsgrund für Handlungen im Feld. Dass es im Zuge der Krise und dem Einzug von Nachhaltigkeit für Banken zur Aufgabe wird, die „richtige Rendite“ zu finden, arbeiten wir durch die Feld-Logiken zum Beispiel nicht heraus. Dafür können die Feld-Logiken Anhaltspunkte dafür geben, warum Sparkassen die Handlungsregel „Löse den Widerspruch zwischen Gemeinwohl und Rendite“, aus dem Deutungsmuster „richtige Rendite“, anders löst als die Privatbank oder Kirchenbank. Die beiden Perspektiven können sich so also sehr gut ergänzen. Mit Blick auf unsere eingeführte Systematisierung (Abb. 3.3) wollen wir festhalten: Auch Deutungsmuster können sich auf Organisationen und organisationale beziehungsweise soziale Felder beziehen, da sie immer kollektive Sinnstrukturen darstellen. Welche konkrete Gruppe oder welches Feld untersucht wird, ist abhängig vom Forschungsinteresse. Unserem Verständnis nach sind Deutungsmuster jedoch mit Blick auf ihre Reichweite und den Grad der Institutionalisierung eine Stufe unter den Logiken. Im Vergleich zu Narrativen und Frames sind Deutungsmuster jedoch weniger nah am Handlungssubjekt und den konkreten aktuellen Struktur- und Handlungsproblemen; vielmehr beziehen sie sich auf bereits institutionalisierte Strukturen als gleichsam ‚hinter dem Rücken der Akteur/innen‘ wirkende, als selbstverständlich angesehene und unhinterfragte Strukturen und Handlungsorientierungen. Aussagen oder Bezüge zu Einzelindividuen sind folglich nicht möglich, da die Deutungsmusteranalyse mithilfe des Vergleichs von Einzelaussagen auf die Herausarbeitung von Strukturen abzielt, die die gemeinsame Wahrnehmung von Individuen prägen. Individuell abweichende Wahrnehmungen spielen dabei keine Rolle. Des Weiteren geht es dabei im Gegensatz zu den Frames um die Herausarbeitung latenter Strukturen, die dem Individuum nicht reflexiv verfügbar und damit auch nicht strategisch beeinflussbar sind, wodurch sich der Ansatz klar vom Framing-Ansatz unterscheidet. Institutionelle Logiken Institutionelle Logiken besitzen unserem Verständnis zufolge den höchsten Grad der Institutionalisierung, Sedimentierung und Kollektivierung. Sie stellen ein ganzes Set an Verhaltenserwartungen sowie umfangreiche Legitimations- und Identitätsquellen zur Verfügung, die wiederum die Wahrnehmung und das Denken von Individuen formen. Institutionelle Logiken sind sowohl auf der Gesellschaftsebene als auch auf der Feld-Ebene zu finden. Feldspezifische institutionelle Logiken entstehen und bestehen
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geprägt von Kräften, die einerseits auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene anzusiedeln sind und über die dort vorherrschende(n) Makro-Logik(en) erklärt werden können. Zudem können externe Logiken anderer Felder in ein neues Feld eindringen beziehungsweise transferiert werden. Andererseits prägen aber auch Prozesse auf der Feld-Ebene selbst das Entstehen und Bestehen von feldspezifischen institutionellen Logiken, indem etwa neu entstehende Praktiken oder neue Narrative oder Frames sich miteinander verbinden und sich institutionalisieren. Die Genese und der Wandel von institutionellen Logiken resultieren sowohl aus exogenen Veränderungen, als auch zum Beispiel aus internen Widersprüchen zwischen symbolischen Repräsentationen und materiellen Praktiken in organisationalen Feldern (Seo und Creed 2002; Thornton et al. 2012, S. 161 f.). Die von uns identifizierten Feld-Logiken helfen, die Einflüsse der Makro-Logiken des Staates, der Religion, des Marktes, der Gemeinschaft und der Nachhaltigkeit im Feld der Banken zu bestimmen und abgrenzbar zu machen und damit Krisen, Konflikte und Kämpfe nachvollziehen zu können, da sie auf tief verwurzelte gesellschaftliche Institutionen verweisen, die jeweils sehr unterschiedliche Legitimations- und Autoritätsquellen (Thornton et al. 2012, S. 73), Normen und Werte mit in das Feld tragen. Beispielsweise wird im Feld der Banken deutlich, dass Nachhaltigkeit nur definierbar wird, wenn die anderen Feld-Logiken dazu rekonstruiert werden. Diese wiederum offenbaren, welche nicht-marktlichen Institutionen im Bankensektor schon sehr lange einen erheblichen Einfluss haben (nämlich Religions-, Staatsund Gemeinschaftslogik) und somit Handlungsorientierungen anbieten, die auch zu verschiedenen Praktiken des Bankwesens führen. Um die Eigenschaften der Nachhaltigkeitslogik erfassen zu können, müssen wir vergleichen (Reay und Jones 2016, S. 446). Damit verhindern wir zugleich die Verengung der Sichtweise auf eine Dichotomie, wenn eigentlich Heterogenität vorherrscht, weil wir nicht nur die Nachhaltigkeit als Gegenspielerin zu Marktlogik rekonstruieren, sondern auch andere Logiken in ihrem Potential, etwa der Abkehr einer Profitmaximierung, zur Kenntnis nehmen wie etwa die Religionslogik, die Gemeinschaftslogik oder die Staatslogik. Diese offenbaren, welche nichtmarktlichen Institutionen im Bankensektor schon sehr lange einen erheblichen Einfluss haben und somit Handlungsorientierungen anbieten.
3.8 Fazit Auf der Grundlage unserer empirischen Analysen und vor dem Hintergrund der entwickelten Systematisierung lässt sich zusammenfassend sagen, dass – mit Blick auf die Institutionalisierung von Nachhaltigkeit im Finanzsystem – Narrative einen Einblick in die sehr individuellen Sichtweisen auf das Thema liefern. Die Analyse der Narrative zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen sowie dem Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft spiegelt eine Vorstufe der Institutionalisierung von Nachhaltigkeit im Finanzsystem wider, indem sie die diskursive Auseinandersetzung mit den
3.8 Fazit
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Fragen, die durch diese neue Form der Berichterstattung im Feld aufkommen, offenlegen. Wird das konkrete Handlungs- und Strukturproblem in Bezug zu Nachhaltigkeit und Finanzmarkt schließlich von den Individuen abstrahiert und innerhalb von sozialen Gruppen thematisiert und verarbeitet, so bieten Frames und auch Deutungsmuster Auskunft über kollektive (Problem-)Deutungen, geteilte Werte und Handlungsregeln. Vor allem durch die Analyse von Frames können stattfindende Koordinierungsprozesse und Deutungskämpfe aufgedeckt werden, ebenso wie die strategischen Versuche von einzelnen Akteursgruppen, eine kollektive Deutung zu Nachhaltigkeit und ihre Beziehung zum Finanzsystem im Diskurs zu verankern. Mit unserer Untersuchung des Fossil-Fuel-Divestments zeigen wir wie von heterogenen Akteur/innen einer sozialen Bewegungsdynamik kollektive Rahmungen am konkreten Subthema Klimawandel zum nachhaltigen (De-)Investieren entwickelt und angetrieben werden. Wir betrachten mit dieser Perspektive ein Feld, in dem nicht eine homogene Gruppe (wie die Banken), sondern die unterschiedlichen am Divestment Beteiligten für die Rekonstruktion dort geteilter und umkämpfter Deutungsressourcen miteinbezogen werden. So können mitunter strategisch beeinflusste übergreifende Rahmungen zum Beispiel des Problems „finanzieller Klimarisiken“ oder „(Klima-) Grenzen von Profit“ und Koordinierungsprozesse zwischen den Klimaaktivist/innen, NGOs und de-investierenden Finanzmarktakteur/innen identifiziert werden, ebenso wie die Diskrepanzen im Deutungsrahmen, die uns wiederum auf Konfliktlinien und Auseinandersetzungen verschiedener Fraktionen aufmerksam machen. Wir sehen durch die Analyse, dass in der Divestment-Bewegung bestimmte Diagnosen und Lösungsansätze ko-existieren und um Deutungshoheit ringen: Einerseits solche, die konventionelle Deutungsmuster am Finanzmarkt herausfordern und andererseits Neu-Kombinationen, die Allianzen herstellen. Die Analyse von Deutungsmustern, wie wir sie beispielhaft für das Feld der Banken durchgeführt haben, zeigt wiederum auf, welche Problemdeutungen übergreifend für Akteur/innen aus dem Feld der Banken und nicht separiert nach Logiken oder Akteurstypen unter allen Interviewten vorherrschen und welche impliziten, kollektiven Denkmuster ihr Handeln und Denken strukturieren. Auf sie kann aber nicht gezielt strategisch Einfluss genommen werden, vielmehr zeigen sie die hinter dem Rücken der Akteur/innen gültigen Denkmuster einer bestimmten abgrenzbaren Gruppe. Alle Akteur/ innen, die wir mit dem Werkzeug der Logiken drei unterschiedlichen Logiken zuordnen würden, nehmen beispielsweise Bezug auf die Deutung von „guten und schlechten Banken“ (Deutungsmuster „Abgrenzung von schlechten Banken“). Die Argumente und Rechtfertigungen sind von einer Privatbank anders als von einer Genossenschaftsbank mit Nachhaltigkeitsfokus, der Bezug innerhalb dieser Rechtfertigungen ist jedoch der gleiche und konstituiert so das Deutungsmuster. Während wir also mit den Logiken das Typische und damit „Trennende“ erkennen (Logiken sind idealtypische Konstrukte) und anschließend die Dynamiken und Konflikte im Feld der Banken erklären können, macht uns die von uns durchgeführte Deutungsmusteranalyse auf die von allen geteilten Interpretationsmuster aufmerksam.
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Die in diesem Beitrag rekonstruierte institutionelle Makro-Logik der Nachhaltigkeit wiederum erfasst ein gesellschaftlich verbreitetes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, welches sich auf symbolischer und materieller Ebene gesamtgesellschaftlich beobachten lässt und in etablierten Organisationen ihren Ausdruck findet. Im Gegensatz zu den von uns identifizierten Deutungsmustern, die sich nicht sichtbar in Strukturen materialisieren, können der Nachhaltigkeitslogik in vielen Bereichen der Gesellschaft Handlungen und Strukturen zugeordnet werden, die deren Existenz belegen und beobachtbar machen. Damit repräsentiert die Nachhaltigkeitslogik einen hohen Grad nicht mehr hinterfragter Institutionalisierung und zeigt, dass Nachhaltigkeit eine Legitimationsquelle ist, die sich in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise dem Finanzmarkt materialisiert hat. Für das Feld des Finanzmarkts konstatieren wir eine idealtypische nachhaltigkeitsbasierte Finanzmarktlogik, die sich besonders im Vergleich zur Marktlogik durch Renditeverzicht oder -schmälerung oder den Verzicht auf das Profitmaximierungsprimat beim Investitions- beziehungsweise Geldanlagevorgang auszeichnet und dessen Legitimationsbasis auf die allgemeine gesellschaftliche Logik der Nachhaltigkeit und ihre Merkmale verweist. Das heißt, das nachhaltige Finanzmarktsegment (nachhaltiges Investieren, nachhaltiges Bankwesen etc.) ist nicht gleichzusetzen mit oder folgt nicht ‚automatisch‘ der nachhaltigkeitsbasierten Finanzmarktlogik. Nur jene Praktiken und Symboliken, die dieser eben vorgestellten idealtypischen Konstruktion mit neuen Denk- und Legitimationsmustern entsprechen und darauf aufbauen, würden dieser Logik zugeordnet. Empirisch tritt diese neue Finanzmarktlogik natürlich nicht in Reinform auf; tut sie dies in Verbindung mit anderen Logiken, sprechen wir von hybriden Logiken. Dass es sich hierbei – wie bei allen sozialen Phänomenen – um ein sich permanent im Wandel befindliches Feld handelt, zeigen die Analysen zu Narrativen, Frames und Deutungsmustern und die damit aufgedeckten Aushandlungs- und Deutungsprozesse zum Thema Nachhaltigkeit auf dem Finanzmarkt sehr deutlich. Sie decken ebenfalls eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Stufen der Institutionalisierung der Nachhaltigkeitslogik im Finanzsektor auf sowie von Prozessen, die sich zu ihrer Institutionalisierung verhalten. Während die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik auf Feld-Ebene etabliert, aber nicht dominant ist, zeigt die Narrationsanalyse, dass bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung konkret eine neue Denk- und Interpretationsweise verhandelt wird, und auch das Framing der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung zeigt die Entwicklung neuer mobilisierender Deutungsrahmen (Diagnostik, Prognostik etc.), die – gespeist aus Nachhaltigkeits- bzw. Klimaschutzlogik – existierende Realitäten des Investierens problematisieren und dabei das Spannungsfeld aus neuen Fronten und Allianzen im Wandlungsprozess offenlegen. Die Bewegung und ihre Deutungsproduktion lässt sich zum Institutionalisierungsprozess ins Verhältnis setzen: Sie übersetzt und mobilisiert mit dem Klimawandel ein prominentes Thema der gesellschaftlichen Nachhaltigkeitslogik an den Finanzmarkt und dockt an institutionelle Praktiken nachhaltigen Investierens an.
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Dabei bahnt sich auch hier die Ausweitung einer nachhaltigkeitsbasierten Finanzmarktlogik an, und zugleich – daher umkämpft und konkurrierend – ihre (marktorientierte) Hybridisierung in den unterschiedlichen Praktiken. Wir zeigen damit ein Abbild der Dynamiken zum Thema Nachhaltigkeit, die sich auf ganz unterschiedlichen Graden der Institutionalisierung abspielen – manches wird nicht mehr hinterfragt, anderes diskursiv stark umkämpft. Die verwendeten Ansätze erlauben uns, das Phänomen ‚nachhaltiger Finanzmarkt‘ zu fassen, das sich in Deutschland insbesondere seit den 1990er Jahren (Hiß 2011, S. 657) und beschleunigt in den letzten Dekaden und Jahren ständig im Wandel und in Bearbeitung befindet. Wir zeigen einen historischen Ausschnitt dieses Prozesses, den wir nicht als ‚abgeschlossen‘ beziehungsweise an seinem ‚Endpunkt‘ sehen, sondern der sich gerade in den nächsten Jahren und Jahrzehnten angesichts der bevorstehenden sozial-ökologischen Herausforderungen und der Umsetzung politischer Zielsetzungen weiter intensivieren wird.
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4
Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts Sebastian Nagel
Inhaltsverzeichnis 4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.2 Systemische Risiken und Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.3 Resilienz von Finanzmärkten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Zusammenfassung
Um die Frage beantworten zu können, ob und wie nachhaltiges Investieren zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beziehungsweise zu einer Erhöhung von dessen Resilienz beitragen kann, bieten wir hier eine Übersicht über die Konzepte der Finanzmarktstabilität und der Resilienz des Finanzsystems. Weitgehend entstanden aus den Erfahrungen der Krise von 2007/2008 verstehen beide Konzepte den Finanzmarkt als ein System, das sowohl exogenen als auch endogenen Risiken ausgesetzt ist, die die Funktionsfähigkeit des Finanzmarkts gefährden können. Während Finanzmarktstabilität eng mit dem Auftreten und Verringern systemischer Risiken verknüpft ist, ist Resilienz eher mit der Möglichkeit einer Anpassungs- und Lernfähigkeit des Finanzsystems verbunden. Auf die im finanzpolitischen Diskurs verwendeten Konzepte aufbauend nutzen wir dieses Kapitel zudem dazu, unsere grundlegenden Verständnisse von Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts zu erläutern, welche für den vorliegenden Band leitend sind.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_4
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
4.1 Einleitung1 Ausgangspunkt der Überlegungen zu Stabilität und Resilienz ist die Krise der globalen Finanzmärkte2, die 2007 in den USA durch den Ausfall von Subprime-Krediten ausgelöst wurde (Carruthers 2010; Fligstein und Goldstein 2010; Lounsbury und Hirsch 2010) und sich mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im darauffolgenden Jahr zu einer existentiellen Finanzmarktkrise entwickelte (Kessler 2011; Windolf 2009). Infolge der dadurch an Bedeutsamkeit gewonnenen Überschuldung der europäischen Staatshaushalte (Streeck 2010) geriet die gesamte Eurozone in arge Bedrängnis. Unter anderem durch zum Teil schmerzhafte Anpassungsmaßnahmen und Reformanstrengungen sowie weltweit auf den Weg gebrachte Pakete zur Rettung von Banken und Wirtschaft sollten schließlich gravierendere Schäden für das Finanzsystem und die Gesellschaft verhindert werden (Woll 2014). Obwohl sich die akuten Krisenerscheinungen und die Aufregung in der Eurozone mittlerweile weitgehend gelegt haben, bleibt die Erkenntnis, dass die Risiken auf den globalen Finanzmärkten (mit-) verantwortlich sein können für einen „freien Fall“ (Stiglitz 2011) der Weltwirtschaft. Zugleich endete damit die über 70-jährige Erfolgsgeschichte, die die Finanzmärkte als Gravitationszentren (Kädtler 2009) moderner Gesellschaften seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren geschrieben haben. Inwiefern es von nun an dauerhaft gelingt, mithilfe neuer Regulierungen diese Risiken beherrschbar zu machen (Helleiner et al. 2010; Mayntz 2012), ist trotz einer in den vergangenen fünf Jahren überwiegend krisenfreien Phase nicht abzusehen. Daher lohnt der Blick auf parallele Entwicklungen und weitere Möglichkeiten, die stabilisierend auf den Finanzmarkt wirken können. Mit dem nachhaltigen Investieren nehmen wir in diesem Band eine Praxis in den Blick, die auf vielen Ebenen anders zu agieren scheint als der konventionelle Finanzmarkt. Während hier hoher Renditedruck, kurzfristige Anlagehorizonte und eine Fokussierung auf finanzielle Kennzahlen vorherrschen (Deutschmann 2005, 2009; Neckel 2011; Windolf 2005, 2008), zeichnet sich das nachhaltige Segment des Finanzmarkts zunächst grundlegend dadurch aus,
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor. 2Im Folgenden verwenden wir die Begriffe Finanzmarkt und Finanzsystem synonym, da sich sowohl das Resilienzkonzept als auch der auf systemische Risiken abstellende Diskurs zur Finanzstabilität auf einen als System konzipierten Finanzmarkt beziehen. Die beiden Begriffe umfassen zumindest den Kapitalmarkt, werden in den empirischen Teilen dieses Bandes von den Befragten aber zum Teil auch weiter gefasst, weshalb eine konkrete Eingrenzung und eine Vorgabe zur Begriffsverwendung unsererseits nicht weiter erfolgt.
4.1 Einleitung
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dass auch nicht-finanzielle, das heißt soziale, ökologische oder ethische Kriterien beim Investitionsgeschehen berücksichtigt werden (Hiß 2011, 2012). Das ‚magische‘ Dreieck der klassischen Vermögensanlage – Sicherheit, Rentabilität und Liquidität – wird hier um eine vierte Dimension ergänzt: inhaltliche Wertschöpfung (u. a. Beabout und Schmiesing 2003; Bruyn 1987; Domini 1992; Hiß 2012). Mit der Perspektive institutioneller Logiken (Thornton et al. 2012) lässt sich für dieses Segment des Finanzmarkts eine, so unsere These, Nachhaltigkeitslogik ausmachen, die sich von der sonst dominierenden Marktlogik unterscheidet (siehe dazu die Beiträge von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß sowie von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band). Mit Blick auf das Krisengeschehen am Finanzmarkt untersuchen wir, ob mit dem nachhaltigen Investieren nicht nur eine nachhaltige Transformation der Wirtschaft verbunden ist, sondern auch, ob sich eine doppelte Dividende in Form einer Stabilisierung des Finanzsystems ergibt. Die Beobachtung, dass bestimmte Akteur/innen auf dem Finanzmarkt einer anderen Logik folgen, sagt zunächst aber noch nichts darüber aus, welche Auswirkungen dies für das Finanzsystem nach sich zieht oder ziehen könnte. Die Frage, ob eine mögliche Wert- und Langfristorientierung eher stabilisierend wirkt oder ob durch den Fokus auf nicht-finanzielle Kriterien eher die finanzielle Risikoanalyse vernachlässigt wird, ist aufgrund der komplexen Zusammenhänge im Finanzsystem und der Unklarheit über den Begriff der Stabilität so nicht zu entscheiden. Um sich dennoch Aussagen darüber anzunähern, ob und wie das nachhaltige Investieren zur Stabilität des Finanzmarkts beziehungsweise zu einer Erhöhung von dessen Resilienz beitragen kann, bieten wir hier zunächst eine Übersicht über die Konzepte der Finanzmarktstabilität und der Resilienz des Finanzsystems. Auch wenn sich der Begriff der Finanzmarktstabilität bei den finanzpolitischen Institutionen weitgehend durchgesetzt hat, wie sich zum Beispiel am Namen des Financial Stability Boards erkennen lässt, gehen wir im Folgenden sowohl auf den Begriff Finanzmarktstabilität als auch auf den Terminus der Resilienz ein, da beide mit einer unterschiedlichen Konnotation die Funktionsfähigkeit von (Finanz-)Systemen im Blick haben. Durch die Betrachtung beider Begriffe beziehungsweise Konzepte in diesem Kapitel erschließt sich für die anschließenden empirischen Analysen ein breiteres Spektrum an potentiell stabilisierenden Faktoren. Weitgehend basierend auf den Erfahrungen aus der Finanzkrise von 2007/2008 verstehen beide Konzepte – Finanzmarktstabilität und Resilienz – den Finanzmarkt als ein System, das sowohl exogenen als auch endogenen Risiken ausgesetzt ist, die die Funktionsfähigkeit des Finanzmarkts gefährden können. Während – wie im Folgenden zu sehen sein wird – Finanzmarktstabilität eng mit dem Auftreten und Verringern systemischer Risiken verknüpft ist, ist Resilienz eher mit der Möglichkeit einer Anpassungs- und Lernfähigkeit des Finanzsystems verbunden. Auf die im finanzpolitischen Diskurs verwendeten Konzepte aufbauend nutzen wir dieses Kapitel zudem dazu, unsere grundlegenden Verständnisse von Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts zu erläutern, welche für den vorliegenden Band leitend sind. Obwohl es die Frage nach der Stabilisierung des Finanzmarkts nahelegen könnte, sind wir nicht an einer auf quantitativen Größen beruhenden Messung der Wirkung von
146
4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
nachhaltigem Investieren auf die Stabilität oder Resilienz des Finanzmarkts interessiert. Stattdessen richtet sich unser genuin soziologischer Blick vielmehr auf Orientierungsmuster im Feld des nachhaltigen Investierens, die sich auf Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts beziehen. Wir betrachten somit, inwiefern und auf welche Weise sich eine im Finanzmarkt ausgebreitete institutionelle Logik der Nachhaltigkeit auf die Resilienz und Stabilität des Finanzsystems potentiell auswirken könnte. Dafür erheben wir in den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes die geltenden Handlungs- und Deutungsregeln im Feld, die Bezug nehmen auf die Stabilität beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts. In den empirischen Kapiteln rekonstruieren wir auf einer qualitativen Basis institutionelle Logiken und identifizieren Deutungsmuster, Frames und Narrative in den verschiedenen Bereichen des nachhaltigen Investierens (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band), um damit zunächst das Untersuchungsfeld zu erschließen. Die empirischen Analysen geben unter anderem Aufschluss darüber, was die Nachhaltigkeitslogik charakterisiert, was Stabilisierung für die Akteur/ innen in der Praxis bedeutet und welchen Beitrag das nachhaltige Investieren in der Deutung des Feldes beziehungsweise seiner Akteur/innen dazu leisten kann. Anstatt die finanzpolitische Debatte durch das Vorschlagen weiterer (quantitativer) Stabilisierungsindikatoren und -maßnahmen zu verengen, weitet die umfassende qualitative Erhebung die Perspektive auf die Finanzstabilität. Indem unsere Analysen zeigen, dass das nachhaltige Investieren einen Raum öffnet, in dem gesellschaftliche Fragen und Belange verhandelbar und verhandelt werden, ergibt sich auch ein neuer Blick auf Stabilität und Resilienz. Über die reine Betrachtung des Finanzmarkts hinaus verweist die Nachhaltigkeitslogik auf die Einbettung des Finanzsystems in die Gesellschaft beziehungsweise in ein öko-soziales System und auf die Auswirkungen, die sich daraus für das Objekt, den Weg und die Verantwortlichkeit einer Stabilisierung ergeben. Der Zugang über das nachhaltige Investieren und die Perspektive institutioneller Logiken ermöglicht es, diese Verbundenheit des Finanzmarkts mit der Umwelt und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen und für Fragen nach Stabilität und Resilienz fruchtbar zu machen. Die Vielfalt des nachhaltigen Investierens erweist sich im Verlauf des Bandes als ein – wie wir es nennen – Reflexionsraum, in dem unter anderem Fragen nach der Funktion des Finanzmarkts, den Werten und Normen des Finanzgeschäfts, der Bedeutung von Risiken sowie dem Verhältnis von Finanzmarkt und Gesellschaft aufgeworfen werden. Dieser durch das Aufeinandertreffen verschiedener institutioneller Logiken und Deutungen geprägte Reflexionsraum bietet im Nachgang der Finanzkrise von 2007/2008 die Gelegenheit nicht nur zu verstehen, wie die öko-soziale oder moralische Einbettung von Finanzmärkten verhandelt und in Verbindung mit Krisenbearbeitung und Stabilisierung gebracht wird, sondern auch wie im Feld des nachhaltigen Investierens die im konventionellen Finanzmarkt herrschenden Praktiken, Strukturen sowie Risiken eingeordnet, gedeutet und gegebenenfalls mit Blick auf eine Stabilisierung der Finanzmärkte bearbeitet werden. Mit der Finanzkrise und dem Ende der unhinterfragten Finanzpraktiken hat sich dabei zudem der Kreis derjenigen erweitert,
4.2 Systemische Risiken und Finanzmarktstabilität
147
die an der Reflexion des Finanzmarkts und dessen Verhältnis zur Gesellschaft beteiligt sind, etwa Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen, die den Finanzmarkt adressieren. Im Folgenden bieten wir zunächst einen Überblick über das eng mit systemischen Risiken verknüpfte Konzept der Finanzmarktstabilität. Danach betrachten wir das Konzept der Resilienz und dessen Anwendung auf den Finanzmarkt. Abschließend stellen wir beide Konzepte vergleichend gegenüber und entwickeln daraus unser, den Band leitendes, Verständnis von Stabilität und Resilienz.
4.2 Systemische Risiken und Finanzmarktstabilität Seit der letzten globalen Finanzkrise, die ihren Höhepunkt in der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 fand, wurde die Stabilisierung der Finanzmärkte plötzlich auf die Agenda zahlreicher Institutionen, wie dem bereits erwähnten Financial Stability Board, gesetzt (Willke et al. 2013). Die dabei stattfindende Betrachtung systemischer Risiken des Finanzsystems war insofern neu, als diese in der neoklassischen Ökonomik kaum Beachtung fanden und zudem – aufgrund der Dominanz der Idee freier Märkte und einer umfassenden Deregulierung in den 1990er Jahren – auch im finanzpolitischen Kontext lange Zeit kaum beachtet wurden (Willke et al. 2013). Systemische Risiken sind dabei jene Risiken, die innerhalb des Systems, hier des Finanzsystems, zu verorten sind und das gesamte System gefährden. Zwar beschäftigt sich die makroökonomische Theorie im Rahmen der Konjunkturtheorien mit Stabilisierungspolitik, diese nimmt allerdings keine systemischen Risiken in den Blick. Eine Destabilisierung erfolgt hier durch exogene, also von außen eintreffende Schocks, die das als natürlich angenommene Marktgleichgewicht stören und verschieben – beispielsweise bei Änderungen der Gesamtnachfrage beziehungsweise des Gesamtangebots aufgrund regulatorischer Eingriffe oder technischer Entwicklungen. Die Stabilisierungspolitik hat dann die Aufgabe, die mit den exogenen Schocks verbundenen Schwankungen im Markt zu reduzieren, wobei davon ausgegangen wird, dass dies nur auf kurze Sicht geschehen muss, da die Märkte langfristig von selbst wieder zu ihrem natürlichen Gleichgewicht zurückfinden (Mankiw 2003). Basierend auf dieser neoklassischen Grundannahme selbstregulierender Märkte sind systemimmanente Risiken, die dauerhaft die Stabilität von Märkten gefährden, kaum denkbar. So wird die Great Depression von 1929 in der Regel auch auf externe Faktoren zurückgeführt, entweder auf einen Rückgang der Nachfrage oder einen Rückgang des Geldangebots (Mankiw 2003), weshalb vor allem Geld- und Fiskalpolitik als Möglichkeiten dienen, stabilisierend auf Märkte einzuwirken, da darüber die Nachfrage beziehungsweise das Geldangebot reguliert werden können (Mankiw 2003). Aufgrund der fehlenden Betrachtung systemimmanenter Risiken gibt unter anderem der ehemalige Chefökonom der Weltbank Joseph Stiglitz dem eigenen Fach und dem vorherrschenden ökonomischen Paradigma eine Mitschuld an der Finanzkrise von 2007/2008:
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
The economics profession bears more than a little culpability [for the global financial and economic crisis]. It provided the models that gave comfort to regulators that markets could be self-regulated; that they were efficient and self-correcting. The efficient markets hypothesis – the notion that market prices fully revealed all the relevant information – ruled the day. Today, not only is our economy in a shambles but so too is the economic paradigm that predominated in the years before the crisis – or at least it should be (Stiglitz 2010).
Im Gegensatz zu der in der Hauptströmung der Ökonomik vorzufindenden neoklassischen Grundannahme, dass Märkte von selbst langfristig wieder zu ihrem natürlichen Gleichgewicht zurückfinden und daher Stabilisierungsmaßnahmen nur auf kurze Sicht notwendig sind, gehen unter anderem einige in der Tradition von Keynes stehende Ökonomen davon aus, dass Instabilitäten des Finanzmarkts zyklisch auftreten und innerhalb des kapitalistischen Finanzsystems (Konjunkturzyklen und exzessive Spekulation) selbst angelegt sind (Minsky 2011). Allerdings haben es diese ökonomischen Strömungen scheinbar nicht vermocht, dass die finanzpolitischen Institutionen vor der Finanzkrise systemische Risiken großflächig als mögliche Bedrohung wahrgenommen haben (Willke et al. 2013). Die Erfahrungen aus der jüngsten Finanzkrise haben jedoch zu einem Umdenken geführt: Wurden systemische Risiken zuvor kaum beachtet, stehen diese nun im Zentrum der Betrachtung von Finanz- beziehungsweise Finanzmarktstabilität (eine ähnliche Entwicklung gab es bei der Institutionalisierung operativer Risiken in Folge von Missmanagement bei verschiedenen Banken in den 1990er Jahren (Power 2007)). Fehlentwicklungen, unter anderem bei der Vergabe von Immobilienkrediten in den USA, führten nicht nur zum Untergang einzelner Kreditinstitute, sondern waren Ausgangspunkt einer umfassenden Systemkrise, die sich nur mit staatlichen Rettungspaketen und einer expansiven Geldpolitik einhegen ließ. Anstatt dafür lediglich externe Gründe verantwortlich zu machen, werden auch die dem Finanzsystem innewohnenden Risiken als Ursache benannt: Offenkundig liegen wesentliche Ursachen für die Schärfe und die Persistenz der Finanzkrise in Fehlentwicklungen innerhalb des Finanzsystems selbst. Diese Erfahrung hat die Bedeutung systemischer Risiken für die Höhe der gesamtwirtschaftlichen Kosten mangelnder Finanzstabilität in Erinnerung gerufen. Denn das Finanzsystem wird nicht nur passiv durch Fehlentwicklungen von außen getroffen (sog. exogene Schocks), die etwa im Bereich der Realwirtschaft oder der Finanzpolitik ihren Ursprung haben. Vielmehr können Funktionsweisen und Strukturen des Finanzsystems selbst aktiv zum Aufbau von Stabilitätsrisiken sowie zur Ausbreitung und Verstärkung von Instabilitäten beitragen (Deutsche Bundesbank 2013, S. 42).
Um diese systemischen Risiken frühzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen und auf diese Weise die Stabilität und Leistungsfähigkeit des globalen Finanzsystems zu sichern, wurden in Folge der Finanzkrise neue Institutionen geschaffen, beispielsweise in Deutschland im Jahr 2013 der Ausschuss für Finanzstabilität oder auf europäischer Ebene
4.2 Systemische Risiken und Finanzmarktstabilität
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zwei Jahre zuvor der Europäische Ausschuss für Systemrisiken.3 Anstatt der mikroprudentiellen Aufsicht, mit der die Stabilität individueller Banken und das Risikoprofil einzelner Institute überwacht wird, wurde nach der Finanzkrise die makroprudentielle Aufsicht (und Regulierung) gestärkt. Diese hat, im Gegensatz zur mikroprudentiellen Variante, nicht die einzelnen Banken, sondern vor allem gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge im Blick. Die makroprudentielle Aufsicht betrachtet die Solidität des gesamten Finanzsystems. Dadurch sollen systemische Risiken minimiert werden, die das gesamte Finanzsystem destabilisieren und auch mit negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft verbunden sein können (de Haan et al. 2012). Insgesamt sollen die mikroprudentielle Aufsicht, die das Risiko einzelner Institute überwacht, und – vor allem seit der Finanzkrise – die makroprudentielle Aufsicht, die systemische Risiken beobachtet, die Funktionsfähigkeit und damit die Stabilität des Finanzsystems gewährleisten. Der makroprudentiellen Aufsicht liegt die in der Finanzkrise gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass Krisen auch endogen, also innerhalb des Finanzsystems, entstehen und verstärkt werden können. Systemische Risiken sind demnach bereits innerhalb des Finanzsystems und im Kollektivverhalten der Akteur/innen angelegt. Der Begriff der Finanzstabilität oder Finanzmarktstabilität bezieht sich vor allem auf diese systemischen Risiken: Eine Stabilität des Finanzmarkts ist dann gegeben, wenn es keine systemischen Risiken mehr gibt, sodass „the financial system is in a condition in which it is capable of withstanding shocks and the unravelling of imbalances“ (de Haan et al. 2012). Dieser Logik, dass Finanzstabilität mit der Abwesenheit systemischer Risiken einhergeht, folgt auch die Europäische Zentralbank (EZB) bei ihrer Definition von Finanzstabilität: Finanzstabilität ist der Zustand, in dem sich keine Systemrisiken aufbauen können. Unter einem Systemrisiko versteht man die Gefahr, dass Störungen im Finanzsystem die Bereitstellung notwendiger Finanzprodukte und -dienstleistungen so stark beeinträchtigen, dass dies erhebliche Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand haben kann.4
Während die EZB negative Auswirkungen auf Wachstum und Wohlstand als mögliche Folgen systemischer Risiken auffasst, verknüpft die Deutsche Bundesbank die Finanzstabilität mit dem Zustand einer effizienten Funktionserfüllung. Stabile Finanzmärkte erfüllen ihre Funktionen effizient und sicher. Da systemische Risiken dies gefährden können, gilt es, sie zu minimieren:
3 https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Internationales_Finanzmarkt/
Finanzmarktstabilitaet/Ausschuss_fuer_Finanzstabilitaet/ausschuss-fuer-finanzstabilitaet.html; zuletzt abgerufen: 24.08.2019. 4https://www.ecb.europa.eu/ecb/tasks/stability/html/index.de.html; Stand: 19.03.2018.
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
Als Finanzstabilität (auch: Finanzsystemstabilität) wird der Zustand bezeichnet, wenn das Finanzsystem – auch in Phasen der Anspannung oder von Umbrüchen – in der Lage ist, seine Funktionen zu erfüllen und Finanztransaktionen aller Art effizient und sicher abzuwickeln. Im Rahmen der makroprudenziellen Aufsicht überwachen Aufsichtsbehörden auf nationaler und supranationaler Ebene das Finanzsystem, um systemischen Krisen vorzubeugen, in denen die Finanzstabilität gefährdet ist.5
Die Österreichische Nationalbank spezifiziert die Funktion des Finanzmarkts dahin gehend, dass eine effiziente Allokation von Kapital auf den höchsten Nutzen für die Volkswirtschaft ausgerichtet ist. Ein stabiler Finanzmarkt erfüllt diese Funktion selbst dann, wenn Schocks auftreten. Die Stabilität eines Finanzmarkts misst sich demnach daran, dass dieser unter allen Umständen seine Funktion erfüllen kann und den höchsten Nutzen für die Volkswirtschaft realisiert. Instabil wäre ein Finanzsystem dann, wenn es nicht in der Lage wäre, diese Funktion trotz möglicher Schocks zu erfüllen. Finanzmarktstabilität ist gegeben, wenn das Finanzsystem – bestehend aus Finanzintermediären, Finanzmärkten und Finanzmarktinfrastruktur – auch im Fall finanzieller Ungleichgewichte und Schocks in der Lage ist, eine effiziente Allokation finanzieller Ressourcen sicherzustellen und seine wesentlichen makroökonomischen Funktionen zu erfüllen. Das heißt, es soll Finanzmittel immer dort hinleiten, wo sie den höchsten volkswirtschaftlichen Nutzen bringen. Konkret bedeutet Finanzmarktstabilität folglich, dass das Vertrauen in den Finanzsektor, insbesondere in eine stabile Versorgung mit Finanzdienstleistungen in den Bereichen Zahlungsverkehr, Kredit- und Einlagengeschäft sowie Risikoabsicherung gewährleistet ist.6
Durch die verschiedenen Definitionen wurde bereits deutlich, dass das Ausbleiben von Finanzkrisen allein kein Anzeichen für Finanzstabilität sein muss; auch in krisenfreien Zeiten können instabile Finanzmärkte auftreten. Wenn die systemischen Risiken hoch sind oder der Finanzmarkt so konstruiert ist, dass Schocks dazu führen, dass er nicht für eine effiziente Allokation sorgen kann, lässt sich dieser Finanzmarkt auch dann als instabil bezeichnen, wenn keine Krisenerscheinungen zu beobachten sind. Der Ausschuss für Finanzstabilität betont explizit, dass „trotz Abwesenheit einer krisenhaften Entwicklung ein Mangel an Finanzstabilität vorherrschen [kann], sofern eine ineffiziente Allokation von Kapital und Risiken den Aufbau systemischer Risiken begünstigt“ (Ausschuss für Finanzstabilität 2014, S. 44). Da sich instabile Finanzmärkte anders als Banken-, Staatsschulden-, oder Währungskrisen nicht offensichtlich zeigen und auch nicht von Krisenphänomenen begleitet sein müssen, werden die für die Instabilität vorwiegend verantwortlichen systemischen Risiken im Rahmen der makroprudentiellen Aufsicht anhand verschiedener Indikatoren und Dimensionen identifiziert. Die Deutsche Bundesbank beobachtet systemische
5https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Glossareintraege/F/finanzstabilitaet.html;
zuletzt abgerufen: 24.08.2019. 6https://www.oenb.at/finanzmarkt/finanzmarktstabilitaet.html; zuletzt abgerufen: 24.08.2019.
4.3 Resilienz von Finanzmärkten
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Risiken in einer Zeit- und einer Querschnittsdimension und verknüpft die Aufsicht mit entsprechenden Zielen, die zu einer Verringerung dieser Risiken beitragen sollen: Mit Blick auf das systemische Risiko in der Zeitdimension dürften Unterziele wie das Vermeiden eines unangemessen hohen Kreditwachstums oder einer übermäßigen Verschuldung der Wirtschaftsakteure eine Rolle spielen. Mit Blick auf das systemische Risiko in der Querschnittsdimension sind etwa das Verhindern von Klumpenrisiken sowie die Stabilität von Finanzinfrastrukturen wichtige Zwischenziele (Deutsche Bundesbank 2013, S. 43).
Die EZB ergänzt dazu noch eine strukturelle Dimension, die darauf abzielt, „in der Finanzregulierung eine systemweite Sichtweise zu fördern, um das richtige Anreizsystem für Marktteilnehmer zu schaffen“.7 Die einzelnen Kennzahlen und Indikatoren zur Bestimmung systemischer Risiken kommen aus vielen Bereichen (siehe dazu etwa de Haan et al. 2012): aus der Realwirtschaft (u. a. Wirtschaftswachstum), dem Unternehmensbereich (u. a. Verschuldungsgrad der Unternehmen), dem Haushaltsbereich (u. a. Verschuldung der Haushalte), äußeren Bereichen (u. a. Wechselkurse), dem Finanzbereich (u. a. Realzins, Liquidität der Banken und Bankenratings) und aus dem Bereich der Finanzmärkte (u. a. Schwankungen der Aktienindizes, Spreads von Unternehmensanleihen, Marktliquidität, Volatilität und Immobilienpreise). Allerdings ist und bleibt – der Vielzahl an Indikatoren zum Trotz – die Bestimmung der Finanzmarktstabilität ein schwieriges Unterfangen, da sie in krisenfreien Zeiten nicht ohne weiteres zu erkennen oder gar für die Zukunft zu prognostizieren ist. Ob eine effiziente Allokation auch in Situationen externer Schocks gewährleistet sein wird, erscheint nur schwer im Voraus bestimmbar zu sein. In dem finanzpolitischen Diskurs zur Finanzmarktstabilität lässt sich festhalten, dass dieser Begriff eng mit systemischen Risiken verbunden wird. Finanzmarktstabilität ist gegeben, wenn Finanzmärkte auch in schwierigen Phasen ihre Funktion erfüllen können; systemische Risiken, die innerhalb des Finanzsystems angesiedelt sind, gefährden diese Funktionserfüllung und werden daher im Rahmen der makroprudentiellen Aufsicht überwacht. Dennoch bleibt es ein schwieriges Unterfangen, anhand verschiedener Kriterien die systemischen Risiken zu erheben und damit die Finanzstabilität zu beurteilen.
4.3 Resilienz von Finanzmärkten Neben dem Konzept der Finanzmarktstabilität findet sich – wenn auch nicht bei den Zentralbanken – ebenso ein Verständnis resilienter Finanzmärkte, das auch auf den systemischen und komplexen Charakter der Finanzmärkte Bezug nimmt. Das Konzept der Resilienz entstammt dabei ursprünglich aus dem Bereich ökologischer Systeme (dort vor allem durch Holling 1973) und umfasst in der Regel drei Eigenschaften eines
7https://www.ecb.europa.eu/ecb/tasks/stability/html/index.de.html;
zuletzt abgerufen: 24.08.2019.
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
Systems: neben der Widerstandsfähigkeit auch dessen Selbstorganisation und Lernfähigkeit (Brand et al. 2011). Resilienz bezeichnet im Allgemeinen die Fähigkeit eines Systems „to experience shocks while retaining essentially the same function, structure, feedbacks, and therefore identity“ (Walker et al. 2006). Ähnlich wie bei der Finanzmarktstabilität geht es demnach auch beim Resilienzkonzept darum, Funktionen beziehungsweise hier auch Identitäten eines Systems aufrechtzuerhalten, wenn Schocksituationen eintreten. Holling (1973) verweist aber auch auf Unterschiede zwischen einem Resilienz- und einem Stabilitätskonzept bei Ökosystemen; während Resilienz die Widerstandsfähigkeit eines adaptiven Systems bezeichnet, verweist Stabilität auf die Fähigkeit, wieder in ein Gleichgewicht zurückkehren und damit die Funktionserfüllung sicherstellen zu können. Geht es bei ersterem um die Frage, ob ein System Veränderungen überstehen kann, geht es bei letzterem um die Frage, wie sehr ein System von Schwankungen betroffen sein wird: Resilience determines the persistence of relationships within a system and is a measure of the ability of these systems to absorb changes of state variables, driving variables, and parameters, and still persist. In this definition resilience is the property of the system and persistence or probability of extinction is the result. Stability, on the other hand, is the ability of a system to return to an equilibrium state after a temporary disturbance. The more rapidly it returns, and with the least fluctuation, the more stable it is. In this definition stability is the property of the system and the degree of fluctuation around specific states the result (Holling 1973).
Übertragen auf das Finanzsystem stellt sich für die Zentralbanken und die weiteren Institutionen mit der Verwendung des Stabilitätskonzepts nicht die Frage, ob das Finanzsystem im Kern eine Krise übersteht, sondern eher, wie stark die Auswirkungen einer Krise auf die Realwirtschaft sind oder wie lange es dauert, bis der Finanzmarkt sich wieder so eingependelt hat, dass er die ihm zugeschriebene Funktion der effizienten Kapitalallokation erfüllen kann. Resiliente Systeme sind dagegen nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie sich wieder wie zuvor einpendeln, sondern ihre Funktion zum Teil ändern und an neue Bedingungen anpassen können. Ausgehend von der Charakterisierung von Ökosystemen wurde das Resilienzkonzept in den vergangenen Jahrzehnten zur Beschreibung zahlreicher Systeme herangezogen. In der Psychologie bezeichnet Resilienz die Fähigkeit des Individuums „to recover from personal trauma and the capacity to cope with either acute or chronic adversity“ (Mayer 2017). Dabei ist Resilienz keine stets gleichbleibende Eigenschaft, sondern eine bei jedem Menschen, je nach Umständen, mal stärker, mal schwächer ausgeprägte Fähigkeit (Rutter 1987). In der Umweltpsychologie wird die kollektive Resilienz bestimmter Gruppen, wie Familien oder der Gesellschaft als Ganzes, betrachtet, um beispielsweise darauf aufbauend die Resilienz von Menschen im städtischen Raum im Hinblick auf zunehmende Umweltbelastungen zu stärken (Jaeger-Erben und Matthies 2014). Soziale Resilienz verweist unter anderem für den Bereich der Stadtplanung darauf, „dass es ganz wesentlich von den Fähigkeiten sozialer Einheiten – wie etwa von Individuen,
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Organisationen oder ganzen Gesellschaften – abhängt, ob gefährdende Ereignisse unterschiedlicher Art überwunden werden und bestehende soziale Systeme weiter bestehen können“ (Christmann, Kilper und Ibert 2016). Ähnlich wie bei ökologischen Systemen ist soziale Resilienz eine Fähigkeit von sozialen Systemen „to cope with external stress or change“ (Lorenz 2013). In der Soziologie wird das Resilienzkonzept „für die Analyse von Phänomenen und Prozessen der ‚Widerständigkeit‘ und der ‚Widerstandsfähigkeit‘ in verschiedenen Kontexten und Situationen angesichts besonderer Gefährdungslagen genutzt“ (Endreß und Maurer 2015a); siehe dazu auch die restlichen Beiträge in Endreß und Maurer (2015b). Mit dem erweiterten Begriff der sozial-ökologischen Resilienz wird die Fähigkeit von sozial-ökologischen Systemen, etwa Städten „als komplexe adaptive Systeme“ (Deppisch 2016), bezeichnet, fortzubestehen, sich neu zu organisieren und ihre Funktionen auch dann weiter erfüllen zu können, wenn sie etwa mit sozialen Veränderungsprozessen oder dem Klimawandel konfrontiert werden (Deppisch 2016). Dementsprechend zeichnet sich eine resiliente Stadt dadurch aus, dass sie ein „sustainable network of physical systems and human communities“ darstellt, das heißt sowohl eine widerstandsfähige Infrastruktur als auch eine krisenresistente Gemeinschaft besitzt (Godschalk 2003). Wirtschaftliche Resilienz und damit die Resilienz wirtschaftlicher Einheiten lässt sich daher verstehen als „the inherent and adaptive responses to disasters that enable individuals and communities to avoid some potential losses“ (Rose 2004). Dabei geht es sowohl darum, externe Schocks aufzufangen, als auch sich davon zu erholen. Obwohl die Zentralbanken eher den Begriff der Finanzmarktstabilität verwenden, finden sich auch Institutionen an der Schnittstelle von Finanzwirtschaft und Politik, die das Resilienzkonzept verwenden, um im Nachgang der Finanzkrise auf Probleme und Herausforderungen für die Finanzmärkte aufmerksam zu machen; darunter der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, das Financial Stability Forum beziehungsweise Board und die New Economics Foundation. Vor allem bei den ersten beiden Institutionen scheint sich der verwendete Resilienzbegriff aber nicht grundlegend von dem zuvor erläuterten Begriff der Finanzmarktstabilität zu unterscheiden. Der Basler Ausschuss beschäftigt sich beispielsweise aufgrund der Erfahrungen aus der Finanzkrise mit der Erhöhung der Resilienz einzelner Kreditinstitute, um damit letztlich die Risiken für das Gesamtsystem zu reduzieren; die Verwendung von Resilienz gleicht dabei eher der Nutzung des Begriffs Finanzstabilität bei den Zentralbanken, als dass damit das aus der Ökologie stammende Resilienzkonzept für das Finanzsystem Anwendung findet. To address the market failures revealed by the crisis, the Committee is introducing a number of fundamental reforms to the international regulatory framework. The reforms strengthen bank-level, or microprudential, regulation, which will help raise the resilience of individual banking institutions to periods of stress. The reforms also have a macroprudential focus, addressing system wide risks that can build up across the banking sector as well as the procyclical amplification of these risks over time. Clearly these two micro and macroprudential approaches to supervision are interrelated, as greater resilience at the
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individual bank level reduces the risk of system wide shocks (Basel Committee on Banking Supervision 2009, S. 2).
Die Maßnahmen, die die Resilienz erhöhen sollen, drehen sich um die Höhe des Eigenkapitals von Banken, deren Risikostruktur und Verschuldung sowie deren Verflechtungen untereinander, die zu systemischen Risiken beitragen können (Basel Committee on Banking Supervision 2009, S. 4); insgesamt erinnert auch dies an die Liste der Indikatoren, mit denen systemische Risiken und letztlich Finanzstabilität bestimmt wird. Die verschiedenen Maßnahmen sollen auf bestimmten Wegen zu einem resilienten Bankensystem beitragen: In addition to the leverage ratio discussed in the previous section, the Committee is introducing a series of measures to address procyclicality and raise the resilience of the banking sector in good times. These measures have the following key objectives: dampen any excess cyclicality of the minimum capital requirement; promote more forward looking provisions; conserve capital to build buffers at individual banks and the banking sector that can be used in stress; and achieve the broader macroprudential goal of protecting the banking sector from periods of excess credit growth (Basel Committee on Banking Supervision 2009, S. 7).
Das Financial Stability Forum (FSF) formuliert ebenfalls einige Maßnahmen in verschiedenen Bereichen, um die Resilienz des globalen Finanzsystems zu erhöhen. Dabei sieht das seit 2009 zum Financial Stability Board erweiterte Gremium insbesondere das Risikomanagement als „first line of defence in the resilience of financial institutions“ (Financial Stability Board 2014, S. 4). While national authorities may continue to consider short-term policy responses should conditions warrant it, to restore confidence in the soundness of markets and institutions, it is essential that we take steps now to enhance the resilience of the global system. To this end, the FSF proposes concrete actions in the following five areas: Strengthened prudential oversight of capital, liquidity and risk management. Enhancing transparency and valuation. Changes in the role and uses of credit ratings. Strengthening the authorities’ responsiveness to risks. Robust arrangements for dealing with stress in the financial system (Financial Stability Forum 2008, S. 2).
Des Weiteren wird darüber diskutiert, ob Monopole im Bereich der (Finanz-)Infrastruktur Resilienz verringern (Jenkinson 2007) oder ob die lokale Orientierung von Banken zu einer Stärkung des Systems führen könnte: It is not obvious a priori what a local orientation implies for resilience. Local banking may represent relationships that banks maintain through good and bad times. Local business insulated many affiliates from the turmoil in global wholesale funding markets during the crisis; it may also have limited exposure to structured products, often held as cross-border claims on US borrowers. Depending on the host country, however, local claims may also have exposed affiliates to domestic property busts or to recessionary economies in the European sovereign debt crisis. This suggests that the stability implications of banks‘
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organisational structure depend on the source of shocks and whether these are local or global in nature (McGuire und von Peter 2016, S. 67).
Am stärksten mit dem Konzept der Resilienz am Finanzmarkt scheint sich die New Economics Foundation (NEF) auseinanderzusetzen. Ausgehend von ökonomischer Resilienz – definiert als „the capacity of an economic system to adapt in response to both short-term shocks and long-term changes in ecological, social, and economic conditions while supporting the community to thrive within fair ecological limits“ (Berry et al. 2015) – hat die NEF einen Financial System Resilience Index entwickelt. Dieser stützt sich darauf, das Finanzsystem nicht wie die neoklassische Ökonomik als isolierten Ort von Gleichgewichtszuständen, sondern als ein komplexes, offenes, adaptives System zu betrachten, das systemische Risiken birgt und Krisen auslösen oder verschärfen kann (Berry et al. 2015). Demnach definiert die NEF Finanzsystem-Resilienz analog zur Resilienz anderer selbstorganisierter, komplexer und lernfähiger Systeme und erneut unter Bezugnahme auf die Versorgung der Realwirtschaft als Funktion des Finanzsystems wie folgt: The capacity of the financial system to adapt in response to both short-term shocks and long-term changes in economic, social, and ecological conditions while continuing to fulfil its functions in serving the real economy (Berry et al. 2015).
Obwohl nicht jedes Finanzsystem, das der Realwirtschaft dient, resilient ist, sehen die Autor/innen der Studie einen Zusammenhang zwischen der Funktion und der Resilienz des Finanzsystems. Ein Finanzsystem, das weniger seiner gesellschaftlichen Funktion nachkomme, sei auch weniger resilient, denn „for instance, the higher the proportion of lending channelled into speculative activity, the more likely the system may be to generate asset price bubbles and crashes“ (Berry et al. 2015). Die Betonung der Versorgung der Realwirtschaft als zentrale Funktion und die Absage spekulativer und riskanter Geschäfte gehen einher mit einer Eigenschaft von Systemen, nach der eben nicht das effizienteste System zugleich das resilienteste ist. Vielmehr seien die Systeme am nachhaltigsten, die eine Balance zwischen Resilienz und Effizienz besitzen: If the system is hyper-efficient, it will be very vulnerable to collapse, and is therefore not a sustainable system. However, if maximum resilience is achieved the system will stagnate and be so unproductive as to also become unsustainable. What this suggests is that resilience and efficiency are not properties of systems that should be maximised, but rather that we need to find the optimal balance between them (Berry et al. 2015).
Daher reiche es nicht aus, die Resilienz mithilfe von Regulierungsmaßnahmen steigern zu wollen, wenn nicht zugleich Fragen nach Effizienz und Wettbewerb im Finanzsystem gestellt werden (Berry et al. 2015). Indem Resilienz – anders als Finanzstabilität – ein adaptives System voraussetzt, werden hier bestimmte Eigenschaften des Systems oder die Funktion der effizienten Kapitalallokation diskutierbar, die verändert werden können oder müssen, um widerstandsfähig zu werden.
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Für die Bestimmung des Resilienz-Indexes, mit dem die Resilienz verschiedener nationaler Finanzsysteme vergleichbar werden soll, dienen der NEF sieben Schlüsselfaktoren, die die Resilienz eines Finanzsystems beeinflussen: die Diversität unter anderem von Akteur/innen innerhalb des Systems, die Verbundenheit zwischen den Finanzinstitutionen, die Größe des Finanzsystems, die Zusammensetzung der von Banken investierten Vermögenswerte, die Finanzierung von Banken, die Komplexität und Transparenz des Systems sowie Eigenkapitalquoten der Banken (Berry et al. 2015). Fehlende Diversität beispielsweise kann dazu führen, dass die Akteur/innen gleichzeitig unter den gleichen Problemen zu leiden haben und damit nicht nur einzelne Banken in Schwierigkeiten geraten, sondern das gesamte System (Berry et al. 2015). Ähnlich wie bei der Finanzmarktstabilität erscheint aber auch bei diesen Faktoren eine Messung und Bestimmung von Resilienz, vor allem im Vorfeld beziehungsweise zur Verhinderung einer Krise, durchaus schwierig. Insgesamt erscheint das Resilienzkonzept breiter und offener angelegt zu sein als die Verwendung des Konzepts der Finanzmarktstabilität im finanzpolitischen Kontext. Es beinhaltet die Anpassungs- und Lernfähigkeit von Systemen und ist mit einem Blick über die Systemgrenzen hinaus verbunden. Es geht nicht allein darum, dass ein System (möglichst effizient) funktioniert, sondern ebenso darum, dass es sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen kann und eben auch Teile seiner Funktion und Verfahrensweisen infrage stellen und verändern kann.
4.4 Fazit und Ausblick Das im finanzpolitischen Diskurs verwendete Konzept der Finanzmarktstabilität stützt sich auf die Minimierung systemischer Risiken durch mikro-, aber vor allem makroprudentielle Aufsicht und Regulierung. Dadurch soll die effiziente Funktionserfüllung von Finanzmärkten selbst in schwierigen Phasen und bei krisenhaften Situationen ermöglicht werden. Da systemische Risiken auch in krisenfreien Zeiten entstehen, dort aber nicht zur Entfaltung kommen, soll mithilfe diverser Indikatoren das systemische Risiko bestimmt werden, um bei drohender Instabilität des Finanzsystems rechtzeitig reagieren zu können. Damit sollen ähnliche, durch im Finanzsystem angelegte Risiken ausgelöste Krisenphänomene, wie sie in der Finanzkrise von 2007/2008 auftraten, zukünftig vermieden werden. Etwas anders gelagert stellt sich das, weniger in der Finanzpolitik verankerte, Konzept der Resilienz dar. Entwickelt für Ökosysteme beschreibt Resilienz die Fähigkeit eines Systems, selbst in oder nach Schocksituationen und ebenso bei langfristigen Veränderungen der Umweltbedingungen weiterhin zu funktionieren. Auch hier liegt die Betonung darauf, dass Systeme ihre Funktion erfüllen müssen. Durch die Eigenschaften der Selbstorganisation und Lernfähigkeit, die resilienten Systemen zugeschrieben werden, eröffnet sich hier die Möglichkeit, dass Systeme ihre Funktion an
4.4 Fazit und Ausblick
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neue Bedingungen anpassen, um so die Widerstandsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Hier öffnet sich in gewisser Weise ein Raum für Veränderungen von Systemen, wohingegen das Stabilitätskonzept eher davon ausgeht, dass das Finanzsystem (im Zweifel durch Regulierung) zu einem Gleichgewicht zurückkehrt beziehungsweise sich ein neues Gleichgewicht im Markt findet. Man könnte sagen, dass im Sinne des Stabilitätskonzepts zur Stabilisierung eine Anpassung der Bedingungen an die Bedürfnisse des Systems vorgenommen wird, wohingegen im Sinne des Resilienzkonzepts eine Anpassung des Systems an veränderte Bedingungen die Resilienz erhöhen soll. Für das Finanzsystem besteht der Kern des Stabilitätskonzepts demnach darin, nicht zu beurteilen, ob das Finanzsystem im Kern eine Krise übersteht, sondern eher darin zu beurteilen, wie stark sich eine Krise auf die Realwirtschaft auswirkt oder wie lange es dauert, bis der Finanzmarkt wieder ein Gleichgewicht gefunden hat. Ein resilientes Finanzsystem kann dagegen seine Funktion zum Teil ändern und an neue Bedingungen anpassen, um weiter zu bestehen. Während es Resilienz zumindest ermöglicht, offener über Veränderungen nachzudenken und Teile des Systems zu reformieren, konserviert das Stabilitätskonzept vielmehr das Bestehende; die Eigenkapitalquoten können verändert werden, das Geschäftsmodell wird aber nicht grundlegend hinterfragt. Über das Einwirken auf klassische Maße des Finanzmarkts, etwa Zinsen oder Kreditbürgschaften, soll Stabilität erzielt werden, wohingegen für einen resilienten Finanzmarkt eher die einzelnen Funktionen (und somit auch das Geschäftsmodell) hinterfragt und zudem Kompetenzen, Strukturen und Praktiken gefördert werden, die eine zukünftige Anpassung an Krisen ermöglicht. Wie bereits in der Frage, ob und wie das nachhaltige Investieren zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beziehungsweise zu einer Erhöhung von dessen Resilienz beitragen kann, anklingt, betrachten wir in den empirischen Beiträgen nicht entweder die Stabilität oder die Resilienz des Finanzsystems. Da wir die Begrifflichkeiten in den Interviews nicht näher spezifiziert oder erläutert haben, bieten die Antworten aus dem Feld die Möglichkeit, neben dem Potential zur Stabilisierung zugleich die Deutung der Interviewten in der Praxis von Stabilität und/oder Resilienz zu erfassen. Anstatt den Antwortraum von vornherein zu beschneiden, können wir so die Potentiale beider Konzepte auf einmal herausarbeiten. Im Kern geht es ja bei beiden Konzepten darum, die Funktionserfüllung unter schwierigen Bedingungen gewährleisten zu können. Der Verzicht auf eine inhaltliche Festlegung im Vorfeld der Erhebungen soll einerseits eine größere Vielfalt an stabilisierendem Potential hervorbringen und andererseits dazu beitragen, dass die Deutungshoheit etwa über die Themen Stabilität, Resilienz, Risiko den Akteur/innen im Feld überlassen bleibt: Was wird überhaupt stabilisiert? Für wen stabilisiert sich etwas? Was ist relevant für Resilienz? Oder: Wo verläuft die Grenze des Finanzmarkts? Was muss sich für einen resilienten und stabilen Finanzmarkt verändern, inwieweit müssen unumstößliche ‚Wahrheiten‘ überdacht werden? Und: Wie wird in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Finanzmarkt und Gesellschaft neu verhandelt?
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
Durch unsere qualitative Herangehensweise an das Material können wir diese Offenheit nutzen, um an die verschiedenen Perspektiven und Antworten im Feld zu gelangen. Zudem erlaubt es die qualitative Forschung, Stabilität und Resilienz auf einer anderen Ebene zu erfassen. Anstatt einzelne Indikatoren zu erheben und zu bewerten, nähern wir uns der Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts über institutionelle Logiken, die im Finanzsystem wirken. Während einzelne quantitative Indikatoren auf Annahmen beruhen, welche Funktionen des Finanzsystems wie stabilisiert werden könnten, zeigen die Logiken dagegen, in welchen sozialen Strukturen und Deutungen diese Annahmen verwurzelt sind. Die Nachhaltigkeitslogik, die das Feld des nachhaltigen Investierens prägt, geht dabei mit anderen Maßstäben in Bezug auf Stabilität, Resilienz, Funktionsfähigkeit und Risiko einher als die auf diese Weise hinterfragte Marktlogik des konventionellen Finanzmarkts. Damit wird unter anderem der Blick vom Finanz- auf das sozial-ökologische System ausgeweitet, bei dem anstelle von systemischen Finanzrisiken etwa Klimarisiken mehr Beachtung bei der Frage nach der Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts finden. Indem das Konzept der Nachhaltigkeit die Wirkung des Finanzmarkts auf seine (institutionelle) Umwelt thematisiert und damit seine Funktion und Stabilitätserfordernisse neu diskutiert, bestärkt es letztlich eine Legitimationskrise der Konzeptionen von Finanzmärkten, die vor der jüngsten Finanzkrise die finanzpolitische Agenda prägten. Wenngleich durch die methodische Offenheit in Bezug auf Stabilität und Resilienz für die anschließenden empirischen Analysen ein breiteres Spektrum an potentiell stabilisierenden Faktoren eröffnet wird, scheint das Resilienzkonzept, das anpassungsfähige Systeme voraussetzt, letztlich insofern passender zu sein, als dass sich die mit dem nachhaltigen Investieren und der Nachhaltigkeitslogik auftretenden Veränderungen im Feld als eine Adaption des Systems deuten lassen, die dessen Widerstandsfähigkeit erhöhen. Der sich durch das nachhaltige Investieren und die entsprechende institutionelle Logik beziehungsweise durch neue, unter anderem zivilgesellschaftliche Akteur/innen öffnende Reflexionsraum, in dem auch die bisherige Funktion des Finanzsystems in der Gesellschaft infrage gestellt werden kann, kann sich als Ausdruck der Lernfähigkeit des Finanzsystems begreifen lassen und dabei auch die Aushandlungen und das Ringen um diese Fragen verdeutlichen. In den einzelnen, folgenden Beiträgen leiten wir daher keine Indikatoren für Stabilität oder Resilienz her, sondern legen die Vielfalt an Potentialen und Deutungen offen, die sich in diesem Reflexionsraum befinden. Neben der konkreten Stabilisierung des Finanzmarkts geht es dabei auch um grundsätzliche Fragen, etwa darum, wie das Verhältnis von Finanzmarkt und Gesellschaft ausgestaltet sein sollte. Dabei wird das Konzept der institutionellen Logiken um die Deutungsmuster-, Frameund Narrativanalyse erweitert. Durch die Vielfalt dieser Konzepte lässt sich – dem jeweiligen Gegenstand (etwa Banken, Divestment-Bewegung und nicht-finanzielle Berichterstattung) angemessen – herausarbeiten, was auf dem Finanzmarkt im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit verhandelt wird und somit, wie sich der Reflexionsraum (aus-)gestaltet.
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4 Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts
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Teil II Empirische Studien
5
Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster das Feld der Banken strukturieren und stabilisieren Gesa Griese, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß
Inhaltsverzeichnis 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Nachhaltigkeit im Bankwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Datenerhebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Methode 1: Institutionelle Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Methode 2: Deutungsmusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Methode 3: Clusterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Marktbasierte Bankenlogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Staatsbasierte Bankenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Religionsbasierte Bankenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Gemeinschaftsbasierte Bankenlogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.7 Stabilisierende Wirkung der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik. . . . . . . . . . . . 5.4.8 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Deutungsmuster 1: Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Deutungsmuster 2: Rolle der Banken in der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Deutungsmuster 3: ‚Richtige‘ Rendite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4 Deutungsmuster, nachhaltiges Bankwesen und die Stabilität des Finanzmarkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Clusterung: Perspektiven auf die Stabilitätswirkung durch die Befragten im Feld. . . . . . . 5.6.1 A: Stabilisierung durch ethische Ausrichtung des Bankwesens . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 B: Stabilisierung durch externe Regulierung, Risikosensibilisierung und Reputationsrisikomanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3 C: Stabilisierung durch Transparenz und Verantwortung von Banken . . . . . . . . . .
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_5
166 170 173 173 175 176 179 181 185 186 186 187 188 189 191 197 198 199 203 204 205 208 209 210 211 212
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
5.6.4 D: Stabilisierung durch Langfristigkeit im Bankgeschäft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Fazit und Zusammenführung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 218 219 223 227
Zusammenfassung
In diesem Beitrag nutzen wir drei verschiedene Forschungsperspektiven, um aufzuzeigen, ob und wie Nachhaltigkeit im Bankwesen zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen kann. Dazu analysieren wir das Bankwesen unter anderem auf Basis von diskursiven Interviews, die wir mit Vertreter/innen deutscher Banken geführt haben. In der ersten Analyse rekonstruieren wir die institutionellen Logiken im Feld der Banken. Die Charakterisierung einer nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik liefert uns Anhaltspunkte, wie das nachhaltige Bankwesen zu einem resilienten Finanzmarkt führen kann. Unsere zweite Analyse dient der Identifikation von Deutungsmustern bei Banken. Die drei von uns herausgearbeiteten Deutungsmuster – Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken, Rolle der Banken in der Gesellschaft und ‚richtige‘ Rendite – verweisen auf Problemdeutungen sowie darauf, welches Potential sich daraus im Hinblick auf eine Stabilisierung des Finanzmarkts ergibt. Die dritte Analyse ist eine Clusterung der Interviewpassagen, die die stabilisierende Wirkung von Nachhaltigkeit im Bankwesen thematisieren. Die vier dort unterschiedenen Perspektiven auf die potentielle Stabilitätswirkung von Nachhaltigkeit deuten an, welchen Beitrag ein nachhaltiges Bankwesen zu einem resilienten Finanzmarkt leisten kann.
5.1 Einleitung1 Banken gehören zu den zentralen Akteurinnen auf den internationalen Finanzmärkten. In Deutschland sichern sie als Hausbanken die Finanzierung von Unternehmen. Auch wenn sich im Zuge der Finanzialisierung der Wirtschaft (Beyer und Wolf 2014; Faust
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und dem Autor. Unser besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, ohne die diese Studie nicht möglich gewesen wäre.
5.1 Einleitung
167
et al. 2017; Heires und Nölke 2011, 2014; Kädtler 2010; Krippner 2005; Windolf 2005) die Rolle des Bankwesens verändert hat, sind Banken als zum Teil ‚systemrelevante‘ Kreditinstitute nach wie vor von großer Bedeutung. Seit der Finanzkrise von 2007/2008 sieht sich diese Branche jedoch von verschiedenen Krisen gebeutelt und vor vielfältige Herausforderungen gestellt, die die Überlebensfähigkeit einzelner Institute aus allen drei Säulen des deutschen Bankensystems beeinträchtigen (siehe dazu z. B. Frühauf 2017; Wetzel et al. 2010; Zimmermann und Schäfer 2010). Sowohl Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken als auch öffentlich-rechtliche Institute werden unter anderem durch neue Regulierungen, schärfere Eigenkapitalvorschriften, gewachsene Konkurrenz durch die Finanztechnologie-Branche und das niedrige Zinsniveau dazu gedrängt, ihre Geschäftsmodelle so anzupassen, dass sie auch weiterhin ertragreich bleiben. Zudem haben Banken durch ihr Verhalten vor und während der Krisen einen erheblichen Reputationsschaden erlitten, der bis heute nachwirkt (Breisig et al. 2010; Honegger et al. 2010). Abgesehen von diesen Entwicklungen fand in den vergangenen Jahren das gesellschaftliche Leitbild der Nachhaltigkeit vermehrt Eingang in den Finanzmarkt. Durch die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Belange, zusätzlich zu finanziellen Erwägungen, versuchen verschiedenste Akteur/innen die Möglichkeiten des Finanzmarkts auch dafür zu nutzen, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten. Obgleich es in Deutschland mit der GLS-Bank bereits seit 1974 ein Kreditinstitut gibt, das soziale und ökologische Kriterien in den Vordergrund stellt, hat sich dieses Segment seit der Finanzkrise kontinuierlich ausgebreitet und seine Wirkung auch bei Akteur/innen des konventionellen Finanzmarkts hinterlassen – selbst große Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen haben inzwischen entsprechende Produkte entwickelt (Herzog et al. 2015; Wendt 2016). Gespeist von einer institutionellen Logik der Nachhaltigkeit auf der Makroebene (siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band), haben sich inzwischen Denk- und Handlungsweisen auch in Teilen des Finanzmarkts herausgebildet, die über eine reine Marktlogik und eine kurzfristige Renditemaximierung hinausgehen und nicht nur zu einer nachhaltigen Transformation der Wirtschaft, sondern auch zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen könnten. Aus dieser Gleichzeitigkeit von krisenhaften Entwicklungen und dem Aufkommen eines neuen Leitbilds der Nachhaltigkeit stellt sich mit Blick auf die Banken in Deutschland die Frage, ob Nachhaltigkeit im Bankwesen (neben allem anderen) auch einen Beitrag zur Stabilisierung des Finanzmarkts (oder wenigstens des Bankensektors) leisten kann. In diesem Beitrag nutzen wir drei verschiedene Forschungsperspektiven, um das nachhaltige Bankwesen in Deutschland zu untersuchen. Zunächst dienen unsere drei Analysen dem Verständnis von Nachhaltigkeit im Bankensektor. Wir nutzen eine methodische Vielfalt, um die Frage zu beantworten, was Nachhaltigkeit im Feld der Banken überhaupt bedeutet und wie es das Feld verändert. Vor allem die Rekonstruktion der institutionellen Logiken im Feld der Banken und die Identifizierung
168
5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
von Deutungsmustern im Bankwesen ermöglichen es, die Bedeutung und Ausgestaltung von Nachhaltigkeit im deutschen Bankensystem nachzuvollziehen und das Feld unter dem Einfluss des Auftauchens von Nachhaltigkeit und im Kontext aktueller Krisen und Herausforderungen zu analysieren. Auf dieser Basis verwenden wir die herausgearbeiteten Logiken und die Deutungsmuster sowie die Clusterung von Interviewpassagen dazu, das Potential des nachhaltigen Bankwesens für die Stabilisierung2 des Finanzmarkts zu ergründen. Wir fragen uns, ob und wie Nachhaltigkeit im Bankensektor zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts führen kann. Die verschiedenen Untersuchungen erfolgen unter anderem auf Basis von diskursiven Interviews, die wir mit Vertreter/innen deutscher Banken geführt haben. Die drei Forschungsperspektiven sind auf verschiedenen Abstraktionsniveaus angesiedelt und verbunden mit Unterschieden bezüglich des Kontextreichtums und des direkten Bezugs zu der Frage nach der Stabilität. Mit unserer ersten Analyse, bei der wir die institutionellen Logiken (u. a. Thornton et al. 2012) im Feld der Banken rekonstruieren, zeichnen wir die gegenwärtige Struktur und Dynamik des Feldes nach. Wir zeigen, welche fünf verschiedenen Logiken im Feld vorherrschen und die Praktiken von Banken bestimmen; die von uns identifizierten Logiken im deutschen Bankensystem leiten sich ab von den Logiken des Marktes (bspw. Geschäftsbanken), des Staates (bspw. Sparkassen), der Gemeinschaft (bspw. Genossenschaftsbanken), der Religion (bspw. Kirchenbanken) und der Nachhaltigkeit (bspw. Nachhaltigkeitsbanken). Es finden sich Praktiken und Strategien oder – wie hier beispielhaft gezeigt – auch Organisationsformen im Feld der Banken, die sich den Logiken zuordnen lassen. Allerdings treten die Logiken kaum in idealtypischer Reinform auf, sondern werden im Feld und bei den einzelnen Banken verschieden kombiniert, sodass auch Sparkassen, trotz ihrer Zuordnung zur Staatslogik, in ihren Entscheidungen der Marktlogik folgen. Durch die Rekonstruktion der institutionellen Logiken demonstrieren wir, wie sich das nachhaltige Bankwesen auf die Krise bezieht und was genau unter Stabilität und Risiko verstanden wird. Zusätzlich gehen wir darauf ein, inwiefern die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen kann. Die Charakterisierung der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik, die von der im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß eingeführten Nachhaltigkeitslogik auf der Makroebene abgeleitet ist, und die Beschreibung der mit der Nachhaltigkeitslogik auftretenden Veränderungen im Feld liefern Anhaltspunkte dafür, wie das nachhaltige Bankwesen bei einer Stabilisierung des Finanzmarkts mitwirken könnte. Aufgrund des höheren Abstraktionsniveaus dieser Forschungsperspektive enthalten diese Ergebnisse
2Entsprechend
den Ausführungen im Beitrag von Nagel in diesem Band verwenden wir die Begriffe Resilienz und Finanzmarktstabilität synonym, um damit die Stabilisierung des Finanzmarkts zu erfassen.
5.1 Einleitung
169
die größte Erklärungskraft und können auch als Werkzeug für weitergehende Analysen verwendet werden.3 Die zweite Analyse dient der Identifikation von Deutungsmustern (Oevermann 2001) bei Banken. Die drei von uns herausgearbeiteten Deutungsmuster – Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken, Rolle der Banken in der Gesellschaft und ‚richtige‘ Rendite – verweisen auf spezifische Problemdeutungen im Bankensektor und auf mögliche Lösungen, die sich auch durch das nachhaltige Bankenwesen ergeben. Auch auf Grundlage dieser Untersuchung verdeutlichen wir, welches Potential sich aus diesen Deutungen für das nachhaltige Bankwesen im Hinblick auf eine Stabilisierung des Finanzmarkts ergibt. Die dritte Analyse besteht aus einer Art Clusterung der Interviewpassagen, die die stabilisierende Wirkung von Nachhaltigkeit im Bankensystem thematisieren. Dabei fassen wir, ähnlich wie bei einer Typologie, diejenigen Aussagen zusammen, die in den von uns bestimmten Dimensionen die gleiche Ausprägung aufweisen. Durch das niedrige Abstraktionsniveau besitzen die Ergebnisse hier einen sehr direkten Bezug zur Frage nach der stabilisierenden Wirkung des nachhaltigen Bankwesens. Während bei den ersten beiden Analysen zunächst die Bedeutung von Nachhaltigkeit im Bankensektor und im Feld an sich erfasst wird, um anschließend davon das stabilisierende Potential abzuleiten, werden bei der Clusterung die Perspektiven auf Stabilität direkt erfasst. Die vier dort unterschiedenen Perspektiven auf die potentielle Stabilitätswirkung von Nachhaltigkeit deuten an, auf welche Weise eine Stabilisierung des Finanzmarkts im Feld gedacht wird und inwiefern ein nachhaltiges Bankwesen dazu beitragen kann: durch eine ethische Ausrichtung des Bankensystems, eine externe Regulierung und Risikosensibilisierung, durch Transparenz und eine neu definierte Verantwortung von Banken sowie durch Langfristigkeit im Bankgeschäft. Insgesamt gewähren die drei Analysen umfassende Einblicke in das nachhaltige Bankwesen, wobei jede Forschungsperspektive eigene Möglichkeiten bietet, Nachhaltigkeit überhaupt als eigenständige Handlungsorientierung zu erfassen und die davon ausgehende stabilisierende Wirkung zu beleuchten. Da gerade bei Genossenschaftsbanken und Sparkassen die Orientierung an Werten einer Gemeinschaft beziehungsweise die Gemeinwohlorientierung eine lange Tradition besitzt, muss die Nachhaltigkeitslogik davon abgegrenzt werden. Nur durch ein Verständnis davon, wie die bereits existierenden Alternativen zur Marktlogik (symbolisiert durch große Geschäftsbanken) aussehen, lässt sich erfassen, was Nachhaltigkeit im deutschen Bankensystem bedeutet und inwiefern das nachhaltige Bankwesen stabilisierend wirkt. Indem mit Nachhaltigkeit eine erweiterte Wahrnehmung und andere Legitimationsquellen einhergehen, werden dadurch
3Auf
Basis dieser Erkenntnisse arbeitet die Autorin in ihrer Dissertation die Rolle und die Motive individueller Akteur/innen im Institutionalisierungsprozess der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik heraus. Damit verzahnt sie die Mikro- mit der Mesoebene und trägt zu einer Klärung des Akteursbild im N eo-Institutionalismus bei (Griese 2020).
170
5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
im Feld erst bestimmte Probleme, aber auch entsprechende Lösungen sichtbar, die das nachhaltige Bankwesen für den Finanzmarkt und die Gesellschaft bietet. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst geben wir einen kurzen Überblick über Nachhaltigkeit im Bankwesen, daran schließt sich die Erläuterung der von uns für die drei Analysen verwendeten Daten und Methoden an. Danach folgen die Ergebnisse, wobei wir mit der abstraktesten und kontextreichsten Untersuchung, der Rekonstruktion der institutionellen Logiken im Feld der Banken, beginnen. Es folgen die Ergebnisse der Analyse der Deutungsmuster, bevor wir schließlich die Ergebnisse der Clusterung von Aussagen der Interviewten zur Stabilitätswirkung von Nachhaltigkeit im Bankensektor vorstellen. Wir schließen den Beitrag mit einem Fazit, in dem wir die gesammelten Erkenntnisse der drei Analysen zusammenführen und reflektieren.
5.2 Nachhaltigkeit im Bankwesen Nachhaltigkeit hat sich als gesellschaftliches Leitbild in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten im Finanzmarkt und auch im deutschen Bankensystem ausgebreitet (Hebb 2012; Herzog et al. 2015; Hiß 2011, 2013; Hiß et al. 2017, 2018; Weber und Remer 2011; Wendt 2016). Trotz unterschiedlicher Ausgestaltung in der konkreten Geschäftsund Investitionspraxis finden damit neben ökonomischen auch soziale und ökologische Belange Eingang in die Entscheidungsprozesse (Hiß 2011, 2012). Wie auch bei der ausführlicheren Beschreibung der allgemeinen Nachhaltigkeitslogik dargestellt (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band), zielt die ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammende Idee auf eine Generationengerechtigkeit, bei der „die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt [werden], ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Hauff 1987). Durch das nachhaltige Investieren soll eine solch nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft über den Finanzmarkt vorangetrieben werden (Haigh und Hazelton 2004; Sparkes und Cowton 2004). Banken spielen als zentrale Akteurinnen insbesondere des deutschen Finanzsystems dabei seit jeher eine bedeutende Rolle; sie sind im Vergleich zum angelsächsischen Raum und trotz einiger Bewegungen in Richtung eines mehr marktorientierten Finanzsystems immer noch zentrale Finanzgeberinnen der deutschen Wirtschaft (Vitols 2005). Unter den Banken sind es dazu noch die öffentlich-rechtlichen und Genossenschaftsbanken, die den Großteil, nämlich circa 2/3 des deutschen Bankenmarkts, ausmachen (Vitols 2005). Während Paulet et al. (2015) in einem internationalen Vergleich ethische Banken im Gegensatz zu konventionellen Banken unter anderem daran festmachen, dass sie in ihrem Kerngeschäft lokal Kredite vergeben anstatt sich am „secondary stock market“ zu beteiligen, ist das im deutschen Bankenmarkt keine Besonderheit für ein ethisches Banking. Auf die Besonderheiten des deutschen Bankensektors wird mit der Perspektive der institutionellen Logiken in diesem Beitrag eingegangen.
5.2 Nachhaltigkeit im Bankwesen
171
Mit der aus der Waldorf-Bewegung stammenden GLS-Bank wurde im Jahr 1974 die erste Bank in Deutschland gegründet, die sich auf sozial-verantwortliche Bankgeschäfte spezialisierte (Dohmen 2011). Mit der Ökobank und der Umweltbank folgten in den beiden kommenden Dekaden weitere Banken, die sich explizit nachhaltigen Bankgeschäften widmeten (Herzog et al. 2015; Hiß 2012). Inzwischen sind mit der Ethikbank und der Triodos Bank weitere entsprechende Banken im Feld vertreten; auch spezialisierte Banken wie einige Kirchenbanken, die Bank für Sozialwirtschaft oder die Sparda-Bank München mit ihrem Gemeinwohlbericht (Sparda-Bank München eG 2018) lassen sich als nachhaltigkeitsorientierte Banken verstehen. Kirchenbanken verankern spätestens seit den 1983 in Vancouver entstandenen Grundsätzen der Ökumenischen Weltversammlung zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Nachhaltigkeit als Kern in ihren Geschäftsprinzipien. Anknüpfend an den Grundsatz der Bewahrung der Schöpfung haben die beiden großen deutschen Kirchen Leitbilder und Leitlinien mit explizitem Nachhaltigkeitsbezug entwickelt, die später auch Leitlinien für das Finanzhandeln nach sich zogen: etwa 1997 Handeln für die Zukunft der Schöpfung der Deutschen Bischofskonferenz, 2006 der Leitfaden zu nachhaltigen Geldanlagen in kirchlichen Haushalten der Landessynode der Evangelischen Kirche oder 2007 Ethisches Investment des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Durch die Struktur der Kirchenbanken finden sich diese Grundsätze dann als Orientierung in der Geschäftsausrichtung der Kirchenbanken wieder (Kreuzer 2013). Mittlerweile bieten aber nahezu sämtliche Banken in irgendeiner Form nachhaltige Produkte an (Wendt 2016), weshalb sich unsere Datenerhebung auch über alle drei Säulen des deutschen Bankensystems erstreckt. Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken sowie Sparkassen, Förder- und Landesbanken kommen kaum umhin, das gesellschaftliche Leitbild der Nachhaltigkeit in ihr Bankgeschäft zu integrieren. Das Forum für nachhaltige Geldanlagen (FNG), das den jährlichen Marktbericht zu nachhaltigen Geldanlagen in Deutschland, Österreich und der Schweiz herausbringt, verzeichnet ein Wachstum von acht Prozent bei den 14 Spezialbanken4 mit Nachhaltigkeitsfokus in Deutschland. Diese 14 Banken legen ihre gesamten Kundeneinlagen nach Nachhaltigkeitskriterien an. Im Jahr 2018 summierten sich diese Kundeneinlagen auf 38,6 Mrd. EUR (FNG 2019). Im Vergleich zur Bilanzsumme der gesamten deutschen Bankenbranche mit insgesamt 7,83 Billionen EUR ist dies allerdings nur ein sehr kleiner Prozentsatz (Statista 2019). Nachhaltige Geldanlagen machen insgesamt in Österreich, Deutschland und der Schweiz 474,1 Mrd EUR aus. Diese Summe setzt sich zusammen aus Mandaten,
4Diese
14 Spezialbanken sind: Bank im Bistum Essen eG, Bank für Kirche und Caritas eG, Bank für Kirche und Diakonie eG – KD-Bank, Bank für Orden und Mission, Bank für Sozialwirtschaft AG, DKM Darlehnskasse Münster eG, Evangelische Bank eG, EthikBank, Evenord-Bank eG-KG, GLS Bank, Pax-Bank eG, Steyler Ethik Bank, Triodos Bank N.V. Deutschland, UmweltBank AG (vgl. FNG 2019).
172
5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Investmentfonds und Kundeneinlagen/Eigenanlagen (FNG 2019). Auf europäischer und globaler Ebene existieren einige Verbände und Netzwerke nachhaltiger Banken, wie zum Beispiel die European Federation of Ethical and Alternatives Banks (FEBEA), das Institute for Social Banking (ISB), die International Association of Investors in the Social Economy (INAISE) und die Global Alliance for Banking on Values (GABV). Wie sich Nachhaltigkeit im deutschen Bankwesen genau ausgestaltet, versuchen wir auf zwei Wegen zu erfassen, mithilfe der Rekonstruktion der institutionellen Logiken und der Analyse der Deutungsmuster. Da sich die Clusterung ausschließlich auf die Aussagen der interviewten Expert/innen zur Stabilitätswirkung von Nachhaltigkeit bezieht, gibt diese nur wenig Hinweise auf die allgemeine Ausgestaltung des nachhaltigen Bankwesens. Die Logiken geben in der ersten Forschungsperspektive Aufschluss über die Struktur und Dynamik eines Feldes, das von Krisen geschüttelt ist und vor zahlreichen Herausforderungen steht. Dabei ist die Struktur des Feldes einerseits von verschiedenen historisch stabilen Traditionen in Form eines öffentlich-rechtlichen, genossenschaftlichen und privaten Bankwesens geprägt, andererseits inzwischen aber auch von einer Nachhaltigkeitslogik durchdrungen. Die zweite von uns vorgenommene Analyse zielt auf die bei den Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit vorherrschenden Deutungsmuster. Die identifizierten Deutungsmuster helfen uns dabei, zu verstehen, welche kollektiven Handlungsprobleme bestehen und wie das nachhaltige Bankwesen diese lösen kann. So stellt zum Beispiel der Bedeutungs- und Legitimationsverlust der Banken in der Gesellschaft ein zentrales Handlungsproblem im Feld dar. Indem das nachhaltige Bankwesen erstens die Rolle der Banken in der Gesellschaft infrage stellt, etwa mit der Frage wofür Banken da sind, und zweitens die Beziehung zwischen Banken und der Gesellschaft sowie die eigene Verantwortung für die Gesellschaft als aufklärerisch, Bewusstsein schaffend und transformierend zu gestalten versucht, kann es diesem Bedeutungs- und Legitimationsverlust entgegenwirken. Zugleich fordert sowohl das Hinterfragen des Status quo als auch das Aufbieten von Alternativen das konventionelle Bankwesen zu einer Positionierung und Stellungnahme heraus. Indem das Leitbild der Nachhaltigkeit in Form einer institutionellen Logik im Feld oder in den Deutungen Einzug hält, verändert sich der Bankensektor. Dem bisherigen Treiben wird ein Spiegel vorgehalten und den Akteur/innen bieten sich neue Möglichkeiten im Denken und im Handeln. Damit, so die den Band umfassende These, bietet Nachhaltigkeit und das nachhaltige Investieren einen Reflexionsraum, in dem um das ‚richtige‘ oder auch um ein stabilitätsförderndes Bankwesen gerungen wird. Dabei steht auch zentral zur Debatte, für wen das Finanzsystem stabil sein muss beziehungsweise was dessen Funktion ist. Die Frage nach der Stabilitätswirkung berührt also ganz stark die Frage nach dem Kern des Finanzsystems (d. h. funktioniert es überhaupt, und woran messen wir das?), seinen (sozialen) Funktionen und seiner gesellschaftlichen Einbettung. Die folgenden empirischen Analysen erfassen dieses Ringen, jeweils sowohl in Bezug auf die konkrete Ausformung des nachhaltigen Bankwesens in Deutschland als auch hinsichtlich des Potentials zur Stabilisierung des Finanzmarkts.
5.3 Daten und Methoden
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5.3 Daten und Methoden In diesem Beitrag nutzen wir drei verschiedene Forschungsperspektiven, um das Feld des nachhaltigen Bankwesens zu erschließen und den stabilisierenden Beitrag von Nachhaltigkeit im Bankwesen auf den Finanzmarkt zu erörtern. Mit der Rekonstruktion von institutionellen Logiken, einer Deutungsmusteranalyse und der Clusterung des Interviewmaterials ist es möglich, die verschiedenen potentiellen Wirkungen eines nachhaltigen Finanzmarkts vor allem im Bereich der Banken zu erfassen. Diese drei Forschungsperspektiven werden im Folgenden jeweils anhand des Abstraktionsniveaus und des Kontextreichtums der Analyse sortiert. Dabei beginnen wir mit der Perspektive der institutionellen Logiken mit der abstraktesten und kontextreichsten Analyse. Dieser Ansatz bietet zudem den umfangreichsten Erklärungsgehalt und ist ein geeignetes Werkzeug, um zunächst die Bedeutung des Konzepts der Nachhaltigkeit im Feld der Banken in Deutschland zu begreifen. Die sich daran anschließende Deutungsmusteranalyse führt näher an die aktuellen Herausforderungen der interviewten Banken heran. Durch ihren Bezug zu einem konkreten Handlungsproblem vermitteln die Deutungsmuster die dazugehörigen Werthaltungen und abgeleiteten Handlungsregeln, die den Alltag der Beschäftigten im Feld strukturieren. Deutungsmuster erscheinen damit ein Stück näher an den Menschen und deren Analyse ist somit weniger abstrakt und in weniger Kontext eingebunden als die Rekonstruktion der institutionellen Logiken. Zuletzt eröffnet die Clusterung der einzelnen Aussagen hinsichtlich der Stabilitätswirkung nochmal den Blick für die konkreten Argumente der Expert/innen im Feld. Die Darstellung der verschiedenen Standpunkte darüber, was sich wie genau stabilisiert und stabilisieren soll, ist die am wenigsten abstrakte und kontextärmste Perspektive, erleichtert damit aber den Rückbezug zu den vorherigen Analysen. Da, wie so oft in der qualitativen Forschung, Methoden und Ergebnisse eng verbunden sind, hoffen wir, dass sich mögliche Unklarheiten, die sich aus diesem Kapitel ergeben könnten, spätestens beim Lesen der Ergebnisse auflösen. Bevor wir aber die einzelnen methodischen Aspekte näher erläutern und einen detaillierten Einblick in die drei Forschungsperspektiven geben, stellen wir zunächst die Datenbasis der Untersuchungen vor.
5.3.1 Datenerhebung Die Basis für unsere Analysen waren 18 Interviews mit Vertreter/innen von 18 deutschen Banken, die wir zwischen Juni und Oktober 2016 telefonisch sowie vor Ort durchgeführt haben. Wir haben Interviews mit Banken aus allen drei Säulen des deutschen Bankensystems geführt: mit Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken sowie Sparkassen und Landesbanken; darunter waren auch Kirchenbanken, explizite Nachhaltigkeitsbanken und Förderbanken. In unserem Sample sind sechs der zehn größten deutschen Banken
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
vertreten. Der den Interviewten angekündigte Kontext der Befragung war die Frage nach der Nachhaltigkeit im deutschen Bankensystem. Um latente Deutungsmuster explizit zu machen und rekonstruieren zu können, haben wir uns dafür entschieden, diskursive Interviews zu führen. Diese zeichnen sich unter anderem durch konfrontative Fragen aus (Ullrich 1999a): Mit hypothetischen Fragen, provokanten Fragen, oder auch aktiven Begründungsaufforderungen wurden die Interviewten dazu angeregt, Rechtfertigungen und Begründungen für ihr Handeln offenzulegen. Neben Fragen dazu, wie das Thema Nachhaltigkeit zu organisationalen Veränderungen führt, haben wir auch nach dem Einfluss von Nachhaltigkeit auf die Finanzmarktstabilität insgesamt gefragt. Wir haben die Interviewpartner/innen zudem mit der Aufgabe konfrontiert, verschiedene Banken, einschließlich ihrer eigenen, auf einem eigens entwickelten Diagramm zu verorten. Die Achsen des Diagramms zielten auf das primäre Leitbild (renditeorientiert – werteorientiert) und die Nachhaltigkeitsorientierung (niedrig – hoch) der Banken. Dieses Diagramm ermöglichte es im Verlauf des Interviews, die Unterschiede zwischen den Banken verschiedener Säulen sowie zwischen explizit nachhaltigen und eher konventionellen Banken näher zu beleuchten. Die Interviews bildeten die Grundlage für alle drei Analysen. Für unsere erste Analyse, die Rekonstruktion der institutionellen Logiken im deutschen Bankwesen, haben wir aber eine Erweiterung des Materials vorgenommen; wir ergänzten Informationen zu den Bankprodukten und schlossen Websites, Presseartikel und Gesetzestexte, als rechtliche Grundlagen der verschiedenen Banktypen, in die Untersuchung ein. Dadurch konnten wir die unterschiedlichen Dimensionen institutioneller Logiken in unserer Analyse erfassen. Wir haben außerdem eine kleine Feldstudie in einer Förderbank durchgeführt, in der uns durch die Teilnahme an Teamsitzungen und externen Auftritten sowie durch Gespräche mit verschiedenen Abteilungen ein Einblick in den Bankalltag dieses Banktypus ermöglicht wurde. Bei der Begleitung zu externen Auftritten, wie zum Beispiel Messen, konnten auch noch weitere kurze, explorative und leitfadengestützte Interviews mit Vertreter/innen von anderen Banken geführt werden, die nicht transkribiert wurden und uns lediglich als Hintergrundinformationen dienten. Da diese Gespräche für die Bankangestellten am Messestand überraschend kamen, konnten sie zum Thema Nachhaltigkeit zum Teil nicht viel sagen. Die Erfahrungen mit dieser Förderbank haben bei der Rekonstruktion der Logiken maßgeblich zur Schärfung der staatsbasierten Bankenlogik vor allem in Abgrenzung zur nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik beigetragen. Zudem hat die Feldphase ermöglicht, zwischenzeitlich entwickelte Thesen an weiteren Interviewten zu überprüfen, die zudem nicht direkt mit Nachhaltigkeit in Banken zu tun hatten. Das gesamte Interviewmaterial wurde anschließend inhaltsanalytisch in Anlehnung an Mayring (2010) und Kuckartz (2016) als Basis für alle drei Analysen codiert und ausgewertet. Bevor wir die Ergebnisse präsentieren, erläutern wir im Folgenden zunächst die methodologischen Hintergründe und unser Vorgehen bei den qualitativen Analysen des Materials. Wir beginnen mit der Perspektive der institutionellen Logiken, gefolgt von der Deutungsmusteranalyse und schließlich der Clusterung des Materials.
5.3 Daten und Methoden
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5.3.2 Methode 1: Institutionelle Logiken Unsere erste Analyse basiert auf der Perspektive institutioneller Logiken (Thornton et al. 2012), die – wie im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band erläutert – in der Tradition des organisationssoziologischen Neo-Institutionalismus steht. Trotz der mittlerweile sehr heterogenen Strömungen im Neo-Institutionalismus geht es im Kern um eine Wiederentdeckung der Gesellschaft und konkret um den Einfluss von Institutionen auf Organisationen und damit um die Legitimation von Verhalten, Denken, Praktiken und Normen (Greenwood et al. 2008; Senge 2011). Der Ansatz ist geprägt durch einen Fokus auf die Erklärung von Stabilität und Wandel von Organisationen und Institutionen (Thornton und Ocasio 2008; Thornton et al. 2012). Institutionelle Strukturen stellen einen Erwartungshorizont dar, der denjenigen Organisationen, die sich daran annähern, gesellschaftliche Legitimation verleiht. Veränderungen in oder von Organisationen können so, vereinfacht gesagt, auf veränderte institutionelle Strukturen zurückgeführt werden. Die Perspektive der institutionellen Logiken bietet eine Möglichkeit, die unterschiedlichen Erwartungen innerhalb von Organisationen und organisationalen Feldern sowie deren Auswirkungen auf Organisationen und organisationale Felder in den Blick zu nehmen. Die Logiken sind ein analytisches Modell, das dabei hilft, die empirischen Beobachtungen zu sortieren und zu vergleichen (Thornton und Ocasio 2008). Geprägt von Friedland und Alford (1991) hat sich dieses Konzept der institutionellen Logiken zu einer Perspektive weiterentwickelt, die materielle und symbolische Elemente integriert. Nur wenn eine Logik diese Elemente enthält, lässt sie sich als institutionelle Logik klassifizieren, weshalb etwa die Marktlogik auch kulturelle Bedeutungen und Identitäten als symbolische Elemente beinhaltet und die Religionslogik sich auch in einem ökonomischen System materialisiert (Thornton et al. 2012). Institutionelle Logiken sind dabei als sozial konstruierte, historische Muster von Praktiken, Annahmen, Werten, Glauben und Regeln zu betrachten, durch die Individuen ihre reale Existenz, Zeit und Raum organisieren und ihrer sozialen Realität Bedeutung verleihen (Thornton et al. 2012). Sie stellen eine Verbindung zwischen sozial konstruierten Regeln sowie institutionellen Praktiken und individuellen Handlungen und Wahrnehmungen her. Beispielsweise sind Regeln für die Aufrechterhaltung des Tauschs von Gütern notwendig, um Transaktionen auf Märkten zu ermöglichen. Durch die Marktlogik enthalten solche politisch gesetzten Regeln eine Bedeutung im Feld, die zum Gelingen des Warenaustauschs beiträgt. Zugleich sind die Situationserwartungen von Individuen auch durch diese Logik geprägt und sie reproduzieren diese Erwartungen, die folglich andere Interaktionen bestimmen. So wird es für ganz normal gehalten, dass sich zum Beispiel Unternehmen oder Konsument/innen als Wirtschaftssubjekte gegenüberstehen und der Preis die Transaktion bestimmt. Die Logiken formen somit individuelle und organisationale Praktiken, indem sie Sets tief verwurzelter Erwartungen für soziale Beziehungen und Verhalten repräsentieren (Goodrick und Reay 2011).
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Einen weiteren Mehrwert bietet die Perspektive der Logiken durch die Integration von verschiedenen Analyseebenen: Nach Thornton et al. (2012) operieren Logiken auf unterschiedlichen Ebenen. Institutionelle Ordnungen oder Logiken auf der Makroebene beschreiben die Gesellschaft. Logiken eines Feldes sind von diesen Makrologiken beeinflusst, aber nicht deckungsgleich (Thornton et al. 2012), weshalb man Logiken etwa innerhalb einer Organisation, in organisationalen Feldern, in Märkten oder auf der Ebene der Gesellschaft untersuchen kann (u. a. Thornton und Ocasio 2008; Thornton et al. 2012). Durch die gesellschaftlichen Makrologiken kann die Perspektive der Logiken für eine allgemeine Analyse des Bankensektors herangezogen und darauf aufbauend zur Beantwortung von Fragen über Stabilität und Wandel von Institutionen genutzt werden. Durch die, symbolische und materielle Elemente umfassende, mehrdimensionale Rekonstruktion von Feldlogiken im deutschen Bankwesen können wir zudem umfassende Entwicklungen im Feld erklären, wie etwa die durch eine neue Nachhaltigkeitslogik entstehende Dynamik im Bankensystem. Mithilfe dieser Forschungsperspektive haben wir fünf institutionelle Logiken im Feld des Bankwesens in Deutschland rekonstruiert. Diese Logiken ermöglichen es, zu verstehen, welche Erwartungen und Orientierungen, Wahrnehmungsschemata und Praktiken im gegenwärtigen Feld vorhanden sind. Die Feldlogiken sind dabei geprägt von den übergeordneten Makrologiken. Während wir uns bei den Makrologiken der Familie, des Staates, der Religion, des Markts, der Unternehmen, der Profession und der Gemeinschaft auf vorhandene Ausführungen stützen konnten (Thornton et al. 2012), beziehen wir uns bei der Makrologik der Nachhaltigkeit auf die entsprechende im Projekt erarbeitete Logik, die im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß eingeführt wurde. Diese Ausarbeitungen sind in diesem Beitrag die Voraussetzung für die Rekonstruktion der Feldlogiken, weshalb wir uns bei der Darstellung der Ergebnisse darauf beziehen, ohne jedoch die Makrologik erneut vollständig herzuleiten. Um die Herleitung vollständig nachvollziehen zu können, ist der genannte Beitrag wichtig, für das Verständnis der Logiken im Feld der Banken sollten die hier gemachten Ausführungen genügen. Durch die Identifizierung und Beschreibung der unterschiedlichen Logiken wird deutlich, was das Spezifische der Nachhaltigkeitslogik ist und welche Makrologiken das Feld und das Handeln der Betroffenen prägen. Auf Grundlage der ausführlichen Beschreibung der einzelnen Logiken ist es anschließend möglich, aufzuzeigen, auf welche Weise die Nachhaltigkeitslogik im Feld der Banken stabilisierend wirken kann.
5.3.3 Methode 2: Deutungsmusteranalyse In der zweiten Analyse rekonstruieren wir Deutungsmuster aus dem Interviewmaterial. Dabei muss zunächst festgehalten werden, dass der Begriff Deutungsmuster sehr oft und auf unterschiedliche Weise in den Sozialwissenschaften gebraucht wird – zum Teil als Synonym von Begriffen wie Wahrnehmungsschemata, Deutungsschemata,
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lltagstheorien, Skripte, etc. (Lüders und Meuser 1997; Meuser 2011). Nach dem grundA legenden Text von Oevermann 1973 (veröffentlicht 2001) verstehen wir Deutungsmuster als „nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge“ (Oevermann 2001). Durch bestimmte Kriterien der Gültigkeit, Vernunft und eine eigene innere Logik gleichen sie wissenschaftlichen Hypothesensystemen (Oevermann 2001). Sie lassen sich als soziale Wissensbestände charakterisieren, die Orientierungswissen für soziales Handeln liefern (zusammengefasst in Schmitt 2017; Ullrich 1999a). Deutungsmuster beziehen sich auf Handlungsprobleme (von denen sie sich aber auch über die Zeit entkoppeln können (Oevermann 2001)), tragen implizite Werthaltungen in sich und ermöglichen daraus abgeleitete Handlungsregeln (Markova 2013; Oevermann 2001). Ebenso wie institutionelle Logiken sind auch Deutungsmuster als überindividuelle Struktur angelegt, allerdings deutlich von der Reichweite der institutionellen Logiken des Feldes zu unterscheiden. Während die institutionellen Logiken ganz allgemein auf die Handlungsorientierung und Legitimationsquellen im Feld verweisen und nicht nur auf ein konkretes Handlungsproblem bezogen sind, bieten die Deutungsmuster eine Art Rezeptwissen und vermitteln theoretisch zwischen Struktur und Handlung (u. a. Oevermann 2001). Deutungsmuster haben dabei auch wieder unterschiedliche Reichweiten (Lüders und Meuser 1997; Meuser 2011). Da unsere Analyse in einem speziellen Kontext vorgenommen wurde, nämlich dem von Krisen und Herausforderungen im Bankwesen, und auf der Befragung zu Nachhaltigkeit im Bankwesen basierte, sind von vornherein keine Deutungsmuster mit allgemeiner Reichweite (etwa ‚Kapitalismus‘, ‚Wettbewerb‘ oder ‚Finanzmarkt‘) rekonstruiert worden, sondern spezielle Muster, die als Strukturen in den Antworten der Interviewten durchscheinen. Da bei den Logiken der Einfluss von abstrakten Makrologiken auf die rekonstruierten Feldlogiken sichtbar wird, stellt die Perspektive der Logiken in diesem Beitrag die abstrakteste und kontextreichste Analyse dar. Durch die Analyse des Einflusses von gesellschaftlichen Institutionen (Familie, Staat, Markt, Unternehmen, Profession, Religion, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit) auf Organisationen vermitteln die Logiken zwischen der Makroebene der Gesellschaft und dem Feld der Banken. Das Deutungsmusterkonzept ist dementsprechend auf einer Analyseebene darunter zu verorten, weniger abstrakt und rein auf dem Interviewmaterial basierend. Trotz zahlreicher unterschiedlicher Fallstudien und Beispiele, die sich auf Deutungsmuster beziehen (Bögelein 2016; Markova 2013; Schmitt 2017; Schütze 1992), gibt es einige gemeinsame Merkmale, die die Heuristik des Deutungsmusters kennzeichnen: Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte, die normative Geltungskraft besitzen und über verfestigte rein subjektive Deutungen hinausgehen. Sie sind auf einer tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt, sind latent und deswegen nur bedingt reflexiv verfügbar. Zudem sind sie kontextabhängig und haben jeweils unterschiedliche Geltungsreichweiten (Lüders und Meuser 1997; Meuser 2011). Sie können sich über die Zeit hinweg sogar von ihrem Ursprungskontext lösen und sind somit als eigenständig gegenüber dem strukturellen Handlungsproblem zu begreifen – ohne dieses aber nicht zu verstehen (Oevermann 2001). Sie bieten als Grundlage eine Handlungsorientierung und als
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Mittel eine Handlungsbewältigung, indem sie Komplexität reduzieren und Konsistenz herstellen, wo sonst starke Widersprüche herrschen (Kassner 2003). Uns interessieren daher nicht die Handlungssubjekte, sondern die von ihnen geäußerten Derivate des geteilten Deutungsmusters. Dazu werden die Interviews von Beginn vergleichend und nicht einzeln ausgewertet (Kassner 2003; Ullrich 1999b), um eine Typologie aller möglicherweise sogar konkurrierender Deutungsmuster im Feld zu erhalten. Zudem folgen wir Ullrich in der Haltung, dass man die Deutungsmuster nicht vorab schon an milieuspezifische Kriterien binden und offen dafür sein sollte, was geteilt wird und durch wen (Ullrich 1999b). Das heißt, dass wir die Deutungsmuster nicht entlang von Milieugrenzen oder anderer spezifischer Kriterien oder – wie in unserem Fall vor allem entscheidend – nicht entlang der Organisationsform der Banken rekonstruieren; wir erhalten also beispielsweise keine sparkassenspezifischen Deutungsmuster. Allgemein gesprochen beziehen sich Deutungsmuster nach Oevermann auf die Ebene von Krisen (Müller 2011) und geben Antworten auf strukturelle Handlungsprobleme (Oevermann 2001). Dabei bieten sie selbst aber keine Garantie für eine stabile und krisenfreie Umgebung. Unterschiedliche und inkompatible Interpretationen eines Deutungsmusters durch die Befragten selbst sind im Gegenteil eher Quellen sozialen Wandels, indem zum Beispiel bislang latente, unvereinbare Elemente manifest werden oder zunächst isolierte Deutungsmuster verschmelzen. Selbst das Auflösen bestehender Inkompatibilitäten kann wiederum zu neuen Inkompatibilitäten und entsprechenden Spannungen führen (Oevermann 2001). Die häufig sehr unterschiedlichen Analysen und mitunter diffusen Definitionen oder konzeptionellen Unschärfen in Bezug auf Deutungsmuster sind ein Hinweis dafür, dass die Deutungsmusteranalyse eher ein forschungspragmatisch-heuristisches Konzept (Lüders 1991) als ein klar abgrenzbares Analyse- und Theoriegebäude darstellt5: Da Gegenstand, Methode und Theorie eng zusammenhängen, kann der Wunsch nach einer klaren Definition bei gleichzeitig bestehender Vielfalt in der Anwendung nicht erfüllt werden. Was Deutungsmuster genau sind, hängt eben – wie so oft in der qualitativen Forschung – auch mit der konkreten Forschungsfrage und dem zu untersuchenden Gegenstand zusammen (u. a. Lüders 1991). Die durch die diskursiven Interviews generierten Rechtfertigungen und ausführlichen Begründungen der Befragten bilden die Grundlage für die Deutungsmusteranalyse. Das Ziel der Analyse bestand darin, zu verstehen, welche Muster die Aussagen in den Interviews verbinden, denn „individuelle Einstellungen und Erwartungen resultieren aus sozialen Deutungsmustern, nicht umgekehrt“ (Oevermann 2001). Nicht die einzelnen Meinungen oder deren inhaltsanalytische Zusammenfassung und Abstraktion konstituieren ein Deutungsmuster, sondern sie ermöglichen den Zugang und sind zugleich eine notwendige Bedingung für die Rekonstruktion von Deutungsmustern
5Zur
Übersicht von drei etablierten Ansätzen von Ullrich; Oevermann; Plaß und Schetsche; siehe Kassner (2003).
5.3 Daten und Methoden
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(Müller 2011). Im Gegensatz zu Oevermann, bei dem die Deutungsmuster dazu dienen, die konkrete milieugebundene Lebenspraxis zu rekonstruieren (Kassner 2003), entwickeln wir angelehnt an Ullrich eine Typologie zu einem bestimmten Bezugsproblem (Ullrich 1999a). Uns interessieren nicht die einzelnen Personen, sondern die durch ihre Aussagen hervortretende Derivation von Deutungsmustern und damit die Konstitutionsbedingungen der Handlungsorientierungen (Ullrich 1999b). Es geht darum, aus den Aussagen durch Quervergleiche und Fallkontrastierung eine übergeordnete Struktur zu rekonstruieren und anders als bei Oevermann nicht darum, die Handlungssubjekte und ihre Verstrickung mit der Lebenspraxis zu analysieren und in den Fokus zu rücken (Kassner 2003). Da „objektive Strukturen zwar ursächlich für die Bildung von Deutungsmustern [sind], jedoch nicht unmittelbar in diese eintreten, [muss] aus dem Grund […] eine erweiterte Systematik entworfen werden“ (Müller 2011). Wir systematisieren die Deutungsmuster – angelehnt an die Systematik von Markova (2013) und Schetsche (1992) – demnach nach der Problemdefinition, den Wertvorstellungen, die darin enthalten sind, und der daraus abgeleiteten Handlungsregel. Die Analyse der Deutungsmuster, wie wir sie in diesem Fall durchführen, unterscheidet sich von der Rekonstruktion der institutionellen Logiken hinsichtlich des Kontextreichtums und Abstraktionsniveaus und somit auch hinsichtlich der Reichweite.6 Nicht Deutungsmusteranalyse generell, sondern die von uns rekonstruierten Deutungsmuster sind an bestimmte Bezugsprobleme im Kontext von Banken, deren aktuellen Krisen und dem Thema Nachhaltigkeit gebunden. Die Deutungsmuster werden nicht wie die Logiken durch das Hinzuziehen von Gesetzestexten, Websites und anderen Materialien zusätzlich angereichert. Mit den Logiken versuchen wir die objektiven Strukturen zu erfassen, die das Denken und Handeln der Menschen im Feld der Banken prägen und den hohen Institutionalisierungsgrad einer Logik widerspiegeln. Die Deutungsmuster wiederum erlauben eine genaue Beschäftigung mit dem geteilten Bezugsrahmen der sehr heterogenen Vertreter/innen der Banken. Sie geben zudem Hinweise auf wahrgenommene Handlungsprobleme und mögliche Ansatzpunkte für Veränderungen im Denken und Handeln der Banken. Während die Logiken das Feld eher in verschiedene Idealtypen aufteilen, fokussieren die Deutungsmuster die Gemeinsamkeiten der Akteur/innen.
5.3.4 Methode 3: Clusterung Die dritte Analyse ist eine Zusammenstellung und Sortierung derjenigen Aussagen, die in den Interviews zum Thema Stabilität getroffen worden sind. Das gesamte 6Für
eine nähere Beleuchtung des Verhältnisses von Deutungsmustern, Logiken und weiteren Konzepten, die in diesem Band verwendet werden, verweisen wir auf den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band, wo diese ausführlich dargestellt und voneinander abgegrenzt werden.
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Interviewmaterial wurde inhaltsanalytisch, angelehnt an Mayring (2010) und Kuckartz (2016), ausgewertet; die Clusterung erfolgte für diejenigen Aussagen, die dabei dem anhand unseres Leitfadens entwickelten Code ‚Finanzmarktstabilität‘ zugeordnet wurden. Dabei haben wir besonders die Standpunkte bei der Bewertung von Stabilität analytisch herausgearbeitet. Diese Analyse hilft damit, die Frage zu beantworten, inwieweit sich die nachhaltige Orientierung im Bankensystem auf die Finanzmarktstabilität auswirkt. Methodisch stellt unsere Clusterung eine Form der Inhaltsanalyse dar. Sie ist angesiedelt zwischen einer inhaltlich strukturierenden und typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016). Während ersteres die Codierung entlang von Kategorien bezeichnet, geht eine Typenbildung darüber hinaus, indem sie auf einer inhaltlichen Strukturierung aufbauend verschiedene Typen bildet (Kuckartz 2016). Für die Bildung unserer Cluster beziehungsweise allgemein für die typenbildende Inhaltsanalyse ist dabei irrelevant, welche Form der Kategorienbildung zuvor angewendet wurde, da es sich – laut Schreier (2014) – hier im Grunde genommen um zwei Verfahren handelt, um die qualitative Inhaltsanalyse und die Typenbildung. Schreier (2014) unterscheidet generell zwei Vorgehensweisen, entweder werden die Merkmale der Typenbildung vorher festgelegt und leiten die Inhaltsanalyse an oder die Inhaltanalyse ist der Typenbildung vorgeschaltet und mündet durch das Auffinden von Mustern und Zusammenhängen in einer Typologie. Wir haben die Inhaltsanalyse nicht auf Basis zuvor festgelegter Kategorien des Merkmalsraums durchgeführt, sondern im Anschluss an die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse eine Typenbildung vorgenommen, also die vorgefundenen Muster in den Aussagen zu Clustern verdichtet. Wichtig ist für die Typenbildung vor allem, dass ein Merkmalsraum beschrieben wird, wobei sich für die Beschreibung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen eben alle Formen der qualitativen Inhaltsanalyse eignen (Schreier 2014).7 Ganz allgemein führt Kuckartz (2016) die typenbildende Form der Inhaltsanalyse damit ein, dass „viele qualitative Methodiker […] die Bildung von Typen und die Entwicklung einer Typologie als das zentrale Ziel qualitativer Datenanalyse“ betrachten. Da der Kern der Typenbildung „die Suche nach mehrdimensionalen Mustern [ist], die das Verständnis eines komplexen Gegenstandsbereichs oder Handlungsfeldes ermöglichen“ (Kuckartz 2016), bietet unsere Clusterung eine weitere Möglichkeit, auf das Thema Nachhaltigkeit im Bankwesen zu blicken. Die Clusterung verbleibt – im Gegensatz zu der Deutungsmusteranalyse und den institutionellen Logiken – nah an den Aussagen der Interviewten und strukturiert die Unterschiede in der Wahrnehmung der Stabilitätswirkung nachhaltigen Bankwesens. Der durch den Fokus auf den Code ‚Finanzmarktstabilität‘ reduzierte Datenkorpus wurde hinsichtlich der am Code orientierten Frage ausgewertet, welche Perspektiven die
7Allgemein
zur Typenbildung in der qualitativen Forschung beziehungsweise zur typenbildenden Inhaltsanalyse siehe Kelle und Kluge (2010); Kuckartz (2016).
5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland
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Interviewten auf die Frage nach der Stabilitätswirkung einer nachhaltigen Orientierung auf dem Finanzmarkt einnehmen und welche systematischen Unterschiede sich daraus ergeben. Dazu wurden bei den Passagen die gemeinsamen Muster rekonstruiert, die zu diesen Aussagen und Bewertungen führten. Dabei haben uns die Perspektive der institutionellen Logiken und unsere Vorarbeiten zu Stabilität und Resilienz dafür sensibilisiert, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede auftreten können und zu beachten sind – beispielsweise eine Marktlogik, die sich auf Preisentwicklung und Profit bezieht oder eine Nachhaltigkeitslogik, die auf Stabilität für das öko-soziale System abzielt. Die Clusterung ergab vier verschiedene Antwortgruppen oder -typen beziehungsweise Perspektiven auf die Stabilitätswirkung von Nachhaltigkeit, die sich durch die folgenden drei Fragen beziehungsweise Dimensionen voneinander abgrenzen lassen: Erstens: Worin besteht das Risiko für wen? Zweitens: Wie wird was durch Nachhaltigkeit im Bankwesen stabilisiert? Drittens: Welche Perspektive nehmen die Betrachter/innen beim Blick auf den Finanzmarkt ein? Die vier verschiedenen Cluster, die sich durch unterschiedliche Ausprägungen zu den drei Fragen beziehungsweise Dimensionen ergeben haben, werden im Anschluss an die nun folgenden Ergebnisse der Rekonstruktion der Logiken und der Deutungsmusteranalyse dargestellt.
5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland Um die Fragen zu beantworten, was Nachhaltigkeit im deutschen Bankensystem bedeutet und welche Auswirkungen damit für die Stabilität des Finanzmarkts verbunden sind, haben wir mit der ersten Forschungsperspektive insgesamt fünf institutionelle Logiken im deutschen Bankwesen rekonstruiert. Diese zeigen die Struktur des deutschen Bankwesens auf und geben Hinweise, inwiefern eine Nachhaltigkeitslogik und die Dynamik zwischen den verschiedenen Logiken im Feld zur Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen können. Die Perspektive der institutionellen Logiken hilft dabei, präziser zu verstehen, wie organisationales Verhalten in einem sozialen Kontext verortet ist und welche sozialen Mechanismen dieses Verhalten prägen (Thornton und Ocasio 2008). Es wird deutlich, durch welche institutionellen Prägungen Organisationen und Individuen bei ihren Entscheidungen beeinflusst werden (Thornton und Ocasio 1999; Thornton et. al. 2012). Diese Perspektive ermöglicht es, sowohl die allgemeinen Eigenschaften der rekonstruierten Logiken als auch die Besonderheiten des deutschen Bankensystems zu erfassen. Die Banken in Deutschland sind von mehreren institutionellen Logiken geprägt. Die von uns rekonstruierten institutionellen Logiken basieren auf den institutional orders des inter-institutionellen Systems, wie sie von Thornton et al. (2012) sowie Thornton und Ocasio (2008) herausgearbeitet wurden. Diese institutionellen Ordnungen repräsentieren jeweils die Logik eines gesellschaftlichen Bereichs; dazu gehören der Markt, der Staat, die Gemeinschaft, die Religion, das Unternehmen, die Profession und die Familie. Zusätzlich verwenden wir für unsere Rekonstruktion die im Beitrag von Woschnack,
182
5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Fessler, Griese und Hiß in diesem Band eingeführte Logik der N achhaltigkeit. Von diesen Idealtypen auf der Makroebene leiten sich für die verschiedenen Felder, Organisationen oder Individuen entsprechende Logiken auf Meso- oder Mikroebene ab. Wir nutzen diese Idealtypen, um wiederum Idealtypen im Feld des deutschen Bankwesens zu rekonstruieren. Auf diese Weise können wir den Einfluss der kulturellen Faktoren, des sozial geteilten Glaubens über die Wirklichkeit sowie sozial geteilte Regeln und Handlungsmuster (Thornton et. al. 2012) erfassen. Die Makrologiken sind grundlegend für die Unterscheidung der verschiedenen Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata in einem Feld. Wir greifen diese daher für unsere Rekonstruktion auf und loten aus, ob und inwiefern sich die übergeordneten Makrologiken in dem von uns untersuchten Feld auswirken. Aufgrund des Einflusses dieser Makrologiken sind die Logiken auf der Feldebene aber kein reines Abbild dessen, was im organisationalen Feld passiert, sondern lassen sich als ein analytisches Werkzeug verstehen, mit dem verschiedene empirische Beobachtungen verglichen werden können (Thornton und Ocasio 2008). Zum Überblick des Verhältnisses der Makrologiken durch Thornton et al. (2012), der von uns rekonstruierten Makrologik der Nachhaltigkeit und den von uns rekonstruierten Feldlogiken bietet die Abb. 5.1 Orientierung. Wie bereits erwähnt, haben wir mit der Nachhaltigkeitslogik auf der Makroebene das inter-institutionelle System von Thornton et al. (2012) um eine zusätzliche institutional order erweitert, um Nachhaltigkeit erfassen und abgrenzen zu können (für eine ausführliche Darstellung und Herleitung der Nachhaltigkeitslogik auf der Makroebene siehe
Unternehmen Profession Gemeinschaft
Gemeinschaftsbasierte Bankenlogik
Staat
Staatsbasierte Bankenlogik
Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik
Markt
Marktbasierte Bankenlogik
Religion
Religionsbasierte Bankenlogik
Familie Institutionelle Ordnungen auf der Makroebene
Bankenlogiken auf der Feldebene
Abb. 5.1 Ebene der Analyse: Makroebene und Feldebene. (Quelle: Eigene Darstellung; Makroebene angelehnt an Thornton et al. 2012)
5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland
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den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Da aber nicht alle institutionellen Ordnungen auf das Feld der Kreditinstitute in der gleichen Weise einwirken, haben wir nur für fünf Makrologiken eine Entsprechung auf der Feldebene entdecken können. Um die Feldlogiken voneinander abzugrenzen, verwenden wir insgesamt sieben Dimensionen, die entsprechend der Grundidee und Definition institutioneller Logiken sowohl materielle Strukturen und Praktiken („structures + practices“) als auch symbolische Elemente („ideation + meaning“) umfassen (Friedland und Alford 1991; Thornton und Ocasio 1999; Thornton und Ocasio 2008; Thornton et al. 2012). Das heißt konkret, dass Logiken durch Sprache und andere Symbole kommuniziert werden, aber auch materiell beobachtbar („materially observable“) sind (Ocasio et al. 2017). Die einzelnen Dimensionen schließen dabei – angepasst an das Feld der Banken – an einige der Kategorien zur Beschreibung der Makrologiken an, da sich auf diese Weise herausstellen lässt, wie Individuen und Organisationen durch die institutionellen Ordnungen, also die Makrologiken, beeinflusst sind. Die Dimensionen verdeutlichen, wie sich die Banken im Feld verstehen, ihre Identität formen, also wie sie sich verhalten, wer sie sind, was die Logik ihres Handelns ist und wie gesprochen wird (Thornton et al. 2012). Die Dimensionen Ziele des Bankgeschäfts, Identität der Bank und das allgemeine Prinzip sind den Kategorien der Makrologiken entlehnt und dienen zur Beschreibung von materiellen und symbolischen Elementen der Feldlogiken; die Basis der Legitimation der einzelnen Feldlogiken verweist auf die entsprechenden übergeordneten Makrologiken. Die Dimension der Praktiken enthält empirisch auffindbare, materielle Ausprägungen dieser Logik. Da das Verhältnis zu Profit/Rendite im Feld der Banken einen elementaren Bestandteil der Handlungsziele darstellt, haben wir diese Kategorie wegen der speziellen Eigenschaften des Feldes eingeführt. Das gilt auch für die Dimension des Verantwortungsbereichs, die ebenfalls durch die Empirie geprägt und induktiv entstanden ist. Durch diese feldspezifischen sowie die aus der Makrologik entlehnten Dimensionen werden die Unterschiede der einzelnen Logiken deutlich. Diese Dimensionen sind aber nicht als erschöpfend zu verstehen, sondern haben – wie bei den Makrologiken – eher illustrativen Charakter für spezifische Fälle (Thornton et al. 2012). Für die neun Dimensionen der Makrologiken (Wurzelmetapher, Legitimationsquelle, Autoritätsquelle, Identitätsquelle, Basis der Norm, Basis der Wahrnehmung/ Aufmerksamkeit, Basisstrategie, informeller Kontrollmechanismus und ökonomisches System) geben Ocasio et al. (2017) an, dass sie nur provisorisch sind und je nach (empirischem) Forschungskontext auch nur bestimmte Dimensionen relevant sein können. Das bedeutet, dass es auch im Feld der Banken weitere Dimensionen geben kann, die zur Beschreibung und Erklärung der Logiken herangezogen werden können. Die von uns konstruierten Dimensionen erlauben es aus unserer Sicht, die Bankenwelt hinreichend zu durchdringen und in den Grundzügen zu erfassen. Damit deutlich wird, wie sich die Makrologiken zu den Feldlogiken verhalten, wird in Abb. 5.2 exemplarisch an der Nachhaltigkeitslogik die Beziehung zwischen den Dimensionen der Makrologik und den Dimensionen und Ausprägungen der Feldlogik aufgezeigt. Die Makrologik der
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Dimensionen
Ausprägung der Nachhaltigkeitslogik
Dimensionen der
Ausprägung der nachhaltigkeits-
institutioneller
(Makroebene)
Bankenlogiken
basierten Bankenlogik (Feldebene)
Identität der Bank
Dienerin für Menschen und öko-
Ordnungen Identitätsquelle
Verbindung mit ‚Natur‘, Erde, Planeten,
soziales System
Welt Basis der Norm
Teil eines komplexen Netzwerks
Basisstrategie
Schonung und bewusster Umgang mit
vielfältiger Lebewesen ökonomischen, sozialen und ökologischen Ressourcen informeller Kontroll-
Wissenschaft, internationale Institutionen, Nichtregierungs-
mechanismus
organisationen, globale Zivilgesellschaft
Verantwortungsbereich
Welt, Erde, Planet, ‚Natur‘
Verhältnis zu
Profit kein Selbstzweck, darf die
Profit/Rendite
Gesellschaft nicht schädigen
Praktiken
Nachhaltigkeitsbanken, nachhaltiges Investieren, etc.
Abb. 5.2 Beispielhafte Beziehung der Makro- und Feldlogiken anhand der Nachhaltigkeitslogik. (Quellen: Eigene Darstellung; die Dimensionen institutioneller Ordnung sind Thornton et al. (2012) entnommen, die Ausprägungen der Makrologik sind dem Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band entnommen; die Feldebene basiert hier in Kurzform auf den Ausführungen in diesem Beitrag)
Nachhaltigkeit und die Ausprägungen der Dimensionen wurde ausführlich im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band hergeleitet und vorgestellt. Tab. A.1 im Anhang bietet einen Überblick der fünf rekonstruierten Logiken anhand der eben erläuterten Dimensionen; für ein umfassendes Verständnis werden diese Feldlogiken und zum Teil die übergeordneten Makrologiken im Folgenden ausführlicher beschrieben. Zum besseren Verständnis und zur Rahmung der Feldlogiken werden zwei Eigenschaften der Makrologiken, die Legitimationsquelle und die Basis der Norm von Thornton et al. (2012) mit aufgeführt, da sie Teil der Legitimationsbasis der Makrologiken sind. Im Folgenden werden zunächst die fünf institutionellen Logiken nacheinander beschrieben, die das Feld der Bank strukturieren, bevor wir uns anschließend den stabilisierenden Elementen der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik zuwenden. Dabei gehen wir so vor, dass wir den Einfluss der Makrologiken als Legitimationsbasis der Feldlogiken jeweils kurz erläutern, ohne die Makrologiken selbst vollständig zu erklären und zu beschreiben (siehe dazu die Ausführungen in Thornton et al. 2012). Als Legitimationsbasis verweisen die Makrologiken auf die tief verwurzelten institutionellen Ordnungen, die das Feld der Banken in einer spezifischen Weise prägen. Sie sind durch neun Dimensionen gekennzeichnet: Wurzelmetapher, Legitimationsquelle, Autoritätsquelle, Identitätsquelle, Basis der Norm, Basis der Wahrnehmung/Aufmerksamkeit, Basisstrategie, informeller Kontrollmechanismus und das ökonomische System (Thornton et al. 2012). Die Ausprägungen dieser neun Dimensionen der Makrologiken buchstabieren aus, welche Werte, Normen, Überzeugungen und Praktiken mit der Makrologik in das Feld der Banken eindringen. Da Makrologiken gesellschaftlich tief verwurzelte Institutionen sind, die „represent sets of expectations for social relations and behavior“
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(Goodrick und Reay 2011), ist es wichtig diesen Einfluss auf der Feldebene in Abhängigkeit mit feldspezifischen Bedingungen zu rekonstruieren. Um herauszufinden, welchen Einfluss die Makrologiken haben und wie man sie unterscheidet und voneinander abgrenzt, kann man zum Beispiel vergleichen, auf welche Legitimationsquelle sich die handelnden Personen auf welche Weise berufen (Thornton et al. 2012): Ist es die bedingungslose Loyalität (Familienlogik), der Aktienpreis, der die Entscheidung beeinflusst (Marktlogik), oder die demokratische Partizipation (Staatslogik), auf die Handelnde sich beziehen und damit Legitimation erfahren? Das empirische Material kann somit gezielt etwa entsprechend der Rechtfertigungen, Identitätsquellen und Rollenvorstellungen von Banken sortiert werden, weshalb die Makrologiken als Metatheorie ebenso für die Rekonstruktion der Feldlogiken genutzt wurden wie das empirische Material aus dem Feld der Banken. Wir werden in unserer Darstellung nur die Dimensionen Basis der Norm, Legitimationsquelle und ökonomisches System der Makrologiken exemplarisch aufführen, da diese das Denkgebäude jeder Makrologik verständlich und die Rekonstruktion der Feldlogiken nachvollziehbar werden lassen. Lediglich für die Nachhaltigkeitslogik erweitern wir für ein besseres Verständnis den Kreis der vorgestellten Dimensionen der Makrologik. Insgesamt nutzen wir die folgenden Beschreibungen daher auch, um die Verbindung zwischen der Makround der Feldebene aufzuzeigen und den Einfluss darzustellen, den die institutionellen Ordnungen auf die Feldlogiken haben.
5.4.1 Marktbasierte Bankenlogik Die marktbasierte Bankenlogik ist durch die Makrologik des Marktes geprägt, die zugleich ihre Legitimationsbasis darstellt und in alle Dimensionen der Feldlogik hineinwirkt. Nach Thornto et al. (2012) ist der Aktienpreis die Legitimationsquelle der Makrologik und die Basis der Norm ist das Eigeninteresse. Das ökonomische System in dieser Logik ist die Marktwirtschaft. Für eine Feldlogik, die auch auf den Gegebenheiten des organisationalen Feldes aufbaut, leitet sich aus dieser Logik ab, dass das Ziel des Bankgeschäfts die eigene Profitmaximierung darstellt. Die Identität der Bank ist nach dieser Logik vor allem die einer Performerin oder Leistungserbringerin und ganz allgemein eines Motors der (Markt-)Wirtschaft. Das allgemeine Prinzip ist wiederum das der Profitmaximierung und das Verhältnis zum Profit und zur Rendite ist durch einen Druck geprägt, hohe Renditen zu erwirtschaften. Ganz ähnlich zu der Makrologik, bei der der Aktienpreis als Legitimationsquelle und das Eigeninteresse als Basis der Norm dient, liegt der Verantwortungsbereich der Bank hauptsächlich bei den Aktionär/ innen (und nicht etwa bei der Gesellschaft). Zu den Erscheinungsformen und Praktiken der marktbasierten Bankenlogik gehören die Geschäfts- und Privatbanken (GmbHs, AGs), das Prinzip der Shareholder-Value-Maximierung, High-Speed-Trading, massive Spekulationen mit hohem Risiko und hohen Gewinnspannen und ein globales Bankgeschäft.
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5.4.2 Staatsbasierte Bankenlogik Die staatsbasierte Bankenlogik wird durch die Makrologik des Staates beeinflusst, die unter anderem durch die demokratische Partizipation als Legitimationsquelle, die Staatsangehörigkeit als Basis der Norm und den Wohlfahrtskapitalismus als ökonomisches System gekennzeichnet ist. Das Ziel des Bankgeschäfts ist die Bereitstellung von Kapital für (unterversorgte) Gemeinden. Entsprechend der demokratischen Partizipation als Legitimationsquelle der Makrologik versuchen Banken innerhalb dieser Logik möglichst allen Bürger/innen Zugang zu Kapital und Geldgeschäften zu ermöglichen. Dem Prinzip von Angebot und Nachfrage oder der Suche nach maximalem Gewinn wird in diesem Idealtyp keine Priorität eingeräumt. Es ist vielmehr entscheidend, was die Bürger/ innen und Gemeinden ‚brauchen‘ oder was sich in einem demokratischen Verfahren als förderungswürdig oder -unwürdig erwiesen hat. Die Identität der Bank innerhalb dieser Logik ist folglich auch die einer Versorgerin für die Bürger/innen und einer Förderin; zudem versteht sich die Bank als Katalysator für wirtschaftliche Entwicklung über die Kredit- und Kapitalversorgung oder auch als Stabilisator bei der Geldversorgung in Fällen von Marktversagen. Das allgemeine Prinzip ist das des regionalen, das heißt territorial auf den Staat und dessen Einheiten begrenzten, ökonomischen Erfolgs auf Basis ordnungspolitischer Maßnahmen. Der Verantwortungsbereich, den Banken haben, liegt bei den Bürger/innen. Profiterwirtschaftung ist nicht die oberste Priorität dieser Feldlogik. Zu den Erscheinungsformen und Praktiken dieser staatsbasierten Bankenlogik gehören die Landes- und Förderbanken und die Sparkassen und deren Aufgaben, die finanzwirtschaftliche Versorgung und Wohlstandssicherung der breiten Bevölkerung zu gewährleisten, Förderkredite für Infrastruktur, Bildung etc. bereitzustellen sowie Kredite für die Realwirtschaft oder für Städte und Kommunen zu vergeben.
5.4.3 Religionsbasierte Bankenlogik Die religionsbasierte Bankenlogik fußt auf der Makrologik der Religion. Deren Legitimationsquelle liegt in der Bedeutung des Glaubens und der Heiligkeit in Wirtschaft und Gesellschaft; die Basis der Norm ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde beziehungsweise Ordensgemeinschaft. Das ökonomische System, das dieser Logik zugeordnet wird, gründet sich auf einer religiösen Ethik und ist – zumindest in westlichen Staaten – ein abendländischer Kapitalismus. Obwohl Religion normalerweise fern der ökonomischen Sphäre zu liegen scheint, ist auch diese Logik in die Produktion, Distribution und Konsumption von Waren und Dienstleistungen involviert (siehe dazu die Ausführungen in Thornton et al. 2012), weshalb sich die Ideen und Bedeutungen dieser institutionellen Ordnung auch in eigenständigen wirtschaftlichen Praktiken beziehungsweise einem eigenen Wirtschaftssystem zeigen. Auf Basis dieser Makrologik besteht das Ziel des Bankgeschäfts darin, die Geld- und Kreditversorgung für soziale und kirchliche
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Institutionen zu ermöglichen. Diese Versorgung muss dabei mit dem Glauben vereinbar sein oder zu wichtigen, überlebenssichernden Zielen der Institutionen beitragen. Die Bank hat hier die Identität einer Dienerin für die Ordens- beziehungsweise Glaubensgemeinschaft oder die einer Treuhänderin für das Vermögen dieser Gemeinschaft. Das allgemeine Prinzip ist die Verwaltung und Erhöhung des Einkommens von religiösen oder kirchlichen Institutionen, erreicht durch Profite in der Geldanlage. Ganz im Sinne der Logik ist auch das Verhältnis zu Profit und Rendite: Profit muss im Einklang mit religiösen Werten stehen beziehungsweise hat seinen Zweck darin, das Überleben und damit das gute Wirken der kirchlichen Institutionen zu sichern. Der Verantwortungsbereich ist die Gemeinde (Religionsgemeinschaft), Gläubige und kirchliche Organisationen. Zu den Erscheinungsformen und Praktiken der religionsbasierten Bankenlogik zählen die Kirchenbanken, Handlungsempfehlungen zum ethischen Investieren für Christ/innen oder auch die Haltung des Papstes zum Geld, die in seiner Enzyklika „Laudato si‘“ (Papst Franziskus 2015) zum Ausdruck kommt und auch in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“, wo er dazu aufruft, das Verhältnis zum Geld zu überdenken: „Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen“ (Papst Franziskus 2013).
5.4.4 Gemeinschaftsbasierte Bankenlogik Die gemeinschaftsbasierte Bankenlogik hat ihren Ursprung in der Makrologik der Gemeinschaft mit der Einheit von Willen, dem Glauben in Vertrauen und der Reziprozität als Legitimationsquelle. Die Mitgliedschaft in einer Gruppe dient als Basis der Norm und die genossenschaftliche Marktwirtschaft als ökonomisches System. Das Ziel des Bankgeschäfts ist in dieser Logik folglich die Kapitalversorgung für die Mitglieder einer Gruppe beziehungsweise Gemeinschaft zur Erfüllung von deren (nicht-finanziellen) Zielen. Die Identität der Bank ist die der Selbsthilfe: „Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele“8 . Das allgemeine Prinzip ist eine Geschäftstätigkeit, die mit den Bedürfnissen der Gruppenmitglieder übereinstimmt. Nur derjenige Profit ist wichtig, der den Zielen der Mitglieder dient; Profit an sich ist genau wie bei der staatsbasierten und religionsbasierten Bankenlogik daher kein Selbstzweck. Der Verantwortungsbereich sind die Mitglieder, die Gemeinschaft und die Region. Zu den Erscheinungsformen und Praktiken dieser gemeinschaftsbasierten Bankenlogik gehören die Genossenschaftsbanken mit dem Prinzip der gleichberechtigen Wahl, bei der jedes Mitglied unabhängig von der Zahl der Anteile eine Stimme hat. Ebenso dazu gehören die gemeinsamen Entscheidungen über die Verwendung von Geldern und das generelle Handeln der Bank; daneben finden sich in den Erscheinungsformen das regionale Prinzip (Gemeinschaft statt Staat) und Werte wie Solidarität und Partnerschaftlichkeit wieder. 8https://www.vr.de/privatkunden/was-wir-anders-machen/genossenschaftsbank.html; zuletzt abgerufen am 19.08.2019.
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5.4.5 Nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik Um die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik zu bestimmen, mussten wir zunächst in Anlehnung an die anderen Makrologiken des inter-institutionellen Systems eine entsprechende Makrologik konstruieren (siehe zur Herleitung und Vorstellung der Nachhaltigkeitslogik den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Die Ausbuchstabierung der Makrologik macht dabei nicht nur die eigenen Annahmen explizit, sondern unterstützt die Unterscheidung der verschiedenen analytischen Ebenen. Die Nachhaltigkeitslogik stellt dabei eine Makrologik ganz im Sinne der anderen Makrologiken dar; die entsprechende Bankenlogik bezieht sich jedoch wiederum auf die Eigenheiten und Bedingungen des organisationalen Feldes der Banken. Daher haben wir die Makrologik nicht nur aus den Informationen und Entwicklungen aus dem Feld der Banken rekonstruiert, sondern aus weltweiten Entwicklungen, politischen Institutionen und anderen Untersuchungen. Die von uns definierten Eigenschaften, die die Makrologik der Nachhaltigkeit in das Feld der Banken trägt, sind die Wurzelmetapher ‚Planet Erde als Lebensgrundlage‘, deren Legitimationsquelle die Wahrung der endlichen Ressourcen aller Lebewesen und somit das vorausschauende und langfristige Handeln ist. Identität spendet die Idee der Verbindung mit der ‚Natur‘, der Erde oder der Welt – also die Akzeptanz der Verbundenheit aller Lebewesen. Im Gegensatz zur patriarchalen (Familienlogik) oder bürokratischen (Staatslogik) Vorherrschaft sind es die Naturgesetze, die wir zum Teil schon kennen oder noch erforschen müssen, die die Quelle der Autorität bilden. Es ist die Mitgliedschaft in diesem komplexen Netzwerk vielfältiger Lebewesen, die hier – im Gegensatz zur Mitgliedschaft im Haushalt (Familienlogik) oder der Staatsbürgerschaft (Staatslogik) – die Basis der Norm darstellt. Folglich ist die Basis der Wahrnehmung dadurch geprägt, gleichberechtigter Teil eines großen Ganzen zu sein, wohingegen etwa bei der Religionslogik die Beziehung zum Übernatürlichen dem gleichen Zweck dient. Der informelle Kontrollmechanismus ist dementsprechend auch nicht die Verehrung der religiösen Berufung (Religionslogik), sondern sind die Wissenschaft, internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft, die die Naturgesetze erforschen, den Zustand der Erde erfassen und der Gesellschaft diese Informationen zurückgeben. Das ökonomische System der Makrologik ist eine sozial-ökologische Marktwirtschaft beziehungsweise eine Postwachstumsökonomie, die die Ressourcenschonung und den bewussten Umgang mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Ressourcen als Basisstrategie verfolgt. Bei der Staatslogik wäre es zum Vergleich der Wohlfahrtskapitalismus, der als ökonomisches System dieser Logik fungiert. Auf Feldebene ist das Ziel des Bankgeschäfts in der Logik der Nachhaltigkeit also, die Kapitalversorgung dementsprechend für alle zu gewährleisten und eine Wirtschaft zu unterstützen, die einen sozialen und ökologischen Mehrwert bringt beziehungsweise weder Umwelt noch Gesellschaft schadet. Die Identität der Bank ist folglich die einer
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Dienerin für die Menschen und indirekt für das sozial-ökologische System weltweit, das in dieser Logik stets mitgedacht wird, da die Identitätsquelle der Makrologik der Nachhaltigkeit die Verbindung mit ‚Natur‘, Erde und Welt darstellt. Das allgemeine Prinzip ist das der sozialen und ökologischen Rendite, verstanden als ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft. Das Verhältnis zum Profit und zur Rendite ist, entsprechend der Ressourcenschonung als Basisstrategie, maßgeblich dadurch bestimmt, dass die Profiterzielung keinen Schaden für das öko-soziale System verursacht, sondern einen sozialen und ökologischen Beitrag leisten soll. Langfristige Orientierungen sind in dieser Logik eine Quelle von Legitimität, sofern sie das Ziel der Wahrung der endlichen Ressourcen einschließen. Mit langfristigen Orientierungen als Teil der Quelle der Legitimität der Makrologik geht auch ein neues Verständnis von Rendite in der Bankenlogik einher, das sich nicht mehr auf kurzfristige Gewinnsteigerungen konzentriert. Der Verantwortungsbereich ist die Welt, da sich die eigenen Handlungen, im Falle des Bankwesens also Geldanlagen, Investitionen und Kreditvergaben, auf das gesamte öko-soziale System auswirken. Schließlich ist es entsprechend der Wurzelmetapher der Makrologik die Erde, die es über die Wahrung der endlichen Ressourcen aller Lebewesen zu schützen gilt, egal ob als Unternehmen, Bank oder irgendeine andere Organisation. Zu den Erscheinungsformen und Praktiken dieser nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik gehören Nachhaltigkeitsbanken, Nachhaltigkeitsratingagenturen, die Divestment-Bewegung, das nachhaltige Investieren mitsamt Verbänden (z. B. Forum Nachhaltige Geldanlagen) und vergebenen Siegeln, Zusammenschlüsse und Global-Governance-Einheiten wie die Finanz-Initiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP FI), die EU High Level Expert Group on Sustainable Finance, die Brundtland-Kommission und deren Nachhaltigkeitsdefinition oder auch die UN Prinzipien für verantwortungsvolles Investieren (UN PRI).
5.4.6 Zwischenfazit Bevor wir nun zur Frage nach der Stabilität des Finanzmarkts übergehen, fassen wir einmal kurz die Darstellung der institutionellen Logiken im Feld der Banken zusammen. Da es sich bei der Darstellung um idealtypische Feldlogiken handelt, beschreiben sie nicht, wie sich Banken konkret in der Realität verhalten. Sie sind vielmehr an die Realität angelehnte Rekonstruktionen auf Basis der Metatheorie sowie der empirischen Erhebung. Doch wie stellt sich das nun im Feld konkret dar? Alle Banken unterliegen gesetzlichen Regeln (z. B. dem Kreditwesengesetz) und müssen in irgendeiner Weise Gewinn machen, um weiterhin am Markt Finanzdienstleistungen anbieten zu können. Anders als in den idealtypischen Darstellungen, finden sich in der Realität des Bankwesens zudem verschiedene Kombinationen der Logiken, zum Beispiel sind Kirchenbanken oder Nachhaltigkeitsbanken entweder als Genossenschaften oder Aktiengesellschaften verfasst, die Praktiken der gemeinschafts- beziehungsweise marktbasierten Bankenlogik aufweisen. Die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik besitzt keine
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eigene Organisationsform und muss daher zwangsläufig auf eine andere zurückgreifen, sodass sich auf diese Weise Hybride der Logiken bilden. Religions- und Gemeinschaftslogik sind beispielsweise ein nahezu widerspruchsfreies Hybrid eingegangen, indem Kirchenbanken als Genossenschaftsbanken konzipiert vor allem religiöse Institutionen oder Gläubige als Mitglieder gewinnen. Eine solche Bank ist ihren Mitgliedern verpflichtet, die sich entsprechend ihres Glaubens als Wertegemeinschaft besonders christlichen Werten verpflichtet sehen. Religion und Gemeinschaft bilden hier ein Hybrid, das sich aber wieder entbinden kann, sobald sich Kirchenbanken für einen weiteren Kreis an Kund/innen und vor allem Mitgliedern öffnen. Die christliche Wertegemeinschaft könnte sich sodann auflösen und das christliche Profil verschwimmen, wohingegen die Idee der Gemeinschaft in der Rechtsform der Genossenschaft verwirklicht bliebe. Eine Bank kann aber auch mit unterschiedlichen Handlungen verschiedenen Logiken folgen. Landesbanken verfolgen zum Teil sehr wohl die Strategie der Profitmaximierung, was in der Finanzkrise von 2007/2008 zum Beispiel für die WestLB nicht nur zu einem Legitimations-, sondern auch zu einem finanziellen Problem wurde (Ott 2010). Nichtsdestotrotz lassen sich im Feld fünf grundlegend unterschiedliche Denk-, Legitimations- und Handlungsschemata im Feld der Banken in Deutschland identifizieren. Sie verweisen darauf, wie unterschiedlich die Rolle einer Bank wahrgenommen und das Bankgeschäft verfolgt werden kann, und welche Institutionen, also historisch gewachsenen Überzeugungen und sozialen Regelungen, die Wahrnehmung sowie das Denken und Handeln prägen. Sie zeigen auf, welche Legitimationsmuster etwa einer staatsbasierten oder nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik zugrunde liegen und wie diese die Rolle und Aufgabe der Banken determiniert und deren Denk- und Rechtfertigungsmuster beeinflusst. Während bei der Staatslogik die Legitimationsquelle in der demokratischen Partizipation besteht und der Wohlfahrtskapitalismus das ökonomische System darstellt, gehört bei der Nachhaltigkeitslogik eben die Wahrung der endlichen Ressourcen aller Lebewesen und die öko-soziale Marktwirtschaft als ökonomisches System dazu. Daher bildet sich die Identität der Nachhaltigkeitsbanken über die Vorstellung, dass man dem öko-sozialen System dient und nicht eine Leistungserbringerin sein muss, die hohe Rendite erwirtschaftet. Bei öffentlich-rechtlichen Banken bildet sich die Identität einer Versorgerin und Förderin der Bürger/innen und der lokalen Wirtschaft in Anlehnung an die Makrologik und die Idee, Wohlstand für alle zu generieren und Partizipation für alle zu gewährleisten. Öffentlich-rechtliche Banken sind dadurch legitimiert, dass sie allen Bürger/innen die Teilhabe am Finanzsystem ermöglichen und zunächst vor allem die nationale Wirtschaft mit Krediten versorgen. Dies machen sie wiederum nur, weil eine gesunde Wirtschaft den Wohlstand der Gesellschaft steigert – Profit ist hier kein Selbstzweck. Sie legitimieren sich eben genau dadurch, dass sie Wohlfahrt für alle steigern. In der Nachhaltigkeitslogik wird Legitimation verliehen durch die Konzentration auf die soziale und ökologische Rendite und die Abkehr vom konventionellen Profitmaximierungsziel mitsamt dem Ziel, die endlichen Ressourcen aller Lebewesen des Planeten zu wahren,
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langfristig zu denken und zu handeln. Daher verwundert es nicht, dass die Strategie der Nachhaltigkeitsbanken darin besteht, vom kurzfristigen Spekulationsgeschäft und dem von der Realwirtschaft zum Teil abgekoppelten internationalen Investmentgeschäft Abstand zu nehmen. Das Ziel der Wahrung der Ressourcen kann bei undurchsichtigen und kurzfristigen Geschäften, die nur auf Profit ausgerichtet sind, gar nicht verfolgt oder gar kontrolliert werden. Die Nachhaltigkeitslogik wirkt sich damit auf das Denken und Handeln der entsprechenden Banken aus, kann aber darüber hinaus auch Potentiale zur Stabilisierung des Finanzmarkts bergen.
5.4.7 Stabilisierende Wirkung der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik Im Folgenden widmen wir uns genauer dem Zusammenhang von Nachhaltigkeit und der Stabilität des Finanzmarkts, indem wir das Potential der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik für eine Stabilisierung oder Erhöhung der Resilienz von Finanzmärkten ausloten. Dazu gliedern wir das mögliche Potential, das eher einen Möglichkeitsraum umfasst, in zwei Teile auf: Der erste Teil bezieht sich auf die Eigenschaften der Nachhaltigkeitslogik; der zweite Teil auf die Dynamiken im Feld, die durch die Nachhaltigkeitslogik ausgelöst werden. Einschränkend sei gesagt, dass das Potential aufgrund des Fokus auf das Feld der Banken zunächst als auf dieses Feld begrenzt zu verstehen ist; da Banken allerdings sehr elementar für den gesamten Finanzmarkt sind, kann dieses Potential auch als eines verstanden werden, das vom Bankenfeld ausgehend den gesamten Finanzmarkt betreffen könnte. Inneres Potential der Nachhaltigkeitslogik zur Stabilisierung Um das der Nachhaltigkeitslogik innewohnende Potential zur Stabilisierung des Finanzmarkts zu erkennen, lohnt sich ein Blick auf die Besonderheiten dieser Feldlogik. Beim Vergleich der Logiken lässt sich etwa erkennen, dass lediglich die Nachhaltigkeitslogik ein Wahrnehmungs-, Denk- und Interpretationsschema für sozial-ökologische Krisen aufweist, weshalb insbesondere diese Logik auf der Feldebene Handlungsmuster bietet, die globale ökologische und soziale Krisen im Feld der Banken miteinbeziehen und Antworten darauf finden können. Zwar haben auch die staatsbasierte und die gemeinschaftsbasierte Bankenlogik jeweils eine lange Tradition in Deutschland. Sparkassen und Genossenschaftsbanken machen etwa zwei Drittel des deutschen Bankensektors aus (Bundesverband deutscher Banken e. V. 2014), allerdings beziehen diese sich kaum auf die gegenwärtigen sozial-ökologischen Krisen, die auch auf den Finanzmarkt übergreifen und dessen Stabilität gefährden können. Sparkassen finanzieren im Sinne einer staatsbasierten Bankenlogik regionale, mittelständische Unternehmen und erfüllen auf diese Weise ihre Funktion als Förderin der Region und gewährleisten eine breite Kapitalversorgung auch für kleinere Unternehmen. Zwar erscheint dies als durchaus sinnvolles Ziel, entspricht jedoch nicht den Erwartungen, die eine nachhaltigkeitsbasierte
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Bankenlogik in das Feld transportiert, da die Kreditvergabe der Sparkassen nicht daran gebunden ist, dass die Unternehmen einen ökologischen Mehrwert für die Gesellschaft erwirtschaften. Die Verantwortlichkeit für die gesamte Welt als sozial-ökologisches System in der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik steht im Sinne einer Handlungsorientierung der Verantwortlichkeit für Bürger/innen eines Nationalstaates beziehungsweise einer Region in der staatsbasierten Bankenlogik gegenüber. Des Weiteren bietet nur die Nachhaltigkeitslogik eine Perspektive an, die die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Natur systematisch in das Bankwesen inkludiert und die Rendite in ihrer grundlegenden Definition hinterfragt. Die staats-, religions- und gemeinschaftsbasierten Bankenlogiken verfolgen den Zweck, die jeweilige Gemeinschaft finanziell so zu versorgen, dass die Weiterentwicklung und das Überleben gesichert sind und gefördert werden. Es werden aber weder systematisch die Natur mit einbezogen noch über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinausgedacht – es zählen lediglich der Staat mit seinen Bürger/innen, die Religionsgemeinschaft oder die Genossenschaft. Insofern erweitert die Nachhaltigkeitslogik die Perspektive, die hier tendenziell nicht begrenzt ist: Die Handlungen und Renditen werden auch danach bewertet, ob sie Mensch und Natur im mehrere tausend Kilometer entfernten Indonesien schaden oder das Leben zukünftiger Generationen beeinträchtigen. Dementsprechend wird auch Rendite anders begriffen: Es wird in der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik nur das als Rendite verstanden, was der Gesellschaft einen ökologischen und sozialen Mehrwert bietet und dieser nicht zugleich schadet. Zwar erscheint auch bei den anderen Logiken die Rendite nicht als Selbstzweck, aber ein Umdefinieren in dieser Art findet dort nicht statt. Sie wird stattdessen angestrebt, um eine Entwicklung und die Ziele der Religionsgemeinschaft zu erreichen. Dieses unter anderem die Rendite betreffende neue normative Konzept, das in das Feld der Banken eindringt und in einigen Dimensionen die dominante Marktlogik stark kontrastiert, macht den Akteur/innen im Feld die Grenzen und Voraussetzungen ihres Handelns wieder bewusst. Indem Banken einzelne Aspekte ihres Handelns mit den normativen Erwartungen der Nachhaltigkeit in Einklang bringen (wie etwa Banken mit einer überwiegend religionsbasierten Bankenlogik) oder sich daran anpassen (wie etwa Großbanken, die teilweise entsprechende Nischenmärkte bedienen, ohne ihr gesamtes Geschäftsmodell zu ändern), können sich die stabilisierenden Elemente dieser Logik über explizite Nachhaltigkeitsbanken hinaus ausbreiten. Die Nachhaltigkeitslogik bietet damit einen Reflexionsraum für das gesamte Feld, der etwa das Hinterfragen von Renditestreben und Verantwortung von Banken ermöglicht und forciert und auf diese Weise auch zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts führen könnte. Potential durch die ausgelöste Dynamik im Feld Neben dem Potential für Stabilisierung, das sich aus der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik selbst ergibt, lässt sich auch ein Potential aus der Dynamik ableiten, die durch die Nachhaltigkeitslogik im Feld oder allgemeiner gesprochen durch eine Vielfalt institutioneller Logiken (Greenwood et al. 2010; Kraatz und Block 2008) ausgelöst wird.
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Eine solche Dynamik im Feld ergibt sich dabei aus der Abgrenzung oder Anpassung der verschiedenen Banken(-logiken) infolge des Auftretens der Nachhaltigkeitslogik. Die Nachhaltigkeitslogik fordert die anderen Logiken und die entsprechenden Akteur/innen im Feld heraus, sich von der neuen Logik abzugrenzen, um sich selbst in ihren Eigenarten zu behaupten. Wenn man sich als Bank dadurch seiner spezifischen Eigenschaften wieder bewusst wird, insbesondere auch gegenüber einer dominanten Marktlogik, kann das die Vielfalt in Denk- und Geschäftsmodellen, die Arbeitsteilung im Feld und die Anerkennung der sowie das Vertrauen in die verschiedenen Banktypen fördern und auf diese Weise zur Stärkung und Stabilisierung des gesamten Feldes beitragen. Sparkassen können sich beispielsweise wieder darauf besinnen, dass sie als regionale Akteurinnen für Stabilität und Beständigkeit stehen, die nicht unbedingt auf das zumindest vor der Finanzkrise geltende Image dynamischer und moderner Großbanken hinarbeiten müssen (Henneke 2010). Die Vielfalt und Arbeitsteilung im Feld trägt zudem dazu bei, dass sich das Risiko durch verschiedene Geschäftsmodelle teilt, da nicht sämtliche Banken internationale, riskante Großprojekte finanzieren müssen, sondern sich einige zum Beispiel allein auf den Mittelstand konzentrieren können. Durch das Eindringen der neuen Logik können die verschiedenen Banktypen ihre Eigenarten wiedererkennen, hervorbringen und als besondere Vorteile im Vergleich zu Banken herausstellen, die einer reinen Marktlogik folgen. Die neue Logik fungiert damit in gewisser Weise als Katalysator im Feld, welcher die Alternativen zur Marktlogik stärkt und als alternative Interpretationen vom Bankwesen unterstützt. Die Wirkung als Katalysator kann man in folgendem Beispiel sehen, wo die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit offenbar eine Reflexion über die Rolle und Aufgabe von Banken angeschoben hat und sich die Sparkasse da nun auch eindeutig positioniert. Ihre grundsätzlich andere Handlungslogik kann sie nun als Vorteil vor allem gegenüber Privatbanken herausstellen: Die Finanzbranche sollte sich stärker auf den Grundsatz der Nachhaltigkeit besinnen. Es kann nicht allein um die Maximierung von Renditen gehen. Geldinstitute sollten sich auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden und sich fragen, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen ihre Geschäfte haben. Die Finanzwirtschaft hat vor allem die Aufgabe, zu „dienen“ und zu „leisten“, sprich für andere Wirtschaftsteilnehmer die richtigen, weil sicheren Angebote bereitzustellen.9
Ein weiterer Weg zur Stabilisierung könnte über die Anpassung der anderen Banken und Logiken an die sich als nützlich erwiesenen Kriterien und Denkmuster der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik erfolgen. Dies könnte einerseits aufgrund der bereits beschriebenen Charakteristik dieser Logik zu einer Stabilisierung führen, aber andererseits auch dadurch, dass eine Anpassung an eine Nachhaltigkeitslogik die Legitimität der
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Sparkassen- und Giroverband, Das Profil 2011, S. 3; zu finden unter: https://www.dsgv. de/de/nachhaltigkeit/bericht_gesellschaft.html; zuletzt abgerufen: 07.03.2018.
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anderen Logiken vor allem in Zeiten der Krise erhöhen kann. So kann schließlich ein Nachhaltigkeits-Screening für das Risikomanagement einer Bank genutzt werden, die einer marktbasierten Logik folgt; Nachhaltigkeit erhält dadurch eine Relevanz selbst für jene Kreditinstitute und wird zu einem marktlichen Risikomanagementtool (u. a. C 7, A 3, B 29). Aber … aber den Hebel habe ich über das Risiko. Also, wenn ich an einen Menschen aus dem Finanzbereich, da rede ich jetzt auch für andere Banken, weil ich es von anderen Banken auch weiß, wenn ich den bewegen will, etwas zu tun, dann komme ich nicht mit „Mache es, weil es richtig ist“, sondern „Mache es, weil wir ein Risiko haben“. Und ich glaube, dass gerade diese Risikoperspektive durch alles, was irgendwie an gesetzlichen Rahmenbedingungen jetzt kommt, […], dass eben dieses Risikothema noch mal stärker wird. Ja? Und dabei geht aber leider manchmal verloren, dass in diesem ESG-Thema auch Chancen drin stecken. Ja? Aber wenn das der Hebel ist, dann ist es der Hebel. Ja, genau. (J 27)
Obwohl die Marktlogik dabei unverändert bleibt, kann sich die Bank so neuen Risiken anpassen; sie wird darüber legitimiert und zugleich vor in der Marktlogik bisher unbeachteten Risiken geschützt. Beides kann letztlich dem Vertrauen in die Institution des Finanzmarkts dienen und auch zu dessen Stabilisierung beitragen. Darüber hinaus bietet Nachhaltigkeit auch neue, spezifische Absatzmärkte. Durch die Integration bestimmter Risikobewertungen aus dem Nachhaltigkeitsbereich in die Marktlogik kann sich diese stabilisieren, und zwar ohne, dass sich das Geschäftsmodell der Banken oder tragende Dimensionen der Logik (z. B. das Primat der Profitmaximierung) verändern müssen. Ob diese Art der Stabilisierung wünschenswert ist, ist dabei eine andere Frage. Ebenso können die anderen Feldlogiken viele Prinzipien und Symbole übernehmen, um als alternative Handlungsmöglichkeiten zur bisher dominanten Marktlogik von der Legitimität der Nachhaltigkeitslogik zu profitieren. Der Sparkassen- und Giroverband berichtet zum Beispiel im Bereich Nachhaltigkeit bereits in Anlehnung an den Deutschen Nachhaltigkeitskodex des Rats für Nachhaltige Entwicklung und den Richtlinien der Global Reporting Initiative. Die Berichte (beziehungsweise Vorgängerberichte) erwecken dabei durchaus den Eindruck, dass sich die Trennung von Sparkassen und expliziten Nachhaltigkeitsbanken zunehmend auflöst: Sparkassen setzen sich für die Stärkung des jeweiligen Wirtschaftsstandorts ein, wirken ein auf ein familien-freundliches Umfeld mit bezahlbarem Wohnraum, guter Bildung, intakter Natur, zukunftsfähiger Energieversorgung, attraktiven Freizeitangeboten und dem Miteinander aller Generationen. Das sind unsere Eckpfeiler für eine nachhaltige Entwicklung. Eine fundierte Nachhaltigkeitsberichterstattung trägt mit dazu bei, diese Leistungen für eine nachhaltige Entwicklung und die Verankerung der Nachhaltigkeit in der Sparkasse transparent zu machen (DSGV 2015, S. 6).
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Man erkennt aber immer noch die staatsbasierte Bankenlogik als führende Logik der Sparkassen, mit dem gesetzlich festgelegten Ziel und öffentlichem Auftrag, die Kapitalversorgung der Bürger/innen sicherzustellen. Beispielsweise erkennbar an den Ausführungen unter der Überschrift „Produkte – alle nachhaltigen Produkte und Dienstleitungen der Sparkasse“: Das Indikatoren-Set „Produkte“ erfasst die Produkte und Dienstleistungen, die Sparkassen zur finanzwirtschaftlichen Versorgung und Wohlstandssicherung der breiten Bevölkerung bereitstellen (DSGV 2015, S. 7).
Auch die Kirchenbanken nutzen Standards, Produkte und Konzepte, die der Nachhaltigkeitslogik entspringen, um sich zu positionieren. Dabei wird aber deutlich, dass die Werte der Kirche im Vordergrund stehen und zunächst die Entscheidungen der kirchlichen Institutionen berücksichtigt werden: Ziel ist es, nachhaltige Aspekte bei der Geldanlage gleichberechtigt zu den „klassischen“ Zielen der Vermögensanlage – Rendite, Sicherheit und Liquidität – zu berücksichtigen. Bei der Definition der Ausschlusskriterien orientieren wir uns an den Zielen des konziliaren Prozesses, der auf der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Vancouver 1983 in Gang gebracht wurde und eine gemeinsame Verpflichtung der Weltkirchen auf Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung beinhaltet. Die Grundkonzeption des Filters erfolgte 2007 in Zusammenarbeit mit dem Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene.10
Nachhaltigkeit stellt hier nicht das grundlegende Wertegerüst dar, sondern die aus der Nachhaltigkeitslogik entsprungenen etablierten und legitimierten Praktiken und Produkte sind eher das Mittel, mit dem die letztlich christlichen Werte ausgedrückt und belegt werden. Aus diesen Werten leiten sich schließlich die Entscheidungen für das nachhaltige Bankwesen ab. An diesen Beispielen zeigt sich exemplarisch, wie die Nachhaltigkeitslogik das Denken und Handeln im Bankensystem beeinflusst und wie es beispielsweise die Akteur/ innen der religionsbasierten Bankenlogik durch eine Anpassung oder gar Synthese der Legitimationsgrundlagen stärken kann; nämlich indem sich der Kreis der Legitimation und der institutionalisierten Praktiken für das eigene wertebasierte Bankwesen erweitert. So wird nicht nur das kirchliche Bankwesen verändert und an neue Anforderungen angepasst, sondern es kann sich als besonders ‚nachhaltig‘ darstellen, weil es eben schon immer stark wertebasiert agierte. Für die Evangelische Bank drücken sich christliche Werte besonders in dem Ziel aus, Nachhaltigkeit mit den drei Säulen der ökonomischen, ökologischen und sozial-ethischen Verantwortung in der Bank langfristig zu verankern.11
10https://www.kd-bank.de/verantwortung/Nachhaltigkeitsfilter.html; 11https://www.eb.de/wir-ueber-uns/werte-kultur/werte.html;
zuletzt abgerufen: 07.03.2018. zuletzt abgerufen: 07.03.2018.
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Zugleich erkennt man aber auch die anderen Logiken, die bei Kirchenbanken eine Rolle spielen; etwa der Blick auf die Ertragsstärke mit Bezug zur Marktlogik oder auf die Interessen der Kund/innen, der sich auch daraus ergibt, dass Kirchenbanken und Nachhaltigkeitsbanken oft als Genossenschaften verfasst sind: Als eine kapital- und ertragsstarke Bank mit ausgewogenem Chancen-/Risikoprofil sowie einem stabilen, nachhaltigen Wachstum unterstreicht sie die Prämisse des nachhaltigen Geschäftsmodells.12 Das Fundament der Evangelischen Bank bilden christliche Werte. Für die genossenschaftlich organisierte Kirchenbank sind eine werteorientierte Geschäftspolitik und eine nachhaltige Geschäftsstrategie, die auf die Interessen und Bedarfe der Zielkundschaft fokussieren, von großer Bedeutung. Dies spiegelt sich im Unternehmensleitbild sowie den Führungsgrundsätzen und -leitlinien des Hauses wider (Evangelische Bank 2016, S. 5).
Die Genossenschaftsbanken präsentieren allgemein eine ähnlich starke, eigene Werteauffassung (wie die Sparkassen und Kirchenbanken), die mit der Idee der Genossenschaften zu tun hat. Sie hat eine lange Tradition in Deutschland, ist im Genossenschaftsrecht, welches zum übergeordneten Handels- und Gesellschaftsrecht zählt, eindeutig geregelt und gilt seit kurzem als immaterielles UNESCO-Kulturerbe13 . Die Gemeinschaftslogik ist demnach in Deutschland symbolisch wie materiell tief verwurzelt und besitzt einen hohen Institutionalisierungsgrad. Durch die Bindung an das Recht, wo die Gemeinschaftslogik fast in Reinform niedergeschrieben ist, findet man daher auf der Website der Volks- und Raiffeisenbanken folgendes Statement, das sich auch in weiten Teilen in eine Nachhaltigkeitslogik fügen würde: Volksbanken und Raiffeisenbanken sind Genossenschaftsbanken und haben damit einen ganz klaren Auftrag: Sie dienen der Förderung ihrer Mitglieder. Die Interessen der Mitglieder rangieren vor der Gewinnmaximierung. […] Genossenschaftsbanken sind keine reinen Wirtschaftsbetriebe. Sie verstehen sich als Wertegemeinschaft und richten ihr Handeln an klar definierten genossenschaftlichen Werten wie zum Beispiel Partnerschaftlichkeit, Vertrauen, Fairness und Verantwortung aus.14
Die Genossenschaftsbanken sind also durch die in ihr materialisierte Gemeinschaftslogik, inklusive der Abkehr vom Profitmaximierungsziel, bereits nah dran an einer Nachhaltigkeitslogik. Daneben bietet die gemeinschaftsbasierte Bankenlogik mitsamt der Rechtsform der Genossenschaft sowohl für die religionsbasierte Bankenlogik als auch für die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik eine Möglichkeit, sich als Bank auf Grundlage der eigenen Wertebasis und Orientierung und ohne Profitmaximierung als oberstes Ziel zu organisieren. Die Genossenschaft stellt eben eine Rechtsform dar, die nicht
12https://www.eb.de/wir-ueber-uns/werte-kultur/selbstverstaendnis.html;
zuletzt abgerufen: 07.03.2018. zuletzt abgerufen: 19.08.2019. 14https://www.vr.de/privatkunden/mitgliedschaft.html; zuletzt abgerufen: 19.08.2019. 13https://raiffeisen2018.de/starke-idee/weltkulturerbe;
5.4 Institutionelle Logiken im Feld der Banken in Deutschland
197
schon die Marktlogik, sondern die Gemeinschaftslogik impliziert. Die nachhaltigkeitsbasierte und die gemeinschaftsbasierte Bankenlogik unterscheiden sich jedoch dahin gehend, dass die Makrologik der Nachhaltigkeit sich eben nicht auf eine abgrenzbare Gemeinschaft beschränkt, wie hier die Genossenschaft, sondern die gesamte Menschheit, das gesamte öko-soziale System und die Schonung dieser Ressourcen in den Blick nimmt. Damit kann die Nachhaltigkeitslogik wiederum neue Handlungsorientierungen in das genossenschaftlich organisierte Bankgeschäft einbringen: Neben der Abkehr von der Profitmaximierung werden mit der Orientierung an sozial-ökologischen Kriterien bestimmte neue Werte in die Gemeinschaft eingeführt. Es wird eine Art Haltung eingebracht, die nicht nur die Gemeinschaft in der gegründeten Genossenschaft unterstützt, sondern mit dem Bankgeschäft die gesamte Welt zu fördern, zu entwickeln oder zumindest zu schonen sucht. Die Quelle der Autorität bei der Nachhaltigkeitslogik ist das Naturgesetz (siehe dazu die Rekonstruktion und Beschreibung der Nachhaltigkeitslogik im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band) und nicht nur die Verpflichtung gegenüber den Werten und Ideologien einer bestimmten Gemeinschaft (Thornton et al. 2012). Die Naturgesetze bestimmen dann die Grenzen des Handelns, nicht die von der Gemeinschaft geteilten Werte. Durch das Anpassen der Handlungsorientierung genossenschaftlich organisierter Banken an die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik wird es auch hier potentiell möglich, deren Legitimität zu steigern und auch über das der Nachhaltigkeitslogik innewohnende Potential zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beizutragen.
5.4.8 Zwischenfazit Die Rekonstruktion der institutionellen Logiken ermöglicht nicht nur eine differenzierte Betrachtung der Entwicklungen und Handlungen im deutschen Bankensystem, sondern eröffnet auch den Blick auf die potentiell stabilisierende Wirkung der Nachhaltigkeitslogik. Diese ergibt sich sowohl aus der Charakteristik der Logik selbst als auch aus den Anpassungsbewegungen und Abgrenzungsversuchen im Feld der Banken als eine Art Reaktion auf das Erscheinen der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik. Obwohl diese Wirkung nur als eine potentielle Wirkung verstanden werden kann, lässt der durch die Perspektive der institutionellen Logiken ermöglichte Einblick in die Struktur und Dynamik des Feldes eine Reihe an Wegen aufscheinen, die Nachhaltigkeit und Finanzmarktstabilität in eine direkte Beziehung setzen.
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Die fünf rekonstruierten Feldlogiken zeigen, welche gesellschaftlichen Institutionen das Feld der Banken beeinflussen und wie sich unter diesem Einfluss feldspezifische Wahrnehmungen von der Rolle und den Aufgaben der Banken ausbilden. Die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik besitzt im Vergleich zu den religions-, markt-, gemeinschafts- und staatsbasierten Bankenlogiken als einzige ein Wahrnehmungs- und Handlungsschema für sozial-ökologische Krisen. Durch eine andere Sprache, neue Identitäten, Produkte und finanzwirtschaftliche Infrastruktur (z. B. Ratings, Verbände, Siegel) im nachhaltigen Bankwesen werden die anderen Logiken herausgefordert. Zugleich werden sie aber gestärkt, da auch sie Alternativen im Bankgeschäft zur gerade nach der Finanzkrise 2007/2008 delegitimierten Marktlogik bieten können. Mit der folgenden Analyse der Deutungsmuster vertiefen wir das Verständnis von nachhaltigem Bankwesen und Finanzmarktstabilität auf einer weniger abstrakten Ebene und mithilfe einer anderen und kontextärmeren Analysemethode. Auch wenn sich die Ergebnisse aufgrund des deutlich verschiedenen Zugangs nicht direkt miteinander vergleichen lassen, zeigen sich dort auch zahlreiche Möglichkeiten, wie das nachhaltige Bankwesen zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen kann.
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit15 In der zweiten Forschungsperspektive, mit der wir das nachhaltige Bankwesen und dessen Potential für eine Stabilisierung des Finanzmarkts untersuchen, identifizieren wir Deutungsmuster im deutschen Bankwesen im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit (siehe zu den Unterschieden zwischen institutionellen Logiken und Deutungsmustern die vorangegangenen Ausführungen zu den Methoden und den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte mit normativer Geltungskraft. Es sind „strukturierte Argumentationszusammenhänge“ (Oevermann 2001), die auf einer tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt sind, die Interpretation und Wahrnehmung von Individuen organisieren und ihnen Antworten auf soziale Strukturprobleme geben (Meuser und Sackmann 1992; Oevermann 2001). Sie sind mehr oder weniger zeitstabile und stereotype Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe (Arnold 1983). Deutungsmuster geben Antworten auf Handlungsprobleme; sie zeigen auf, welche Probleme überhaupt als solche gedeutet und wahrgenommen werden, welche Werte und Bewertungsmaßstäbe diese Deutungen beinhalten und was für Handlungsregeln sich als Lösung daraus ableiten lassen (siehe auch Madeker 2008). Zum Beispiel liefert das Deutungsmuster der Mutterliebe, das das heutige Dasein von Frauen und ihre Beziehung zum Kind bestimmt,
15Eine etwas anders gelagerte und ausführlichere Herleitung und Darstellung dieser Deutungsmuster findet sich bei Hiß et al. (2018).
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit
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Deutungen und Normen über die Natur der Frau, ihre Persönlichkeitsmerkmale und die Mutter-Kind-Beziehung (Schütze 1992). Die Deutungsmuster, die sich durch unseren Fokus jeweils auf das nachhaltige Bankwesen beziehen, stellen durch ihr „Erkennungsschema“ (Madeker 2008) eines Problems und einer Handlungsregel also eine Quelle von Stabilität dar, weil sie Lösungen für die definierten Handlungsprobleme beinhalten. Sie können selbst aber auch Instabilitäten durch Widersprüche bewirken (Oevermann 2001). Basierend auf den diskursiven Interviews haben wir über die verschiedenen Banktypen hinweg drei Deutungsmuster identifiziert: Das erste Deutungsmuster beinhaltet die Abgrenzung zu ‚schlechten‘ Banken, das zweite verweist auf die Verantwortung von Banken für die Gesellschaft und das dritte Deutungsmuster dreht sich um die ‚richtige‘ Rendite, die Banken zu erwirtschaften haben. Die Deutungsmuster lassen sich durch drei Merkmale beschreiben: Problemdefinition, Wertvorstellung und Handlungsregel. Die von uns identifizierten Deutungsmuster verweisen folglich darauf, wie nachhaltiges Bankwesen als eine von vielen möglichen, partiellen Lösungen auf ein bestimmtes, in der Problemdefinition des Deutungsmusters zu erkennendes Handlungsproblem wirkt. Daraus lässt sich mit Blick auf die übergeordnete Frage ableiten, inwieweit sich Nachhaltigkeit im Finanzmarkt auf dessen Stabilität beziehungsweise Resilienz auswirkt. Wir stellen zunächst die Deutungsmuster vor, da sie unabhängig von der Frage nach Stabilität rekonstruiert wurden (siehe dazu ausführlich den Beitrag Hiß et al. 2018). Die Deutungsmuster enthalten, wie bereits genannt und in Tab. 5.1 ersichtlich, eine Problemdefinition, Wertvorstellung und eine Handlungsregel (Systematik angelehnt an Markova 2013; Schetsche 1992). Das Merkmal Problemdefinition verweist darauf, dass Deutungsmuster aus strukturierten Argumentationszusammenhängen bestehen, die sich bei der Herausbildung des Deutungsmusters auf ein spezifisches Handlungsproblem bezogen haben (Oevermann 2001). Jedes der drei im Folgenden näher beschriebenen Deutungsmuster zeigt dabei Möglichkeiten auf, mit welchen Wertvorstellungen verbunden u. a. das nachhaltige Bankwesen in Form einer Handlungsregel einen Beitrag zur Lösung eines spezifischen Problems leisten kann. Anschließend wird anhand der Deutungsmuster der mögliche Beitrag vom nachhaltigen Bankwesen zur Stabilität des Finanzmarktes nachgezeichnet.
5.5.1 Deutungsmuster 1: Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken Im ersten Deutungsmuster stellt das problematische Verhalten der Großbanken auch in der Verursachung der Finanzmarktkrise von 2007/2008 den gemeinsamen Bezugsrahmen dar. Diesen Banken werden, als zentrales Problem, die Intransparenz von Finanzprodukten, Spekulationen und die Profitmaximierung auf Kosten anderer (u. a. durch den bewussten Verkauf von sogenannten ‚Schrottpapieren‘) als zu verantwortendes Verhalten zugeordnet (Problemdefinition). Das Problem sind komplizierte Produkte sowie Profitmaximierungsziele, die auf Kosten der Gesellschaft gehen. Großbanken mit ihren aggressiven und teils illegalen Investmentstrategien werden als Verursacher/innen der
Banken sind gesellschaftlich relevante Akteurinnen, die Verantwortung übernehmen und die Zukunft der Gesellschaft mitgestalten sollen
Nutze deinen Gestaltungsspielraum und Löse den Widerspruch zwischen Rendite nimm Verantwortung für die Gesellschaft und Wertorientierung auf wahr
Geschäftsmodelle der Großbanken sind schädlich; sie handeln unethisch und riskieren die Zukunft der Gesellschaft
Grenze dich glaubwürdig von ‚schlechten‘ Banken ab
Wertvorstellung
Handlungsregel
Rendite ist legitim, notwendig und legitimitätsstiftend, darf aber nicht als Selbstzweck verfolgt werden
Banken müssen das richtige Verhältnis zwischen den gegensätzlichen Polen Renditestreben und Wertorientierung finden
Das Vertrauen in Banken und ihre Bedeutung als wichtige Akteurinnen in der Gesellschaft ist gefährdet bzw. bereits verloren gegangen
Profitmaximierende Geschäftsmodelle von Großbanken haben keinen gesellschaftlichen Mehrwert
Problemdefinition
‚Richtige‘ Rendite
Rolle der Banken in der Gesellschaft
Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken
Deutungsmuster Merkmale
Tab. 5.1 Übersicht der Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse. (Quelle: Hiß et al. 2018, S. 327)
200 5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit
201
Krise identifiziert; zudem wird damit eine ganze ‚Unternehmenskultur‘ problematisiert. Die in dem Deutungsmuster enthaltenen Wertvorstellungen sehen die Geschäftsmodelle der Großbanken als schädlich an; sie handeln unethisch und riskieren die Zukunft der Gesellschaft. Sie werden als negative Referenzfolie für ‚schlechte‘ Banken herangezogen, zu denen man sich, zur Lösung des Problems, glaubhaft abgrenzen sollte (Handlungsregel). Den ‚schlechten‘ Banken wird unterstellt, sie hätten keine Werte und handelten in diesem Sinne wertfrei. Ihr Handeln sei nur durch einen einzigen Zweck, den maximalen Profit, bestimmt. Ich glaube, das ist das größte Problem, dass diese Wertebasis, Wertvorstellung bei konventionellen Banken nicht vorhanden ist. (O 29) Ackermann16 hat mal gesagt, der Banker, der nicht 18 Prozent Nettorendite erwirtschaftet, ist kein guter Banker. Und jeder hat gewusst: „Das ist so ein Idiot!“ Weil, das gibt es nicht. Also, solche Geschäfte sind … sowas wächst … nur Krebs wächst so schnell, und nichts anderes. Und Krebs bringt uns um, und das bringt uns auch um. […] [D]ie Grundausrichtung … also, bei denen ist es so: Der Zweck heiligt jedes Mittel. (N 96-98).
Indem das nachhaltige Bankwesen neben der Rendite verstärkt ökologische und soziale Belange berücksichtigt, bietet es eine Wertebasis, die zur glaubhaften Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken genügt. Zeigt es doch, dass man statt einer reinen Renditeverfolgung eine Werthaltung besitzt, die dazu führt, dass man bestimmte fragwürdige Geschäfte eben nicht macht: Ich glaube, der größte Unterschied [zwischen uns und einer Deutschen Bank jetzt oder zwischen uns und einer Commerzbank oder einer klassischen Volksbank] ist, dass diese Frage dort überhaupt nicht mitgedacht wird, und bei uns an ganz vielen Stellen immer wieder auftaucht. Ist das nachhaltig? Dürfen wir das? Passt das zu unserem Geschäftsmodell? […] [Die Frage,] die bei allen Entscheidungen immer mitgedacht wird, so ein Mainstreaming dieses Nachhaltigkeitsgedankens. […] So eine Frage taucht nur in einem Nachhaltigkeitshaus überhaupt auf, wo Menschen einen anderen Radar haben, und es nicht nur um Risiko- und Renditekennziffern geht. (P 43) […] Und das ist ja dann schon ein starker Unterschied zu beispielsweise einer Deutschen Bank, die jetzt, ja, vielleicht ein bisschen was Grünes fördert, ein bisschen was sozial Positives, aber eben auch sehr viele schädliche Dinge wie Waffenhandel oder Umweltverschmutzung im Bereich von Atomkraftwerken. Und ich denke, der große Unterschied besteht einfach darin, dass die Leute sich bei uns sicher sein können, gut, da fließt eben nichts in fragwürdige Projekte oder in Spekulation. Und das ist dann natürlich ein krasser Absetzungsfaktor, wo wir einfach sagen, gut, das ist etwas komplett anderes. (I 21)
Um sich glaubhaft von ‚schlechten‘ Banken abzugrenzen, gibt es jedoch zahlreiche Wege: über die Zuordnung zur genossenschaftlichen oder öffentlich-rechtlichen Bankensäule, über die schiere Größe einer Bank oder eben über ein nachhaltiges Bankgeschäft.
16Josef Ackermann war seit 2002 Vorstandssprecher und ab 2006 bis 2012 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank AG.
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Gerne wird auch die eigene Andersartigkeit oder Nachhaltigkeit als Teil der DNA genannt (E 31-34; I 37-38; Q 28, O 9, 15, 21; L 23); Transparenz über die Geldflüsse und Vermeidung von undurchsichtigen Spekulationen hilft ebenso der Abgrenzung (I 31-33, C 29). Dabei besteht eine enge Verknüpfung zwischen der Praxis des wertebasierten Bankgeschäfts und den Argumenten, die für eine Grenzziehung zu ‚schlechten‘ und eine Zuordnung zu ‚guten‘ Banken vorgebracht werden. Während die Geschäftspraktiken zeigen, ob das Bankgeschäft wertebasiert ist, bedarf es für eine glaubwürdige Abgrenzung noch, dass man sich als Bank zu bestimmten Werten oder Ideen bekennt: Nein, das Fundament sind die Anlagerichtlinien, und die Transparenz ist die Folge des Fundaments, um glaubwürdiger zu sein. (F 18)
Schließlich können einen nur die ‚richtigen‘ Werte in der Bewertung darüber leiten, ob bestimmte Geschäftspraktiken oder Investments legitim sind – und nur die zertifizierten Geldanlagen und transparenten Investments zeigen, ob die Werte wirklich ‚gelebt‘ werden (O 29). Die wahrscheinlich extremste Form der Abgrenzung zu einem ‚schlechten‘ Großbankenhandeln sieht man in folgendem Zitat, in dem das Wertpapiergeschäft mit kriegsähnlichen Interaktionen verglichen wird, die man versucht, durch eine nachhaltige Wertorientierung menschlicher zu gestalten. […] im Prinzip kann man sagen, ich glaube, auch in einer kriegerischen Auseinandersetzung kann man sich menschlicher und weniger menschlich verhalten. Selbst wenn man der Überzeugung ist, also, ich würde alles tun, um niemals an einer kriegerischen Auseinandersetzung irgendwie beteiligt zu sein, bleibt es trotzdem richtig, dass man sich da drin, egal aus welchen Gründen man da reingeraten ist, trotzdem so oder so verhalten kann. Also, wir würden niemals einen hochspekulativen Handel oder überhaupt einen spekulativen Handel anstreben, sehen aber auch, dass man eigentlich auf allen Feldern versuchen kann, die Dinge auch unter schlimmsten Bedingungen immer noch versuchen, ein bisschen besser zu machen. So. Ne? (M 9)
Zusammengefasst bildet die Einteilung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Banken den gemeinsamen Bezugsrahmen dieses Deutungsmusters, auf den sich auch die anderen Banken, selbst Großbanken, beziehen, auch wenn sie natürlich versuchen, sich der Zuschreibung nicht anzunehmen. Das nachhaltige Bankwesen und die damit einhergehenden Praktiken bieten innerhalb dieser Deutung die Möglichkeit, zu den ‚guten‘ Banken gezählt zu werden. Gleichzeitig führt auch das nachhaltige Bankwesen zu dieser Polarisierung, indem es dem konventionellen Bankwesen ein völlig andersartiges Geschäftsmodell, eine Wertorientierung entgegenstellt und das konventionelle Bankwesen stark kritisiert (siehe dazu auch die Ausführungen zur nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik).
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit
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5.5.2 Deutungsmuster 2: Rolle der Banken in der Gesellschaft Im zweiten Deutungsmuster geht es um den allgemeinen Vertrauensverlust gegenüber den Banken und den damit einhergehenden Verlust an Bedeutung als wichtige Akteurinnen in der Gesellschaft (Problemdefinition). Als zentrale Ursache für diesen Bedeutungsverlust werden die problematische Art und Weise des Wirtschaftens sowie die Geschäftsmodelle der Banken ausgemacht. Die jüngste Krise hat nicht nur das Finanzsystem erschüttert, sondern es hat mit Bezug auf die Rolle von Banken in der Gesellschaft auch gezeigt, dass deren risikobehaftetes Verhalten der Gesellschaft Schaden zufügen kann. Als Lösung dieses Problems wird ein neues Rollenverständnis mitsamt Zielen vorgeschlagen, die aufzeigen, worin Banken ihre (neue) Verantwortung sehen. Darin steckt die Wertvorstellung, dass Banken gesellschaftlich relevante Akteurinnen sind, die Verantwortung übernehmen und die Zukunft der Gesellschaft mitgestalten sollen. Die daraus abgeleitete Handlungsregel lautet: Nutze deinen Gestaltungsspielraum und nimm Verantwortung für die Gesellschaft wahr. Während die einen sich auf das Bild des ehrbaren Kaufmanns beziehen (R 89) oder globale Standards nachhaltigen Investierens im Bereich von Banken betonen (J 31), verweisen andere darauf, dass Rendite in einer verantwortungsvollen Weise erwirtschaftet werden müsse (B 35): Damals war dann noch: „Ja, und außerdem machen wir dann auch gesellschaftlich Verantwortung.“ Und da ist halt die klare Logik der letzten Jahre: „Nein, das Eine kann man nicht vom Anderen trennen. Wir können nicht Rendite in einer verantwortungslosen Weise erwirtschaften, sondern eine Renditeerwirtschaftung muss auch immer mit einer bestimmten Verantwortungskomponente verbunden sein.“ (B 53)
Dieses Deutungsmuster problematisiert den Vertrauens- und Bedeutungsverlust, entstanden durch die problematische Art des Wirtschaftens. Die Deutungen und Werthaltungen richten den Blick nach außen hin zur Gesellschaft, speziell zu Kund/innen, Politik und Zivilgesellschaft sowie den Bürger/innen. Und ich glaube auch ganz wichtig in diesem klassischen konventionellen Bankwesen, gerade die großen aktiennotierten Banken, die haben eher immer das Ganze so von der reinen Shareholder-Perspektive aus gesehen. Und wenn man so nachhaltiges Bankwesen anschaut, dann ist das halt eine breitere Perspektive, eine Stakeholder-Perspektive, wo man eben auch, sage ich mal, vor- und nachgelagerte Kunden sich anschaut, und eben auch wo die Ökologie und Ähnliches eine große Rolle spielt. Dass man also viel mehr Anspruchsgruppen sozusagen berücksichtigt. (D 15)
Das nachhaltige Bankwesen versucht hier nicht nur Schäden zu reparieren, sich fair zu verhalten und ganz bestimmte Geschäftspraktiken zu unterbinden, sondern eine viel weiter gefasste Rolle einzunehmen. Dazu gehört die Idee, wieder zum „ursprünglichen Bankgeschäft“ zurückzukehren, das heißt vor allem die Realwirtschaft mit Geld zu versorgen und der Gesellschaft zu dienen – und nicht andersherum (u. a. M 5, 11, 44). Ein Ziel besteht in der aktuellen Situation darin, die Gesellschaft aufzuklären und ein
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Bewusstsein zu schaffen (G 22-24, 123, M 4-9). Das nachhaltige Bankwesen begreift sich daher als Transformateur der Gesellschaft: Und der Grundgedanke ist tatsächlich der, Banking in der ursprünglichsten Form durchzuführen. [Wir] investieren das in die Realwirtschaft, in Kredite, […] da schränken wir uns eben noch ein auf Branchen, Sektoren oder Projekte, von denen wir sagen: „Die unterstützen den Wandel in der Gesellschaft und bieten positiven Wandel.“ (L 9) […] oder mit unserem Angebot oder mit unserem Auftritt dafür sorgen, das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz eigentlich in den Köpfen der Menschen zu verankern. […] Und da leisten wir … na gut, man kann es jetzt Aufklärungsarbeit nennen, aber da leisten wir, denke ich, schon einen guten Beitrag, genau wie die anderen Nachhaltigkeitsbanken. […] Das gemeinsame Ziel ist einfach, die Gesellschaft nachhaltig umzustellen, sowohl Soziales als auch ökologisch. (I 216-223)
Die Ziele und Ansprüche des nachhaltigen Bankwesens gehen über eine Wiederbelebung alter moralischer Kodizes hinaus, indem sie Banken eine neue Rolle in der Gesellschaft zusprechen. Durch das Aufklären der Kund/innen und das Schaffen eines Bewusstseins in der Gesellschaft für Geld und Geldflüsse, zielt das nachhaltige Bankwesen nicht nur auf den Finanzmarkt selbst, sondern misst sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und den Auswirkungen der Bankgeschäfte über den Finanzmarkt hinaus (siehe auch dazu die obigen Ausführungen zur nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik, für die ein erweiterter Verantwortungsbereich charakteristisch ist). Damit wird auch dem Bedeutungsverlust der Banken entgegengewirkt, der ein zentrales Problem in diesem Deutungsmuster darstellt.
5.5.3 Deutungsmuster 3: ‚Richtige‘ Rendite Das dritte aus dem Interviewmaterial rekonstruierte Deutungsmuster problematisiert die (auch bei der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik thematisierte) von Banken betriebene Renditemaximierung (Problemdefinition). Demnach dürfe das Renditestreben nicht als Selbstzweck verfolgt werden, sondern müsse mit anderen Wertorientierungen im Einklang stehen. In dem Deutungsmuster steckt also die Werthaltung, dass Rendite legitim, notwendig und legitimitätsstiftend ist, aber nicht als Selbstzweck verfolgt werden darf. Daraus leitet sich die Handlungsregel ab, den Widerspruch zwischen Rendite und Wertorientierung aufzulösen. Zwar wird die ökonomische Notwendigkeit erkannt, Rendite zu erwirtschaften (u. a. A 8; B 23; C 57-66; L 42-45, 48-53; N 78; P 172-184), aber sie ist nur dann ‚richtig‘, wenn sie zusätzlich an Werte gebunden ist (C 57-66; L 48-53; M 4-9; P 172-180; R 20). Das heißt einerseits, dass hier die Nachhaltigkeitsbanken ihre Profitabilität eher beweisen und dazu „Bekenntnisse ablegen“ (R20, L10), und andererseits, dass auch Geschäftsbanken ihre Wertehaltung betonen müssen (B 53); hier wird der Bezug zum ersten Deutungsmuster deutlich. Dementsprechend lautet die Handlungsregel zur Lösung dieses Problems, dass Banken den Widerspruch zwischen Rendite und Wertorientierung auflösen müssen.
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit
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Produkte und bestimmte Geschäftsmodelle des nachhaltigen Bankwesens erscheinen dabei wiederum als mögliche Lösung, da mit Nachhaltigkeit bereits bestimmte Werte einhergehen. Indem soziale und ökologische Kriterien in die Bewertung von Anlageobjekten miteinbezogen werden, sind diese Belange etwa auch in die Erzielung von Rendite integriert. Während die zusätzlichen Werte sonst häufig diffus und wenig eindeutig erscheinen – geht es doch erst einmal ganz abstrakt um ‚Wert + Rendite = ‚richtige‘ Rendite‘ – kristallisiert sich im nachhaltigen Bankwesen sehr stark heraus, wozu Rendite dienen soll und wozu nicht, nämlich die Gesellschaft und Umwelt nicht zu schädigen. Und bei diesen Alternativbanken (das sind ja nicht nur wir, da gibt es ja noch die eine oder andere) stehen halt auch andere Ziele noch im Vordergrund. Also, bei uns ist es halt ganz explizit so, dass am Ende des Jahres der ausgeschüttete Teil des Bankgewinns wiederum in soziale Projekte fließt, sodass wir unseren Kunden auch sagen können: Okay, wenn du dein Geld in uns investierst, dann fließt das Geld insgesamt in einen ethischen Geldkreislauf, weil wir eben erst mal den Kunden ethisch beraten, es dann am Geldmarkt nach ethisch-nachhaltigen Kriterien anlegen und am Ende noch diese ethisch-nachhaltige Gewinnverwendung zu bieten haben. (G 21)
Der Notwendigkeit, im Wettbewerb der Banken und als Marktakteurinnen trotzdem Rendite erzielen zu müssen, wird auf eine Weise begegnet, die Nachhaltigkeit und Rendite nicht zu einem Widerspruch werden lässt. Im Gegenteil, es erscheint so, als ob beide eigentlich einander bedürfen: „Und wir glauben, dass Rendite nicht das Ziel ist, sondern das Ergebnis von nachhaltigem Handeln“ (L 11). Mit dieser Deutung von und Sicht auf Rendite werden Gemeinwohlinteressen und Renditeerzielung von Banken in einem gemeinsamen Rahmen harmonisiert.
5.5.4 Deutungsmuster, nachhaltiges Bankwesen und die Stabilität des Finanzmarkts Das Feld der Banken sowie der Finanzmarkt insgesamt sind durch erhebliche, zumindest potentielle Instabilitäten und Unsicherheiten geprägt. Banken stehen gegenwärtig vor zahlreichen Herausforderungen, insbesondere einem angesichts niedriger Zinsen kaum noch profitablen Geschäftsmodell, der Digitalisierung und der zunehmenden Konkurrenz durch Fintechs, der Regulierungen im Nachgang der Finanzmarktkrise von 2007/2008, erheblichen Reputationsschäden (Honegger et al. 2010) sowie Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Nachwuchs in einem Umfeld schließender Bankfilialen (Frühauf 2017). Die von uns rekonstruierten Deutungsmuster im Kontext des nachhaltigen Bankwesens geben Aufschluss darüber, was die Banken als problematisch wahrnehmen, welche Wertorientierungen, Normen und Interpretationsschemata sich daran anschließen und welche Handlungsregeln sich als Lösung des objektiven Handlungsproblems ableiten lassen.
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Im Folgenden zeigen wir anhand der zuvor vorgestellten Deutungsmuster, wie ein dementsprechender Beitrag des nachhaltigen Bankwesens für die Stabilität des Finanzmarkts aussehen kann; dabei blenden wir aufgrund unseres Fokus diejenigen Potentiale zur Stabilisierung weitgehend aus, die jenseits des nachhaltigen Bankwesens, etwa im öffentlich-rechtlichen Bankwesen liegen. Da die Bewertung, ob der Finanzmarkt stabil ist, jedoch stark von der betrachtenden Person und dessen Position abhängt, stecken die folgenden Ausführungen eher die sich aus den Deutungsmustern ergebenden Möglichkeiten einer Stabilisierung ab, als dass sie konkrete Maßnahmen darstellen, die bereits stabilisierend wirken. Das erste Deutungsmuster Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken problematisiert die fehlende Werthaltung, das Geschäftsgebaren sowie bestimmte Produkte und Finanzierungsarten von Großbanken. Die simple Aufteilung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Banken und die Abgrenzung von letzteren durch das eigene Geschäftsmodell, eigene Werte oder eine wie auch immer geartete Andersartigkeit versprechen eine Lösung des Handlungsproblems. Eine potentielle Quelle der Stabilität für das Bankwesen zeigt sich dabei in der Strategie der Abgrenzung von den Verursacher/innen der Finanzkrise und dem Verhalten, das diese Krise ausgelöst hat. Mit alternativen Orientierungen und Handlungsstrategien bietet das nachhaltige Bankwesen eine langfristige Perspektive, eine Ablehnung von Spekulation und High-Speed-Trading, eine Geldanlage nach sozial-ökologischen Kriterien und damit eine größtmögliche Opposition zum Handeln der kritisierten Großbanken. Diese Opposition zu den Investment-, Verkaufs- und Anlagestrategien und der dadurch bedingte Rückzug auf Kreditgeschäft und risikoarmes Spekulationsgeschäft kann – insofern man die Ansichten der krisenverursachenden Eigenschaften und deren Potential für Instabilität teilt – zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen. Ganz im Sinne des Deutungsmusters führt dabei die Unterscheidung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Banken zu einer Handlungsorientierung, bei der man nicht zu letzteren gezählt werden möchte. Das nachhaltige Bankwesen formiert sich zudem als nahezu perfekter Gegenspieler zu Banken, die jegliche Werte vermissen lassen, und damit als Sinnbild für die ‚gute‘ Bank: Wenn man dementsprechend nachhaltig agiert, scheint man quasi selbstverständlich zu den ‚guten‘ Banken zu gehören. Der dadurch entstehende Druck, als ‚gute‘ Bank anders zu handeln und die damit einhergehenden Versprechen einzulösen, um glaubwürdig zu bleiben, könnte eine disziplinierende Wirkung auf die ‚guten‘ Banken und damit ebenfalls eine stabilisierende Wirkung für das gesamte Bankensystem beinhalten. Die in diesem Deutungsmuster angelegte Reflexion über die eigene Branche schafft letztlich eine Voraussetzung dafür, dass sich die Branche Geschäftsmodellen widmet, die eher stabilisierend als zerstörend wirken. Im zweiten Deutungsmuster Rolle der Banken in der Gesellschaft wird der Bedeutungsverlust der Banken problematisiert, der kompensiert werden könnte, indem die Banken ihre Rolle verändern und Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Die Handlungsregel lautet dementsprechend, den Gestaltungsspielraum zu nutzen und Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen und zu zeigen, wo und wie
5.5 Deutungsmuster bei Banken im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit
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man Verantwortlichkeit lebt. Das nachhaltige Bankwesen bietet eine Lösung für den Bedeutungs- und damit einhergehenden Vertrauensverlust jenseits moralischer Kodizes wie dem des ehrbaren Kaufmannes oder jenseits der in den globalen Standards nachhaltigen Investierens materialisierten Normen. Es formt neue Rollen für Banken in der Gesellschaft als Aufklärerinnen, Gestalterinnen und Transformatorinnen, die eine Re-Positionierung als gesellschaftlich wichtige Akteurinnen und eine Wiedereinbettung in die Gesellschaft zur Folge haben. Durch eine andere, vor allem erweiterte Verantwortungsübernahme des nachhaltigen Bankwesens gegenüber der Gesellschaft anstatt gegenüber einem engen finanzmarktgeprägten Kreis von Akteur/innen, kann Vertrauen aufgebaut werden, was als elementar für die Stabilität eines Finanzsystems betrachtet werden kann (siehe dazu den Beitrag von Nagel zu Stabilität und Resilienz in diesem Band). Genauer gesagt liegt die Quelle der Stabilität hierbei in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umwelt durch das nachhaltige Bankwesen. Indem das nachhaltige Bankwesen die eigenen Handlungsmöglichkeiten und die damit zusammenhängenden Pflichten durch die Übernahme von Verantwortung gegenüber der Gesellschaft erweitert, beispielsweise indem es die Menschen über das Bankensystem, Geld und dessen Konsequenzen aufzuklären versucht, steigt der Anspruch, aber auch der Druck für andere Banken, die diesen Anspruch bislang nicht erfüllen (wollen). Das nachhaltige Bankwesen öffnet die Perspektive des Feldes für soziale Bewegungen, vielfältige Werteinstellungen und gesellschaftliche Entwicklungen, die normalerweise außerhalb des Feldes oder ohne Konsequenz für das Geschäftsmodell der Banken beziehungsweise das alltägliche Bankgeschäft geblieben wären. Durch die Rolle als Gestalter/in und Transformator/ in kann man eben nicht einfach einen Kredit an irgendwelche solventen Schuldner/innen vergeben, sondern muss sich fragen, inwieweit das die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft beziehungsweise die Stabilisierung des Finanzmarkts fördert. Neben der Möglichkeit, Vertrauen wiederzuerlangen, führt das nachhaltige Bankwesen damit zu einer verstärkten Reflexion und einem kritischen Hinterfragen der eigenen Handlungen und dessen Konsequenzen für die gesamte Umgebung und nicht nur allein bezogen auf die Finanzmarktakteur/innen. Ein mögliches Verstecken hinter Systemzwängen und aus finanzieller Perspektive rational anmutenden Argumenten erscheint in einem solchen Umfeld nicht legitim. Das dritte Deutungsmuster ‚richtige‘ Rendite deutet ein zentrales Element der Banken als problematisch, die Rendite. Sie kann für zu hoch gehalten werden, sodass ihr der Geruch von Illegitimität anhaftet; sie ist zudem eng mit Risiko verknüpft. Im nachhaltigen Bankwesen geht es um eine neue Definition von Rendite, die einen Mehrwert für alle generiert und gleichzeitig Rendite für die einzelne Bank verspricht. Da man ohne Rendite aber als Bank nicht bestehen kann, kann Rendite auch zu gering sein. Dieses Deutungsmuster thematisiert folglich den problematischen Zusammenhang von Gemeinwohlorientierung und Profit, der sich durch das Erwirtschaften der ‚richtigen‘ Rendite in ein unproblematisches Verhältnis überführen lässt.
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Als Quelle von Stabilität könnte sich hier wiederum ein reflexives Moment erweisen, da innerhalb dieses Deutungsmusters die beiden Pole Wert- und Renditeorientierung bewusst wahrgenommen und grundlegend als ein zu bearbeitendes Verhältnis thematisiert werden. Nachhaltigkeit verdeutlicht die Nicht-Selbstverständlichkeit einer reinen Renditeorientierung und eröffnet auf diese Weise Diskussionen und Reflexionen über das Geschäftsmodell, darüber, wie man Gewinne erwirtschaften will und was konkret als Rendite verstanden wird. Zudem führt das Heranziehen sozialer und ökologischer Kriterien bei Unternehmensentscheidungen und der Anspruch, dass Rendite der Gesellschaft nicht schaden darf, dazu, dass bei der Wahl der Anlageprodukte und in den konkreten Investitionsfeldern weniger Risiko eingegangen wird. Das nachhaltige Bankwesen, das sich stark an der Realwirtschaft orientiert und hochspekulative Geschäfte ablehnt, kann durch kurzfristig niedrigere Renditeerwartungen auch insgesamt mit weniger Risiko agieren und so die Volatilitäten auf dem Finanzmarkt, die durch ständiges und risikobehaftetes Handeln verursacht werden, abmildern. Die Renditedefinition und -erwartung des nachhaltigen Bankwesens hat einen stabilisierenden Effekt, da ein Interesse an langfristiger und stabiler Entwicklung der Geldanlage gefördert wird, die zudem gesellschaftlich wichtige Projekte finanziert.
5.5.5 Zwischenfazit Die Deutungsmuster zeigen, welche Probleme im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit für die Banken relevant sind. Dabei haben wir drei spezifische Problemfelder identifiziert: die Abgrenzung zu ‚schlechten‘ Banken, die Rolle der Banken in der Gesellschaft und die ‚richtige‘ Rendite. Die Deutungsmuster repräsentieren weiterhin Wertvorstellungen und daraus abgeleitete Handlungsregeln, die sich auf das jeweils beschriebene Handlungsproblem beziehen. Das nachhaltige Bankwesen haben wir dabei als eine Ausprägung der Handlungsregel in den Fokus gerückt. Die identifizierten Deutungsmuster dienen zugleich als Grundlage für die übergeordnete Frage nach der Stabilitätswirkung des nachhaltigen Bankwesens. Durch die Deutungsmuster wird ersichtlich, welche kollektiven Deutungen im Feld vorherrschen und welche Probleme es zu lösen gilt. Im ersten Deutungsmuster regt das nachhaltige Bankwesen zu einer Reflexion über Geschäftsmodelle von Banken an, die andere Akteur/innen im Feld der Banken nicht in dieser Weise vorantreiben. Wird das Geschäftsmodell und -gebaren der konventionellen Banken als krisenverursachend angesehen, bietet das nachhaltige Bankwesen Alternativen und kann damit stabilisierend wirken. Gerade das nachhaltige Bankgeschäft formiert sich als nahezu perfekte Gegenspielerin zu den delegitimierten Großbanken und fördert so weniger riskante und verstärkt ethische Bankpraktiken. Im zweiten Deutungsmuster, wo der Bedeutungsverlust der Banken als gesellschaftlich wichtige Akteurinnen problematisiert wird, kann das nachhaltige Bankgeschäft durch eine veränderte Rollendefinition neues Vertrauen in Banken ermöglichen, indem
5.6 Clusterung: Perspektiven auf die Stabilitätswirkung
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es versucht, für weite Teile der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Auch für das dritte Deutungsmuster, in dem die Profitmaximierung problematisiert wird und Akteur/innen aufgefordert sind, einen Ausgleich zwischen Gemeinwohlorientierung und Rendite zu finden, bietet das nachhaltige Bankwesen bereits Alternativen an. Indem umdefiniert wird, was Rendite bedeutet und der soziale und ökologische Mehrwert in eine Berechnung von Rendite miteinbezogen wird, wird die schädliche Wirkung auf die Gesellschaft abgemildert, die durch eine allein finanzielle Betrachtung von Rendite entsteht. Weiterhin werden Spekulationen abgelehnt, die der reinen Profitmaximierung dienen, wodurch Volatilitäten abgebaut werden und eine langfristigere Ausrichtung des Finanzmarkts möglich wird. Insgesamt hilft diese Forschungsperspektive zu verstehen, was Banken gegenwärtig im Kontext von Krise und Nachhaltigkeit umtreibt, was als Problem gedeutet wird und welche Möglichkeiten bestehen, diese zu lösen. Obwohl die Instabilität des Finanzmarkts kein zentrales Handlungsproblem darzustellen scheint, enthalten die drei identifizierten Deutungsmuster allesamt mehr oder wenige starke Bezüge zum Thema Stabilität. Krisengeschüttelte Großbanken, fehlende Verantwortung und eine grenzenlose Renditemaximierung führen eben nicht nur dazu, dass das nachhaltige Bankwesen als Alternative zutage treten kann, sondern auch dazu, dass das nachhaltige Bankwesen als förderlich für die Stabilität des Finanzmarkts erscheinen kann.
5.6 Clusterung: Perspektiven auf die Stabilitätswirkung durch die Befragten im Feld Einen weiteren Blick auf das stabilisierende Potential der nachhaltigen Orientierung von Banken eröffnen die Aussagen der interviewten Expert/innen. Damit widmen wir uns der am wenigsten abstrakten und kontextärmsten Analyse, die aber dafür einen direkten Bezug zur Stabilitätswirkung herstellt. Im Folgenden präsentieren wir die Antworten aller Interviewten auf die Frage, inwieweit sich die nachhaltige Orientierung der Banken auf die Stabilität des Finanzmarkts insgesamt auswirkt. Dabei lassen sich vier verschiedene Begründungstypen aus den Antworten (A-D) unterscheiden, die dem nachhaltigen Bankwesen eine stabilisierende Wirkung zusprechen; diese sind in Tab. A.2 im Anhang zusammengefasst und werden im weiteren Verlauf erläutert und mit Beispielzitaten belegt. Soweit möglich, wird ein Rückbezug zu den institutionellen Logiken und Deutungsmustern hergestellt. Der Fokus der Clusterung beziehungsweise Typenbildung liegt darauf, herauszuarbeiten, worauf sich nach Ansicht der Interviewten der stabilisierende Faktor der nachhaltigen Orientierung im Bankwesen bezieht. Es lassen sich insgesamt vier verschiedene Cluster identifizieren. Eine Stabilisierung kann demnach geschehen durch a) die ethische Ausrichtung des Bankwesens, b) durch Regulierung, Risikosensibilisierung und Reputationsrisikomanagement, c) durch Transparenz und Verantwortung von Banken und d) durch Langfristigkeit im Bankgeschäft. Wir betrachten jene Antworten aus den Interviews nicht näher, die dem
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n achhaltigen Bankwesen eine solche Wirkung gänzlich absprechen. Anhand von drei als Fragen formulierten Dimensionen lassen sich diese vier Typen charakterisieren; die Dimensionen erfassen, worin das Risiko für wen besteht, wie was durch Nachhaltigkeit im Bankwesen stabilisiert wird und welche Perspektive die Betrachter/innen beim Blick auf den Finanzmarkt einnehmen. Tab. A.2 im Anhang bietet einen Überblick über die Ausprägungen der drei Dimensionen bei den vier Typen.
5.6.1 A: Stabilisierung durch ethische Ausrichtung des Bankwesens Die erste Gruppe von Antworten schreibt der Nachhaltigkeit im Bankwesen einen stabilisierenden Effekt zu, der durch die in das Bankgeschäft hineingetragenen Werte und eine damit verbundene Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zustande kommt. Ähnlich wie die Eigenschaften der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik eine stabilisierende Wirkung entfalten könnten, wird hier einer Eigenart des nachhaltigen Bankwesens eine solche Wirkung zugesprochen. Auch wenn der Glaube daran, dass die Stabilisierung erfolgreich sein wird, eher gering ausfällt, wäre ein solcher Effekt auf die ethischen Grundlagen von Nachhaltigkeit zurückzuführen: Durch Nachhaltigkeit komme schließlich wieder Ethik in die Banken zurück. Ich glaube nicht, dass sie [Nachhaltigkeit; d. Autor/innen] [Krisen] komplett verhindern kann. Aber sie macht sie definitiv unwahrscheinlicher und vielleicht auch dann, wenn denn dann eine kommt, vom Ausmaß nicht so schlimm. F: Hmhm. Weil? Sozusagen, was ist da noch mal der Kern, der Vorteil? A: […] wenn man diesen langfristigen Fokus hat und einen gewissen Wertekanon, man einfach nicht alle Geschäfte macht, und wenn man halt so… ja, sich so überlegt, was so in der Vergangenheit so primäre Auslöser waren, waren das, glaube ich, immer eher… ja, so Themen, die, wenn man einen kompletten langfristigen Horizont in der Strategie und auch wirklich im Handeln hätte, man nicht umgesetzt hätte. (O 37-41)
Diese Gruppe von Antworten basiert auf der Annahme, dass vor allem einzelne Personen im Finanzmarkt ohne Moral und Ethik agieren und so zur Krise beigetragen haben, während das System des Finanzmarkts als solches durchaus funktioniert. Die Ursache der Instabilität wird bei einzelnen Individuen und ihren (unmoralischen) Entscheidungen gesehen, die sich dann auf die Strukturen des gesamten Finanzmarktes auswirken. […] bin ganz fest überzeugt, wenn Banken sich an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientieren, das bedingt, dass man bestimmte Geschäfte macht, bestimmte Geschäfte nicht macht, dass das insgesamt dazu führt, dass das Finanzsystem insgesamt stabiler ist. Ja? Und das wirkt noch mal ein bisschen weiter sozusagen, wenn ich Nachhaltigkeit auch ethisch verstehe, weil ich den Eindruck habe, dass ganz viele Sachen, von den … die jetzt in den letzten Jahren schiefgelaufen sind, […], die zum Teil zwar legal sind, aber nicht legitim, dass das alles auch eine ethische Dimension hat. Gar nicht so sehr vielleicht eine nachhaltige, sondern eher eine ethische. Und wenn man das mitdenkt und sagt, das sind Aspekte, die im Bankgeschäft in Zukunft eine Rolle spielen, dann trägt das mit Sicherheit sehr zur Stabilisierung des Finanzmarkts bei. (J 62)
5.6 Clusterung: Perspektiven auf die Stabilitätswirkung
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Die hier durchscheinende Hoffnung besteht also darin, dass durch die Nachhaltigkeitsorientierung wieder eine Auseinandersetzung darüber geführt wird, was (moralisch) legitimes Handeln im Bankwesen ist, anstatt sich nur nach der Legalität der Praktiken zu richten.
5.6.2 B: Stabilisierung durch externe Regulierung, Risikosensibilisierung und Reputationsrisikomanagement Eine zweite Argumentationsrichtung lässt sich am besten mit der marktbasierten Bankenlogik verstehen. Anstatt das Finanzsystem und seine (Fehl-)Anreize in den Blick zu nehmen, ist Nachhaltigkeit nur dann stabilisierend, wenn damit Regulierungen gemeint sind, die das zu regulieren versuchen, was sich vorher in der Krise als gefährlich und als Fehler erwiesen hat. Dem klassischen Nachhaltigkeitskonzept, bei dem bei Investitionen und Geldanlagen neben Rendite, Liquidität und Risiko eben noch weitere sozial-ökologische Kriterien bedeutsam sind oder durch das oftmals langfristig ausgerichtete Unternehmen finanziert werden, wird innerhalb dieses idealtypischen Clusters hier keine stabilisierende Wirkung zugesprochen. Das Nachhaltigkeitskonzept wird hier also nicht als konkrete Alternative im Feld verstanden, sondern als ein Weg, der externe Regulierung unter anderem hinsichtlich neuer Finanzprodukte nach sich zieht oder auch für bestimmte Reputationsrisiken sensibilisiert. Diese sind aber nur insofern wichtig, als sie sich finanziell bemerkbar machen: […] Also, wenn Sie diese ganzen regulatorischen Anforderungen auch unter dem Schlagwort Nachhaltigkeit sehen, dann würde ich … dann könnte ich mir schon vorstellen, dass es bestimmte Stabilisierungskonsequenzen hat. Das ist ja auch Ziel der Sache gewesen. Bei der Nachhaltigkeitsausrichtung sicherlich auch der Effekt, dass man heute über diese Prozesse bei neuen Produkten da sehr doch vorsichtiger geworden ist […]. Also, ist es ein Produkt, was möglicherweise unter Nachhaltigkeitsaspekten schwierig ist. […] auch die Sensibilisierung, dass man sich sagt, ist das, was ich tue, nicht nur juristisch richtig, sondern könnte ich auch damit leben, wenn anschließend in der Zeitung ein Bericht darüber stünde? […]. Wenn Sie das unter die Rubrik Nachhaltigkeit auch setzen wollen, dann ja. Aber ich würde das jetzt nicht überstrapazieren wollen. […] wie gesagt, die ganze Compliance-Welt und so, wenn man das auch unter Nachhaltigkeit versteht, dann sollten natürlich die Fehler der Vergangenheit sich so nicht mehr wiederholen und damit ein Stück weit Stabilität gewonnen sein. Aber, wenn Sie jetzt vom Nachhaltigkeitskonzept ausgehen, und überlegen, wie dieses Konzept, also sprich, dass es Anleger gibt, die sagen, ich will jetzt keinen Tabak, keinen Alkohol, keine Rüstung in meinem Portfolio haben: An dieser Stelle würde ich das ein bisschen schwieriger sehen. (B 41-43)
Auch hier geht es um die Reputationsrisiken, die durch die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien in der Unternehmensbewertung besser abgeschätzt werden können und somit auch für eine gewisse Stabilität sorgen:
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Also einmal ist es ja ganz schlicht, dass man bestimmte Reputationsrisiken vermeidet. […] Und das andere ist eben … diese Governance-Fragen, hat man ein vernünftiges Managementsystem, achtet man bei neuen Produkten auf Nachhaltigkeitsthemen, werden Projekte vernünftig geprüft auf Umwelt- und Sozialverträglichkeit … denn werden sie das nicht, dann gibt es womöglich nachher irgendwo einen Streik oder jede Menge Demos, jemand legt das Projekt lahm, und dann kann das auch plötzlich in die finanzielle Schieflage kommen. Also, es gibt da genug Argumente zu sagen, das hat auch seinen langfristigen finanziellen Sinn. Kurzfristig mag das alles immer noch irgendwie anders aussehen. (Q 53-54)
Der Stabilisierungseffekt liegt hier in der Langfristigkeit und Andersartigkeit der Unternehmensbewertung und damit in sinkenden Reputationsrisiken. Integriert in eine Marktlogik, werden Langfristigkeit oder Umweltschutz nicht an sich geschätzt, sondern als Faktoren, die sich auf den Marktwert auswirken könnten, falls sich die Investition als instabil und krisenhaft herausstellt. Daher könnten Nachhaltigkeitskriterien generell ein gutes Argument für langfristig orientierte Mainstream-Investor/innen sein, denn … […] die Nähe der Governance-Themen zu dem Thema ‚langfristige UnternehmensPerformance‘ und auch finanziell eben Performance, die ist unheimlich nah. […] insofern da gerade aus der Perspektive, da mehr auf die Nachhaltigkeit zu achten, ist für einen langfristig orientierten Investor sicherlich eine sinnvolle Maßnahme. (Q 52)
Die Stabilität bezieht sich hier also wiederum nicht auf den Finanzmarkt insgesamt, sondern zunächst auf die einzelnen Investor/innen. Wenn überhaupt, dann geht es um eine Art aggregierte Stabilität, die dadurch entsteht, dass einfach viele Investor/innen in Zukunft den Vorteil von Nachhaltigkeit hinsichtlich des Reputationsrisikomanagements erkennen. Da man die ‚guten‘ von den ‚schlechten‘ Unternehmen durch ein Nachhaltigkeitsscreening trennen könne, werde auch der Finanzmarkt stabiler, weil damit die Unternehmen finanziert werden, die keine sozialen und ökologischen Krisen verursachen und damit letztlich die Rendite gefährden (G 42). Es geht in diesem Cluster insgesamt darum, die Funktion der Liquidität und Rentabilität von Finanzmärkten aufrechtzuerhalten. Sofern Nachhaltigkeit das leisten kann und dazu beiträgt, hat es einen stabilisierenden Effekt. Anstatt, wie es die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik nahelegen würde, die Sichtweise auf Risiken oder Stabilität hinsichtlich des Standpunkts und der Einbeziehung anderer Systeme zu verändern beziehungsweise zu erweitern, verbleibt der Standort der Bewertung von Risiken und Stabilität ausschließlich im Inneren des Finanzmarkts und gebunden an die Logik des Markts.
5.6.3 C: Stabilisierung durch Transparenz und Verantwortung von Banken Die dritte Gruppe von Antworten lässt sich dagegen besonders mithilfe der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik verstehen: Stabilisierende Effekte werden hierbei in der Transparenz gesehen, die die Geldflüsse und die gehandelten Produkte im nachhaltigen
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Bankwesen auszeichnen. Durch die Nachvollziehbarkeit der Prozesse wird eine Überschaubarkeit darüber hergestellt, wo man investiert und was zukunftsfähige Investments sind, die letztlich in Stabilität münden können. Es zeigt sich darin die Überzeugung, dass die Stabilität durch Undurchsichtigkeit der Finanzgeschäfte gefährdet war und ist und deswegen eine mit Nachhaltigkeit verbundene Transparenz, bei der man weiß, was mit dem Geld passiert, zu einem stabileren Finanzmarkt beiträgt. Zudem wird hier auch das zweite Deutungsmuster wieder sichtbar, in dem es um die Verantwortung der Banken und ihre Rolle in der Gesellschaft geht. Hier wird im Interview, neben dem Bezug zur Stabilität, ebenfalls herausgestellt, wie stark die Machtposition der Banken ist und damit auch die Verantwortung, sich mit Investitionen grundlegend zu beschäftigen. Stellen Sie sich vor, die Banken stellen sich alle hin und sagen: Wir finanzieren keine Atomkraft mehr, wir finanzieren keine Kohlekraftwerke mehr. Dann ist das Thema durch. Vorbei, ne? Also, Sie haben einen extremen Einfluss. Das sollte man nicht unterschätzen. […] Alleine, sich mit der Frage zu beschäftigen und eine Bewertung vorzunehmen. […] da mal drüber nachzudenken. Nicht einfach blind so was zu übernehmen, auf eine Empfehlungsliste zu schreiben, sondern sich das mal anzukucken. Das bringt es. (K 100)
Der Anspruch an Transparenz verringere zudem die Spekulationsbereitschaft. Es geht nicht um eine generelle Absage an Spekulation, aber darum, bewusst kein hohes Risiko mehr einzugehen. Die Kurzfristigkeit, die den Spekulationspraktiken innewohnt, passt ebenfalls nicht zum nachhaltigen Handeln. Eigentlich, würde ich mal sagen, schließt sich [spekulatives Investieren und hoch riskante Geschäfte und Nachhaltigkeit] eigentlich sogar komplett aus. Also zumindest so ein … diese ganzen rein technisch getriebenen Dinge, Sekundenhandel und etc., das hat eigentlich mit nachhaltigem Handeln nichts zu tun. Und dann so was würden wir … auf eine solche Idee kämen wir gar nicht. […] Aber [das Investieren] mache ich ja, weil ich von dem Unternehmen überzeugt bin, und nicht nur eine Sekunde überzeugt bin. Von daher würde sich das für uns auch komplett ausschließen so was. […] (O 45)
Banken seien demnach in ihrer grundlegenden Aufgabe eher in einer Vermittlerinnenposition als in der Position einer Spekulantin zu verorten. Durch eine Änderung des Verständnisses für wen die Banken da sind und durch den erhöhten Anspruch an Transparenz tritt eine Mäßigung auf, die Risiken verringert und dadurch stabilisierend wirken kann. Also, ich glaube, es hilft unheimlich … Ich meine, der Finanzmarkt […] hat sich ja immer so ein bisschen durch Intransparenz und Unglaubwürdigkeit gekennzeichnet. Ich glaube, auf jeden Fall ist das positiv für die Stabilität, indem wir irgendwo so ein bisschen die Transparenz erhöhen, die Glaubwürdigkeit wird erhöht. Nur, wichtig ist natürlich, das kann nur dann passieren, wenn man das Ganze wirklich irgendwo als strategisches Thema sieht. Also, nicht nur ein Lippenbekenntnis. (D 55-57)
Hier erkennt man die Gültigkeit der Bezugsrahmen der Deutungsmuster, die mit ihren unterschiedlichen Fokussen auf die Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken, die Rolle und Verantwortung der Banken und die ‚richtige‘ Rendite insgesamt die
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eschäftspraktiken und Rollenerwartungen konventioneller Großbanken in krisenhaften G Zeiten problematisieren. Durch eine neue Rollendefinition, in der Banken für die ‚Leute‘ da sind (Deutungsmuster 2), wird auch die Spekulationsbereitschaft geringer ausfallen, da es nicht zu den Wertvorstellungen passt und den Handlungsregeln der ersten beiden Deutungsmuster („Grenze dich glaubwürdig ab, um zu den Guten zu gehören beziehungsweise übernimm Verantwortung für die Gesellschaft“) widerspricht. Man hält sich dann eben „komplett fern“ (I 23) von Spekulationen, weil man eben nicht konventionelles Banking betreibe. […] ich meine, diese Instabilität beruht ja eigentlich darauf, dass sich die Banken auch teilweise gegenseitig irgendwelche Papiere zugeschustert haben, von denen sie wussten, oh, das ist eigentlich Mist, und da froh waren, dass die anderen es genommen haben. Natürlich, also ich meine, Spekulation in einem gewissen Maße ist kein Problem, ist völlig in Ordnung. Aber wenn das halt so perverse Züge annimmt, dann ist natürlich die gesamte Stabilität da auch in Gefahr. (I 27)
Wie wichtig das Argument der geringeren Spekulationsbereitschaft ist, wird auch in folgendem Zitat deutlich. Diese Abkehr ist aber in viele weitere Begründungen eingeflochten, die sich mit der Nachhaltigkeitslogik verstehen lassen. Denn dahinter steckt eben auch eine neue Rollendefinition, für wen Banken da sind und was sie ausmacht. […] dann denke ich schon, dass dort die Spekulationsbereitschaft deutlich geringer ist. Weil man eben sagt, man will nicht mehr dieses hoch riskante Geschäft haben, dieses undurchsichtige Geschäft. Ich denke, da geht es auch sehr viel um Transparenz, und zu zeigen, das machen wir mit eurem Geld. Also, Banken sind ja per se nicht dafür da zu spekulieren, sondern sind ja dafür da, Geld von Leuten, die es haben, an Leute zu geben, die es nicht haben. Und ich denke mir, dass man da wieder zu diesen Wurzeln zurückkommt, was eigentlich Bankgeschäft ausmacht. Das ist das, warum diese Banken dann doch eher gegen so großspurige Spekulationen sind. (I 33)
Der Überschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit von Investitionen, die angetrieben werden durch eine nachhaltige Orientierung und Verantwortung hinsichtlich der Wirkung von Geld, wird hier die Stabilitätswirkung zugeschrieben. Durch spekulatives Investieren wäre diese Nachvollziehbarkeit nicht gegeben. Die Stabilität speist sich hier demnach vor allem aus dem transparenten Handel von Finanzprodukten, der Folge von der nachhaltigen Orientierung ist und weder rein aus der ethischen Ausrichtung des Bankwesens (A) noch aus äußeren Einflüssen wie einer möglichen Regulierung (B) resultiert. Das, was ich mache, ist nicht hochspekulativ. Ich gehe nicht in Derivate-Produkte rein, ich lasse die Finger von Dingen, die ich nicht nachvollziehen kann, sondern das Ganze ist überschaubarer, nachvollziehbar und damit letztendlich stabiler (P 78).
Der Transparenz wird deswegen so ein hoher Stellenwert zugeschrieben, weil dadurch erst die Durchsetzung dessen ermöglicht wird, was Nachhaltigkeit im Bankwesen eigentlich ausmacht, nämlich das Geld nach sozial-ökologischen Kriterien anzulegen sowie nach einer Wertorientierung zu handeln.
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Mithilfe der Perspektive der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik wird auch klar, dass die Begründungen der Interviewten, ob Nachhaltigkeit einen Beitrag zur Stabilisierung des Finanzmarkts leisten kann, eine gänzlich andere Bewertungsgrundlage enthält als bei der marktbasierten Perspektive. Nachhaltiges Bankwesen wirkt in dieser Argumentationsweise stabilisierend, weil es die Auswirkungen auf Menschen und Umwelt zur Bewertung heranzieht. Es geht also nicht nur um die Stabilität des Finanzsystems, sondern um die Stabilität der ganzen Gesellschaft. Hier wird deutlich, wie stark der Einfluss der Nachhaltigkeitslogik der Makroebene auf die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik ist, da die Vorstellung grundlegend ist, ein ‚Teil des Ganzen‘ und eben nicht nur eines Markts zu sein, die endlichen Ressourcen zu wahren und die Erde als Lebensgrundlage in den Mittelpunkt zu stellen (siehe dazu die Beschreibung der Nachhaltigkeitslogik im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Das Verständnis für eine „unsinnige Wirkung“ aus dem Geldsektor (M 34) lässt sich nur aus dieser Perspektive begreifen, bei der der Finanzmarkt als Teilsystem eines größeren Systems der Gesellschaft gewertet wird. Aus der Perspektive der Marktlogik werden vor allem die Wirkungen auf den Markt selbst beziehungsweise dessen Akteur/ innen betrachtet: Ökologische und soziale Belange sind dann äußere Faktoren, die zwar die Stabilität des Finanzmarkts gefährden können, aber die Wirkungen des Finanzmarkts als Stabilitätsfaktoren für das gesamtgesellschaftliche System werden nicht betrachtet (siehe dazu auch die Grafik in Tab. A.2 im Anhang). […] Also, das begegnet man einfach in Diskussionen immer wieder, dass Menschen sagen: „Nachhaltigkeit, komm, jeder sagt doch, er ist nachhaltig.“ Stimmt auch in einer gewissen Weise, aber dem muss man entgegentreten, muss man sagen, das ist ein sehr, sehr wichtiger Begriff, und es lohnt sich auch, für diesen Begriff einzusetzen. Also, von daher glaube ich, wenn das wirklich sich in dieser Richtung entwickelt, hat das eine enorm stabilisierende Wirkung, weil es eigentlich eine unsinnige Wirkung aus diesem Geldsektor herausnimmt oder wesentlich stärker zurückdrängt. Aber auf dem Weg dahin kann es, glaube ich, eine ganze Menge Instabilitäten geben, dadurch dass eben namhafte Akteure einfach sich weigern zu erkennen, was jeder sehen kann […]. (M 34)
Durch die Anpassung der konventionellen Akteur/innen könne es nach dieser Aussage zwar noch zu großen Verwerfungen auf dem Markt kommen, aber am Ende stehe Stabilität, sofern sich Nachhaltigkeit als Leitprinzip durchsetzen kann. Da das gegenwärtige System eher negativ bewertet wird im Hinblick auf die Stabilität und die daraus entstehenden Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft, bietet die strukturelle Veränderung und Anpassung des heutigen Systems eine Möglichkeit der Stabilisierung. Der Bezug für die Stabilität liegt dabei wiederum außerhalb des Finanzmarkts, der Bezug zum ‚Ganzen‘ liegt nicht im Verhältnis von Banken (als Teil) zum Finanzmarkt (als Ganzes), sondern bei Banken beziehungsweise dem Finanzmarkt als Teil von Umwelt und Gesellschaft. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass allein eine Stabilisierung
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des Finanzmarkts noch nicht mit einer Stabilisierung für die Gesellschaft einhergehen muss, bei der es in diesem Zusammenhang um die existentiellen sozialen und ökologischen Grundlagen des Zusammenlebens geht und nicht etwa um einen liquiden, funktionierenden Geldkreislauf. Ja klar, Hochfrequenzhandel und Spekulation machen die Welt instabil und wenn man das lässt … wird es stabiler. Oder wenn man eben nicht mehr in Atom oder Gentechnik, die die Welt auch unsicherer macht, investiert. Bei Atomkraftwerken, wer entsorgt das am Schluss, nicht die, die die Gewinne gemacht haben. Oder wir, die hier am Tisch sitzen? Stabile Systeme in der Biologie sind vielfältige Systeme. (F 52)
Wie im ersten Deutungsmuster führt die Argumentation dieses Clusters der Aussagen der Interviewten zu einer Abgrenzung; während das nachhaltige Bankwesen die Gesellschaft im Blick hat, betrachtet das konventionelle Bankwesen nur sich und den Finanzmarkt. Mit Transparenz und einem neuen Rollenverständnis vermag es daher vor allem dem nachhaltigen Bankwesen gelingen, stabilisierend auf Finanzmarkt (und Gesellschaft) zu wirken.
5.6.4 D: Stabilisierung durch Langfristigkeit im Bankgeschäft In einer letzten Gruppe von Antworten wird vor allem der Langfristigkeit als Teil des Nachhaltigkeitsgedankens eine stabilisierende Wirkung zugesprochen, da kurzfristige finanzielle Steuerungen im Hinblick auf Stabilität wenig hilfreich erscheinen. Der Blick auf Stabilität mit Bezug zu Langfristigkeit bezieht sich hier insgesamt eher auf eine systemische Ebene des Finanzmarkts als auf eine Bewertung der Stabilität vom Standpunkt der Gesellschaft aus. Es wird zwar das gesamte System und dessen Überlebensfähigkeit bewertet, aber nicht im Bezug zur Gesellschaft (C) oder im Bezug zur inhaltlichen Beschäftigung mit Risiken im Finanzmarkt und deren finanzielle Auswirkungen (B): Oder ich bin eben eine Bank und muss eben auch meine Bank entsprechend managen. Und je stärker die Aspekte der Nachhaltigkeit da eine Rolle spielen, egal ob im Umweltbereich oder im Sozialbereich, desto besser bin ich eigentlich aufgestellt, um auch gerade für zukünftige Herausforderungen gewappnet zu sein. Also, nehmen wir gerade den Bereich der sozialen Nachhaltigkeit und wie gehe ich mit meinen Mitarbeitern um. Dann sind die Unternehmen und die Banken, die da den Weitblick haben, […] dann sind die natürlich besser aufgestellt und an der Erkenntnis führt inzwischen eigentlich auch kein Weg mehr dran vorbei. […] Ein weitsichtiger Investor achtet viel, viel mehr darauf, wie ein Unternehmen oder eine Bank insgesamt aufgestellt ist und nicht nur, ob die Dividende jetzt 10 Cent höher oder niedriger ausfällt. (G 44)
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Nachhaltigkeit wirke sich dann auf die Stabilität aus, wenn darunter Langfristigkeit verstanden wird. Mit einem Wechsel des Zeithorizonts und einer Weitsichtigkeit könne aus dieser Perspektive Stabilität in den Finanzmarkt gebracht werden, wobei Langfristigkeit eben nicht zwangsläufig nur mit der Nachhaltigkeitslogik in Verbindung steht. […] Also, ein Link, würde ich halt sagen, ist schon, dass das Thema Nachhaltigkeit auch zunehmend auch aufsichtsgetrieben wird. Halt auch die EBA [Europäische Bankenaufsicht; d. Autor/innen] verlangt ein nachhaltiges Geschäftsmodell oder ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell, sagen wir mal so, Nachhaltigkeit im Sinne von Zukunftsfähigkeit. […] Da würde ich sagen, da zeigt sich das Thema Nachhaltigkeit stark im Sinne von … von … von … von Krisenfestigkeit […]. Und wenn man jetzt mal wegkommt vom klassischen Nachhaltigkeitsbericht („Ich verbrauche nur so viel wie ich selber erwirtschafte“), sondern ganz einfach so handle oder ganz einfach meine Unternehmenspolitik so fahre, ich handle heute so, dass es mich morgen noch gibt, dann denke ich, wirkt sich das Thema Nachhaltigkeit sehr stark aus. F: Hmhm, also diese langfristige Orientierung. A: Ja, ja, ja. F: Da steckt Potenzial drin. A: Ja. Das denke ich, das ist der Treiber. Also, daran kann man es im Moment sehen. Und das ist jetzt so auch das Neue, was über die Aufsicht gespielt wurde letztendlich, dass es im Prinzip wirklich darum geht, dass nicht immer nur im Rahmen der Bilanzierung „wie geht es mir heute und was ist in den letzten fünf Monaten passiert“, sondern dass das Thema Ausblick, Prognose, Geschäftsplanung viel, viel wichtiger wird. Es ist ja auch heute schon so, dass [sich] die Unternehmen verpflichtet sehen, einen Ausblick auf die nächsten zwölf Monate ihres Geschäftes im Lagebericht mit abzubilden. Das sind so die ersten Schritte eigentlich. Ich denke, das ist halt ein ganz klarer Impuls durch die Finanzkrise geworden. (A 35-39)
Langfristigkeit wird ein eigener Effekt zugeschrieben, der das ‚System‘ stabilisieren könne. Im folgenden Zitat zeigt sich die Distanz dieser Perspektive, von der aus auf das System geblickt wird. Es geht weniger darum, dass innerhalb des Marktes Liquidität gesichert wird und kurzfristige Risiken richtig berechnet werden können (wie im Bewertungsschema der Marktlogik), als darum, dass der Finanzmarkt allgemein eine zukunftsweisende Ausrichtung einnimmt und auf diese Weise auf lange Sicht eine Stabilität erreicht. […] Nachhaltigkeit heißt häufig auch ‚langfristig‘. Nachhaltige Geschäftsmodelle sind langfristig ausgerichtete Geschäftsmodelle. […] das Langfristthema, finde ich, ist da immer ein ganz wichtiger Aspekt, der neben ökologisch, sozial und ökonomisch meines Erachtens immer zu kurz kommt. Das heißt, die Langfristigkeit wird durch Nachhaltigkeit … oder die Ausrichtung langfristig tragfähiger Geschäftsmodelle wird dadurch gestärkt. Das heißt, wenn Nachhaltigkeit jetzt mehr und mehr im Finanzwesen Einzug findet, denke ich, ist das auch ein Faktor, der dazu beitragen kann, dass wir eine stabilisierende Funktion für das ganze System haben. (R 49)
Diese Gruppe D zeichnet sich, wie in der Tab. A.2 im Anhang bereits ersichtlich wurde, durch einen Standpunkt außerhalb des Systems aus. Zugleich befindet sich der Standpunkt aber nicht in einem anderen System, von dem aus das Finanzsystem in seiner Wirkung auf eben jenes System bewertet werden würde (wie dies bei C aus einem übergeordneten beziehungsweise umfassenderen gesellschaftlichen System heraus
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geschieht). Während also ein in die Nachhaltigkeitslogik eingebettetes Argument der Langfristigkeit stets die Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt mit in die Bewertung einbezieht, ist hier Langfristigkeit davon entkoppelt beziehungsweise kann davon entkoppelt werden. Langfristige Kreditvergaben und langfristige Investments lassen sich eben auch ohne Bezug zum nachhaltigen Bankwesen tätigen. Während ein langfristig tragfähiges Geschäftsmodell für die Nachhaltigkeitslogik bedeutet, dass Umwelt und Soziales mitgedacht und erhalten werden, kann der bloße Bezug auf Langfristigkeit schlicht bedeuten, einen längeren Horizont einzufordern, als es gegenwärtig in der Finanzwelt üblich ist.
5.6.5 Zwischenfazit Die Clusterung der Argumente aus den Interviews hinsichtlich der Stabilitätswirkung einer nachhaltigen Orientierung am Finanzmarkt hat vier abgrenzbare Typen ergeben, deren Bezeichnung benennt, wie durch das nachhaltige Bankwesen eine Stabilisierung erreicht werden kann durch: a) die ethische Ausrichtung des Bankwesens, b) durch Regulierung, Risikosensibilisierung und Reputationsrisikomanagement, c) durch Transparenz und Verantwortung von Banken und d) durch Langfristigkeit im Bankgeschäft. Entsprechend der Dimensionen, die wir zur Einteilung der Typen genutzt haben, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Fragen, worin das Risiko für wen besteht, wie was durch Nachhaltigkeit im Bankwesen stabilisiert wird und welche Perspektive die Betrachter/innen beim Blick auf den Finanzmarkt einnehmen. Der größte Unterschied besteht dabei zwischen den Clustern B und C, da sich dort die Konstruktionen des Finanzmarkts und dessen Funktion sehr gegensätzlich ausprägen. Die Gegensätze lassen sich gut mithilfe der Perspektive institutioneller Logiken verstehen; während im Cluster B aus einer Marktlogik heraus argumentiert wird, klingt im Cluster C die Nachhaltigkeitslogik durch. Im Cluster B werden Banken als ein Teil des Gesamtsystems Finanzmarkt verstanden, wohingegen beim anderen Typ der Finanzmarkt als ein Teil der Gesellschaft beziehungsweise des gesamten öko-sozialen Systems interpretiert wird. Die Referenz ist bei Typ B also der Markt und bei Typ C das öko-soziale Gesellschaftssystem. Bei ersterem wird mit dem finanziellen Risiko der Investor/innen und Banken sowie externer Regulierung argumentiert, während bei Cluster C die schädlichen Wirkungen der Banken und des Finanzmarkts auf die Gesellschaft in den Blick genommen werden. Die beiden Gruppen unterscheiden sich dadurch auch elementar in der Sicht auf Risiko und Stabilität. Während bei Typ B durch Nachhaltigkeit die Funktionen des Finanzsystems stabilisiert werden können, weil etwa Reputationsrisiken besser abgebildet und risikoreiche Geschäfte eingehegt werden, geht es bei Typ C um die Stabilisierung des gesamten öko-sozialen Umwelt-Mensch-Systems. Allein die normale Funktion des Finanzmarkts und der Banken garantiert hier nicht – anders als bei Cluster B –, dass keine Instabilitäten für die Gesellschaft produziert werden. Risiken sind hier
5.7 Fazit und Zusammenführung der Ergebnisse
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nicht durch den Finanzmarkt bestimmt, sondern aus einem umfassenderen System heraus zu verstehen. Für die Argumentation in Cluster B haben wir daher in der Abbildung in Tab. A.2 im Anhang den Standpunkt der Bewertung in das System des Finanzmarkts gelegt. Der Bezugsrahmen für die Stabilitätswirkung ist dabei der Markt und dessen Logik. Für Cluster C sehen wir den Standpunkt innerhalb des Gesellschaftssystems, in dem der Finanzmarkt als Teilsystem positioniert ist. Dies symbolisiert die Bewertung des Handelns von Finanzmarktakteur/innen, das in seiner Wirkung auf das öko-soziale System als risikohaft eingestuft wird und sich nicht nur allein auf die Stabilität des Finanzsystems bezieht. Bei der Argumentation in Typ A wird nicht so sehr das System in den Blick genommen, sondern individuelle Handlungsmotive. Nachhaltigkeit könne dadurch stabilisieren, dass es die ethische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln befördert. Da in dieser Perspektive das gierige und unethische Handeln Einzelner verantwortlich für die Krise waren, liegt in einer Rückkehr der Ethik das Stabilisierungsmoment von Nachhaltigkeit. Die Grafik in der Tab. A.2 im Anhang spiegelt das mit einzelnen Standpunkten wider, die keinen Bezug zu einem sie umfassenden System haben. Das vierte Cluster von Argumentationen sieht in der Langfristigkeit den Grund für Stabilisierung. Gerade diese Nuance von Nachhaltigkeit habe einen Effekt auf die Stabilität des Finanzmarkts und sichere die Überlebensfähigkeit des Finanzsystems. Hierfür haben wir den Standpunkt der Betrachtung außerhalb des Finanzsystems gesetzt. Im Vergleich zu Cluster B deutet dies die etwas distanziertere Sichtweise auf ein Finanzsystem an, in welchem die Handlungsmuster langfristiger ausgerichtet werden müssen, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Ein Bezug zu einem übergeordneten gesellschaftlichen System gibt es hier jedoch, anders als in Cluster C, nicht.
5.7 Fazit und Zusammenführung der Ergebnisse Das gesellschaftliche Leitbild der Nachhaltigkeit ist präsent in den Strukturen und Deutungen des deutschen Bankensystems. Im Kontext zahlreicher Krisen und Herausforderungen birgt die institutionelle Logik der Nachhaltigkeit eine Möglichkeit, durch ihre Präsenz im Feld das Bankwesen gesellschaftlich zu legitimieren und auch den Finanzmarkt zu stabilisieren. Sowohl die Rekonstruktion der institutionellen Logiken im Feld als auch die Deutungsmusteranalyse auf Basis diskursiver Interviews im deutschen Bankensektor verweisen als allgemeine Untersuchungen des Bankwesens auf die gegenwärtige Bedeutung von Nachhaltigkeit bei Banken in Deutschland. Die Nachhaltigkeitslogik bietet ein neues Denk-, Handlungs- und Interpretationsschema für sozial-ökologische Krisen in der Gesellschaft und auch im Finanzmarkt. Bestimmte Probleme werden durch die erweiterte Wahrnehmung und andere Legitimationsquellen
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5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
sichtbar, aus denen wiederum Lösungen erwachsen, zu denen das nachhaltige Bankwesen einen Beitrag leisten kann. Aufbauend auf diesen, sich aus den ersten beiden Analysen ergebenden, allgemeinen Erkenntnissen zur Bedeutung von Nachhaltigkeit im deutschen Bankensystem haben wir versucht aufzuzeigen, worin das Potential des nachhaltigen Bankwesens für die Stabilisierung des Finanzmarkts besteht. Mit der Clusterung bestimmter Interview-Passagen haben wir zudem Erkenntnisse darüber erlangt, was von den Expert/innen im Feld überhaupt als zu stabilisierend angesehen und worin konkret die stabilisierende Wirkung eines nachhaltigen Bankwesens gesehen wird. Dabei lassen sich die verschiedenen Ansichten auch dadurch erklären, welche Perspektive bei der Betrachtung des Finanzmarkts eingenommen wird. Die Rekonstruktion der institutionellen Logiken auf Feldebene zeigt an, welche gesellschaftlichen Institutionen das Feld der Banken beeinflussen. Markt, Staat, Religion, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit formen die Legitimationsbasis und somit die Handlungsorientierungen der Feldlogiken. Diese anhand der Makrologiken und dem empirischen Material abgeleiteten fünf Feldlogiken ermöglichen als Idealtypen die Struktur und Dynamik im Feld besser zu verstehen. Das Explizieren und die Rekonstruktion der institutionellen Logiken im Feld des deutschen Bankwesens ermöglichen es überhaupt erst zu erkennen, was Nachhaltigkeit im deutschen Bankwesen bedeutet. Die Logiken machen nachvollziehbar, wie es zu den verschiedenen Banktypen und Praktiken kommt und welche Wissensbestände dahinterstehen. Sie geben Hinweise darauf, warum bestimmte Banken auf eine bestimmte Art und Weise handeln, etwa warum sich Sparkassen stark auf ihre Regionalität beziehen, warum Genossenschaftsbanken keine Profitmaximierung betreiben, warum Nachhaltigkeitsbanken den Begriff der Rendite anders interpretieren, oder warum hinter ähnlichen Aussagen trotzdem Bezüge zu unterschiedlichen Interpretationsschemata liegen. Zudem lassen die Dynamiken erahnen, in welchem Verhältnis die Banken im Kontext von Krisen zueinanderstehen, was sie voneinander abgrenzt und wie sie voneinander lernen können. Die Rekonstruktion der institutionellen Logiken erlaubt es auch, das stabilisierende Potential zu beschreiben, das sich ergibt, wenn man davon ausgeht, dass hinter den Nachhaltigkeitspraktiken im Bankwesen eine institutionelle Logik der Nachhaltigkeit steckt. Sowohl bestimmte Charakteristika der nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik als auch die durch die Logik ausgelöste Dynamik im Feld besitzen ein Potential zur Stabilisierung des Finanzmarkts. Die anderen Logiken und dementsprechenden Banken können sich durch die Nachhaltigkeitslogik ihrer eigenen Andersartigkeit bewusst werden und dies als Vorteil im Feld, oft mit dem Bezugsrahmen zur Nachhaltigkeit, herausstellen – die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik wirkt demnach wie ein Katalysator im Feld. Durch die Rekonstruktion können wir beispielsweise zeigen, dass auch die staatsbasierte, religionsbasierte und gemeinschaftsbasierte Logik nicht nur auf Profitmaximierung als Zweck des Bankgeschäfts ausgelegt ist, jedoch nur die nachhaltigkeitsbasierte Logik den Bezugsrahmen zu einem sozial-ökologischen System hat. Durch etablierte institutionelle Praktiken wie Nachhaltigkeitsfonds, -ratingagenturen
5.7 Fazit und Zusammenführung der Ergebnisse
221
und -indizes bietet sie Alternativen und Antworten auf gesellschaftliche Erwartungen und aktuelle Herausforderungen der ökologischen Krise. Die Nachhaltigkeitslogik kann eine Anpassung des Feldes ermöglichen, Legitimation herstellen, aber auch tatsächlich funktionale Lösungen finden. Gerade als Alternative zu der stark in die Kritik geratenen marktbasierten Bankenlogik kann sie das Feld und damit auch den Finanzmarkt stabilisieren. Die Analyse der Deutungsmuster bei deutschen Banken im Kontext von Nachhaltigkeit brachte drei Deutungsmuster hervor, die jeweils einen bestimmten Punkt problematisieren, für den das nachhaltige Bankwesen zugleich eine Lösung bereitstellt. Aus diesen Deutungen haben wir dann abgeleitet, inwiefern dem nachhaltigen Bankwesen damit auch eine stabilisierende Wirkung zukommen könnte. Im ersten Deutungsmuster, das die Abgrenzung von ‚schlechten‘ Banken behandelt, bietet das nachhaltige Bankwesen eine Abgrenzung an, indem es eine besonders gegensätzliche Praxis im Bankgeschäft aufweist. Wenn Banken sich dieser Deutung anschließen und daher versuchen, zu den ‚guten‘ Banken zu gehören und sich glaubhaft abzugrenzen, kann das zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen. Schließlich werden dadurch bestimmte Praktiken reduziert oder gar unterbunden, die als krisenverursachend und damit destabilisierend ausgemacht worden sind. Im zweiten Deutungsmuster ging es um die Rolle der Banken in der Gesellschaft, um die Verantwortung gegenüber ihrer Umwelt und darum, die eigene Bedeutung als gesellschaftlich wichtige Akteurin wiederzuerlangen. Diese Deutung trägt dazu bei, dass nachhaltige Banken eine Transformation in der Gesellschaft initiieren und die Gesellschaft aufklären. Sie nehmen damit ihre Verantwortung gegenüber einem erweiterten Kreis an Stakeholdern wahr und sorgen für eine Wieder-Einbettung der Banken in die Gesellschaft. Durch ein solches in dieser Deutung angelegtes Handeln kann vor allem das Vertrauen in den Bankensektor gestärkt und auf eine breitere Basis gestellt werden, wodurch eine Stabilisierung des Finanzmarkts wahrscheinlich wird. Im dritten Deutungsmuster wird der Widerspruch zwischen Rendite und Gemeinwohlorientierung problematisiert, wenn es um das Erwirtschaften der ‚richtigen‘ Rendite geht. Rendite wird in diesem Deutungsmuster nach wie vor als zentral angesehen, jedoch dann als illegitim gewertet, wenn sie keinen Mehrwert für die Gesellschaft bietet. Das nachhaltige Bankwesen kann diesen Widerspruch zum Teil sogar auflösen, indem es dem Renditestreben bestimmte ethische Werte hinzufügt und Rendite zu einer ‚richtigen‘ Rendite werden lässt. Eine auf diese Weise reformierte Form des Bankwesens, bei der die Profitmaximierung nicht mehr das alleinige Prinzip darstellt, kann auch zu einer Stabilisierung des Finanzmarkts beitragen. Die dritte Analyse, die Clusterung der Interview-Passagen mit Bezug zu Stabilität, zeigt die verschiedenen Perspektiven auf, mit denen die interviewten Expert/innen aus dem deutschen Bankensektor auf die Stabilitätswirkung des nachhaltigen Bankwesens blicken. Dabei lassen sich vier Perspektiven grundlegend danach unterscheiden, was als zu stabilisierend angesehen wird und worin konkret die stabilisierende Wirkung gesehen wird. Als größter Gegensatz haben sich die Perspektiven B und C gezeigt: Stabilität
222
5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
wird in Gruppe B aus einer Position innerhalb und für das System des Finanzmarktes bewertet; das heißt, dass die Auswirkungen nur als für den Finanzmarkt relevant und der Marktlogik entsprechend gedacht werden. In Gruppe C wird Stabilität dagegen aus einer außerhalb des Finanzsystems, aber innerhalb des umfassenderen Gesellschaftssystems befindlichen Position bewertet. Das heißt, dass die Stabilitätswirkung durch eine veränderte Funktionsweise des Finanzsystems und damit eine veränderte Wirkung auf das Gesellschaftssystem eintreten kann. Die Gründe, warum und wie Nachhaltigkeit stabilisierend wirken kann, sehen dadurch sehr unterschiedlich aus: Einerseits wird externe Regulierung und die Sensibilisierung für Reputationsrisiken als entscheidend betrachtet (Gruppe B), andererseits die Transparenz und Verantwortung von Banken gegenüber der Umwelt und Gesellschaft (Gruppe C). Daneben findet sich Langfristigkeit als eine potentielle Ursache einer stabilisierenden Wirkung (Gruppe D), wobei dieser Teilaspekt von Nachhaltigkeit eine gesonderte Stellung in der Argumentation hinsichtlich der Stabilitätswirkung einnimmt. Abstrahiert von Werten und sozial-ökologischen Kriterien geht es hier um die Problematisierung des kurzfristigen Horizonts, nicht um die Auswirkungen auf Umwelt oder Gesellschaft. Hierbei liegt der Standpunkt der Bewertung außerhalb des Finanzsystems, aber auf das System blickend und ohne die Wirkungen auf andere Systeme in den Fokus zu rücken. Eine weitere Sichtweise besteht darin, dass Nachhaltigkeit eine ethische Ausrichtung in den Finanzmarkt trägt und dadurch stabilisierend wirkt (Gruppe A). Weil offenbar unethisches Verhalten zu Instabilitäten und Krisen geführt hat, soll durch ethische Prinzipien eine Stabilisierung erreicht werden. Insgesamt gewähren die drei Analysen umfassende Einblicke in das nachhaltige Bankwesen. Angesiedelt auf drei Abstraktionsniveaus, mit unterschiedlichem Kontextreichtum und verschiedenen direkten Bezügen zu der Frage nach der Stabilität ausgestattet, bietet jede Forschungsperspektive eigene Möglichkeiten, Nachhaltigkeit überhaupt als eigenständige Handlungsorientierung mit eigener Legitimationsbasis (Wurzelmetapher etc.) im Bankensystem zu erfassen und die davon ausgehende stabilisierende Wirkung zu beleuchten. Als eine Art Werkzeug erlauben sie es, aus drei verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlicher Erklärungskraft auf das Feld zu blicken. Während die institutionellen Logiken vor allem das Verhältnis und Zusammenspiel der verschiedenen Logiken im Feld offenbaren und die Analyse von Institutionen wie Markt, Staat und eben auch Nachhaltigkeit auf Organisationen ermöglichen, vertieft die Deutungsmusteranalyse im Feld bestehende, von allen Banktypen unabhängig
Anhang
223
von den Logiken gemeinsam geteilte Problemfelder und Lösungswege. Die Clusterung demonstriert, dass die Befragten verschiedene Positionen einnehmen, von denen aus sie den Finanzmarkt betrachten und die stabilisierende Wirkung von einer nachhaltigen Orientierung am Finanzmarkt bewerten. Einmal wird nur die Wirkung innerhalb des Finanzsystems, ein anderes Mal wird die stabilisierende Wirkung in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche System betrachtet und entsprechend beurteilt. Aus dem durch die Analysen entstehenden Dreiklang in der Ermittlung stabilisierenden Potentials schält sich die in der Fragestellung enthaltene Komplexität heraus: Was ist überhaupt nachhaltiges Bankwesen? Wie grenzt es sich ab von anderen an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierten Arten des Bankwesens? Was soll warum stabilisiert werden: das Finanzsystem und der Geldkreislauf oder das sozial-ökologische System? Bedeutet Stabilität des aktuellen Finanzsystems auch Stabilität für das sozial-ökologische System? Was genau bedeutet für wen Stabilisierung? Auch wenn unsere Analysen dabei helfen, diese Fragen zum großen Teil zu beantworten, liegt die Bedeutung dieses Dreiklangs der Forschungsperspektiven vielmehr darin, uns auf diese Fragen – anders als es eine einzelne Analyse könnte – aufmerksam zu machen. Mit Blick auf die Frage nach der Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts scheint mit dem nachhaltigen Bankwesen eine Logik und Deutung in das Feld einzuziehen, die unter anderem Alternativen ausbildet, andere Rollen einfordert, Abgrenzungen ermöglicht, neue Werte und Normen mitbringt, Rendite anders deutet. Eine dadurch erzeugte Vielfalt im System kann die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit verbessern und damit dessen Resilienz erhöhen. Zugleich können sich mögliche systemische Risiken verringern, da das System auf vielen Weisen weniger einheitlich auftritt. Inwiefern sich eine stabilisierende Wirkung aber tatsächlich realisiert, hängt nicht nur von der Praxis des nachhaltigen Bankwesens ab, sondern auch von den Antworten auf die vorherigen Fragen und damit auf die im Feld vorherrschenden Interpretationen etwa vom Finanzsystem, von Stabilität und Resilienz.
Anhang
Allgemeines Prinzip Profitmaximierung
Ökonomischer Erfolg für die Region (der jeweiligen Bank); Implementierung von ordnungspolitischen Maßnahmen
Leistungserbringerin, Versorgerin, Förderin, Katalysator und Motor der Stabilisator (im Falle von Wirtschaft Marktversagen) für die Bürger/innen
Identität der Bank
Bereitstellung von Kapital für (unterversorgte) Gemeinden und Bürger/innen
Profitmaximierung
Staatslogik (demokratische Partizipation + Staatsbürgerschaft)
Staatsbasierte Bankenlogik
Ziel des Bankgeschäfts
Marktbasierte Bankenlogik Dimensionen Legitimationsbasis Marktlogik (Aktienkurs + der Feldlogik (Legitimationsquelle Eigennutz) + Basis der Norm der entsprechenden Makrologik)
Feldlogiken
Nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik
Geschäftsbetrieb, der an den Soziale und ökologische Bedürfnissen und Interessen Rendite der Mitglieder ausgerichtet ist
Verwaltung von Geld und Profitsteigerung für kirchliche/ religiöse Institutionen
Dienerin für die Menschen und das öko-soziale System (weltweit) Unterstützung durch Gemeinschaft als Ausdruck von Hilfe zur Selbsthilfe: „Was einer nicht schafft, schaffen viele“
Gemeinschaftslogik (Einheit von Wunsch/Wille, Glaube in Vertrauen und Reziprozität + Gruppenzugehörigkeit)
Nachhaltigkeitslogik (Wahrung der endlichen Ressourcen aller Lebewesen, vorausschauendes Handeln, Langfristigkeit + Teil eines komplexen Netzwerks vielfältiger Lebewesen) Bereitstellung von Kapital Bereitstellung von Kapital für eine Realwirtschaft, die für die Mitglieder und dessen Förderung von nicht- ökologischen und sozialen Mehrwert generiert finanziellen Zielen
Gemeinschaftsbasierte Bankenlogik
Dienerin für die Glaubensgemeinschaft, Vermögenverwalterin für die Diözese
Bereitstellung von Kapital für kirchliche Institutionen/ Gläubige und andere, die den christlichen Werten entsprechen
Religionslogik (Bedeutung von Glauben & Heiligkeit in Wirtschaft und Gesellschaft + Zugehörigkeit zu/ Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinde)
Religionsbasierte Bankenlogik
Tab. A.1 Übersicht der Feldlogiken im Bankwesen. (Quelle: Eigene Darstellung)
224 5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
Profit ist kein Selbstzweck; die wirtschaftliche Entwicklung, die den gesellschaftlichen Wohlstand sichert, steht im Vordergrund. Bürger/innen
Förderbanken und Sparkassen, (Förder-)Kredite für Infrastrukturprojekte mit niedrigeren Zinssätzen als Geschäftsbanken, Kreditprogramme für grüne Energie, energetisches Bauen etc., hoher Prozentsatz von Krediten für die Realwirtschaft
Hoher Druck, maximale Rendite zu erzielen
Aktionär/innen
Geschäftsbanken, Großbanken: AGs, GmbHs, Shareholder-ValueMaximierungsPrinzip, Spekulationen, hohe Risikobereitschaft, Investmentbanking, High-SpeedTrading, globales Bankwesen (internationaler Kapitalmarkt)
Verhältnis zu Profit/Rendite
Verantwortungsbereich
Praktiken
Tab. A.1 (Fortsetzung)
Die Welt, die Erde, der Planet, die ‚Natur‘ Nachhaltigkeitsbanken, nachhaltiges Investieren (nach sozialökologischen Standards), Zertifizierung EcoAnlageberater, Verband Forum nachhaltige Geldanlagen (FNG), FNG Fond Siegel für nachhaltige Fonds, Nachhaltigkeitsratingagenturen, UN Principles for Responsible Investment
Mitglieder, Gemeinschaft, Region Genossenschaftsbanken, Abstimmungen unter den Mitgliedern über Angelegenheiten der Bank, Werte wie Regional- und Partnerschaftlichkeitsprinzip
Kirchenbanken, Enzyklika Laudato Si: „Das Geld muss dienen, nicht regieren“, Handlungsempfehlungen für ethisches Investieren für Christen, Betonung des ethischen Investierens
Profit darf kein Selbstzweck Profit darf kein Selbstzweck sein; Profitstreben muss den sein und die Gesellschaft nicht schädigen (nicht-finanziellen) Zielen der Mitglieder dienen
Gemeinde (Religionsgemeinschaft) und kirchliche Institutionen
Profit darf kein Selbstzweck sein; Profit dient der Ausübung des Glaubens und muss zu den religiösen Werten passen
Anhang 225
Für die Banken und das Finanzsystem sind bestimmte Geschäfte mit hohen Risiken verbunden. Der Zahlungsverkehr, die Rendite, die Liquidität etc. werden stabilisiert, indem Reputationsrisiken und externe Regulierungen risikoreiche Geschäfte einhegen. Die Banken sind Teil eines Finanzsystems; die/der Betrachter/in befindet sich im System.
Der Finanzmarkt wird stabilisiert, indem mit bestimmten Werten die Auswüchse und Fehlanreize im System reduziert werden.
Der Finanzmarkt ist die Interaktion von individuellen Akteur/innen; die/der Betrachter/in ist ein Teil dessen.
Wie wird was durch Nachhaltigkeit im Bankwesen stabilisiert?
Welche Perspektive nehmen die Betrachter/innen beim Blick auf den Finanzmarkt ein?
B) … externe Regulierung, Risikosensibilisierung und Reputationsrisikomanagement
Für den Finanzmarkt bestehen Risiken durch das unethische, exzessive Verhalten einzelner Akteur/innen.
A) … ethische Ausrichtung des Bankwesens
Worin besteht das Risiko für wen?
Dimensionen
Stabilisierung durch …
Für das gesamte UmweltMensch-System bestehen Risiken durch den Finanzmarkt und dessen schädlichen Wirkungen auf Umwelt und Gesellschaft. Das gesamte Umwelt-MenschSystem wird stabilisiert, indem durch mehr Transparenz und Verantwortung der Banken die Auswirkungen des Finanzsystems darauf positiver gestaltet werden. Das Finanzsystem ist Teil eines größeren Systems; die/der Betrachter/in blickt aus dem größeren System auf das Finanzsystem.
C) … Transparenz und Verantwortung von Banken
Das Finanzsystem wird stabilisiert, indem Bankgeschäfte und Investitionen an einer Langfristigkeit und Zukunftsfähigkeit orientiert sein sollen. Das Finanzsystem wird von der/dem Betrachter/in von außen und als isoliertes System betrachtet.
Das Finanzsystem ist gefährdet, weil die kurzfristige Orientierung die Überlebensfähigkeit des Finanzsystems gefährdet.
D) … durch Langfristigkeit im Bankgeschäft
Tab. A.2 Übersicht der Clusterung der Perspektiven auf die Stabilitätswirkung durch die Akteur/innen im Feld. (Quelle: Eigene Darstellung)
226 5 Wie die Nachhaltigkeitslogik und neue Deutungsmuster
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Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken Gesa Griese
Inhaltsverzeichnis 6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2 Empirie 1: Organisationsidentität als Hemmnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.2.1 Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.2.2 Identitätskonflikte der Banken mit Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.2.3 Falldarstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.2.4 Zusammenfassung und Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.3.1 Konzepte Institutional Entrepreneurship und Institutional Work . . . . . . . . . . . . . . 247 6.3.2 Daten, Methode und Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6.3.3 Typen von Treiber/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.3.4 Wechselwirkung Feld, Organisation und Individuum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6.3.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 6.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Zusammenfassung
Dieser Artikel widmet sich in zwei Teilen den Treiber/innen und Hemmnissen von Nachhaltigkeit in Banken. Zunächst werden Organisationsidentitätskonflikte anhand von episodischen Erzählungen aus diskursiven Interviews über bankinterne Erfahrungen mit der Umsetzung von Nachhaltigkeit identifiziert. Danach stellt der Einblick in die Ergebnisse der Dissertation der Autorin die Genese von Motiven von Akteur/innen vor, die Nachhaltigkeit als eine der ersten in deutschen Banken etabliert haben. Mit der Typologie von institutionellen Entrepreneur/innen, also Akteur/innen, die die institutionellen Logiken des Bankwesens durch eine neue Logik
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_6
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der Nachhaltigkeit verändert haben, werden die lebensgeschichtlichen Handlungsmotive für die Beteiligung am sowie deren jeweilige mögliche Wirkungen im Institutionalisierungsprozess von einer Nachhaltigkeitslogik im Bankensektor vorgestellt und diskutiert. Darüber hinaus wird anhand von Identitätsaussagen das Selbstverständnis der Treiber/innen im Spannungsfeld zwischen konfligierenden Logiken des Feldes (Gegenwartsperspektive) und den Kohärenz- sowie Konsistenzbedürfnissen biografischen Erzählens (Vergangenheitsperspektive) herausgearbeitet.
6.1 Einleitung1 In diesem Beitrag geht es darum, auf Grundlage von Expert/innen-Interviews mit Nachhaltigkeitsbeauftragten von konventionellen Banken und Vertreter/innen von Nachhaltigkeitsbanken sowie biografischen Interviews mit Akteur/innen, die Nachhaltigkeit in Banken umgesetzt haben, Triebkräfte und Hemmnisse von Nachhaltigkeit im Bankwesen festzustellen. Wir2 gehen der Frage nach, wer oder was Nachhaltigkeit in Banken voranbringt und gleichzeitig auch, wer oder was diese hemmt und hindert, sich in Banken auszubreiten. Damit knüpft dieses Kapitel an den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß zu Banken in diesem Band an, lenkt aber hier den Fokus eher auf das Innere der Banken. Zuerst widmet sich dieser Beitrag den narrativen Teilen der diskursiven Expert/ innen-Interviews mit dem Konzept der Organisationsidentität (Albert und Whetten 1985; Kirchner 2012). Die Analyse der diskursiven Interviews für den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß zu Banken in diesem Band haben Erzählungen über die Umsetzung von Nachhaltigkeit zutage gefördert, die die Identität und Selbstbeschreibung der Bank betreffen. Diese Episoden enthalten Geschichten über interne Prozesse der Banken, die nicht direkt durch Fragen provoziert und wenig reflexiv überformt (Bohnsack 2014, S. 96), das heißt strategisch gesteuert sind. Um den organisationalen Hindernissen auf die Spur zu kommen, haben wir diese Episoden noch einmal vor dem Hintergrund der theoretischen Folie zu Organisationsidentität analysiert. Diese Untersuchung hat sich folglich aus der induktiven Codierung aus dem Material heraus ergeben.
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Mein besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, ohne die diese Studie nicht möglich gewesen wäre. 2Dieser Beitrag setzt sich aus zwei Untersuchungen zusammen, wobei die zweite das Dissertationsprojekt der Autorin darstellt. Insofern werden die P rojekt-Ergebnisse der ersten Analyse in der Wir-Form und die der Dissertation in der Ich-Form dargestellt.
6.1 Einleitung
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Diese zweite Analyse trägt den individuellen Treiber/innen von Nachhaltigkeit Rechnung. Die Autorin hat im Rahmen ihres Dissertationsprojekts (Griese 2020) auf Grundlage der theoretischen Ansätze zu institutional entrepreneurship (Battilana et al. 2008; Beckert 1999) und institutional work (Lawrence und Suddaby 2006) mit zehn von ihnen biografische Interviews geführt und nach der fallrekonstruktiven biografischen Methode (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Kraimer 2012; Rosenthal 1995, 2002; Schütze 1978, 1983a, b, 1984) ausgewertet. Dieser Teil des Artikels rekonstruiert die Motive von institutionellen Unternehmer/innen, also von Akteur/innen, die Wandel initiieren, und erhellt den Blick auf die Rolle von individuellen Akteur/innen im Institutionalisierungsprozess der Nachhaltigkeitslogik. Die Untersuchung beantwortet die Frage, was es für die Akteur/innen bedeutet hat, Nachhaltigkeit umzusetzen, welche Intentionen und Handlungsmuster relevant waren und welche Bedingungskonstellation zwischen Organisation, Akteur/in und institutioneller Umwelt vorherrschte, die die Entstehung und Ausbreitung ermöglichte. Das Ergebnis der Typologie zeigt zum Beispiel, dass es gerade die sich nach Sinn- und Statuskrisen eröffnenden Gestaltungsmöglichkeiten waren, die die Beschäftigung mit dem Thema so reizvoll machten. Nicht nur der eigene Idealismus war die Antriebskraft, um das Thema gegen interne Widerstände zu verteidigen und so zu einer Institutionalisierung zu verhelfen, sondern das Überwinden von biografischen Krisen und die Wiedererlangung von Handlungsmöglichkeiten im eigenen Lebensverlauf. Die Frage nach Triebkräften und Hemmnissen impliziert die soziologische Frage nach organisationalem und institutionellem Wandel von Banken und Finanzmarkt. Daher komplementieren die beiden Analysen die allgemeine Frage des Buches nach dem Institutionalisierungsprozess einer Nachhaltigkeitslogik im Finanzmarkt, indem die Rollen der Organisationsidentität und der individuellen Akteur/innen herausgearbeitet werden. Daten und Methode Die Ergebnisse des ersten Teils basieren auf der gleichen empirischen Grundlage wie der Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band. 18 Interviews wurden zwischen Juni und Oktober 2016 telefonisch oder vor Ort mit Vertreter/innen von Nachhaltigkeitsbanken oder -abteilungen sowie Vorständen und Kommunikationsabteilungen von konventionellen Banken durchgeführt. Unter den Banken sind alle drei Säulen des deutschen Bankensystems repräsentiert: private Geschäftsbanken, Genossenschaftsbanken sowie Sparkassen und Landesbanken; darunter waren auch Kirchenbanken, explizite Nachhaltigkeitsbanken und Förderbanken. In unserem Sample 1 sind sechs der zwanzig größten deutschen Banken vertreten. Um die Deutungsmuster rekonstruieren zu können (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band), haben wir uns für die Methode des diskursiven Interviews entschieden, das durch einen konfrontativen Fragestil (z. B. hypothetische Fragen, provokante Fragen,
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Tab. 6.1 Samples und Analysen Datengrundlage
Theoretisches Konzept/Auswertung
Fokus
Sample 1
18 diskursive Expert/innen-Interviews
Organisationsidentität
Hemmnisse Teil 1
Sample 2
10 biografisch-narrative Interviews
Typologie von institutionellen Unternehmer/innen
Treiber/ innen Teil 2
Quelle: Eigene Darstellung
aktive Begründungsaufforderungen) gekennzeichnet ist (Ullrich 1999). Die Fragen des Interviews zielten, wegen der Methode und des Ziels des diskursiven Interviews, die Latenz von Deutungsmustern zu explizieren, in erster Linie auf Rechtfertigungen und Begründungen ab. Die offenen Fragen und Begründungsaufforderungen haben zudem jedoch die Erzählungen und Narrationen befördert, die in diesem Beitrag unter der theoretischen Folie der Organisationsidentität interpretiert werden. Sie wurden unter dem induktiven Code Selbstbeschreibungen/Identität der Bank erfasst. Die episodischen Erzählungen ermöglichen Aussagen dazu, warum das Thema Nachhaltigkeit in Organisationen als konflikthaft wahrgenommen wird bzw. wurde. Die Analyse kann daher weitere Erklärungen bieten, warum Banken gehemmt sind, Nachhaltigkeit als Gesamtstrategie zu verfolgen und somit in ihr Kerngeschäft zu integrieren. Der zweite Teil zu individuellen Treiber/innen von Nachhaltigkeit gründet sich auf dem Dissertationsprojekt der Autorin (Griese 2020). Sie fokussiert mit der Typologie von Nachhaltigkeitstreiber/innen die latenten Handlungsmotive, die man durch die Lebenslaufperspektive rekonstruieren und so Auskunft über die Genese des Institutionalisierungsprozesses von einer neuen Denk- und Handlungslogik im Bankwesen auf der Mikroebene geben kann. Die empirischen Ergebnisse basieren daher auf einer anderen Datenbasis. Das Sample 2, die Erhebungsform (biografisch-narratives Interview) und Auswertungsmethoden (Narrationsanalyse, thematische Codierung, Typenbildung) unterscheiden sich von dem Sample 1 der Expert/innen-Interviews und dessen Erhebungsform (vgl. Tab. 6.1). Das Konzept der Organisationsidentität wird zur besseren Übersicht im kommenden Abschnitt erklärt. Analog wird die Methode des biografisch-narrativen Interviews und dessen Auswertung erst nach der Analyse der Organisationsidentität als Hemmnis im zweiten Teil vorgestellt.
6.2 Empirie 1: Organisationsidentität als Hemmnis Durch die offen gestellten Fragen im diskursiven Leitfadeninterview mit 18 Expert/innen wurden Erzählungen stimuliert, denen wir uns hier noch einmal intensiver widmen. Die Erzählungen offenbaren Eigenheiten und Konflikte der Organisation im Umgang mit Nachhaltigkeit, die Gründe zur Annahme liefern, dass die Organisationsidentität eine
6.2 Empirie 1: Organisationsidentität als Hemmnis
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zentrale Rolle für die Frage nach den Triebkräften und Hemmnissen von Nachhaltigkeit im Bankwesen spielt. Gerade unter der Bedingung, dass diese Erzählungen nicht durch die Interviewerin evoziert wurden, sind diese Stellen besonders interessant, weil sie die Relevanzstrukturen der Interviewten hervorheben. Zunächst wird das Konzept der Organisationsidentität eingeführt, um der Frage nachgehen zu können, wie Nachhaltigkeit intern in den Banken verarbeitet wird. Warum entscheiden sich Banken etwa dazu, zwar Produkte aufzusetzen, Nachhaltigkeitsberichte zu verfassen, aber intern Widerständen zu entwickeln? Was führt zu den internen Spannungen, für was stehen sie beziehungsweise was kann man an diesen erkennen? Das Konzept der Organisationsidentität3 erlaubt es, die Eigenlogik von Organisationen zu bestimmen und die Organisation als „Ganzes“, als eine Einheit zu betrachten (King et al. 2010). Die Organisation ist eine eigene Realitätsebene, die sich von ihren Mitgliedern unterscheidet (Kirchner 2012, S. 15). Albert und Whetten haben die Organisationsidentität zuerst definiert und danach weiterentwickelt. Sie sind mit ihrer Charakterisierung der drei Merkmale von Organisationsidentitäten sicherlich die meistzitierten Autoren zu diesem Thema (Albert und Whetten 2003, S. 75). Albert und Whetten (1985) meinen mit Organisationsidentität die zentralen (1), zeitlich stabilen (2) und unterscheidbaren (3) Aussagen von Organisationsmitgliedern, die die Frage nach dem Wer sind wir als Organisation? beantworten. Den Autoren geht es also um die Zuschreibung von Eigenschaften der Organisation als soziale Akteur/innen (Identität als Eigenschaft von Organisationen). Sie vermuten, dass die Fragen nach der Identität im Alltag eher vermieden werden. Die Fragen seien so grundlegend, dass sie aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen der Organisation auch gefährlich werden könnten. Normalerweise werde die organisationale Identität jedoch als selbstverständlich angenommen (Albert und Whetten 2003, S. 80). King et al. (2010) führen aus, dass Organisationen spezielle soziale Akteurinnen genauso wie Individuen und der Staat sind. Sie ähneln aber auch gleichzeitig sozialen Einheiten wie dem Markt und der Gemeinschaft. Sie unterscheiden sich von diesen aber in dem Moment, wo Organisationen als souverän, verantwortlich und intentional von ihrer Umwelt angesehen werden (ebd., S. 297). Organisationen dienen der Zielverfolgung für kollektive Handlungen, die Individuen alleine nicht vollbringen könnten und beginnen damit ein Eigenleben. Sie werden extern durch die Gesellschaft als soziale Akteurinnen definiert, sind dazu befugt nach den Wünschen der Mitglieder zu entscheiden und zu handeln. Sie gelten daher als souverän und werden auch von der Gesellschaft zur Verantwortung gezogen. Das Selbstverständnis als Organisation, manifestiert in Identitäten und Zielen, bildet die Grundlage der Entscheidungs- und Handlungspraktiken und somit auch der Intentionalität (ebd., S. 298). Diese Ausführungen legen nachvollziehbar nahe, dass Organisationen eigene Identitäten besitzen.
3Die
gleiche Perspektive wird in der Analyse eines Fallbeispiels in der Dissertation der Autorin für die Wechselwirkungen zwischen Feld, Organisation und Individuum herangezogen.
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Einen gegensätzlichen Ansatz verortet Kirchner im Kontext des N eo-Institutionalismus, der sich auf die Einflüsse der institutionellen Umwelt konzentriert. Identität wird hier durch die Außengrenze zur Umwelt hergestellt beziehungsweise in Anpassung an diese und ist deswegen einer konstanten Instabilität ausgeliefert. Das Merkmal der zeitlichen Stabilität wird aus dieser Sicht abgelehnt (Gioia et al. 2000; Kirchner 2012, S. 14). Kirchner (2012, 2015) beschreibt diese beiden verschiedenen Ansätze zur Organisationsidentität und führt sie zusammen. In seinem dynamischen Modell der Organisationsidentität stellt er die Begriffe integrative und operative Funktion der Identität vor und integriert so die Organisationsaktivität, also die vollzogenen Handlungen und Praktiken. Dazu gehören zwei Aspekte: Die Identität stellt als eine Art Beobachtungslinse Kriterien für Aufmerksamkeit, Kommunikation, Verhalten bereit und lenkt durch allgemeine Rahmung von Strukturen, Situationen und Ereignissen Entscheidungen und Aktivitäten (u. a. Fiol 1991; Goffman 1980; Luhmann 2000; Seidl 2005). Kirchner beschreibt die Identität auch als eine Art Leitschnur für interne Entscheidungen (Kirchner 2015, S. 73). Die integrative Funktion der Identität hält dabei die Teile einer Organisation in einem Ganzen zusammen. Weiterhin versteht er die Organisationsidentität als kontinuierlichen Feedbackprozess zwischen der integrativen und operativen Funktion, also den Deutungsmustern der Mitglieder über ihre Organisation im Wechselverhältnis zu den vielfältigen Aktivitäten der Organisation. Das heißt einerseits, dass Praktiken danach ausgewählt und vollzogen werden, wie sie zu den Identitätselementen passen, und andererseits, dass der Vollzug dann die Identität auch wieder bestätigt, weil der Vollzug von bestimmten Praktiken die Identität repräsentiert. Ein Konflikt zwischen den beiden kann entweder die Praktik disqualifizieren oder das Identitätselement (Kirchner 2012, S. 29, 31; Kirchner 2015, S. 74). Zusätzlich wird die eigene Identitätskonstruktion auch immer durch externe Beobachter/ innen bestätigt oder eben nicht. Wird die Zuschreibung nicht bestätigt, droht Legitimitätsverlust (Kirchner 2015, S. 72). Zum Beispiel speist sich die Identität einer Bank daraus, Geld zu verleihen. Eine Bank ist eine Bank, weil sie Kredite vergibt. Dafür gibt es bestimmte Regeln. Soll die Bank jetzt Geld nach neuen Kriterien verleihen (etwa sozialen und ökologischen), muss diese neue Praktik zu der Identität „Bank“ passen. Wird entschieden, dass sie das tut, weil man beispielsweise damit das Ausfallsrisiko der Kreditvergabe besser berechnen kann, formt diese neue Praktik wiederum die Identität „Bank“. In Zukunft gehört dann zur Identität, dass die Bank Geld unter sozialen und ökologischen Kriterien verleiht. Sofern die Praktik allerdings nicht zur Identität passt, wird sie disqualifiziert und nicht in die Identität und damit die Organisationsaktivität integriert. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass ökologische und soziale Kriterien nicht genuin von einer Bank mit einbezogen werden sollten und somit wieder aus der Aktivität verbannt werden. Das Verfolgen von sozialen und nachhaltigen Kriterien kann dann nicht die Organisation als Ganzes repräsentierten (integrative Funktion) (Kirchner 2015, S. 75).
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Mit diesem Modell ergibt sich ein wesentlicher Effekt für die empirische Forschung, denn „nicht die Aussagen als solche, sondern deren Effekte auf die Organisation sind von Bedeutung […]“ (Kirchner 2015, S. 74 f.). Das macht es möglich, Organisationsaktivitäten (Was macht die Organisation?) und Identitätstexte (Aussagen und Belege über das Wer sind wir als Organisation?) sowie deren Veränderungen einzeln zu betrachten und Widersprüche zu erkennen. Aushandlungsprozesse, Widersprüche und die tatsächliche Relevanz einzelner Aktivitäten oder Identitätstexte für die gesamte Organisationsidentität können so empirisch besser erfasst werden (Kirchner 2015, S. 75). Reputation und Image bilden eine Erweiterung für das Konzept der Organisationsidentität, da beide die Grundlage für die Außendarstellung der Organisationsidentität beschreiben. Diese Konzepte beziehen die Erwartungen der organisationalen Umwelt mit in den Identitätsbildungsprozess ein und sichern der Organisation damit Legitimität (Kirchner (Kirchner 2012, u. a. S. 197; Kirchner 2015, S. 76 f.). Das heißt, Kirchner verbindet den Grundgedanken des Neo-Institutionalismus, dass die organisationale Umwelt Einfluss auf organisationales Handeln hat, mit dem Feedbackmodell zwischen integrativer und operativer Funktion von der Organisationsidentität (Kirchner 2012, S. 196 f.). Die Organisationsidentität wird zum Gegenstand von institutionellen Erwartungen und Isomorphieprozessen (Kirchner 2012, S. 202). Organisationsidentität bedeutet zusammengefasst das eigenlogische Selbstverständnis einer Organisation in Auseinandersetzung mit ihren Tätigkeiten zu betrachten, das ebenfalls durch die organisationale Umwelt beeinflusst wird und ein dynamischer Prozess ist. Es geht darum, zu beantworten, was die eigenen Aufgaben und Rollen sind und wie man die eigene Organisation im Verhältnis zur Umwelt wahrnimmt und rahmt (Kirchner 2015, S. 79). Die Identität kann dabei nicht nur eine Treiberin von Wandel, sondern auch ein Hemmnis sein (Kirchner 2015, S. 80 ff.). Mit dieser Verbindung von Eigenlogik und Abhängigkeit von Umwelterwartungen, kann „mit der Bestimmung der Organisationsidentität erklärt werden, wie sich in Folge von eigenlogischen und umweltabhängigen Prozessen aus anfänglicher Flexibilität Widerstand gegen Wandel bis hin zur Hyperstabilität entwickelt“ (Kirchner 2012, S. 201). Identität erklärt damit auch unterschiedliche Reaktionen auf gleichen Druck in organisationalen Feldern (Kirchner 2015, S. 81). Wenn wir uns in diesem Artikel also der Frage widmen, warum Wandel geschieht oder eben nicht, also warum die Ausbreitung von Nachhaltigkeit im Bankwesen behindert wird, hilft uns das Konzept der Organisationsidentität. Eine Analyse der Art des Wandels – inkrementell-radikal, endogen-exogen, emergent-intendiert (Kirchner 2012, S. 164 ff.), den wir hier eventuell beobachten könnten, kann aufgrund der Datenlage nicht vollzogen werden. Doch geben die durch die offenen Interviews zutage geförderten Erzählungen den Grund zur Annahme, dass die Organisationsidentität für die Frage nach den Triebkräften und Hemmnissen von Nachhaltigkeit im Bankwesen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die aus dem explorativen Vorgehen entstandenen Thesen können Anreiz und Ausgangspunkt für eine tiefergehende Forschung zur Rolle der Organisationsidentität als Hemmnis von Nachhaltigkeit sein.
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6.2.1 Vorgehen Anhand von drei kurzen (Fall-)Beispielen der episodischen Erzählungen, die im Rahmen der diskursiven Interviews entstanden und unter dem induktiv entwickelten Code Selbstbeschreibung/Identität der Bank erfasst sind, stellen wir die These auf, dass die integrative Funktion der Identität der Grund dafür ist, warum trotz Veränderung hin zu nachhaltigen Aktivitäten (operative Funktion der Identität) keine neue Identität der Bank hergestellt wird, die das Verfolgen von Nachhaltigkeit im Bankgeschäft verfestigt oder institutionalisiert. Dabei geht es hier nicht um einen möglichen Logikkonflikt, der ausgelöst durch die fünf Feldlogiken in verschiedenen Konstellationen vorstellbar ist (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) und in dem Kapitel über die Nachhaltigkeitslogik und über das Bankwesen nachgezeichnet wurde (marktbasierte, staatsbasierte, religionsbasierte, gemeinschaftsbasierte und nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik), sondern um das Hemmnis, das im Prozess der Organisationsidentitätsbildung liegt. Daher ergänzt das Organisationsidentitätskonzept die Erklärung von Dynamiken und Konflikten zwischen verschiedenen institutionellen Logiken im Feld der Banken um eine interne Perspektive der Banken. Während die institutionellen Logiken vor allem den Einfluss von Institutionen auf Organisationen in den Blick nehmen, kann mit dem Konzept der Identität die Verarbeitung von neuen Praktiken oder Identitätstexten in Bezug auf die Organisation selbst analysiert werden. Die Logiken können dabei eine Rolle spielen, die Identität ist jedoch ein unabhängiges Konzept, eine „eigene Realitätsebene“, die es zu beachten gilt. Während die Logiken deutlich machen, welche Erwartungen durch Nachhaltigkeit in die Bank getragen werden, beschreibt die Identität der Banken die Verarbeitungsweise mit diesen äußeren Erwartungen, die konflikthaft sein können. Im Folgenden wird nachgezeichnet, wie die Dynamik der Organisationsidentität ein Hemmnis für die Ausbreitung des nachhaltigen Bankwesens und dessen Praktiken sein kann.
6.2.2 Identitätskonflikte der Banken mit Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit als Bank zu verfolgen ist eine schwierige Aufgabe. Die nachhaltigkeitsbasierte Bankenlogik hat, wie übrigens auch die religionsbasierte Bankenlogik, keine eigene Rechtsform, die ihr spezielles Werte- und Handlungsschema in die formale Verfassung der Organisation einbringt.4 Dafür nutzen die Banken andere bestehende Rechtsformen und verankern ihre Werte- und Handlungsschemata in den bestehenden Strukturen. Banken können als Genossenschaften, in Rechtsformen des Privatrechts (Kapitalgesellschaften wie GmbHs oder AGs) oder als öffentlich-rechtliche Banken verfasst sein (Sparkassen, Landes-, Förderbanken). Banken, die sich der Nachhaltigkeit widmen, können also verschiedene Rechtsformen haben und werden dadurch schon
4Ein
ähnlicher Gedanke findet sich bei Diaz-Bone (2015, S. 148) über die ökologische Konvention. Auch er stellt fest, dass diese Konvention über keine eigene Organisationsform verfügt.
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von Anfang an durch weitere unterschiedliche institutionelle Logiken (Markt, Staat, Religion, Gemeinschaft) beeinflusst, die zudem widersprüchlich sein können. Auffällig in unserem Sample 1 war, dass der GLS-Bank oftmals eine Vorbildrolle als nachhaltige Bank zugeschrieben wird, dies aber auch zu Ablehnung von Nachhaltigkeitspraktiken geführt hat, weil bei der Übernahme von nachhaltigen Praktiken in die Kerngeschäftstätigkeit ein Vergleich mit oder eine zu große Annäherung an die GLS-Bank befürchtet wurde. In den folgenden Beispielen spielt daher die GLS-Bank immer wieder eine Rolle und dient trotz ihrer Vorbildfunktion im nachhaltigen Bankensektor auch als Negativfolie. Wie der Identitätsbildungsprozess der Banken durch Nachhaltigkeitspraktiken irritiert wurde, wird in den drei Beispielen exemplarisch aufgezeigt.
6.2.3 Falldarstellungen Tab. 6.2 stellt eine Übersicht über die hier kurz vorgestellten Beispiele dar, die anschließend mit Zitaten belegt und genauer beschrieben werden. Da keine ausführliche Einzelfallstudie für jede Bank vorliegt, kann der überaus komplexe Prozess von der Identitätsbestimmung und den dazugehörigen Konflikten nicht in kompletter Tiefe analysiert werden. Trotzdem konnten einige Identitätstexte („wir sind …“, „wir sind keine …“) identifiziert und codiert werden, die eine Auswirkung auf die integrative und/oder operative Funktion der Organisationsidentität der interviewten Banken haben. Die Anwendung des Identitätskonzepts nach Kirchner auf diese Fälle soll Ausgang für explorative Thesen und Anstoß für weitere Forschung sein. Fall P Im Fall der Bank P hat sich die Bank der Nachhaltigkeit verschrieben, ist aber nicht als Nachhaltigkeitsbank gegründet worden. Im Laufe des Interviews ergaben sich an mehreren Stellen episodische Erzählungen über den internen Umgang mit Nachhaltigkeit durch Vorgesetzte und auch Mitarbeiter/innen. Die Bank hat sich im Laufe der Etablierung von Nachhaltigkeitskriterien eigene Leitplanken mit eigenen Begriffen gesetzt. Auch wenn das nicht ungewöhnlich erscheint, ist zu erkennen, dass trotz operativer Anpassung an die Aktivitäten von nachhaltigen Banken die integrative Funktion von Identität nicht vollständig ausgebildet wurde und nach wie vor ein Hemmnis darstellt. Das nachhaltige Investment und Bankwesen transportieren durch etablierte Praktiken, Verbände, Siegel, Standards und Vorbilder bereits ein Set an Erwartungen in das Feld der Banken und setzt damit Maßstäbe für Banken, die neu dazu stoßen. Auf der einen Seite muss sich eine Bank also diesen Anforderungen aus dem Feld stellen und zu einem gewissen Grad anpassen, sofern sie im nachhaltigen Bankwesen als legitim gelten will und die Bankaktivität hinsichtlich Nachhaltigkeit nicht als Greenwashing abgetan werden soll. Das fordert das konventionelle Bankwesen heraus, was sich hier hinsichtlich der Transparenz zeigt:
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Tab. 6.2 Fallübersicht Zusammenfassung des Falls
Identitätskonflikt
Fall P
Bank entwickelt eigene Terminologie für Nachhaltigkeit Mitarbeiter/innen und Führung fürchten, wie die GLS-Bank zu werden Konsumverhalten der Mitarbeiter/innen und Kund/innen entspricht nicht unbedingt einem 100 % ökologisch nachhaltigen Lebensstil
Operativ: Nachhaltigkeitspraktiken sind/ werden in die Gesamtstrategie weitestgehend integriert Integrativ: Angst, eine Ökobank zu werden. An erster Stelle steht das „Banksein“, dann dass man als Bank christliche Werte verfolgt und dann erst, dass man als christliche Bank Nachhaltigkeitspraktiken integriert Lösung: Wortneuschöpfung, andere Dimensionen von Nachhaltigkeit betonen, die zur Identität passen
Fall C
Mitarbeiter/innen und Führung fürchten, wie die GLS-Bank zu werden
Operativ: Nachhaltigkeitspraktiken sind/ werden in die Gesamtstrategie weitestgehend integriert Integrativ: Angst, eine Ökobank zu werden Lösung: Nachhaltigkeit als Risikoansatz rahmen
Fall K
Mitarbeiter/innen auf allen Ebenen stehen dem Nachhaltigkeitsgedanken skeptisch gegenüber Dem Nachhaltigkeitsmitarbeiter wird sein nachhaltiges Konsumverhalten negativ kommentiert/gespiegelt Widerstand gegen nachhaltige Projekte äußert sich im Widerstand gegen den Mitarbeiter, der diese umsetzen will und eigentlich auch soll
Operativ: Teilweise wird Nachhaltigkeit integriert, z. B. Nachhaltigkeitsprodukte und Nachhaltigkeitsberichte Integrativ: Nachhaltigkeit ist nicht Teil der Identitätstexte, Mitarbeiter/innen identifizieren sich damit nicht, Führung zum Teil auch nicht, Nachhaltigkeit wird abgewehrt Lösung: Erfolgreiche Nachhaltigkeitsprodukte anbieten (Markterfolg)
Quelle: Eigene Darstellung
Es gab [beim Workshop] keinen Verhinderer für die Themen, sondern eher progressiv nach vorne denken und sagen: „Jetzt können wir uns das mal trauen.“ Also, zum Beispiel dass ich bei der GLS-Bank toll finde: Veröffentlichung aller Kredite. Ist ja eigentlich im Bankwesen ein Unding, weil es gibt ja das Bankgeheimnis. Ich kann doch nicht die Kredite veröffentlichen. Und das wurde aber sehr differenziert betrachtet hier im Haus, und wir wollen das jetzt noch mal angehen, wollen das auch mit den Kunden besprechen, wie die das finden würden. Weil wir schon gesagt haben, so eine Transparenz gehört zu einem nachhaltigen Bankhaus dazu. Das transparent zu machen, und wir können das als Marketinginstrument nutzen, die Leute sehen das, und darüber bildet sich Vertrauen über Transparenz. Finde ich einen ganz wichtigen Punkt in dieser Welt. Aber das ist eigentlich komplett konträr zu allem, wie Banker agieren. (P 57)
6.2 Empirie 1: Organisationsidentität als Hemmnis
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Die Aktivitäten der Bank zielen bereits in Richtung nachhaltiges Banking. Nachhaltigkeit wird in die Entscheidungsprämissen des Kerngeschäfts der Bank integriert und nicht nur für die „Außenwelt“ vorgeführt und eine Fassade aufgebaut (Kühl 2011; Luhmann 1964). Wir [haben es] eben an so vielen Stellen verankert. Und das merke ich jetzt wirklich auch […], dass wirklich bei Entscheidungen immer wieder gekuckt wird, was ist die beste Entscheidung. Weil es nicht um Heller und Pfennig nachher nach außen geht, ja, sondern das Thema Nachhaltigkeit schon, wie ich es vorhin sagte, in allen Entscheidungen immer und immer wieder auftritt. Und dass es auch ernst gemeint wird, wirklich. (P57) Also, bei den Eigenanlagen, was ja so ein Ding auch ist bei Banken, ja, wie legen sie ihr eigenes Geld an, spielt da das Thema Nachhaltigkeit eine Rolle. Was bieten wir den Kunden an? Wie gehen wir mit den Kunden um? Was finanzieren wir? (P 59)
Auf der anderen Seite tritt die eigene Identität als Bank, die man vorher war, teilweise in Konflikt mit den neuen Entscheidungsprämissen. Sie gefährden das Verhältnis der Bank zu sich selbst als Ganzes, die sich eben nicht als Ökobank sieht und Angst hat, sich genau in solch eine zu verwandeln. Und das ist dann eher noch mal, sage ich mal, konservative Vorstandskollegen, die dann eher ängstlich sind und sagen: „Hm, wollen wir jetzt hier eine grüne GLS-Bank auch noch werden und nur noch Nachhaltigkeitsprodukte verkaufen?“ Da gibt es so Hemmschwellen. […] F: Und wovor haben die dann genau Angst? (0:16:31) A: Ja, gute Frage.[Lacht] Wovor haben die genau Angst? Ich glaube, letztendlich sind das ja schon alles noch Banker. Also, man kommt hier hin, und es sind viele Menschen, die hier vor 20–30 Jahren angefangen haben, ja? Vielleicht manche mit der Ausbildung, manche nach der Ausbildung, und die zwar sagen, wir stehen dahinter, wir finden das auch alles wichtig, wir finden das toll, dass das ein christliches Haus ist. Aber es trotzdem so einen Grundzweifel an dem ganzen Konzept gibt. (P 31)
Auch die Mitarbeiter/innen haben grundlegende Zweifel, weswegen intern mit anderen Begriffen operiert wird, obwohl die Aktivitäten und Entscheidungsprämissen bezüglich des nachhaltigen Bankwesens natürlich auch an die Markterfordernisse angepasst werden. Dieses Thema [Leitsatz der Bank, anonymisiert durch Autorin] ist, merke ich, wie so ein Anker bei vielen Mitarbeitern, die dann sagen: „Na ja, das ist jetzt aber gar nicht [Leitsatz], wenn wir das machen. Oder wenn wir jetzt so ein Gebührenmodell machen, wäre das ja nicht [Leitsatz].“ Also, das ist in den Mitarbeitern drin. (P 7) […] Und deswegen ist dieser [Leitsatz] für viele Bankberater, die im Prinzip einfach klassische Beratung machen, anschlussfähiger an ihr Denken. So: Wie behandle ich die, was verkaufe ich denen, wie transparent mache ich das, wie ehrlich bin ich? Wir sind ja ein christliches Haus. Das heißt, das hat auch noch mal so eine Ehrlichkeit, Vertrauen schaffen, Glaubwürdigkeit, das ist wichtig. Das nehme ich den Menschen hier auch ab. Und daher ist dieses Thema [Leitsatz] anschlussfähiger. Nachhaltigkeit ist sehr abstrakt, das können viele noch nicht verstehen, wie zieht sich das durch die Bereiche. Das sage ich jetzt. Aber ich glaube, das haben noch nicht alle so internalisiert. (P 9)
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Scheinbar trifft die Aussage „wir sind nachhaltig“ so stark den Kern der Organisationsidentität, dass sie abgewehrt und als Bedrohung wahrgenommen wird. Sie kann eben nicht abweichend vom Identitätstext auftauchen, weil sie nicht außerhalb der Rahmung, also der Organisationsaktivitäten, verläuft (Kirchner 2015, S. 75). Die Gefahr, dass sich grundlegende operative Funktionen der Identität durch einen neuen Identitätstext (integrative Funktion) ändern und sich damit die bisherige Identität auflöst, scheint zu groß. […] da gibt es einfach einen Grundzweifel (bei den Mitarbeitern), oder da ist man mit zwei Persönlichkeiten unterwegs, und das schlägt dann immer durch. Und das ist sicherlich: „Ist das hier eine Bank?“ Also, zuallererst ist das eine Bank. Und dann ist es eine christliche Bank. Und dann ist das eine christliche Bank, die sich das Thema Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Aber erst mal ist es auch noch eine Bank. Und daher ist das, was sozusagen hier an Menschenbild auch ist, und auch dass man das im Privatleben lebt, und dass man wenig Auto fährt, auf Fair-Trade-Produkte achtet, das ist in Teilen vorhanden, aber nicht grundsätzlich. Und das muss man, glaube ich, immer sehen, wenn man so andere Ziele auch hat. (P 33)
Der Kompromiss sind neue Begrifflichkeiten und Leitsätze, die aber auch nur die Auswirkungen auf die Entscheidungsprämissen und somit Organisationsaktivitäten haben, mit denen man etwas anfangen kann: Ehrlichkeit, Vertrauen, Glaubwürdigkeit. Inwieweit damit das Kernkonzept der Nachhaltigkeit und nicht nur eine Art ethische Neuausrichtung des konventionellen Bankgeschäfts Einzug in die Organisationsaktivitäten halten kann, wird die Zeit zeigen. Dieses Beispiel zeigt, wie die Identität eine Gegenspielerin von Nachhaltigkeit sein kann und am Ende das Feld prägt, indem Strategien und Handlungsentscheidungen, die in einer Linie mit der Identität sein müssen, auf den Finanzmarkt zurückwirken. Fall C Bei Bank C gibt es ebenfalls einen kurzen Hinweis auf einen Identitätskonflikt, bei dem ebenfalls eine Abwehr gegenüber dem ökologischen Gedanken des nachhaltigen Bankgeschäfts formuliert wurde. Nur durch die Anpassung der Begrifflichkeiten („Nachhaltigkeit ist ein Risikoansatz“) war weder die operative Funktion gefährdet („Banken müssen Risiken managen“), noch die integrative Funktion, die die Identitätstexte mit Bezug auf die ganze Organisation in ihrer Funktionsweise erfasst. Die Gefahr, dass durch Nachhaltigkeit jetzt neue Identitätstexte entstehen, die wiederum auf die Entscheidungsprämissen, also auch auf die operative Funktion Auswirkungen haben, wurde durch die finanzrationale Rahmung von Nachhaltigkeit gebannt. Also, bei uns, muss man auch sagen, als wir das vor [vielen] Jahren hier gemacht haben, wir haben dann ja den Nachhaltigkeitsfilter über unsere eigenen Anlagen gelegt, über unser Asset Management. Da haben einige auch geschluckt … und so nach dem Motto: „Was macht ihr da jetzt? Wird das jetzt hier zu einer christlichen Ökobank oder Umweltbank?“ Wie auch immer. Wo wir dann Aufklärungsarbeit gemacht haben und gesagt haben „so
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und so“ und heute eben auch Kunden gewinnen darüber, dass wir einfach sagen: Nachhaltigkeit ist ein Risikoansatz. Wir versuchen hier noch mehr Risiken aufzuspüren, die das reine Finanzrating nicht bringen kann, nicht erbringt. Und da wollen wir wirklich dann da ansetzen. Und da kriege ich den Ökonomen auch wieder. Weil keiner ja freiwillig bereit ist, sich irgendwelche Risiken ins Portfolio zu holen. Aber eigentlich ist es durch die Hintertür immer. (C 48)
Hier erkennt man ebenfalls die Abwehr gegenüber bereits etablierten „grünen“ Nachhaltigkeitsbanken, denen man nicht zu ähnlich werden will. Vielleicht steckt auch dahinter die Angst, nicht mehr zu wissen, was man als Bank eigentlich so machen darf. Was sind legitime Investitionen? Inwieweit muss man für die Folgen der Finanzierung Verantwortung übernehmen? Was ist die eigentliche ‚Uraufgabe‘ einer Bank, zu der man zurückfinden will? Wie kann man „für die Menschen da sein“, nachhaltig sein und eine gute und funktionierende Bank sein, ohne eine GLS-Bank zu werden? Die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit führt wie man an diesem Beispiel erkennen kann zu einer Verunsicherung über die Rollenerwartungen als Bank bzw. zur Angst über den Verlust der Identität als Bank („Was macht ihr da jetzt?“), wenn nicht die bisherigen ökonomischen Handlungsprinzipien weiterhin gelten. Fall K Auch in der Bank K gibt es intern große Widerstände. Auch wenn bereits Organisationsaktivitäten wie Nachhaltigkeitsprodukte entwickelt und verkauft oder Nachhaltigkeitsberichte veröffentlicht werden, fällt diese Aktivität nicht in die relevante Rahmung für die Bank. Die Aktivitäten eignen sich nicht, die Identität als Ganzes zu repräsentieren (Kirchner 2015, S. 75). Daher wird diese Entwicklung auch als Trend bewertet, dem man natürlich in gewisser Weise als Marktorganisation folgen muss, der aber nicht dazu führt, einen Wandel in strategischen Entscheidungen einzuleiten. […]. Also, es ist schon so, das nächste Problem, was wir haben, ist, es sind viele Menschen dem nachhaltigen … ich sage es mal vorsichtig, dem Nachhaltigkeitsgedanken … stehen dem Nachhaltigkeitsgedanken schon skeptisch gegenüber. Es geht ja nicht nur um die Mitarbeiter in dieser Bank, es gibt ja auch insgesamt noch Menschen. Also, das ist schon so, dass es viele nicht interessiert. Es gibt viele, die sagen „Das ist nur ein Hype, das gibt sich wieder.“ [Lacht] Ja. (Interview K 120)
Auch wenn die Entscheidung, nachhaltige Geldanlagen zu vertreiben oder Berichte zu schreiben, nicht die Identität der Bank gefährdet, weil sie beispielsweise die Legitimität als Marktorganisation verliert – nachhaltige Geldanlagen erwirtschaften ebenfalls gleiche Rendite beziehungsweise stabilere Renditen – wird massiver Widerstand gegenüber dem Mitarbeiter geleistet, der sich dem Thema Nachhaltigkeit angenommen hat: Und ich bin auch dabei geblieben, freiwillig, auch wenn ich manchmal denke, das war ein Fehler. Es macht nicht immer viel Spaß. Also, es ist schon so, dass das ein Thema ist, da kommen wir gleich rein, das auch spaltet.[Räuspert sich] F: Das glaube ich. A: Das kennen Sie wahrscheinlich auch. […] Es gibt schon Leute, die dann sagen… ich kaufe irgendwie
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6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
dann auch schon biologischer ein und so. Und dann stehen Leute vor dir und sagen: „Und? Fühlst du dich jetzt besser? Ja?“ Uuh! [Genervtes Stöhnen] Ja? Uuh. Das geht bis in den Vorstand. Also, wir haben auch im Vorstand Leute, wo du sagst: „Oh, weh.“ Da knallen auch die Türen manchmal. […] (Interview K 6–10)
Hier wird die beauftragte Projektleiterin in ihren privaten nachhaltigen Konsumentscheidungen angegriffen. Des Weiteren wird aber auch noch eines klar: Die Entscheidung für Bio-Lebensmittel stellt sich ähnlich wie bei dem Fall P als hinderlich heraus, da damit eine Assoziation mit „Ökos“, also einem bestimmten Milieu hergestellt wird, mit denen sich die einzelnen Mitarbeiter/innen und schon gar nicht die Bank als Ganzes identifizieren kann. Hinter der Ablehnung der Entwicklung zu einer „grünen Bank wie die GLS“ kann auch die Ablehnung und Kritik an dem Distinktionsverhalten eines bestimmten Teils der Mittelschicht stehen und damit gegen ein neues kulturelles Bewertungsmuster von Ungleichheit (Neckel 2018). Obwohl eigentlich die Umwelt vor allem durch die Lebensweise der wohlhabenden Schichten belastet wird, wird gerade den Unterschichten die unökologischste Lebensführung unterstellt. Das führt dazu, dass sie „im Namen von Nachhaltigkeit […] neuen Formen der Verachtung ausgesetzt [sind]“ (Neckel 2018, S. 67). Diese hinter dem Wandel des Konsumstils der Kollegin stehende drohende Abwertungskulisse beruht also auf einem empirisch real vorkommenden Distinktionsverhalten der Mittelschicht gegenüber den niedrigeren sozialen Schichten, das so emotional unterfüttert ist, dass das Ess- und Kaufverhalten dieser Sozialgruppe von der Mittelschicht in der Gesellschaft mit großer Abscheu beobachtet und bewertet wird (Neckel 2018, S. 68). Das ruft natürlich Gegenreaktionen hervor. Wenn Nachhaltigkeit derartig als „soziale Grenzziehung“ (Neckel 2018, S. 70) gedeutet wird, ist verständlich, warum es ein gemeinsames Vorgehen zur Transformation des Bankensektors und des Finanzmarkts nicht geben kann. Wird hier doch noch deutlicher als in anderen Feldern, wer profitiert und wer nicht. Dass das am Ende alle trifft und betrifft, könnte Aufgabe und Ziel einer Aufklärung sein. Was diese Falldarstellungen der internen Verarbeitung von Nachhaltigkeit in Banken zeigen, wird im Zwischenfazit noch einmal abschließend diskutiert. Durch den kurzen empirischen Einblick in die Widerstände und Umgangsweisen, die Banken mit dem Thema Nachhaltigkeit intern gefunden haben, schließt der zweite Block hier mit explorativen Thesen zur Organisationsidentität(-skrise).
6.2.4 Zusammenfassung und Diskussion Was spielt sich genau in den Banken ab, wenn Nachhaltigkeit ein Thema wird? Was kann uns das vielleicht allgemein darüber sagen, warum Banken Nachhaltigkeit nicht viel stärker in das alltägliche Bankgeschäft integriert haben? Nach den Falldarstellungen ist nachvollziehbar geworden, dass neben grundlegenden Logikkonflikten (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) die fehlende Identitätsbildung
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
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bei Banken das Problem bei der Ausbreitung eines nachhaltigen Bankwesens sein kann. Bisher steht vor allem die GLS-Bank als starker Player im Feld des nachhaltigen Bankwesens zur Verfügung. Viele Banken sehen diese für sich jedoch nicht als geeignetes Vorbild. Da sie jedoch Schwierigkeiten haben, eine Identität auszubilden, die es ihnen erlaubt „Bank“ zu sein, ihre Eigenheiten (wie spezielle Wertorientierungen) zu behalten und trotzdem Nachhaltigkeit zu verfolgen, wird zugleich das ganze nachhaltige Bankwesen für die Identitätsbildung zur Gefahr. Zu betonen ist, dass bei den aufgeführten Fallbeispielen keine ökonomischen Argumente gegen die Nachhaltigkeit ins Feld geführt, sondern vor allem Identitätstexte produziert wurden: „Wir sind doch nicht wie …“, „Wir sollen doch wohl nicht so werden wie …“. Das heißt, es geht hier nicht rein um einen Konflikt mit der Marktlogik, der in diesen Fallbeispielen zutage tritt. Eine Schlussfolgerung ist, dass die Organisation als Ganzes Nachhaltigkeit auf andere Art und Weise rahmen muss, um sie einen Teil der Identität werden zu lassen und so einen grundlegenden Wandel des Bankwesens zu erreichen. Besonders wichtig wäre es in Anbetracht des Klimawandels und einer drohenden ökologischen Krise, die Aversion gegen die ökologische Komponente der Nachhaltigkeit zu verstehen und zu bearbeiten. Diese explorativen Auswertungen legen nahe, dass mit dem Nachhaltigkeitskonzept wegen der Assoziation mit bestimmten Akteur/innen im Feld (vorrangig der GLS-Bank) auch Milieugrenzen berührt werden, die nicht so einfach mit den Kund/innen und den Mitarbeiter/innen jeder anderen Bank zu vereinbaren sind. Die Aufgabe für Banken würde dann lauten, das Konzept milieugerecht zu kommunizieren und anzuwenden.5 Interessant wäre dabei dann, was im Kern an Veränderung zurückbleibt oder welche neuen Dynamiken sich entwickeln.
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit Bis jetzt haben wir mit dem Konzept der Organisationsidentität und dessen Anwendung auf die Teile des Interviewmaterials, welches Narrationen über Selbstbeschreibungen und Identitätsaussagen der jeweiligen Banken sowie episodische Erzählungen über 5Im
Zusammenhang mit Milieustudien zum Naturbewusstsein der Bundesregierung, die in Zusammenarbeit mit dem Sinus Institut durchgeführt wurden, wird zum Beispiel empirisch untersucht und aufgezeigt, welche Haltungen in den verschiedenen Milieus existieren und wie man eine bewusstere Haltung zum Naturschutz in der Bevölkerung fördern kann. Auch wenn Umweltbewusstsein und positive Einstellungen zur Natur eine gesellschaftliche Norm darstellen, empfehlen die Autor/innen, in der Naturschutzkommunikation die Unterschiede der gesellschaftlichen Gruppen zu beachten. Das heißt einerseits, gut situierte Milieus trotz ihres sehr hohen Naturbewusstseins mehr für ihren ressourcenintensiven Lebensstil zu sensibilisieren und daran angelehnt, sie mehr in die Verantwortung zu nehmen sowie andererseits sozial benachteiligten Milieus mehr Kontakt zur Natur und dadurch eine wertschätzende Beziehung zu ebendieser zu ermöglichen (BMUB und BfN 2016, S. 15).
246
6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
interne Konflikte enthielt, hemmende Prozesse in der Identitätsbildung der Banken bei der Integration von Nachhaltigkeitspraktiken gefunden. Im Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band konnten wir sehen, dass das Feld der Banken wesentlich durch vier etablierte Logiken geprägt ist: die Staats-, Markt-, Religions- und Gemeinschaftslogik. Die neue Nachhaltigkeitslogik (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band) fordert dieses Feld in vielerlei Hinsicht heraus, bietet neue Orientierungen und Lösungen für ökosoziale Krisen; sie stellt aber auch durch eine weitere Komplexitätserhöhung und neue Ambivalenzen eine Herausforderung für die Banken dar (z. B.: Wie vereinbaren wir Ressourcenschonung mit Renditestreben beziehungsweise dem ökonomischen Wachstumsparadigma?). Doch wie kam es überhaupt dazu, dass Banken sich dieser Logik geöffnet und sich aktiv damit auseinandergesetzt haben? Wie ist Nachhaltigkeit ursprünglich in die Banken gelangt und konnte sich dort etablieren und institutionalisieren? Wenn es darum geht, Treiber/innen oder Hemmnisse für Nachhaltigkeit auszumachen, kann man noch eine weitere Sichtweise für die Bedeutung des Wortes „Treiber/in“ einbringen. Treiber/in kann letztendlich auch eine andere Bezeichnung für Entrepreneur/in sein, die Prozesse verändern bzw. „antreiben“. Im Folgenden soll durch den Blick auf institutionelle Entrepreneur/innen (in anderen Worten „Treiber/innen“) von Nachhaltigkeit im Bankwesen aufgezeigt werden, warum Akteur/innen im Feld der Banken aktiv wurden, um das Thema Nachhaltigkeit umzusetzen. Damit schließt diese Analyse an Forschung zum organisationalen und institutionellen Wandel (Beckert 1999; Glynn 2017; Goodrick und Reay 2011; Leung et al. 2014) und Agency6 in der Organisations- und Institutionentheorie an (Abdelnour et al. 2017; Battilana und D'Aunno 2009; Garud et al. 2007; Hardy und Maguire 2017; Lawrence et al. 2009; Powell und Rerup 2017). Mit der Analyse von Lebensläufen wird ein Blick auf die Mikroebene des Wandels geworfen und das Thema Verbreitung von Nachhaltigkeit in Banken von einer ganz anderen Perspektive aus angegangen. Dafür wird zunächst der Theorierahmen vom institutionellen Unternehmertum und institutioneller Arbeit und anschließend eine Typologie der Treiber/innen von Nachhaltigkeit im Feld der Banken aus dem Dissertationsprojekt der Autorin vorgestellt.
6Nach
Emirbayer und Mische ist Agency “the temporally constructed engagement by actors of different structural environments […] which both reproduces and transforms those structures in interactive response to the problems posed by changing historical situations (Emirbayer und Mische 1998, S. 9). Vereinfacht ausgedrückt, meint es die Handlungsfähigkeit von Akteur/innen gegenüber Strukturen (Mick 2012, S. 627).
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
247
6.3.1 Konzepte Institutional Entrepreneurship und Institutional Work Der folgende Teil dieses Artikels ist wie bereits in der Einleitung erwähnt Teil des Dissertationsprojekts (Griese 2020). In diesem befasse ich mich mit Fragen nach den Motiven von institutionellen Entrepreneur/innen und deren Rolle im Institutionalisierungsprozess der Nachhaltigkeitslogik im Bankwesen. Durch die Interpretation der Wechselwirkungen zwischen den individuellen Akteur/innen und ihren Lebensverläufen, der Organisation und des organisationalen Feldes erweitere ich die Mikroperspektive und Erforschung von Agency in der Organisations- und Institutionentheorie (Griese 2020). Dieser Artikel konzentriert sich durch den Einblick in die Typologie der Nachhaltigkeitstreiber/innen auf die Frage, warum Akteur/innen zu institutionellen Unternehmer/innen wurden. Darüber hinaus zeichne ich anhand der Abgrenzungen der Interviewten zu Zuschreibungen wie dem Öko-sein sowie einem kurzen Interpretationsbeispiel die Wechselwirkungen der Logikkonflikte im Feld des Bankwesens (Markt- versus Nachhaltigkeitslogik), dem Lebensverlauf und des Darstellungsinteresses, die sich in den biografischen Erzählungen rekonstruieren lassen, nach. Wenn man sich individuellen Treiber/innen aus organisationssoziologischer Perspektive widmet, kommt man an den Konzepten zu institutional entrepreneurship (IE) und institutional work (IW) nicht vorbei (Abdelnour et al. 2017; Battilana et al. 2009; Beckert 1999; Greenwood und Suddaby 2006; Lawrence et al. 2009; Weik 2011). Die kommenden Abschnitte führen in die Konzepte und Debatten ein. Daran anschließend stelle ich die Forschungslücke dar, die im Neo-Institutionalismus (NI) zur Mikrofundierung von institutionellem Wandel sowie zur Untersuchung von Gründen von institutionellem Unternehmertum bestehen und die mit der Typologie geschlossen wird. Institutional Entrepreneurship Den theoretischen Rahmen bildet hier wie auch für das gesamte Projekt der soziologische Neo-Institutionalismus (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Dieser beschäftigt sich mit Organisationen, Institutionen, Legitimität, Wandel, Stabilität sowie organisationalen Feldern und möchte den Einfluss von Institutionen auf Organisationen untersuchen und damit die Gesellschaft wieder in die Organisationswissenschaft zurückbringen. Diese heterogene Theorieströmung möchte sich in aller erster Linie von einem Rational-Choice-Modell abgrenzen und Organisationen multikontextuell einbetten (u. a. Greenwood et al. 2008; Senge 2011; Senge und Hellmann 2006; Walgenbach und Meyer 2008). Das Konzept des institutionellen Unternehmertums, das sich als Reaktion auf die Überbetonung von Kultur und Struktur sowie die zu passive Konstruktion von Akteur/innen entwickelte (Hirsch und Lounsbury 1997; Senge 2011), kennzeichnet die vermehrte Beschäftigung mit Agency und damit der Mikrofundierung im Neo-Institutionalismus (Hasse und Schmidt 2010). Im Zuge dessen wandelt sich auch
248
6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
die Fragestellung; im Gegensatz zu den Anfängen des NI soll nicht mehr Stabilität, sondern Wandel erklärt werden (Walgenbach und Meyer 2008, S. 139). Die Erforschung vom institutionellen Unternehmertum begründet den „agentic turn“ (Abdelnour et al. 2017). In der Definition stehen deswegen die Akteur/innen im Vordergrund. We thus define institutional entrepreneurs as change agents who, whether or not they initially intended to change their institutional environment, initiate, and actively participate in the implementation of changes that diverge from existing institutions (Battilana und D'Aunno 2009, S. 70)
Der Begriff „Entrepreneur/in“ ruft innerhalb des NI, der sich schließlich ursprünglich die „Rückkehr der Gesellschaft“ in die Institutionentheorie und Organisationstheorie zum Ziel gesetzt hat (Friedland und Alford 1991), Ambivalenzen hervor, die aus der Verwendung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften stammen. Wird doch vermutet, dass mit der Analogie zu Unternehmer/innen, die Sichtweise befördert würde, Akteur/ innen könnten Institutionen nach ihrem Willen kreieren und zerstören (Weik 2011, S. 6). Nichtsdestotrotz ermöglicht das Konzept die Erforschung von individuellen Akteur/innen in (De-)Institutionalisierungsprozessen und damit ein besseres Verständnis von Wandel (Hardy und Maguire 2017, S. 273).7 Institutional Work Der Akteursbegriff ist auch im Konzept von institutional work (IW) (Lawrence und Suddaby 2006) in den NI integriert. Allerdings liegt der Fokus auf dem sinnhaften Umgang mit Institutionen und der aktiven Arbeit an der Entstehung, Aufrechterhaltung, Veränderung und Auflösung von Institutionen (Senge 2015, S. 207). In Erweiterung an das IE-Konzept und angelehnt an Giddens (1997) sensibilisiert institutionelle Arbeit in stärkerem Maße dafür, dass Akteur/innen konstant an der Produktion und Reproduktion von Institutionen beteiligt sind. Es werden nicht einzelne (kollektive) Akteur/innen für Veränderungen verantwortlich gemacht, sondern Praktiken und Alltagshandlungen in den Blick genommen. Hierdurch wird eine Abgrenzung vom Bild hypermuskulärer Entrepreneur/innen vorgenommen (Lawrence et al. 2009, S. 1; Maguire und Hardy 2009, S. 173). Studien legen daher nicht einen besonderen Typ von Akteur/innen offen, sondern konzentrieren sich auf die Art und Weise wie institutionelle Arbeit vonstattengeht (z. B. Granqvist und Gustafsson 2016; Lawrence und Suddaby 2006; Leung et al. 2014). Institutionelle Entrepreneur/innen können folglich aus dieser Sicht verschiedene Formen von institutioneller Arbeit leisten, und gleichzeitig gibt es institutionelle Arbeit, die nicht immer institutionellen Entrepreneur/innen zugeschrieben wird. Das Konzept
7Die
Zukunft der IE-Forschung und damit das Ziel, institutionellen Wandel zu erklären, liege mittlerweile, als Reaktion auf die Kritik an Forschung zu „heroischen Einzelkämpfer/innen“, in einem prozessorientierten Ansatz (Hardy und Maguire 2017, S. 276).
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
249
der institutionellen Arbeit ist somit unabhängig von der Konzeption des institutionellen Unternehmertums. Die institutionellen Entrepreneur/innen leisten aber immer eine Form der institutionellen Arbeit (Walgenbach 2014, S. 336). Diskussion Institutional Entrepreneurship und Institutional Work Im Rahmen der Organisationstheorie widmet sich der NI mit seinen Konzepten zu IE und IW also der Frage nach der Rolle von individuellen Akteur/innen in Prozessen von Institutionalisierung, also Veränderung von institutionalen Settings. Der NI bearbeitet damit kein theorieeigenes Problem, sondern ein in der Soziologie weit verbreitetes und viel diskutiertes, nämlich das zwischen Struktur und Handlung bzw. Individuum und Institutionen. Gerade deshalb handelt sich IW- und IE-Forschung regelmäßig Kritik ein (z. B. Alvesson und Spicer 2018; Kirchner et al. 2015; Schimank 2015; Weik 2011), auf die in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden kann8. Dennoch treten durch das Konzept relevante Fragestellungen zutage und stoßen Forschung zu der Rolle von individuellen Akteur/innen, wenn man es allgemeiner fassen möchte, gegenüber Strukturgestaltungen an. Eine Forschungslücke existiert jedoch hinsichtlich der Motive von institutionellen Entrepreneur/innen (Greenwood und Suddaby 2006; Kisfalvi und Maguire 2011; Weik 2011), die ich mit meiner Untersuchung schließen möchte. Der Kritik wird in der Beantwortung der Forschungsfrage durch die Wahl der Methode Rechnung getragen. Insofern ist die Fragestellung durch den NI inspiriert, aber durch eine neue methodische Herangehensweise, nämlich die der biografischen Fallrekonstruktion (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Kraimer 2012; Rosenthal 1995, 2002; Schütze 1978, 1983a, b, 1984) angereichert. Mit den Konzepten von IW und IE existiert bei der Diskussion um die Mikrofundierung im NI ein Spannungsfeld zwischen der Intentionalität individueller Akteur/ innen und nicht-intendierten Handlungsfolgen alltäglicher Handlungspraxis. Wobei besonders der IE-Ansatz in der Gefahr sei, im Rahmen einer Institutionen- und Organisationstheorie zu akteurszentriert zu forschen und den „viewpoint of managerial or shareholder elites“ zu übernehmen (Suddaby 2015, S. 93). Welche Möglichkeit gibt es daher, um vergangene Motive für die Beteiligung an institutionellen und organisationalen Veränderungsprozessen untersuchen zu können und gleichzeitig keinem Subjektivismus zu verfallen (Oevermann et al. 1979, S. 359)? Auch wenn die Analyse durch die biografisch-narrativen Interviews ebenfalls sehr akteurszentriert ist, geht es nicht um die Herausarbeitung der besonderen Kompetenzen oder Eigenschaften der Entrepreneur/innen und nicht um die Nachzeichnung von rational, linear handelnden Akteur/innen, die erfolgreich ihre Interessen gegenüber unterschiedlichen Widrigkeiten durchsetzt (Hardy und Maguire 2017, S. 273). Die Lösung, institutionelle Unternehmer/innen und ihre Rolle im Institutionalisierungsprozess untersuchen zu können, liegt in der Wahl der Methode. Durch die biografische
8Siehe
dazu die ausführliche Darstellung der Kritik in der Dissertation Griese (2020).
250
6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
allrekonstruktion (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Rosenthal 1995, 2002; Schütze F 1978, 1983b) wird es möglich, Handlungen der individuellen Akteur/innen in einen langen Zeitraum einzubetten, intentionale Entwürfe in Relationen zum Getriebensein und latenter Handlungsorientierungen des Lebenslaufs zu rekonstruieren und Wechselwirkungen zwischen der Organisation ‚Bank‘ beziehungsweise dem Feld des Finanzmarkts herauszuarbeiten. Das Engagement im Prozess der Institutionalisierung von Nachhaltigkeit in Banken und die Handlungen der Treiber/innen werden folglich mit Blick auf ihren Lebenslauf interpretiert. Die biografische Methode erlaubt zunächst eine Offenheit gegenüber den Relevanzen, die die Befragten einbringen. Zudem wird der Zeithorizont ausgeweitet, in dem man die Gründe für institutionelles Unternehmertum untersucht. Das führt dazu, dass Handlungsorientierungen und Motive zum Zeitpunkt der Institutionalisierung in Relation zu anderen, vielleicht sogar viel wichtigeren Handlungsantrieben und Lebensthemen gesetzt werden. Es geht nicht darum direkt zu erfragen, durch welches Handeln Wandel erreicht wurde, sondern verschiedene institutionelle Einflüsse aus der Lebensgeschichte mit den Handlungen in Relation zu setzen, die auf die institutionellen Änderungen abzielen. Beide Konzepte IW und IE erlauben eine Forschung von institutionellem Wandel und Agency, die durch institutionelle Zwänge geprägt beziehungswiese in bestimmte institutionelle Settings eingebettet ist. Sie stellen beide im Rahmen der Dissertation ein sensibilisierendes Konzept (Blumer 1954) dar. Durch die Anwendung der fallrekonstruktiven Methode fließen darüber hinaus weitere theoretische Vorannahmen in die Untersuchung mit ein. Ich eröffne mir mit dieser Methode die Möglichkeit, die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die individuellen Akteur/innen im Kontext des ganzen Lebenslaufs zu betrachten und so die Gründe für institutionelles Unternehmertum zu rekonstruieren, die nicht nur aus den geäußerten Intentionen und Motiven herausgearbeitet werden, die sich direkt auf die Umsetzung von Nachhaltigkeit beziehen oder im Kontext des Institutionalisierungsprozess erheben ließen. Im Weiteren geht es nun darum nachzuvollziehen, warum Akteur/innen in einer Bank eine vollkommen neue Rationalität verfolgen und umgesetzt haben. Dazu will ich zunächst die Daten, die Methode und das Sample kurz vorstellen.
6.3.2 Daten, Methode und Sample Bei der biografischen Methode steht die Analyse von Lebensläufen im Mittelpunkt. Angelehnt an Rosenthal (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Loch und Rosenthal 2002; Rosenthal 1995, 2002) und Schütze (Schütze 1978, 1983a, 1984) geht es dabei insbesondere um die Rekonstruktion von Lebensgeschichten beziehungsweise darum, Prozessstrukturen des Lebensverlaufs zu erfassen (Schütze 1983b). Um an die Lebensgeschichten zu gelangen, habe ich im narrativen Interview eine Eingangsfrage gestellt, die die Befragten zum Erzählen ihres Lebens aufforderte. Allgemein geht es in der Analyse dieser Erzählungen im Rahmen der Biografieforschung „um die Unterscheidung zwischen den bekundeten Handlungsabsichten und Theorien über das eigene
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
251
Selbst einerseits und der sich „im Schatten“ dieser Theorien dokumentierenden Handlungspraxis“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 20) andererseits. Die tatsächlichen Gründe für Handlungen und Entscheidungen der Biografieträger/innen findet man eben gerade nicht durch die von den Befragten selbst aufgestellten Theorien und Erklärungen über das eigene Leben heraus, sondern durch die Analyse der in der Erzählung stattgefundenen Handlungspraxis (ebd.). Das Sample 2 besteht aus 13 erhobenen, transkribierten und 10 vollständig ausgewerteten Interviews. Zwei Interviews mit (davon einer ehemaligen) Angestellten aus Banken dienten als Kontrastfälle. Die Interviewten, die hier im Mittelpunkt stehen, sind alles Personen, die die ersten waren, die entweder komplett den Nachhaltigkeitsbereich in einer Bank aufgebaut oder für Banken relevante Nachhaltigkeitsprodukte und -Strukturen etwa für das Nachhaltigkeitsverständnis der Bank oder das nachhaltige Wertpapiergeschäft geschaffen haben. Sie sind somit die ersten, die sich mit einem Projekt oder in einer neu eingerichteten Stelle mit Nachhaltigkeit im Bankwesen auseinandersetzten oder auch noch weiterhin auseinandersetzen. Sie qualifizieren sich als IE, weil sie das institutional template, das Rollenverständnis und Kerngeschäft der Bank verändert haben und nicht nur als change agents agierten und lediglich Organisationspraktiken im Rahmen des Bestehenden beeinflussten (Battilana und D'Aunno 2009, S. 70). Der Kontakt konnte durch Recherchen, Interviews und Veranstaltungen im Rahmen des Projekts hergestellt werden. Da es sich um eine qualitative Untersuchung handelt, entspricht das Sample keiner statistischen Repräsentativität. Die Frage danach ist im Kontext qualitativer Forschung jedoch auch deplatziert, weil es dabei nie um den Nachweis von Korrelationen zwischen bestimmten Variablen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 5), sondern um Theoriegenerierung und damit um konzeptuelle Repräsentativität geht (ebd., S. 33). Die hier vorgestellte Typologie hilft also, soziale Gesetzlichkeiten und nicht Gesetzmäßigkeiten, die statistische Häufigkeiten meint, zu entdecken (Bude 1984, S. 23–25). „Erzählzwänge“ Dem biografisch-narrativen Interview liegen bestimmte erzähltheoretische Annahmen zugrunde. Durch die „Sogwirkung“ (Hermanns, Tkocz und Winkler 1984, S. 104) gelangen die Befragten in einen Erzählstrom, der den Erfahrungen näher liegt, als andere Erzählformen. Die Erzählung eignet sich besser als die Argumentation und die Beschreibung, um an die tatsächlichen Erlebnisse und Handlungsabläufe heranzukommen (Schütze 1978). Nach Schütze und Kallmeyer sind dafür drei Zwänge des Erzählens ursächlich: der Gestaltschließungszwang, der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang und der Detaillierungszwang. Der erste ermöglicht es, dass die ganze Erzählung insgesamt für Fremde verständlich wird, der Relevanzfestlegungsund Kondensierungszwang gibt Aufschluss, was den Erzählenden wichtig ist, und der Detaillierungszwang stellt Verknüpfungen und Hintergrundinfos für Fremde bereit (Kallmeyer und Schütze 1977, S. 162; Loch und Rosenthal 2002, S. 4). Das narrative Interview bedarf besonderer Interviewtechniken, die diese Erzählungen stimulieren, da
252
6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
diese im Alltag weniger Platz finden (Küsters 2006; Loch und Rosenthal 2002). Das gilt besonders für meine Befragten, da in ihrem rational-ökonomisch geprägten Arbeitsumfeld die Textsorte der Argumentation und Beschreibung vorherrschen und sie daran gewöhnt sind. Dies stellte für die Erhebung und Auswertung einen erhöhten Bedarf an Aufmerksamkeit dar. Prozessstrukturen Die Rekonstruktion von Prozessstrukturen und die biografische Gesamtformung ist zunächst das Ziel der Auswertung der fallrekonstruktiven Biografieforschung nach Schütze und stellt die Grundlage für den Vergleich der Lebensläufe dar. Zentral für die Rekonstruktion der biografischen Gesamtformung, die der Kontext für die Frage nach der Bedeutung von Nachhaltigkeit im Lebenslauf der Befragten darstellt, ist die Annahme, dass es Ordnungsstrukturen gibt, die die Handlungspraxis leiten (Schütze 1984, S. 104). Die Prozessstrukturen des Lebenslaufs erfassen unterschiedliche biografische Entfaltungsmechanismen und die Verlaufsförmigkeit von Phänomenen im Lebenslauf, zum Beispiel Phasen des Leidens oder des Wandels, und dessen Auswirkungen auf die Identität der Biografieträger/innen (Schütze 1983b). Schütze unterscheidet vier Prozessstrukturen („Grundphänomene von Lebensläufen“): Institutionelle Ablaufmuster, Verlaufskurven9 (gekennzeichnet durch den Verlust der Handlungsgestaltungsmacht), biografische Handlungsschemata (erfassen genau im Gegenteil das intentionale Handlungsmuster, wo sich das Subjekt als selbstständig entscheidend und handelnd wahrnimmt) und biografische Wandlungsprozesse (thematisiert den Fokus auf Wandlung der Selbstidentität) (1983b, S. 67). In der Analyse der Motive der IE dienen sie als Heuristik und Hilfestellung, da sie Ablaufmuster und Ordnungsstrukturen in den Lebensläufen erkennbar machen. Sie helfen, den Grund für das Engagement für Nachhaltigkeit zu rekonstruieren, indem sie den Blick auf lebensgeschichtliche Prozesse lenken und die Genese von Handlungsorientierungen nachvollziehbar machen. So frage ich mich in meiner Auswertung, ob eine Entscheidung von außen beeinflusst war und in welchen größeren Prozess der/die Befragte steckte. Sind lebensgeschichtliche Brüche zu erkennen und wenn ja, sind sie Grund oder Folge vom Auftauchen von Nachhaltigkeit? Ist die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit Teil eines institutionellen Ablaufmusters, daher in gewisser Weise „normal“ und zu erwarten? Ist ein Wandel der Selbstidentität erkennbar? Die Typisierung ist demzufolge eine Antwort auf die Frage, warum die Interviewten zu Treiber/innen von Nachhaltigkeit wurden und basiert auf der Bedeutung, die ihre Position und das Thema im Kontext ihrer biografischen Gesamtformung einnimmt. Anders gesagt, kann man auf diese Weise die individuellen Handlungsantriebe und Handlungsorientierungen im Institutionalisierungsprozess herausfinden.
9„Soziale
Verlaufskurven sind entweder positive („steigende“) oder negative („fallende“) „besonders dichte, eine globale sequenzielle Geordnetheitsstruktur auskristallisierende konditionelle (nicht intentionale) Verkettung von Ereignissen“ (Schütze 1983b, S. 90).
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
253
Auswertung Die Auswertung orientiert sich an der Narrationsanalyse (Schütze 1983b, 1984) und der Rekonstruktion der Gestalt von erlebter und erzählter Lebensgeschichte nach Rosenthal (1995, 2002). Beide enthalten das Element der Analyse von zwei Ebenen, die der Darstellung (das wie) und die der Handlung und Erfahrung (das was) (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 20). Die biografischen Gesamtsicht (Rosenthal 1995, S. 13) setzt noch stärker als die biografische Gesamtformung von Schütze die Notwendigkeit für die Rekonstruktion der Gesamtgestalt der Lebensgeschichte als Basis für die Interpretation von der Genese von Handlungsorientierungen der IE methodisch um. Beide Begriffe zielen jedoch letztendlich darauf ab, die regelkonstituierenden Strukturen, die das Handeln der Biografieträger/innen beeinflussen, herauszuarbeiten und nicht nur die subjektive Bewertung des Lebens oder lediglich das im narrativen Interview dargestellte zusammenzufassen.10 Durch die organisationssoziologische Fragestellung folge ich hier der theoriegeleiteten biografischen Fallrekonstruktion (Miethe 2014), die wichtigen Elementen und Charakteristika rekonstruktiver Forschungslogik folgt, aber an meso- und makrotheoretische Fragestellungen anknüpfbar bleibt. Damit werden vermeintlich unwichtige Nebenschauplätze der biografischen Erzählung für die organisationssoziologischen Fragestellungen stärker mit einbezogen (ebd., S. 174).11 Für mein Vorgehen habe ich die Interviewten im Sinne des narrativ-biografischen Interviews zunächst aufgefordert, ihr Großwerden und ihren beruflichen Werdegang zu erzählen. Diese Interviewform provoziert im Vergleich zum E xpert/innen-Interview, welches für die Deutungsmusteranalyse im Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band als diskursives Interview geführt wurde (Ullrich 1999), in aller erster Linie Erzählungen anstatt Rechtfertigungen. Dazu tritt die Interviewerin mehr in den Hintergrund und vermeidet Konfrontationen, die theoretisch-reflexive überformte Antworten liefern (Bohnsack 2014, S. 96). Sowohl die Art der Interviewführung als auch die Auswertung folgt einer anderen Forschungslogik, in der es darum geht, „Raum zu Gestaltentwicklung“ zu ermöglichen und diese für die biografische Gesamtsicht zu rekonstruieren (Rosenthal 1995, S. 208). Ich gehe nicht subsumptionslogisch vor, also ordne Abschnitte und Aussagen nicht unter bestehenden Kategorien, sondern rekonstruiere das Regelsystem meiner Fälle, das nicht zerteilt werden kann (ebd., S. 208–210). Logischerweise muss für eine Typisierung der Fälle daher zunächst eine rekonstruktive Fallanalyse jedes einzelnen Interviews durchgeführt werden (ebd., S. 210). 10An
dieser Stelle verweise ich erneut auf die Dissertation, die sich der fallrekonstruktiven Forschungslogik und die Methodologie von Schütze und Rosenthal in einem eigenen Kapitel ausführlich widmet (Griese 2020). 11Biografische Ereignisse, die nicht die Strukturhypothese bestätigen oder falsifizieren, können im Rahmen einer organisationssoziologischen Fragestellung höchst relevant sein, während sie für die Biografieforschung vernachlässigbar wären (Miethe 2014, S. 174).
254
Phase 1
Phase 2
Phase 3
6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
• Segmenerung, Codierung, Memos schreiben • objekve (Lebens-) Daten sammeln
• Sequenzanalyse mithilfe von Gruppen • Prozessstrukturen der Lebensverläufe erfassen
• Zusammenführung aller Ergebnisse, Rekonstrukon der biografischen Gesamormung mithilfe der Prozessstrukturen, Segmenerung/Codierung und Rekonstrukon der erlebten und erzählten Lebensgeschichte • Typenbildung durch Fallvergleich anhand der Forschungsfrage
Abb. 6.1 Methodisches Vorgehen. (Quelle: Eigene Darstellung)
Für die Auswertung12 wurde die qualitative Analysesoftware MAXQDA eingesetzt. Angelehnt an Schütze (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 327 f.; Schütze 1984, S. 89 f.) wurde jedes einzelne Interview zunächst nach dem Aufbau der Erzählung segmentiert und jedes dieser Segmente mit einer zusammenfassenden Überschrift beziehungsweise einem Thema codiert („Segmentcodes“). Die Sequenzanalyse, ein elementarer Teil der fallrekonstruktiven Forschungslogik und Teil der biografischen Methode (Kraimer 2012, S. 35) wurde mithilfe von verschiedenen zusammengesetzten Gruppen durchgeführt, die fach- und projektfremd, unterschiedlichen Alters und Geschlechts waren und verschiedene Berufe ausübten. Daher produzierten diese Gruppen viele verschiedene Lesarten und stellen ein weiteres methodisches Korrektiv für die Interpretationen der Autorin dar.13 Zusätzlich wurden mit einem Fragebogen („Sozialdatenblatt“) objektive Lebensdaten wie Schulabschluss, Beruf der Eltern, Wohnort, etc. direkt bei den Interviewten abgefragt. In wenigen Fällen musste ich durch zusätzliche Recherche Lücken in den objektiven Lebensdaten schließen. Die Abb. 6.1 fasst das Vorgehen auf einem Blick zusammen. Abschließend ist hier zusammenzufassen, dass die Typen auf Grundlage von zehn Einzelfallrekonstruktionen entstanden sind. Die biografische Gesamtformung
12Für die ausführliche Auseinandersetzung mit dem eigenen methodischen Vorgehen der theoriegeleiteten biografischen Fallrekonstruktion (Miethe 2014) verweise ich auf das Kapitel zum methodischen Vorgehen in meiner Dissertation (Griese 2020). 13Für eine klare Einführung zur Sequenzanalyse siehe Kurt und Herbrik (2019, S. 553–561).
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
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beziehungsweise Gesamtsicht als Gestalt des einzelnen Falls ist die Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage, warum die Interviewten zu Treiber/innen von Nachhaltigkeit wurden, um sich der Frage nach dem institutionellen Wandel aus Mikroperspektive zu nähern. Einzelne Phänomene und spezielle Verläufe sind in der Typologie nicht abbildbar, da sie bereits das Ergebnis des Vergleichs der Einzelfallanalysen darstellen. Den besonderen Anonymisierungsbedürfnissen wird sowohl in der Dissertationsschrift als auch hier Rechnung getragen. Während in anderen Darstellungen mindestens eine bis drei Biografien und die dazugehörigen Fallrekonstruktionen ausführlich dargestellt werden (Bude 1987; Giegel et al. 1988; Siouti 2014), kann das für dieses Sample nicht analog geschehen, da die Personen recht einfach identifizierbar wären und dazu in diesem Artikel auch kein Raum dafür ist.
6.3.3 Typen von Treiber/innen Die Tab. 6.3 gibt einen Überblick über die rekonstruierten Typen und die dazugehörigen Fälle. Im Anschluss daran werden die Typen beschrieben. Typ 1 Der erste Typ zeichnet sich dadurch aus, dass Nachhaltigkeit von Anfang an eine Rolle im Berufsverlauf spielte. Grundlegende Pfade für die Entwicklung einer nachhaltigen Werteorientierung werden im Studium angelegt und konsequent in die berufliche Karriere integriert. Der biografische Entwurf, Nachhaltigkeit als wichtige Spezialisierung im Berufsverlauf zu verfolgen, enthält jedoch keinen expliziten Bezug zur Bank. Daher wurde die Stelle in der Bank auch nicht durch den Plan, diese spezielle Institution zu verändern und damit aus eigener Motivation heraus angetreten, sondern dieser Typ wurde als ‚Expert/in von außen‘ geholt. Das Thema Nachhaltigkeit ist bei diesem Typ im Berufsverlauf und in der Rekonstruktion der Fallgeschichte omnipräsent, tritt in der Erzählung gerade im Vergleich mit anderen aber wenig explizit auf. Im Kontext dieses Typs weist das auf die Selbstverständlichkeit des Themas und dieser Werteorientierung hin, die nicht gerechtfertigt, erklärt oder in besonderer Weise in einer biografischen Erzählung eingebettet werden muss. Lebensgeschichtliche Brüche existieren, werden aber nicht durch das Auftauchen von Nachhaltigkeit verursacht. Brüche im Berufsverlauf entstehen durch den Wechsel der Arbeitsgeber und Branchen, durch (Mit-)Gründungen oder Selbständigkeit, sind aber nicht beim Thema Nachhaltigkeit zu erkennen. Im Gegenteil ist zu beobachten, dass diese Personen vor allem dann der Nachhaltigkeit treu bleiben, wenn sich andere Bereiche des Lebenslaufs volatil darstellen. Das heißt, es werden wenige Kompromisse eingegangen, wenn darin enthalten wäre, der Nachhaltigkeit den Rücken kehren zu müssen.
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6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
Tab. 6.3 Typen von Treiber/innen Typen
Beschreibung
1. Nachhaltigkeit bildet (Berufs-) Identität
Dieser Typus verfolgt Nachhaltigkeit schon A, F, G von Anfang an im Berufsleben. Es kann kein Bruch im Berufsverlauf identifiziert werden, der durch das Thema und den Job in der Bank eingeleitet wird. Banken spielen keine besondere Rolle
2. Nachhaltigkeit als Lösung der Sinnkrise
D, J, H Das Thema eröffnet neue und inhaltlich sinnvolle Arbeitsfelder. Nachhaltigkeit löst im Beruflichen eine Sinnkrise (v. a. mit der Bankenbranche) und markiert somit einen Bruch im Lebensverlauf. Die berufliche Situation vorher war erfolgreich, wurde aber nicht als sinnerfüllend erlebt. Dieser Typ hat durch die Nachhaltigkeitsstelle keine berufliche Aufwertung erfahren bzw. sogar einen Abstieg in Kauf genommen
3. Nachhaltigkeit als „Rettung“
B, C, E, I Das Thema Nachhaltigkeit eröffnet einen Raum der Erfüllung: eine neue Stelle oder ein Projekt mit Statusgewinn. Aus einer Position der Schwäche (Statusverlust, Erwerbslosigkeit/prekäres Arbeitsverhältnis, bankinternes „Abstellgleis“) tritt der Job und das Thema in das Leben und führt so zu einer eindeutig identifizierbaren positiven Wende (steigende Verlaufskurve) im Lebensverlauf. Dieser Typ hat durch die Nachhaltigkeitsstelle in der Bank berufliche Aufwertung und existenzielle Sicherheit erfahren. Position und Thema sind stark miteinander verknüpft und es gibt daher eine starke Identifizierung mit beidem, der jedoch keine Auseinandersetzung mit den Werten der Nachhaltigkeitslogik in der Fallgeschichte vorausgeht
Quelle: Eigene Darstellung
Zugeordnete Einzelfallrekonstruktionen
6.3 Empirie 2: Institutionelle Unternehmer/innen von Nachhaltigkeit
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Typ 2 Der zweite Typ zeichnet sich durch einen Lebensverlauf aus, bei dem Nachhaltigkeit eindeutig einen Bruch darstellt. Nachhaltigkeit löst für diesen Typ hier in allererster Linie eine berufliche Sinnkrise und beendet die Unzufriedenheit mit der Arbeit in der Bank. Durch den Umweg über Nachhaltigkeit, der entweder durch Weiterbildung und Umschulung, durch eine Projektleitung oder einen Bankwechsel im Berufsleben beschritten wurde, kann wieder Sinn und Zufriedenheit mit der Tätigkeit in der Bank zurückgewonnen werden. Der große Unterschied zum Typ 1 besteht darin, dass Nachhaltigkeit im Laufe des Berufslebens entdeckt wird und sich mit dem Berufswechsel oder der Projektübernahme neue sinnhafte Tätigkeitsfelder im Bankenbereich eröffnen und so neue und zufriedenstellende Erfahrungen erlebt werden. Dieser Typ hat keine berufliche Aufwertung durch die Beschäftigung mit dem Thema erhalten, beziehungsweise hätten auch andere Karrierewege offen gestanden und wären plausibel gewesen. Im Gegenteil hat auch er berufliche Abwertung zumindest anfangs in Kauf genommen. Darin unterscheidet sich dieser Typ von dem nachfolgenden. Typ 3 Der dritte Typ zeichnet sich ebenfalls durch einen Bruch im Lebensverlauf vor dem Auftauchen von Nachhaltigkeit aus. Dem Bruch geht jedoch eine Krise voraus, bei der Nachhaltigkeit insofern eine positive Wende markiert, dass dadurch ein Statusaufstieg erfolgte oder Statusverlust abgewendet wurde. Die Krisen sind beruflicher Natur, das heißt, dass vor der Beschäftigung mit Nachhaltigkeit Arbeitsplatzverluste (bzw. Angst vor Einbüßen der eigenen Bedeutung durch Verlust von hochrangigen Stellen), prekäre Beschäftigung oder sogar kurzfristige Arbeitslosigkeit die Fallgeschichte prägen und in der Rekonstruktion von Prozessstrukturen eine negative Verlaufskurve identifizierbar ist. Mit dem Auftreten von Nachhaltigkeit wandelt sich diese in eine steigende, womit ein Wiedergewinn an Handlungsmacht in der Gestaltung des eigenen Lebensverlaufs einhergeht. Das wirkt sich dahin gehend aus, dass die Begeisterung oder Identifikation mit dem Thema stark auf die Wirkung der beruflichen Aufwertung und der beruflichen Existenz zurückzuführen ist und nicht auf die inhaltlichen Werte der Nachhaltigkeitsthematik. Nachhaltigkeit und die berufliche Stellung sind also eng miteinander verknüpft, ohne dass eine tiefe Werteüberzeugung aus der Fallgeschichte rekonstruierbar wäre. Gleichzeitig bedeutet die steigende Verlaufskurve auch, dass sich zwar Möglichkeitsspielräume vergrößern, aber wie bei der negativen bzw. fallenden Verlaufskurve aufgrund von konditionalen Verkettungen und nicht wegen der eigenen Initiative. Diskussion der Typen Die drei Typen beschreiben zuallererst die unterschiedlichen Bedeutungen, die Nachhaltigkeit im Kontext der biografischen Gesamtformungen einnimmt. Doch wie kann sich das wiederum auf die Umsetzung von Nachhaltigkeit beziehungsweise der Entstehung einer nachhaltigkeitsbasierten Bankenlogik (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) auswirken? Während bei Typ 1 das Thema
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6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
achhaltigkeit und nicht die Umsetzung von Nachhaltigkeit in der Bank im VorderN grund steht, löst es lebensgeschichtlich für Typ 2 berufliche Sinnkrisen mit dem Bankensektor. Für den letzten Typ wendet die Nachhaltigkeitsstelle eine drohende Statuskrise ab. Damit erfolgt in der Erzählung eine gewisse Überidentifikation mit Nachhaltigkeit, obwohl Nachhaltigkeit bei diesem Typ passiv ins (Berufs-)Leben tritt. Es wird deswegen anschließend zu einem „Herzensthema“ (Interview B), weil, mit Schütze gesprochen, ein vorher zu scheitern drohender oder bereits gescheiterter biografischer Entwurf (z. B. berufliche Selbstverwirklichung) wieder aktualisiert wird und dessen Erfüllung möglich gemacht wird. Bei Typ 1 wiederum hat Nachhaltigkeit eine viel selbstverständlichere, professionellere und damit auch distanzierte Form angenommen, er weist zudem auch keine Pfadabhängigkeit in einer Karriere im Bankensektor auf. Daher kann Typ 1 auch als ein ganz allgemeiner Nachhaltigkeitsentrepreneur verstanden werden, der seine spezifische nachhaltige Werteorientierung bereits im Studium entwickelt, seine Karriere darauf aufbaut, verschiedenste Organisationen damit prägt und dahin gehend ein vielseitiger Wegbereiter für Nachhaltigkeit ist. Typ 2 hingegen kann als Überzeugungstäter mit Kernkompetenzen der Marktlogik umrissen werden, da die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit einerseits die Sinnhaftigkeit zurückbringt, aber das nachhaltige Banking auch eine Anknüpfung an alte Kompetenzen ermöglicht. Durch die fehlende Sinnkrise beim Typ 3 fehlt es diesem der Nachhaltigkeitsstelle vorhergehenden kritischen Erfahrungen mit dem Bankensektor. Durch die gesellschaftliche und berufliche Aufwertung sowie den Wendepunkt der lebensgeschichtlichen negativen Verlaufskurve, der mit dem Eintreten von Nachhaltigkeit im Berufsleben eingeleitet wird, wird er zum Treiber von Nachhaltigkeit. Am ehesten lässt sich dieser Typ daher als unbewusster Opportunist betiteln, da Nachhaltigkeit zwar in der Rekonstruktion der biografischen Gesamtformung diese Rettungsfunktion einnimmt, aber diese Funktion dem Typ weder bewusst ist noch sich Nachhaltigkeit nur strategisch für den Statusaufstieg widmet. Abgeleitet könnte man resümieren, dass Typ 1 die Erfahrung mit der Umsetzung von den Werten der Nachhaltigkeitslogik und die Identität als Nachhaltigkeitsentrepreneur mit in die Bank transportiert, Typ 2 die Kompetenzen des Bankensektors und die nötige Kritik am System durch eigene negative Erfahrung einbringt, aber auch durch das Bedürfnis nach Vereinbarung mit dem alten Leben für die Synthese zwischen Marktund Nachhaltigkeitslogik sorgt und Typ 3 eine besondere Begeisterung und Widerstandsfähigkeit aufweist, weil indirekt die Wiedererlangung der Handlungsmacht (durch die Umkehrung der negativen Verlaufskurve in eine positive) während der Arbeit für Nachhaltigkeitspraktiken in Banken „verteidigt“ wird. Die affektive Besetzung des Themas (die sich als Energie und Leidenschaft in den Interviews präsentiert) speist sich also stärker daraus als aus Idealismus und Werteüberzeugung und ist vielleicht dadurch sogar phasenweise intensiver. Der kommende Abschnitt führt Ausschnitte aus den empirischen Ergebnissen der Dissertation auf, die die Abgrenzungen und Selbstpositionierungen der Interviewten zu
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Zuschreibungen wie dem Öko-sein interpretieren. Zusammen mit den Typen mache ich hiermit die These nachvollziehbar, dass die untersuchten IEs keine Idealisten mit einer gesteigerten nachhaltigen Werteorientierung oder Moralvorstellung sind und nicht als solche angesehen werden wollen. Zudem wird anhand eines längeren Interpretationsbeispiels nicht nur die Methode deutlicher, sondern die Wechselwirkungen zwischen dem Feld des Bankwesens beziehungsweise der Organisation mit ihren Logikkonflikten (siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) sowie dem Individuum und seiner Lebensgeschichte nochmal begreiflich.
6.3.4 Wechselwirkung Feld, Organisation und Individuum Die Typen sagen uns, dass Nachhaltigkeit unterschiedliche Bedeutung vor der Folie der biografischen Gesamtformung hat. Sie spiegeln ebenfalls drei unterschiedliche Handlungsantriebe wider, die hinter dem Engagement für die Institutionalisierung von Nachhaltigkeit stecken. Die folgenden Einblicke in die Ergebnisse der empirischen Analyse der Dissertation zeigen dazu ergänzend, wie das Rollenverständnis der Interviewten ist und gegen welche impliziten Vorstellungen sie sich wehren. In diesen Abschnitten tritt vermehrt die aktuelle Erfahrung der Gegenwartsperspektive der Interviewten im Feld des nachhaltigen Bankwesens auf. In den Theorien über das Selbst, den argumentierenden und beschreibenden Stellen des Interviews lässt sich das Darstellungsinteresse analysieren, das viel stärker von aktuellen Konflikten geprägt ist (Rosenthal 2014, S. 512; Schütze 1983a, S. 286). Mit dem analytischen Werkzeug der institutionellen Logiken (Thornton und Ocasio 2008; Thornton, Ocasio und Lounsbury 2012, siehe dazu den Beitrag von Griese, Nagel und Hiß in diesem Band) kann der Einfluss von Logikkonflikten auf die biografische Erzählung, das Erleben und die Selbstverortung erörtert werden. Weiterhin stärkt dieses Unterkapitel die These, dass die interviewten Akteur/innen nicht nur aufgrund einer „grünen“ Werteüberzeugung zu institutionellen Entrepreneur/innen werden beziehungsweise sich nicht als solche wahrnehmen. a) Abgrenzung zum „Öko-Sein“ und Zwischenpositionierung Was für Werte sind den Interviewten wichtig, womit identifizieren sie sich eigentlich und womit nicht? Obwohl eine durchweg positive Identifikation mit Nachhaltigkeit und dessen Umsetzung im Beruf besteht, tauchen Abgrenzungen zu einer eindeutigen Zuschreibung als „Öko“ auf. Damit wehren sich die Befragten gegenüber einer impliziten Vorstellung von Nachhaltigkeitsbeauftragten. In Passagen der Selbstbeschreibung kommt es zu eindeutigen Abgrenzungen gegen die „Ökos“ („Also, ich bin gar nicht so der Öko“, J 26), „Fundamentalisten“ („[…] schöne Einstufung wirklich, mit diesen Ökofundis und den Pragmatikern […] Ich habe mich aber dann auch
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6 Treiber/innen und Hemmnisse von Nachhaltigkeit in Banken
stärker als Pragmatikerin gesehen“, F 14)14 oder „Ökofanatikern“ („Ich bin auch heute kein Ökofanatiker oder sonst was“, E 44). Dies ist auch bei den Expert/innen-Interviews als Identitätsaussage von den Banken als Organisation zu finden, die keineswegs so eine „Ökobank wie die GLS“ werden wollen (Teil 1, Organisationsidentität als Hemmnis). Diesen Klassifizierungen werden dann Selbstbeschreibungen wie „Pragmatiker“ entgegengesetzt. Aber warum kommt es dazu? Es könnte sein, was sich auch in den Typen widerspiegelt, dass vor allem die Sinnhaftigkeit, die normative Auseinandersetzung mit ethischen Themen und die Gestaltbarkeit eine große Rolle und Anziehungskraft spielen und nicht die moralische Überlegenheit, politische Orientierung oder ein bestimmter Idealismus, die mit diesem Thema verbunden sein könnte. So ist es gerade die Gestaltungsfreiheit, die „Spielwiese“ (J 22), die die Interviewten während ihrer Tätigkeit als Nachhaltigkeitsbeauftragte zu schätzen wussten bzw. wissen. Einen weiteren Grund für diese Abgrenzung kann an der Struktur des Feldes liegen, in dem sich die Akteur/innen bewegen. Gerade weil es Akzeptanzprobleme innerhalb der Bank für das Thema Nachhaltigkeit gab, waren die Rückendeckung der Chefs und deren strategische Ziele bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit sehr wichtig (bei Fall A, B, C, D, E, G, H). Zusätzlich könnte sie auch ein Hinweis auf die Binnendifferenzierung des Feldes sein, in dem sich unterschiedliche Akteur/innen aufhalten und in dem sicherlich auch Kritik, aus einem Modell des homo oeconomicus heraus, an Nachhaltigkeitstreiber/innen geübt wird, da man als normativ, moralisch, ideologisch gilt, wenn man sich als „Banker“ mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Es kann natürlich aber auch eine tatsächliche Abgrenzung gegenüber Akteur/innen sein, die aus Sicht der Interviewten eben zu fundamentalistisch oder ideologisch Nachhaltigkeit vertreten. Gerade NGOs werden gerne mit ihrer Kompromisslosigkeit (Interview D, im kommenden Abschnitt) als Negativbeispiel aufgeführt. Mindestens steckt darin auch eine Abwehr gegenüber einer Grenzziehung „richtig“ und „falsch“, die durch die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit ein Thema ist (Hiß et al. 2018). Diese Grenzziehung könnte aber auch aus einem anderen Grund abgelehnt werden. Im Kontext des Lebenslaufs wird deutlich, dass unterschiedliche Bedürfnisse berührt und Entscheidungen getroffen wurden, die nach unterschiedlichen Gesichtspunkten positiv oder negativ gewertet werden können. So spielte bei einigen bei der Studienfachwahl, neben Interesse, das Thema Sicherheit eine wichtige Rolle. Die verschiedenen Motive in den vielen Lebensentscheidungen äußern sich dann auch in der Akzeptanz von ökonomischen Rationalitäten und der Abwehr von eindeutigen Zuschreibungen von ‚richtig‘
14„Also, das ist ja in Deutschland auch so eine schöne Einstufung, wirklich, mit diesen Ökofundis und den Pragmatikern. Hier gibt es das eigentlich in dieser Form gar nicht. Aber ich würde mal sagen, eben so diese Ö kofundi-Welle war durchaus auch, klar, auch irgendwo bei den Ökologen vertreten. Ich habe mich aber dann auch stärker als Pragmatikerin gesehen, dass ich durchaus gesehen habe, es braucht beides, und auch versucht habe, hier die Verknüpfung zu suchen“ (Interview F14).
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und ‚falsch‘. Allein aufgrund der aktuellen Arbeit rein in die „grüne“ Ecke gestellt zu werden, wird daher nicht nur wegen einer Wertehaltung, sondern aus Schutz vor biografischer Inkonsistenz geäußert. Eine Selbstdarstellung, die nicht zum tatsächlich erlebten Leben passt, führt schnell zu massiven Brüchen in dieser Selbstdarstellung, was die Biografieträger/innen für das eigene und fremde Erleben von einem kohärenten Selbst tunlichst vermeiden wollen (Rosenthal 1995, S. 133). b) Interpretationsbeispiel: zwei Welten15 An einem kleinen Ausschnitt einer Lebensgeschichte können wir uns beispielhaft die Wechselwirkung zwischen biografischer Gesamtformung, dem Kohärenzbedürfnis der eigenen Biografie und der Gegenwartsperspektive ansehen, die durch die Konflikte innerhalb der Bank und dem Finanzmarkt geprägt sind und die sich in der erzählten Lebensgeschichte niederschlagen. Im folgenden Beispiel wird sowohl die konventionell-konservative Denkweise von Finanzmarktakteur/innen gegenüber den nachhaltigen Geldanlagen als auch die kritischen Einstellungen und Aktionen von beispielsweise NGOs gegenüber Unternehmen kritisiert, die bereit sind, neue Wege zu gehen, dies aber nach deren Bewertung nicht ausreichend tun. Was ich in der Zeit noch verstärkt bekommen habe, ist eine Abneigung gegen Fundamentalisten sowohl von, sage ich jetzt mal, rechts, was nicht rechts-radikal … aber rechts-konservativ, würde ich sagen, also eher vom Kapitalmarkt aus, dem Finanzmarkt aus, die eben sagen „alles Esoterik, alles Spinner, alles sinnlos“, was nachhaltige Geldanlagen angeht, oder was Nachhaltigkeit als solches angeht. Aber genauso auch von NGOs. Ne? Diese fundamentalistische Einstellung, wie ich sie teilweise von NGOs bekomme. Auch Nestbeschmutzer selbst zu sein, ja, also, bereits die Willigen, die sich bereits auf den Weg machen, noch mal durch den Kakao zu ziehen, ohne dabei zu kapieren, dass sie damit eigentlich genau entgegen dem wirken, was sie eigentlich bezwecken. Das hat sich in dieser Zeit bei [zwischenzeitliche Arbeitsstelle], weil ich doch sehr viele Negativbeispiele kennen gelernt habe, noch deutlich verstärkt. (Interview D)
Durch die Erfahrung beider ‚Welten‘, das heißt der ‚Nachhaltigkeitswelt‘ und der ‚konventionellen Finanzmarkt- und Bankenwelt‘, deren Werten und Denkweisen, entwickelt sich eine hybride Sichtweise, die sich zu einer neuen Selbstverständlichkeit für diese Person in dem Feld des nachhaltigen Finanzmarkts herausbildet. Abgrenzung findet sowohl in die eine als auch in die andere Richtung statt. Dass es sich dabei nicht weniger als um einen Logikkonflikt handelt, zeigt das nächste Zitat, in der diese Interviewte trotz schlechter Erfahrung und Sinnkrise ein Bekenntnis als „Marktwirtschaftlerin“ ablegt, wo sie deutlich macht, dass sie die Marktwirtschaft (also die Marktlogik) für legitim hält, aber eben weiß, dass diese nicht „das Gute für die Gesellschaft“ als Ziel hat (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band zu den Merkmalen
15Das
Beispiel ist, hier leicht gekürzt, ebenfalls in der Dissertation Griese (2020) aufgeführt.
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der Nachhaltigkeitslogik, die als Basisstrategie die Ressourcenschonung für Mensch und Natur hat, gegenüber der Basisstrategie der Profitmaximierung der Marktlogik). Und damals war das Thema nachhaltige Geldanlagen in Deutschland in den absoluten Kinderschuhen. Da gab es vielleicht eine Handvoll Nachhaltigkeitsfonds, nicht mehr, und keiner hat sich mit dem Thema beschäftigt, zumindest nicht in meinem Umfeld oder in der Bankenwelt, in der ich mich getummelt habe. Ich bin aber drüber gestolpert und habe gesagt: […] ich bin überzeugte Marktwirtschaftlerin, also, ich glaube durchaus an die Kräfte des Markts. Aber ich bin auch der Überzeugung, dass man mit Geld was Gutes und was Böses tun kann. Und wenn das Geld in die richtigen Bahnen gelenkt wird, ich durchaus was Positives mit den marktwirtschaftlichen Kräften anfangen kann oder was Negatives. Und habe mich mit dem Thema Nachhaltigkeitsfonds ein bisschen näher beschäftigt in der Zeit. Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, die haben das als Spinnerei abgetan und als … „Das ist Esoterik, und das ist nur ein Trend, wenn überhaupt ein Trend, das ist gar kein Trend, das ist nur ein Flämmchen, das sofort wieder untergeht. Das interessiert doch keinen.“ Und habe aber gesagt: Das ist egal wie es läuft, ich halte es für notwendig, das zu machen, weil es eben nicht nur einen Mehrwert für den Investor darstellt, also im Sinne von, er kann damit auch Geld verdienen, und eventuell kann er sogar mehr Geld damit verdienen oder sein Risiko reduzieren. Aber in erster Linie bietet es auch noch einen Mehrwert für die Gesellschaft, also gleichzeitig auch wirklich was Gutes damit zu tun ohne zu verleugnen, dass man Marktwirtschaftler ist. Also, man muss nicht im Wald leben, um gleichzeitig etwas Gutes zu tun. Klar, ist das eine Möglichkeit, und ich will das gar nicht verurteilen, und es hat sicherlich seine Berechtigung. Aber ich kann durchaus einen Schlips tragen und trotzdem was Gutes tun für die Gesellschaft. Und ich habe das verstanden für mich, dass das mein Weg ist und habe mich da mehr oder weniger ins Blaue gestürzt, ohne genau zu wissen, komme ich da branchenmäßig unter, ist die Chance gut, sondern einfach so an meine eigenen Fähigkeiten geglaubt und gesagt, wer gut ist, kommt immer irgendwo unter, und wer gut ist, kommt auch dahin, wo er will. Das war nämlich so meine Erfahrung des Lebens, würde ich sagen. Wenn ich irgendwas gewollt habe, habe ich mich besonders angestrengt und habe es gekriegt. (Interview D)
Das „Gute für die Gesellschaft“ ist neben der Leistungs- und Erfolgsorientierung, die sie mit der Marktlogik verbindet, aber auch erstrebenswert. In der Form einer Nachhaltigkeitsstelle in der Bank ist dies beides nun zusammenzubringen und für sie erlebbar. Für diese Person tritt in der Fallgeschichte16 die Nachhaltigkeit erst im Laufe des Berufslebens dazu, nachdem ein gewisser Status und eine solide Karriere erreicht wurden. In der erzählten Lebensgeschichte muss daher der Bruch erklärt und in eine kohärente Darstellung des Lebens davor und danach integriert werden. Das heißt, es darf keine Lebensphase der beiden ‚Welten‘ abgewertet werden und damit die aktuelle Tätigkeit weniger Anerkennung erfahren. Daher bekräftigt die Person, auch weiterhin die Überzeugung zu haben, Marktwirtschaftlerin zu sein. Die Funktion, die diese Aussage für die biografische
16Zur
Wiederholung sei hier nochmals erinnert, dass die Fallgeschichte das Ergebnis der Kontrastierung der Selbstdeutungen und Erzählweise der Interviewten mit der Rekonstruktion der Chronologie der erlebten Geschichte, den objektiven biografischen Daten, ist (Rosenthal 1995, S. 220).
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Darstellung hat, kann also nicht eins zu eins mit einer Meinung oder Werteorientierung gleichgesetzt werden. Die Aussage transportiert eine Versöhnung mit dem ‚alten’ Leben: den dort gelebten Werten und verbreiteten, gültigen Werteorientierungen und den daran orientierten und entwickelten Lebenszielen. Für diese Interviewte bietet der nachhaltige Finanzmarkt über die ‚Versöhnung‘ hinaus aber auch einen Ausweg, nicht so zu werden wie ihre Kolleg/innen, und trotzdem ihre Identität als „Marktwirtschaftlerin“ zu behalten, mit der die Person vor allem einen bestimmten Lebensstil verbindet: Schlips tragen, und komfortabel leben (und nicht im „Wald“). Sie möchte nicht einem Milieu zugerechnet werden, welches sie mit dieser gleichen Werteinstellung teilt, nämlich das „Gute für die Gesellschaft“ zu wollen. Die Selbstversicherung, „wer gut ist, kommt irgendwo unter“, zeigt, dass sie sich durchaus versichern muss, auch in diesem ungewöhnlichen und unkonventionellen Weg Karriere zu machen, Anerkennung zu finden und damit ihren an eher konservativen Maßstäben orientierten biografischen Entwurf „Anerkennung, Aufstieg und Karriere“ zu vollenden. Das Interpretationsbeispiel zeigt, dass die Erzählungen und Selbstbeschreibungen, die derartige Abgrenzungen enthalten, folglich sowohl im Licht der individuellen biografischen Gesamtformung (die hier leider nicht in der Gänze darstellbar ist) zu sehen sind, als auch erst vor dem Hintergrund eines Logikkonflikts zwischen Nachhaltigkeitsund Marktlogik im Finanzsektor in Gänze verständlich werden. Zudem belegt es die These, dass die Interviewten Nachhaltigkeitstreiber/innen keine Idealist/innen sein müssen und trotzdem einen biografischen Entwurf entwickeln können, der die Nachhaltigkeitslogik im Bankensektor vorantreibt.
6.3.5 Zusammenfassung Zum einen haben die Typen gezeigt, warum Akteur/innen Nachhaltigkeit in der Organisation Bank im Kontext ihres Lebensverlaufs umgesetzt haben. Sie sensibilisieren für die unterschiedlichen Gründe, die in die Entstehung vom institutionellen Unternehmertum im Rahmen von Institutionalisierungsprozessen einwirken, die weit über individuelles strategisches Verhalten im Rahmen einer Organisation hinausgehen. Sie erweitern die Vorstellung von institutionellen Entrepreneur/innen in der Weise, dass sie die lebensgeschichtlichen Kontextfaktoren miteinbeziehen und die Motivation für die Ausgestaltung der beruflichen Verwirklichung vor dem Hintergrund von anderen Lebensentscheidungen und dem Lebensverlauf interpretieren, wodurch die Entstehungsbedingungen für institutionelle und organisationale Veränderung auf der Ebene der Akteur/innen klarer werden. Durch die biografische Methode können nicht nur Typen gebildet, sondern Identitätsaussagen im Wechselspiel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsperspektive (Rosenthal 1995) verstanden werden. Das führt dazu, dass wir bei dem Beispiel erkennen, dass einmal die Widersprüche in der Darstellung des Lebenslaufs vermieden und geglättet werden und damit Hinweise auf die Bedeutung dieser
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Identitätskonstruktion für das Erleben der eigenen Biografie liefern. Und zum anderen entfalten sich an den Identitätsbestimmungen die Konflikte der Marktlogik und Nachhaltigkeitslogik, die durch die Nachhaltigkeitsarbeit in der Bank und generell im Finanzsektor ihre Spuren bis in das biografische Interview hinterlassen. Der Vergleich der Einzelfallrekonstruktionen führt zu folgenden Thesen: Die Typen und auch die Selbstbeschreibungen mithilfe von Abgrenzungsversuchen zum Öko-sein zeigen, dass eine Erklärung, die den Idealismus oder ein bestimmtes institutionelles Projekt, welches sich durch strategisches Interesse kennzeichnet, als Antriebskraft der institutionellen Entrepreneur/innen sieht, an der Oberfläche verbliebe (Beckert 1999; Clercq und Voronov 2011; Kisfalvi und Maguire 2011). Bereits Typ 1 zeichnet sich nicht durch eine Idealisierung von Nachhaltigkeit aus, sondern vor allem durch eine Professionalisierung im beruflichen Verlauf. Ebenfalls motivierend ist, eine sinnvolle Beschäftigung im Feld der Banken gefunden zu haben, die die Unzufriedenheit mit der Funktionsweise des Bankensektors (‚Es zählen nur Basispunkte‘, Interview J 18) oder dem Inhalt der eigenen Tätigkeit (‚Verkaufen statt Beraten‘, Interview D 19) löst (Typ 2). Dass die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit eine Wende im Lebenslauf markiert, kann die Begeisterung und die Bereitschaft für den Einsatz für das Thema gegenüber zum Beispiel Widerständen ebenfalls steigern. Dabei spielen dann aber nicht nur die Werte hinter dem Thema, sondern die damit zusammenhängende berufliche (und auch gesellschaftliche) Aufwertung und die damit zusammenhängenden positiven Erfahrungen und das beendete Verlaufskurvenpotential (Verlust von Handlungsmacht) eine große Rolle (Typ 3). Der möglicherweise neu aufkommende „Idealismus“ für das Thema Nachhaltigkeit − der für Zuhörer/innen und Beobachter/innen durchaus überzeugend erkennbar ist − speist sich dann aus anderen Gründen, als bei den von Anfang an überzeugten Nachhaltigkeitstreiber/innen des ersten Typs. Vor dem Hintergrund der biografischen Gesamtformung habe ich zunächst herausgearbeitet, welche Strukturen die Handlungspraxis im Lebensverlauf prägen und ordnen. Bei manchen markiert es einen Bruch und Wendepunkt, bei manchen kann ein dominantes biografisches Handlungsschema wie etwa „Leistung und Erfolg“ unverändert weiter als latentes Muster die Entscheidungen prägen. Von einem einheitlichen Idealismus Nachhaltigkeitswerten gegenüber, der alle antreibt, oder einer eindeutigen zielgerichteten Aktivität Einzelner im Veränderungsprozess, kann hier also keine Rede sein.
6.4 Fazit In diesem Artikel wurden zum einen die durch die diskursiven Interviews zutage geförderten episodischen Erzählungen über Konflikte sowie Selbstbeschreibungen und Identitätsaussagen unter dem Aspekt des Organisationsidentitätskonzept nach Kirchner (2012, 2015) interpretiert. Durch das Konzept der Organisationsidentität kann die Meso-Perspektive auf Wandel und Stabilität erweitert werden. Die Anwendung des Konzepts auf drei ausgewählte Fälle zeigt, dass Banken mit ihrer Identität eine
6.4 Fazit
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Eigenlogik besitzen, die es wichtig ist zu erfassen, um Widerstände und Veränderungsprozesse verstehen zu können. Die Widersprüche und Widerstände entstehen, weil in der operativen Funktion Nachhaltigkeit schon Platz findet, die integrative Funktion der Organisationsidentität diese neuen Praktiken aber nicht vollständig integrieren kann. Das heißt, dass die Praktiken nicht als identitätsstiftend angesehen werden. Um diese Funktion zu erfüllen, müssten diese anders gerahmt werden. Das hat letztendlich auch Auswirkungen auf die Art der Umsetzung von Nachhaltigkeit im gesamten Feld der Banken. Wenn Nachhaltigkeit umdefiniert wird, damit die operative Funktion wieder zur integrativen Funktion passt, wirkt das auf die legitimen Praktiken (operative Funktion) zurück, die die Bank mit Nachhaltigkeit verfolgt bzw. welche sie im Rahmen ihrer Identität als nachhaltig rahmt. Denn nur beides gemeinsam in ständigem Bezug aufeinander, bildet die organisationale Identität, die wiederum Grundlage für Handlungsentscheidungen ist (Kirchner 2012, S. 196–197; Kirchner 2015, S. 75). Unsere explorative Analyse lässt vermuten, dass die Milieustruktur der jeweiligen Mitarbeiter/ innen der Organisation einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darstellt, die sich bei Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Kirchenbanken auch je nach Region sehr unterschiedlich zusammensetzen können. Sie zeigt, dass mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs auch Ungleichheits-, Konsum- und Lebensstildimensionen innerhalb einer Bank aktuell werden und nicht etwa nur bei den Kund/innen sowie der Vermarktung der Produkte mit einbezogen werden müssten. Wünschenswert wäre es, dieser Vermutung in einem anderen Forschungsvorhaben noch einmal intensiver nachzugehen. Zum anderen wurden mit dem Konzept des institutionellen Entrepreneurships, die Motive der Akteur/innen in einem biografisch-narrativen Interviews untersucht, die das institutional template, also nicht nur organisationale Praktiken, sondern institutionelle Handlungslogiken mitverändert haben (Battilana und D’Aunno 2009). Der Einblick in das Dissertationsprojekt der Autorin beleuchtet die Gründe für institutionellen und organisationalen Wandel auf Akteursebene. Die Typologie der Motive der Treiber/innen von Nachhaltigkeit hat zunächst gezeigt, welche Bedeutung Nachhaltigkeit im Kontext der ganzen Lebensgeschichte beziehungsweise der beruflichen Laufbahn der Befragten hat und die Frage auf Basis der Rekonstruktion von latenten Ordnungsstrukturen des Lebenslaufs beantwortet, warum die Interviewten zu Nachhaltigkeitstreiber/innen wurden. Während sich Nachhaltigkeit bei Typ 1 bereits früh als berufliche Identität herausgebildet hat und diese Handlungen entscheidend prägt, löst die Beschäftigung damit für Typ 2 im Lebensverlauf eine berufliche Sinnkrise mit der Bankenbranche. Für Typ 3 markiert die Übernahme von Verantwortung für Nachhaltigkeitsprojekte eine positive Wende, da damit beruflich und privat (drohende) Status-Krisen überwunden werden. Nachhaltigkeit nimmt eine Art Rettungsfunktion in der biografischen Gesamtformung ein, weil es den Wiedergewinn an Handlungsmacht in einer durch äußere Ereignisketten hervorgerufene negative Verlaufskurve kennzeichnet. Nachhaltigkeitswerte spielten vorher bei diesem Typ keine relevante Rolle, wird aber durch die Funktion in der biografischen Gesamtformung mit Begeisterung verfolgt und auch gegen Widerstände verteidigt. Es ist also keinesfalls nur ein Set an Werten oder Idealismus, der die Akteur/
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innen motiviert und angetrieben hat, institutionelle Arbeit für die Etablierung der Nachhaltigkeitslogik als Alternative zur Marktlogik zu verrichten. Vielmehr kann man sich hier im Sinne der Transintentionalitätsdebatte der Denkfigur der „private vices, public virtues“ (Bernard de Mandelville) anschließen (Greshoff et al. 2003, S. 11). Indem biografische Probleme gelöst bzw. biografische Entwürfe vollendet werden können, wird die Institutionalisierung der Nachhaltigkeitslogik durch die untersuchten Akteur/innen quasi als Nebenprodukt vorangetrieben. Zudem ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Engagement der Umsetzung von Nachhaltigkeitspraktiken die Gestaltungsfreiheit, die sich mit den Nachhaltigkeitsstellen für die Interviewten ergaben. Insofern stützen die Ergebnisse der Dissertation die These dieses Buchs, dass Nachhaltigkeit einen Reflexionsraum eröffnet, in dem über Zukunft und Gegenwart des Finanzmarkts verhandelt wird. Man könnte sogar behaupten, dass genau das seinen Reiz für die institutionellen Entrepreneur/innen ausmachte, unabhängig davon, welche Werten und Normen sie vorher in ihrem Leben folgten.
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Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung – geteilte und umkämpfte Frames von Klimawandel, Investitionen und Risiken Agnes Fessler, Sebastian Nagel und Stefanie Hiß
Inhaltsverzeichnis 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Frames und Framing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Frames im Verhältnis zur Perspektive institutioneller Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Datenerhebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Datenauswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung. . . . . . . . . . . 7.5.1 Diagnostische Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Prognostische Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Motivationale Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Zusammenfassung und Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Frame 1: Klimarisiken reduzieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Frame 2: Langfristig investieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.3 Frame 3: Gesellschaftlich orientieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.4 Frame 4: Investitionen politisieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.5 Zusammenfassung und Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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272 277 286 286 291 292 292 295 296 299 305 313 314 319 322 327 332 336 340 343 349
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272
7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht das Fossil-Fuel-Divestment in Deutschland und fragt nach dort entwickelten Frames der beteiligten Akteur/innen aus Aktivist/innen, NGOs und Finanzwelt. Bekräftigt durch die Pariser Klimakonferenz 2015 nahm die globale Mobilisierung an Fahrt auf. Städte, Versicherungen, Pensionsfonds und andere öffentliche und private Institutionen sind aufgefordert, ihre Vermögen aus Unternehmen, involviert in Extraktion, Verarbeitung und Vertrieb fossiler Energien, abzuziehen. Der Beitrag skizziert die gegenwärtige Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung, ihre Entwicklung in Deutschland und ihren Entstehungskontext. Unter Rückgriff auf den bewegungsanalytischen Framing-Ansatz und auf Basis qualitativer Interviews und Fokusgruppen analysieren wir die kollektiven Deutungsrahmen (frames) der Bewegung und der involvierten Finanzakteur/innen, überwiegend aus dem Nachhaltigkeitssegment. Divestment generiert eine geteilte Problemwahrnehmung über multiple Akteursgruppen hinweg, die die fossilen Geschäftsmodelle, ihre Finanzierung und die Rolle von Investor/innen für die Klimakrise ins Zentrum der Kritik rückt. Investor/innen werden zugleich als ‚Teil der Lösung‘ gerahmt, wobei sich Deutungskämpfe über das ‚wie‘ abzeichnen. Die Analyse zeigt Ansätze neuer Konfrontationslinien und Allianzbildungen zwischen Klimabewegung und Finanzmarkt und damit verbundene Widersprüche auf. Im zweiten Teil arbeiten wir heraus, wie die Protagonist/innen aktiv Beziehungen zwischen ökologischem (De-)Investment und Stabilisierung von Finanzpraktiken herstellen. Die Bewegung übersetzt die globale Erwärmung als Risiko- und Stabilitätsproblem in die Finanzsphäre und prägt die Wahrnehmung klimabezogener Risiken mit.
7.1 Einleitung1 Der Bürgermeister von New York City, Bill de Blasio, kündigt im Januar 2018 an, rund fünf Milliarden US-Dollar der Pensionsrücklagen der Stadt aus fossilen Energieunternehmen abzuziehen (De Blasio 2018).2 Der Rockefeller-Brothers-Fund wendet sich
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und dem Autor. Unser besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, ohne die diese Studie nicht möglich gewesen wäre. 2New York City fasste im Laufe des Jahres 2018 einen sogenannten Divestment-Beschluss, und tat es damit Städten wie Kopenhagen, Paris, Sydney und in Deutschland Berlin oder Münster gleich.
7.1 Einleitung
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von seiner früheren Quelle des Reichtums, dem Ölgeschäft ab, um sein Vermögen nun außerhalb des fossilen Brennstoff-Geschäfts zu investieren, und schließt sich öffentlich einer globalen Divestment-Bewegung an, die mit sozialem Druck auf Finanztransaktionen die Erderwärmung einzudämmen versucht. Das gezielte und demonstrative Verkaufen und Ausschließen von Kapitalanlagen im Bereich des Geschäfts mit der Extraktion, Verarbeitung und dem Vertrieb von Kohle, Öl und Gas ist damit nicht nur ein Thema einiger Klimaaktivist/innen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder einem eng begrenzten nachhaltigen Finanzmarkt, sondern hat inzwischen auch institutionelle Investoren und öffentliche Anleger/innen erreicht, die bislang einer sozial-ökologischen Ausrichtung eher unverdächtig waren. Weltweit beteiligen sich über 140 Städte und Regionen, die ihre Gelder, insbesondere Pensionsrücklagen, nach Klimagesichtspunkten veranlagen – darunter Berlin, Kapstadt, Kopenhagen, Paris, San Francisco und Sydney sowie kleinere Städte und Gemeinden.3 In Europa haben bislang über 70 Städte in acht Ländern einen Divestment-Beschluss gefasst.4 Investitionen und Finanzmärkte rücken ins Visier von sozial-ökologischer Kritik und Klimaprotest, aber werden zugleich selbst zum Gegenstand und Teil der Mobilisierung und erscheinen mitunter als neue Klimaretterinnen. Politische Absichten, die Maßnahmen zur Begrenzung der menschengemachten Erderwärmung auf deutlich unter 2° Celsius gegenüber vorindustriellen Werten zu intensivieren, erhärten sich mit dem Paris Agreement 2015 (United Nations 2015), woraufhin immer mehr Investor/innen mit ihrer Kapitalumschichtung (Divestment) in zukunftsträchtigere Bereiche zu reagieren scheinen (Wissen 2016, S. 349). Zudem bietet der Klimawandel, vor dem Hintergrund damit verbundener enormer gesellschaftlicher Herausforderungen (Dunlap und Brulle 2015; Urry 2011), seiner zunehmenden Übersetzung in ökonomische und finanzielle Kosten und Risiken (Leaton et al. 2013; Meinshausen et al. 2009; Stern 2006) und einer anhaltenden Legitimationskrise der Finanzmärkte und (spekulativer) Investitionspraktiken seit der Finanzkrise 2007/2008 in den letzten Jahren besondere gesellschaftliche (De-)Legitimitätspotentiale für Finanzakteur/innen.5 Erwachsen im Kontext der Klimabewegung und mit dem Pariser Klimagipfel COP21 an Fahrt gewonnen, gelang es der Divestment-Bewegung in relativ kurzer
3https://gofossilfree.org/divestment/commitments/;
zuletzt abgerufen: 20.08.2019. sowie https://gofossilfree.org/divestment/commitments/; beide zuletzt abgerufen: 20.08.2019. Das heißt, die Vermögensverwaltungen erlegen sich Regelungen auf, bis zu einem festgelegten Zeitpunkt innerhalb der nächsten Jahre Vermögen, die in der Kohle-, Öl- oder Gasindustrie veranlagt sind, teilweise (z. B. Kohle-Divestment) oder vollständig zu veräußern, anderweitig zu investieren und für die Zukunft auszuschließen. 5Das Motto „Changing finance, financing change“ der UNEP Finance Initiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen verdeutlicht dies (https://www.unepfi.org, letzter Zugriff: 21.08.2019). 4https://kommunales-divestment.de/divestment/international
274
7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Zeit eine beachtliche Dynamik an (Lokal-)Aktivismus und Selbstverpflichtungen diverser öffentlicher wie privater Institutionen (z. B. Städte und Kommunen, Pensionsfonds, Versorgungswerke, Versicherungen, Kirchen, Stiftungen, Banken) in Gang zu setzen. In über 80 Ländern weltweit fordern mittlerweile Aktivist/innen dazu auf, Finanzvermögen ‚fossil-frei‘ zu investieren. Divestment fokussiert mit der Klimakrise ein Nachhaltigkeitsthema mit besonderem politischem Momentum, das auch am Finanzmarkt eine sich intensivierende Debatte um sogenannte klimabezogene Finanzrisiken auslöste. Für Investor/innen kommt hier das eingeübte (finanzrationale) Abwägen von Investitionsrisiken auf Basis potenzieller Regulierung ins Spiel. Da politische Maßnahmen gegen die Erderwärmung zwar drohen, aber die konkrete Umsetzung, Konsequenz und Geschwindigkeit der Klimapolitik und ihre Folgen zum Beispiel für die Zukunft fossiler Sektoren mit hohen Ungewissheiten belegt sind, spielen der gesellschaftliche Diskurs und Druck (weiterhin) eine entscheidende Rolle (vgl. Caniglia et al. 2015). Bislang ist das Ausmaß finanzieller Umschichtungen trotz dieses erkennbaren Trends im Verhältnis globaler Finanzvermögen insgesamt noch gering und Investor/innen spekulieren offenbar weiterhin eher gegen eine konsequente Klimapolitik, als auf ihr baldiges Eintreten. Wir betrachten daher diese Mobilisierung gesellschaftlicher Erwartungen und Legitimationsmuster und interessieren uns dafür, welche diskursive Basis und ideologischen Komponenten dabei wirken. So vermengen sich beim Divestment etwa die ökonomischen Argumente mit der sozial-ökologischen (De-) Legitimierung, und es gilt unter anderem herauszuarbeiten, welche Argumentationsstränge auftauchen, konkurrieren oder kombiniert werden und wie sie dies tun. Divestment erscheint damit einerseits als (Gegen-)Bewegung, die für entstehende sozial-ökologische und klimatische Schäden gezielt ihre Finanzierung und die Finanzmärkte in die Aufmerksamkeit rückt. Zugleich versammelt die Bewegung verschiedenste Argumentationslinien und Akteursgruppen, weshalb mit dem Fossil-Fuel-Divestment nicht nur eine neuartige Konfrontation, sondern auch Ansätze einer eigentümlichen (Zweck-)Allianz zwischen Klimabewegung und Finanzmarkt(-investoren) entsteht. Moralische und sozial-ökologische Argumente, die etwa die Gefahr des durch gegenwärtige Finanzflüsse befeuerten Klimawandels für die Gesellschaft betonen, stehen neben ökonomischen Argumenten, die finanzielle Risiken und Chancen des Klimawandels darlegen, und werden mal mehr und mal weniger konsistent mit diesen zusammengeführt. In Hinblick auf die beiden übergeordneten Fragestellungen dieses Buches nach (1) der Ausgestaltung einer Nachhaltigkeitslogik am Finanzmarkt (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band) und (2) ihrem Verhältnis zu dessen Stabilisierung beziehungsweise Resilienz (siehe dazu den Beitrag von Nagel in diesem Band) ist die gegenwärtige Divestment-Bewegung ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand. Wir betrachten damit aktuelle Dynamiken im Feld des nachhaltigen
7.1 Einleitung
275
Investierens, und erfassen sie dennoch in ihrem spezifischen Bewegungscharakter. FossilFuel-Divestment ist Proteststrategie und Praxis nachhaltigen Investierens zugleich.6 Erstens teilen wir die Prämisse dieses Bandes, dass sich am Finanzmarkt – parallel zu anderen organisationalen Feldern bis hin zur gesellschaftlichen Makro-Ebene – eine gesellschaftliche Erwartung der Nachhaltigkeit als legitimitäts- und sinnstiftend etabliert hat und weiterhin etabliert. Institutionalisierungsprozesse einer solchen Nachhaltigkeitslogik haben die Finanzwelt erreicht, sind sichtbar in neuen Symbolen, organisationalen Praktiken und Organisationsformen (wie etwa nachhaltiges Investieren, Nachhaltigkeitsbanken, Nachhaltigkeitsratingagenturen), und bieten neben neuen Marktnischen auch Orientierung, Sinn und Legitimation für ihre Akteur/innen und deren Handlungen. Wenngleich zumindest von Irritationen – der herkömmlichen tonangebenden (Markt-) Logik – am Finanzmarkt durch eine Nachhaltigkeitslogik auszugehen ist (Hiß 2012), ist sie in ihrer Entstehung und Entwicklung umkämpft und kann sowohl auf institutionellen Wandel als auch Stabilisierung ‚desselben‘ verweisen. Mit der Divestment-Bewegung beleuchten wir die Dimensionen der Mobilisierung und Auseinandersetzung von institutionellen Dynamiken im Feld nachhaltigen Investierens, sowie die verschiedenen daran beteiligten Gruppen und mit dem Fokus auf Klimawandel ein besonders präsentes Nachhaltigkeitsthema. Zweitens gehen wir davon aus, dass eine sozial-ökologische Nachhaltigkeitslogik sowie empirische Phänomene nachhaltigen Investierens (wie das Fossil-Fuel-Divestment) gerade vor dem Hintergrund systemisch und legitimatorisch krisenhafter Finanzmärkte und mehrfacher Stabilitätserfordernisse dort an Bedeutung gewinnen. Hier leitet uns der dem Band übergeordnete soziologische Zugang, jene im Feld nachhaltigen (De-)Investierens gültigen kollektiven Deutungs- und Handlungsregeln mit Stabilitätsbezügen qualitativ zu rekonstruieren – das heißt, wir unternehmen keine Wirkungsanalyse oder Messung des Einflusses auf Finanzmarktstabilität. Gerade beim Fossil-Fuel-Divestment wird zumindest implizit ein Zusammenhang von klimafreundlichem, nachhaltigem mit stabilem oder resilientem Finanzhandeln hergestellt, indem sich etwa eine Argumentation um (klimabezogene) Risiken bis hin zur These einer CO2-Spekulationsblase latent überbewerteter CO2-intensiver Sektoren angesichts der Klimaziele (Carbon Bubble) verbreiten (Carbon Tracker Initiative 2011; Leaton et al. 2013). Dies macht die Bewegungsdynamik auch im Kontext der sich überlagernden öko-sozialen (Klima-)Krise mit der Legitimationskrise systemisch strauchelnder Finanzmärkte verständlich. Im Beitrag gliedern wir unser Erkenntnisinteresse, ausgerichtet auf die Spezifik unseres Untersuchungsgegenstands, in zwei Schritte beziehungsweise Fragestellungen:
6Historisch
betrachtet waren die ersten Divestment-Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre gegen den Vietnamkrieg und das südafrikanische Apartheid-Regime auch frühe Varianten und Vorläuferinnen nachhaltigen Investierens und Treiberinnen erster nachhaltiger Fonds am Markt; vgl. Hiß (2011); Hiß et al. (2018); Sparkes (2002).
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Im ersten Teil zeichnen wir, auf Basis qualitativer Interviews und Fokusgruppendiskussionen mit der Breite der Divestment-Bewegung in Deutschland, die hier Aktivist/ innen, NGOs aber auch Finanzakteur/innen einschließt, die Kernelemente kollektiver Deutungsrahmen im Feld nach, die mobilisierend sowie sinn- und identitätsstiftend für die Akteur/innen und das kollektive Handeln wirken.7 Die dabei vorangetriebenen Rahmungen sind Teil der umkämpften Entstehung und Entwicklung der Nachhaltigkeitslogik im Finanzfeld. Anschließend widmen wir uns in einem zweiten Schritt dem Stabilitätsbezug, indem wir das empirische Material gezielt daraufhin beleuchten: Inwiefern und auf welche Weise nehmen kollektive Deutungsrahmen im Feld des Divestments Bezug auf die Stabilität und Resilienz des Finanzmarkts? Da die Bewegung die Klimakrise mit riskantem Investitionsverhalten und systemischen Risiken verknüpft, ist sie gerade für diese Zwecke ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand. Für unsere empirische Untersuchung dieser Forschungsfragen legen wir den theoretisch-methodischen Ansatz der Frame-Analyse sozialer Bewegungen zugrunde und setzen ihn ins Verhältnis zur Perspektive institutioneller Logiken (siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Frames sind legitimitätsstiftende, diskursive Deutungsrahmen und Interpretationsmuster zur Erklärung von kollektivem Handeln und Mobilisierung. Sie erfassen die Ebene symbolischer Auseinandersetzung und symbolischer (Deutungs-)Kämpfe um soziale Wirklichkeit (Kreissl und Sack 1998, S. 42; Lounsbury et al. 2003, S. 2). Wir rekonstruieren geltende Deutungs- und Handlungsregeln im heterogenen Feld der Divestment-Bewegung. Eine soziale Bewegung ist demnach nicht nur Trägerin vorhandener kollektiver Glaubensund Bedeutungssysteme, sondern auch Produzentin derselben (Kern 2008, S. 141; Snow und Benford 1988, S. 198). Sie reagiert nicht schlicht auf ‚objektiv‘ gegebene Probleme und Missstände, sondern bringt diese in sozialen Definitions- und Aushandlungsprozessen erst mit hervor (Kriesi et al. 1995, S. 145 f.). Die Deutungsarbeit der Divestment-Bewegung und beteiligter Gruppen re-interpretiert und verhandelt dabei auch das Investieren und seine Auswirkungen und Risiken vor dem Hintergrund von Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Methodisch gehen wir interpretativ-rekonstruktiv vor: Wir haben die qualitativen Daten der Interviewgespräche und Fokusgruppen-Diskussionen sowohl inhaltsanalytisch als auch entlang einer qualitativen Frame-Analyse (nach Benford und Snow 2000; Snow et al. 1986) ausgewertet. Es zeigt sich, dass die Divestment-Bewegung übergreifende Deutungszusammenhänge über verschiedene Akteursgruppen hinweg generiert, aber auch unterschiedliche Framings nebeneinander existieren, die Deutungsdifferenzen im Feld sichtbar machen. 7Wir
sind somit nicht vornehmlich an einer Untersuchung der Fossil-Free-Kampagne und des rein aktivistischen Zweigs der Bewegung aus Aktivist/innen, NGOs und Initiativen interessiert, sondern beziehen bewusst beteiligte und involvierte Finanzorganisationen mit ein, weil wir so auch die insbesondere innerhalb des Felds nachhaltigen Investierens angesiedelte Beteiligung an dieser Bewegung und das Verhältnis der heterogenen Akteur/innen erfassen.
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
277
Wir rekonstruieren die drei Kernbereiche der Deutungsarbeit inhaltlich (Diagnoserahmen, Lösungsrahmen, motivationale Rahmung) und zeigen, wie damit die heterogenen Akteursgruppen im Feld mobilisiert werden. Nicht nur finden die sehr unterschiedlichen Gruppen (Klimaaktivist/innen, NGO-Vertreter/innen, Finanz- und Investmentprofessionelle aus dem Nachhaltigkeitsbereich oder Vertreter/innen der Stadtfinanzen) Anschluss an bestimmte Deutungen; die Frame-Elemente spiegeln auch die Spannungen und Widersprüche zwischen unterschiedlichen institutionalisierten Erwartungen und Zielen beziehungsweise Konflikten der Logiken von Nachhaltigkeit und Finanzmarkt wider. Die Divestment-Bewegung und -Strategie in ihrem unserer Forschung zugänglichen Stadium verweist einerseits auf eine Politisierung des Finanzmarkthandelns und auf eine Neu-Verhandlung der gesellschaftlichen und ökologischen (Dys-)Funktionen des Investierens; andererseits wird deutlich, wie die Investor/innen und Finanzmärkte auch zu zentralen Hoffnungsträger/innen in der Lösung der Klimakrise werden. Dafür bleibt die Bewegung mit bestimmten Deutungsangeboten in ihrer Argumentation, ihren Strategien und Zielen kompatibel mit grundlegenden Mechanismen und Imperativen des Finanzmarkts, ohne sie zu hinterfragen, und problematisiert kaum die Grenzen und Ausweichprozesse nachhaltigen Investierens. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Wir stellen zunächst die gegenwärtige Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung und ihre Entwicklung in Deutschland vor und charakterisieren ihren Entstehungskontext. Danach gehen wir auf die Frame-Analyse als theoretischen Ansatz und methodisches Werkzeug ein und diskutieren die Eignung und Anwendung im vorliegenden Fall. Es folgen Ausführungen zu unseren Daten und Methoden, bevor wir in zwei Schritten die Ergebnisse vorstellen: Zuerst werden die kollektiven Deutungsrahmen im Feld der Bewegung, anschließend die Frames mit Bezug zur Stabilität des Finanzmarkts präsentiert und analysiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung Divestment (deutsch: Desinvestition) ist grundsätzlich das Gegenteil einer Investition. Anstatt etwa Unternehmensanteile oder Anleihen zu kaufen, bezeichnet Divestment schlicht den Verkauf von Vermögensanteilen. Diese Praxis kann als Bestandteil von üblichen Portfolio-Umschichtungen aufgrund finanzieller Überlegungen geschehen, erfolgt aber auch im Kontext ethischer oder politischer Ziele und Motive (Hunt, Weber und Dordi 2017). Mit dem Fossil-Fuel-Divestment interessiert uns hier Divestment als Proteststrategie, die im Kampf gegen die anthropogene Klimabelastung und ihre weitreichenden sozial-ökologischen Folgen versucht, auf die Verbrennung fossiler Energien einzuwirken. Investor/innen sind dabei aufgefordert, sich von bestimmten normativ belasteten Vermögensbeständen und Anlagen (v. a. von Unternehmensbeteiligungen z. B. in Form von Anleihen, Aktien, Fonds) zu trennen und sie als zukünftiges Investitionsobjekt auszuschließen. Ausschlusskriterien (z. B. Waffenproduktion, Menschenrechtsverletzungen
278
7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
oder Atomenergie) sind heute eine verbreitete nachhaltige Anlagestrategie, in Deutschland weiterhin die häufigste Form nachhaltiger Geldanlagen (FNG 2019, S. 14). Divestment ist somit auch als Variante des nachhaltigen Investierens zu betrachten, mit dem es nicht nur die Berücksichtigung nicht-finanzieller (z. B. ethischer, ökologischer, sozialer) Kriterien teilt, sondern auch die Idee, dadurch ökonomische und/oder politische Veränderungen anzustoßen (Hunt et al. 2017). Während Divestment-Kampagnen allerdings genuin zivilgesellschaftlich- und bewegungsgetrieben sind und sich auf deren spezifische soziale, politische oder ökologische Ziele richten, ist das nachhaltige Investieren mittlerweile ein ausgereiftes Markt- beziehungsweise Produktsegment, das die Finanzdienstleister/innen entsprechend der Absatzmöglichkeiten und Nachfrage gestalten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts taucht das Divestment als eine soziale Protestform und Strategie von Bewegungen auf, die spezifische Missstände anprangert und beeinflussen soll (Hunt et al. 2017). Die wohl bis heute bekannteste Divestment-Bewegung wandte sich in den 1980er Jahren gegen das südafrikanische Apartheid-Regime (Soule 1997; Soule 2009). Die wirtschaftliche Aktivität und Verstrickung von US-Unternehmen im Apartheid-Regime sorgte insbesondere unter Studierenden für Entrüstung und heftigen Protest gegen die investierten Universitätsvermögen (Soule 1997; Westermann-Behaylo 2009). Weitere Bewegungen betrafen den Vietnam-Krieg (Sparkes 2002), den Darfur-Konflikt (Soederberg 2009; Soederberg 2010), die Tabakindustrie (Wander und Malone 2006; Wander und Malone 2007) und betreffen aktuell die israelische Siedlungspolitik (Hitchcock 2016; McMahon 2014) oder, wie in dem hier untersuchten Fall, die fossilen Energien.8 Die frühen DivestmentProteste gelten als Vorläufer und Treiber des sogenannten socially responsible investing (SRI) (Hiß et al. 2018; Sparkes 2002): Nach den Protesten gegen die Investitionen großer Universitäten und Pensionsfonds in vom Vietnam-Krieg profitierenden US-Unternehmen entstanden dort die ersten großen SRI- oder N achhaltigkeits-Fonds. Mit der AntiApartheid-Divestment-Bewegung bekam das Segment des nachhaltigen Investierens insgesamt einen entscheidenden Auftrieb (Sparkes 2002). Das gegenwärtige Fossil-Fuel-Divestment bildete sich zunächst in Form von Kampagnen an US-Hochschulen (Ayling und Gunningham 2015). Die bereits seit 2008 bestehenden Studierendenproteste formierten sich in der gemeinsamen Kampagne Fossil Free, die maßgeblich von der internationalen Klimaschutz-Organisation 350.org9 organisiert wird und angestoßen wurde durch den populär gewordenen Rolling-StoneArtikel „Global Warming’s Terrifying New Maths“ des Umweltaktivisten Bill McKibben (2012), in dem er zum Divestment aus der fossilen Industrie aufruft. Unter Rückgriff
8Kleinere
aktuelle Kampagnen betreffen die Gefängnisindustrie, die von überwiegend afroamerikanischen Studierenden ins Leben gerufen wurde (https://prisondivest.com/) sowie nach einer Welle an Amokläufen in den USA einen Aufruf zum Divestment aus Waffenproduktion und -vertrieb (http://www.campaign2unload.org/about-us/). Jeweils zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 9Vgl. https://350.org/, zuletzt abgerufen: 21.08.2019.
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
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auf klimawissenschaftliche Erkenntnisse, dass – nachdem rund 60 Prozent des weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoßes aus der fossilen Industrie stammen – die Erderwärmung nur in einem tragfähigen Maß von unter zwei Grad Celsius zu halten ist, wenn ein Großteil der verbliebenen fossilen Reserven der Unternehmen nicht verbrannt wird, versucht diese Kampagne gegen den Klimawandel und die fossile Industrie als Hauptverursacherin vorzugehen (Grady-Benson und Sarathy 2016): At this point, effective action would require actually keeping most of the carbon the fossilfuel industry wants to burn safely in the soil, not just changing slightly the speed at which it’s burned. (McKibben 2012)10
Die Kampagne breitete sich in den Folgejahren weltweit aus (Metz und Seeßlen 2015) und existiert mittlerweile in über 80 Ländern, wo zahlreiche lokale Aktionsgruppen versuchen, öffentliche wie private Institutionen davon zu überzeugen, ihr Vermögen nicht mehr in die Kohle-, Öl- und Gas-Industrie zu investieren. Anstatt direkt auf die Unternehmen zu zielen und auf Veränderungen zu drängen, adressiert das Divestment deren Kapitalgeber/innen und damit die Finanzierung zum Beispiel der Kohleindustrie und ihrer neuen Projekte, um letztlich die fossile Industrie zu delegitimieren. Sie richtet sich indirekt auch an politische Akteur/innen, indem gerade öffentliche Institutionen (z. B. Städte) auf ihre besondere Verantwortung verwiesen werden, und weil sie Regulierungen vorantreiben könnten hin zu einer wirtschaftlich-strukturellen Transformation weg von fossilen Energien (Apfel 2015; Ayling und Gunningham 2015). Parallel dazu wurden Finanzinstitutionen und Finanzindustrie zunehmend aufmerksam auf sogenannte klimabezogene Finanzrisiken (climate-related financial risks) und auf die von der Divestment-Bewegung verbreiteten Konzepte der carbon bubble und der stranded assets (Ansar et al. 2013; Kiyar und Wittneben 2015; Leaton et al. 2013; Ritchie und Dowlatabadi 2014; Weyzig et al. 2014). Die Kampagne popularisierte, erstmals mit besagtem Artikel von McKibben (2012), die These einer Blasenbildung und drohender Wertverluste fossiler Investitionen als potenzielle stranded assets – die angesichts der anstehenden politischen Umsetzung der Klimaziele und eines Strukturwandels drohten. Nachdem 2009 ein Team des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) in einer viel beachteten Studie in der Zeitschrift Nature erstmals ein globales Kohlenstoffbudget (global carbon budget) errechnete, also die maximale Menge an in die Atmosphäre abzugebendes CO2, um die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen (Meinshausen et al. 2009), veröffentlichte zwei Jahre darauf die Carbon Tracker Initiative (2011) ihren ersten Bericht über unburnable carbon. Der Bericht fragt, ob die Finanzmärkte eine Kohlenstoffblase (carbon bubble) in sich tragen, die sich angesichts eines zu lange verschobenen Ausstiegs aus den fossilen Energien aufblähe und in
10McKibben
(2016) aktualisierte die Zahlen in seinem 2016 erschienenen Artikel „Recalculating the Climate Math“. Siehe auch unter https://newrepublic.com/article/136987/recalculating-climatemath, zuletzt abgerufen am 21.02.2020.
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
massiven Wertverlusten münde – angelehnt an Finanzblasen wie in den Spekulationen der Immobilienblase (Carbon Tracker Initiative 2011).11 Nachdem der Stern Review im Jahr 2006 erstmals die wirtschaftlichen Auswirkungen und Kosten des Klimawandels bezifferte und vor allem Zugang zu einer größeren Öffentlichkeit fand und die Aufmerksamkeit von Wirtschaft und Politik für das Thema gewann (Stern 2006), erscheint eine solche Darstellung, Berechnung und Verbreitung der finanzmarktlichen Kosten und Risiken des Klimawandels als ein neuer Meilenstein in dessen ökonomisch-finanzieller Bewertung. Neben den studentischen Kampagnen, lokalen Graswurzelinitiativen und Klimaund Umwelt-NGOs sind somit seit den Anfängen auch (finanz-)marktnahe NGOs – bis hin zu vereinzelten Finanzmarktakteur/innen selbst – an der Konstruktion des D ivestment-Diskurses beteiligt. Die Carbon Tracker Initiative etwa mit ihrer Carbon-Bubble-These definiert den Investorenschutz als ein Ziel ihrer Organisation.12 Neben der Kritik an Investor/innen sind demnach solche Schnittstellen der „Zusammenarbeit“ und Indizien für (Interessens-)Allianzen von Klimaschutz(-organisationen) und Finanzmarkt(-organisationen) bereits in der Entstehung der Bewegung sichtbar, verlaufen allerdings durchaus nicht spannungsfrei. So wurden Konzepte wie die Carbon Bubble in den Anfängen der Divestment-Kampagne von der Finanzindustrie noch als „Esoterik“ abgetan.13 Spätestens mit der viel beachteten Rede „Breaking the Tragedy of the Horizon“ im Jahr 2015 von Mark Carney, Gouverneur der Bank of England und ehemaliger Vorsitzender des Financial Stability Board (FSB), zu den Auswirkungen von Klimawandel beziehungsweise unburnable carbon auf die Finanzindustrie, wird das Thema bis in den Mainstream des Finanzmarkts hinein wahrgenommen. Bald darauf folgte die Einrichtung einer Task Force on Climate-related Financial Disclosure (TCFD)14 im Umfeld des FSB. Der Klimawandel ist somit als Finanz- und Stabilitätsthema auf der Agenda der Institutionen gelandet. (Finanz-)wissenschaftliche Studien befassen sich mit dem Gegenstand und mit dem Fossil-Fuel-Divestment (zu mehr Details zum Feld und den Bedingungen klimabezogenen Investierens durch EU- und UN- Institutionen siehe den Beitrag von Hiß über die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts in diesem Band). 11“The
total CO2 potential of the earth’s proven reserves comes to 2795 GtCO2. 65 % of this is from coal, with oil providing 22 % and gas 13 %. This means that governments are currently indicating their countries contain reserves equivalent to nearly 5 times the carbon budget for the next 40 years. Consequently only one-fifth of the reserves could be burnt unabated by 2050 if we are to reduce the likelihood of exceeding 2 °C warming to 20 %.” (Carbon Tracker Initiative 2011, S. 6). 12Vgl. https://www.carbontracker.org/, zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 13So Regine Richter (2017) von der NGO urgewald e. V. in ihrem Input auf dem UNEP FI/VfU Roundtable am 29.11.2017 in Frankfurt am Main. Siehe auch unter https://vfu.de/ressourcen/vergangene-veranstaltungen/roundtables/roundtable-2017, zuletzt abgerufen am 21.08.2019. 14Die Taskforce gibt Empfehlungen zur freiwilligen Offenlegung von Klimarisiken für betroffene Unternehmen aller Sektoren zur Information ihrer Kapitalgeber, Versicherer und anderer Stakeholder (https://www.fsb-tcfd.org/, zuletzt abgerufen am 21.08.2019).
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
281
Dennoch bleibt das Thema finanzieller Klimarisiken und CO2-Blase und seine Bedeutsamkeit sowie zeitliche Brisanz eine Kontroverse: in einer vom deutschen Finanzministerium in Auftrag gegebenen Studie zur Bewandtnis des Klimawandels für die Finanzmarktstabilität wird die kurz- und mittelfristige Gefahr bis 2030 durch physische Auswirkungen als sehr gering eingeschätzt, aber sich verstärkend und schon in einigen Jahren als neu zu bewerten (Lutz und Stadelmann 2016, S. 103). Politisch-regulatorisch bedingte Transitionsrisiken oder -schocks beurteilt der Bericht hingegen als besonders schwer einzuschätzen, „da dies unter anderem von der Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit von umweltpolitischen Regulationen in Deutschland und anderen Ländern abhängt“ (Lutz und Stadelmann 2016, S. 103), und resümiert: Während aktuell ermittelte Risiken alleine in ihrem Umfang am Finanzmarkt noch ein geringes Risiko für dessen Stabilität darstellten, könnten sich sogenannte „Zweitrundeneffekte“ abhängig von strukturellen Charakteristika des Finanzsystems (etwa seiner Vernetzung und generellen (In-)Stabilität) problematisch auswirken (Lutz und Stadelmann 2016, S. 104). Das Thema ist demnach – nicht nur wegen seiner teilweisen Zukunftsorientierung – mit viel Unsicherheit behaftet und bietet Raum für soziale Deutungs- und Definitionsprozesse, in denen diese Bewegung von Beginn an mitwirkt und eine treibende Rolle einnimmt. Zwar ist die Klimaproblematik inzwischen auch bei konventionellen Finanzinstituten angekommen, wobei vor allem institutionelle Anleger mit langen Anlagezeiträumen wie Kirchen, Stiftungen, Pensionskassen und Versicherer damit beginnen, zusehends aus Sektoren zu deinvestieren, deren Kerngeschäft überwiegend auf fossilen Energien beruht. Die Fossil-Free-Kampagne gibt an, dass sich inzwischen weltweit bereits 1116 Institutionen und über 58.000 Privatpersonen zum teilweisen oder vollen Ausschluss verpflichtet haben.15 Für Dezember 2016 wurde der Vermögenswert, den die Institutionen und Individuen repräsentierten, in einer konservativen Schätzung mit 5 Billionen US-Dollar beziffert, im Vergleich zu 3,4 Billionen im Jahr davor (Arabella Advisors 2016, S. 1, 10). Die Fossil-Free-Kampagne gibt ihn inzwischen mit 9,94 Billionen an (Stand: 21.08.2019). Die Masse der institutionellen und privaten Anleger/innen reagiert aber offenbar noch nicht, so sind diese Umschichtungen auf den insgesamt rund 168 Billionen Euro (Allianz 2018, S. 9) schweren Finanzmärkten noch marginal. Die verkauften fossilen Aktien werden von anderen Fonds wieder aufgekauft. Noch gibt es zu viele potenzielle Käufer/innen und eine große finanzielle Wirkung wird dem FossilFuel-Divestment vielfach noch abgesprochen.16 Es ist dennoch beachtlich, wie eine jahrzehntelang als stabile Anlage geltende Branche in Zweifel gerät – und zwar im Kontext
15https://gofossilfree.org/divestment/commitments/,
zuletzt abgerufen: 21.08.2019. Neue Zürcher Zeitung dazu: „Und so sind die „Bewertungen der einschlägigen Firmen weit mehr durch den Erdölpreis bestimmt […] als durch ihre Antworten auf die Klimarisiken“ (Schäfer 2017). Siehe auch https://www.nzz.ch/finanzen/geldanlagen-und-klimarisiken-wo-ist-buffettld.1299966, zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 16Die
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
einer gesellschaftlichen Debatte. So verzeichneten Kohlekonzerne die letzten Jahre zeitweise starke Einbrüche von Marktanteilen und Aktienwerten.17 Die erste deutsche Divestment-Kampagne startete im Jahr 2013 an der Universität Münster und weitete sich ein Jahr später auf die Stadt Münster aus.18 Im Jahr 2015 beschloss der Stadtrat, dass Münster als erste deutsche Stadt mit seinem kommunalen Pensionsfonds gezielt aus fossilen Energien desinvestiert bei gleichzeitiger Einführung weiterer Nachhaltigkeitskriterien (Rohrbeck 2015). Mit der Allianz19, der Bank im Bistum Essen (o. A. 2015), der evangelischen Kirche Hessen-Nassau20, dem Presse-Versorgungswerk21 oder dem Land Berlin22 haben sich neben anderen weitere private und öffentliche institutionelle Investoren zu Divestment-Regelungen entschlossen.23 Bereits diese kurze Liste zeigt an, wie heterogen sich das Feld darstellt (siehe auch Rohrbeck 2015). Neben den lokalen und überregional tätigen NGOs, Aktivist/innen und politischen Initiativen (u. a. organisiert in mittlerweile 33 lokalen Fossil-Free-Gruppen in fast allen größeren deutschen Städten), bekennen sich zahlreiche institutionelle Investoren, wie Kirchen, Versicherungen, Städte, Bundesländer oder Versorgungswerke öffentlich zum
172016
musste bspw. eines der größten Kohlebergbauunternehmen der Welt, Peabody Coal, vorübergehend Insolvenz anmelden. 18Im gleichen Jahr gab es eine zunächst wenig erfolgreiche Petition zur Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zum Stopp geplanter und zukünftiger Investitionen in Kohleprojekte. 2019 verabschiedete die staatliche Förderbank schließlich eine solche Richtlinie, die neben Kohlekraftwerken auch Kohleexploration und -bergbau von ihrer Finanzierung ausschließt (KfW 2019). Vor diesen gebündelten Kampagnen war der Kampf gegen insbesondere die Kohlefinanzierung schon länger ein Fokus bestimmter deutscher Umwelt-NGOs (vgl. z. B. urgewald e. V., BankTrack, Brot für die Welt). Zum Überblick über Non-Profit-Akteur/innen im Feld Klimaschutz/Nachhaltigkeit und Finanzen siehe den Beitrag von Hiß über die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts in diesem Band. 19https://www.allianz.com/de/presse/news/finanzen/beteiligungen/150923_allianz-steigt-aus-kohlefinanzierung-aus/; zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 20http://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/klima-im-blick-kein-geld-in-kohle-investieren. html; zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 21https://www.presse-versorgung.de/aktuelles/klimaschutz-im-fokus.html; zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 22https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2016/pressemitteilung.514824.php; zuletzt abgerufen: 21.08.2019. 23Diese Selbstverpflichtungen sind dabei nicht einheitlich und werden, von 350.org öffentlich gelistet, grob in „partial“ oder „coal only“/„coal and tar sands“ (teilweiser Divestment-Beschluss), „full“ (vollständiger D ivestment-Beschluss) und „fossil-free“ (vollzogenes/bereits bestehendes vollständiges Divestment) unterteilt (https://gofossilfree.org/divestment/commitments/, am 30.03.2020). Beispielsweise bezog sich der Divestment-Beschluss der Allianz von 2015 auf einen Mindestprozentanteil von Kohle-Unternehmen, die über 30 Prozent des Umsatzes oder der Energieerzeugung mit Kohle generieren. Sie justierte 2018 unter anderem ihr Versicherungsgeschäft mit Kohleunternehmen nach.
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
283
Divestment. Hinzu kommen Akteur/innen, die sich als NGO oder Marktteilnehmer/ innen bereits im Feld des nachhaltigen Investierens etabliert haben und nun die neue Bewegung aktiv unterstützen, auch um mit ihrem Wissen oder ihren Produkten und Dienstleitungen nachhaltige Finanzen darüber hinaus zu befördern. In einer Erhebung unter 59 Finanzakteur/innen aus dem deutschsprachigen Raum nannten diese das Divestment fossiler Energieträger (allen voran von Kohle) als die mittlerweile wichtigste Strategie nachhaltigen Investierens gegen den Klimawandel (FNG 2017, S. 18). Nach diesem Kurzüberblick über Definition, Herkunft und Entwicklung von Divestment arbeiten wir im Folgenden drei wichtige Kontext- und Entstehungsbedingungen der Bewegung und ihrer Strategie heraus, bevor wir, daran anknüpfend, näher auf unser Untersuchungsinteresse eingehen: a) Divestment als Bewegung aus Zivilgesellschaft und Investor/innen, b) die finanzorientierte Bewegung vor dem Hintergrund eines hybridisierten Finanzsystems und c) die Überlappung von Klima- und Finanzkrise. a) Die Divestment-Bewegung versammelt, wie gezeigt wurde, sowohl Akteur/ innen aus der Zivilgesellschaft als auch aus dem Finanzsystem. Auf der einen Seite werden Investitionspraktiken zum Gegenstand des Protests einer sozialen Bewegung, die sich auch als Gegenbewegung gegen wachsende Unternehmensmacht und ökosozial schädliche Marktexzesse begreifen lässt. Auf der anderen Seite werden Investor/ innen und Finanzmärkte mit ihrer Finanzmacht zum Gegenstand der Mobilisierung, die dafür aktiviert werden, die Erderwärmung einzudämmen. Vergleichbar mit anderen Divestment- und nachhaltigen Investitionsstrategien sehen wir darin eine inhärente Spannung: indem SRI-Strategien einerseits Versuche repräsentieren, die Marktexzesse einzugrenzen und Märkte zu politisieren und dafür andererseits die dominanten (Finanz-) Marktmechanismen und -akteur/innen nutzen und reaktivieren (müssen) (Soederberg 2009, S. 212). Sie verkörpern dabei nach Soederberg (2009, S. 213) die steigende gesellschaftliche Unzufriedenheit mit wachsender Unternehmensmacht, aber enthalten auch einen unhinterfragten Glauben an die Finanzindustrie und daran, dass sozialer Wandel (effizient und profitabel) durch Marktmechanismen erreicht werden kann, anstatt direkt durch staatliche Regulierung. b) Zudem lässt sich gerade die Entstehung vom Fossil-Fuel-Divestment in Deutschland auch vor dem Hintergrund einer Bedeutungszunahme der Finanzmärkte begreifen. Im traditionell bankbasierten deutschen Finanzsystem waren vor allem die Hausbanken für die Finanzierung von Unternehmen zuständig; die Aktien- und Anleihemärkte besaßen nur eine geringe Bedeutung (Beyer 2007, 2010; Lütz 2017). Mit der zunehmenden Finanzialisierung der deutschen Wirtschaft und der Hybridisierung des Corporate-Governance- und Finanzsystems veränderte sich die Rolle der Finanzmärkte, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Einfluss gewonnen haben (Kädtler 2010; Lütz 2017; Windolf 2005). Das und die daraus hervorgehende Machtzunahme von institutionellen Investoren (Windolf 2008), etwa Pensionsfonds, sind somit als Entstehungskontext finanzorientierter Protestbewegungen und Strategien sozialen Wandels zu verstehen. So wurden auch Städte und Bundesländer, die erst seit den letzten Dekaden
284
7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
verstärkt Pensionsfonds zur Veranlagung der Beamtenpensionen nutzen, zur besonderen Zielscheibe deutscher Divestment-Kampagnen. c) Als eine dritte wichtige Kontextbedingung des Fossil-Fuel-Divestments identifizieren wir die gegenwärtige Gleichzeitigkeit einer sozial-ökologischen Klimakrise und der anhaltenden Krisenhaftigkeit der Finanzmärkte, die sowohl systemisch sowie in ihrer Legitimation angegriffen sind. Die Überlappung dieser Krisen(-erfahrungen) (Barth 2010, S. 181) sowie die Sorge um Klimastabilisierung und Finanzstabilität sehen wir als einen (strukturellen) Motor für die dynamische und heterogene Bewegung.24 Nach der Finanzkrise 2007/2008 und der durch sie offengelegten systemischen Risiken des Finanzmarkts (siehe dazu den Beitrag von Nagel in diesem Band), eröffnet eine Legitimitätskrise Möglichkeiten, den Sinn und Zweck von Finanzmärkten und Investitionspraktiken neu zu diskutieren (Nagel et al. 2016). Gleichzeitig schreitet der Klimawandel mit all seinen zunehmenden ökologischen und sozialen Verwerfungen voran: Während der Weltklimarat (IPCC) im Jahr 2007 die anthropogene Klimaveränderung aufgrund von Treibhausgasen betont und im fünften Sachstandsbericht 2014 die aktuellen Kenntnisse über die Gefährdung unserer Lebensgrundlagen auf dem Planeten zusammenfasst, wurden und werden die Bedrohungen immer mehr auch in ökonomische Konsequenzen übersetzt (Fatheuer et al. 2015). Der berühmte SternReport argumentiert mit monetären Kosten des Klimawandels für die Weltwirtschaft (Stern 2006). Die Carbon Tracker Initiative zeigt drohende Finanzrisiken und Kapitalvernichtung auf, woraufhin sogar einflussreiche Institutionen wie die Bank of England die Finanzindustrie alarmieren (Carney 2015). Das aktuelle Fossil-Fuel-Divestment greift beide Krisenkomplexe auf und stößt auch bei konventionellen Finanzinstituten und politischen Institutionen auf Resonanz. Gerade vor dem Hintergrund von Klimakrise und einer Legitimationskrise der Finanzmärkte bietet das Engagement gegen den Klimawandel eben auch Legitimitätspotentiale für Finanzakteur/innen. Auch aufgrund dieser drei die Bewegung charakterisierenden Entstehungskontexte und der ihr innewohnenden Spannungen interessieren wir uns aus einer soziologischen Perspektive für die Divestment-Bewegung als Produzentin von legitimitätsstiftenden kollektiven Deutungen im Feld Nachhaltigkeit und Finanzmarkt. Konkret verfolgen wir eine zweiteilige Fragestellung, die zunächst darauf abzielt, welche kollektiven Deutungsrahmen die Bewegung konstituieren und die heterogenen Akteur/innen mobilisieren. In einem zweiten Schritt fokussieren wir uns auf die explizite wie implizite Bezugnahme des Klima-Divestments auf seine Auswirkungen auf Stabilität und Krisenfestigkeit beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts. Unsere Untersuchungen erweitern die bislang noch wenig entwickelte sozialwissenschaftliche Literatur zum Fossil-Fuel-Divestment um die Frage nach der diskursiven
24Barth
(2010, S. 181) vergleicht eine sich gegenwärtig überlagernde Finanz- und Klimakrise mit der in den 1970er Jahren sich überschneidenden Krise des Fordismus mit der ökologischen Krise, die den Beginn staatlicher Umweltpolitik markierte (vgl. auch Newell und Paterson 2010).
7.2 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
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Rahmung heterogener Akteur/innen und um den Bezug zur Stabilität. In Literaturbeziehungsweise Zeitschriftendatenbanken überwiegen noch immer Beiträge aus den 1980er und 1990er Jahren zum Anti-Apartheid-Divestment (u. a. Arnold und Hammond 1994; Grossman und Sharpe 1986; Teoh et al. 1999). Forschung gibt es ebenso (wenn auch weniger umfangreich) zu anderen Divestment-Kampagnen, zum Beispiel Tabak (Wander und Malone 2006; Wander und Malone 2007) oder Darfur (Soederberg 2009). Auffällig ist, dass Fossil-Fuel-Divestment vielfach aus einer finanzwissenschaftlichen oder ökonomischen Perspektive analysiert wird, die etwa eine Carbon Bubble und die Kosten und Risiken von fossilen (Des-)Investitionen für die Investor/innen (Ritchie und Dowlatabadi 2014; Roettmer 2016; Weyzig et al. 2014) oder die Wirkung auf die fossile Industrie in den Blick nehmen (Kiyar und Wittneben 2015). Sozialwissenschaftliche Literatur untersucht bislang die Strategien und zentralen Charakteristika der Bewegung (z. B. Apfel 2015; Ayling und Gunningham 2015; Grady-Benson und Sarathy 2016), die studentische Organisierung für Klimagerechtigkeit in C ollege-Divestment-Kampagnen (Grady-Benson und Sarathy 2016), zieht Vergleiche zwischen der aktuellen und der Anti-Apartheid-Kampagne (Hunt et al. 2017) oder analysiert Divestment als Form privater Governance von Klimawandel (Ayling und Gunningham 2015). Gunningham (2017) betrachtet auch symbolische Prozesse der Normbildung beim Divestment und verweist randständig auf kognitives Framing durch die Bewegung. Er konzentriert sich dabei allerdings auf ihren „aktivistischen Arm“, ohne die Deutungsaktivität ihres „finanziellen Arms“ zu berücksichtigen (Gunningham 2017, S. 374). Zwar betont Gunningham die Rolle des nachhaltigen Finanzmarktsegments für die Bewegung, bezieht sie aber nicht in seine Analyse ein. Beer (2016) untersucht die Entscheidungsrationalität von frühen Umsetzer/innen (‚early adopters‘) des Fossil-Fuel-Divestments unter US-Universitäten: Er ermittelt die kulturellen Rahmungen (framings), die Universitätsleitungen und Verwalter/innen der Universitätsvermögen zur Rechtfertigung anwenden, und wie diese institutionelle Logiken bedienen (müssen), um ihre Divestment-Entscheidung und Reaktion auf die Studierendenproteste zu rationalisieren. Wir nehmen die Breite der Bewegungsdynamik in den Blick, wie sie sich aus diversen Akteur/innen ihres aktivistischen und finanziellen Arms im deutschen Kontext zusammensetzt. Wir untersuchen nicht die Entscheidungsrationalität einer bestimmten Akteursgruppe, sondern welche kollektiven Deutungsrahmen in diesem heterogenen Feld mobilisierend wirken, Handeln legitimieren (etwa gemeinsame Problemdiagnosen, potenzielle Lösungen, Beteiligungsmotive) und vorangetrieben werden. Dabei zeigen wir auf, wie Neues transportiert, gruppenübergreifend koordinierende Deutungszusammenhänge erstellt und bestehende Deutungsmuster und Rationalitäten am Finanzmarkt modifiziert werden. Wir identifizieren Kontraste und Konfliktlinien, die sich beim klimabezogenen Deinvestieren und in der Bewegungsdynamik offenbaren und auf Deutungskämpfe sowie Logikenkonflikte zwischen Klimaschutz/Nachhaltigkeit und Finanzmarkt verweisen; und beleuchten, wie die koordinierenden und umkämpften (Um-)Deutungen auch den Zusammenhang von Divestment und Finanzmarktstabilität kennzeichnen.
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Vor der Ergebnispräsentation erläutern wir den Ansatz der Frame-Analyse sozialer Bewegungen in unserer Anwendung. Anschließend stellen wir das Datenmaterial und methodische Vorgehen vor.
7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen Methodisch greifen wir in beiden Analysen auf das Konzept kollektiver Deutungsrahmen (interpretive frames) aus dem theoretischen Framing-Ansatz sozialer Bewegungen (nach Benford und Snow 2000; Snow et al. 1986) zurück. Damit können wir der Spezifik unseres empirischen Gegenstands gerecht werden und es gleichzeitig gewinnbringend zur Perspektive institutioneller Logiken ins Verhältnis setzen. Das Konzept nimmt eine soziale Bewegung als deutende kollektive Akteurin in den Blick, die nicht nur als Trägerin, sondern auch als Produzentin von Realitätsanalysen, Bedeutungs- und Glaubenssystemen wirkt (Kern 2008, S. 141; Snow und Benford 1988, S. 198) und damit auch kulturelle Ressourcen für institutionelle Veränderungen bereitstellt (vgl. auch 7.3.2). Frames können (wie Deutungsmuster) über verschiedene Gruppen hinweg wirksam sein, selbst wenn die Gruppen und Akteur/innen sehr heterogen sind in Bezug auf ihre ideologische Basis und die vorherrschenden, sie leitenden institutionellen (Handlungs-) Logiken (vgl. auch 7.3.2). Ein kollektiver Frame kann sie – wenn zunächst vielleicht nur oberflächlich oder vorübergehend – in bestimmten Sichtweisen und Handlungsorientierungen koordinieren. Frames können unterschiedliche institutionelle Logiken (mittels typischer Vokabeln, Argumentationsmuster, Begründungen) assoziieren und reflektieren. Zugleich wirken und koexistieren zumeist unterschiedliche Rahmungen in einer Bewegung oder einem Feld. Um unsere Verwendung der Frame-Analyse innerhalb des Projektkontexts zu erläutern, skizzieren wir zunächst die Konzeption und Anwendung von Frames und Framing. Danach werfen wir einen Blick auf die Rolle, die Frames in der den Band umspannenden Perspektive institutioneller Logiken einnehmen.
7.3.1 Frames und Framing Framing25 als Analysekonzept für soziale Bewegungen wurde von David A. Snow und Robert D. Benford (Benford und Snow 2000; Snow und Benford 1988; Snow und Benford 1992; Snow et al. 1986), und aufbauend auf Erving Goffmans Begriff Frame
25Folgende Ausführungen überschneiden sich mit dem Abschnitt „ Frame-Analyse sozialer Bewegungen“ im Methodenbeitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Buch, fallen hier aber insbesondere in der Anwendung auf die folgende Untersuchung detaillierter aus. Dort skizzieren wir darüber hinausgehend konzeptuelle Grundlagen von Frames und erläutern sie in Abgrenzung zu Deutungsmustern und Narrativen. Zur separaten Lesbarkeit beider Artikel haben wir uns dennoch für diese Überlappung entschieden.
7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen
287
(Rahmen) entwickelt, der damit soziale Interpretationsschemata bezeichnete, die es Individuen ermöglichen, Ereignisse und Situationen in ihrem Alltagsleben und in der Welt an sich zu ordnen, wahrzunehmen, zu benennen und darauf basierend zu handeln (Benford und Snow 2000, S. 614; Goffman 1993, S. 31 f.). Goffman interessierte sich besonders für solche unser Alltagserleben und -handeln strukturierende Rahmen und ihre Transformationen (siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Für die Untersuchung sozialer Bewegungen konzeptualisieren Frames, auf welche Weise bestimmten Ereignissen und Anliegen Bedeutung zugewiesen (Snow et al. 1986, S. 464) und dabei Sinn und Legitimität auch für kollektives Handeln bereitgestellt und Mobilisierung ermöglicht wird: We use the verb framing to conceptualize this signifying work precisely because that is one of the things social movements do. They frame, or assign meaning to and interpret, relevant events and conditions in ways that are intended to mobilize potential adherents and constituents, to garner bystander support and to demobilize antagonists. (Snow und Benford 1988, S. 198)
Die Frame-Analyse rückt – innerhalb des „konstruktivistischen Turns“ der 1980er Jahre in der soziologischen Theorie (Kreissl und Sack 1998, S. 42) – gegenüber anderen Perspektiven der Bewegungsforschung die sozialen Deutungsprozesse in den Fokus. Als Produzentin und Trägerin kollektiv geteilter Bedeutungs- und Glaubenssysteme beeinflusst eine soziale Bewegung neben anderen kollektiven Akteuren (Organisationen, Medien) den Kampf um die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Berger und Luckmann 2012; Kern 2008, S. 141).26 Mit der „Produktion und Reproduktion kultureller Deutungsstrukturen“ (Kern 2008, S. 142) mobilisieren soziale Bewegungen kollektives Handeln, Anhänger/innen und Interessen. Die kollektiven Deutungsrahmen (collective action frames) selbst definieren Benford und Snow als „action oriented sets of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization” (Benford und Snow 2000, S. 614). Sie wirken also als ideologische Basis bisheriger Bewegungsakteur/innen nach ‚innen‘ sowie als alternatives Deutungsangebot (z. B. an Adressat/innen) nach ‚außen‘ in ihre Umgebung. Soziale Bewegungen knüpfen dabei an bereits existierende Deutungsrahmen an, konstruieren neue oder fertigen übergreifende Interpretationszusammenhänge an, die für potenzielle Adressat/innen „resonanzfähig“ sind (Kreissl und Sack 1998, S. 43). Es geht dem Ansatz also um das Verstehen und Erklären sozialer Bewegungsprozesse, ihre Entstehung und Wirkungsmechanismen, insbesondere in Bezug auf „the generation, diffusion, and functionality of mobilizing and countermobilizing ideas and meanings“ (Benford und Snow 2000, S. 612). Konkret untersucht wird die Deutungsarbeit (Rahmungsaktivität) sozialer Bewegungen. Anstatt von objektiven oder subjektiven
26Frames sind daher auch als Teil sozialer Institutionen und ihrer Genese bzw. von (De-) Institutionalisierungsprozessen zu verstehen (vgl. 7.3.2).
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Problemen als Ursache kollektiven Handelns auszugehen, wird demnach eine Lage erst in sozialen Deutungsprozessen zum wahrnehmbaren Missstand und sozialen Problem gemacht (Kriesi et al. 1995, S. 145 f.). Beispielsweise wurde von den 1880er Jahren an Ungleichheit und Verteilungspolitik wesentlich in den Begrifflichkeiten eines ‚Arbeiterproblems‘ beziehungsweise eines Problems der Arbeiterklasse gerahmt – die aufgrund positiver Identifikationsmöglichkeiten womöglich leichter zu mobilisieren war – und wurde erst in den 1980ern als ‚Armutsproblem‘ prägend in der europäischen Debatte (Banting und Myles 2016, S. 517). Frames sind in dieser Perspektive weder auf einer Individualebene von Kalkülen angesiedelt noch unmittelbar aus Sozialstrukturen oder den Mechanismen politischer Institutionen und Umstände herzuleiten, sondern entfalten selbst eine Eigendynamik und -struktur (Kreissl und Sack 1998, S. 42). Sie haben mit dieser Eigendynamik auch eine organisierende Wirkung in sozialen Feldern, die Handlungen formen und alternativen, potenziell konkurrierenden Konzepten in einem Feld Ausdruck verleihen (Lounsbury et al. 2003, S. 76). Damit ergibt sich aus Neu-Rahmungen (re-framing) auch die Möglichkeit, von bisher gültigen Routinen und Normen abzuweichen. Den Kern der Deutungsarbeit (framing work) sozialer Bewegungen machen nach Benford und Snow (2000) drei analytisch trennbare Aspekte oder Teilfunktionen aus, die als solche auch zur Analyse genutzt werden (detailliert zu den drei Frame-Elementen vgl. Benford und Snow 2000, S. 615–618; Kern 2008, S. 143–145): die diagnostische, prognostische und motivationale Rahmung. Das diagnostic framing bezeichnet die Funktion, bestehende Realitäten als problematisch und veränderbar zu identifizieren und Problemdiagnosen zu entwickeln. Elemente davon sind die Identifikation von Problemen sowie ihrer Ursachen und Verantwortlichkeiten (bis hin zu ‚Schuldigen‘). Das prognostic framing zielt auf das Angebot von (Problem-)Lösungen und identifiziert legitime Mittel, Ziele und Handlungsträger dafür. Schließlich unterscheiden Snow und Benford motivational framing, das sich auf die Ausarbeitung von Beteiligungsmotiven – mittels „vocabularies of motives“ (Mills 1940, zit. n. Snow und Benford 1988, S. 202) – und einen „call to arms or rationale for action“ bezieht (Snow und Benford 1988, S. 201). Ein Beispiel aus der globalisierungskritischen Bewegung verdeutlicht, dass die Entwicklung einer gemeinsamen Problemdiagnose unter häufig sehr heterogenen Akteur/innen nicht selbstverständlich ist (Kern 2008, S. 143): Als weitgehend geteiltes Problem wurde (und wird noch) ‚der Neoliberalismus‘ als Gefahr für ausgewogene und gerechte soziale, politische und ökologische Verhältnisse angesehen, allerdings mit unterschiedlichen Akzenten, insbesondere was die Ursachen anbelangt. Während eine Sichtweise die entfesselte kapitalistische Dynamik und den Abbau staatlicher Institutionen betont, liegen die Gründe für eine andere in den imperialistischen, hegemonialen Bestrebungen unter US-amerikanischer Vormachtstellung (Ayres 2004, S. 15–20). Eine weitere für uns wichtige konzeptuelle Ausarbeitung ist das frame alignment. Bewegungen aktivieren Handeln dann, so argumentieren Snow et al. (1986), wenn
7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen
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sich ihr interpretatives Schema und jenes beteiligter Akteur/innen überschneiden: Mit zunehmender Kohärenz und Kompatibilität solcher oben beschriebener Frame-Elemente mit den „lebensweltlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erfahrungen“ potenzieller Adressat/innen steigt demnach die Chance, diese zu mobilisieren (Kreissl und Sack 1998, S. 43). Der prozessbezogene Begriff frame alignment verweist auf das Interesse am Verstehen und Erklären von Mobilisierung und Beteiligung, gleich welcher Natur oder Intensität: By frame alignment, we refer to the linkage of individual and SMO [social movement organization; die Autor/innen] interpretive orientations, such that some set of individual interests, values and beliefs and SMO activities, goals, and ideology are congruent and complementary. (Snow et al. 1986, S. 464)
Der Analyseansatz geht somit in erster Linie Fragen nach, wie in sozialen Bewegungen die Mobilisierung, Partizipation und „inhaltliche Basis mittels (…) diagnostischer, prognostischer und motivationaler Diskurselemente“ hergestellt, gefestigt und ausgebaut werden, und ob es einer Bewegung gelingt, „individuelle und lebensweltliche ‚Bewusstseine‘ auf dem Wege der Alignment-Operationen zu koordinieren und zu ‚kollektivieren‘“ (Kreissl und Sack 1998, S. 51). Hierbei lassen sich verschiedene solcher Koordinierungs-Mechanismen (frame bridging, frame amplification, frame extension oder frame transformation)27 unterscheiden, in denen Kongruenz der Deutungsschemata hergestellt wird (Benford und Snow 2000, S. 624–625; Kern 2008, S. 146–149). Neben der Herstellung von Kongruenz erfasst die Frame-Analyse auch mögliche frame disputes (Deutungskonflikte) (Benford und Snow 2000, S. 626), die anzeigen, wie in einer Bewegung (z. B. von verschiedenen Gruppen) um Deutungshoheit gerungen wird und worüber Deutungskämpfe stattfinden.28 Im ersten Teil unserer empirischen Untersuchung interessieren wir uns dafür, wie sich geteilte Deutungen der heterogenen Divestment-Bewegung im deutschen Kontext gestalten und fragen, inwiefern es zu frame alignments zwischen den mobilisierten Akteursgruppen kommt. Wir zeigen, wie die Bewegungsrahmen an organisationale Rahmungen des Finanzmarkts anschließen, wo sowohl bei Klimaaktivist/innen und (nachhaltigen) Finanzprofessionellen Resonanz entsteht. Neben den identifizierten ‚gemeinsamen Nennern‘ der Bewegungsdynamik betrachten wir die Unterschiede (Dissonanzen) und Deutungskonflikte. Wir interessieren uns demnach nicht nur für die
27Das heißt „die systematische Verknüpfung von gegenseitig ideologisch anschlussfähigen, aber bisher nicht verbundenen Deutungsrahmen, die Hervorhebung und Verstärkung ausgewählter Inhalte, die Ausdehnung eines Interpretationsrahmens und die Austilgung oder Umdeutung von widersprüchlichen Deutungsmustern“ (Kern 2008, S. 147). 28Gemeint sind hiermit Uneinigkeiten innerhalb einer Bewegung etwa hinsichtlich der Diagnosen und Prognosen, während sich Deutungskonflikte mit Gegenbewegungen als oppositionelles counterframing ausdrücken (Benford und Snow 2000, S. 626).
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Mobilisierung der personellen Basis und Anhänger/innenschaft der Bewegung im engeren Sinne, sondern auch für die im Feld aktive und für das Divestment wesentliche Zielgruppe der Finanzakteur/innen (vgl. Kreissl und Sack 1998, S. 50 f., die ebenfalls auf einen breiteren Adressat/innenkreis von Bewegungsframings verweisen, wie er in der Analyseperspektive angelegt ist). Das Fossil-Fuel-Divestment verstehen wir daher als Bewegung und „issue-based field“ (Hoffman 1999) zugleich: Um den Gegenstand (issue) ‚Divestment‘ formt sich ein multi-organisationales Feld aus heterogenen Akteur/innen und deren Beziehungen zueinander, indem dieser für die Ziele und Interessen dieses spezifischen Kollektivs an Organisationen relevant, von ihnen verhandelt und gestaltet wird. Demnach fassen wir die Bewegungsdynamik über den engeren aktivistischen Kern hinaus, mit den alliierten NGOs sowie Proponent/innen und aktivierten Adressat/innen unter den Investor/innen, insbesondere am nachhaltigen Finanzmarkt (siehe für die Feststellung eines ‚activist‘ und ‚financial arm‘ des F ossil-Fuel-Divestments auch Gunningham (2017, S. 374)). So konnten wir unter anderem feststellen, welche und wie übergreifende Deutungsrahmen geteilte Sichtweisen generieren und augenfällige Spannungen und Konflikte in diesem Feld zu bearbeiten suchen. Für den zweiten Teil der Untersuchung ist das Ziel, jene Frames von Divestment im Feld herauszuarbeiten, die Stabilitätsbezüge enthalten, explizit herstellen oder selbst Quellen für stabilisierende Elemente sind. Die Auswertung, das hinzugezogene Material sowie die Analyse wurden auf dieses Bezugsproblem der Auswirkungen von Divestment auf den Finanzmarkt und auf dessen Stabilität hin ausgerichtet (vgl. z. B. Meyer und Höllerer (2010, S. 1248) und ihre Anwendung für die Rekonstruktion der unterschiedlichen Framings von Shareholder Value in Österreich). Bei der Rekonstruktion ist aufgefallen, dass die Dimensionen Diagnose und Prognose die im Feld wirksamen Frames am deutlichsten unterscheidbar machen. Daher wurden separate Framings entsprechend der analytischen Trennung nach Snow und Benford dann identifiziert, wenn sich entweder die Identifikation von Problem und potenziellen Ursachen (Diagnose) oder der Entwurf von Konsequenzen und Lösungen (Prognose) unterschieden. Der Beitrag legt mit beiden Analysen – bezogen auf unseren gemeinsamen Forschungskontext in diesem Band – auch Logikenkonflikte der am Finanzmarkt angekommenen Nachhaltigkeitslogik frei, wie sie an dieser Bewegung klimabezogenen Deinvestierens sichtbar werden. Unsere Rekonstruktion der Rahmungsaktivität zeigt den Transfer neuer, alternativer Deutungsressourcen in die Finanzwelt, und wie involvierte Aktivist/innen, NGOs und Investor/innen auf konfligierende institutionelle Erwartungen (Logiken) stoßen, und dabei unterschiedliche (Koordinierungs-)Versuche anstellen, diese auszutarieren oder zu ‚lösen‘. Wo diese sichtbar werden und einen Erklärungsbeitrag leisten, beleuchten wir dies entsprechend. Deswegen gehen wir kurz auf das Verhältnis der Konzepte Frames und Logiken ein.
7.3 Frame-Analyse sozialer Bewegungen
291
7.3.2 Frames im Verhältnis zur Perspektive institutioneller Logiken Wie wir im Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band ausführlich dargelegt haben, sind die analytischen Konzepte der Frames und institutionellen Logiken voneinander abgrenzbar und können sich gegenseitig bereichern. Sie helfen uns die unterschiedlichen Vorgänge im Feld nachhaltigen Investierens zu erfassen und die soziale Bewegungsdynamik in ihrer Spezifik sowie in ihrer Wechselwirkung mit der (umkämpften) Institutionalisierung einer Nachhaltigkeitslogik am Finanzmarkt zu beleuchten. Hier erinnern wir an die wesentlichen Merkmale ihres Verhältnisses. Rahmen (Frames) existieren und wirken in der hier vorgestellten Perspektive unabhängig von ihrer Institutionalisierung beziehungsweise können einen unterschiedlich hohen Grad an solcher sozialer ‚Sedimentierung‘ (Berger und Luckmann 2012), Gültigkeit und Reichweite ausbilden. Beispielsweise unterscheidet Goffman die spielerische Aktivität als sinn- und gegenstandskonstituierenden Rahmen im Alltagshandeln vom organisierten Spiel oder Sport, wo selbiges auf institutionalisierte Weise, mit formalisierten Regeln, eben ‚organisiert‘, geschieht (Goffman 1993, S. 70). Hingegen haben institutionelle Logiken bereits eigene symbolische und materielle, organisationale Praktiken ausgebildet und (re-)produzieren diese als institutionalisierte soziale Ordnungen oder Regelsysteme (Thornton et al. 2012, S. 149). Sie wirken als verfestigte, von Individuen und kollektiven Akteur/innen (z. B. Organisationen, Bewegungen) nicht mehr reflexiv verfügbare, unhinterfragte Strukturen ihres Handelns, während Frames (sozialer Bewegungen) trotz ihres kollektivierten, sinn- und identitätskonstituierenden Status und ihrer Eigenlogik, noch diskursiv verfügbar, verhandelbar und daher strategisch beeinflussbar sind. Gerade das Framing einer Bewegungsdynamik kann als symbolische Ressource in institutionellen Dynamiken und Wandlungsprozessen mobilisieren. Es gilt daher auch als Bestandteil der Genese neuer institutioneller Logiken und von De-Institutionalisierung auf Feldebene (Thornton et al. 2012, S. 148–169), aber auch für deren Beständigkeit und institutionelle Reproduktion als wesentlich (Schneiberg und Lounsbury 2017, S. 284 f.). In einem heterogenen Feld mit offen zutage tretenden multiplen, konkurrierenden Logiken und unterschiedlichen Akteursgruppen wie dem nachhaltigen Finanzmarkt berücksichtigt die Analyse von Framing-Prozessen die Rolle von Agency und die Mobilisierung für und Auseinandersetzung um neue Deutungen und Praktiken (Lounsbury et al. 2003). Gegenüber der Trägheit institutioneller (Handlungs-)Logiken, liefert sie einen möglichen Ansatz, das Dilemma zu erklären, wie sich diese ‚hinter dem Rücken der Akteur/innen‘ wirkenden symbolisch-materiellen Strukturen überhaupt verändern (können). Kollektive Akteur/innen und Prozesse können etwa neue, alternative Deutungsrahmen und deren Legitimationskraft vorantreiben, bislang vorherrschende modifizieren oder transformieren und zur Übersetzung, Theoretisierung und Neukombination von Logiken beitragen. Zum Beispiel können Frames in dieser Perspektive eine institutionelle Praxis für ihre Übertragung in ein neues Feld übersetzen (für das
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Diversity-Management in Dänemark, Boxenbaum 2006).29 So lässt sich eine Adaption neuer Logiken oder Koexistenz und Widersprüche konkurrierender Logiken im Feld nachhaltigen Investierens auch daran beobachten, wie Frames diese reflektieren oder befördern.
7.4 Daten und Methoden Die empirische Untersuchung basiert auf 20 qualitativen Interviews à 60 bis 90 min, durchgeführt zwischen August und Dezember 2016 mit Nacherhebung im September 2017, und vier Fokusgruppen-Diskussionen, abgehalten im Mai 2016, mit zentralen beteiligten und betroffenen Akteur/innen beziehungsweise Organisationen der Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung in Deutschland. Zusätzlich konnten wir unsere Kenntnisse und empirischen Einsichten in das Forschungsfeld wesentlich durch den von uns organisierten Workshop mit Praktiker/innen zum Divestment vertiefen und im Laufe des Forschungsprozesses durch den Besuch einschlägiger Veranstaltungen im Praxisfeld sowie die fortlaufende Sichtung offizieller Dokumente, Webpages und Medienberichterstattung zur Bewegung anreichern.
7.4.1 Datenerhebung Am 19. und 20. Mai 2016 veranstalteten wir in Berlin den Workshop „Divestment – (Mit) Geld bewegen? Bestandsaufnahme einer sozialen Bewegung“ mit im deutschen Kontext präsenten Aktivist/innen, Praktiker/innen und Expert/innen klimabezogenen Deinvestierens und nachhaltigen (Re-)Investierens. Unter den Teilnehmenden waren
29Meyer
und Höllerer (2010) analysieren, wie verschiedene Frames, die jeweils mit unterschiedlichen und hybriden institutionelle Logiken assoziiert waren, um die Deutungshoheit über Shareholder Value bei seiner Übertragung nach Österreich wetteiferten. Frames und ihre Schlüsselbegriffe können verschiedene institutionelle Logiken überbrücken oder kombinieren (Jones und Livne-Tarandach 2008), was ihnen erlaubt, unterschiedliche Interessen und Gruppen anzuziehen und zu mobilisieren. Dies knüpft einerseits an die Idee der Frame-Alignment-Prozesse an, die auf Mechanismen der Kongruenz zwischen den Bewegungsframes mit jenen der adressierten Gruppen abzielt. Zugleich sensibilisiert das Konzept dementsprechend dafür, den Beitrag verschiedener konkurrierender Gruppen zur Legitimierung und Delegitimierung von institutionellem Wandel zu ergründen (Thornton et al. 2012, S. 155). Frames betonen dabei die sprachlich-rhetorische und politische Dimension innerhalb von Institutionen und artikulieren und explizieren institutionelle Logiken. Im Vergleich zu Theorien sind sie konkreter, aber fragmentarischer und weniger systematisch. Während Theorien die Kohärenz von Logiken erhöhen und deren Aufnahme in institutionelle Praktiken beschleunigen, begünstigen Frames die Identifikation und Mobilisierung der (heterogenen) Akteure (Thornton et al. 2012, S. 152 ff.). Siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band.
7.4 Daten und Methoden
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neben Aktivist/innen von Fossil Free Deutschland und Fossil Free Berlin, mit ihnen verbundene Initiativen sowie involvierte NGOs (z. B. urgewald e. V.) sowie Finanzakteur/ innen mit Divestment-Commitments oder Verbindungen zur Bewegung vertreten, sowohl aus der Nische spezialisierter Nachhaltigkeitsakteur/innen, als auch Nachhaltigkeitsprofessionelle konventioneller Finanzakteur/innen. Ziel der Veranstaltung war es, einen tiefgreifenden Einstieg, Überblick und ein Gespür für die heterogene Bewegung und relevante Akteur/innen in einem diversen Feld zu erlangen, sowie empirisches Material für unsere Analyse zu generieren. Der Workshop war eine wesentliche Grundlage für den Feldeinstieg und die Interviewphase. Zudem bot er eine gute Möglichkeit, die unterschiedlichen Akteursgruppen an einen Tisch zu bringen und Austausch und Diskussion über gemeinsame und unterschiedliche Perspektiven zu stimulieren. Inhaltlich standen an den zwei Tagen Erfahrungsberichte, Vortragsinputs und angeleitete und ‚natürliche‘ Diskussionen zur Verortung der Divestment-Bewegung und beteiligter und adressierter Akteur/innen insbesondere in Deutschland, ihre Problemdiagnose, Lösungsvorschläge und Motivation, sowie Auswirkungen auf den Finanzmarkt im Mittelpunkt. Wir konnten die Berliner Staatsekretärin für Finanzen für die Darlegung der Position der Stadt Berlin zur – mittlerweile umgesetzten – Divestment-Forderung gewinnen, die sich den Nachfragen und der Diskussion stellte, die sogar über die Veranstaltung hinaus (bis in die Bundesbank hinein, als Verwalterin des Berliner Pensionsfonds) weitergeführt wurde.30 Ein weiterer zentraler Bestandteil des Workshops war die Durchführung der Fokusgruppen-Diskussionen. Eine Fokusgruppe setzte sich jeweils aus fünf bis acht Teilnehmenden zusammen, die unterschiedliche Akteursgruppen des Divestments repräsentierten: Aktivist/ innen, N GO-Vertreter/innen und Finanz- beziehungsweise Investmentprofessionelle mit Nachhaltigkeitsbezug und Divestment-Erfahrung. Im Zentrum der Diskussion standen verschiedene Aspekte der Erfahrungen und Aktivitäten der Personen und ihrer Organisationen mit dem Fossil-Fuel-Divestment. Zwei thematische Fokusgruppen gaben Impulse zur Feldbeschreibung sowie zu Sichtweisen auf das adressierte Problem, Lösungsangebote und die Motivation im Zusammenhang mit Divestment. Die beiden anderen Gruppendiskussionen legten hingegen den Fokus auf die Bedeutung und Auswirkungen von Divestment für den Finanzmarkt und das Finanzmarktverhalten sowie dessen Krisenhaftigkeit beziehungsweise Stabilität. Der Diskussionsverlauf, die Beiträge
30Siehe den Verlauf der Kampagne (https://fossilfreeberlin.org/) und den Beschluss der Stadt Berlin zum Ausschluss von fossilen, nuklearen und Rüstungssektoren sowie zu verbindlichen Nachhaltigkeitskriterien für Geldanlagen aus der Versorgungsrücklage des Landes Berlin (vgl. https://www.parlament-berlin.de/ados/17/IIIPlen/vorgang/d17-3074.pdf). Erstellt werden die Nachhaltigkeitskriterien von der Nachhaltigkeits-Ratingagentur oekom research AG (seit März 2018 ISS oekom) und dem Indexanbieter Solactive AG. Verwaltet durch die Deutsche Bundesbank ging der entsprechende fossil-freie Aktienindex im April 2017 an den Start (vgl. https:// www.berlin.de/sen/finanzen/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.546128.php, alle zuletzt abgerufen: 03.09.2019).
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
und Bezüge zueinander bildeten die Teilnehmenden in Postern mit Index-Karten ab, die bei der Auswertung der Transkripte hinzugezogen wurden. Die Fokusgruppen ermöglichen wichtige Themen und Relevanzstrukturen der Akteur/innen im untersuchten Feld offenzulegen. Diese zeigen sich insbesondere in sogenannten Fokussierungspassagen oder „Fokussierungsmetaphern“ einer Gruppendiskussion (Bohnsack 2012, 2014, S. 125 f., 141), in denen die gegenseitige Bezugnahme der Beteiligten besonders dicht ausfällt („interaktive Dichte“) und der Grad der Detaillierung und Bildhaftigkeit der Darstellungen steigt („metaphorische Dichte“), was auf Zentren gemeinsamen Deutens und Erlebens verweist. Zugleich offenbaren sich vorhandene Differenzen und Spannungspunkte in einem heterogenen Feld beziehungsweise Bewegungskontext leichter in der Gruppendiskussion. Schließlich verschafften uns die Fokusgruppen (sowie der Praktiker/innen-Workshop insgesamt) jenen Einstieg und Einblick in das Feld, den wir anschließend für die vertiefende Interviewphase, Gestaltung der Interviewleitfäden und Auswahl der Interviewpartner/innen brauchten. Wir führten diskursive, problemzentrierte Interviews mit Repräsentant/innen der relevanten Akteursgruppen für die Divestment-Bewegung in Deutschland. Die Methode des diskursiven Interviews (Ullrich 1999b) zielt darauf ab, bei den Interviewten die individuellen Auslegungen von Ideen als Derivationen sozial verfügbaren Wissens im Gespräch hervorzubringen. Es zeichnet sich durch den diskursiven Charakter der Interviewtechnik aus, die dieses Anliegen unter anderem durch die explizite Einforderung von Erklärungen, Begründungen und Rechtfertigungen, durch Konfrontationen und Polarisierungen im Gespräch befördern soll (Ullrich 1999b, S. 12, 18 f.). Die Interviewmethode verhilft dazu, Erzähltexte zu produzieren, die für die Analyse sozialer Deutungsmuster oder Frames besonders wertvoll sind, weil sie durch ihre Spontanität und Reaktivität persönliche Stellungnahmen und Brüche in der Argumentation einschließen.31 Das Sample umfasst Akteur/innen und Organisationen, die Teil des multiorganisationalen „issue-based field“ (Hoffman 1999, S. 352) von Divestment in Deutschland und demnach in zentraler Weise an dessen Ausgestaltung und Deutung beteiligt sind: Es beinhaltet jene, die aktiv engagiert sind, solche die divestieren, und diejenigen, die sich aktiv damit auseinandersetzen (müssen). Beim Fossil-Fuel-Divestment sind dies nicht nur Aktivist/innen und NGOs, sondern auch Finanzakteur/innen (nachhaltigen Investierens), die Adressat/innen aber auch Proponent/innen und Beteiligte
31Diese Form des Leitfadeninterviews soll die Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster durch die Herausarbeitung von typischen Deutungs- und Handlungsregeln ermöglichen (Ullrich 1999a, S. 429). Sie eignet sich daher auch für die F rame-Analyse, da Frames wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem im deutschsprachigen Raum angesiedelten Deutungsmuster-Konzept – wie es von Ullrich verwendet wird – aufweisen (siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Vgl. dazu auch Schiller-Merkens (2013).
7.4 Daten und Methoden
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der Bewegungsdynamik sind. Wir wählten Akteur/innen und Repräsentant/innen von Organisationen, die besonders prägend und typisch für die Bewegung in Deutschland waren oder sind und zugleich dessen Spektrum widerspiegeln. Entsprechend der Idee des theoretischen Samplings führten wir die Auswahl relevanter und kontrastiver Fälle im Verlauf der Interviewphase fort, um das Sample angepasst an die Forschungsfrage zu sättigen (Glaser und Strauss 1998, S. 51 ff.). Dabei bezogen wir mittels Schneeball-Prinzip Personen ein, die uns von bereits Interviewten nahegelegt wurden. Im Sample enthalten sind Aktivist/innen und NGO-Vertreter/innen sowie (De-)Investor/ innen beziehungsweise deren Finanz- und Investmentprofessionelle mit Nachhaltigkeitsbezug, darunter spezialisierte und konventionelle Organisationen. Die ins Sample inkludierten Finanzakteur/innen bilden die Heterogenität von am Divestment beteiligten Organisationen ab, sie stammen von Versicherungsunternehmen, Kirchen, Stiftungen, Banken, Asset-Management-Firmen und Städten mit Pensionsanlagen. Ergänzend und kontrastierend berücksichtigt wurden die Perspektiven jeweils eines politischen und gewerkschaftlichen Akteurs aus dem Bereich Klima- und Energiepolitik.
7.4.2 Datenauswertung Für die Auswertung des Materials führten wir in einem ersten Schritt eine MaxQDA-gestützte thematische Codierung (Grobcodierung) durch (Kuckartz 2016, S. 61), um einen Überblick über die Hauptthemen zu erlangen, welche in den Fokusgruppen diskutiert und in den Interviews angesprochen wurden. Für die daran anschließende Feincodierung des Materials (Schritt 2) wurden jene Codes herangezogen, die Aussagen zum jeweiligen Bezugsproblem unserer Fragestellung enthalten (Analyse 1: Problemdiagnosen, Lösungsangebote und Motivationen; Analyse 2: Auswirkungen auf den Finanzmarkt und auf seine Stabilität/Krisenhaftigkeit). Die Feincodierung untergliedert die ausgewählten Hauptthemen und -kategorien in Unterthemen und Argumente und differenziert und verfeinert das Kategoriensystem, „indem thematische Aspekte, Meinungen oder Bewertungen, die der Hauptkategorie zugeordnet werden, als Unterkategorien oder Subcodes kenntlich gemacht werden“ (Markova 2013, S. 123). Stark wiederkehrende und durch die Qualität ihrer Codings oder ihr quantitatives Vorkommen auffällige Subcodes können Indizien für dominante Begründungen beziehungsweise Argumente sein, die über verschiedene Fälle hinweg identifiziert werden können und Gültigkeit haben. Somit enthält bereits diese Auswertungsphase interpretative Elemente und ist als Teil der (Frame-)Analyse zu verstehen: So ist davon auszugehen, dass die Aussagen, die am häufigsten durch den synoptischen Vergleich aller Interviewtranskripte hinsichtlich eines bestimmten Bezugsproblems vorkommen, den Charakter einer im spezifischen Feld für legitim gehaltenen Argumentation haben. (Markova 2013, S. 124)
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
In einem dritten Schritt wurden solche Subcodes beziehungsweise Argumente der für die Fragestellung relevanten (Haupt-)Kategorien für die weitere Analyse gesondert betrachtet, die am stärksten im Datenmaterial auftauchten beziehungsweise viele und besonders aussagekräftige zugeordnete Textfragmente aufwiesen (Markova 2013, S. 124 ff.). Die Textpassagen, zugeordnet zu den einzelnen dieser Hauptargumente (wie z. B. zu „Reduzierung klimabezogener finanzieller Risiken“) wurden … […] im synoptischen Vergleich noch einmal gesichtet und häufig verwendete Begründungsmuster durch Zusammenfassung der Aussagen und Abstraktion der darin enthaltenen [legitimen] Argumentationen [im Feld] herausgearbeitet. Die Generalisierung von Begründungen beinhaltet stark ausgeprägte interpretative Elemente, da die Begründungsmuster nicht direkt aus den Textpassagen hervorgehen, sondern ein Ergebnis der Interpretation des Forschers darstellen. (Markova 2013, S. 125)
Schlüsselpassagen, die diesen den Hauptargumenten unterliegenden Begründungsmustern zugeteilt wurden, analysierten wir zusätzlich einzeln und vertiefend. Die entsprechenden thematischen Fokusgruppen wurden für die jeweilige Frage und ihr Bezugsproblem nach demselben Vorgehen ausgewertet. Die besondere Qualität dieser Daten und die eigene methodische Wertigkeit der Gruppendiskussion bereicherte jeweils die Auswertung und Analyse mit ihren dynamischen Passagen des Engagements (Bohnsack 2014, S. 137) sowie der Ausverhandlung, der Einigkeit, des Dissenses, und des Enthusiasmus der Gruppe. Ziel war es letztlich, jeweils kollektive Deutungs- und Handlungsregeln (am konkreten Fall) sichtbar zu machen und wenn notwendig zu explizieren, die in den individuellen Äußerungen der Befragten teilweise implizit mitgetragen werden und nicht direkt zugänglich sind (Markova 2013, S. 125 f.; Sachweh 2010). Auf Grundlage der Interpretation der selektierten Aussagen und Schlüsselpassagen zu einem Bezugsproblem konnten Deutungshypothesen formuliert und Deutungsrahmen herausgearbeitet werden. Dabei berücksichtigten wir, inwiefern Deutungsregeln in welchen Kontexten, Interviews oder Akteursgruppen jeweils stärker oder schwächer auftraten.
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung Wie in der Einleitung dargelegt, verfolgen wir eine zweiteilige Fragestellung, die in einem ersten Schritt nach den beim Fossil-Fuel-Divestment wirksamen kollektiven Deutungsrahmen fragt, die involvierte Akteur/innen mobilisieren und kollektives Handeln in diesem Feld nachhaltigen Investierens konstituieren. Wir zeigen mittels der Heuristik von Benford und Snow (2000), welche diagnostischen, prognostischen und motivationalen Rahmungen dort entwickelt werden (siehe dazu auch die Übersicht in Tab. 7.1), wie sie die Praktiken der heterogenen Akteursgruppen aktivieren und dabei legitimitäts- und identitätsstiftend wirken. Wir arbeiten zum einen die
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung Tab. 7.1 Diagnostische, Divestment-Bewegung
prognostische
Frame-Elemente (idealtypisch) Diagnostische Rahmung
Prognostische Rahmung
und
motivationale
Rahmungen
der
297 Fossil-Fuel-
Beschreibung
Profitieren vom ‚Falschen‘
Problem: Fossile Geschäftsmodelle und Investitionen bedrohen öko-soziale und planetare (Klima-)Grenzen (fossiler Profit) Ursache und Verantwortliche: business as usual der Unternehmen (Profit vor Klima und Mensch) als Haupttreiber; fossiles Kapital als Triebfeder der Klimakrise. Macht und Innovationsunfähigkeit fossiler Unternehmen. Die fossile Industrie und ihre öffentlichen und privaten Investor/innen als Profiteure des Status quo
Klimarisiken als finanzielles Problem
Problem: Klimabezogene Risiken von Investitionen (Werteinbrüche, ‚stranded assets‘); finanzielle Kosten physischer und klimapolitischer Grenzen des fossilen Profits für Investor/innen; systemische Risiken für Finanzstabilität durch plötzliche Verluste (Carbon Bubble) Ursache und Verantwortliche: Transformations-, Regulierungs- und physische Risiken durch Klimawandel und Dekarbonisierung der Wirtschaft. Neben Unternehmen (fehlende Transparenz, Innovation) und kurzfristigen Investor/innen wird dafür die Unsicherheit über politische Rahmenbedingungen der Umsetzung der Klimaziele (Paris Agreement) verantwortlich gemacht
Sich die Macht des Lösung: Dem fossilen (Geschäfts-)Modell die finanzielle Geldes zu Nutze und symbolische Unterstützung entziehen, Umschichtung machen der Finanzflüsse zur Dekarbonisierung der Wirtschaft Legitime Mittel und Handlungsträger: Finanzhebel von Investor/innen und globalen Finanzmärkten mit Einfluss auf klimaschädlichste Unternehmen und deren Delegitimierung Durch öffentlichen Druck politische Regulierung vorantreiben
Lösung: Gesellschaftlich-öffentlicher Druck auf Veränderung hin zu fossil-freiem, nachhaltigerem Investieren durch politische Debatte & Regulierung/ Richtlinien/Regeln der Finanzierung fossiler Wirtschaft, Transformation zum dekarbonisierten, nachhaltigen Wirtschafts- und Finanzsystem Handlungsträger: Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit und De-Investor/innen erhöhen Druck auf Handeln der Politik (Fortsetzung)
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Tab. 1 (Fortsetzung) Frame-Elemente (idealtypisch) Im Klimawandel die materiellen Risiken und Opportunitäten sehen
Motivationale Rahmung
Beschreibung Lösung: Zusammentreffen (Win-win-Situation) von Klimaschutz und Finanzmarkt mit Fossil-FuelDivestment als Risikostrategie für Investor/innen und durch alternative Investitionsmöglichkeiten einer ‚low carbon economy‘; Innovation und Optimierung der Finanzinstrumente und Kennzahlen Legitime Mittel und Handlungsträger: Finanzmärkte und ihre Instrumente tragen zum Klimaschutz bei, indem dieser einkalkuliert und rentabel wird. Investor/innen mit alternativen gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten überzeugen
Verantwortung für Gesamtheitliche und langfristige Konsequenzen des das große Ganze eigenen Handelns; Konsistenz des Finanzhandelns mit übernehmen Klimazielen; treuhänderische Verantwortung umfassend denken (inklusive Klimarisiken) Öko-sozialer und Win-win-Situation für Investor/innen und Klimaschutz; es finanzieller Mehr- gibt nur ‚Gewinner/innen‘, keiner muss verlieren wert
Quelle: Eigene Darstellung
rame-Alignment-Prozesse heraus, die den Anschluss der verschiedenen Akteur/innen F begünstigen. Es zeigen sich aber auch divergierende Akzentsetzungen und Sichtweisen, bis hin zu Deutungskonflikten, innerhalb des Deutungsrahmens des Divestments, die die Resonanz unterschiedlicher Gruppen kennzeichnen, aber auch auf symbolische Auseinandersetzungen und Deutungskämpfe im Feld verweisen. Anhand der empirisch ermittelten ideologischen Rahmungen (Framings) von (nachhaltigem) Divestment und damit einhergehenden unterschiedlichen Vorstellungen und Handlungsorientierungen, zeigen sich Konflikte und Koordinierungsprozesse dieser Bewegung. Insgesamt zeigen wir hier, wie eine soziale Bewegung als Konstrukteurin sozialer Wirklichkeit fungiert und zunächst eine übergeordnete, gemeinsame Problemsicht auf die Beziehung zwischen Klimawandel und Finanzinvestitionen hervorbringt. Die Analyse trägt auch zum Verständnis und zur Erklärung der Dynamik im Sinne wachsender Partizipation und Mobilisierung von Divestment in Deutschland bei. Sie bietet überdies einen Erklärungsansatz dafür, wie die Bewegung konkurrierende ökologische und ökonomische Ziele und Interessen im Feld verarbeitet und Deutungen generiert, die diese Spannungen augenscheinlich machen oder auszubalancieren suchen. Abschließend fassen wir die Ergebnisse dieses ersten Schritts der Analyse zusammen und diskutieren die wichtigsten Erkenntnisse.
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung
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7.5.1 Diagnostische Rahmung Das diagnostic framing bezieht sich auf die Identifikation von Problemen und ihren Ursachen. Häufig enthält dies die Zuschreibung von Verantwortung oder sogar die Suche nach einem möglichen ‚Schuldigen‘. Bei den untersuchten Fossil-Fuel-DivestmentAkteur/innen in Deutschland zeigen sich zwei dominante Rahmungen mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Die erste (A) thematisiert die Klimakrise und ihre sozial-ökologischen Folgen als drängendes Problem und identifiziert die anhaltende Dominanz der fossilen Industrie beziehungsweise des fossilen Geschäfts (business as usual) als zentrale Gefahr und Hauptursache dieser Krise (A1), die durch die Finanzierung und Förderung dieser Industrie durch öffentliche und private Investor/ innen befeuert wird (A2). Das Profitieren vom ‚Falschen‘, dem auf fossilen Energien basierenden Wirtschafts- und Geschäftsmodel, rückt in den Fokus der diagnostischen Rahmung. Die zweite diagnostische Rahmung hingegen kehrt die Problemwahrnehmung um und (B) identifiziert die Gefahr finanzieller Risiken durch den Klimawandel (Klimarisiken), die damit aktiv zum finanzmarktrelevanten Problem für Investor/innen (bis hin zur Bedrohung der Finanzstabilität) gerahmt und in direkte Verbindung zu marktrationalen Entscheidungskalkülen (Risiko, Performance) gebracht werden. A. Profitieren vom ‚Falschen‘ A1) Das fossile Geschäftsmodell als Hauptursache der Klimakrise. Im untersuchten Feld liegt eine – zumindest in ihrer Allgemeinheit – weithin geteilte Problemdiagnose vor: Die anhaltenden auf fossilen Energien basierenden Geschäftsmodelle der Unternehmen sowie die dorthin fließenden Finanzströme bedrohen die ökologischen Grenzen, wie die Eindämmung der Erderwärmung auf ein tragbares Niveau. Interviewte verknüpfen hier die fossilen Geschäfte und ihre Finanzierung mit der Verursachung vielfältiger öko-sozialer (Folge-)Schäden des Klimawandels und der Gefährdung der politischen Klimaziele. Die Deutung funktioniert dabei nicht nur moralisch („keine Geschäfte mit der Klimazerstörung“), sondern auch über eine Art ökologische Sachlichkeit oder Vernunft, die sich klimawissenschaftlicher Erkenntnisse und Berechnungen bedient, wie beispielsweise dem Bezug auf ein Kohlenstoffbudget (carbon budget): Divestment identifiziert als Problem letzten Endes die Endlichkeit planetarer Grenzen, insofern als dass wir aus der Klimawissenschaft wissen, wir haben nur ein gewisses Budget, was an fossilen Energiereserven verbrannt werden darf, damit wir noch in einem einigermaßen sicher geltenden Temperaturschwankungskorridor sozusagen uns bewegen. Und wenn es nicht passiert, haben wir viele … wir haben wirtschaftliche Risiken, und wir haben eigentlich eine andere Welt, als wir sie heute haben. (Asset Management, P35)
300
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[…] wir dürfen keine neuen Kohle-, Öl- und Gasprojekte mehr erschließen und es muss der überwiegende Teil der Kohle-, Öl- und Gasreserven im Boden bleiben, um auch unter dieser Marke zu bleiben 1,5 bis zwei Grad. Und das ist das Problem. Das ist das, was wir mit allen unseren Kampagnen erreichen wollen. (NGO, D36)32
So rücken zunächst die großen börsennotierten fossilen Unternehmen als Hauptverursacher anthropogener Treibhausgase ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Argumentation der Aktivist/innen und Finanzprofessionellen trifft sich hier in der Fokussierung auf Unternehmen, die notwendige Veränderungen nicht einleiten. Insbesondere Aktivist/innen machen auf diese Weise die wesentlichen „Gegner“ im Kampf gegen den Klimawandel fassbar (NGO, D11) und beschreiben die Hinwendung zu den Profiteuren des Status quo klimaschädlichen Wirtschaftens als wichtigen Wendepunkt in der Klimabewegung. Während man sich die letzten Jahrzehnte in Deutschland (zu sehr) auf internationale Klimaverhandlungen und individuelle Konsumentscheidungen konzentriert habe (u. a. NGO, D11), kommen damit Fragen finanzieller Interessen und ökonomisch-politischer Macht beim Erhalt des fossilen Modells auf.33 Die Mitarbeiterin einer von Beginn an die Kampagne aktiv antreibenden NGO formuliert diese Neufokussierung so: […] Klimaverhandlungen sind wichtig, aber wie viel kommt tatsächlich raus, und wie stark bleibt man nicht doch bei irgendwie einem total fossilen Modell. […] wir haben ganz gute Beschlüsse in Paris, aber die Umsetzung ist natürlich sehr viel schwieriger. […] Und da, glaube ich, dass es sehr lange so eine Diskussion gegeben hat in Deutschland, dass Umweltorganisationen sehr stark auf die Klimaverhandlungen gesetzt haben und da sehr viel Energie reingesteckt haben. Und eben weniger dieses … also, viel weniger Machtfragen gestellt worden sind im Sinne von „Wer hat eigentlich Interesse, dass da nichts passiert, und warum?“ Und das ist halt so etwas, wo ein Divestment noch mal anders ansetzt oder eben auch so dieser McKibben-Artikel sehr stark ansetzt und sagt: „Hey, das ist doch kein Wunder, dass da irgendwie nichts passiert, weil es einfach so viele Unternehmen gibt, deren gesamter Wert im Prinzip davon abhängt, dass sich an dem System nichts ändert.“ Und dass das einfach auch eine Entwicklung und eine Wahrnehmung ist, die einfach jetzt viel stärker sich durchsetzt. (NGO, H89)
Bei den Finanzprofessionellen mit Nachhaltigkeitsbezug liegt die Akzentuierung der Diagnose insbesondere auf ‚falschen‘ Geschäftsmodellen der Unternehmen („fossile Dinosaurier“), die sich nicht an die neuen Herausforderungen anpassen und es versäumen, sich ‚für die Zukunft fit zu machen‘. Ein für Klimarating zuständiger Mitarbeiter einer investororientierten NGO – früher selbst am Finanzmarkt tätig –
32Die
Interviewpartnerin D hat eine Doppelrolle als NGO-Vertreterin und Aktivistin inne. Die beiden Kategorien lassen sich auch bei anderen Interviewpartner/innen nicht immer eindeutig trennen. 33Interviewte verweisen vor diesem Hintergrund auf ihre Frustration gegenüber direktem Einfluss auf das politische Handeln der bisherigen Klimabewegung (Politik, S26; Kirchenbank, A131, A82; Versorgungswerk, J37).
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung
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verweist auf reale Grenzen des fossilen Geschäftsmodells durch die vereinbarten Klimaziele: […] und bei diesen Ölkonzernen ist das Problem ja, dass sie nicht verstehen, dass ihr Geschäftsmodell in einer Zwei-Grad-kompatiblen Welt nicht mehr existieren sollte. Also entweder entscheiden sie sich, ihr Geschäftsmodell radikal umzubauen und etwas komplett anderes zu machen, oder sie hören halt auf zu existieren. Das ist halt eine Realität. Fossile Brennstoffe sind nun mal der Haupttreiber des Klimawandels. Ich sehe das Problem auch, dass eine Einflussnahme auf diese Unternehmen in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten eigentlich nicht funktioniert hat. Also, der Finanzmarkt schafft es eigentlich nicht, durch Unternehmensdialog und aktive Einflussnahme, diese Unternehmen zum Umdenken zu bewegen und tatsächlich eine Geschäftsmodellveränderung herbeizuführen. Und deswegen ist hier sozusagen das Divestment auch dann ein logischer nächster Schritt für einen Investor zu sagen: „Okay, ich möchte mich an diesem Unternehmen nicht mehr beteiligen. (NGO, C29)
An die Fokussierung des Fossil-Fuel-Divestment auf die klimaschädlichsten Unternehmen schließt einmal Kritik an deren finanzieller-politischer Macht an, aber ebenso an fehlender Innovationsfähigkeit. Die Problemsicht auf das Fehlverhalten unverantwortlicher Akteur/innen zu zentrieren, und weniger auf zugrundeliegende oder systemische Ursachen zu blicken, mag den Investor/innen den Anschluss an die Argumentation zusätzlich erleichtern. A2) Finanzinvestitionen unterstützen die ‚fossile Sackgasse‘ Die Problemdiagnose geht hier einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie auf die finanziellen Grundlagen der schädlichen Unternehmensaktivität sowie auf die von ihr profitierenden Investitionen und Investor/innen ausgeweitet wird. Der Diagnoserahmen stellt das Problem anhaltender Klimazerstörung in den Zusammenhang mit den Investitionspraktiken öffentlicher und privater Geldgeber und ihren finanziellen Interessen und Abhängigkeiten in die klimaschädlichsten Bereiche der fossilen Ökonomie. In den Aussagen zeigt sich, wie gerade institutionelle Investoren mit ihrem zunehmenden Einfluss „Teil des Problems“ werden (vgl. NGO, Nachhaltigkeitsratingagentur und Asset Management FG1A, 38, 105, 109). Bemängelt wird etwa, wie weiterhin enorme Geldsummen in die Kohlewirtschaft fließen, trotz jahrzehntelanger politischer Klimaverhandlungen und Zielsetzungen (NGO, H35). Vorherrschendes Investitionsverhalten öffentlicher und privater Institutionen profitiert vom ‚Falschen‘, indem es die ‚fossile Sackgasse‘ auf Kosten von langfristigen Schäden für Klima und Gesellschaft unterstützt. Insbesondere öffentliche Anleger/innen wie Städte, Länder und ihre Pensionsfonds oder Förderbanken geraten ins Visier, indem sie den Widerspruch zwischen hochgehaltenen klimapolitischen Zielen und Finanzverhalten spiegeln. In folgendem Zitat einer Aktivistin wird die normative Dimension der Kritik an der Ausblendung der extra-finanziellen Auswirkungen von Geld deutlich – sie insistiert: „Geld ist nicht neutral“:
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[…] es [geht] wirklich darum, sich bewusst zu werden darüber, wie gestaltet dieses Geld die Welt. Und das gestaltet die Welt immer, egal wo ich es reinstecke, es nimmt Einfluss darauf, wie sich die Welt entwickelt. Und ich glaube, dass den allermeisten Menschen das nicht bewusst ist … auch Leute, die in der Finanzbranche arbeiten, denken da oft nicht viel drüber nach. […] das Divestment ist die logische Konsequenz aus dieser Bewusstwerdung. Weil, das ist dann klar, also, bestimmte Bereiche … und es kann ja alles Mögliche sein, es kann ja auch Tabak sein oder, was weiß ich, Kriegswaffen oder Glücksspiel, da kann ich nicht mehr rein investieren, weil das ein Teil der Welt ist, der nicht profitieren soll von meinem Geld. Und, ja, jede Investition bedeutet Unterstützung. (Aktivistin, M23)
Dort, wo diese Diagnose präsent wird, geht sie einher mit einer Problemsicht auf das Investieren und dessen Funktion, die dessen externe sozial-ökologische Wirkungen und potenzielle Schäden beleuchtet. Akteur/innen sprechen etwa von Finanzströmen, die in die ‚falsche Richtung‘ fließen (Versorgungswerk34, J105, 147), stellen die Frage, wie eigentlich „Kapital allokiert werden [muss]“ (Asset Management, P35) oder was ‚effizient und richtig‘ bei der Kapitalallokation tatsächlich heißt (NGO, I78). Divestment illustriert gewissermaßen die Verschränkung der globalen Klimakrise mit der globalen Finanzwirtschaft in einer Weise, die Kapital als eine fundamentale Triebfeder für den Klimawandel herausstellt. Kapital ist in dieser Rahmung nicht neutral oder eine reine ökonomische Funktion. Ähnlich zur Aktivistin problematisiert der Mitarbeiter einer Nachhaltigkeitsbank die Ausklammerung der gesamtgesellschaftlichen Implikationen von Investition und Rendite: […] es ist leider so, dass in der Öffentlichkeit und auch in den Kommunen und in der Politik und aber auch privat eigentlich fast alle Menschen den Eindruck oder die Vorstellung haben, bei Geld kommt es darauf an, a) dass man den Wert, also, dass man das erhält, und nach Möglichkeit daraus immer eine Rendite generiert, weil dazu ist es ja schließlich da. So. Und dass Rendite aus Geldvermögen eigentlich immer bedeutet, dass irgendjemand anders mehr arbeiten muss, blendet man dabei aus. Ist eigentlich so ein Bewusstseinsphänomen, dass man eigentlich die Frage, wo kommt denn diese Rendite eigentlich her, dass man sich damit nicht so gerne beschäftigt und sagt, damit muss ich mich auch nicht beschäftigen, Geld ist irgendwie eine neutrale Geschichte und dazu führt das eben. Und all diese Dinge führen dazu, dass man sagt, ja, wenn ich da als Kämmerer tätig bin, dann tue ich auch meinen Job nicht gut, wenn ich nicht dafür sorge, dass da eine gescheite Rendite auch rüberkommt. Das bin ich meiner Stadt, und ich meine, als Stadt sorgen wir ja für die Öffentlichkeit. Und wenn wir eine gute Rendite für die Öffentlichkeit erzielen, dann ist es doch gut. (Nachhaltigkeitsbank, O49)
Der Diagnoserahmen wirft Fragen zu Funktionsweisen und Mechanismen des Investierens und der Finanzmärkte auf, lenkt diese aber in die Bahnen eines Verhaltensproblems, unzureichender Verantwortungsübernahme und mangelnden ethischen oder
34Zur
besseren Lesbarkeit bezeichnen wir die Interviewpartner/innen bzw. Diskutant/innen aus der Initiative für das Fossil-Fuel-Divestment eines Versorgungswerks mit „Versorgungswerk“. Damit sind keine Repräsentant/innen des Versorgungswerks selbst gemeint.
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung
303
öko-sozialen Bewusstseins; wohingegen finanzmarktkritische Argumente struktureller Art (z. B. falsche strukturelle Anreize) zwar aufkommen, aber nicht den Diskurs dominieren. Diese Kritikform erzeugt Resonanz am Finanzmarkt, insbesondere im nachhaltigen Marktsegment. Insgesamt stellt das diagnostic framing über die gemeinsame Problemsicht auf fossile Unternehmen (zumindest oberflächlich) eine Verbindung zwischen den Aktivist/innen und Finanzprofessionellen her. Am leichtesten schließen Akteur/innen aus dem NGO-, Klimaaktivist/innen- und politischen Bereich an dieses Framing an, die öko-sozialen Anliegen verschrieben sind oder aus einem solchen heraus als Finanzorganisation erwachsen sind. Für sie ist die unterschlagene Wirkungsdimension einer Investition elementarer Teil der Problemperspektive. Das diagnostische Framing erzeugt (fragmentarisch) auch Resonanz bei finanzmarkt-, kapitalismus- und globalisierungskritischen Bewegungen, da sie den Blick auf Eigner/innen der Geschäfte mit den fossilen Energien richtet (vgl. Klimagerechtigkeitsbewegungen und z. B. das Manifest von Naomi Klein (Klein 2015). B. Klimarisiken als finanzielles Problem Während Fossil-Fuel-Divestment zunächst wie ein Obsiegen ökologischer Werte oder ökologischer Vernunft über reine Marktwerte erscheint (divestieren von einem profitablen Sektor), aktivieren im zweiten koexistierenden diagnostischen Framing die Interviewten gerade Marktlogiken zur Problemidentifikation. Der Klimawandel und Klimaeffekte werden dabei als finanzielle Risiken und Chancen für Investor/ innen identifiziert – Klimarisiken werden zum finanzmarktrelevanten Problem und Investitionen in die emissionsintensivsten Unternehmen daher als riskant gerahmt. In den Aussagen zeigt sich in der Folge, wie Divestment aktiv mit ökonomischem Sinn versehen wird. Wir sehen ein Framing der Verbindung und Kompatibilität von Divestment und Marktrationalität (finanzielle Performance-Steigerung und Risikomanagement des Portfolios). In folgendem Zitat zeigt sich diese Verknüpfung einer klimabezogenen De-Investitionsentscheidung mit dem finanzmarktrationalen Abwägen zukünftiger Risiken: […] wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, dann müssen eigentlich die Kohle- und Erdgas- und Erdölvorräte in der Erde bleiben, sonst schaffen wir das Zwei-Grad-Ziel nicht. Und wenn das klar ist, dass das in den nächsten Jahren massiv runtergefahren wird, auch von der Politik, können wir nicht jetzt noch in diese Unternehmen investieren, weil, die werden in den nächsten Jahren finanziell runtergehen. Das heißt, wir haben als Investor, langfristiger Investor damit ein finanzielles Problem. Also ist es klug, jetzt schon da rauszugehen, weil das in den nächsten Jahren runtergehen wird. (Kirchenbank, A29)
Die Formulierung „in den nächsten Jahren“ zeigt zwar die Unsicherheit über den Zeitraum der Realisierung von Risiken an, angesichts der erwarteten politischen Maßnahmen wird es jedoch langfristig als (Finanz-)Marktproblem gedeutet. Interviewte greifen dabei häufig auf die Expert/innen-Debatte um „stranded assets“ seit der Carney Speech 2015 zurück, in die klimawissenschaftliche und finanzmarktliche Argumente
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einfließen: Eine konsequente Umsetzung der Klimaziele durch politische Regulierung des CO2-Ausstoßes und der fossilen Reserven birgt enorme Transformationsrisiken und potenzielle Vermögensschäden für die fossile Industrie und deren Investor/innen. Überdies ziehe der Klimawandel auf längere Sicht beträchtliche ökonomische Veränderungen nach sich, die mit der kurzfristigen Natur der Finanzmärkte in Konflikt geraten, weshalb Investor/innen nach Carney schon jetzt vorausschauend handeln müssten (Carney 2015). Der Zusammenhang zwischen Finanzinvestitionen und Klimawandel ist auch hier ein problematischer, die Richtung kehrt sich aber um: Anstatt auf den öko-sozialen Schaden durch das kritisierte Investitionsverhalten, wird hier der Blick auf das Risiko finanzieller Schäden für die Investitionen gelenkt. Interviewte (besonders des Finanzmarkt-Zweigs der Bewegung) betrachten hier das Klimathema durch diese Linse seiner Performance-Auswirkungen auf Unternehmen und Profitchancen, finanzielles Risikomanagement und neuer rentabler Investitionsmöglichkeiten – das Framing stellt damit den Anschluss an ganz konventionelle finanzmarktrationale Deutungs- und Handlungsregeln her. Der Klimawandel als Nachhaltigkeitsthema wird zum handlungsrelevanten Problem, weil und wenn es risiko- oder performancerelevant wird. Divestment wird hier insoweit r e-framed, dass es als marktlogische Nachhaltigkeits- und Klimastrategie erscheint, durch die die Performance sogar besser ausfallen kann. Das aktuelle Divestment (insb. mit Fokus auf Kohleenergie) gilt dann etwa in dieser Aussage eines ESG(Environmental, Social, Governance)-Analysten einer Fondsgesellschaft als günstiger Fall der Überschneidung von Nachhaltigkeit und Materialität, da sich Investitionen in Kohleunternehmen immer weniger lohnen: Natürlich kann man jetzt auf der einen Seite sagen, wir wünschen uns eine schöne, saubere Welt; das wird nur ein Teil des Problems sein. Nachdem wir im Finanzbereich tätig sind, wird das eher die Performance oder die Risikosichtweise sein. Das muss man ganz klar sehen. Wenn das eine das andere unterstützt, umso besser. Das geht dann eben wieder auf diesen Punkt, so wie ich es vorher gesagt habe, das erste Mal, dass es ein bisschen Hand in Hand läuft. (Asset Management, B17) Man sieht halt zum Beispiel, dass man, wenn man sich den Zeitraum der letzten anderthalb, zwei Jahre lang ansieht, dann ist rein aus Performancegründen sieht man, dass ein Investment in Kohleunternehmen kaum Ertrag gebracht hat, beziehungsweise Vermögen oder Kapital vernichtet hat. Rein daraus ist eigentlich auch wirtschaftlich da ein Sinn dahinter, und das ist eben eines der ersten Male, wo man dann auch wirklich sieht, dass ein nachhaltiger Aspekt zusammen mit einer Performance-Auswirkung wirklich zusammenläuft, und dass das möglicherweise eben in Zukunft dazu führen kann, dass man eben durchaus sieht, dass nachhaltige Themen unmittelbar eine Verbindung zu performancerelevanten Ausprägungen haben. (Asset Management, B7) Wir haben das Thema jetzt sozusagen dieses Jahr relativ prominent besetzt, also das Thema Klimawandel ganz allgemein. Und in der nächsten Zeit wird es eben darum gehen, sozusagen weiter an dem Thema dran zu bleiben, weil das ja jetzt auf jeden Fall, wenn das umgesetzt wird, was geplant wird, sozusagen immer relevanter und wichtiger wird, ja, aus Performance-Gesichtspunkten, aus Risikomanagement-Gesichtspunkten. (Nachhaltigkeits-Verband, F41)
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung
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Auch Aktivist/innen reproduzieren das Klimarisiken-Framing und die Verbindung zur Marktlogik (Gefährdung der Rentabilität). Wenngleich sich Interviewte von einer Vereinnahmung durch diese Problemperspektive abgrenzen, nutzen sie sie mitunter strategisch. Die Carbon Tracker Initiative, die als erstes mit dem Konzept Carbon Bubble gekommen sind, die haben ganz viel in ihrer Begründung auch für ihr Engagement, dass sie das Geld der Investoren schützen will und sie warnen will vor diesem Risiko. So. Und das ist nicht, was ein Auftrag von uns ist. Ne? Also, unser Auftrag ist, den Klimawandel aufzuhalten, und nicht das Geld von Investoren zu schützen. Das ist so ein Kontrast. Obwohl sich das auch gut ergänzt. Es ist ja nicht so, als würden wir nicht gut zusammenarbeiten oder voneinander auch profitieren. (NGO, D83)
Für den Finanzmarkt insgesamt wird im Klimawandel und den fossilen Finanzanlagen darüber hinaus sogar ein systemisches Risiko gesehen: Auch hier übersetzen Schlagworte wie Carbon Bubble oder stranded assets Klimawissenschaften in eine Finanzsprache und -logik, und identifizieren eine Gefahr massiver Überbewertung und des (plötzlichen) Einbruchs fossiler Vermögenswerte.
7.5.2 Prognostische Rahmung Das prognostic framing bezieht sich auf die Entwicklung von Lösungsvorschlägen für die zuvor beschriebenen Problemsichten, auf legitime Ziele und Mittel. Ähnlich der Problemdiagnose ist auch ein Lösungsrahmen meist Ergebnis komplizierter Aushandlungsprozesse (Kern 2008, S. 144). Im untersuchten Feld der Divestment-Bewegung lassen sich drei prognostische Rahmungen unterscheiden, die nebeneinander existieren und teils kombiniert werden: In einem ersten mobilisierenden Lösungsrahmen sehen Akteur/innen im Divestment eine Möglichkeit, sich die Macht des Geldes im Kampf gegen die Klimazerstörung zu Nutze zu machen (C); ein weiterer versteht Divestment als Form öffentlichen Drucks und Brücke zur politischen Regulierung (D), wohingegen das dritte Framing im Klimawandel bestimmte Marktopportunitäten und -risiken erkennt, die Divestment mit bearbeitet (E). C. Sich die Macht des Geldes zu Nutze machen Eine im Feld geteilte Lösungssicht betont die Finanzierung und die (globalen) Kapitalflüsse als wesentlichen Ansatzpunkt für das Problem fortbestehender klimaschädlicher Wirtschaftsaktivitäten. Deinvestieren wird mit dem Ausschluss bestimmten Investitionsverhaltens zu einem Baustein, um ökonomisch und vor allem symbolisch fossilen Brennstoffen die Unterstützung zu entziehen. Die Öffentlichkeit von Divestment-Entscheidungen soll indirekt finanziellen Druck auf die Unternehmen ausüben und direkt die gesellschaftliche Debatte und den politischen Druck verstärken. Mit Verweis auf den Einfluss von Investor/innen betonen Interviewte die Wahl materieller
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und mächtiger Mittel für den Klimaschutz. Divestment erscheint dann als eine zivilgesellschaftliche Strategie um auf die ‚Macht des Geldes‘ Einfluss zu nehmen: „wo kriegen die [Unternehmen] ihr Geld her, und wie kann man da ansetzen?“ (NGO, H15). Auch in den folgenden beiden Zitaten einer Aktivistin und eines Mitarbeiters einer Nachhaltigkeitsbank zeigt sich, wie eine Einflussnahme der Finanziers zum entscheidenden und legitimen Mittel im bestehenden System wird, um die schädlichen Geschäftsmodelle der Unternehmen ernsthaft zu beeinflussen: […] letztendlich muss man davon ausgehen, dass große fossile Energieunternehmen, wenn man sich die Geschichte ankuckt, die wissen seit Jahrzehnten, dass das, was sie machen, die Erde zerstört und den Lebensraum künftiger Generationen. Es ist ihnen egal. Also, da geht es nur um Profit. Und ich glaube, da muss man überhaupt nicht versuchen, die zu überreden dazu, dass sie jetzt irgendwie aus moralischen Gründen ihr Verhalten ändern. Das halte ich wirklich für ziemlich aussichtslos. Und deswegen, die werden nur reagieren, wenn sie merken, das Modell funktioniert nicht mehr. Und der Weg dahin, dass das Modell nicht mehr funktioniert, oder dass sie das erkennen, er läuft über Finanzmarktakteure, weil die in der Lage sind zu sagen: „Okay, das war es jetzt, ihr habt nicht reagiert. Ihr hattet jetzt echt viel Zeit, ihr habt es nicht gemacht, also, jetzt entziehen wir euch die Unterstützung.“ Und die wiederum, die Finanzmarktakteure erreicht man unter Umständen eben am besten über einfache Leute, die denen sagen: „Das ist mein Geld, was du da verwaltest, und ich will es nicht. Ich will, dass du damit aufhörst.“ (Aktivistin, M31) […] alles, was ich versucht habe, eben auch im sozialen Bereich zu machen, oder wo man eben ideell unterwegs war, hat sich immer wieder gezeigt, Dreh- und Angelpunkt ist immer, wie finanziert … kann man die Dinge finanzieren, und wie stellt sich das im Umgang mit dem Geld dar? (Nachhaltigkeitsbank, O9)
Innerhalb dieser Rahmung bedienen sich Akteur/innen immer wieder der – im Finanzmarktkontext gebräuchlichen – Metapher des (Finanz-)Hebels, um den Lösungsbeitrag von Divestment und vom nachhaltigen Re-Investieren zu umschreiben. Einmal vorgestellt als Kapitalhebel, soll der dazu beitragen, die notwendige Umschichtung der Finanzflüsse voranzutreiben und für den anstehenden Strukturwandel in die ,richtige Richtung’ zu lenken. Ein andermal als politische Hebelwirkung von Divestment verstanden (siehe dazu auch die nächste prognostische Rahmung) – sehen Fossil-Fuel-Divestment-Akteur/innen gerade im öffentlichen Akt und der öffentlichen Debatte dessen Stärke im Vergleich zu privaten nachhaltigen Anlagestrategien: Das ist was anderes als wenn ich klammheimlich einfach diese Aktien verkaufe, dann kriegt es keiner mit. Die kauft jemand anders und dann bleibt es eine Aktion im Verborgenen, im Privaten. […] Und diese Form, Divestment, ist eigentlich die Form mit der größten Wirkung im nachhaltigen Aktieninvestment, weil ich wirklich meinen Akt des Deinvestierens mit einer öffentlichen Kampagne unterstütze und das deutlich mache, und das wiederum bei den Konzernlenkern was in Bewegung setzt, glaube ich. (Kirchenbank, A43)
Wiederum erlaubt diese Rahmung Spielraum für eine unterschiedliche Akzentuierung durch die Akteur/innen: Den Einfluss der Finanzmittel zu nutzen, wird einerseits im Sinne der Idee der Sabotage interpretiert, um die Instrumente eines fehlgeleiteten
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Systems gegen das System selbst auszuspielen (z. B. Versorgungswerk, J103, 123; Kirche, FG1B, 109) und es letztlich zu transformieren. Andererseits verstehen Akteur/ innen darunter, dass gerade vorhandene Instrumente und Mechanismen innovativ für neue Herausforderungen wie den Klimawandel genutzt werden sollen, ohne das System an sich zu verändern (z. B. NGO, FG1B, 108). D. Durch öffentlichen Druck politische Regulierung vorantreiben Dieses Framing des Lösungsbeitrags von Divestment betont eine notwendige Begrenzung und Veränderung vorherrschender öko-sozialer, insbesondere klimaschädlicher Investitionspraktiken und will dies letztlich durch öffentlichen Druck auf politische Prozesse erreichen. Divestment fordert hier konkret Normen und Regeln, die Erfolgsmaßstäbe stärker an ganzheitlichen sozial-ökologischen und längerfristigen Zielen orientieren sollen. Die Veränderung vorherrschender Erwartungen, Imperative und Anreize wird Teil des Lösungsweges: Solche Richtlinien ‚guten‘ Investierens zielen darauf, von einer isolierten, kurzfristigen Renditemaximierung abzukehren und die nicht-finanzielle Wirkungsdimension zu stärken. Maßstab für die Berücksichtigung von Klimaaspekten soll die öko-soziale Notwendigkeit sein (z. B. kann Kohle angesichts der Klimaziele keine akzeptable Energiequelle mehr sein) und nicht erst das Zusammentreffen mit einer ökonomischen Opportunität. In den Äußerungen der Interviewten kommen regelmäßig Konflikte zur Sprache zwischen einer kurzfristigen, renditemaximierenden Orientierung der Finanzmärkte und den langfristigeren, außer-monetären Zielen von Klimaschutz und Nachhaltigkeit, wobei die Finanzpraktiken hier selbst stärker Zielscheibe – als überwiegend Mittel – der Veränderung werden. Divestment ist dabei ein Baustein, indem auf gesellschaftlichen Druck hin bestimmte Investitionsbereiche tabuisiert werden und sich dadurch unter den Finanzakteur/innen Normen durchsetzen aber auch Regulierungsmaßnahmen eingezogen werden. Im folgenden Zitat betont ein ehemaliger Finanzprofessioneller, der nun als Klimaspezialist in einer investororientierten NGO arbeitet, dass die Anreize am Finanzmarkt es den Fondsmanager/innen sehr schwer machen, bei steigenden Preisen, nicht wieder vom kurzfristigen Geschäft zu profitieren. Auch das zweite Zitat benennt den vorherrschenden Fokus auf das ‚schnelle Geld‘ und fordert eine veränderte Funktion der Investorenrolle ein. [V]iele scheuen [sich noch davor], das wirklich einzubinden, weil das natürlich oftmals sehr langfristige Aspekte sind, weil die sich erst langfristig bemerkbar machen, und der ganze Kapitalmarkt tickt natürlich extrem kurzfristig. Also, es geht halt um die Quartalsrendite, die da stehen muss. Und in diesem Zusammenhang sind natürlich so langfristige Themen wie Klimawandel oder auch bestimmte soziale Themen … ähm … die passen da überhaupt nicht rein. […] also, ich habe einige Gespräche geführt, und ich glaube, selbst Fondsmanager, die sich mit der Thematik auseinandersetzen und das auch erkennen, die werden Probleme haben, nicht auf den kurzfristigen Zug aufzuspringen, wenn es an den Ölmärkten nach oben geht und die Ölaktien profitieren. Da wird es immer einen Konflikt geben. (NGO, C39)
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Ich habe oft den Eindruck, in Deutschland Aktientum wird so wie ein Glücksspiel gesehen, Teil des Roulettes, mal habe ich rot, mal habe ich schwarz, mal habe ich Glück, mal habe ich Pech. Aber dass ich … wenn ich Aktionärin bin, habe ich Rechte und Pflichten, und dann gehört mir ein Teil des Unternehmens, und dann kann ich auch Einfluss darauf nehmen. Und das wieder mehr auch zu verstehen, dass das eine Verantwortung ist und auch eine Gestaltungsmöglichkeit […] Und es ist nicht mehr nur ein Geldverschieben von links nach rechts, sondern das ist die eigentliche Funktion, wenn ich Aktionärin irgendwo bin. Und ich glaube an das Unternehmen, deswegen werde ich Aktionärin. Ich glaube an das Unternehmen, an die Produkte, an die Mitarbeiter, und dass die in 20 Jahren noch aktiv sind. Und dann erst werde ich ja Aktionärin, und nicht, weil ich denke, kann ich in einem halben Jahr schon Gewinn machen. […] Aber die wenigsten denken so. Also auch in den Banken. Das geht eigentlich … Es geht um den Spread, und es geht um, wie viel Prozent Rendite kann man machen, und sehr, sehr kurzfristig dann immer noch gedacht. (Kirchenbank, A45–47)
Solche Aussagen verweisen auf zur Nachhaltigkeit widersprüchliche Denkmuster am Finanzmarkt und fordern ein, die (bestehende) Funktion und Rolle von Investitionen und Aktionär/innen beziehungsweise Investor/innen zu überdenken. So führt dieser Prognoserahmen hinein in Forderungen eines tiefgreifenden Umdenkens was etwa Aufgaben von Vermögensverwaltungen anbelangt: Anstatt diese auf Vermögenserhalt und -vermehrung zu reduzieren, müsse der Erfolg der Finanzwirtschaft und Finanzdienstleistung an ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedarfsbefriedigung und Zukunftsgestaltung orientiert sein: [W]enn man sich überlegt, die Autobauer denken jetzt heute darüber nach, dass sie sagen: „Ist eigentlich Quatsch zu sagen, wir sind erfolgreich, weil wir Autos verkaufen.“ Sondern die denken jetzt darüber nach, dass sie sagen: „Wir sind nur dann erfolgreich, wenn wir Beweglichkeit für Menschen verkaufen.“ Und das ist ja so ein Umdenken. Wenn man jetzt sagt, bisher denkt man, diese Finanzleute, die haben die einzige Aufgabe, Vermögen zu erhalten und zu vermehren. Was anderes können die überhaupt nicht denken. Und vielleicht kapieren die irgendwann, dass das gesamtglobal betrachtet, ein ausgemachter Unfug ist, und dass es auf etwas anderes ankommt. (Nachhaltigkeitsbank, O63)
In diesem Lösungsrahmen verbinden Akteur/innen dieses Ziel, von vorherrschenden, kurzfristig renditemaximierenden Denk- und Handlungsmustern abzukehren und mit dem Mittel einer Divestment-Bewegung öffentlichen Druck auf die dahin gehende politische Korrektur der Finanzmärkte auszuüben. Konkret sollen die lokalen Proteste sowie die öffentlichen Prozesse beim Deinvestieren zur Delegitimierung der fossilen Industrie und ihrer Finanzierung beitragen. Der politische Handlungsbedarf soll nicht ersetzt werden, aber Divestment könne als „Brücke über die Regulierung“ (NGO, C87) wirken: Gesellschaftlicher Druck auf den Finanzmarkt und auf politische Akteur/innen befördere Regulierungen der fossilen Wirtschaft aber auch des
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(nachhaltigen) Finanzmarkts.35 Längerfristige Orientierungen könnten letztlich nur mit politischen Maßnahmen erreicht werden: [D]as kenne ich viel aus Diskussionen mit Banken, ne, dass die halt, auch zum Teil vor Paris so: „Hach, wir können nichts machen, das ist alles die Politik, die muss jetzt mal irgendwie vorlegen.“ Und ich würde tatsächlich denken, also, in so einer Bewertung von Risiken ist es natürlich eine Frage, wenn ich irgendwie auch treuhänderisch Risiko über drei, vier Jahre mir nur ankucken muss, und die Probleme, die wirklich da sind, kommen aber vielleicht erst in 20 Jahren, dann… also, es ist ja logisch, dass da viel weniger drauf gekuckt wird, und das ist aber eben… das hat dann damit zu tun, worauf muss man auch achten? (NGO, FG1A, 192) […] wir sind am Ende diejenigen, die auch drunter leiden. Also, insofern gibt es einen natürlichen Impuls, sich auch ab und zu mal zu Wort zu melden. Aber wir sind jetzt natürlich nicht diejenigen, die Politik machen, sondern diejenigen, die auf die Risiken sehr sachlich hinweisen und ab und zu dann auch Lösungsvorschläge machen oder lösungsorientiert sind. Wir ersetzen definitiv nicht die politische Entscheidungsfindung, das ist außerhalb dessen, was wir wollen. Und zum anderen hat das auch eine natürliche Grenze. Wir können das jetzt auch nicht übertreiben. Sondern wir machen ab und zu mal unsere Punkte, und dann hängt das eben auch an … muss es auch mal an anderen hängen. (Versicherung, L45)
Mit diesem Lösungsmuster tauchen weiterführende Fragen auf, die seine Grenzen markieren, aber auch den Unterschied zum nächsten Frame deutlich machen. Divestment erscheint auch hier nicht nur als verbindende, sondern auch als umkämpfte Bewegung, die mit – in der Breite der Bewegung – weitgehend unterbelichteten Problemen zu tun hat: Erstens, zu wenige öko-sozial ‚saubere‘ Alternativen zum Re-Investieren und zweitens die Konzentration von immer mehr Kapital auf den Finanzmärkten, das nach rentablen Anlagemöglichkeiten sucht und den Renditedruck einer inhärenten Wachstumslogik kapitalistischen Wirtschaftens steigert: […] die einen sagen „Also, man kann das alles prima lösen über den Finanzmarkt.“ Und ich eben eher das Gefühl hätte: „Na ja, aber eigentlich kommt man da natürlich an den Punkt, wo man auch über Wachstum reden müsste.“ Und wenn man über Wachstum redet, dann ist man auch nicht mehr unbedingt finanzmarktfreundlich natürlich. Aber dafür, also, würde ich jetzt selbstkritisch sagen, müssten wir eigentlich viel mehr über Wachstum und Alternativen zum Wachstum reden. Und das ist halt etwas, wo ich jetzt das Gefühl habe, das findet statt in bestimmten Zirkeln, aber das ist nicht so breit. (NGO, H95) […] wenn ich einfach sage, es ist eine Win-win-Situation, weil ich ziehe meine Anlagen in Kohleunternehmen ab, und dann packe ich sie zum Beispiel in […] entweder Erneuerbare [Energie-]Unternehmen […] es gibt ja so dieses klassische Beispiel von Oxaca in Mexiko, wo irgendwie besonders gut Wind geerntet wird. Das ist aber auf indigenem Land, und die sind quasi nie gefragt worden, und das bringt riesige soziale Probleme. Das ist bestimmt
35Forderungen
der Bewegungen gehen darüber teilweise hinaus – sie wünschen sich eine (nachhaltige) Transformation der Wirtschaft und sympathisieren mit Ideen der Postwachstumsökonomie. Demgegenüber sehen andere Stränge der Bewegung eine (ökologische) Innovation der Finanzmarktinstrumente als Lösung.
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eine Firma, die irgendwie als Firma, die das macht, tolle Renditen macht, aber das wäre jetzt trotzdem kein Modell, was ich irgendwie gut finden würde oder wo ich finde, na ja, also, ehrlich gesagt, würde ich eigentlich auch nicht gerne wollen, dass das in so eine Firma geht. … das ist sozusagen gute Energie, aber ich meine, auch gute Energie kann irgendwie sehr negative Auswirkungen haben. Damit … bin ich ganz schnell zum einen an der Frage, wo [investieren] wenn ich aus dem dreckigen Unternehmen raus will, und ich rede aber im Finanzmarkt gerne auch schnell über große Milliardensummen, wo kann das hin, wo es quasi keinen Schaden anrichtet, und dann, ne, dann irgendwie lege ich es halt irgendwie in einem Chemieunternehmen an (…) Also, wenn ich so richtig saubere Anlagen will, dann kann ich das problemlos machen? […] es ist halt auch einfach zu viel Geld sozusagen unterwegs, was irgendwie nach Anlagemöglichkeiten sucht. (…) wo es um praktisch Anlagen geht, Pensionsanlagen oder so, (…) oder auch bei Lebensversicherungen oder so, dass irgendwie praktisch Geld genommen wird, angelegt wird mit einer bestimmten Rendite, die ich eigentlich sozusagen auch … also bis zu einem gewissen Maß brauche, wenn ich irgendwie in so und so viel Jahren, wo das Geld so und so viel verloren hat, ich trotzdem eine ähnliche Summe wirklich garantieren will. Also, das basiert tatsächlich darauf, es muss dann immer mehr und immer mehr … und da bin in so einer reinen Wachstumslogik. (NGO, H95)
An diesen Zitaten lässt sich ein Gegensatz innerhalb der Bewegungsdynamik verdeutlichen: Ein Teil setzt auf den Lösungsweg Finanzmarkt und auf einen ‚guten‘ Einsatz seiner Instrumente zur Klimaschonung, ein Teil ist weniger ‚finanzmarktfreundlich‘ und thematisiert Widersprüche des (nachhaltigen) (De-)Investierens. Wachstumskritik und grundlegende Finanzmarktkritik sind nicht in der Breite der Bewegung und ihrer Problemdiagnose verankert. Diese eher marginale Diskussion zeigt, dass ihre ökologisch-ökonomische Argumentation dazu neigt, soziale Problemfaktoren der Divestment-Strategie auszublenden: Ein alternatives (Geschäfts-)Modell (zum fossilen Brennstoff) kann zwar ökologisch und ökonomisch rentabel sein, aber weiterhin auf soziale Kosten gehen (z. B. der Verdrängung indigener Bevölkerung für Windkraftanlagen). „Auch gute Energie (…) kann sehr negative Auswirkungen haben“, betont die Interviewte, und stellt die Frage: Wo können die Milliardensummen aus den dreckigen Unternehmen investiert werden, wo kein Schaden entsteht? Wo kann ich problemlos sauber anlegen? Sie identifiziert grundlegende Widersprüche einer Win-win-Lösung sauberen Investierens: Es ist zu viel anlagesuchendes Kapital unterwegs auf den Finanzmärkten – dafür gibt es (noch) nicht genug nachhaltige Wirtschaft. Und: Eine Investition (etwa von Pensionsgeldern) trägt eine Wachstumslogik in sich – eine bestimmte Rendite wird als Einkommen erwartet, um das liegengelassene und an Wert verlorene Geld aufzuwiegen. Lösungsperspektive ist hier nicht die Win-win-Situation, die (hohe) Rendite und Klimaschutz zusammenbringt. Die Lösung für ‚falsche Geschäftsmodelle‘ sind hier nicht ‚grüne Geschäftsmodelle‘. E. Im Klimawandel die materiellen Risiken und Opportunitäten sehen. In der dritten prognostischen Rahmung im untersuchten Divestment-Feld verknüpfen Akteur/innen aktiv die Lösung des Klimaproblems mit den (finanz-)marktrationalen Instrumenten und Zielen. Es mischen sich nachhaltigkeits- und marktlogische Denkweisen, wobei Marktargumente hier in den Vordergrund treten und eine Story auch für
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große (Mainstream-)Investor/innen bieten: ökologische Ziele können sich im Divestment mit den marktrationalen Zielen treffen. Die Idee der Beteiligung der Finanzmärkte am Klimaschutz wirkt hier mobilisierend. Divestment wird zum Bestandteil einer für die Finanzmärkte wichtig gewordenen Risikostrategie in Reaktion auf Klimawandel und Klimaeffekte. Interviewte betonen neue Investitionsmöglichkeiten, die mit den wirtschaftlichen Herausforderungen des Klimawandels einhergehen. In folgendem Auszug aus dem Gespräch mit einem ehemaligen NGO-Mitarbeiter, heute als Klimaspezialist im Asset Management tätig, zeigt er seine Begeisterung für die Idee, Finanzmarktinstrumente mit der Lösung sozial-ökologischer Probleme zu verbinden. Die darauffolgenden Zitate verdeutlichen, wie gerade im Klimaschutz eine Win-win-Situation gesehen wird: die Nachfrage nach CO2-Reduktionsstrategien wachse ebenso wie der Nachhaltigkeitsmarkt insgesamt und werde für Investor/innen zum gewinnbringenden Geschäftsfeld. […] welche Instrumente kann das Finanzsystem liefern, damit eben auch gesellschaftliche Probleme gelöst werden? […] [ich] fand diese Idee von Verknüpfung Finanzen, Finanzvehikeln und Lösung sozusagen sozialer Probleme total spannend. Zum genauen Zeitpunkt, als ich zurück nach Berlin kam, kam das Thema nicht Social Bonds auf, auch noch nicht Green Bonds zu der Zeit, aber die Frage, wie lassen sich Umwelt- und vor allem Klimaprobleme lösen unter Beteiligung der Finanzmärkte? (Asset Management, P11) […] die Nachfrage steigt nach CO2-Reduktionsstrategien. Man wird gefragt von Kunden, von potenziellen Investoren. Der Nachhaltigkeitsmarkt wächst. Also, es hat einerseits ein Risiko, auf der anderen Seite aber auch eine Opportunitätsebene. (Asset Management, P27) […] also sowohl auf der Opportunitätenseite, also neue Geschäftsmöglichkeiten, neue Ideen wie zum Beispiel im Hinblick auf das Erkennen und Bewerten und, ja, Einbringen von Klimarisiken in Entscheidungsprozesse. (Versicherung, L5)
Divestment wirke als Strategie der Klimaberücksichtigung von Finanzakteur/innen (Teil ihrer „Klimastrategien“), indem es sogenannte materielle Risiken und Chancen des Klimawandels und von Nachhaltigkeit herausstellt. Die Argumentation knüpft somit die Berücksichtigung von Klimaeffekten eng an deren finanzielle Materialität. Nachhaltigkeitsaspekte allgemein, und insbesondere das Klimathema, würden in den letzten Jahren zunehmend als finanzielle Risiken anerkannt und bewertet. Wir sehen eine Hybridisierung, im Sinne einer Integration von Nachhaltigkeit beziehungsweise Klimawandel in die Investitionsentscheidung bis hin zu deren Anpassung daran: „Die Motivation ist als Investor immer risikogetrieben. [H]at das Unternehmen in irgendeiner Weise eine Zukunftschance, und wird es zukünftig Rendite erwirtschaften, wird es sich am Markt behaupten?“ (Asset Management, P27). In einer Fokusgruppen-Diskussion wird die Position verteidigt: „(…) im Prinzip ist das eine ganz kapitalistische Entscheidung“ (Nachhaltigkeitsratingagentur, FG2C, 111). „Ich verliere Geld damit, also gehe ich raus. Ich muss mir halt was anderes suchen. Das ist es. Also es ist…ein kaltes Umsetzen“ (Asset Management, FG2C, 112). Hier aktivieren insbesondere Finanzakteur/innen die zunehmende ‚Materialitätsdebatte‘ zur Berücksichtigung von
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Nachhaltigkeit und Klimawandel, indem sie hervorheben, dass diese markt- und „mainstreamfähiger“ (Asset Management, P53) werden müssten. Auch eine Aktivistin betont, dass mit den enormen Herausforderungen des Klimawandels für die Menschheit neue Investitionsfelder einhergehen, und die Chance, (große) Investor/innen – gerade im Kontext von Niedrigzinsen – mit alternativen gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten zu mobilisieren: Auf jeden Fall spielt teilweise […] eine Rolle, dass die Zinsen so niedrig sind, dass es woanders kaum mehr Möglichkeiten gibt, irgendwie gewinnbringend zu investieren und man sich auch deswegen nach Alternativen umsieht. Ja, und letztendlich … also, ich glaube schon, man erreicht natürlich nicht alle, aber ich glaube, es gibt schon Investoren, die erkennen, dass wenn der Klimawandel eben die größte Herausforderung für die Menschheit ist, dann muss der auch irgendwie ein Feld sein, in dem man erfolgreich investieren kann, weil offensichtlich muss ja Veränderung herbeigeführt werden. Und immer, wo Veränderung herbeigeführt werden muss, da wird Geld investiert und am Ende hat es sich gelohnt. Also, das ist ja sozusagen so die Geschichte, die … ja, wie bei […] jetzt so den großen Investoren. (Aktivistin, M41)
Konkrete Forderungen konzentrieren sich häufig auf die finanztechnische Infrastruktur für Divestment und nachhaltiges (Re-)Investment: einfachere Werkzeuge, verbesserte Daten, Methoden und Kennzahlen. Bei diesem technischen Ansatz – zum Beispiel, wie baue ich einen fossil-freien Aktienindex? – rücken größere Ziele der Bewegung in den Hintergrund. Dies bringt folgendes Zitat eines Proponenten der Divestment-Bewegung aus dem politischen Feld zum Ausdruck, das den hier skizzierten Lösungsansatz gerade durch seine kritische Distanz dazu verdeutlicht. Mit Verweis auf eigene Erfahrungen bezeichnet er die Fokussierung auf eine technische Lösung zum Beispiel in Kennzahlen – die sich auf quantifizierbare Indikatoren wie CO2 beschränken – als Gefahr. Negative Ausweichprozesse der Suche nach rentablen Anlagen – etwa zu Ungunsten qualitativer, sozialer Faktoren – könnten das große Ganze untergraben: [D]ie Kennzahlen, an denen lässt sich dann zum Beispiel auch wieder rumtricksen, und die Auswahl und die Identifizierung dieser Kennzahlen ist halt auch wieder ein bisschen willkürlich. Es gibt da eine große Kritik zum Beispiel dran, dass CO2 jetzt eben als die einzig wichtige Kennzahl betrachtet wird, während eigentlich bei einer wirtschaftlichen Transformation, die umweltfreundlich ist, die menschengerechter ist, die sozial ist und so weiter [es] auch noch ganz viele andere Kennzahlen gibt wie Bodennutzung, wie Wasserverbrauch und so weiter und so fort, und die halt, wenn es um so eine Kommodifizierung geht und so eine Kennzahlendebatte, dass da eben dann auch gleich wieder so Ausweichmechanismen stattfinden können, wie zum Beispiel der Klassiker, dass CO2-Emissionen zum Beispiel kompensiert werden können, durch … indem wieder Aufforstungsprojekte irgendwo entstehen. […] so nach einem, anderthalb Jahren, wo diese Green-Finance-Debatte das erste Mal Schwung aufgenommen hat, war man halt irgendwann in einem sehr technischen Diskurs. Und da sehe ich auf alle Fälle das Risiko auch, dass man dann irgendwie eigentlich auf das Risiko eingeht, auf alle Fälle, so die paar großen Ziele aus den Augen zu verlieren, wenn dann nur noch Wirtschaftsmathematiker und Controller hier an den feinen Details rumschrauben und so Budgetzuteilungen betreiben, und dann vielleicht eigentlich doch wieder Jahre lang eine Konsenssuche für einen Standard passiert. (Politik, S11)
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Der markt- und technikorientierte Lösungsdiskurs der Divestment-Mobilisierung wird zwar erwartungsgemäß stärker von Finanzmarkt- und Schnittstellen-Akteur/innen im Bereich finanzmarktnaher NGOs gebraucht, aber implizit von der heterogenen Bewegung mitgetragen. Die Hinwendung zu einer aktiven Rolle des Finanzmarkts in der Lösung der Klimafrage ist zudem in Aussagen über Enttäuschung und Vertrauensverlust gegenüber einer zögerlichen, zu schwachen Klimapolitik eingebettet.
7.5.3 Motivationale Rahmung Eine motivationale Rahmung generiert Beteiligungsmotive (‚call for action‘), die zum Handeln auffordern. Akteur/innen werden mit spezifischen ‚vocabularies of motives‘ (Mills 1940, zit. n. Snow/Benford 1988, S. 202) animiert, sich aktiv an der Lösung der identifizierten Probleme zu beteiligen. Korrespondierend mit den diagnostischen und prognostischen Elementen des Deutungsrahmens aktiviert und kombiniert Fossil-Fuel-Divestment insbesondere moralisch-ökologische und ökonomische Auf rufe miteinander.36 In unserer Analyse unterscheiden wir die Konstruktion zweier motivationaler Elemente: erstens, eine gesellschaftlich-ökologische, ganzheitlichere Verantwortungsübernahme und konsistentes Handeln im Finanzbereich angesichts der schwelenden Klimakrise. Und zweitens, das Bild einer ‚Win-win-Situation‘ aus finanziellem (Risiko-Performance-)Vorteil bei gleichzeitiger Berücksichtigung eines wichtigen Nachhaltigkeitsthemas. Divestment appelliert daran, Verantwortung für die Konsequenzen des (Finanz-) Handelns gegenüber ‚dem großen Ganzen‘ zu übernehmen. Beschworen wird auch die treuhänderische Verantwortung (fiduciary duty) umfassend wahrzunehmen, indem auch öko-soziale Risiken – insbesondere drohende Klimarisiken – bei Investitionsentscheidungen zu beachten sind. Hier knüpfen sowohl interviewte Finanzprofessionelle an, die sich auf die Wahrnehmung ihrer treuhänderischen Verantwortung berufen, als auch die Aktivist/innen und Nachhaltigkeits-Spezialist/innen, die sich auf die vom Divestment geforderte Ganzheitlichkeit – Einbezug der Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft – beim finanziellen Handeln beziehen. Bei Städten und anderen politischen Einheiten knüpft sich der Appell der Verantwortungsübernahme an die besondere Einforderung von Konsistenz und demokratischer Rechenschaftspflicht ihres Handelns: Da Investitionen in die fossile Industrie
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untersuchten Material fiel auf, dass in der Divestment-Bewegung stark über die entwickelten Problemdiagnosen und Lösungsperspektiven mobilisiert wird, auch was die Handlungsaktivierung betrifft. Hingegen ist ein davon abzugrenzendes, eigenständiges motivationales Framing bei den untersuchten Akteur/innen weniger ausgeprägt. Unser Eindruck ist, dass diagnostischprognostische Rahmungen stärker ausgebaut werden, um Deutungs- und Legitimationsgrundlagen für die sehr unterschiedlichen Akteurswelten zu schaffen. Wie am geringeren Umfang der Darstellung deutlich wird, konzentrierten wir uns in der Analyse daher stärker auf diese beiden Rahmungsebenen.
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den Klimawandel verstärken, konterkariert dies (stadt-)politische Bemühungen und Überzeugungen, das Klima zu schützen. Letztlich muss sich natürlich eine Stadt auch dafür rechtfertigen, was sie mit dem ihr anvertrauten Geld tut. Und wenn wir längerfristige Geldanlagen tätigen, also Geldanlagen über mehrere Jahre in Fonds und auch in Aktien von Unternehmen und diese Unternehmen bestimmte Geschäftspraktiken haben, die eigentlich nicht mit dem Selbstverständnis der Kommune übereinstimmen, dann muss man sich schon die Frage gefallen lassen, ob das dann ein richtiges Engagement ist. Und deshalb ist es, finde ich, heute auf jeden Fall angezeigt, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, egal auch zu welchem Schluss man kommt, aber zunächst mal sich damit auseinanderzusetzen, dass ich letztlich oder im Fondsmanagement für die Stadt eine bewusste Entscheidung treffe für ein Unternehmen, wenn ich das in das Portfolio mit aufnehme. (Stadt, N27)
Das zweite motivationale Framing assoziiert Divestment und nachhaltiges R e-Investment aktiv (z. B. in Vokabeln, Argumenten) mit finanziellen Vorteilen beziehungsweise einem verbesserten Risikomanagement. Gleich einem sustainable business case scheint das fossile Deinvestieren (allem voran das Kohle-Divestment) ökonomischen mit sozial-ökologischem ‚Mehrwert‘ in Einklang zu bringen. Moralische und ökonomische Argumente lassen sich so mit dem Bild einer Win-win-Situation für Klimaschutz und Finanzmarkt zusammenfügen und als Beteiligungsmotiv für Investor/innen und Aktivist/innen, für die es zu einem der Erfolgsversprechen der Strategie und Bewegung wird, nutzen.
7.5.4 Zusammenfassung und Diskussion Mit dem Fossil-Fuel-Divestment entfaltet sich auch in Deutschland eine Bewegung, die im Auftrag des Klimaschutzes zugleich Kritik und Mobilisierung des Finanzmarkts, seiner Akteur/innen und Instrumente betreibt. Unsere empirische Untersuchung beleuchtet die (alternativen) Deutungs- und Präferenzstrukturen, die die Bewegung hervorbringt und verbreitet, und damit ihre kulturell-sinngebende Dimension oder „Sinnpolitik“ („politics of signification“ (Hall and Stuart 1982), zit. n. Benford und Snow (2000, S. 613)). Divestment verstehen wir als aktuelle Dynamik im Feld nachhaltigen Investierens und der umkämpften Entwicklung einer Nachhaltigkeitslogik am Finanzmarkt. Konkret arbeiteten wir die handlungsmobilisierenden Problemdiagnosen und potenziellen Lösungen (sowie ergänzend die motivationale Rahmung) heraus, die die klimaaktivistischen beziehungsweise zivilgesellschaftlichen und finanzorganisationalen Protagonist/innen in den Interviews und Gruppendiskussionen re-produzierten. Trotz zunehmender und antizipierter gesellschaftlicher wie wirtschaftlicher Herausforderungen des Klimawandels und der Bekräftigung notwendiger politischer Maßnahmen mit den Pariser Klimazielen, bleibt ihre Umsetzung zögerlich und finanzielle Umschichtungen aus den CO2-intensivsten Sektoren noch gering. In der Divestment-Bewegung formieren sich Sinnressourcen einer anderen Handlungslogik für Finanzentscheidungen: sie entwickelt und transportiert übergreifende Deutungszusammenhänge und generiert
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Resonanz der heterogenen Akteur/innen aus Klimabewegung und (nachhaltigem) Finanzmarkt. Zugleich werden verschiedene Spektren und Deutungskämpfe im Feld sichtbar, wobei alternative Sinn- und Legitimationsquellen einerseits konventionelle Deutungsmuster des Investierens herausfordern und konfrontieren (z. B. „Grenzen des (fossilen) Profits“, „Profitieren vom ‚Falschen‘“); und andererseits das klimabezogene Divestment mit vorherrschenden Handlungsmustern kompatibel definieren (z. B. Klimarisiken als finanzielle Risiken und Chancen, Klimawandel aufnehmen ins Risiko-Rendite-Kalkül) mit der Neigung zur marktlogischen Rechtfertigung der Klimakriterien (z. B. fossil-freie Finanzperformance ist gleich gut oder besser)37. Unsere Analyse beleuchtet mit dieser Bewegung eine solche Arena laufender symbolischer Kämpfe aber auch Koordinierung zwischen Klimaschutz-Organisierung und Finanzmarktorganisationen.38 Im Folgenden fassen wir die rekonstruierten Frames kurz zusammen, diskutieren ihre Dynamiken von Übersetzung, Koordination und Konflikt und ziehen erste Schlüsse. Diagnostische Rahmung: Eine weithin geteilte Problemdefinition bei den untersuchten Akteur/innen weitet die Konfliktlinie von Ökonomie versus Ökologie/Klima um die Rolle der Finanzen aus. So identifiziert die diagnostische Rahmung A (Profitieren
37Beer (2016) macht hier ähnliche Beobachtungen für deinvestierende US-Universitäten: Marktimperative, wie der Wachstumsimperativ von Vermögen, werden nicht vollständig zurückgewiesen, sondern als Rechtfertigung für Divestment genutzt und betonen die Rationalität von fossilen „stranded assets“. Beer wertet dies als Ermöglichung einer ökologischen Modernisierung; wir sehen zwar eine Abwandlung der Marktlogik, aber sie gibt den Ton an für die Gestaltung der öko-sozialen Nachhaltigkeit, die berücksichtigt wird. Suckert (2015) identifiziert Kompromissfiguren von Eco-Entrepreneuren aus Perspektive der Économie des conventions; unterschiedliche Hybridisierungsfiguren zeigen uns auch diese Richtungen im Fossil-Fuel-Divestment-Framing an. 38Curbach (2009) zeigt in ihrer Untersuchung von CSR auf, wie es als Trägerkonzept für die Verhandlung und Konstruktion von gesellschaftlicher Verantwortung globaler Unternehmen fungiert. Sie diagnostiziert eine CSR-Bewegung (aus heterogenen Akteur/innen von Zivilgesellschaft und Unternehmenswelt), die v. a. ein Deutungsmuster ‚freiwilliger Verantwortung‘ als gesellschaftlicher Beitrag von Unternehmen zu einer nachhaltigeren Entwicklung vorantreibt. Diese sei aus einer Bewegungs- und Gegenbewegungs-Dynamik entstanden: die ursprüngliche CorporateIrresponsibility-Bewegung, vorwiegend aus zivilgesellschaftlichen Akteur/innen wie NGOs, war/ ist mit einem (das bisherige Deutungsmuster ‚increasing profits‘) herausfordernden Deutungsmuster im „Konfliktsystem“ mit den Unternehmen. Die sich daraus entwickelnde CSR-Bewegung, in der sich auch Unternehmen und marktnahe NGOs engagieren, entwickelte ein neues, aber weniger konfrontatives Deutungsmuster (‚freiwilliger Verantwortung‘) und befindet sich in einem „Allianzsystem“ mit den Unternehmen. Bei Divestment sehen wir bereits die parallele Herausbildung eines Konflikt- und Allianzsystems: anschließend an das Protestmittel (divestment) von Initiativen von Studierenden und Bürger/innen bildeten sich bspw. schnell ‚divest-investInitiativen‘ von Investor/innen. Der Think Tank Carbon Tracker Initiative als eine frühe Quelle ökonomischer Divestment-Argumentation besteht etwa aus Finanz- und Klimaexpert/innen mit dem Ziel Investoren Klimarisiken und -opportunitäten aufzuzeigen.
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vom ‚Falschen‘) zunächst das beharrliche fossile (Geschäfts-)Modell, das fossile business as usual der Unternehmen, als eine Hauptbedrohung der Klimaziele und als ursächlich für die bereits großen, vielfachen Schäden an Umwelt und Gesellschaft. Die Rolle öffentlicher und privater Finanzierung der fossilen Industrie beziehungsweise sozial-ökologisch ‚falscher‘ Finanzprofite rücken mit ins Zentrum der Kritik. In der zweiten diagnostischen Dimension des Framings (diagnostische Rahmung B Klimarisiken als finanzielles Problem) werden fossile Investitionen aus finanziellen Risiko-Gesichtspunkten problematisch, da der Klimawandel finanzielle und systemische Risiken birgt, die einzelne Investor/innen, aber auch die Stabilität des gesamten Finanzmarkts gefährden könnten. Im Fossil-Fuel-Divestment ko-existieren und verschmelzen diese unterschiedlichen Problemdimensionen miteinander. Dies verdeutlicht unter anderem die Aussage eines Mitarbeiters im Klimarating einer marktnahen NGO, der von Geschäftsmodellen („dieser Ölkonzerne“) spricht, die es „in einer Zwei-Gradkompatiblen Welt nicht mehr geben sollte“ und die Problemstellung dadurch ergänzt, dass „diese Unternehmen in Zukunft nicht mehr existieren werden“. Prognostische und motivationale Rahmung: Die Rahmung von Lösungsangebot und Beteiligungsmotiv des Divestments verläuft ebenfalls entlang dieser Linie (ökologisch vs. ökonomisch-finanziell) und deutet den Konflikt so um, dass Investor/innen nicht nur „Teil des Problems“, sondern vor allem auch „Teil der Lösung“ werden. Rahmung C prognostiziert, sich die Macht des Geldes und den Finanzmarkt als ‚Hebel‘ zu Nutze zu machen, um die Klimazerstörung früh genug einzudämmen. Während mit der prognostischen Rahmung D im Divestment ein letztlich politischer Prozess verstanden wird, der durch öffentliche Delegitimierung bestimmter Investitionen gesellschaftlichen Druck auf ihre Anbindung an sozial-ökologische und klimapolitische Ziele ausübt, hebt der Prognoserahmen E auf der anderen Seite die Marktrisiken und -opportunitäten des Klimawandels und Win-win-Situationen hervor, die sich mit neuen Investitionsfeldern einer ‚low carbon economy‘ ergeben sollen. Divestment-Investment verspreche hier neben einem Beitrag zur Dekarbonisierung der Wirtschaft zugleich neue rentable Anlagemöglichkeiten in sogenannten grünen Wachstumsmärkten (z. B. E-Auto).39 Geteilt bleibt die basale Prognose, dass ein Bewusstsein und Handlungsweisen geschaffen werden müssen, die ökosoziale Auswirkungen von Investitionen in den Blick nehmen – sei es wegen langfristiger Klimaschäden oder finanzieller und systemischer Risiken im Finanzwesen. Diese Ergebnisse zeigen (1.), wie die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung gruppenübergreifende Rahmungen entwickelt und verbreitet, mit denen neben Klimaaktivist/
39Newell und Paterson (2010) beschreiben einen „Klima-Kapitalismus“ als realistische aber unzureichende Lösung – man könnte sagen Hybrid – der nahen Zukunft aus mehr Klimaschutz(politik) und kapitalistischem Wachstumsimperativ. Zur wachsenden Beschäftigung mit einer Kommodifizierung von Klimawandel, zu öko-marxistischen Antworten darauf und zur Frage, unter welchen Bedingungen und Einbußen ein dekarbonisierter Kapitalismus vorstellbar ist, siehe Newell und Paterson (2011).
7.5 Empirie 1: Kollektive Deutungsrahmen im Feld der Divestment-Bewegung
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innen und NGOs auch Finanzmarktakteur/innen (aus der Nachhaltigkeitsnische, aber auch aus öffentlichen und privaten Mainstream-Institutionen) Probleme und Lösungsansätze im Kontext der Verschränkung von Klimakrise und Finanzmarkt identifizieren. Interviewte und Diskutant/innen nutzen die Übersetzungen und Neu-Zusammenstellungen von Deutungselementen aus Klimabewegung und Finanzmarkt. Aussagen kombinieren etwa die Diagnose planetarer Grenzen mit jener ökonomisch-finanzieller Grenzen der fossilen Geschäfte und Finanzprofite. Das Divestment-Framing übersetzt und überträgt die klimawissenschaftlichen Erkenntnisse und Pariser Klimaziele in die Finanzwelt, ihr Vokabular und ihre Codes (z. B. klimabezogenes Risiko, CO2-Blase, stranded assets, Spekulieren gegen die Klimaziele).40 Dabei findet (2.) am einen Ende des Spektrums ein Transfer alternativer diagnostischer, prognostischer und motivationaler Ressourcen statt, die konventionelle Deutungsmuster am Finanzmarkt herausfordern (z. B. „wenn Klimazerstörung falsch ist, ist das Profitieren von Klimazerstörung genauso falsch“). Ö ko-soziale Grenzen der kurzfristigen Profitmaximierungslogik von Investitionen erfordern dann etwa ihre geltenden Erfolgsmaßstäbe (z. B. Benchmarks, Quartalsberichte) zu beschränken oder verpflichtende klimapolitische Investitionsregeln (z. B. Ausschlussregeln, Ausbau treuhänderischer Verpflichtung). Ziel und Funktion des Investierens wird hier nachhaltigkeitslogisch (konkret klimaschutzbasiert) verhandelt und re-definiert (z. B. „sozial-ökologische Bedarfe befriedigen“ und „gesellschaftliche Werte schaffen“, „die Klimaziele ernst nehmen“ und „gefährliche Folgerisiken vermeiden“). Am anderen Ende des Deutungsspektrums (3.) wird hingegen das ökologische Divestment mit geltenden Finanzmarktzielen kompatibel gestaltet. Die Kombination von ideologischen Komponenten aus dem Repertoire von Klimabewegung und Finanzmarkt findet auch hier statt, aber die Anordnung (Hierarchie) kehrt sich um. Klassisches Rendite-Risiko-Kalkül erweitert sich zwar, indem bisher ausgeblendete klima- und sozial-ökologische Faktoren eingeblendet werden – das leitende Kalkül des Entscheidungsverhaltens wird aber aufrechterhalten und gewohnte Ertragserwartungen nicht gestört. Überzeugend für Divestment-Akteur/innen ist hier die Idee des Zusammentreffens ökologischer und ökonomischer Ziele. Lösungsvorstellungen orientieren sich an grüner Innovation am Finanzmarkt (Instrumente, Werkzeuge) innerhalb eines dekarbonisierten, aber primär am finanziellen Wachstum ausgerichteten Investierens und Wirtschaftens. Entsprechende Framings profitieren von der in den letzten Jahren zunehmenden finanzwirtschaftlichen Rationalisierung von Nachhaltigkeit (Besedovsky 2018; Hiß 2014). Diese betrifft gerade den Klimawandel und die Fokussierung auf
40Gunningham (2017, S. 379 f.) verweist auf die Rolle der Bewegung, die aktuelle Klimaforschung für ein breiteres Publikum zu übersetzen und zugleich mit der Sprache des Finanzmarkts institutionelle Investoren anzusprechen. Er geht v. a. auf die Anfänge und Initialakteure dieses Reframings ein, verfolgt aber nicht weiter dessen Aufnahme und Koproduktion durch den finanziellen Arm der Bewegung.
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
CO2 als berechenbare in Zahlen darstellbare Größe, wie sie mittlerweile längst der ainstream-Finanzmarkt und Großinvestoren wie BlackRock registrieren.41 M Was schließen wir daraus? Die Bewegung provoziert mit ihrer Diagnostik und konkreten Handlungsangeboten eine Verhandlung öffentlicher und privater Investitionen im Kontext der Klimakrise, die bis in die Finanzwelt hineinwirkt. Sie legt Zielkonflikte zwischen Klimaschutz/Nachhaltigkeit und Finanzmarkt offen, treibt aber auch die Koordinierung von Erwartungen beider Welten mit an. Ihr Doppelcharakter hat paradoxe Konsequenzen: die Bewegung trägt einerseits zur Politisierung des Investierens sowie der Re-Politisierung nachhaltigen Investierens bei,42 indem sie Finanzflüsse normativ und klimapolitisch prüft. Im Unterschied zum nachhaltigen Finanzmarktsegment verbleibt Fossil-Fuel-Divestment nicht in der privaten Sphäre von Angebot und Nachfrage, sondern setzt öffentliche Debatten über die Geldanlagen und Investitionspolitik einer Stadt, einer Versorgungsanstalt oder Versicherung in Gang. Sie richtet sich gerade an öffentliche Investor/innen (wie Städte, Länder, Staatsbanken wie die KfW – Kreditanstalt für Wiederaufbau, Bundesbank, Europäische Investitionsbank) mit demokratischer Legitimation, und versucht auf politische Regulierung von CO2 und eine sozial-ökologische Finanzwende einzuwirken. Andererseits unterstützt die pragmatisch-strategische Anschlussfähigkeit an die vorherrschende Finanzmarktargumentation zugleich gegenläufige ent-politisierende Effekte auf den Kampf gegen die Klimakrise.43 Mit einer finanzmarktlichen Rationalisierung von Problem und Lösung der Klimakrise läuft die Bewegung Gefahr, die Umsetzung ihrer größeren normativ-politischen Ziele durch Fragen der Risiko-Rendite-Optimierung und technischer Debatten um Kennzahlen zu untergraben. Verantwortung verlagert sich auf Zivilgesellschaft und Kapitaleigner/innen mit ihrem freiwilligen ‚Commitment‘, wobei den Finanzakteur/innen viel Gestaltungsspielraum und ihre gegenwärtige Machtfülle (innerhalb der Klimaproblematik) unangetastet bleibt. Finanz-Expert/innen erhalten überdies prägenden Status im Prozess der Definition klimabezogener, nachhaltiger (Des-)Investitionskriterien.
41BlackRock (2016) beurteilt die Divestment-Bewegung als einen „sozialen Kanal“, über den der Klimawandel seine Marktrisiken und -opportunitäten hervorbringt: „climate change presents market risks and opportunities through (…) changing consumer preferences and pressure groups advocating divestment of fossil fuel assets.“ (S. 2). 42Nachhaltiges Investment wurde mittlerweile zum wachsenden Absatzmarkt. Vgl. Arjaliès (2010) zur Wandlung einer ursprünglichen SRI-Bewegung in Frankreich zum Marktsegment. Nach Soederberg (2009) repräsentieren SRI-Strategien Versuche, den Markt zu politisieren, indem sie Unternehmensmacht angreifen, tragen aber auf einem tieferen Level zu einer Vermarktlichung sozialer Gerechtigkeit bei. 43Besedovsky (2018) zieht aus der Diagnose einer Finanzialisierung oder Kolonisierung von Nachhaltigkeit durch finanzmarktliche Rationalitäten u. a. die Konsequenz, dass das Problem nachhaltiger Entwicklung und seiner Bearbeitung ent-politisiert wird. Wir betonen für den Fall des Fossil-Fuel-Divestment die paradoxe Wirkung dieser Bewegung nachhaltiger Finanzen.
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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Die symbolische Auseinandersetzung findet nicht nur um die Rolle von Investitionen und Investor/innen angesichts der Klimakrise statt und verändert dabei die Fronten und potenziellen Allianzen. Verhandelt wird auch die Auswirkung von klimafreundlicherem, nachhaltigerem (De-)Investieren auf die Systemstabilität und Resilienz.
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts Im zweiten empirischen Teil widmen wir uns aufbauend auf dem Framing der Divestment-Bewegung der Frage, inwiefern in dort handlungsleitenden kollektiven Problem- und Lösungsrahmen Auswirkungen auf die Stabilität beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts verhandelt werden. Anders ausgedrückt: Wie rahmen die Protagonist/ innen dieser Bewegungsdynamik das Verhältnis vom klimabezogenen Deinvestieren zu Finanzstabilität beziehungsweise Resilienz? Die Deutungsrahmen der Bewegung bergen stabilisierendes Potential im, nicht zuletzt in Legitimationsfragen, kriselnden Finanzumfeld – wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, was genau stabilisiert werden soll. Alternative Wahrnehmungs- und Handlungsangebote provozieren Finanzakteur/innen etwa zu modifizierten bis veränderten Risikoperzeptionen. Im Unterschied zum ersten Teil geht es uns hier nicht um die diskursive Basis kollektiven Handelns der Divestment-Bewegung aus fossilen Energien, sondern um Deutungsmuster zu einem spezifischen Bezugsproblem. Dafür wurden die qualitativen Daten der eigens dazu generierten Fokusgruppendiskussionen und Themenblöcke der Interviewgespräche ausgewertet. Wir diskutieren, inwiefern die aus dem Material destillierten handlungsanleitenden Deutungsmuster des Klima-Divestments potenziell stabilisierende Eigenschaften oder hingegen destabilisierende Effekte indizieren. Im Gegensatz zu finanzwissenschaftlichen und klimawissenschaftlichen Debatten über den Zusammenhang von Klimarisiken und Finanzstabilität beleuchtet unsere soziologische Perspektive die Deutungsregeln der Akteur/innen selbst. Vor dem Hintergrund der dem Band übergeordneten theoretischen Perspektive institutioneller Logiken zeigen unsere Ergebnisse beim Divestment zumindest zwei widerstreitende idealtypische Logiken, auf die wir in der Analyse zurückgreifen: Eine genuine Nachhaltigkeitslogik – wie wir sie auf gesellschaftlicher Makro-Ebene beobachten können (siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band) – transportiert, wenngleich in ihrer Entwicklung dort hart umkämpft, unter anderem die Sichtweise öko-sozialer Auswirkungen von Finanzpraktiken an die Finanzmärkte. Sie rahmt den Finanzmarkt als ein Teilsystem der diesem zugrundeliegenden (stabilen) Ökosysteme und (stabilen) Gesellschaften und daher auch als betroffen von den Folgen ihrer Beschädigung. In ihrer Logik relativiert sich der finanzmarktlogische Maximierungsimperativ von Rendite, deren Schmälerung zugunsten eines sozial-ökologischen, langfristigen Mehrwerts in Kauf zu nehmen ist. Für die Stabilitätsfrage heißt das, dass in dieser Sichtweise die vom Finanzmarkt produzierten, g esellschaftlich-ökologischen sowie systemischen Risiken und deren Rückwirkung auf das Finanzsystem wahrgenommen werden – man sieht sich als Teil des Ganzen (siehe Grafik A in Abb. 7.1). Dagegen
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
Grafik A:
Grafik B:
Finanzmarkt als Teilsystem von Gesellschaft und Umwelt
Finanzmarkt als Ganzes, Umwelt und Gesellschaft greifen ein, relevante Informationen müssen aufgenommen werden
Abb. 7.1 Idealtypische Perspektiven auf den Finanzmarkt und auf Risiko im Zusammenhang mit Klimawandel und Nachhaltigkeit. (Quelle: Eigene Darstellung; Legende: hellblau: Symbol für Finanzmarkt, dunkelblau: Symbol für Gesellschaft und Umwelt)
erscheinen in einer idealtypischen Finanzmarktlogik der Klimawandel und andere sozialökologische Themen zunehmend als zusätzliche Informationen für die Optimierung des Kalküls der Risiko- und Ertragserwartungen. Angesichts der (zukünftigen) physischen und politisch-regulatorischen Risiken für den CO2-intensiven Sektor werden eine ökosozial stabilisierte Rendite(-maximierung) und alternative stabile Anlagemöglichkeiten nebenbei zum potenziell begünstigenden Mittel zur Systemstabilisierung der Finanzmärkte. Klimaauswirkungen können in dieser Logik allerdings nur insoweit berücksichtigt werden, wie sie sich in finanziellen Kosten und Risiken materialisieren und monetarisiert in Kennzahlen abbilden lassen. In dieser Perspektive wird der Finanzmarkt selbst zum Ganzen (Grafik B in Abb. 7.1), steht Gesellschaft und Ökologie gegenüber oder erklärt sie zu Teilsystemen, mit denen sich Schnittstellen nach seinen Maßstäben ergeben. Der eigene Beitrag zur gesellschaftlich-ökologischen wie systemischen Risikoproduktion gerät in dieser Perspektive nicht in den Fokus. Wir rekonstruieren vier idealtypische dominante Frames, in denen die Akteur/innen Stabilitäts- und Risikobezüge des klimabezogenen Divestments generieren und auf unterschiedliche Weise die beiden Logiken in Beziehung setzen und re-aktivieren (siehe dazu auch die Übersicht in Tab. 7.2). Im Folgenden präsentieren und analysieren wir diese entlang des Unterscheidungsmerkmals der jeweiligen Diagnose und Lösungsvorschläge (Prognose) und resümieren diese Ergebnisse in einer Zusammenfassung.44
44Die Frames spiegeln – wie in der ersten Analyse – nicht die individuellen Meinungen und Positionen wider, sondern dienen als legitimitätsstiftende und mobilisierende Bezugsrahmen, die von den unterschiedlichen Akteur/innen herangezogen und teils kombiniert werden. In einer hier beispielhaft zitierten Aussage drückt sich ein solches Interpretationsschema besonders gut aus, das heißt aber nicht, dass die ganze Aussage oder Person dieser Interpretationsart zuzuordnen ist. Auch wenn überbrückende Framings im Feld wirksam sind und Gemeinsamkeiten mobilisieren, verweisen die Unterschiede zwischen ihnen auf die Differenzen und Deutungskämpfe, die auch bezüglich der Stabilitätswirkungen existieren.
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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Tab. 7.2 Frames mit Stabilitätsbezügen im Fossil-Fuel-Divestment Frame
Stabilitätsbezug
Klimarisiken reduzieren
Diagnose: Es ergeben sich klimabezogene Marktrisiken für Investor/innen und Stabilitätsrisiken fürs System (systemische Risiken) aus Klimawandel, Klimapolitik und technologischem Strukturwandel (sog. Transformations-, Regulierungs- und Reputationsrisiken; Carbon Bubble) Prognose: Klima- bzw. nachhaltiges De-Investment bringt der konventionellen Risikosicht Zusatzinformationen; das erhöht potenziell die Transparenz, verbessert die Preisbildung, optimiert das Risiko-Rendite-Kalkül These: Fossil-Fuel-Divestment könnte konventionelles Finanzmarkthandeln stabilisieren, indem Klimaberücksichtigung und Nachhaltigkeit die RisikoRendite-Abwägungen erweitern. Die Nachhaltigkeitslogik re-legitimiert die Finanzmarktlogik, indem sie ihre Exzesse (scheinbar) ausbalanciert
Langfristig investieren
Diagnose: Problematisiert wird die Krisenhaftigkeit kurzfristiger Gewinnmaximierung (u. a. Blasenbildung) und der langfristigen öko-sozialen Kosten, die dabei entstehen Prognose: Klimaberücksichtigung sensibilisiert für die längerfristigen Konsequenzen von Finanzmarkt-Handeln These: Fossil-Fuel-Divestment reaktiviert und stärkt (mit der Nachhaltigkeitslogik) Forderungen nach längerfristigen Praktiken und Anreizen als potenziell stabilisierend (fürs Finanzsystem)
Gesellschaftlich orientieren
Diagnose: Entkopplung des Finanzmarkts nicht nur von der Realwirtschaft, sondern von gesellschaftlichen Bedarfen wie den Klimazielen provoziert dort die Renditegetriebenheit und Kostenexternalisierung an Gesellschaft und Umwelt mit sozial-ökologischen und finanziell-systemischen Folgerisiken Prognose: Normativ-kriteriengeleitetes Handeln, öffentliche Transparenz und Stärkung anderer Stakeholder-Interessen verringern riskantes, spekulatives Verhalten These: Fossil-Fuel-Divestment könnte die Produktion sozial-ökologischer Risiken und Schäden hemmen, die auch auf das Finanzsystem rückwirken. Nachhaltigkeitslogik begrenzt die Finanzmarktlogik substanziell
Investitionen politisieren
Diagnose: Widersprüche zwischen Kapitalallokation und klimapolitischen Zielen erzeugen Instabilitäten Prognose: Gesellschaftlichen Rückhalt schaffen gegen doppelt krisenhafte fossile Finanzinvestitionen. Klimarisiken und Carbon Bubble sind letztlich politisch durch eine radikale Dekarbonisierung und den Umbau der (Finanz-) Wirtschaft zu bearbeiten These: Fossil-Fuel-Divestment stabilisiert potenziell mittels gesellschaftlichem Druck auf politisches Handeln gegen die Klimakrise und systemische Risiken. Mögliche Destabilisierung fossiler (Kapital-)Märkte für eine langfristige Klimastabilisierung und ein resilienteres Finanzsystem
Quelle: eigene Darstellung
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7 Die Fossil-Fuel-Divestment-Bewegung
7.6.1 Frame 1: Klimarisiken reduzieren Im Frame 1 Klimarisiken reduzieren treten der Klimawandel und die klimabelastende fossile Brennstoffwirtschaft als drohende finanzielle Risiken für öffentliche und private Investor/innen, aber auch als Stabilitätsrisiken für das Finanzsystem in den Vordergrund. Diese Ergebnisse führen teilweise den Teil 1 unserer Untersuchung fort, neu ist jedoch, wie der Zusammenhang zwischen Klimakrise und Finanzmärkten zum Stabilitätsthema gerahmt wird. Das Divestment wird zu einem legitimen Baustein innerhalb der Nutzung von Klima- und Nachhaltigkeitsinformationen als Risikoansatz erklärt. In dieser Sicht werden bestimmte von außen kommende Klima- und Nachhaltigkeitsrisiken für die konventionellen Entscheidungskalküle am Finanzmarkt relevant (‚materiell‘, ‚performancerelevant‘). Diagnose: Fossile Investitionen werden nicht nur als ökologisch und ethisch problematisch, sondern auch als finanziell riskant diagnostiziert (siehe dazu Rahmung B im ersten Teil der empirischen Analyse). Das Divestment redefiniert die Klimakrise zu einem systemischen Risiko der Entwertung der fossilen und CO2-intensiven Ökonomie. Transformations-, Regulierungs- und Reputationsrisiken würden dazu führen, dass die Aktienkurse fossiler Energieunternehmen fallen, sobald entsprechende Regulierungen oder gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Kraft treten. Ergänzend zu Teil 1 verdeutlicht sich hier in den Interviewaussagen, dass das Risiko für Investor/ innen und das Destabilisierungspotenzial für das Finanzsystem – als äußere Faktoren des politischen und technologischen Wandels wahrgenommen – in den Mittelpunkt für Problemidentifikation und Vorschläge zur Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit von Investitionen treten. Die Natur und die globale Erderwärmung sind demnach neu zu definieren (z. B. in ‚Klimarisiken‘ oder ‚Naturkapital‘), damit sie für Marktakteur/innen und -mechanismen bewertbar und bearbeitbar werden. Wie Grafik B in Abb. 7.1 zeigt, können in dieser Sichtweise risiko- und performancerelevante öko-soziale Aspekte vom separat gedachten Finanzsystem verarbeitet werden. Durch die mehr oder weniger plötzliche politische Umsetzung von Klimazielen und neuen Technologien drohten Werteinbrüche mit dem Ende einer latenten Überbewertung fossiler Anlagen – also das Platzen einer CO2-Spekulationsblase. Die gegenwärtige Preisbildung am Finanzmarkt deckt die Risiken für Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft in dieser Sicht nur unzureichend ab, da große Teile der bereits in Unternehmensbilanzen einkalkulierte Reserven bei Einhaltung der Klimaziele nicht verbrannt werden könnten. […] ein potenzieller Risikofaktor für eine Finanzkrise ist, dass es tatsächlich zu starken Shifts kommt in der Regulierung, in der Technologie, dass man einfach sieht, dass möglicherweise dann diejenigen Investitionen, die am stärksten an High-Carbon-Technologien hängen, unter Druck kommen werden. (Versicherung, L84).
Somit rücken Klimarisiken als mit einer Dekarbonisierung der Wirtschaft einhergehende Marktrisiken und -opportunitäten in den Fokus der Aufmerksamkeit (siehe dazu
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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Rahmung E im ersten Teil der empirischen Analyse). Divestment und das nachhaltige (Re-)Investieren werden von einer rein normativ-moralischen Argumentation abgegrenzt. Es benenne Risiken, die in der klassischen Finanzmarkt-Perspektive ausgeblendet werden, weil sie schwer monetarisierbar sind, nicht, weil sie finanziell nicht relevant wären: Das Problem ist, dass einige schwer zu monetarisierenden oder kurzfristig zu monetarisierenden Aspekte einfach ausgeblendet werden. Das ist der einzige Punkt, weil, gewisse Externalitäten werden einfach nicht betrachtet, weil sie in der klassischen Finanzmarktlehre bisher einfach nicht mit drin sind. (Nachhaltigkeitsratingagentur, FG2C, 79).
Dass Nachhaltigkeit monetarisierbar ist für die Investitionsentscheidung, zeige sich im Besonderen beim Klimawandel, der durch die quantifizierbare Einheit der CO2-Emissionen messbar und als Zahl für den Finanzmarkt fassbar wird. Akteur/innen des Fossil-Fuel-Divestments reproduzieren diese Interpretation von Nachhaltigkeit weg vom ‚weichen‘ qualitativen hin zu einem ‚harten‘ finanziellen Kriterium für die Finanzentscheidung: Und vor allen Dingen, das ist ein Kernpunkt, dass Nachhaltigkeit eben jetzt nicht mehr als nur weiches Kriterium verstanden wird, sondern immer mehr, und das vor allen Dingen im Klimabereich, eben unter Materialitätsgesichtspunkten bewertet wird. Das heißt, es ist nicht nur sozusagen eine zusätzliche Ebene, damit wir uns gut verkaufen, sondern ist Nachhaltigkeit wirklich ein Aspekt, der Investitionsentscheidungen aus der Materialität her, aus finanziellen Risiken und Opportunitäten leitet. Und ich glaube, dieses Verständnis, kann man sagen, ist über die letzten Jahre gewachsen. (Asset Management, P9) Also ganz allgemein ist ja auch besonders interessant, dass gerade das Thema Klimawandel auch aufzeigt, dass sozusagen Nachhaltigkeit und finanzielle Aspekte in Wechselwirkung zueinander stehen, und dass es sozusagen ja auch verstärkt so gesehen wird, gerade beim Thema Klimawandel in Zusammenhang mit der Carbon Bubble und so weiter, aber auch bei Nachhaltigkeit allgemein, dass es sozusagen auch zum Risikomanagement dazugehört und sozusagen eigentlich auch ein Teil der treuhänderischen Pflichten sein müsste. (Nachhaltigkeits-Verband, FG2D, 35).
Im folgenden Zitat bringt der Mitarbeiter einer NGO, die an der Schnittstelle Finanzmarkt und Klima arbeitet, gerade die Abgrenzung des Frames von normativen Argumenten zum Ausdruck. Anschlussfähig an (finanz-)marktlogische Erwartungen der erwähnten Fondsmanager/innen erfordert die darin angebotene Interpretation dekarbonisierter Wirtschaft keine umfassende Transformation, denn Wirtschaft und Finanzwirtschaft können mit ihren gewohnten Imperativen von Wachstum und Gewinnmaximierung weiterexistieren; adaptiert und innoviert wird dabei entlang neuer Risikofaktoren, neuer (Wachstums-)Märkte und rentabler Investitionsmöglichkeiten. […] ich unterhalte mich regelmäßig mit Fondsmanagern, und wenn man da mit irgendwas kommt mit Wachstumskritik und Kapitalismuskritik, das kann man sofort vergessen, das Thema. […] Man muss halt immer wieder diesen „Das ist ein Risiko für dein Portfolio“, das mag … also vielleicht ist es langfristiger als du bisher gedacht hast, aber das ist ein Risiko,
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und es gibt eben andere Sachen, in die du investieren kannst, die zukunftsfähiger sind. Es gibt immer diese low-carbon economy zu … dieses … also, das heißt, wir behalten unsere Wirtschaft, aber sie ist halt dekarbonisiert. Ob das funktioniert, weiß man nicht. Aber das ist halt eine Story, damit kann man dann solche Leute erreichen. Aber wenn man da zu ethisch und zu moralisch aufsetzt, das Thema, dann wird’s schwierig. (NGO, FG2D, 61).
Mit der Rahmung systemischer Risiken und Finanzstabilität, ursprünglich mit mobilisiert durch die Divestment-Bewegung, setzen mittlerweile selbst Institutionen wie die Europäische Zentralbank den Klimawandel und Klimarisiken auf ihre Agenda: Und wenn jetzt gerade zum großen Thema wird, dass Klimarisiken einfach Risiken für die Stabilität sind, dann muss das jetzt auch die EZB machen. So. Und deswegen ist dieses Stabilitätsargument für ganz viele Finanzmarktakteure einfach … also, sobald mal der Zusammenhang zwischen CO2-Intensität und Finanzmarktstabilität hergestellt ist, ist dieses Thema auf einmal auf der Agenda von ganz vielen klassischen Finanzmarktinstituten und Institutionen und deswegen […]. Und ursprünglich kam es eben von der Divestment-Bewegung. (Politik, S80).
Während sich die Aktivist/innen abgrenzen vom reinen Problemfokus auf Risikowarnung und Vermögensschutz von Investor/innen, wird jedoch die „marktmechanismenkonform[e]“ (Stiftung, FG2D, 42) Ausrichtung von Divestment eingeräumt und als strategische Ergänzung mitgetragen. Prognose: Fossil-Fuel-Divestment wird hier zum legitimen Bestandteil einer Klimarisikostrategie für Investor/innen sowie Teil der Bearbeitung systemischer Stabilitätsrisiken des Klimawandels. Es könne eine rechtzeitige und kontinuierliche Umschichtung von Kapital „beschleunigen“, bevor es „zu spät“ ist (NGO, I76; Versorgungswerk, FG2C, 217) und damit beitragen, „hinreichend frühzeitig die Weichen auf eine Dekarbonisierung der Wirtschaft zu stellen“ (NGO, FG2C, 215), um zukünftige Krisen zu verhindern. [I]m Interbankenmarkt [wird sich angekuckt wie] verschiedene Finanzakteure zusammenhängen und wenn ein Institut betroffen ist, wie könnte das […] Wirkung auf andere Institute haben. So irgendwie ist es bei der letzten Finanzkrise geworden. Und wenn wir das gut modellieren können, wenn wir [Klima-]Stresstests entwickeln können, die zeigen, hier sind Gefahren, lieber nicht reingehen. Und wenn wir dann im Sinne des Divestments oder der Philosophie des Divestments gar nicht erst reingehen oder rausgehen, […] dann sicherlich haben wir eine potenzielle Risikominimierung und eine Stärkung der Stabilität. Diese Frage ist zwar eine der wichtigsten, aber auch gleichzeitig eine der neuesten und schlichtweg noch nicht wirklich beantwortet. Da ist noch viel ungeklärt. Aber ja, Divestment reduziert Risiken. […] Und jetzt ist die Frage, wie können wir das lösen, also, wie können wir einerseits die finanziellen Risiken des Klimawandels bearbeiten, indem wir divestieren, das sagt die Divestment-Kampagne. (Asset Management, P64–69) [F]ür die Anleger, für die Asset- und Vermögensverwalter wird es relevanter, dass sie eine Klimastrategie haben für sich als Institution und natürlich auch für ihre Anlagen, und die kann unter anderem Divestment beinhalten; oder muss wahrscheinlich auch zum Teil Divestment beinhalten. […] Es wird relevanter wegen der sogenannten Transformationsrisiken.
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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Wenn jetzt zum Beispiel die Bundesregierung beschließt, dass, weiß ich nicht, dass das Marktumfeld jetzt zum Beispiel im Bereich Kohle erschwert wird oder nicht mehr gefördert werden darf, […] dann steigt ja der Kohlepreis, und dann werden diese Unternehmen weniger lukrativ wirtschaften können. Und das wirkt sich dann auf die … die werden einfach ihre Umsätze zurückfahren, werden weniger Gewinne haben oder vielleicht auch sozusagen negative Gewinne. Und in ein solches Unternehmen investiert zu sein, ist natürlich aus Anlegersicht dann wenig vorteilhaft. (Nachhaltigkeits-Verband, F43) […] dass man eben Nachhaltigkeit auch als ein Mittel der Risikosteuerung und Risikoreduktion versteht. Wenn ich die These habe, dass nachhaltige Unternehmen weniger Probleme im sozialen Bereich, im Reputationsbereich, mit Unfällen beispielsweise haben, dann ist das … dann stützt das die These, dass es a) … dass man das Risiko für den Anleger reduziert, aber auch eben, dass die Unternehmen auch dafür eben belohnt werden, wenn sie sich entsprechend aufstellen, weil sie als attraktive Anlagemöglichkeit eben dann auch steigende Kurse haben. (Bank, K154).
Finanzakteur/innen werden in diesem Frame weniger als Verursacher/innen von Risiken gedacht,45 sondern als die Betroffenen und potenziellen Manager/innen von transparent gemachten klimabezogenen Marktrisiken. Klima- und Nachhaltigkeitsaspekte sind dann zusätzliche Informationen für diese, die in die Risiko-Rendite-Optimierung einer Finanzentscheidung einfließen. Indem die Komplexität von Risiken besser abgebildet werde, erhöhe die Berücksichtigung von Umweltrisiken die mögliche „Risikoresilienz“ (NGO, I70) und führe zur „bessere[n] Preisbildung an den Finanzmärkten“ (FG2C, 218), was sich beides stabilisierend auswirken könnte. Durch die implizit stets mitgetragene Annahme, dass die Offenlegung der materiellen Klimarisiken zugleich zu ihrer Verarbeitung im Finanzmarkt führt, erscheint in dieser Sichtweise bereits der Markt selbst in der Lage, die durch den Klimawandel entstehenden Probleme und Risiken zu reduzieren. Eine (Des-)Investitionsentscheidung wird zwar mit öko-sozialen Aspekten angereichert, folgt allerdings im Konfliktfall klassischen Kriterien und Anreizen. Die Perspektive entkoppelt die Klimaberücksichtigung beziehungsweise Nachhaltigkeit als Risikoansatz von grundsätzlichen Fragen wie dem Investitionshorizont: Weil sie lediglich eine neue Information in das alte Kalkül einpasse, werden systematisch kurzfristigere, aktienkursrelevante Klima- und Nachhaltigkeitsrisiken bevorzugt. Dennoch zeigt sich, wie Divestment hier eben jene grundlegenden Konfliktthemen aufwirft, etwa zum ‚richtigen‘ Investitionshorizont angesichts von Klimarisiken. [E]s kommt einfach eine zusätzliche Information hinzu im Rahmen der Entscheidungsfindung, die dann eben zusätzlich ins Entscheidungskalkül, wie auch schon mal gesagt, eingeht. […] Aber im Grunde ist es, dass man Information, die notwendig ist, die bisher aber nur schwer verfügbar war, weil die wenigsten Unternehmen entsprechend berichten, mit ins Kalkül einbezieht. Und da muss man sich nur überlegen, was für einen Investitionshorizont man da hat. Das ist halt die Frage, wie kurzfristig können dann solche Risiken auftreten, oder ist das etwas, was uns erst 2050 erreicht, und bis dahin können wir so weitermachen wie bisher. Das sind ja ganz grundsätzliche Fragen, die sich da ja auch stellen. (Versicherung, L83)
45Was
unsere Ergebnisse aus Teil 1, Rahmung E, ergänzt.
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[U]nsere Portfoliomanager stellen das auch als Teil ihrer Risikoanalyse dar inzwischen, das, was wir unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten analysieren, was für uns einfach eine Selbstverständlichkeit ist, ist jetzt für unsere ökonomischen Prüfer einfach auch Teil der Risikoanalyse geworden, genau um solchen Dingen vorzubeugen. (Nachhaltigkeitsbank, T97).
Eine politisch forcierte Transparenz bei Klimarisiken (z. B. Offenlegungspflicht) konkurriere mit anderen politischen Zielen und hemme dadurch die Bewegung. Während offengelegte Klimarisiken von Interesse sind, um einer Blasenbildung vorzubeugen und einen Beitrag zur Finanzmarktstabilität zu leisten, konkurriert dies offenbar mit dem Versuch, den Strukturwandel so zu gestalten, dass die Interessen der CO2-intensiven Wirtschaft gewahrt bleiben. Anstatt direkt die Risiken offenzulegen und so eine Transformation voranzutreiben, zielt man hier auf eine langsame Steuerung des Wandels. Divestment erscheint dann eher hinderlich und destabilisierend, obwohl die Strategie gerade darauf abzielt, die Überbewertung der ‚alten‘ Energieunternehmen frühzeitig abzubauen. [D]as Finanzministerium ist ja da auch sehr zurückhaltend, wird jedenfalls vermutet, in der Branche, weil es darum geht … also, in der Strategie des Finanzministeriums geht es ja immer darum, eine Transformation ohne Strukturbrüche zu erreichen. Und das bedeutet ja eigentlich, dass es eben nicht zu einer schnellen Entwertung kommt […]. Aber darum geht es uns gar nicht, weil da würden ja ziemlich viele, also zum Beispiel auch Rentner und das Gesundheitssystem, alle möglichen, drunter leiden, wenn es zu einem Total-Crash kommt. Sondern eigentlich ist die Strategie ja, die Blase zu deflaten, ihr die Luft abzulassen. Und das wäre ja auch, was eigentlich das Finanzministerium mit der „Wir wollen eine Transformation, die ohne Strukturbrüche abläuft“. […] Und da ist natürlich … steht die Bewegung und dann eher so konservative Finanzmarktakteure oder eben Finanzministerium in Teilen natürlich auch, obwohl sich da schon auch viel bewegt inzwischen, muss man auch sagen. Aber im Grunde ist es da natürlich so, dass diese ganzen … dass da kein großes Interesse da ist, vom einen Tag auf den anderen, hier ein Instrument zu schaffen, was dann die Risiken beleuchtet. Und die Risiken werden dann publik, und dann schrecken alle Anleger auf und ziehen alle Gelder zum Beispiel aus der deutschen Industrie ab, und die ganzen Unternehmen sind pleite. Also, das ist so die Idee dahinter, das nur sachte und mit einer soften Steuerung und Lenkung zu versuchen, und nicht mit so harten Maßnahmen. (Politik, S58).
Thesen zu Stabilität beziehungsweise Resilienz: Greifen die befragten Akteur/ innen auf diesen Deutungsrahmen zurück, werden der Klimawandel und Nachhaltigkeitsaspekte typischerweise zu einer Erweiterung der klassischen Risikoanalyse beim Deinvestieren. Der Klimawandel und sozial-ökologische Schäden werden in solch einem Frame übersetzt in Marktrisiken und -opportunitäten, die von den Marktakteur/ innen einzukalkulieren und zu nutzen sind. Die diskursive Auseinandersetzung um Klimarisiken verengt sich dabei weitgehend auf klassische Optimierungsprobleme vom R isiko-Ertrag-Verhältnis entlang der Frage finanzieller Performance nachhaltiger Investitionen. Die hier aktivierte Risikosicht entspricht der Vorstellung – wie in der Kreismetapher B abgebildet – dass externe Risiken nicht-ökonomischer Teilsysteme ins
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Finanzsystem gelangen, nach den dort vorherrschenden Maßstäben relevant und für das Verhalten zu berücksichtigen sind. Als Versatzstück eines Klimarisikoansatzes könnte Divestment in dieser Rahmung potenziell eher zur Stabilisierung der einzelnen Investor/ innen beziehungsweise zu ihrer Risikoresilienz beitragen. Riskante FinanzmarktImperative werden allerdings nicht grundlegend angegriffen, was Ausweichprozesse der Kapitalströme in CO2-arme aber anderweitig gewinnmaximierende oder spekulative Kosten externalisierende Anlagebereiche wahrscheinlich macht (z. B. monokulturelle Bioenergien oder problematische Staudammprojekte). Der Akt gestaltet sich gezielt entsprechend vorrangiger Erwartungen der (Finanz-)Marktlogik. Klimaschutz wird vom Zweck zum Mittel für Investor/innen. Diese Adaption von Klima- und Nachhaltigkeitsthemen könnte auch zu einer kurzfristigen Re-Stabilisierung der dominierenden (Finanz-)Marktlogik und des Finanzmarkts im Status Quo beitragen. Obgleich die Nachhaltigkeitslogik durchaus die Wahrnehmung neuer Risiken eröffnet, kann die vorgenommene Rahmung diese letztlich auch so modifizieren, dass sie die öko-sozialen Belange umgekehrt in den Dienst des Investorenschutzes und der risikoadjustierten Ertragsoptimierung stellt.
7.6.2 Frame 2: Langfristig investieren Der Frame 2 Langfristig investieren führt am Fossil-Fuel-Divestment und nachhaltigen (Re-)Investieren die längerfristigen Konsequenzen des (Finanz-)Handelns vor Augen. In gegenläufigen Zeithorizonten von Klimaschutz und Finanzmärkten werden Destabilisierungspotentiale ausgemacht. Dem Divestment komme mit längerfristiger Verhaltensorientierung an dauerhafter Finanzierung sozial-ökologisch verträglicher Wirtschaftsweise stabilisierendes Potential für Finanzhandeln zu. Auch wenn es nicht die Breite der Akteur/innen erreiche, treibe seine Kritik an der Kurzfristigkeit des gegenwärtigen Finanzmarkt-Handelns Forderungen nach politischer Regulierung hinsichtlich einer langfristigen Orientierung voran. Diagnose: Diese Rahmung deutet die kurzfristige Orientierung an den Finanzmärkten als eine wesentliche Krisentreiberin. Dies wird einerseits mit dem Anheizen der Klimakrise in Zusammenhang gebracht, andererseits aber auch bezogen auf wiederkehrende Finanzkrisen und eine De-Stabilisierung der Finanzmärkte, wie sie in der Carbon Bubble erkennbar sei. Dabei problematisieren vor allem Aktivist/innen und genuine Nachhaltigkeitsakteur/innen den Aspekt, dass Investitionen in die fossile Brennstoffindustrie „nicht zukunftsfähig“ seien (u. a. NGO, FG2C, 216; Nachhaltigkeitsbank, FG2D, 191), sondern eine Spekulation oder Wette gegen die Zukunft darstellen, die zugleich ökologisch und finanziell destabilisierend wirkten. Die kurzfristigen Anlagehorizonte rücken auch mit Verweis auf die Carney Speech (Carney 2015) und die dort angesprochene Nichtübereinstimmung der Zeithorizonte von Klimawandel und Finanzmärkten in den Fokus.
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Demnach wird Kurzfristigkeit beim Investieren hier zum doppelten Problem für die Klimastabilisierung sowie für Finanzstabilität. [D]as Interessante bei der Carbon Bubble ist, sie platzt ja erst dann, wenn es wirklich brennt, was in, keine Ahnung, 30 Jahren ist. Und wir reden heute von Investoren mit Investitionszyklen von fünf Jahren max. […] Sie haben ein Mismatch von den Zeithorizonten, und in diesem Mismatch fügt sich dann die Frage nach der Finanzmarktstabilität ein. In jedem Fall kann es nur helfen, kluge Instrumente zu entwickeln, um mögliche Risiken gar nicht erst aufkommen zu lassen. (Asset Management, P65) […] ich war jetzt beim Klimacamp in der Lausitz, und das Szenario dort ist ja: der tschechische Investor will reingehen, und die gehen mit dem klaren Geschäftsmodell rein „Wir haben noch fünf bis zehn Jahre, um Kohle zu machen“ (also jetzt Geld), und so im Geschäftsplan mit drin ist vielleicht auch: „Dann melden wir irgendwann mal Insolvenz an und sind fein raus.“ (Stiftung, FG2D, 194) […] Ich habe mal auch ähnliche Erfahrungen … also mit einem Fondsmanager in … jetzt, ja, okay, RWE … kann man jetzt abstrafen … die werden halt sagen: „Wir melken diese Kuh solange wir sie melken können und schütten alles an die Aktionäre aus, und nachher …“ also, das Geschäftsmodell ist dann halt tot. Das weiß man jetzt. Das läuft noch zehn Jahre. Und dann ist es halt so. Und dann ist es fertig. (NGO, FG2D, 198).
Divestment wird von einem im letzten Zitat skizzierten kurzfristig orientierten Investitions- und Geschäftsmodell abgegrenzt, das als krisenhafte und Spekulationsblasen bildende Praxis beschrieben wird. In dieser Fokussierungspassage einer Gruppendiskussion kritisieren die Diskutanten exemplarisch jenes Verhalten, das ein Fossil-Fuel-Divestment in der Breite auch vereitle. Deutlich wird der in diesem Frame hergestellte Zusammenhang zwischen einer nicht-nachhaltigen Anlagepraxis in Geschäftsbereiche wie der Kohleindustrie und einem kurzfristigen Denken wie es das vorherrschende Geschäftsmodell verkörpere, welches (mittel- und langfristig) allerdings Kosten für die Allgemeinheit produziere sowie zur Überbewertung und Aufblähung nicht zukunftsfähiger Geschäfte beitrage. Längerfristig angelegte Risiken würden systematisch ausgeblendet in einer Finanzmarktorientierung, die im Regelfall auf den kurzfristigen in Quartalsberichten ablesbaren Ertrag gerichtet ist. In dieser Deutung steht nicht zur Frage, ob die Finanzmärkte früher oder später deinvestieren, sondern ob sie es rechtzeitig tun, bevor der Schaden irreversibel geworden sein wird. Wenn man sich anschaut, dass jemand wie BlackRock sofort sagt, hier gibt es Themen, da investiere ich nicht mehr … oder halte ich mich raus … also, ich glaube, dass da … dass … über … für mich ist das nicht die Frage des „ob“. Ich glaube, dass wir auf lange Sicht ganz sicher da hinkommen. Ne? Ich glaube, die Frage ist, kommen wir da zeitlich genug hin, dass der Effekt sich so auswirkt […] oder … müsste man halt zu nah an die Schadensereignisse rankommen oder an die Verluste rankommen, und dann ist es einfach zu spät, weil das System zu träge ist und zu viel Vorlaufzeiten braucht. Ne? Und ich glaube das ist so die zentrale Frage, wie man mit Mechanismen diese „tragedy of the horizon“-Geschichte auflösen kann. (NGO, I72) Divestment regt ein Umdenken an, weil … hm … ich glaube, viele Investoren sich dadurch ein bisschen stärker mit den langfristigen Konsequenzen ihrer Entscheidungen
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auseinandersetzen müssen. Was, glaube ich, ein Grundproblem ist am Finanzmarkt immer noch. Wir kommen immer wieder in dieselbe Schiene rein, deswegen gibt es immer wieder Krisen, weil die kurzfristige Orientierung, was denn hinten drauf steht, einfach zu dominant ist. Und Divestment weil … weil die Risiken, was stranded assets angeht oder Klimawandel … einige sind vielleicht kurz- oder mittelfristig schon akut, aber viele der Risiken sind halt auf 20 Jahre angelegt, und soweit denkt einfach kein Investor, außerhalb einer Pensionskasse vielleicht. (NGO, FG2D, C33).
Diese Praxis der Blasenbildung bei den klimaschädlichsten Industrien wird verglichen mit der gegenwärtigen Aufblähung in der Immobilienwirtschaft sowie zuvor im Hypothekengeschäft. Das kritisierte, nicht-nachhaltige Anlagemodell wird von Bildern begleitet – „Wir melken diese Kuh solange wir sie melken können und schütten alles an die Aktionäre aus, und nachher…“ (Stiftung, FG2D, 198) – die entsprechend dem Motto ‚nach uns die Sintflut‘ dem Sinnbild der Nachhaltigkeit konträr entgegenstehen (‚nur so viel Wald forsten, wie wieder nachwachsen kann‘). Folgende Zitate grenzen den nachhaltigen Ansatz von eben diesem kurzfristigen Anlageverhalten ab, das nicht an der Dauerhaftigkeit von Geschäftsfeldern oder gar ihrer realwirtschaftlichen Grundlage interessiert ist:46 […] nichts ist schlimmer als sozusagen dieser, ja, wirklich sekunden- oder millisekundengetriebene Finanzmarktkapitalismus, der sozusagen nur auf Spekulation aus ist, ohne dass das realwirtschaftlich unterlegt ist. Und das könnte zumindest ein Ansatzpunkt, ein Trend sein, der dem so ein bisschen entgegenwirkt. (Gewerkschaft, Q57) Ich glaube, da sind zwei Themen ganz wichtig. Also einmal natürlich so technische Sachen wie, dass wir Aktien kaufen zum Beispiel und sie dann auch halten. Das Gleiche gilt für Anleihen, dass wir keine Schnellverkäufe oder Sekundenverkäufe oder was es alles gibt machen, und dass wir einfach … das ist schon eine eher konservative Sichtweise, die wir da verfolgen, aber wir verfolgen sie aus einem nachhaltigen Ansatz heraus. Das ist übrigens auch etwas, was Unternehmen auch wahrnehmen, dass wir nicht einfach irgendwie versuchen, günstig bei einer Neuauflage irgendwie teilzunehmen und dann gleich wieder teuer zu verkaufen, sondern dass wir dann auch langfristig dabei sind. Ich glaube, das ist eine wichtige Sache bei Investitionen. […] und auch als Bank mit einer über 40-jährigen Erfahrung einfach auch zeigen, das funktioniert langfristig. Also, man muss sich nicht auf irgendwelche windigen Geschäfte oder in die Subprime-Krise stürzen, nur um erfolgreich zu sein. Das ist Quatsch. Also, das geht auch anders. (Nachhaltigkeitsbank, T57).
Prognose: Langfristigkeit und Zukunftsfähigkeit werden als Wert betont und mit Klima- und Nachhaltigkeitsberücksichtigung verknüpft. So erfordere das nachhaltige De- und Re-Investieren, dass man sich mit längerfristigen Konsequenzen von Handeln auseinandersetze und nach der Dauerhaftigkeit der Investitionspraxis und Investitionsbereiche frage. Dabei werden immer wieder zwei verschiedene Aspekte verknüpft: 46Vgl.
auch Langenohl (2007, S. 56 f.): Kurzfristige Anlagestrategien legen im Gegensatz zu langfristigen nicht die Maxime des Fundamentalzusammenhangs Finanzmarkt und Realwirtschaft zugrunde.
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Die Zukunftsfähigkeit von Investitionen wird zum einen bezogen auf die Gestaltung zukunftsfähiger Realwirtschaft, Lebensgrundlagen und gesellschaftlicher Erfordernisse, wobei die Rolle der Investition für eine Gestaltung der Zukunft abgegrenzt wird von ihrer Spekulation mit der Zukunft. Der andere Aspekt betrifft die interne Zukunftsorientierung der Finanzhandlung mit Blick auf ihre langfristige Rentabilität auf Basis langfristiger Geschäftsmodelle. In beiden wird die Langfristorientierung mit der Anschauung unterlegt, dass der Finanzmarkt realwirtschaftlich fundiert sein muss (vgl. Langenohl 2007, S. 56) – allerdings bezieht nur der erste Aspekt den Dienst an Ökosystem und Gesellschaft mit ein. Beide Aspekte kommen in den folgenden Zitaten zum Ausdruck: […] das, was ich so an wissenschaftlichen Untersuchungen dazu gelesen habe, zumindest da in Summaries und ähnliches, erweckt es für mich schon den Eindruck, dass es eine Verknüpfung gibt, zwischen Unternehmen, die langfristig erfolgreich am Markt bestehen und dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Also, sprich, wenn ich als Unternehmer mein Unternehmen nachhaltig ausrichte und eher langfristige Ziele vorgebe, vielleicht auch langfristige Gewinnziele und weniger stark an kurzfristigen Erfolgen interessiert bin, wie gesagt, das Thema Nachhaltigkeit in den Fokus rücke, dann trägt das jedenfalls nach den Studien, die ich da mal mir angeschaut hatte, dann auch dazu bei, dass diese Unternehmen länger am Markt bestehen. Gelingt sicherlich nicht immer und in jedem Einzelfall, aber in der Tendenz klang das für mich nach einer Überschneidung. Also, das Thema Nachhaltigkeit konsequent in Unternehmen berücksichtigt, trägt zum Unternehmenserfolg bei. (Stadt, N57) […] also eine Sache, die, glaube ich, entscheidend ist, für Nachhaltigkeit, und das nehme ich aus den Veranstaltungen im letzten Jahr, die sich mit Divestment befasst haben, es ging am Anfang immer bei diesen Veranstaltungen darum, dass man gesagt hat, ja, man muss jetzt hier mal Verantwortung übernehmen, und überhaupt erst mal den Begriff und die Idee erklärt hat. Und im letzten Jahr ging es in den Veranstaltungen und Konferenzen immer mehr darum, dass die Akteure selber, also die AXA, die Allianz und so weiter, dass die plötzlich auf dem Podium saßen und gefordert haben, dass das reguliert wird. Sie haben gesagt, sie möchten gerne nachhaltig investieren, aber sie können das gar nicht, weil sie an Benchmarks gemessen werden, die monatlich oder vierteljährlich irgendwie ihren Erfolg messen. Und wenn man Renten investiert, die eigentlich halt auf eine Zeit von 30-40-50 Jahren angelegt sind … und das ist ja nicht so, dass die Leute jetzt jeden Tag ankommen könnten und sagen könnten „Ich will mein Geld wieder haben“, sondern das ist wirklich eigentlich eine nachhaltige Form des Investments, dann warum ist das eigentlich notwendig, das jeden Monat zu kontrollieren oder zu messen? Und dann verlieren die ja auch ihren Job, wenn sie irgendwie dem Benchmark nicht gerecht werden. Das heißt, eigentlich fordern sie gleiche Bedingungen für alle, und sie fordern, dass bei langfristigen Investitionen auch langfristig der Erfolg angekuckt wird, und dass es eben dann auch möglich ist, in zum Beispiel Branchen zu investieren, die auch mal durch eine Talsohle gehen, weil es eben neue Branchen sind, und weil … weil diese Idee von „Es geht immer nur bergauf, Wachstum, Wachstum, Wachstum“ … weil die vielleicht auch nicht haltbar ist bis in alle Zeiten. Und ich glaube, nachhaltiges Investment hat eben viel damit zu tun, dass man einen langen Atem hat, und dass man auch mal eine Talsohle durchsteht, und dass man sich viel mehr darüber Gedanken macht, wo gehen die Trends hin, was sehen wir eigentlich für Entwicklungen,
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die auf der Erde irgendwie auf uns zurollen. Was ist mit Überbevölkerung? Was ist mit wachsenden Städten und so weiter. Und sich dann auch die Unternehmen genau ankuckt und sich Gedanken darüber macht, wie sind die aufgestellt, ist das zukunftsorientiert … und dann Investitionen tätigt und … ja, ich meine, man kann sich immer anders entwickeln, auch eine Firma anders entwickeln, als man denkt, aber daran festzuhalten, wenn man davon überzeugt ist, dass das eben der richtige Weg ist. (Aktivistin, M53).
In dieser Deutung fordern Nachhaltigkeit und Divestment-Strategien mehr Bewusstsein und Wissen um Langfrist-Risiken und damit eine Horizontveränderung bei den Investor/ innen ein mit der dafür notwendigen politischen Regulierung. Letzteres erscheint im Lichte der Dominanz der Materialitätsdiskussion um Nachhaltigkeit besonders relevant, da selbst beim nachhaltigen Investieren oft kurzfristige Materialität die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsindikatoren prägt. Ich glaube halt auch, was gefährlich ist gerade in der Nachhaltigkeitsratingwelt, es werden ja immer Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien betrachtet, und ich weiß, dass viele Ratingagenturen sich gern auf diese Governance-Kriterien zum Beispiel fokussieren, weil die halt eine sehr hohe Materialität für den Aktienkurs haben. Also auch diese Branche Nachhaltigkeitsinvestieren sucht ja auch nach Indikatoren, die aktienkursrelevant sind. Und das sind dann auch mal ganz schnell Indikatoren, die halt kurzfristig aktienkursrelevant sind. Ich glaube danach wird halt auch explizit gesucht. Dann geht für mich allerdings so ein bisschen der Gedanke des nachhaltigen Investierens … der verschwindet so ein bisschen, weil es ja eigentlich die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns heute irgendwie mit abfassen sollte … (NGO, C95).
Thesen zu Stabilität beziehungsweise Resilienz: Die von der Bewegung an den Finanzmarkt transportierte Nachhaltigkeitslogik produziert potenziell stabilisierende Elemente, indem sie dort marginale Forderungen nach langfristig orientierten Investitionspraktiken und ihren strukturellen Anreizen stärkt, die Kurzfristigkeit der Gewinnmaximierungslogik problematisiert und sie im Fall Divestment auf zweifache Weise mit der Verhinderung künftiger Krisen verknüpft: Kurzfristiges Verhalten provoziere erstens Blasenbildungen und Instabilitäten und zweitens sei das spekulative Investieren in den fossilen Sektor mit öko-sozialen Folgen verbunden, die die Stabilität des Weltklimas und der Gesellschaft insgesamt gefährden. Mit dem Wert der Langfristigkeit wird zugleich ein in der Realität der Finanzmärkte vom Wettbewerbsdruck verschüttetes Ideal aus der Theorie (vgl. Langenohl 2007) reaktiviert, sodass es zu einem frame alignment zwischen Klimabewegung und Finanzmarkt kommt. Allerdings stößt diese Rahmung dort an ihre Grenze, wo die Nachhaltigkeitslogik von Marktimperativen geschlagen wird, bei der Suche nach kurzfristig aktienkursrelevanten Nachhaltigkeits-Indikatoren sowie bei der Aussicht, dass – solange ein Markt für Kohle vorhanden ist – andere Investor/innen die divestierten Aktien aufkaufen und mit weiteren Jahren Profit kalkulieren.
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7.6.3 Frame 3: Gesellschaftlich orientieren Der Frame 3 Gesellschaftlich orientieren bezieht sich auf die stärkere Orientierung von Finanzhandeln an gesellschaftlichen und ganzheitlichen Zielen sowie Konsequenzen. In der Verankerung entsprechender normativer öko-sozialer Kriterien und Regeln wird eine potenzielle Stabilitätsquelle gesehen. Im Unterschied zum Frame Klimarisiken reduzieren blickt man beim Divestment nicht nur auf die nach den geltenden Investitionsmaßstäben finanziell relevant werdenden externen Risiken aus dem Klimawandel (vgl. Grafik B in Abb. 7.1). Die Risikoverursachung am Finanzmarkt von Investor/innen für Gesellschaft und Umwelt sowie (rückwirkend) die Produktion systemischer Risiken rückt zusätzlich in die Wahrnehmung (vgl. Grafik A in Abb. 7.1). Vom Investieren wird hier die Funktion der Gestaltung einer zukunftsfähigen Realwirtschaft, die der Gesellschaft dient und natürliche Grundlagen, Ressourcen und das Ökosystem wahrt, eingefordert. Ein solches System könne langfristig ‚im Einklang‘ mit (anstatt auf Kosten) seiner gesellschaftlich-ökologischen Umwelt stabiler und resilienter funktionieren. Diagnose: In dieser Rahmung wird die Missachtung der Auswirkungen von Finanzhandlungen für ihre öko-soziale Umwelt problematisiert, etwa für die Endlichkeit von Ökosystemen und für gesellschaftliche Ziele wie die Klimaziele. Dies verursache öko-soziale Schäden, aber auch ein Gesamtrisiko im System, das auch auf das Finanzsystem zurückwirkt. Investitionen in fossile Energien spekulieren demnach gegen die internationalen Klimakonventionen und ihre Umsetzung durch die nationalen Klimapolitiken. Der Spekulationsbegriff wird angeeignet, um über die Loslösung einer Investition von ihrer realen Wertschöpfung hinaus auch die Entkopplung vom gesellschaftlich-ökologischen Bedarf zu kritisieren. Die Rahmung stellt somit die Funktionsweise der existierenden Kapitalallokation durch die Finanzmärkte für die (wirtschaftlichen) Grundlagen eines intakten Öko- und Klimasystems und gesellschaftlicher Bedarfe infrage. Dieser Konflikt zwischen Renditegetriebenheit vs. Finanzierung gesellschaftlicher Bedarfe zeigt sich analog auch an anderen Stellen, wie dem Immobilienmarkt: […] zum Beispiel die Stadt Wien. Die hat in einer Situation, als es wirtschaftlich Österreich und der ganzen Wirtschaft in Österreich so vor über 100 Jahren extrem schlecht ging, haben die Land aufgekauft in Wien, in der Stadt. Die haben heute, ich weiß nicht, 60–70 Prozent des Wohnbestandes ist in kommunalem Eigentum ja? Mit dem Erfolg, dass die eigentlich eine völlig moderate und vertretbare Situation in Wien haben. Ja? Heute, wo es außerordentlich schwierig ist, da irgendwo Land für Wohnungsbau oder so was zu kaufen oder zu finden. Und Berlin hat eigentlich in einer Situation, wo es Berlin schlecht ging im Gegenteil dann Wohnungen verkauft mit dem Erfolg, dass man jetzt merkt: „Oh, jetzt haben wir aber ein Problem. Was machen wir denn jetzt?“ Ich denke mir mal, bei solchen Geschichten setzt Umdenken ein. Und dieses Umdenken in der Öffentlichkeit eben nicht mehr rein renditegetrieben, sondern auf die Wirkung zu gucken, das fängt schon an. (Nachhaltigkeitsbank, O53).
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Kritisiert wird in den Aussagen implizit und teilweise explizit sowohl die Entkopplung der Finanzmärkte von ihrer Funktion für Gesellschaft und Umwelt als auch die ‚entnormativierte‘ Finanzhandlung und -aufgabe von Finanzprofessionellen. Geld, Investitionen und Rendite würden als neutral betrachtet und dadurch zum Selbstzweck der Vermögensmehrung (vgl. diagnostische Rahmung A), während die eigenen gesellschaftlich-ökologischen Grundlagen (z. B. Ressourcenumgang, Arbeitsbedingungen) und Folgen dieser Handlungen (z. B. für Gesellschaft, Umwelt, Finanzstabilität) ausgeblendet würden. Die Aufgabe von Finanzprofessionellen auf materiellen Vermögenszuwachs zu reduzieren verdecke aber die Quelle der Wertschöpfung und den potenziellen Schaden durch die Externalisierung von Kosten und Risiken für das Gesamtsystem. Ja, ich bin nicht der Experte, um jetzt beurteilen zu können, ob es tatsächlich eine Blase ist und eine Blasenentwicklung wird. Aber was natürlich bekannt ist und auch wissenschaftlich fundiert ist, dass wir von endlichen Rohstoffen ausgehen. Punkt. Also, egal ob ich über Rohöl, über Erdgas oder sonstige fossile Energieträger spreche, ich weiß, die sind endlich. Und ich weiß auch, die haben einen deutlichen Einfluss auf die Erderwärmung. So, das ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Und da kann man natürlich sagen, so, ist alles egal, und wir machen mal trotzdem weiter wie in den letzten 50 Jahren. Das ist die eine Haltung, und die andere Haltung ist, man setzt sich damit auseinander und fragt sich dann eben, ob das wirklich klug ist, dauerhaft diese Technologien weiter zu unterstützen, indem man diesen Unternehmen dann auch noch Geld zur Verfügung stellt. Und spätestens da muss man dann auch als Kommune, wenn man Geld anlegt, sich die Frage gefallen lassen, ob man bestimmte Technologien bewusst fördern will, oder ob man das eben vielleicht gerade nicht tun möchte. (Stadt, N59).
Das letzte Zitat verdeutlicht zunächst die kollektiv geteilte Problemsicht, dass die bestehende Wirtschaftsweise und Geschäftsform an die planetaren Grenzen des CO2Ausstoßes stößt (vgl. diagnostische Rahmung, insbesondere das Zitat des Mitarbeiters der Nachhaltigkeitsbank, O49, auf S. 302). Darüber hinaus zeigt es exemplarisch den Bezug zur Stabilitätsfrage: Wenn Finanzakteur/innen um die Endlichkeit fossiler Rohstoffe und die Endlichkeit der Treibhausgasemissionen zur Eindämmung der Erderwärmung wissen und daraus der notwendigerweise kommende Abbau der klimaschädlichen Technologien hervorgeht, erscheinen umfassende Wertverluste fossiler Brennstoffe und CO2-intensiver Sektoren als plausibel. Das Risiko, das die Divestment-Bewegung in diesem Deutungsrahmen identifiziert, ist neben der Spekulation der Finanzmärkte gegen die Klimaziele und die dadurch provozierte Blasenbildung und das mögliche Krisenpotential jedoch vielmehr noch ein öko-soziales Gesamtrisiko des Klimawandels und der vielfachen Folgeschäden durch gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftsaktivitäten. Daher ist die öko-soziale Stabilität oder Sicherheit als Ganzes gefährdet und Verteilung und Einsatz von Finanzmitteln sollen, anstatt sie zu untergraben, diese mit gewährleisten. Finanzverhalten und Finanzsystem wird dann als resilientes verstanden, wenn es seine Funktionen auch im Sinne des größeren Ganzen (stabiler Gesellschaften und Ökosysteme) erfüllt, anstatt auf deren Kosten zu funktionieren und sich schließlich der eigenen Grundlagen zu berauben.
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[K]lar ist das auch eine Hoffnung auch von mir, dass sich riesige wirtschaftliche und Finanzkrisen vermeiden lassen, wenn wir schnell genug reagieren, das Risiko ist aber nicht nur die Carbon Bubble, sondern auch einfach, dass die Weltgemeinschaft so sehr geschüttelt wird von Naturkatastrophen und gesellschaftlichem Kollaps durch diese Katastrophen und mangelndem Zugang zu Wasser und so weiter, und so fort. Und da gibt es halt einfach so ein Gesamtrisiko, was passiert, wenn wir über 1,5 Grad kommen, über zwei Grad, was sind dann die Tipping Points, was passiert dann noch mit unserem Ökosystem und wie reagiert unsere Gesellschaft da drauf. […] oder können wir es schaffen, eine resiliente Weltgemeinschaft aufzubauen oder zu erhalten. Es ist ja, in manchen Regionen der Welt ist es ja schon das Mad-Max-Szenario. (NGO, D83).
Am primären Klimaschutz-Auftrag der Divestment-Strategie halten hier insbesondere Aktivist/innen fest. Für die Klimastabilisierung sind dann gegebenenfalls Vermögensvernichtung und Verwerfungen auf den Finanzmärkten in Kauf zu nehmen. Hier zeigt sich die Differenz zu Frame 1 Klimarisiken reduzieren, in dem der Zweitauftrag Risikominimierung das Divestment erst rechtfertigt, und entsprechende Konfliktlinien innerhalb der Bewegung. [W]as ist uns eigentlich wichtiger, dass die Börse morgen noch genauso funktioniert wie heute, oder dass unsere Urururenkel auch noch vor die Tür gehen können? […] Ich persönlich gewinne den Eindruck, dass der Gegner viel zu groß ist, als dass man den wirklich komplett destabilisieren könnte. Man kann halt Veränderungen beschleunigen dadurch. Und das wäre ganz toll, wenn man das erreichen könnte, aber ich glaube nicht, dass da jetzt irgendwie der Weltmarkt zusammenbricht, weil … keine Ahnung, irgendwie ein Teil der institutionellen Investoren sagt, wir gehen da jetzt raus. (Aktivistin, M67).
Prognose: In dieser Rahmung geht Divestment mit der Forderung einher, Investitionen und Finanzmärkte stärker an ökologischen und gesellschaftliche Zielen wie die Klimaziele zu binden. Sie sollen sich nicht nur wieder mehr an der Finanzierung der Realwirtschaft, sondern an deren Zukunftsfähigkeit entsprechend der gesellschaftlichen Bedarfe ausrichten. Ein derart kontrolliertes Handeln vermeide rein renditegetrieben zu agieren und losgelöst von entsprechenden Normen hochriskante und -spekulative Geschäftspraktiken mitzumachen. Kriteriengeleitet vorzugehen erhöhe die Transparenz und Reflexion über Entscheidungen und verringere den Spielraum für kreative Gewinnsteigerungspraktiken. Indem Investor/innen beim Divestment als positive Gestalter/innen auftreten können, bietet dieser Deutungsrahmen auch eine moralisch-legitimatorische Stabilisierung des Finanzmarkts. Die gesellschaftliche Machtposition von Investor/innen als wesentliche Treiber/innen gegenwärtiger Unternehmensstrategien und der Wirtschaftsentwicklung wird dabei selbst nicht zum Problem. Man grenzt sich vom Primat des ökonomischen Arguments für klimaschützende De-Investitionen ab (siehe z. B. Frame 1 Klimarisiken reduzieren) und hebt den größeren Zusammenhang hervor, in dem fossile Brennstoffe unabhängig von der Entwicklung ihrer Rentabilität keine tragbare Energieform für die Weltgesellschaft darstellen. Für ein stabiles Finanzsystem komme es darauf an, dass Investitionen mit gesellschaftlich
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n otwendigen Bedarfsbereichen unterlegt sind. So begrenzen sich präventiv nicht nur die sozial-ökologischen, sondern tendenziell auch finanzielle beziehungsweise systemische Risiken. Die normative Reflexion über die Entscheidung stärke die Vorsicht. Bei uns bedeutet [nachhaltiges Investieren], nach klaren Kriterien angelegt, und wir haben eben vor allem in Realwirtschaft investiert. Ich glaube, das sind so die zwei Punkte, deshalb sind wir auch keinem Bubble ausgesetzt gewesen, weil die Sachen, die wir haben in unserem Portfolio, sind halt viele Sachen, die wirklich … das sind keine Derivate oder sind keine Dinger, die sich irgendwie in Luft auflösen. Die können insolvent gehen, aber sie können sich nicht in Luft auflösen. […] Ja, diese ganzen Spekulationsdinger, die machen wir halt nicht mit, weil wir auch einfach sagen, einerseits ist das Humbug, aber andererseits dient es vor allem Geschäftspraktiken, die wir nicht unterstützen wollen. Und dadurch sind wir natürlich auch, wenn wir diesen ganzen Bereich ausklammern in unserer Investitionspolitik, da machen wir eben auch keine Riesenrenditen, aber uns haut es halt auch die Rendite nicht zusammen, wenn dann eine der Blasen platzt oder irgendwelche Spekulationsdinger nicht mehr gehen. (Stiftung, E 111–115) Stabilität heißt auch in gesellschaftlich notwendige Dinge und real existierende Dinge zu investieren, ja, und diese Bubble-Geschichten aufmerksamer zu betrachten. (Stiftung, E57) […] Also, es ist tatsächlich so, dass wir, dadurch dass wir dieser Finanzmarktlogik, vor allem auf die Rendite zu schauen und eben nicht werteorientiert und kriteriengeleitet zu investieren … dass uns das im Prinzip vor großen Ausschlägen des Finanzmarkts bewahrt hat, weil wir halt in keiner der Blasen jemals investiert waren. Also, das Wohnprojekt wirft seine drei Prozent oder vier Prozent halt immer noch ab, wenn es … und da ist es egal, ob der subprime market in den USA hopps geht oder nicht. Aber ob sich das skalieren lässt [am] Finanzmarkt […] Es muss Stiftungen geben, die das machen und zeigen, dass es geht. (Stiftung, E59).
In der Divestment-Bewegung wird hier eine Orientierung bei Finanzakteur/innen eingefordert, die „verschiedene gesellschaftliche Wünsche respektiert“ (NGO, FG2D, 33), und dies als wichtige Bedingung für stabilere Finanzmärkte definiert – nämlich insofern es gelingt, dass weitere gesellschaftliche Ansprüche in die Finanzentscheidung einfließen müssen als überwiegend Renditegesichtspunkte. So aktiviert der Frame hier ein demokratisches Argument bei den Akteur/innen, indem sie auf gesellschaftliche Mitbestimmung und Kontrolle bei Investitionen und Kapitalflüssen pochen. Es wirft auch die Frage auf, wer die Prozesse des nachhaltigen De- und (Re-)Investierens letztlich ausgestaltet und definiert. […] ich glaube, um die Finanzmärkte stabiler zu machen, müsste man an den Finanzmärkten eine langfristigere Orientierung verankert bekommen der Akteure. Eine langfristige und eine Orientierung, die halt verschiedene gesellschaftliche Wünsche respektiert. […] Und ich glaube halt auch, dass es ein Umdenken anregt, weil sie … weil Investoren sich grundsätzlich stärker … oder … ihren Stakeholder-Kreis erweitern müssen. Das heißt, Sie müssen … Sie merken auf einmal: Moment mal, meine Investitionsentscheidung … ich muss nicht nur auf meine Renditeverpflichtungen kucken, sondern ich muss … es gibt Gruppen wie Fossil Free oder andere zivilgesellschaftliche Organisationen oder auch die Politik, die da mitmengen wollen, und, glaube ich, das ist auch wichtig und ein Resultat von Divestment. (NGO, FG2D, 33).
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Thesen zu Stabilität und Resilienz: Eine solche ‚gesellschaftliche‘ Orientierung, wie sie nachhaltigem De- und (Re-)Investieren zugeschrieben wird, setzt der Frame in Beziehung mit ihrer potenziell stabilisierenden Wirkung auf das Finanzsystem: indem Finanzmarkthandeln nicht nur wieder stärker an die Realwirtschaft gekoppelt werde, sondern überdies an gesellschaftlich-ökologisch notwendige Bedarfe wie die Dekarbonisierung. Normative Komponenten und das kriteriengeleitete Handeln einer solchen Orientierung könnten demnach einen Weg bieten, besonders riskantes, spekulatives Verhalten zu vermeiden. Eine ‚Demokratisierung‘ der Finanzmärkte erscheint als stabilisierend, da die gesellschaftliche Mitbestimmung von mehr Interessen und Gruppen die isolierte Gewinnorientierung der Eigentümer/innen (Stichwort Shareholder Value) korrigiere und Verhalten besser kontrolliere. Durch diese Perspektive auf das Finanzsystem als Teil des öko-sozialen Ganzen werden verstärkt Auswirkungen von Geld relevant und Geldströme zum Problem: Sind sie in einer reinen Marktlogik schlicht neutral, werden sie hier auch als ‚falsch‘ betrachtet, wenn sie etwa der Gesellschaft schaden. Daher stellen gesellschaftlich-ökologische Gesamtrisiken, die durch den Blick auf die Auswirkungen von Finanzhandeln ersichtlich werden, hier das größere Problem dar als die bloße Stabilisierung des Finanzsystems, das letztlich selbst von diesen betroffen ist.
7.6.4 Frame 4: Investitionen politisieren Im Frame 4 Investitionen politisieren funktioniert Divestment und nachhaltiges (Re-) Investieren über die Ingangsetzung politischer Prozesse: Es entfaltet seine Wirkung nicht unmittelbar finanziell mittels Kapitalumschichtung, sondern delegitimiert die anhaltende öffentliche und private Finanzierung fossiler Geschäftsmodelle als Beitrag zur Klimaerhitzung und als ökonomisch-finanziell destabilisierend. Klima- oder finanzpolitische Maßnahmen sind letztlich Adressat/innen eines wirkungsvollen Divestments, die nicht nur die auf anhaltender Ausbeutung und Verbrennung fossiler Reserven basierenden Geschäftsmodelle und Finanzgeschäfte, sondern auch daraus erwachsene systemische Risiken rechtzeitig abbauen müssen. Diagnose: Den Zusammenhang fortschreitender Klimabelastung und anhaltender Finanzströme in die klimaschädlichsten Unternehmen thematisieren die Akteur/innen hier als ein politisches Problem – die Rede ist von „Politikversagen“ in Abgrenzung zum ‚Marktversagen‘. Divestment adressiert in diesem Frame nicht allein Investor/innen, sondern letztlich die Politik, sich diesem Problem nicht nur zur sukzessiven Umsetzung der Emissionsreduktionsziele, sondern auch den damit entstehenden (systemischen) Finanzrisiken anzunehmen. Weil der direkte politische Einfluss auf Industrie und Investor/innen angesichts von Lobbying und Interessenswidersprüchen vertrackt scheint und nicht ausreichend vorankommt, müssen hier die Widersprüche zwischen Kapitalflüssen und Klimazielen verstärkt zur öffentlich-gesellschaftlichen Debatte werden.
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Ich glaube, wir haben da auf jeden Fall ein Politikversagen, […] das [Signal] kann in dem Fall nur aus einem … aus einem übermarktlichen Bereich kommen aus meiner Sicht, von einem Regulierungsakteur. Und der spielt in Deutschland zu dem Thema leider keine Rolle … wenn man sich überlegt, das Finanzministerium, welche Aufgabe die haben, dann geht’s da schon um effiziente Märkte und Märkte, die Kapital effizient und richtig allozieren. Und dann muss man, glaube ich, definieren, was heißt ‚effizient und richtig‘? Und effizient und richtig kann ja in dem Fall nur heißen, auch in Line mit der Politikvorgabe, und die heißt Zwei-Grad-Ziel, und … so … aber das ist eine Frage, dann … an der Stelle … von Konsistenz und Konsequenz, und die wird an vielen Ebenen unterbrochen oder … nicht gelebt oder gestört. Aber ich glaube persönlich nicht, dass das geheilt wird dadurch, dass wir einen Nischenmarkt haben, wo sich ein paar Akteure sagen „Ich fühle mich hier gut.“ Das kann es immer geben. Das ist auch völlig fein … aber ich glaube nicht, dass das die Brücke logischerweise baut zum Mainstream. (NGO, I78) Der Markt … das ist doch das gewesen, was die Klimakonferenz die ganze Zeit gemacht hat. Bis … in die 2000er rein. Die haben alles Mögliche erfunden, damit der Markt für die fossilen Brennstoffe kaputt gemacht wird. […] Aber das Bemühen war, die Fabriken der Welt arbeiten alle effizienter, und wir verbrauchen weniger Kohlenstoff, und wir erzeugen weniger CO2. Aber das hat doch letztendlich nicht funktioniert. Und dann kam in meiner geschichtlichen Wahrnehmung George Monbiot, dieser englische Journalist, und sagte: „Ladies and Gentlemen, I have got the answer. Wir müssen die Fossilen im Boden lassen.“ Der sagte: „Aber meine Regierung macht genau das Gegenteil. Sie fördert Kohleabbau ohne Ende.“ Damals noch. Hat sich geändert. Und er meinte: „Man muss nicht diese Markt-Seite nehmen, sondern die Angebotsseite. Da muss man ansetzen. Die Regierungen müssen verbieten, dass das Zeug aus dem Boden geholt wird. Dann steigt der Preis für die Energie, und dann wird auch eingespart.“ Wenn wir nur versuchen, einzusparen, aber gleichzeitig Kohle und Öl auf den Markt pumpen wie bescheuert, dann sinkt der Preis von Kohle, Öl und so weiter ja immer weiter, und dann gibt es diesen klassischen Rebound-Effekt. Das bringt überhaupt nichts. Also, die Politik ist gefragt, und die Politik und nur die Politik! Und wenn das Sozialismus genannt wird. (Aktivist, FG2D, 229).
Die erste Aussage problematisiert die verabsäumte Regulierungsaufgabe des Finanzministeriums, die politisch zu definieren habe, was eine ‚effiziente‘ und ‚richtige‘ Kapitalallokation ist. Das klimapolitische Zwei-Grad-Ziel muss dann zu einem Maßstab für funktionierende Finanzmärkte werden und die Regulierung der Finanzmärkte damit die gesellschaftlichen Klima- und Nachhaltigkeitsziele von den Marktakteur/innen einfordern. Prognose: Divestment wird hier als „öffentlicher Prozess“ (NGO, D23) unterstrichen, der, vom zivilgesellschaftlichen Druck von Lokalgruppen angetrieben, eine Debatte um das Anlageverhalten öffentlicher und privater Investor/innen entfacht (siehe dazu auch die prognostische Rahmung D). Die Strategie appelliert an die Verantwortung der Politik als Vermögensverwalterin (z. B. von Pensionsrücklagen) wie als Reguliererin von CO2 und Kapital. Divestment könne Verhaltensregeln am Finanzmarkt nicht flächenwirksam beeinflussen und krisenfester machen. Die im Verhältnis zum globalen Finanzvermögen marginalen Umschichtungen aus fossilen Investitionsobjekten zeigen keine Richtungsänderung an: „[W]enn die Aktienkurse in den Keller gehen … Finanzmarkt … das ist
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immer ein Nullsummenspiel. […] Also, wenn es billig ist, und da gibt’s einen Markt, da kann man Geld mit machen, dann wird’s jemanden geben, der das kauft“ (NGO, FG2D, 213). Und so sind auch die Risiken und Instabilitäten fossiler Vermögen abhängig davon, ob der Ausstieg konsequent und kontinuierlich oder zunächst zögerlich und dann plötzlich erfolgt. Divestment alleine ist natürlich nicht die Lösung, weil … in einem ganz simplen Beispiel, wenn alle Leute sich entscheiden, aus einem Kohleunternehmen Aktien zu verkaufen, das heißt, der Aktienkurs sinkt sehr stark in der Konsequenz und ein polnisches Kohleunternehmen entscheidet sich: „Hm, da gibt es ein deutsches Kohleunternehmen, dessen Aktienkurs ist sehr günstig, das kann ich jetzt aufkaufen und übernehmen.“ Und dadurch verschwindet das deutsche Kohleunternehmen von der Börse, und wir haben gar keine Transparenz mehr in dieses Unternehmen rein. Das ist natürlich dann in der letzten Konsequenz eine Situation, die man auch nicht haben will. Deswegen ist es wichtig, Divestment auch als Signal zu verstehen, also dass der Kapitalmarkt auch an politische Entscheidungsträger signalisiert: Hier, da liegen Risiken vor uns, wir wollen das nicht mehr, und bitte ändert die Rahmenbedingungen, dass diese Unternehmen gezwungen werden, ihre Geschäftsmodelle zu verändern. (NGO, C35).
Das nächste Zitat zeigt, wie in der Bewegung die zunehmende Orientierung am politischen Feld verhandelt wird. Gesetzgebung wie eine CO2-Besteuerung werden für den Umbau der (Finanz-)Wirtschaft notwendig und sogar interviewte Finanzakteur/innen wünschten sich mehr Regulierung des Nachhaltigkeitsthemas – auch wenn die Vorstellungen, wie genau zu regulieren ist, auseinandergehen. Deshalb muss das [Divestment] immer mit einer Bewegung, mit einer medialen Aufmerksamkeit einhergehen, so dass halt auch an die breite Gesellschaft Signale ausgehen, auch an die Politik, und dass die Leute halt Fragen stellen, auch den Politikern gegenüber. Ja, aber das System an sich, das, glaube ich, viele, die in der Bewegung aktiv sind, total in Frage stellen, das, glaube ich, betrachtet man als einen … die dickste Stelle vom Brett, an der man jetzt irgendwie nicht anfangen kann zu bohren, ohne halt dann doch Finanzminister zu sein oder so. [Lacht] Ich meine … oder ich glaube, das ist eben einer der vielen Punkte, an denen sich die Bewegung ja auch gerade weiterentwickelt und neue Felder erschließt mit diesem … also wer ist nämlich der Ansprechpartner. […] Und die Frage ist eben, was kommt als nächstes? Ist es die Politik? Wenn ja, ist das eher Bundesebene oder EU-Ebene? So. Also, das sind halt Fragen, die … letztendlich wünscht man sich, glaube ich, genauso wie die Allianz Regulierung, wobei man sich wahrscheinlich eine andere Art der Regulierung wünscht. Aber letztendlich ist die Politik der nächste Schritt … der Gesetzgebung, CO2-Besteuerung. (Aktivistin, M61).
Eine Divestment-Strategie grenzt sich in dieser Sichtweise davon ab, zum Ersatz für politische Regulierung sowohl in Bezug auf den Klimaschutz als auch in Bezug auf Finanzmärkte zu werden. Staatliches Handeln solle ergänzt und mobilisiert, aber nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Die Aufmerksamkeit des Finanzsektors für aus dem Klimawandel resultierende Finanzrisiken rund um die Klimakonferenz in Paris
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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2015 ergebe ein politisch-historisches Momentum für Divestment als Triebfeder (NGO, FG2D, 82). Sagen wir lieber so, das ist das falsche Instrument. Dazu brauchen wir staatliche Regulierung. Damit … die Finanzkrisen und so, was ich immer verstehe, was ich höre, das ist längst noch nicht ausgestanden. Und die nächste wird auf sich warten lassen, wir wissen nur noch nicht, wann, ja. Also, da denke ich, da kann man allenfalls sagen, wenn wir jetzt noch eine Blase, eine Assetblase kriegen bei den Fossilen, dann ist das nachvollziehbar. […] und natürlich, wenn man wegkommt von diesem Windhundrennen, also diesem schnellen Umsatz und spekulativem Finanzmarktsystem. Aber da ist, denke ich, Divestment ungeeignet. Aber langfristige Investitionen, eine langfristige Politik, die würde den Finanzmarkt stabilisieren. Aber das heißt noch nicht, dass dann die Produktion in die richtige Richtung geht. (Versorgungswerk, J146) […] Nachhaltigkeit [kann] das schon so ein bisschen aufbrechen. Ich glaube halt, dass schon auch dann finanzpolitische Rahmenbedingungen entstehen müssen. Es muss schon regulatorisch auch was passieren, um so diese kurzfristige Denkweise, die ja im Naturell des Menschen irgendwie liegt … das … das aufzubrechen oder den Finanzmarkt zu einer bestimmten Denkweise auch mit zu zwingen. Von daher vielleicht die Brücke über die Regulierung. (NGO, C87).
Die Entscheidungen öffentlicher und privater Institutionen sollen eine Signalwirkung erzeugen, die einen notwendigen (klima-)politischen Wandel antreibt, nicht nur um CO2 und seine Hauptemittenten, sondern auch das Finanzverhalten klimaschonender und sozial-ökologisch zu regulieren. In dieser Rahmung explizieren Akteur/innen, dass Investor/innen ihr Investitionsverhalten nicht freiwillig aus Verantwortungsübernahme heraus verändern, sondern es dazu einer regulatorischen Einbindung bedarf: Regulierungsakteur/innen seien gefordert, ein gegen die rechtzeitige Dekarbonisierung der Wirtschaft spekulierendes System anders zu organisieren. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass die Leute, die an […] Investment-Banking arbeiten und […] für die ist das das Tollste der Welt […], dass die plötzlich erkennen „Ach, also, wir müssen jetzt alle mal irgendwie verantwortungsbewusster handeln.“ Ich glaube, wo das hinführen kann im besten Fall, dass ihnen auf die Finger gehauen wird, und dass von politischer Seite gesagt wird, offensichtlich ist das getragen von einem relevanten Anteil unserer Bevölkerung, dass diese Leute nicht mehr machen können, wie sie wollen, und dafür auch noch belohnt werden. Sondern es gibt einen Rückhalt für Entscheidungen, die dazu führen, dass denen Regulierung auferlegt wird und Regeln auferlegt werden. Das wäre sozusagen, glaube ich, die realistischere und wahrscheinlich auch bessere Lösung. (Aktivistin, M71) […] hier bei diesem Gegenargument, dass einfach Investoren die Aktien kaufen, das stimmt halt. […] Aber ich glaube halt trotzdem, dass die Bewegung … die soziale Bewegung und die Signalwirkung einen Einfluss hat, weil sich dadurch auch, wenn wir genug Assets, wenn wir genug Menschen dazu bringen, da mitzumachen … die Signalwirkung muss halt an die Politik auch gehen. Also, die politischen Rahmenbedingungen müssen sich ändern. Also, die Kohleförderung, die ganzen subsidies, die da bezahlt werden immer noch […] die Politik muss da ein Umdenken bekommen. (NGO, FG2D, 33).
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Thesen zu Stabilität beziehungsweise Resilienz: Die Bewegung könnte hier wirksam werden, indem sie die Finanzierung fossiler Energien radikal delegitimiert und gleichzeitig Investitionen politisiert. Divestment wird in dieser Rahmung zur potenziellen Quelle für bislang fehlenden gesellschaftlichen Druck auf eine Regulierung des Finanzmarkts entlang gesellschaftlich-ökologischer Ziele und Kriterien insbesondere gegen die Klimakrise, was seine Resilienz erhöhen könnte. Fossile (Finanz-)Märkte wären rechtzeitig und kontinuierlich zu dekarbonisieren, allerdings notgedrungen auch zu destabilisieren. Demnach trägt die Mobilisierung auch dazu bei, entsprechende systemische Klima- und Nachhaltigkeitsrisiken im Finanzsystem zu benennen und ihnen durch politische Prozesse vorzubeugen.
7.6.5 Zusammenfassung und Diskussion Der Blick auf die im Feld des Fossil-Fuel-Divestments von den Protagonist/innen gedeuteten Auswirkungen auf die Stabilität beziehungsweise Resilienz des Finanzmarkts zeigt ein Bild, das auf parallele Konfliktlinien und Spannungen zu den Kernaktivitäten der Bewegung verweist. Unsere Analyse unterscheidet vier Frames, die – der heterogenen Struktur des Feldes folgend – unterschiedliche Stabilisierungsbezüge im Zusammenhang mit klima- und nachhaltigkeitsbezogenem Divestment privater und öffentlicher Institutionen herstellen. Zudem gehen wir auf verhandelte Destabilisierungspotenziale und latente Relativierung von Stabilitätseffekten im Diskurs ein. Der erste Frame Klimarisiken reduzieren integriert den Klimawandel und Nachhaltigkeitsaspekte in die finanzielle Risikoanalyse von Investitionen. Indem die klassische Risikosicht um solche ‚schwer monetarisierbaren Aspekte‘ erweitert wird, können die davon ausgehenden finanziellen Risiken berücksichtigt werden, was sich in dieser Sichtweise letztlich stabilisierend auf die Finanzmärkte auswirken könne. Hier funktioniert nachhaltiges (De-)Investieren über eine re-stabilisierte Finanzmarktlogik, die sich – in ihren konventionellen Imperativen und Mechanismen (z. B. Rendite-Risiko-Kalkül) – auf öko-soziale Aspekte ausdehnt. Der zweite Frame Langfristig investieren betont hingegen eine langfristige Orientierung im Fossil-Fuel-Divestment: indem Akteur/innen die kurzfristige Gewinnorientierung bestehender Investitionspraxis als Ursache latenter Instabilität problematisieren und im Fossil-Fuel-Divestment die Beachtung der langfristigen Konsequenzen des eigenen Handelns einfordern, stärke die Bewegung stabilisierende Verhaltenselemente und Maßnahmen. Im dritten Frame Gesellschaftlich orientieren interpretieren Akteur/innen nachhaltiges (De-)Investieren als eine Möglichkeit, Finanzmarkthandeln nicht nur stärker an die Realwirtschaft, sondern dabei an die gesellschaftlichen und ökologischen Bedarfe wie die Klimaziele zu binden. In der hierbei aktivierten Perspektive misst sich die Funktionsfähigkeit und Krisenresistenz von Finanzpraktiken an ihrer Dienstleistung für und Reaktionsfähigkeit auf ihre gesellschaftlich-ökologische Umwelt. Dabei rücken Investitionen, Finanzakteur/innen und Finanzmärkte als Verursacher öko-sozialer Gesamtrisiken in den Fokus, die auch auf das Finanzsystem selbst rückwirken.
7.6 Empirie 2: Divestment und die Stabilität des Finanzmarkts
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Der vierte Frame Investitionen politisieren rekurriert auf die Bewegung als Treiberin der öffentlichen Debatte und von politischem Handeln angesichts der Verschränkung von Klimakrise und Finanzflüssen: sie setze politische Prozesse mit in Gang, was die Regulierung von CO2 und für nachhaltigere und resilientere Finanzmärkte anbelangt. Trotz dieser vier leitenden Rahmungen ist die heterogene Bewegung in der Risikound Stabilitätsfrage keineswegs frei von Spannungen. Im Unterschied zur Bekämpfung des Klimawandels ist der Schutz vor Finanzkrisen oder eine Stabilisierung der Finanzmärkte kein Hauptziel des Divestments und seiner Protagonist/innen, wenngleich es ein für den Diskurs prägendes Element darstellt. Die Befragten relativieren generell die finanzielle Auswirkung von Divestment auf den Finanzmarkt, unter anderem aufgrund noch marginaler Umschichtungen aus dem fossilen Sektor am gesamten Finanzvermögen sowie grundlegenden Mechanismen des Aktienmarkts, in dem die nächsten Investor/ innen die veräußerten Aktien kaufen (vgl. auch Frame 4 Investitionen politisieren). Die verschiedenen involvierten Akteursgruppen verhandeln die potenziell destabilisierende Wirkung klimabezogenen, nachhaltigen Divestments für den Finanzmarkt. Interviewte nennen etwa die Gefahr des Herdentriebs, der, wenn viele Investor/innen innerhalb kurzer Zeit entscheiden, Aktien der fossilen Industrie zu verkaufen, zum Einbrechen der Kurse dieser Unternehmen führen und den Markt destabilisieren könnte. Allerdings wären solche Effekte durch ein Überangebot fossiler Aktien nur dann zu erwarten, wenn Divestment „at scale“, also in einem sehr großen Umfang stattfindet, der bislang nicht in Sicht ist. Es wird bezweifelt, inwieweit eine Destabilisierung des ‚viel zu großen Gegners‘ im Zuge einer solchen Kampagne (allein) überhaupt möglich wäre (Aktivistin, M67). Demnach sehen gerade Aktivist/innen ein solches mit einer Vernichtung von fossilem Vermögen verbundenes Destabilisierungspotenzial nicht nur negativ: Die mögliche Kapitalvernichtung, die durch ein Überangebot entsteht, könnte sich als notwendig für den zum Klimaschutz erforderlichen Strukturwandel erweisen (vgl. z. B. Versorgungswerk, G161; FG2C, 249). Vermögensverluste seien gegebenenfalls nicht zu vermeiden, sollten aber nicht auf Kosten der breiten Bevölkerung beziehungsweise deren Altersvorsorgeanlagen gehen.47 Divestment dient in dieser Lesart schließlich dazu, die fossile Industrie und die fossilen Vermögen am Finanzmarkt zu destabilisieren (Aktivistin, M67). Es bietet die Chance, dass der Finanzmarkt mit seinen gegenwärtigen Dysfunktionalitäten weiter „in seinen klassischen Strukturen erschüttert und hinterfragt“ wird (Aktivistin, FG2C, 216). Finanzprofessionelle sehen teilweise in einer potenziellen Kapitalvernichtung sogar eine Notwendigkeit, den von zu viel Kapital – das nach rentablen Anlagemöglichkeiten sucht – überhitzten Finanzmarkt langfristig resilienter zu gestalten (vgl. Nachhaltigkeitsratingagentur, FG2C, 233, Asset Management FG2C, 241).
47Die
soziale Frage eines radikalen dekarbonisierenden Kapitalabzugs und ökologischen Strukturwandels läuft implizit durch solche Überlegungen mit, wird aber nicht explizit adressiert oder öffentlich verhandelt. Auf diesen Aspekt der Bewegung gehen wir im Fazit näher ein.
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Auf Basis dieser Ergebnisse argumentieren wir, dass die Divestment-Bewegung mit ihrer diagnostisch-prognostischen Deutungsarbeit neue kollektive Risikoperzeptionen am Finanzmarkt im Kontext Klimakrise mit hervorbringt und verbreitet. Ein ökologisch-soziales (Nachhaltigkeits-)Problem wie die globale Erderwärmung und ihre Folgen werden auch zum ökonomisch-finanziellen Risiko, weil erst die gesellschaftliche Debatte und ihr Druck diese mit realisieren. Klimarisiken sind zwar bereits physisch real und naturwissenschaftlich etabliert, aber gerade die wirtschaftlich-finanziellen Folgerisiken hängen auch wesentlich von den mit hohen Unsicherheiten behafteten rechtzeitigen politischen Maßnahmen ab. Entlang der herausgearbeiteten Frames identifizieren wir zwei idealtypische Varianten unterschiedlicher Risikoperzeptionen der Divestment-Protagonist/innen. Sie bilden Deutungskämpfe im Feld ab entlang von Konflikten zwischen – jeweils stärker oder schwächer aktivierter – Nachhaltigkeits- und Marktlogik. (1.) Eine klimaschutz- beziehungsweise nachhaltigkeitsbasierte Risikoperspektive (dargestellt in Grafik A in Abb. 7.1) mobilisiert Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die die interne Risikoproduktion des Investierens in Gestalt öko-sozialer (Klima-)Risiken aber auch systemischer Risiken problematisieren. Stabiles Finanzhandeln wird in seiner Funktion innerhalb des gesellschaftlich-ökologischen Ganzen hinterfragt. Die Frames 2, 3 und 4 transferieren mit der Betonung von Langfristigkeit, gesellschaftlich-ökologischer sowie klimapolitischer Rückbindung bis Regulierung stabilisierende Orientierungen in die Finanzwelt: In Frame 2 Langfristig investieren nehmen Akteur/innen die Zeitlichkeit des Finanzmarkts in den Blick, die stärker an die realen Langfristigkeiten unserer Lebensgrundlagen und -bedarfe (etwa klimaschonende, haltbare Energiequellen und Infrastrukturen) anzupassen sei, auch um sich latent bildende Spekulationsblasen zu vermeiden. In Frame 3 Gesellschaftlich orientieren setzt Divestment daran an, gesellschaftlich-ökologische und systemische Folgeschäden der Finanzpraxis zu beschränken, indem sie an realwirtschaftlichen aber auch gesellschaftlich-ökologischen Bedarfen wie der Klimastabilisierung auszurichten seien. In Frame 4 Investitionen politisieren erhöhe der öffentliche Druck und Protest beim Divestment die Chancen, dem doppelt riskanten Investitionsverhalten klimapolitisch gegenzusteuern. Investor/innen werden jeweils als Risikoproduzent/innen problematisiert: ‚Riskante Investitionen‘ sind demnach nicht nur solche, die sich auf das eigene Vermögen auswirken, sondern solche, die gesamtgesellschaftlich-ökologische sowie systemische Risiken schüren oder verstärken. Im Falle einer breiten Finanzumschichtung aus fossilen Industrien würde diese idealerweise frühzeitig und sukzessive erfolgen. Aber auch im Übergang potenziell destabilisierte fossile Finanzvermögen und -märkte wären eine wohlgelittene Nebenfolge. Im Unterschied dazu fasst eine (2.) erweiterte Risikosicht und -strategie (vgl. Frame 1 Klimarisiken reduzieren) die Klimakrise und Nachhaltigkeitsprobleme mitsamt ihren politischen Maßnahmen als neue externe Risiken, die es als zusätzliche Informationen in das marktlogische Entscheidungskalkül Risiko-Rendite aufzunehmen
7.7 Fazit
343
gilt. Als solche wird sie weiterhin entscheidend vom Wettbewerbs- und Renditedruck getrieben: öko-soziale Klimaaspekte ordnen sich den herrschenden Maßstäben (kurzfristiger Horizont, Gewinne mitnehmen) unter. ‚Monetarisierbare‘, ‚marktfähige‘ Klima- und Nachhaltigkeitsaspekte werden ins Risikomanagement integriert, dieses auf entsprechende Marktveränderungen eingestellt und konventionelle Handlungsmuster dadurch (kurzfristig) stabilisiert (bis hin zu Formen vorläufigen, selektiven Divestments z. B. aus Kohlesektoren).48 Divestment-Diskurse erweitern hier die klassische Risikosicht, aber überwinden noch nicht ihren dominanten Kern der Renditeoptimierung.
7.7 Fazit In diesem Beitrag haben wir zunächst die aktuelle Divestment-Bewegung aus fossilen Energien in ihrer diskursiven Basis oder ‚Sinnpolitik‘ analysiert. Das Fossil-FuelDivestment untersuchten wir dabei nicht vorrangig als Kampagne, sondern in seiner Form als hybride Bewegung und Strategie nachhaltigen Investierens, wie sie sich aus ihrem aktivistisch-zivilgesellschaftlichen und finanzorganisationalen Arm zusammensetzt. Öffentliche und private Investor/innen werden dabei paradoxerweise sowohl zur Zielscheibe und zu Adressat/innen als auch zu Quasi-Aktivist/innen im Kampf gegen die Klimakrise. Im zweiten Teil arbeiteten wir die sich am Fossil-Fuel-Divestment entwickelnden und praktizierten Risiko- und Stabilisierungsdiskurse im Zusammenhang mit der Klima- und Nachhaltigkeits-Berücksichtigung heraus. Empirische Basis sind Fokusgruppendiskussionen und qualitative Interviews mit involvierten Aktivist/ innen, NGOs und (nachhaltigen) Finanzakteur/innen, für deren Auswertung und Analyse uns das bewegungstheoretische Frame-Konzept (Benford und Snow 2000; Snow et al. 1986) sowie die institutionelle Logiken-Perspektive (Thornton et al. 2012) sensibilisierte. Damit näherten wir uns zunächst der Frage nach der Deutungsproduktion dieser Mobilisierung im Kontext der umkämpften Entwicklung einer institutionellen Nachhaltigkeitslogik am Finanzmarkt an und behandelten darauf aufbauend die Frage, inwiefern die Protagonist/innen dabei Beziehungen zwischen klimabezogenem, nachhaltigem (De-)Investieren und Risiken und Stabilisierung im Finanzsystem herstellen. Empirie 1: Kollektive Rahmungen im Feld der Divestment-Bewegung: Die Deutungsrahmen des Fossil-Fuel-Divestments treiben Problemdiagnosen, Lösungsansätze und Beteiligungsmotive zum Zusammenhang Klimawandel und Finanzinvestitionen voran,
48Im Unterschied dazu sehen orthodoxere Ausprägungen marktlogischer Argumente, wie sie im Mainstream (noch) weit verbreitet sind, in einem Ausschluss auf Basis „selektiver“ ökologischer Kriterien vor allem destabilisierende Effekte. Einschränkungen von Investitionsoptionen seien bspw. prinzipiell riskant, fossile Energien lieferten noch einige Jahrzehnte stabile Renditen („Kuh melken solange es geht“).
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die übergreifende Resonanz und Handlungslegitimation bei den klimaaktivistischen und finanzorganisationalen Akteur/innen erzeugen. Dabei changiert der Diskurs zwischen einer Offenlegung von Konflikten sozial-ökologischer Klimaschutzziele mit vorherrschenden Finanzmarktzielen und Versuchen diese ‚aufzulösen‘ beziehungsweise miteinander zu koordinieren. Neue Konfrontationslinien und Allianzbildungen zwischen Klimabewegung und Finanzsphäre und damit verbundene Widersprüche werden deutlich. Der Diagnoserahmen (Profitieren vom ‚Falschen‘) identifiziert die anhaltende Finanzierung klimazerstörerischer Geschäftsmodelle als Bedrohung planetarer und sozial-ökologischer Grenzen – entsprechende (Finanz-)Geschäfte ‚sollten in einer Zwei-Grad-kompatiblen Welt nicht mehr existieren‘. Ökologische Unternehmenskritik weitet sich dabei auf die Rolle der Finanzmärkte als wesentliches Einflussmittel aus.49 In einer zweiten Problemdimension (finanzielle Klimarisiken) übersetzen die Protagonist/ innen hingegen den Klimawandel und CO2-intensive Vermögensbestände in potenzielle Risiken und zur finanziellen Problemstellung, die an den Finanzmärkten via politischer und physischer Konsequenzen über kurz oder lang drohen. Das heißt, zunächst enthält die mobilisierte Problemwahrnehmung eine klimawissenschaftlich-normative Kritik an der konventionellen Profitmaximierungslogik, die auch die NachhaltigkeitsProfessionellen und kommunalen Finanzakteur/innen teilen. Durch die marktrationale Übertragung des Klimaproblems in die Finanzsphäre als Risikogegenstand wird es zudem mit konventioneller Finanzproblematik koordiniert. Im Lösungsframing werden Investor/innen und Finanzmärkte zugleich ‚Teil der Lösung‘ der Klimakrise; und die Finanzierung ein mächtiger Hebel für die rechtzeitige Dekarbonisierung der Wirtschaft sowie ‚Dreh- und Angelpunkt‘ für neue sozial-ökologische Modelle. Besonders die Vorstellungen davon, wie ein Lösungsbeitrag von fossil-freien (De-)Investments und nachhaltigeren Finanzen aussieht, machen auf Deutungskämpfe und zugrundeliegende Logikenkonflikte aufmerksam: Einerseits geht aus der Problematisierung der vorherrschenden Investitionsorientierung an kurzfristiger Renditemaximierung ohne Rücksicht auf externalisierte Kosten an Gesellschaft und Umwelt die Verhandlung der Funktion des Investierens hervor (‚Geld gestaltet die Welt‘), deren gesamtheitliche, langfristige Wirkung für realwirtschaftliche und gesellschaftlich-ökologische Bedarfe zu stärken sei. Der Finanzmarkt und seine gegenwärtigen Imperative werden in diesem Lösungsrahmen selbst Zielscheibe der Veränderung und die Divestment-Strategie ein Beitrag, um mit öffentlichem Druck auch politische Regulierung nicht nur der klimaschädlichen CO2-Wirtschaft, sondern auch schädlicher Finanzflüsse zu befördern. Andererseits wirkt ko-existierend die Rahmung
49Indem die Klimafrage als ökonomische Machtfrage gerahmt wird, enthält Divestment an dieser Stelle implizit eine kapitalmachtkritische Komponente, wodurch Verbindungen zu kapitalismuskritischen Aktivist/innen und Bewegungen entstehen, vgl. z. B. Klein (2015, S. 424–433); oder Solidaritätsbekundungen mit Aktionen von ‚Ende Gelände‘. Die Kritik verbleibt allerdings vorrangig auf der Verhaltensebene, weshalb sich die ‚gute‘ (klimafreundliche) Finanzmacht auch zum Protestinstrument und ökonomischen Hebel für den Klimaschutz wenden lässt.
7.7 Fazit
345
(E), die das ‚Zusammentreffen‘ und die Verbindung der Ziele etwa durch die Aktienkursrelevanz gerade von Klimaaspekten betont, bei der durch die Monetarisierung öko-sozialer Aspekte neue Informationen in die Finanzanalyse und die Optimierung des konventionellen Risiko-Rendite-Kalküls aufgenommen werden sollen. Die Ergebnisse zeigen das Spannungsverhältnis an, das diese Bewegung kennzeichnet: Während sie das Investieren und die Finanzakteur/innen in ihrer Funktion und in ihren Auswirkungen in der Klimakrise problematisiert und gewissermaßen politisiert, werden die Finanzmärkte parallel zu einem Instrument der Dekarbonisierung, gerade ohne sie in ihren Grundmechanismen zu hinterfragen oder zu verändern. Indem Fossil-Fuel-Divestment alternative Deutungs- und Handlungsmuster mobilisiert, die letztlich zur radikalen Beendigung fossiler Finanzgeschäfte aufrufen, werden Investment und Finanzmärkte zum Bestandteil der ökologischen Frage und zum klimapolitischen Problem gerahmt: es legt die Verschränkung von Klimaschutz(-politik) mit globalen Finanzflüssen und gesellschaftspolitisch dysfunktionaler Kapitalallokation offen und fordert deren ‚Funktionieren‘ für reale gesellschaftliche Bedarfe wie die Klimaziele ein. Damit erinnert die Bewegung an die Abhängigkeit der umwelt- und energiepolitischen Ziele von Wirtschafts- und Finanzpolitik. Über den Markt hinausgehend richtet sie sich auch direkt an öffentliche Investor/innen und Regulierungsinstanzen. Die Vermögensbestände und Finanzinteressen von Kommunen, Pensionswerken, Förderbanken an der fossilen Industrie werden in ihrem Widerspruch zu politischen Klimazielen öffentlich gemacht und angeprangert. An Berlin zeigt sich, wie so ein Prozess in Gang gesetzt wurde, in dem die Bundesbank mit dem Aufsetzen eines ethisch-ökologischen Aktienindexes beauftragt wurde, der nun kommunalen Finanzverwaltungen anderer Bundesländer zur Verfügung steht.50 Zwar kann Divestment als zivilgesellschaftliche Gegenbewegung zur Unternehmensmacht verstanden werden (vgl. Soederberg 2009; Soule 2009), wie sie in der fossilen Industrie und ihrer politischen Lobbymacht besonders deutlich wird, aber ihr Verhältnis zur Finanzwelt und ihrer gesellschaftlichen Machtposition bleibt ein ambivalentes: Die Bewegung nutzt und mobilisiert den Finanzmarkt als mächtiges Vehikel für ihre Ziele und bestätigt ihn dabei zugleich in seinen etablierten Instrumenten und Mechanismen.51 Sie übt Kritik am ‚falschen‘, ‚schädlichen‘ Investieren, das tendenziell als Verhaltens-
50https://www.berlin.de/sen/finanzen/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.546128.php, zuletzt abgerufen: 05.12.2019. 51Beim Divestment und den Proponent/innen klimabezogener Finanzpraktiken mischt sich ein aktivistisches wachstumskritisches Lager mit dem pragmatischen Lager grünen Wachstums. Die zivilgesellschaftliche Initiative problematisiert zwar Unternehmensmacht vor dem Hintergrund von Neoliberalisierung und entgrenzten Marktkräften, die die ökologische Krise anheizen; andererseits sucht sie die Machtmittel der neoliberalen Ordnung für die ökologischen Ziele zu nutzen, ohne sie im Kern zu hinterfragen (vgl. zu Thesen eines dynamischen, die ökologische Kritik in sich aufnehmenden Kapitalismus und wie sich Akteure der Kritik verändern Barth (2010). Vgl. zur neoliberalen Vermarktlichung sozialer Gerechtigkeit und deren Protestformen Soederberg (2009, 2010).
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problem und nicht als systemisches Problem des Finanzmarktes gerahmt wird, wodurch Investor/innen wiederum leichter anschließen können. Die Divestment-Strategie ist dabei ein Spiegel der gesellschaftlichen Machtposition von Investor/innen und des Finanzmarkts, die sie nutzen will. An ihr zeigt sich, wie Finanzialisierungsprozesse die Proteststrategien und Handlungsmöglichkeiten der Umwelt- und Klimabewegung prägen und ihre Wahrnehmung der Notwendigkeit, sich auf den Finanzmarkt einzulassen. So zeigen unsere Ergebnisse eben auch, wie das Fossil-Fuel-Divestment die Zweckallianz von Klimaschutz- mit Finanzmarktzielen beziehungsweise ihrer jeweiligen Akteur/innen und Interessen antreibt. Gerade bezüglich der Lösungsangebote zeigt sich die finanzielle Rationalisierung von klimafreundlichem Deinvestieren als ökologisch-ökonomische Win-win-Situation durch alternative, ‚saubere‘ Investitionen in technische, profitable Lösungen in ‚grüneren‘ Wachstumsmärkten, wie zum Beispiel E-Autos oder Bioenergien. Dabei ist für die größeren Bewegungsziele (z. B. radikaler Abbau der Gesamtbelastung von Klima, Ökosystemen und Lebensbedingungen sowie Klimagerechtigkeit) nicht viel gewonnen, wenn sich die Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsberücksichtigung bei Finanzentscheidungen letztlich weiterhin den Imperativen kurzfristiger Gewinnmaximierung unterordnen muss und ökologische und menschliche Ressourcen in fossil-freien Bereichen ausgebeutet werden. Mit der Re-Aktivierung finanzmarktaffirmativer Rahmungen von Investor/innen als ‚Teil der Lösung‘ werden ihre gesellschaftliche Machtposition und die ungleiche Verteilung von Einflussmöglichkeiten selbst entproblematisiert, obwohl die dadurch dominant gewordene Shareholder-Value-Orientierung entscheidend die n icht-nachhaltigen, kurzfristigen, kostenexternalisierenden Unternehmensstrategien mit hervorbringt. Die Rolle der Finanzialisierung beziehungsweise Finanzmarktgetriebenheit der Wirtschaft als Problemursache wird gerade durch die Lösungssuche bei engagierten Aktionär/ innen nicht adressiert, ebenso wenig wie die Grenzen und Widersprüche ‚sauberen‘ Re-Investierens. Aus der Problemdiagnose tendenziell ausgeblendet werden zudem die soziale Frage des ökologischen Strukturwandels und Problemlagen davon betroffener Beschäftigter, die Verschiebung des finanzmarktgetriebenen Renditedrucks in alternative grüne Märkte (z. B. erneuerbare Energien oder sogenannte Bioökonomien) und damit die Kostenexternalisierung in andere Bereiche des öko-sozialen Systems (z. B. Produktionsverhältnisse in Bioenergie-Plantagen, Arbeitsbedingungen in schnell wachsenden Märkten wie der Solarindustrie). Bezogen auf die Entwicklung einer institutionellen Nachhaltigkeitslogik gibt die Untersuchung Einblick in Deutungskämpfe um ihre Übertragung auf das Investieren und Finanzpraktiken. Fossil-Fuel-Divestment stärkt die Nachhaltigkeitslogik über das Feld nachhaltigen Investierens hinaus, stellt aber auch Hybridisierungsangebote für den Mainstream bereit, die von diesem so angeeignet werden können, dass die Marktlogik die Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsziele überwiegend in sich aufnimmt, ohne ihre Hegemonie in den Entscheidungen aufgeben zu müssen. Die Auseinandersetzung darum hat Konsequenzen dafür, ob die Bewegung eher zur Politisierung des Investierens
7.7 Fazit
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beiträgt und zu einer nachhaltigkeitsbasierten politischen Einhegung der Finanzmärkte mobilisiert, oder ob sie nicht vielmehr ihre eigenen Ziele beschneidet und den Investor/ innen vor allem Legitimationsgewinne verschafft. Bemerkenswert sind die Übersetzungsleistungen (insbesondere beteiligter NGOs), in denen die Klimaproblematik und Klimawissenschaften in die Finanzsphäre und ihre Codes übertragen werden. In den Erzählungen und Erfahrungen der Interviewten zeigt sich, wie eine hybride Sichtweise auf das Deinvestieren aus nachhaltigkeitslogischen und marktlogischen Versatzstücken entsteht. Empirie 2: Divestment und Finanzstabilität: Obwohl nicht Hauptanliegen der Divestment-Bewegung, nimmt die Verhandlung von Klimawandel und fossilen Finanzinvestitionen als Stabilitätsrisiko eine wichtige Rolle in ihrer Dynamik ein. Die parallele Erfahrung einer sich verschärfenden Klimakrise mit jener krisenhafter Finanzmärkte erhöht die Aufmerksamkeit. Beteiligte Aktivist/innen, NGOs sowie Finanzakteur/ innen aus dem Nachhaltigkeitssegment mobilisieren mit ihrer Problemdiagnostik und Prognostik veränderte Risikosichtweisen und -praktiken. Das in Teil 1 herausgearbeitete Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in unterschiedlichen Perspektiven auf Risiken und Risikoresilienz im Zusammenhang mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit wider: Einerseits treten (institutionelle) Investor/innen als Produzent/innen gesellschaftlich-ökologischer Risiken ins Bewusstsein, die über kurz oder lang einzeln wie systemisch auch an den Finanzmärkten schlagend werden. Andererseits speist das Divestment modifiziert als marktkonforme klimainformierte Risikostrategie die monetarisierbaren klimabezogenen Investitionsrisiken ins gewohnte Kalkül ein. Während in Frame 1 Klimarisiken reduzieren – entsprechend letzterer Risikosichtweise – die Klimarisiken als extern verursacht gesehen und dann gemanagt werden, wenn sie sich monetarisieren, rückt Frame 3 Gesellschaftlich orientieren den internen Beitrag zur Verursachung von gesellschaftlich-ökologischen Schäden und Risiken ins Blickfeld der Akteur/innen, die letztlich auf das Finanzsystem zurückwirken. Bei Frame 1 wird der Klimawandel zur Bedrohung fossiler Vermögen und zum Stabilitätsrisiko erklärt, wo sich mittels Transparenz von Klimainformationen die Preisbildung und Risikoresilienz der Anlagen verbessere – tendenziell bearbeitet in dieser Sichtweise der Markt die Klimarisiken und stabilisiert sich damit scheinbar selbst. Diese Fraktion läuft Gefahr, Divestment und Nachhaltigkeit auf konventionelles Risikomanagement entsprechend ihrer kurzfristigen Aktienrelevanz zu reduzieren. Bei Frame 3 Gesellschaftlich orientieren setzt hingegen eine Reflexion über die menschengemachte Auslagerung von Risiken (Risikoexternalisierung) durch Investor/innen und Finanzmärkte an die öko-sozialen Systeme ein; Fossil-Fuel-Divestment fordert diese über die Realwirtschaft hinaus an gesellschaftlich-ökologische Bedarfe wie der Zwei-Grad-Eindämmung der Erderwärmung zu binden. Frame 2 Langfristig investieren betont die Zeitdimension und Frame 4 Investitionen politisieren die politische Dimension einer klimaschutzbasierten Stabilitätsperspektive: die Zeithorizonte von Finanzmarkt und K lima(-zielen)/Öko-
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systemen konfligieren fundamental. Investitionen müssten statt ‚gegen die Zukunft zu spekulieren‘ (z. B. das Kohlegeschäft aufzublähen) langfristig tragfähige Energiesysteme finanzieren. Im Gegensatz zur Marktstrategie ist es in Frame 4 Investitionen politisieren vor allem der politische Protest, der mit Druck auf Nachhaltigkeitsregeln zugleich die politische Risikoregulierung im Finanzsystem vorantreiben könnte. Indem die Divestment-Bewegung ein Risikoproblem für Finanzentscheidungen im Kontext der Klimakrise thematisiert, erzeugt sie gesellschaftlichen Druck auch auf jene ungewissen politischen Klimamaßnahmen, von denen die Klima- und Nachhaltigkeitsrisiken selbst entscheidend mit abhängen.52 NGOs und Aktivist/innen übersetzen die aktuelle Klimaforschung in ökonomisch-finanzielle Risiken an den Finanzmärkten (insb. Carbon Tracker als Initiative von Finanzanalyst/innen mit dem Konzept der Kohlenstoffblase (vgl. Gunningham 2017). Finanzakteur/innen aus dem Nachhaltigkeitsfeld, aber bis in den Mainstream hinein, ko-produzieren diesen Diskurs, sodass sogar ein Großinvestor wie BlackRock vor der Divestment-Bewegung als einem ‚sozialen Kanal‘ für Klimarisiken warnt. Gerahmt als Finanzstabilitätsthema werden Klimarisiken zudem zum politischen Verantwortungsbereich erklärt und gelangen auf die Agenda von EZB, Bundesund EU-Finanzpolitik (z. B. EU-Pensionsfondsrichtlinie IORP II als „Erfolg für Divestment“53), die angehalten sind sich zur Klimakrise zu verhalten. Ohne über ausreichenden gesellschaftlichen Druck auf den verschiedenen politischen Ebenen (z. B. Städte, Bund, EU) Verhaltensänderungen der Kapitalmarktakteur/innen zu erzwingen, ist derzeit bei der Masse der Akteur/innen bislang weder ein öko-soziales Bewusstsein noch eine Klimarisikostrategie als treibende Leitorientierung hin zur Dekarbonisierung absehbar. Für die weitere Entwicklung der Bewegung ökologischer Finanzumschichtung zeichnet sich ab, dass bisherige Abwehrdiskurse etwa einer möglichst soften Transformation ohne wirtschaftliche Strukturbrüche und Verluste für die deutsche Industrie angesichts bislang deutlich verfehlter CO2-Reduktionsziele zunehmend delegitimiert werden könnten. Vielmehr ist absehbar, dass Klimamaßnahmen immer radikaler und disruptiver für Wirtschaft und Finanzmärkte ausfallen müssen, je länger sie hinausgezögert werden, damit EU-rechtlich vereinbarte Klimaziele einzuhalten sind. Das doppelte Risikoargument einer Verschränkung von Klima- und Finanzkrise könnte der Bewegung daher zukünftig Aufwind geben. Die Schlagkraft einer finanzkritischen Klimabewegung hängt zudem von ihrer gesellschaftlichen Breite ab, weshalb ihre Sozialstruktur und die Rolle der sozialen Frage zu untersuchen wären. Entsprechend des hier empirisch herausgearbeiteten Spannungsverhältnisses muss sich noch zeigen, ob Divestment eher eine sozial-ökologische Transformation des Finanzwesens mit antreibt und mit zivil-
52Mit
dem Slogan „Wir sind das Investitionsrisiko“ setzten die Klimaaktivist/innen von ‚Ende Gelände‘ in einer ihrer Kampagnen zivilen Ungehorsams im Lausitzer Braunkohlerevier 2016 – während des Verkaufsprozesses durch Vattenfall – ihre Körper selbst ein, um ökonomische Wertverluste und Risiko für die nächsten Investor/innen zu realisieren. 53https://sven-giegold.de/erfolg-fuer-divestment/, zuletzt abgerufen am 21.08.2019.
Literatur
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8
Nachhaltigkeitsverständnisse in der finanzialisierten Altersvorsorge Agnes Fessler und Sebastian Nagel
Inhaltsverzeichnis 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung und Auswirkungen auf Risiken und Instabilitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Die Entwicklung der Altersvorsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Finanzialisierung der Alterssicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Leitbild Nachhaltigkeit trifft kapitalgedeckte Rente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Entwicklungen, Rahmenbedingungen und typische Instrumente. . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Kritik und Forderungen aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Nachhaltigkeitsverständnis vor dem Hintergrund koexistierender institutioneller Logiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse in der kapitalgedeckten Altersvorsorge. . . . . . . 8.6.1 Praktisch-materielle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Symbolisch-diskursive Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Diskussion und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356 360 360 364 367 367 368 372 373 377 379 379 381 388 391
Zusammenfassung
Die Altersvorsorge war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vom sogenannten Ein-Säulen-Modell geprägt. Mit der Rentenreform im Jahr 2001 wurde es durch ein Mehr-Ebenen-Modell ersetzt, in dem die private kapitalgedeckte Rente gesetzlich und steuerlich gefördert wird. Mit den neu geförderten und regulierten Formen privater Vorsorge wurde ein neuer bzw. erweiterter Markt für Altersvorsorge geschaffen. Ziel dieses Beitrags ist es, die Nachhaltigkeitsverständnisse der
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_8
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
Finanzdienstleister/innen in diesem Bereich zu rekonstruieren. Wir untersuchen, wie Nachhaltigkeit bei privaten Altersvorsorge-Produkten am Finanzmarkt von den Anbieter/innen nachhaltiger Anlagen gestaltet wird und dabei die diskursiven Argumentationsmuster und praktischen Implikationen bestimmte vorherrschende Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen der Akteur/innen und des Feldes widerspiegeln. Diese symbolischen und praktischen Konstruktionselemente von Nachhaltigkeit bei der finanzialisierten Altersvorsorge arbeiten wir exemplarisch in einer empirischen Untersuchung auf Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen heraus. Darauf aufbauend beleuchten wir das Verhältnis ‚nachhaltiger‘, finanzialisierter Altersvorsorge zu (In-)Stabilität und Risiken am Finanzmarkt.
8.1 Einleitung1 Mit der UN-Konferenz 1992 in Rio de Janeiro wurde Nachhaltigkeit zum gesellschaftlichen Leitbild erklärt. Es hat bis heute nicht an seiner Strahlkraft eingebüßt und sich in einer beachtlichen Breite an Organisationen und organisationalen Feldern etabliert. Am Finanzmarkt war Nachhaltigkeit lange Zeit kein besonders beachteter Gegenstand, gewinnt aber in den letzten Jahren stark an Aufmerksamkeit – auch im Lichte zunehmender öffentlicher Wahrnehmung des Klimawandels, Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen entlang globaler Wertschöpfungsketten oder spekulativer Anlagepraktiken vor allem auf Rohstoff- und Immobilienmärkten und insbesondere seit der Finanzkrise 2007/2008. Zum einen veröffentlichen Banken, Versicherungen und andere Finanzunternehmen Nachhaltigkeitsberichte, zum anderen entwickelten sich eigens Organisationen und Finanzinstrumente (z. B. Anlageformen, Finanzprodukte), die Nachhaltigkeitsziele verfolgen und neben finanziellen auch nicht-finanzielle, wie soziale, ökologische oder ethische Kriterien berücksichtigen. Das nachhaltige Finanzmarktsegment nimmt anteilig am gesamten Finanzvolumen noch immer eine Nischenstellung ein, dennoch finden sich bei allen größeren Finanzunternehmen heute Nachhaltigkeitsabteilungen oder entsprechende Produkte.
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin und dem Autor. Redaktionsschluss des Beitrags war November 2015, weshalb Forschungsstand und Empirie im Wesentlichen die Dynamiken bis zu diesem Zeitpunkt rekonstruieren. Wo es sinngemäß möglich oder notwendig war, wurden Daten und Quellen aktualisiert.
8.1 Einleitung
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International gehören institutionelle Investoren wie Pensionsfonds und Versicherungen zu den zentralen Akteur/innen des nachhaltigen Investierens.2 Neben universitären Stiftungsfonds und kirchlichen Einrichtungen sind sie in den USA die größten Triebkräfte dieses Segments (Hiß 2011). In Deutschland folgen auf kirchliche und Wohlfahrtseinrichtungen als deutliche Vorreiter, Versicherungsunternehmen an nächster Stelle unter den institutionellen Investoren mit Nachhaltigkeitsstrategien (FNG 2019, S. 16). Verwalter von Altersvorsorge-Vermögen (z. B. Versicherungen, Pensionsfonds, Pensionskassen) haben auf den globalen Finanzmärkten von den Teilprivatisierungen der Alterssicherungssysteme in den letzten Jahrzehnten profitiert. Insbesondere an Pensionsfonds wird der gestiegene Einfluss auf globaler Ebene sichtbar: Gemeinsam halten sie mehr als ein Viertel der Aktien börsennotierter Unternehmen weltweit (Vitols 2011).3 In Deutschland spielt diese – erst seit 2001 zugelassene – Organisationsform kapitalgedeckter Altersvorsorge jedoch noch eine vergleichsweise geringe Rolle, nimmt allerdings an Bedeutung zu, insbesondere in Form von betrieblichen Pensionsfonds.4 Am häufigsten wird die geförderte zusätzliche private Altersvorsorge (Riester-Renten-Verträge) in Deutschland derzeit über Versicherungen beziehungsweise Versicherungsverträge abgeschlossen (BMAS 2019). Im Marktsegment staatlich geförderter Altersvorsorge werden Milliardensummen bewegt; allein im Jahr 2015 betrug das Volumen der Gesamtbeiträge (Eigenbeiträge plus Zulagen) über 11 Mrd. EUR (BMF 2018, S. 9). Im selben Jahr wurden bislang rund 16 Millionen private Riester-Verträge abgeschlossen.5 Einerseits wird die geförderte kapitalgedeckte Altersvorsorge dabei in Teilen des politischen Diskurses und insbesondere seitens der Finanz- und Versicherungsindustrie als eine Chance für die Bevölkerung dargestellt, Zugang zum Aktienmarkt zu bekommen und Privatvermögen aufzubauen. Kleinanleger/innen sollen im Rahmen der Altersvorsorge auf diese Weise vom Wirtschaftswachstum profitieren und das – aufgrund des
2Zur
Entwicklung und Bedeutungszunahme großer institutioneller Investoren – u. a. hervorgebracht durch die Privatisierungen von Altersvorsorge-Systemen – als eine Bedingung und Erklärung für die Herausbildung und Verbreitung von nachhaltigen Investitions-Strategien, insbesondere in den angelsächsischen Ländern, vgl. Soederberg (2010). 3Für 2017 ergeben eigene Schätzungen auf Basis der Daten von Weltbank und OECD zum globalen Aktienvermögen (https://data.worldbank.org/indicator/CM.MKT.LCAP.CD, zuletzt abgerufen: 21.02.2020) und P ensionsfonds-Anlagen (https://www.oecd.org/daf/fin/privatepensions/Pension-Funds-in-Figures-2018.pdf, zuletzt abgerufen: 21.02.2020) ein ähnliches Bild von ca. 20 % weltweiter Unternehmensaktien, die von Pensionsfonds der OECD gehalten werden. 4Zum Beispiel der MetallRente Pensionsfonds für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie. 5Zu berücksichtigen ist, dass eine Person mehrere Verträge abschließen kann und zwischenzeitliche Vertragskündigungen nicht exakt erfasst sind. Der Anteil ruhend gestellter Verträge schätzt das BMAS auf rund ein Fünftel. Der aus den Daten hervorgehende starke Anstieg an Riester-Verträgen bis 2011 flacht danach deutlich ab und mittlerweile stagnieren die Zahlen (BMAS 2019).
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
potenziell langen Anlagehorizonts – ohne zu großen Kursschwankungen und dauerhaften Verlusten ausgesetzt zu sein. So geht mit der kapitalgedeckten Altersvorsorge zugleich die Hoffnung einher, die Möglichkeit langfristiger und stabiler Geldanlagen zu befördern. Andererseits wurde deutlich, mit welchen Risiken die privatisierte kapitalgedeckte Altersvorsorge verbunden ist. Sie gilt als Leidtragende der Instabilitäten der Finanzmärkte und zugleich selbst als Krisentreiberin. Regelmäßig wiederkehrende Kurs- und Zinsschwankungen sowie Verwerfungen an den Finanzmärkten sind gerade für langfristig zu planende Vorsorgeleistungen und die Gewährleistung von Generationengerechtigkeit ein Problem (Joebges et al. 2012). Die mit den Teilprivatisierungen angewachsenen Finanzvermögen trugen zum Anschwellen der Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten und zum verschärften Wettbewerb von rentable Anlagemöglichkeiten suchendem Kapital bei, was zunehmend riskante, kurzfristig gewinnoptimierende Praktiken und Finanzinstrumente mit hervorgebracht hat (Christen 2013; Huffschmid 2002). Der allgemeine Ausbau kapitalgedeckter Vorsorgesysteme gilt daher auch als eine Triebfeder für die Zunahme systemischer Instabilität. Aktuell niedrige Zinsen erschweren das Ansparen fürs Alter mit konventionellen Instrumenten (z. B. Banksparpläne, Anleihen) und steigern die Abhängigkeit von Aktienanlagen mit höheren Renditeerwartungen unter Inkaufnahme von höheren Risiken. Mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung wurden neue Anreize und Normen geschaffen, das Alterseinkommen zusätzlich mit Finanzprodukten abzusichern. Neue gesellschaftliche Gruppen und ihr Vermögen sind an die Finanzmärkte angeschlossen.6 Versicherungen investieren die Beiträge aus den (Riester-)Renten in verschiedene Vermögensbestände und Kapitalanlagen, in fondsgebundenen Produkten fließt das Geld in Investmentfonds, das heißt in Unternehmensaktien, Anleihen, Währungen, andere Fonds oder Derivate.7 Es gelangen Milliardenvermögen an die Finanzmärkte, bei denen weitgehend unhinterfragt und unkontrolliert bleibt, wie die neuen Renteneinkommen erwirtschaftet werden. Die staatlich geförderte Beteiligung an Unternehmen mit problematischen Geschäftspraktiken und die Abhängigkeit von deren Renditen rücken durch Recherchen von Nichtregierungsorganisationen und Medien in die gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Mit der finanzialisierten Altersvorsorge ergeben sich daher auch verstärkt Fragen nach Sicherheit, Stabilität und dem Umgang mit Risiken am Finanzmarkt; zugleich ergeben sich Fragen aus Zivilgesellschaft und Politik danach, wohin die Beiträge fließen (sollen). Nachhaltiges Investieren erscheint in beide Richtungen Legitimität und
6Vermögenslose
gesellschaftliche Gruppen bleiben weiterhin davon ausgeschlossen. in Zeiten niedriger Zinsen, wo keine relevante Verzinsung garantiert werden kann, wird es attraktiver beziehungsweise entsteht der Druck, solche Varianten mit Chancen auf höhere Renditen zu wählen.
7Gerade
8.1 Einleitung
359
nknüpfungspunkte zu bieten. Indem es als Strategie verstanden wird, mit der mehr A Langfristigkeit Einzug halten und öko-soziale Schäden durch zunehmende Marktexzesse beschränkt werden sollen (Soederberg 2009), wird Nachhaltigkeit gerade im Bereich der Altersvorsorge auch zunehmend als Möglichkeit verstanden, Risiken zu minimieren und Finanzpraktiken zu stabilisieren. In einem verunsicherten Marktumfeld, angesichts der Schwierigkeiten einer kapitalmarktabhängigen Altersvorsorge und im Lichte der nachhaltigen Anlagen zugeschriebenen Charakteristika, die bisherige Orientierungen aufbrechen und Potential für Risikoprävention bieten könnten, rückt das nachhaltige Investieren gerade in diesem Teil des Finanzmarkts stärker in den Fokus. In die gleiche Richtung zielen Forderungen, dass staatliche Einflussmöglichkeiten auf Investitionsentscheidungen gerade bei der Altersvorsorge ausgebaut werden können, um Finanzmittel stärker in Hinblick auf sozial-ökologische Konsequenzen zu lenken (vgl. beispielsweise die Verbraucherzentrale Bremen (2016, S. 6) oder die aktuelle EU-Richtlinie für betriebliche Altersvorsorgeeinrichtungen und Pensionsfonds (IORP II), mit der seit 2019 jährlich die Berücksichtigung von ökologischen, sozialen und Governance-Kriterien (ESG) offenzulegen ist).8 Wir betrachten in diesem Beitrag zunächst diese Entwicklungen einer Finanzialisierung der Alterssicherung, diskutieren ihre Auswirkungen, insbesondere in Hinblick auf Risiken und Instabilitäten, und argumentieren dabei zudem, dass Nachhaltigkeitsstrategien am Finanzmarkt für Altersvorsorge auch dadurch mit herausgefordert oder begünstigt wurden. Mit einem Einblick in die Empirie des Finanzmarktsegments nachhaltiger Altersvorsorge zeigen wir anschließend auf, wie sich die Nachhaltigkeitsverständnisse der Altersvorsorgeanbieter/innen darstellen und inwiefern sie auf Probleme der kapitalgedeckten Altersvorsorge reagieren. Die Prämisse unserer Forschung ist, dass sich am Finanzmarkt – parallel zu anderen organisationalen Feldern bis hin zur Gesellschaft als Ganze – eine neue institutionelle Logik der Nachhaltigkeit etabliert, die in ihrer Entstehung und Entwicklung umkämpft ist (vgl. den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Wir gehen davon aus, dass mit Nachhaltigkeit eine neue, die Symbole und Praktiken nachhaltigen Investierens beeinflussende institutionelle Logik auf den Finanzmarkt gelangt, die diesen verändert oder zumindest die herkömmliche Marktlogik irritiert. Die Veranlagung finanzmarktbasierter Altersvorsorge bietet zur Betrachtung dieser Irritationen einen interessanten Fall, denn aufgrund der Ansammlung und Auszahlung von Rentengeldern für das Alter entstehen potentiell langfristige Anlagemöglichkeiten. Risiken am Finanzmarkt langfristig zu berücksichtigen erscheint daher für Versicherungen, Pensionsfonds und andere Verwalter/innen von Pensionsgeldern besonders wichtig. Dennoch sind diese Anlagen
8Richtlinie
2016/2341 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV) vom 14. Dezember 2016.
360
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
einer im Feld dominierenden (Finanz-)Marktlogik mit Renditedruck und kurzfristigen Erfolgsmaßstäben nicht entzogen, was in der Ausgestaltung von Nachhaltigkeit im Feld unweigerlich zu Konflikten führt (siehe zum Verhältnis institutioneller Logiken den Beitrag Griese, Nagel und Hiß in diesem Band). Konkret widmen wir uns in diesem Beitrag zunächst im Lichte der Finanzialisierungsdebatte der Genese der finanzmarktbasierten Altersvorsorge in Deutschland und den damit verbundenen Zielen und Konsequenzen. Wir skizzieren anschließend die Entwicklung und Landschaft der nachhaltigen Altersvorsorge in Deutschland. Mithilfe eines exemplarischen Einblicks in die Empirie rekonstruieren wir, welche Rolle und welches Verständnis von Nachhaltigkeit sich in den Altersvorsorge-Produkten der untersuchten Organisationen findet. Welche diskursiven Muster finden sich im Feld der nachhaltigen Altersvorsorge? Wie werden die unterschiedlichen Legitimitätserfordernisse bearbeitet? Wir diskutieren abschließend die Ergebnisse.
8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung und Auswirkungen auf Risiken und Instabilitäten 8.2.1 Die Entwicklung der Altersvorsorge Die Altersvorsorge war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vom sogenannten Ein-Säulen-Modell geprägt. Mit der Einführung des umlagefinanzierten, staatlich organisierten Systems der Alterssicherung im Jahr 1957 wurde die gesetzliche Rente zur lebensstandardsichernden ersten Säule ausgebaut (Berner et al. 2009, S. 61). Insbesondere die Erfahrungen von Finanzkrisen, Inflation und zwei Weltkriegen und damit einhergehender Verluste und Instabilitäten ließen das Kapitaldeckungsverfahren, das dem ursprünglichen System der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland bis 1957 zugrunde lag, – zumindest vorerst – als Option in weite Ferne rücken (Ribhegge 1999). Die private Altersvorsorge etwa über Fonds, Immobilien oder Lebensversicherungen hatte sich typischerweise auf Selbstständige und Vermögende beschränkt (Frericks 2012). Mit der Rentenreform im Jahr 2001 wurde mit dem lange Zeit gültigen Alterssicherungssystem gebrochen: Das Ein-Säulen-Modell wurde durch ein Mehr-Ebenen-Modell ersetzt (Berner et al. 2009), in dem die private kapitalgedeckte Rente unter dem Stichwort Riester-9 und Rürup-Rente gesetzlich und steuerlich gefördert wird und letztlich zum fixen Bestandteil einer neuen ‚Altersvorsorge-Norm‘ geworden ist. Die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge sollte als politisch geförderte Kompensation der abgesenkten gesetzlichen Rente von einer Randerscheinung zur notwendigen Ergänzung für eine adäquate Rente werden (Schmähl 2012, S. 393). Das
9Benannt
nach dem damals zuständigen SPD-Arbeitsminister Walter Riester.
8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung
361
Primärziel der Rentenreform bestand aufgrund der demographischen Entwicklung einer ‚überalternden Gesellschaft‘ darin, die Entwicklung des Beitragssatzes von Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen der gesetzlichen Rente zu stabilisieren und weniger darin, weiterhin den Lebensstandard im Alter zu sichern (Berner et al. 2009; Joebges et al. 2012). Im Zentrum des Reformpakets standen zum einen die Kürzungen der gesetzlichen Rente, vor allem durch eine Begrenzung des Beitragssatzes, aber auch durch gestrichene oder gekürzte Anrechnungsmöglichkeiten von Erziehungs- und Pflegezeiten, Phasen der Arbeitslosigkeit, Berufsausbildung oder Studium, und zum anderen die Einführung der sogenannten Riester-Rente. Im Rahmen dieser Alterssicherung sollten die Beschäftigten nun entweder individuell oder betrieblich – jährlich idealerweise vier Prozent ihres Bruttolohns – ansparen und zwar mit Steuererleichterungen und Zuschüssen abhängig von Familienstand und Einkommen (Christen 2012). Es kam so zu einer Institutionalisierung privater Vermögensbildung am Finanzmarkt mit dem Zweck der Alterssicherung (Berner et al. 2009, S. 68), für die die Finanzindustrie eigens neue, auf die Altersvorsorge zugeschnittene Produkte und Anlagemöglichkeiten entwickelte: zum Beispiel fondsgebundene Rentenversicherungen und Pensionsfonds. Angesichts ihrer dynamischen Entwicklungen in den 1990er Jahre herrschte eine allgemeine Euphorie gegenüber den Finanzmärkten, was auch die Hoffnungen in eine kapitalgedeckte Altersvorsorge befeuerte. Dem teilweisen Umstieg zur Kapitaldeckung wurden höhere Renditen prophezeit als im Umlageverfahren zu erzielen waren (vgl. Joebges et al. 2012; Orszag und Stiglitz 1999; World Bank 1994). Die große Überzeugungskraft einer finanzmarktbasierten Altersvorsorge wurde auch von der damals verbreiteten These der gesamtwirtschaftlichen Effizienz der Finanzmärkte „für die Kapitalbildung, Finanzierung von Investitionen und somit Generierung von Wirtschaftsdynamik“ genährt (Christen 2012, S. 28 f.). Gleichzeitig hatte die Finanzindustrie selbst handfeste ökonomische Interessen an einer Teilprivatisierung der Alterssicherung, weil sie sich als Anbieter/innen auf Märkten für Vorsorgeprodukte Umsätze und Gewinne in Milliardenhöhe versprach. So gab es seitens Versicherungsunternehmen, Fondsgesellschaften und Banken starke Stimmen der Befürwortung der Rentenumstellung. Innerhalb der politischen Kursänderung, die allgemein auf die Verringerung von Lohnnebenkosten und des Staatsdefizits zum Erhalt internationaler Wettbewerbsfähigkeit abzielte (Christen 2012, S. 30), war die Teilprivatisierung der Alterssicherung – einhergehend mit einer Arbeitgeber/innen-Entlastung und Subventionierung der Finanzdienstleister/innen – ein zweiter Grundpfeiler neben der Deregulierung von Arbeits- und Finanzmärkten. Mit den neu geförderten und regulierten Formen privater Vorsorge wurde ein neuer beziehungsweise erweiterter Markt für Altersvorsorge geschaffen (Berner et al. 2009). Als Zentrum dieses neuen Altersvorsorgemarkts gelten die geförderten, zertifizierten und teilweise erst mit der Rentenreform eingeführten Vorsorgeprodukte (Berner et al. 2009): Riester-Rente, Basisrente, Pensionsfonds, Pensionskassen und Direktversicherung; daneben gibt es auch weiterhin die nicht-geförderten privaten Altersvorsorge-Produkte. Die geförderte kapitalmarktabhängige Altersvorsorge wird sowohl als sogenannte
362
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
individuell-private Form (d. h. direkter Erwerb von Altersvorsorge-Produkten), als auch in der betrieblichen Variante (z. B. indirekt über Verträge mit der Arbeitgeber/innenSeite, etwa für Betriebsrenten-Pensionsfonds) abgewickelt, staatlich zertifiziert und gefördert. Die individuell-private Altersvorsorge wird dabei von Versicherungsunternehmen, Fondsgesellschaften und Banken und die betriebliche Altersvorsorge von Versicherungsunternehmen, Pensionsfonds und Pensionskassen angeboten (Berner et al. 2009). Insbesondere erstere, meist als private Altersvorsorge bezeichnet, setzt auf das Prinzip der Freiwilligkeit: Wer möchte und kann, schließt Lebens- oder Rentenversicherungen ab und zahlt regelmäßig Beiträge. Die privaten wie betrieblichen Produkte müssen zwar, um für Zulagen und Steuerbegünstigung förderfähig zu sein, bestimmten Kriterien entsprechen, die öffentliche Hand mischt sich aber nicht in die Veranlagung der angesparten Gelder ein beziehungsweise hat keine Kenntnisse darüber. (Förderfähige) private Altersvorsorge-Produkte sind: klassische Rentenversicherungen, fondsgebundene Varianten, Riester-Fondsparpläne, R iester-Banksparpläne sowie die Wohn-Riester-Rente. Es existierten 2015 rund 16 Mio. Riester-Verträge (BMAS 2019): Den größten Anteil machen geförderte (Lebens-)Versicherungsverträge aus (67,1 %), während Banksparverträge (5,0 %), Investmentfondsverträge (18,9 %) und Wohn-Riester-Verträge (9,0 %) weniger verbreitet sind (Bäcker und Kistler 2016b). Der anfänglich starke Anstieg der geförderten privaten Altersvorsorge hielt bis 2011 an, danach zeigen die Daten ein deutliches Abflachen der Entwicklung und mittlerweile ist die Zahl der Verträge stagnierend bis leicht rückläufig (BMAS 2019).10 Im Verhältnis haben Investmentfondsverträge vor dem Hintergrund des Zinstiefs im Laufe der Zeit an Bedeutung gewonnen (BMAS 2019). Trotz ihrer Dominanz werden gerade Rentenversicherungen, ob klassisch oder fondsgebunden, unter anderem von Verbraucherzentralen kritisch betrachtet, unter anderem wegen der hohen Abschluss- und Verwaltungskosten, ihrer mangelnden Flexibilität, geringen Netto-Renditen oder den Risiken, Verluste zu erleiden (Verbraucherzentrale Hamburg 2017; Wels und Rieckhoff 2015). Allgemein unterscheiden sich Versicherungen gegenüber einer reinen Vermögensbildung und Ansparung einer möglichst hohen Kapitalsumme, auf die sich Sparpläne und Fondssparpläne fokussieren, durch das versicherungsmathematische Kalkulieren und Ausgleichen sogenannter biometrischer Risiken (Bäcker und Kistler 2016a). Bei einer privaten Rentenversicherung zahlen die Vorsorgenden üblicherweise im jüngeren und mittleren Lebensalter regelmäßige Beiträge (Prämien) und erhalten ab einer vereinbarten Altersgrenze eine monatliche Rente – und zwar bis zum Lebensende, wodurch
10Der
Anspruch des Umbaus hin zur privaten Zusatzvorsorge, die sinkenden gesetzlichen Rentenleistungen zu ersetzen, wurde angesichts dessen, dass die Anspruchsberechtigten mehrheitlich keine Riester-Verträge abgeschlossen haben, nicht erfüllt (Bäcker und Kistler 2016b). Die Bedeutung der geförderten betrieblichen Altersvorsorge (v. a. mittels Entgeltumwandlung) als Zusatzsicherung für Arbeitnehmer/innen sei angesichts der allgemein unzureichenden Datenlage schwer zu beurteilen (Bäcker und Kistler 2016b). Abseits davon gibt es weiterhin nicht geförderte, kapitalgedeckte betriebliche Zusatzvorsorge.
8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung
363
das Risiko der langen Lebensdauer abgesichert wird. Zur Wahrung des Anleger/innenSchutzes müssen sie bei der Kapitalanlage in risikoarme Anlageformen (z. B. Staatsanleihen) investieren (ebd.). Bei einer klassischen Rentenversicherung muss außerdem eine geltende Mindestverzinsung bei Vertragsabschluss festgelegt werden, die sich an durchschnittlichen Kapitalmarktrenditen und damit der aktuellen Finanzmarktentwicklung orientiert. Mit den Entwicklungen der letzten Jahre in Zeiten von Niedrigzins sank der Garantiezins deutlich, sodass die Versicherer bei Neuverträgen ab 2015 nur mehr eine Verzinsung von 1,25 % im Vergleich zu noch 4 % im Jahr 1999 garantieren müssen (2017: 0,90 %).11 Auch deshalb gewann die fondsbasierte Variante, wie fondsgebundene Rentenversicherungen und Fondssparpläne mit höheren Renditeversprechen aber ohne Zinsgarantie, im Verhältnis zu klassischen Rentenversicherungen in den letzten Jahren an Bedeutung (Bäcker und Kistler 2016b). Obgleich die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, immer noch eine wichtige Säule der Altersvorsorge darstellt und privates Ansparen für viele Menschen aufgrund niedriger Löhne gar keine Option ist, wurde mit dieser Reform ein sozialpolitischer „Paradigmenwechsel“ vollzogen (Christen 2012). Es gibt seitdem nicht nur deutlich mehr Menschen, die privat am Finanzmarkt vorsorgen – ob über den Erwerb individueller Altersvorsorge-Produkte oder eine betriebliche Zusatzrente; es wird seitdem vor allem politisch forciert, dies zu tun. Denn alle, auch jene, die sich privates Ansparen gar nicht leisten können, sind zunehmend mit dem Problem einer den Lebensstandard im Alter nicht mehr sichernden gesetzlichen Rente konfrontiert. So gewinnt die private kapitalgedeckte Altersvorsorge – in Deutschland sowie in Europa insgesamt – vor dem Hintergrund der Kürzungen in öffentlichen Rentenversicherungssystemen, aber auch einer anhaltenden Fiskalkrise vieler Staaten, an Bedeutung (Ebbinghaus und Gronwald 2011, zit. n. Mertens und Meyer-Eppler 2014). Hierbei fördert der Staat das Ansparen von privatem Vermögen für die Altersabsicherung in individuell wie betrieblich abgewickelter Form. Die privaten Pensionsvermögen sind auf den internationalen Finanzmärkten daher erheblich angewachsen,12 was sich sowohl auf deren Anteil am globalen Finanzvermögen als auch auf dessen insgesamtes Volumen beträchtlich auswirkte.13 Insofern wurden in einem zentralen Bereich gesellschaftlichen Lebens, nämlich der sozio-ökonomischen Sicherheit im Alter, die Finanzmärkte,
11https://www.bafin.de/DE/Verbraucher/Versicherung/Produkte/LebenRente/leben_rente_sterbegeld_node.html, zuletzt abgerufen: 18.08.2019. 12Das Pensionsvermögen der dreizehn größten Pensionsmärkte der Welt (mit Deutschland auf Platz 8 hinter den USA, Japan, Großbritannien, Kanada, Australien, den Niederlanden und der Schweiz) stieg zwischen 2001 und 2011 mit einem jährlichen durchschnittlichen Wachstum von 6,4% von 14,8 auf 27,5 Billionen Dollar an (Towers Watson 2012 zit. n. Mertens und MeyerEppler 2014, S. 261). 13Siehe dazu auch die sozialwissenschaftliche Debatte zur Herausbildung eines „PensionsfondsKapitalismus“: Clark (2000), Ebbinghaus et al. (2012), Ebbinghaus und Wiß (2011), Langley (2008).
364
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
ihre Akteur/innen, Motive und Logiken zunehmend bedeutsam. Dies kann auch als „Finanzialisierung der Alterssicherung“ bezeichnet werden.
8.2.2 Finanzialisierung der Alterssicherung Mit dem Begriff der Finanzialisierung werden in den Sozialwissenschaften Verschiebungsprozesse in den Strukturen und Logiken der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsform und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihre Individuen zu erfassen versucht (Heires und Nölke 2011b; Krippner 2005, 2011; van der Zwan 2014). Der Terminus fand in den 1990er Jahren Eingang in die sozialwissenschaftliche Debatte (Erturk et al. 2008) und umschreibt die zunehmende Bedeutung von Finanzmärkten, ihren Mechanismen, Akteur/innen, Rationalitäten und Motiven für die Gesamtwirtschaft, die privaten Haushalte oder die Lebenswelt der Menschen (Epstein 2005). Die Altersvorsorge wird dabei, neben Wohnungen/Immobilien, Gesundheit, Nahrungsmitteln, landwirtschaftlichem Boden, häufig als Beispiel angeführt für „immer neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche, die für die Durchdringung durch die Finanzmärkte geöffnet [wurden]“ (Heires und Nölke 2011, S. 26; Weber 2010).14 Die Absicherung für das Alter erhält durch ihre Finanzialisierung den Status eines Finanzprodukts und potentiellen Investments. Die Vermögensbestände, die etwa durch Konsumverzicht in jüngeren Lebensphasen privat angespart werden, sollen sich dabei durch Wertezuwächse, über Zinseszinseffekte und Kurssteigerungen von Wertpapieren stetig erhöhen (Bäcker und Kistler 2016a). Für Finanzunternehmen wird Altersvorsorge als Produkt so zum Mittel der Gewinnerzielung. Sie verwalten als neue Kapitalsammelstellen für die Anlagen der Vorsorgenden große Summen und sind zudem als institutionelle Investoren zu dominanten Playern auf dem Finanzmarkt geworden (Huffschmid 2002). Die Höhe des von ihnen verwalteten Kapitals sowie die Konzentration auf bestimmte Anlagen und Märkten verschafft ihnen eine erhebliche Marktmacht (Christen 2010, 2013, S. 474 ff.): Versicherungsunternehmen und Pensionsbeziehungsweise Investmentfonds in den OECD-Ländern verwalteten vor der Finanzkrise ein Vermögen, das annähernd zwei Drittel aller gehandelten konventionellen Aktien und Anleihen gleichkam. Für die Individuen bedeutet die Finanzialisierung der Altersvorsorge, dass sie zunehmend auf ihr „notwendiges“ individuelles Engagement am Finanzmarkt sowie auf eine Inanspruchnahme von Finanzdienstleistungen aufmerksam (gemacht) werden (Mertens und Meyer-Eppler 2014). Als grundlegende Kritik an der finanzmarktbasierten Altersvorsorge wird immer wieder formuliert, dass sie sich nicht eignet, den Menschen ein sicheres Auskommen im Alter durch Ausgleich der gesenkten gesetzlichen Rente zu gewährleisten und so die damit verbundenen Ansprüche nicht erfüllen kann (Christen 2012; Joebges et al. 2012).
14Ausführlicher
zu Auswirkungen im Bereich des Wohnens siehe Heeg (2013).
8.2 Finanzialisierung der Alterssicherung
365
Die finanzialisierte Rente beruht – trotz Förderungen – auf der finanziellen Möglichkeit des Individuums beziehungsweise der Haushalte, während des jüngeren und mittleren Lebensalters auf Basis ihres Gehalts- und Konsumverzichts ausreichend Privatvermögen anzusparen. Im Zusammenhang mit einem stark angewachsenen Niedriglohnsektor und der Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen (u. a. Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse) ist das für eine Mehrheit der Bevölkerung schwer möglich. Hinzu kommt, dass sich die Rolle des Staates zunehmend hin zu der eines Regulierers von Angebot und Nachfrage im Altersvorsorgemarkt – als neuer ‚Wohlfahrtsmarkt‘ (Berner et al. 2009) – verschiebt, auf dem Verantwortung und Risiko letztlich bei den individuell Nachfragenden liegen. Menschen sind „unmittelbarer als zuvor in Finanzmärkte eingebunden und dadurch zahlreichen Risiken ausgesetzt, die zuvor von kollektiven AkteurInnen […] übernommen wurden“ (Martin 2002, zit. n. Mertens und Meyer-Eppler 2014, S. 259). Eine finanzialisierte Rente bedeutet demnach auch, dass sich Marktinstabilitäten von der Verantwortung kollektiver Akteur/innen, wie dem Staat und den Arbeitgeber/innen, in den Bereich privater Verantwortung der Individuen verlagern; sie verlangt von diesen auch, sich selbstvorsorgend mit ihren Investitionschancen und -risiken am Finanzmarkt auseinanderzusetzen (Mertens und Meyer-Eppler 2014). Als zweites generelles Problem, das sich direkt auf die oben angeführte Hauptkritik der kapitalgedeckten Rente bezieht und dabei noch unmittelbarer als die Problematik privater Vermögensbildung mit der Finanzialisierung der Alterssicherung zusammenhängt, ist die Instabilität der Finanzmärkte. So ist die Stabilität der Leistungen gerade für ein Sicherungssystem essenziell, in dem für einen langen Zeitraum vorhergesehen werden muss, wieviel Kapital während der Erwerbsphase für die Zeit danach angespart werden soll (Joebges et al. 2012). Die Volatilität und wiederkehrende Krisen der Finanzmärkte sind ein grundlegendes Problem für langfristig planbare und stabile Vorsorgeleistungen. Besonders die letzte Finanzmarktkrise verdeutlichte die Risiken kapitalgedeckter Rentenversicherungen, die laut OECD im Jahr 2008 durchschnittliche Verluste von 23 % aufwiesen (Joebges et al. 2012). US-, britische, niederländische und schwedische Pensionsfonds verzeichneten dabei Verluste deutlich über 20 % ihres Vermögens (Ebbinghaus und Wiß 2011). Mit etwa 10 % Vermögensverlust waren auch deutsche kapitalgedeckte Versicherungen betroffen, wobei die OECD feststellte, dass die Verluste moderater ausfielen, je strenger riskante Anlagen (z. B. Aktien) durch eine entsprechende Regulierung unterbunden wurden (Joebges et al. 2012; OECD 2009, S. 33). Zwar unterschieden sich die Verluste der Länder, Organisationsformen und Anlagestrukturen und die kapitalgedeckten Alterssicherungssysteme variieren bezüglich Finanzvolumen und Regulierung; die Renditen der Pensionseinkommen werden dennoch innerhalb globaler Finanzmarktmechanismen und relativ konformer Anlagen der Akteur/innen eingeholt (v. a. Aktien, Staats- und Unternehmensanleihen, Pfandbriefe, Immobilien) (Christen 2010). Dabei ist die finanzialisierte Alterssicherung nicht nur von der Krise betroffen, sondern hat auch wesentlich dazu beigetragen, die systemische Instabilität der Finanzmärkte mit einem Anschwellen der nach rentablen Anlagemöglichkeiten suchenden
366
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
Finanzvermögen zu erhöhen (Christen 2010; Huffschmid 2002). International investierten Pensionsfonds, basierend auf guten Ratings, etwa auch in hochriskante hypothekenbesicherte Wertpapiere und andere strukturierte Finanzprodukte (Ebbinghaus und Wiß 2011). Riskantere Strategien sind zum Teil lebensnotwendig für die Anbieter/ innen (Christen 2013, S. 477), aber auch für das gesamte System kapitalgedeckter Alterssicherung, denn: „Je stärker nämlich die Alterssicherung über die Kapitalanlage finanziert werden soll, desto stärker muss die Rendite der Kapitalanlage und die Spekulation ausfallen, da die reale Wertschöpfung nicht Schritt hält mit dem Wachstum der verbrieften Ansprüche auf ebendiese Wertschöpfung“ (Christen 2010, S. 47). Unter anderem auf Grundlage der These effizienter Finanzmärkte wurde stattdessen davon ausgegangen, dass die Altersvorsorge-Gelder ohne Weiteres in reale Investitionen umwandelbar seien und damit sowohl hohe Renditen erzielen als auch ein hohes Wirtschaftswachstum befördern würden (Christen 2010, S. 47). Die private, finanzmarktliche Verwaltung der Rentengelder bedeutet – neben der Risikobereitschaft – auch, dass diese dorthin verteilt werden, wo die finanzwirtschaftlichen Kennziffern stimmen. Organisierendes Prinzip und Zweck der Verwendung dieses angesparten Vermögens ist damit nicht mehr, wie im Umlageverfahren, ein öffentlicher, dem gesellschaftlichen Nutzen entsprechend bestimmter: Während dort die von den Beschäftigten ins soziale Sicherungssystem eingezahlten Gelder die aktuellen Rentner/ innen finanzieren, richtet sich die Verwaltung der finanzialisierten Altersvorsorge nach den Logiken und Mechanismen des Finanzmarkts. Wohin die enormen Summen der kapitalgedeckten Altersvorsorge inklusive öffentlicher Fördergelder fließen, ist weitgehend intransparent und wird öffentlich nicht kontrolliert. Wie sich gezeigt hat, kommt es dabei nicht nur zu Konflikten mit gesellschaftlichen Normen, sondern auch zu Widersprüchen mit rechtsgültigen Konventionen. So kam es 2010 zum Eklat, als aufgedeckt wurde, dass aus Riester-Rentenanlagen in Millionenhöhe in Unternehmen, die Streumunition herstellen, investiert wurde.15 Und dies, obwohl mit der Unterzeichnung einer internationalen UN-Konvention durch Deutschland bereits der Einsatz, die Herstellung und Verbreitung von Streumunition geächtet wird.16 Die Bundesregierung verwies damals darauf, dass das Übereinkommen Investitionen in Unternehmen, die Streumunition herstellen, nicht ausdrücklich verbiete und sie außerdem keine Kenntnisse über die Veranlagung der staatlich geförderten Altersvorsorge-Produkte habe (Küchenmeister und Happe 2010). Darüber hinaus problematisieren Nichtregierungsorganisationen in ähnlichen Recherchen eine ganze Reihe weiterer ermittelter Investitionsbereiche kapitalgedeckter Altersvorsorge und ihrer Anbieter/innen in Bezug auf negative Auswirkungen,
15Vgl. die gemeinsame Veröffentlichung der beiden Nichtregierungsorganisationen Facing Finance und Urgewald e. V. Küchenmeister und Happe (2010) sowie Wilmroth (2010) und Uchatius (2011). 16Gesetz zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil II Nr. 17, ausgegeben zu Bonn am 10. Juni 2009.
8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge
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was etwa Menschenrechtsverletzungen, Arbeitsbedingungen, Umweltschäden und ethische Gesichtspunkte anbelangt (u. a. Facing Finance 2017). Die ‚nachhaltige‘ Anlage der Altersvorsorge könnte daher als eine Reaktion und Strategie verstanden werden, die auch im Kontext und zur Bearbeitung der mit ihrer Finanzialisierung zusammenhängenden Probleme in puncto Risiken, Finanzinstabilitäten und sozial-ökologische Konsequenzen verstärkt aufkommt. Auf globaler Ebene und in Europa zeigt sich, dass die Teilprivatisierung der Alterssicherungssysteme, das Anwachsen von Finanzvolumina an den Finanzmärkten, der Aufstieg von Pensionsfonds und Versicherungen als institutionelle Investoren auch mit dem zunehmenden Aufkommen nachhaltiger Investitionsstrategien einhergeht (u. a. Soederberg 2010). Im deutschen Kontext kommt mit der Einführung der Riester-Rente 2001 erstmals die politische Forderung und, wenn auch schwache, Umsetzung einer Nachhaltigkeitsberichtspflicht für Geldanlagen auf, die seitdem für zertifizierte Riester-Produkte beziehungsweise ihre Anbieter/innen gilt. Bevor wir einen exemplarischen Einblick in die dominanten Orientierungen und Charakteristika der Organisationen geben, umreißen wir das Feld eines ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge.
8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge 8.3.1 Leitbild Nachhaltigkeit trifft kapitalgedeckte Rente Am heutigen Finanzmarkt dominierende Rationalitätsvorstellungen – in denen sich eine Begründungsordnung des Handelns vorrangig durch, zumeist kurzfristige, Profitmaximierung und die alleinige Relevanz finanzieller Kennziffern hinsichtlich Gewinn, Liquidität und Risiko feststellen lässt (Hiß 2012; Kädtler 2009) – dringen über das Phänomen der Finanzialisierung auch in andere gesellschaftliche Bereiche wie die Alterssicherung ein. Die vorherrschende Finanzmarktrationalität hat sich, trotz wiederholter heftiger Finanzkrisen, anhaltender öffentlicher Kritik und zunehmender gesellschaftlicher Delegitimierung – von denen in vielfältiger Weise gerade auch die finanzmarktbasierte Altersvorsorge betroffen ist – als erstaunlich resistent gegenüber einem grundlegenden Wandel erwiesen (siehe u. a. Hiß 2012, S. 85 f.). Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass am Finanzmarkt zur weiterhin dominanten Finanzmarktrationalität eine parallele, zusätzliche Begründungsordnung der Akteur/innen und ihrer Handlungsweisen hinzukam, die primär über den Bezug auf das gesellschaftlich breit legitimierte Konzept der Nachhaltigkeit funktioniert. So findet sich auch im Bereich der finanzialisierten Altersvorsorge ein Finanzmarktsegment, in dem Vorsorgeprodukte angeboten werden, für welche die Finanzdienstleister/innen die Anlage der Altersvorsorgegelder zusätzlich an Nachhaltigkeit und damit an nicht-finanziellen Kriterien wie sozialen, ökologischen oder ethischen Gesichtspunkten ausrichten (zum Markt für
368
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
n achhaltige Geldanlagen siehe ausführlich den Beitrag von Hiß über die Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts in diesem Band). Nachhaltigkeit ist heute gesellschaftlich breit legitimiert (vgl. ausführlicher dazu die Einleitung von Hiß und den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band). Gleichzeitig handelt es sich um ein wenig trennscharfes Konzept, um dessen Auslegung die unterschiedlichsten Akteur/innen ringen. Es tritt in Abgrenzung zu einem allein an ökonomischen Erfolgen orientierten Wirtschaften basierend auf einer Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten auf und enthält im Kern eine Orientierung an langfristigen, dauerhaften Zielen und die Schonung gesellschaftlicher wie ökologischer Ressourcen, auch im Interesse zukünftiger Gesellschaften. Dieser Sichtweise liegt zugleich die Idee der Zusammenführung unterschiedlicher (politischer) Interessen in Bezug auf Umwelt, Soziales und Wirtschaft zugrunde.17 Als Gegenstand und Diskurs, der gesellschaftliche, ökologische und ethische Ziele, Werte, Erwartungshaltungen und Kritik verkörpert, wird Nachhaltigkeit von Organisationen aufgenommen und verarbeitet, die in einem Feld bestimmt von finanzmarktlichen Rationalitäts- und Rechtfertigungsmustern operieren. Nachhaltigkeit wird dort aktiv von diesen (mit–)ausgestaltet.
8.3.2 Entwicklungen, Rahmenbedingungen und typische Instrumente Welche Entwicklungen, Rahmenbedingungen, Akteur/innen und Instrumente kennzeichnet nun ein solches Feld nachhaltiger Altersvorsorge in Deutschland? Den Fokus legt der schematische Überblick dabei auf jene durch die Rentenreform im Jahr 2001 geschaffene private kapitalgedeckte Altersvorsorge, die die Finanzialisierung der Altersversicherung in Deutschland mit der Schaffung eines politisch geförderten Altersvorsorgemarkts und einer neuen Rolle privater Finanzmarktakteur/innen im Wesentlichen eingeleitet hat.18 Kapitalgedeckter Altersvorsorge kommt nicht nur aufgrund der im vorherigen Kapitel aufgezeigten großen Volumina sowie einer langen Anlagedauer der Vorsorgegelder im Zusammenhang mit nachhaltigem Investieren eine besondere
17Vgl.
dazu den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des deutschen Bundestags „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ mit dem Titel „Konzept Nachhaltigkeit – Vom Leitbild zur Umsetzung“, vom 26.06.1998, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/112/1311200.pdf, zuletzt abgerufen: 20.02.2020. 18Die folgende Skizze des nachhaltigen Altersvorsorgemarkts will grobe Orientierung bieten, kann aber hier nur sehr selektiv erfolgen und bei weitem nicht umfassend das unübersichtliche Feld erfassen. Siehe für mehr Informationen und den Versuch eines Überblicks zum nachhaltigen Finanzmarkt entlang einer Kartierung den Beitrag von Hiß zur Landschaft des nachhaltigen Finanzmarkts in diesem Band.
8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge
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Aufmerksamkeit zu. Die Möglichkeit politischer Einflussnahme durch rechtliche Regulierung für die Kapitalanlage ist gerade bei der staatlich geförderten Altersvorsorge unmittelbarer gegeben als bei anderen Anlagen. Existieren gesetzliche Bestimmungen zu nachhaltigen Geldanlagen, wie dies in einigen europäischen Ländern der Fall ist, betreffen sie meist den Bereich der Altersvorsorge (Acker et al. 2013, S. 20 f.; BMU 2012, S. 37). In der aktuellen EU-Richtlinie für betriebliche Altersvorsorge (IORP II) wurde ein neuer Passus aufgenommen, sodass seit 2019 jährlich die Berücksichtigung von ökologischen, sozialen und Governance-Kriterien und eine Klimastrategie offenzulegen sind.19 Vor allem im Bereich betrieblicher Altersvorsorge entwickelte sich der deutsche Markt für nachhaltige Geldanlagen im internationalen Vergleich allerdings wenig (Schäfer 2009, 2014), was nicht zuletzt daran liegt, dass in Deutschland – anders als etwa in Schweden, Norwegen und den Niederlanden – keine großen staatlichen Pensionsfonds existieren, die eine Vorreiter-Rolle für nachhaltige Geldanlagen einnehmen (Acker et al. 2013, S. 21). Auch in Deutschland wird die direkt und indirekt staatlich geförderte private und betriebliche Altersvorsorge als potentielles Einfallstor für die Lenkung der Kapitalströme gesehen, insbesondere die Riester-Renten (Acker et al. 2013, S. 21 f.). In der Debatte geht es zudem um die Absicht, damit langfristige Investitionen in die deutsche Realwirtschaft zu fördern, insbesondere mit Blick auf deren nachhaltige Entwicklung.20 Vorschläge zur gesetzlichen Regulierung der privaten Altersvorsorge sahen Nachhaltigkeit als Kriterium vor, das letztlich nur in einer recht schwachen Berichtspflicht mündete. Mit der Rentenreform 2001 wurde erstmals eine sogenannte Nachhaltigkeitsberichtspflicht für Anbieter/innen als verbindliches Kriterium für die staatliche Förderung und Zertifizierung eines privaten Altersvorsorgeprodukts gesetzlich verankert. Die zu Jahresbeginn 2017 aktualisierte Fassung des Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetzes verpflichtet die Anbieter/innen dazu, einmal jährlich „schriftlich [darüber zu informieren], ob und wie ethische, soziale und ökologische Belange bei der Verwendung der eingezahlten Beiträge berücksichtigt werden.“ (Alt-ZertG § 7a). Dass sie dies den potentiellen Kund/ innen auch schon vor Vertragsabschluss mitzuteilen haben, gilt in der neuen Fassung nur mehr für Produkte der betrieblichen Altersvorsorge. In Expert/innen-Workshops nach
19Die Richtlinie sieht vor, dass die Einrichtungen regelmäßig öffentlich Bericht erstatten, ob und wie die UN Principles for Responsible Investment in den Investitionsentscheidungen und im Risikomanagement berücksichtigt wurden. Auch für die Governance-Strukturen der Organisationen sollen entsprechende Kriterien angewandt werden. Die Informationspflichten werden damit um ein Statement zu ESG- und Klima-Kriterien erweitert, unabhängig davon, ob solche im Investitionsprofil berücksichtigt werden oder nicht. 20Diese Idee lässt sich in der damaligen Debatte des Potentials privatisierter Altersvorsorge und um die Einführung von Nachhaltigkeitskriterien für Riester nachzeichnen, aber auch in aktuellen Argumentationen: Privates Kapital, insbesondere auch Pensionsgelder von Versicherungen, die längerfristig angelegt werden können, soll auch für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur verwendet werden – verbuchbar als soziale und ökologische Investitionen.
370
8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
britischem Vorbild entworfen, hieß es von den an der Vorbereitung des ursprünglichen Gesetzes beteiligten Akteur/innen, mit der Privatisierung der Altersvorsorge würde nun auch die Nachhaltigkeit in die Altersvorsorge am Finanzmarkt einziehen (Rostock et al. 2003). Allerdings wurde in das Gesetz die Möglichkeit eingebaut, bereits beim Antrag auf Zertifizierung über eine Nicht-Berücksichtigung nachhaltiger Anlagekriterien zu berichten und die Pflicht damit zu erfüllen (Holz und Bacher 2010). Ausreichend sind bereits vage Aussagen wie „[e]thische, soziale und ökologische Belange werden bei der Auswahl der Kapitalanlage berücksichtigt“ (Verbraucherzentrale Bremen 2016, S. 3 f.), weshalb das Gesetz auch als „Kann-Regel“ kritisiert wird, die keine Verbindlichkeit aufweist. Die von den Befürworter/innen des Gesetzes erhofften Effekte, mehr Transparenz und Vergleichbarkeit, Imageeffekte für Anbieter/innen und schließlich eine deutliche Zunahme nachhaltiger Angebote, blieben weitgehend aus (Rostock et al. 2003). Eine Rahmenbedingung nachhaltigen Investierens bei der Altersvorsorge stellen die Spezifika der Anlageformen kapitalgedeckter Altersvorsorge dar, die teilweise über gesetzliche Regulierung zustande kommen. Die Finanzdienstleister/innen sind in einzelnen Bereichen, etwa über Anlagevorschriften für Versicherungen oder bezüglich des sogenannten Garantieteils im Rahmen der Riester-Zertifizierung, an bestimmte Kapitalanlagerestriktionen gebunden. Auch um solche Regeln und Garantien einhalten zu können, investieren Altersvorsorge-Instrumente in Deutschland zu einem hohen Anteil in festverzinsliche Wertpapiere (Hesse 2008). Häufig spielen Anleihen und Pfandbriefe daher eine größere Rolle als Aktien, was von vornherein den Spielraum nachhaltiger Anlagen einschränken kann (detaillierter zu regulatorischen Rahmenbedingungen für nachhaltige Geldanlagen von Pensionskassen siehe Bong 2016, S. 33 ff.; Schneeweiß 2010). Allerdings können auch festverzinsliche Anlagen unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten betrachtet werden: zum Beispiel Anleihen von (Groß-)Banken, die krisengefährdet sind oder zumindest entscheidend an der Finanzierung ethisch oder sozial-ökologisch problematischer Unternehmensbereiche und Großprojekte beteiligt sein können (Dieckmann und Soth 2014). Obwohl es nachhaltige Angebote in der gesamten Bandbreite an Produkttypen gibt, wie zum Beispiel Banksparpläne, klassische Rentenversicherungen, fondsgebundene Rentenversicherungen oder Fondssparpläne, stellen Beobachter/innen des Marktes bezüglich der angebotenen Produkte im Hinblick auf Nachhaltigkeit große Unterschiede fest (vgl. Bergius 2011; Finanztest 2017; Öko-Test 2011). Unterschieden wird meist zwischen Produkten der wenigen spezialisierten Anbieter/ innen, die teilweise ihre gesamte Kapitalanlage nach Nachhaltigkeitskriterien ausrichten und anbieten, für die gesamten Altersvorsorge-Beiträge nachhaltige Anlageaspekte zu berücksichtigen, und Altersvorsorge-Produkten konventioneller Anbieter/ innen. Letztere veranlagen meist nur einen geringen Anteil ihres Angebots und auch der Altersvorsorge-Investitionen selbst mit dem Bezug auf Nachhaltigkeit. Die Anlageformen reichen dabei von sozial-ökologischen Projekten (z. B. Wohnprojekte, ökologische Dörfer, Behinderten- und Altenheime) bis zu nachhaltigen Investmentfonds. Wiederholt wird dabei kommentiert, dass nachhaltige Altersvorsorge-Produkte besonders
8.3 Das Feld des ‚nachhaltigen‘ Finanzmarkts für Altersvorsorge
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häufig in Form fondsgebundener Rentenversicherungen in Erscheinung treten, bei denen üblicherweise ein Anteil der Beiträge in zusätzlich zur Auswahl stehende Nachhaltigkeitsfonds fließt. Laut Ökotest 07/201521 hat „fast jeder Versicherer, der etwas auf sich hält, solche Offerten im Angebot“, aber eine strenge Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien findet sich kaum (vgl. Finanztest 2017). Wesentlich seltener werden nachhaltige klassische Rentenversicherungen verzeichnet, bei denen teilweise versucht wird, die gesamte Kapitalanlage inklusive unterschiedlicher Anlageformen miteinzubeziehen. Weiterhin unterscheiden sich die Anbieter/innen nach ihrer Rechtsform (etwa eigenständige Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit oder börsennotierte Aktiengesellschaften). Ebenso, ob sie die gesamten Kapitalanlagen mit nachhaltigen Kriterien verwalten, ob die nachhaltigen und konventionellen Kapitalstöcke getrennt werden oder ob ein Nachhaltigkeitsbeirat existiert. Insgesamt identifizieren Marktbeobachter/innen das gemeinsame Problem einer zu geringen Auswahl an Nachhaltigkeitsfonds, wodurch eine adäquate Risikodiversifizierung erschwert wird (Bergius 2015, S. 4). Betriebliche Altersvorsorge, die von Pensionsfonds, Direktversicherungen und Pensionskassen angeboten wird, fällt wie individuell-private Produkte seit 2001 unter eine Nachhaltigkeitsberichtspflicht. Eine Vollerhebung der verpflichtenden Selbstangaben betrieblicher Altersvorsorge-Anbieter ergab, dass die Hälfte der daran beteiligten Anbieter/innen anführen, nachhaltige Kriterien zu berücksichtigen (Hesse 2008). Dies bedeutet beispielsweise, dass in das Anlageportfolio neben konventionellen Fonds auch ökologische Fonds aufgenommen werden oder Anlagen in festverzinsliche Papiere sozial-ökologische Kriterien berücksichtigen. Der Pensionsfonds der MetallRente hat etwa bereits im Jahr 2002 eine solche Aktienauswahl nach Nachhaltigkeitskriterien mit diesbezüglich ausgeprägtem Selbstverständnis betrieben (Karch 2009). Bei der bislang am häufigsten genutzten Form privater Altersvorsorge mit privat-individuellen Altersvorsorge-Produkten (mit der Möglichkeit staatlicher Zuschüsse, vor allem als „Riester-Rente“) existiert ein kleines Teilsegment im nachhaltigen Bereich; seit Mitte der 1990er Jahre wird dieser Bereich von einigen wenigen spezialisierten Anbieter/innen „nachhaltiger“ Altersvorsorge-Produkte dominiert (Bergius 2011). Trotz der mit der Einführung der Berichtspflicht beabsichtigten Steigerung des Marktvolumens, behielt das Segment innerhalb des konventionellen Gesamtmarkts nur eine Nischenstellung. Für 2009 ergaben Schätzungen, dass nur ein Prozent der geförderten Riester-Produkte sich an solchen nicht-finanziellen Anlageaspekten orientieren (Küchenmeister und Happe 2010). Gerade bei Riester-Produkten zeigen sich Anbieter/innen besonders defensiv, trotz der gesetzlichen Vorschrift die (Nicht-)Berücksichtigung jährlich zu berichten (Bergius 2015, S. 6). Obwohl Nachhaltigkeit in der Breite der Vorsorge-Angebote ebenso wie eine nachhaltige Ausrichtung der gesamten Kapitalanlage von Versicherungsunternehmen noch spärlich vorkommen, handelt es sich um ein dynamisches Feld, in dem eine wachsende Nachfrage und eine
21http://www.oekotest.de/cgi/index.cgi?artnr=96399&bernr=21,
Stand: 12.07.2015.
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
zunehmende Anzahl von Produkten und Anbieter/innen verzeichnet werden (Bergius 2015, S. 6), was sich auch in der Broschüre mit „Unverbindlichen Hinweisen“ zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien in der Kapitalanlage zeigt, die der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) im März 2015 veröffentlichte (GDV 2015). Mittlerweile bietet eine zunehmende Anzahl konventioneller Finanzdienstleister/innen innerhalb ihrer Produktpalette eine „nachhaltige“ Variante der Vorsorge an; so etwa seit 2003 auch die Allianz als Marktführer unter den Versicherungen in Deutschland (Öko-Test 2011).
8.3.3 Kritik und Forderungen aus der Praxis Das praktische Feld, in dem Finanzdienstleister der Altersvorsorge Bezug auf Nachhaltigkeit nehmen, zeichnet sich wie gezeigt wurde durch eine große Varianz in der Auslegung und Ausgestaltung aus. In Testberichten und medialen Kommentaren spiegelt sich die damit zusammenhängende Ungewissheit und Kritik (Stichwort „Greenwashing“) wider.22 Der Chef eines Versicherungsunternehmens bemerkt in seinem Beitrag in einer Broschüre zum Thema Rente und nachhaltiges Investment: „Zur Zeit managt der Gerling Konzern etwa 30 Mrd. EUR an Kapitalanlagen und davon gut ein Zehntel dieser Summe im Rahmen von Fonds-Produkten. Wie viel davon ist denn nun ethisch-ökologisch angelegt? Die Antwort darauf lautet: zwischen einem und 100 % – je nach Definition.“ (Rostock et al. 2003, S. 11). Eine einheitliche Definition nachhaltiger Anlagen bei der Altersvorsorge existiert indes nicht. Selbst bei einer rechtlichen Bewertung der bereits erwähnten Berichtspflicht „zeigt sich, dass eine genaue Beschreibung, was unter ‚ethischen, ökologischen und sozialen Belangen‘ zu verstehen ist, nicht abschließend definiert ist“ (Holz und Bacher 2010, S. 6). Die Verbraucherzentrale Bremen untersuchte im Juni 2016 das Berichtsverhalten von Riester-Anbieter/innen (Riester-Versicherungen und -Fondssparpläne) und resümierte, dass die große Mehrzahl der Aussagen vage bleibt und nur fünf der 48 untersuchten Anbieter/innen in ihren Jahresmitteilungen konkret benennen, welche Branchen und Verhaltensweisen sie bei ihren Investitionen ausschließen (Verbraucherzentrale Bremen 2016). Weil die Begriffe gesetzlich nicht definiert sind, können alle Anbieter/ innen ihre Anlagegrundsätze schließlich selbst definieren; eine Nachhaltigkeitsberichtspflicht führe nicht automatisch zu mehr Transparenz (Verbraucherzentrale Bremen 2016). Verschiedene Akteur/innen aus der Praxis, wie zum Beispiel Verbraucherzentralen oder das Forum Nachhaltige Geldanlagen, problematisieren in der Auseinandersetzung mit dem Feld nachhaltiger Altersvorsorge hauptsächlich große Qualitätsunterschiede
22Vgl.
beispielsweise die Artikel in Zeit Online „Altersvorsorge – Ruhekissen mit grünem Bezug“ (Braun 2010), und „Nachhaltigkeit – das Gleiche in Grün?“ (Scherer 2015) sowie den ÖkotestReport „Ökologische Riester-Renten. Im grünen Nebel“ (Öko-Test 2011).
8.4 Nachhaltigkeitsverständnis vor dem Hintergrund
373
sowie Komplexität, Intransparenz und schlechte Vergleichbarkeit der Produkte in Bezug auf die angelegten nachhaltigen Kriterien (u. a. Bergius 2011; Graulich 2004). Daraus abgeleitet konzentrieren sich Befürworter/innen im Sinne einer festgelegten Mindestqualität häufig auf die Forderung eines Labels für nachhaltige Anlagen (u. a. Graulich 2004). Damit verfolgen Anbieter/innen und ihre Interessensorganisationen stets auch das Ziel ihre Marktposition zu verbessern, indem sie sich leichter von konventionellen Angeboten abgrenzen und an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen können. Die Forderung zielt außerdem auf die Steigerung von Verbraucher/innen-Bewusstsein ab und betont die Verantwortung der Vorsorgenden sich „richtig“ zu entscheiden. Studien und Kommentare von Praktiker/innen aus der nachhaltigen Investment-Community konzentrieren sich häufig auf Untersuchungen zu Verbreitung und möglichen Maßnahmen zur Förderung des nachhaltigen Altersvorsorge-Markts (vgl. z. B. Hesse 2008, 2011). Insbesondere Verbraucherzentralen, Umwelt(forschungs)organisationen (wie z. B. das Ökoinstitut e. V.) und politische Akteur/innen betonen und schlussfolgern darüber hinausgehend die Notwendigkeit nicht nur einheitlicher Begrifflichkeiten, sondern vor allem verbindlicher sozial-ökologischer Mindeststandards für die Veranlagung der Gelder gerade im Bereich der geförderten Altersvorsorge durch die Gesetzgebung (Acker et al. 2013, S. 21).
8.4 Nachhaltigkeitsverständnis vor dem Hintergrund koexistierender institutioneller Logiken Theoretisches Gerüst dieses Beitrags – wie des gesamten Buches, siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß – stellt der soziologische Neo-Institutionalismus (NI) mitsamt seiner sozialkonstruktivistischen Grundausrichtung dar. Dieser Theoriestrang nimmt die Legitimation von Organisationen in ihrem gesellschaftlichen Kontext in den Blick. Organisationen, ihre Strukturen und Handlungsorientierungen richten sich demnach nicht nur an Erfordernissen technisch-ökonomischer Effizienz aus, sondern reagieren auf gesellschaftliche Erwartungen, Normen und Leitbilder („Institutionen“) ihrer institutionellen Umwelt, um sich zu rechtfertigen und die notwendige Legitimität, etwa auch zum Zugang zu Ressourcen, zu verschaffen (Meyer und Rowan 1977; Powell und DiMaggio 1991; Thornton, Ocasio und Lounsbury 2012). Damit wird die Notwendigkeit einer symbolischen Absicherung von Organisationen in ihrer organisationalen Umwelt betont sowie organisationale Strategien demonstrativ und zumindest auf der Darstellungsebene mit gesellschaftlich verankerten Erwartungen in Einklang zu bringen (Langenohl 2005). Der Ansatz grenzt sich somit von einem rationalistisch-funktionalistischen Verständnis von Organisationen und Akteur/innen ab, wie es typischerweise Rational-ChoiceTheorien enthalten, die von festen individualistischen Kosten-Nutzen-kalkulierenden Interessen, Präferenzen und Strategien der Akteur/innen ausgehen (Langenohl 2005; Schulze 1997; Thornton und Ocasio 2008).
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
Hingegen greift der NI mit seiner Betonung von Institutionen und ihren Legitimitätsanforderungen das sozialkonstruktivistische Programm von Berger und Luckmann in zentraler Weise auf.23 Es wird also von einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit in Gestalt von Institutionen ausgegangen, im Sinne gesellschaftlicher Regeln, welche die Wirklichkeit der Individuen und Organisationen konstruieren (Berger und Luckmann 1995). Allerdings sind hiermit nicht allein formalisierte Regeln gemeint, sondern gerade „the symbol systems, cognitive scripts, and moral templates that provide the ‚frames of meaning‘ guiding human action“ (Hall und Taylor 1996, S. 14). Im Verständnis von Berger und Luckmann bilden sich Institutionen im weitesten Sinne in Gewohnheiten und Verfestigungen sozialen Handelns und sozialer Wissensbestände und deren Habitualisierung, Typisierung und schließlich Institutionalisierung heraus (Berger und Luckmann 1995, S. 49–97). Auf diesen Grundannahmen aufbauend wird von institutionellen Rationalitäten und Rationalitätsmythen ausgegangen, welche sich in einem Feld von organisationalen Akteur/innen als prägende Handlungsanleitungen und Begründungsordnungen herausbilden. Dabei geht es nicht darum, was ‚an sich‘ rational ist oder um das in Rational-Choice-Theorien eng angelegte, nutzenmaximierende Handlungskalkül, sondern es interessieren bestimmte Handlungsweisen, die unter den Akteur/innen als ‚rational‘ gelten – also um Rationalität als soziales, institutionell kontingentes Konstrukt, welches der Legitimitätssicherung des Handelns der Akteur/innen dient (Engels 2011; Lounsbury 2008; Meyer und Rowan 1977). Eine solche sozial institutionalisierte Rationalität steht für „eine kollektive Vorstellung, einen Glauben, dem aus Gründen der Legitimität zumindest auf der Ebene der Darstellung entsprochen werden muss“ (Tacke 2006, S. 90) und versorgt die Akteur/innen zugleich mit Handlungsmöglichkeiten, die als selbstverständlich und unhinterfragt angewendet werden. Meyer und Rowan betonen, dass Rationalitäten über allgemeine Werte hinausgehen und deshalb so wirkmächtig sind, weil sie in „the rules, understandings, and meanings attached to institutionalized social structure“ existieren (Meyer und Rowan 1977, S. 343). Betrachtet man den heutigen Finanzmarkt in Hinblick auf dominierende institutionalisierte Rationalitätsvorstellungen, lässt sich dort eine vorrangige Begründungsordnung des Handelns durch (meist kurzfristige) Profitsteigerung und die alleinige Orientierung an finanziellen Kennzahlen hinsichtlich Gewinn, Liquidität und Risiko feststellen (Hiß 2012; Kädtler 2009). Von Kädtler als Finanzmarktrationalität bezeichnet, dringt diese Handlungsorientierung über das Phänomen der Finanzialisierung auch in andere gesellschaftliche Bereiche, wie die Alterssicherung, vor. Zugleich können Finanzorganisationen und eigene Nischensegmente am Finanzmarkt beobachtet werden, die sich zusätzlich anderer Begründungsordnungen und Rationali-
23Für
eine ausführlichere Diskussion der Grundlegung des soziologischen Neo-Institutionalismus in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie von Berger und Luckmann siehe z. B. Dobbin (1994), Keller (2012), S. 230 ff., Meyer (1992), Powell und DiMaggio (1991).
8.4 Nachhaltigkeitsverständnis vor dem Hintergrund
375
tätsvorstellungen bedienen, wenn sie etwa nachhaltige Finanzprodukte für die Altersvorsorge und die Berücksichtigung sozialer, ökologischer und ethischer Anlagekriterien anbieten; und damit gesellschaftlichen Legitimitätserwartungen entsprechen, welche sich sowohl aus der Kritik und Delegitimierung dominanter finanzmarktrationaler Motive und Mechanismen als auch aus gesellschaftlich etablierten Leitbildern wie Nachhaltigkeit speisen können. Mit dem theoretischen Konzept der institutionellen Logiken wird im NI an frühere Ideen institutioneller Rationalität angeschlossen, aber bestimmte Phänomene stärker ins Blickfeld gerückt, wie etwa die Möglichkeit solcher neben einer dominanten Rationalität koexistierender Handlungslogiken. Institutionelle Logiken bezeichnen (im Wesentlichen synonym zum Rationalitätsbegriff) kulturelle Überzeugungen und Regeln, die Kognition und Handlungsentscheidungen der Akteur/innen prägen und als organisierende Prinzipien eines Feldes wirken (Friedland und Alford 1991; Lounsbury 2007; Thornton 2004). Einfach ausgedrückt sind es „Handlungslogiken, die an bestimmte Institutionen gebunden sind“ (Weik 2011, S. 11). In diesen Logiken sind Legitimitätserwartungen formuliert, denen die Organisation zumindest in ihrer Außendarstellung Genüge leisten muss. Die Perspektive der institutionellen Logiken betont nun, dass, wenngleich ein organisationales Feld durch eine dominante Logik organisiert ist, noch weitere institutionelle Logiken wirksam sein können, welche den Akteur/innen als Bezugsund Begründungsrahmen dienen. Dies ermöglicht auch abweichende symbolische Darstellungs- und Handlungsweisen von Akteur/innen innerhalb eines Feldes sichtbar zu machen und damit die Varianz von kognitiven Orientierungen und Praktiken sowie darin auftretende Widersprüche und Konflikte zu erfassen (Lounsbury 2007). Die Mehrdeutigkeiten und Widersprüche können von den Akteur/innen aber auch als Handlungsressourcen genutzt werden. Die in den Logiken institutionalisierten Symbole und Praktiken stehen den Akteur/innen offen „to further elaborate, manipulate, and use to their own advantage“ (Thornton und Ocasio 2008, S. 101). Die Perspektive erlaubt daher zu untersuchen, „how individuals and organizations are influenced by, and create and modify elements of institutional logics“ (Thornton et al. 2012, S. 5). Damit rückt die Berücksichtigung institutionellen Wandels durch Beteiligung der Akteur/innen stärker ins Blickfeld. Koexistierende multiple Rationalitäts- und Begründungsordnungen können etwa mit deren Hybridisierung einhergehen (Battilana und Dorado 2010; Battilana und Lee 2014), aber auch eine anhaltende Heterogenität an Logiken bedeuten, genauso wie sie zur Stabilisierung der ursprünglich dominanten Logik beitragen können (Thornton und Ocasio 2008). Für eine finanzialisierte Alterssicherung und die sie verwaltenden Finanzmarktakteur/innen gilt vorrangig die Logik mit einer leitenden Zielgröße, nach der die globalen Finanzmärkte bei der Geldanlage operieren: Profitmaximierung mit der Folge permanenter Externalisierung und Sozialisierung von Kosten (Hiß 2011; Huffschmid 2002; Kädtler 2009). Diese grundlegende Orientierung ist bei der Anlage von Altersvorsorge-Vermögen durch Spezifika wie potentiell längere Zeithorizonte und besondere Sicherheitserfordernisse geprägt; so gelten für bestimmte
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
entenversicherungsanlagen in Deutschland, insbesondere für staatlich geförderte VorR sorgemöglichkeiten, gesetzliche Vorschriften, was die Sicherheit der Anlageform oder Garantien von Teilen der angelegten Gelder betrifft. Selbst wenn die Akteur/innen hier teilweise weitere institutionelle Anforderungen einer Art ‚Altersvorsorge-Logik‘ zu berücksichtigen haben, bleibt die rein an finanziellen Kennzahlen interessierte Renditeorientierung maßgebliche Begründungsordnung von Finanzdienstleister/innen. Obwohl sich diese vorherrschende Finanzmarktlogik bislang einem grundlegenden Wandel überraschend erfolgreich widersetzt (Hiß 2012, S. 85) – trotz wiederkehrender Verwerfungen und fortdauernder gesellschaftlicher Delegitimierung gerade seit der letzten Finanzkrise, koexistiert ein paralleler, zusätzlicher Begründungsrahmen der Akteur/innen und ihrer Handlungsweisen, der primär über den Bezug auf das gesellschaftlich breit legitimierte Konzept der Nachhaltigkeit funktioniert. Das Finanzmarktsegment nachhaltiger Altersvorsorge wird daher auch von institutionellen Logiken gespeist, die sich von der vorherrschenden Logik des konventionellen Finanzmarkts abheben. Die in diesem Teilsegment aktiven Finanzmarktdienstleister/innen grenzen sich in diesen Altersvorsorge-Angeboten durch einen gemeinsamen ‚alternativen‘ Bezugsrahmen von konventionellen Anlagemöglichkeiten ab und wenden dabei dementsprechend abweichende symbolische Darstellungen und materielle Praktiken an. Allerdings ist zum einen davon auszugehen, dass auch Finanzmarktakteur/ innen dieses Teilsegments – konventionelle genauso wie spezialisierte – weiterhin durch die dominierende Logik beeinflusst und geprägt werden. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass eine solche abweichende Begründungsordnung und Handlungsorientierung mit einem primären Bezug auf Nachhaltigkeit und einer sozial-ökologisch-ethischen Werteorientierung auf Elementen basiert, die der Inter pretation und Ausgestaltung der Finanzmarktakteur/innen offenstehen. Die Nachhaltigkeitslogik ist zwar gesellschaftlich etabliert und institutionalisiert, so unsere Prämisse, aber zugleich ist ihre Entwicklung umkämpft. Gerade auf Feldebene, wie im Feld des Finanzmarkts, muss sie übertragen werden und in ihrer Realform mit den anderen Logiken koexistieren beziehungsweise konkurrieren; zwar werden hier die Organisationen und Akteur/innen mit neuen institutionalisierten Erwartungen konfrontiert, aber sie haben noch Spielraum bei der konkreten Ausgestaltung. Gerade im Fall des vagen Nachhaltigkeitsbegriffs und seiner noch relativ am Anfang stehenden Institutionalisierung am Finanzmarkt insbesondere im Bereich der Altersvorsorge, haben die Akteur/innen es stark mit in der Hand zu konstruieren, was sie unter nachhaltiger Altersvorsorge verstehen und als solche praktizieren. Somit haben die Finanzakteur/ innen auch Einfluss darauf, die zusätzliche Logik in ihrem Feld aktiv mitzugestalten und auszuformen. Es ist also eine Sache, zu beobachten, dass sich am Finanzmarkt für Altersvorsorge weitere Rationalisierungs- und Legitimierungsmöglichkeiten etabliert haben, die sich in entsprechenden Symboliken, Praktiken und Motiven manifestieren; und
8.5 Daten und Methoden
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eine andere, genau hinzusehen, wie diese in der Empirie durch die Finanzmarktakteur/ innen in ihren symbolischen und praktischen Nachhaltigkeitsverständnissen ausgestaltet und angeeignet werden. Daher betrachten wir im Folgenden, wie Nachhaltigkeit durch Finanzorganisationen in den finanzialisierten Altersvorsorge-Produkten in symbolischen und praktischen Konstruktionselementen eine bestimmte Bedeutung erlangt.
8.5 Daten und Methoden Um die symbolisch und praktisch konstruierten Nachhaltigkeitsverständnisse von Finanzmarktakteur/innen der Altersvorsorge herauszuarbeiten, untersuchen wir die sinngenerierenden Aussagen der Unternehmen, wie sie sich in den Texten öffentlicher Außendarstellungen auf Websites und Dokumenten sowie in dort einsehbaren Produkt- und Organisationsstrukturen manifestieren. Mit dem Fokus auf die von den Organisationen selbst produzierten Texte gelangen wir an die Darlegungen und Erklärungen ihrer Verständnisse und praktischen Umsetzungen und Implikationen einer „nachhaltigen Altersvorsorge“ gegenüber potentiellen und aktuellen Vorsorgenden, weiteren Anspruchsgruppen sowie der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Untersuchung der Texte und Dokumente der Finanzdienstleister erfolgte mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000, 2010). Ziel der Analyse war es, aus den Aussagen der Akteur/ innen wesentliche Elemente und Muster in ihrer (Re-)Konstruktion von Nachhaltigkeit in Bezug auf die von ihnen angebotenen Altersvorsorge-Produkte und -anlagen herauszukristallisieren. Dabei wurden sowohl symbolisch-diskursive Konstruktionsbausteine des Nachhaltigkeitsverständnisses, als auch die Ebene praktisch-materieller Elemente analytisch getrennt berücksichtigt. Während die symbolisch-diskursiven Elemente, etwa die verwendeten Definitionen und Begründungen (der Berücksichtigung) von Nachhaltigkeit auf die symbolische Ebene von institutionellen Logiken verweisen, beziehen sich die praktisch-materiellen Elemente, also unter anderem angewandte Instrumente und beschriebene Praktiken der nachhaltigen Altersvorsorge, entsprechend auf die materielle Ebene von Logiken. Eine Grundannahme der Heuristik institutioneller Logiken betrifft die Dualität und Idee der Wechselwirkung, dass diese sowohl in symbolischen Elementen – sprachliche und andere Symbole – repräsentiert und kommuniziert werden als auch in materiellen Elementen beobachtbar und spürbar sind (siehe u. a. Friedland und Alford 1991; Thornton et al. 2012). Der Begriff symbolisch bezeichnet dabei abstrakte Gebilde und Strukturen wie beispielsweise Ideen, (Be-)Deutungen, Glauben, Werte, Diskurse oder Theorien. Materielle Elemente sind hingegen Praktiken und materialisierte Strukturen, die zum Beispiel als Gesetze, etablierte Techniken und Instrumente, eine bestimmte ‚Form‘ angenommen haben. In unserer Analyse hilft uns diese Unterscheidung, um in den Nachhaltigkeitsverständnissen der untersuchten Organisationen die (sich herausbildenden) Elemente der institutionellen Rationalitäten
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8 Nachhaltigkeitsverständnisse in der Altersvorsorge
zu identifizieren, wie sie sich sowohl in Diskursen und Symboliken nachhaltiger Altersvorsorge als auch in ‚harten‘ Produkt- und Organisationsstrukturen und -praktiken (z. B. Nachhaltigkeitsanlagekriterien, Anlagestrukturen) wiederfinden. Die empirische Untersuchung fokussiert sich auf die individuelle Form finanzmarktbasierter privater Altersvorsorge in Deutschland, welche als Finanzprodukt von einzelnen Privatvorsorgenden direkt am Markt nachgefragt werden kann. Bei der Auswahl der untersuchten Organisationen, überwiegend Versicherungsunternehmen, war nicht entscheidend eine quantitativ repräsentative Stichprobe zu erheben, sondern in Bezug auf die qualitative Fragestellung besonders aussagekräftige Fälle zu identifizieren. Auf der Grundlage ausgiebiger Recherchen zum Feld nachhaltiger Altersvorsorge – ein dynamisches, aber kleines Marktsegment, das von wenigen spezialisierten Akteur/innen geprägt ist – wurden sechs Organisationen ausgewählt. Darunter befinden sich drei auf ein nachhaltiges Altersvorsorge-Angebot spezialisierte sowie drei konventionelle Organisationen, die auch nachhaltige Rentenprodukte anbieten. Für die Selektion aussagekräftiger Fälle wurden zunächst alle Versicherungsunternehmen ausgewählt, die im August 2015 Mitglied im Forum Nachhaltige Geldanlagen waren.24 Anschließend wurden in einer ausführlichen Sichtung von Testberichten, Business Briefings zu nachhaltigen Investments und Kommentaren von Praktiker/innen zu nachhaltigen Rentenversicherungen bestimmte – spezialisierte wie konventionelle – Anbieter/innen identifiziert und ergänzt, die darin wiederholt und besonders ausführlich Erwähnung finden. Um sowohl auf Nachhaltigkeit spezialisierte wie konventionelle Akteur/innen in der Analyse abzubilden und zu vergleichen, wurden beide Gruppen in gleicher Anzahl ausgewählt. Als weiteres Kriterium wurden nur Organisationen als Fälle aufgenommen, die auch Varianten nachhaltiger Altersvorsorge mit staatlicher Förderung anbieten. Im Anschluss wurde empirisches Material in Form von öffentlich zugänglichen Texten und Dokumenten produziert von den ausgewählten Organisationen gesammelt, welches im weitesten Sinne Äußerungen zur Nachhaltigkeit ihrer Altersvorsorge-Finanzprodukte, damit zusammenhängender Kapitalanlagen sowie weiterer fragerelevanter Aspekte enthält. Wichtig war es dabei, sowohl symbolisch-diskursive Beschreibungen und Deutungen von Nachhaltigkeit als auch praktisch-materielle Informationen und Darstellungen ihrer Umsetzung und Anwendung zu erfassen. Um den Prozess der Auswahl und des Extrahierens analyserelevanter Textstellen und Zitate aus dem empirischen Material zu systematisieren, wurden im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse vom Erkenntnisinteresse abgeleitete Selektionskriterien festgelegt (Mayring 2010, S. 84 f.). An das Material wurden jeweils drei Selektionskriterien angelegt, sowohl für die Erfassung diskursiv-symbolischer Aspekte der Nachhaltig-
24Dabei
zeigte sich bereits die Überschaubarkeit des Feldes, wobei unter den Mitgliedern nicht nur spezialisierte, sondern auch konventionelle Versicherungen gelistet sind. Vgl. https://www.forumng.org/de/fng/mitglieder-6/fng-mitglieder/kategorie-versicherung-asset-owner-stiftung.html, Stand: 18.08.2019.
8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse
379
keitskonstruktion (Definitionen, Begründungen, Rahmenbedingungen) als auch für jene praktisch-materieller Art (Ausrichtung der Organisation, Umsetzung im Finanzprodukt, Umsetzung im Prozess und den Kriterien der Anlage). Zunächst wurden Fall für Fall die inhaltsrelevanten Aussagen den Selektionskriterien entsprechend herausgearbeitet und einem Reduktions- beziehungsweise Abstraktionsprozess unterzogen (ebd.: S. 67 ff.). Das Abstraktionsniveau wurde so festgelegt: Es sollen Äußerungen zur Nachhaltigkeit der Altersvorsorge-Anlagen sein, welche hinsichtlich darin enthaltener Definitionen, Begründungen, Rechtfertigungen und dargestellter Rahmenbedingungen zusammengefasst und verallgemeinert werden. Auf diese Weise wurden Gemeinsamkeiten der Organisationen in ihrer Nachhaltigkeitskonstruktion festgestellt; gleichzeitig blieben weiterhin spezifische Ausprägungen sichtbar, welche insbesondere in Hinblick auf gruppenspezifische Unterschiede zwischen konventionellen und spezialisierten Anbieter/ innen berücksichtigt wurden. Weil die praktisch-materiellen Konstruktionselemente überwiegend den Charakter von Strukturinformationen haben, wurde die Analyse auf die Filterung und reduzierende Zusammenfassung und Bündelung dieser Inhalte und Aussagen konzentriert. Aufgrund der Komplexität und Vielfalt der inhaltsrelevanten Aussagen wurde hier zudem auf eine fallübergreifende Darstellung und Integration der Inhalte verzichtet. Als Ergebnis dieses Prozesses und der Untersuchung kristallisierten sich zentrale Elemente und Muster in der Konstruktion von Nachhaltigkeit durch Akteur/ innen der finanzialisierter Altersvorsorge heraus, die mit besonders aussagekräftigen Zitaten aus dem Material untermauert wurden.
8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse in der kapitalgedeckten Altersvorsorge 8.6.1 Praktisch-materielle Ebene Im Feld befinden sich einige wenige Finanzdienstleister, die sich relativ früh als ganze Organisation mit dem Fokus und Zweck einer solchen sozial-ökologisch-ethischen Orientierung und der Entwicklung entsprechender Praktiken und Organisationsstrukturen gründeten. Unter den untersuchten Organisationen sind – mit der Concordia oeco25,
251995 als oeco capital gegründet, wurde die auf Nachhaltigkeit spezialisierte Versicherung zu 100 % von der konventionellen Concordia Versicherung übernommen und als nachhaltige Tochtergesellschaft geführt. Seit 2014 firmiert das Versicherungsunternehmen unter dem Namen Concordia oeco Lebensversicherungs-AG. Es kam zur Fusion mit einer konventionellen Tochtergesellschaft der Concordia, seitdem wird sowohl eine nachhaltige als auch konventionelle Altersvorsorge-Produktlinie vertrieben. Das Kapitalanlagevolumen betrug 2014 rund 1,8 Mrd. EUR, wobei die Anlagen im Rahmen der nachhaltigen Altersvorsorge davon etwa ein Fünftel ausmachten (375 Millionen EUR). (vgl. https://www.concordia.de/ww/de/pub/privatkunden/altersvorsorge/nachhaltige_altersvorsorge.cfm, Stand: 17.09.2015).
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ehemals oeco capital, der Ökoworld AG26 und der transparente27 – solche Unternehmen, die sich seit ihrer Gründung auf nachhaltige Finanzdienstleistungen, insbesondere die Entwicklung nachhaltiger (privater) Altersvorsorge-Produkte spezialisiert haben und bereits zwischen 1991 und 1996 die ersten Angebote in diesem Bereich auf den Markt brachten. Sie versuchen häufiger ihre gesamte Kapitalanlage und die vollständigen Altersversicherungsbeiträge auf ihre Wirkung abseits von Renditegesichtspunkten hin zu kontrollieren. Gleichzeitig sind in diesem Segment neben solchen spezialisierten Nischenakteur/innen immer mehr konventionelle Anbieter/innen aktiv und bieten zusätzlich zu ihrem konventionellen Sortiment nachhaltige Finanzprodukte an. Diese Unternehmen erweiterten ihr konventionelles Kerngeschäft um nachhaltige Vorsorgevarianten, in denen zumeist für Anteile der Rentenbeiträge eines Produkts Nachhaltigkeitskriterien angelegt werden – in der Regel über Nachhaltigkeitsaktienfonds.28 Unter den verschiedenen Möglichkeiten an Altersvorsorge-Produkten fällt auf, dass Produkte auf Basis von Nachhaltigkeitsfonds eine besonders typische Umsetzungsform
27Die
transparente GmbH gibt es seit 1996, initiiert wurde das Angebot nachhaltiger Altersvorsorge-Tarife vom Verein für alternative Vorsorgekonzepte (VAV e. V.). Er kooperiert dabei mit der neue leben Lebensversicherung AG und dem Volkswohl Bund Versicherer, die sich verpflichten die transparente-Beiträge in voller Höhe nach den vom Verein entwickelten Anlagerichtlinien anzulegen. Das Investitionsvolumen erreichte 2013 einen Stand von 38,1 Mio. EUR (vgl. http://www. transparente.de/index.html, Stand: 16.09.2015). 26Die Ökoworld hat ihre Wurzeln in der 1975 gegründeten „Alfred & Klaus – kollektive Versicherungsagentur“, die 1987 in die Versiko umgewandelt wurde, eine nachhaltige Vermögensberatung und später Aktien- und Fondsgesellschaft. Diese brachte bereits 1991 eine Rentenversicherung mit Aspekten nachhaltiger Kapitalanlage auf den Markt. 1996 wurde der erste ethisch-ökologische Fonds aufgelegt (Ökovision). Seit 2014 trägt die Fondsgesellschaft den Namen Ökoworld und ist u. a. spezialisiert auf fondsbasierte nachhaltige Vorsorgeprodukte. Das Fondsvolumen erreichte im April 2015 758 Mio. EUR (vgl. https://www.oekoworld.com/, Stand: 17.09.2015). 28Ins
Sample aufgenommen wurden hier die Allianz, Canada Life und die Stuttgarter Lebensversicherung. Die Allianz wurde 1890 in Deutschland gegründet und ist heute marktführendendes deutsches Versicherungsunternehmen und gehört zur international als Finanzdienstleisterin agierenden Allianz Gruppe. 2014 verwaltete die Allianz Deutschland AG 270,7 Mrd. EUR und gab an, rund 1,6 Mio. Kund/innen mit Riester-Rente zu betreuen. Seit 2003 bietet die Allianz auch Nachhaltigkeitsfonds für fondsgebundene Rentenversicherungen an und erweiterte dieses Angebot 2011 (vgl. https://www.allianzdeutschland.de/, Stand: 15.09.2015). Canada Life startete 2000 am deutschen Markt und ist eine europäische Tochter der ersten kanadischen Lebensversicherungsgesellschaft. 2014 betrug das von Canada Life verwaltete Vermögen 4,14 Mrd. EUR. Seit 2009 bietet die Versicherung auch fondsbasierte Altersvorsorge-Produkte mit optionalen Nachhaltigkeitsfonds an (vgl. https://www.canadalife.de/, Stand: 15.09.2015). Die Stuttgarter Lebensversicherung wurde 1908 gegründet. Sie verwaltete 2014 Kapitalanlagen über ein Volumen von rund 5,5 Mrd. EUR. 2013 erweiterte sie ihr konventionelles Angebot um eine nachhaltige Altersvorsorge-Produktlinie, in deren Rahmen seitdem laut Angaben der Stuttgarter 199 Mio. ‚nachhaltig‘ veranlagt wurden (vgl. www.stuttgarter.de/, Stand: 15.09.2015).
8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse
381
darstellen. Bei diesen nachhaltigen fondsbasierten Rentenversicherungen wird zudem ein Teil der eingezahlten Beiträge noch im konventionell angelegten Sicherungsvermögen der Anbieter/innen angelegt. Gerade bei einer Riester-geförderten Variante mit Garantiekapital verringert sich daher der Anteil, der potentiell in Nachhaltigkeitsfonds investiert werden kann. Es zeigt sich bei näherer Betrachtung der fondsbasierten Produkte das folgende Muster: Je höher der Fondsanteil am Altersvorsorge-Finanzprodukt gewählt werden kann, umso mehr ‚Nachhaltigkeit‘ lässt sich darin abbilden. Weil sich nachhaltige Investments traditionell und am einfachsten in Unternehmensaktien und Aktienfonds realisieren lassen, ist gerade bei den deutlich stärker risiko- und renditeausgerichteten fondsgebundenen Rentenversicherungen, etwa im Vergleich zu Sparbriefen, paradoxerweise die Möglichkeit nachhaltig anzulegen eher gegeben. Nachhaltig fürs Alter vorzusorgen geht dann allerdings damit einher, die stärker risiko- und renditeorientierte Vorsorge- und Anlageform zu wählen. Von dieser Konstruktionsart unterschieden werden kann die Herangehensweise bestimmter Finanzdienstleister/innen, die von ihnen aufgestellten Nachhaltigkeitskriterien auf alle Kapitalanlagen und die gesamte Bandbreite an Anlageformen anzuwenden, die mit dem jeweiligen Vorsorgeprodukt einhergehen. Solche Anbieter/innen können daher auch die eher sicherheitsorientierten klassischen Rentenversicherungen als vollständig ‚nachhaltig‘ vertreiben. Insgesamt zeigt sich, dass die Organisationen Nachhaltigkeit nicht näher auf den spezifischen Aufbau des Finanzprodukts selbst beziehen, um etwa nachhaltige Anlagen für deren besonders bei der Altersvorsorge notwendige Stabilität, Sicherheit und Langfristigkeit nutzbar zu machen.29
8.6.2 Symbolisch-diskursive Ebene Betrachtet man die von den Finanzdienstleistern generierten Definitionen von Nachhaltigkeit, zeigt sich als gemeinsames Element die Konstruktion des Nachhaltigkeitsprinzips als Verbindung von ökonomischen mit sozial-ökologischen oder ethischen
29Die Darstellung der praktisch-materiellen Ebene der Nachhaltigkeitskonstruktion im Altersvorsorgeprodukt beschränkt sich hier auf ausgewählte charakteristische und verbreitete Produktund Anlagestrukturen und ist keinesfalls umfassend. Weitere wichtige organisationale Aspekte betreffen allgemeinere Organisationsstrukturen (z. B. Rechtsform, Eigentümerstrukturen; bis hin zur Existenz eines Nachhaltigkeitsbeirats oder separater Organisationseinheiten und -teams für Nachhaltigkeits- und Finanzanalyse bei bestimmten Nischenakteuren) mit Auswirkungen auf die Organisation des Anlageprozesses. Insgesamt liegt der Fokus der Ergebnisdarstellung auf den diskursiven Mustern der Nachhaltigkeitsverständnisse der Anbieter in ihren Organisationstexten. Die Nachhaltigkeitspraxis organisationsstruktureller Art und ihr Vergleich zwischen den Organisationen fällt weniger ausführlich aus; weshalb ihre Bedeutung aber nicht unterschätzt werden sollte und noch näher und weiterhin zu beobachten ist. Um für das Feld prägende Nachhaltigkeitsverständnisse aufzuzeigen, war es zunächst wichtig, dort wirksame gemeinsame Diskursmuster und materielle Grundaspekte nachhaltiger Altersvorsorgeprodukte zu betrachten.
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Zielsetzungen. Mit symbolischer Sprache wird das harmonische Bild einer wechselseitigen Befruchtung aus Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit gezeichnet, in dem Konflikte, Interessensabwägungen und Kompromisse abwesend zu sein scheinen: „Nachhaltigkeit. Wirtschaftlicher Erfolg, Umweltschutz und soziale Verantwortung gehen Hand in Hand.“30 Der Gesamtverband deutscher Versicherer (GDV 2015, S. 5) interpretiert „Nachhaltigkeit“ als Begriff, der „eine generelle Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Erfolg mit übergeordneten gesellschaftlichen Interessen“ fordert. Die Organisationen beziehen sich nicht spezifisch auf die Nachhaltigkeit ihres Altersvorsorgeangebots, sondern führen möglichst umfassende Bedeutungen des Begriffes und Konzeptes an, die inhaltlich breit mit Themengebieten wie Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Verantwortung und wirtschaftlicher Erfolg gefüllt werden. Indem vorab per definitionem eine ausbalancierte Berücksichtigung und Konfliktfreiheit der ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen als gegeben und im Finanzprodukt enthalten transportiert werden, verdeckt dies Spannungen und Ambivalenzen. Zudem verdeckt es, dass es die Finanzunternehmen selbst sind, die diese Kombination gestalten und die unterschiedlichen Ziele gewichten und im Konfliktfall gegeneinander abwägen (können und müssen). Dieser privatunternehmerische Ermessensspielraum über Nachhaltigkeit bei der Kapitalanlage wird vom (GDV 2015) auch explizit eingefordert. Für eine definitorische Einbettung ihrer nachhaltigen Vorsorgeprodukte reproduzieren die Organisationen den allgemeinen Nachhaltigkeitsbegriff tendenziell auf eine Weise, die eine notwendige Vereinbarkeit mit wirtschaftlichen Interessen in den Mittelpunkt stellt und zugleich entproblematisiert. Die konkreten Inhalte der Nachhaltigkeit ihrer angebotenen Altersvorsorge-Produkte werden dann erst implizit etwa über die gewählten Schwerpunkte und selektiv zusammengestellten Themenbereiche der konkreten Anlagekriterien und -bereiche definiert. Ein in dieser Hinsicht ähnliches Vorgehen stellen Feist und Fuchs für Banken fest: Nachhaltigkeit wird von den Akteur/innen vorab positiv als gesellschaftlich nutzenstiftend dargestellt, ohne dass diese sich inhaltlich mit einer Definition auseinandersetzen. Die Begriffsbestimmung erfolgt erst „implikativ“ über die Umsetzung in die gewählten Handlungsfelder (Feist und Fuchs 2014, S. 230).31 In unserem Fall zeigt die praktisch-materielle Umsetzung in der Produktgestaltung und den Anlagekriterien, wie die Altersvorsorge-Finanzdienstleister bestimmen, welche Themengebiete berücksichtigt werden. Ausklammerungen und Marginalisierungen bestimmter Themen werden auch hier durch die definitorische Konstruktionsweise von
30https://www.concordia.de/ww/de/pub/nachhaltigkeit.cfm,
letzter Zugriff: 18.08.2019. einer Untersuchung der Nachhaltigkeitsberichte von Banken standen deren allgemeine Nachhaltigkeitsstrategien, nicht die Finanzdienstleistungen selbst im Fokus. An der selektiven Hervorhebung von Handlungsfeldern zeigt sich dort die nachträgliche Begriffsbestimmung, zum Beispiel indem die soziale Nachhaltigkeitsdimension auf die eigene Personalpolitik oder die Finanztätigkeit im Bereich Entwicklungszusammenarbeit auf Klimaschutz verengt wird (Feist und Fuchs 2014, S. 235). 31Mittels
8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse
383
Nachhaltigkeit orientiert an Allgemeinheit und einer Konnotation mit gesellschaftlichen Allgemeininteressen eher verdeckt (Feist und Fuchs 2014). So treten beispielsweise Aspekte sozialer Gerechtigkeit und weitere soziale Gesichtspunkte – obwohl in allgemeinen Definitionen stets gleichrangig angeführt – in der konkreten Umsetzung nachhaltiger Altersvorsorge-Anlagen gegenüber Umweltthemen und ökologischen Kriterien meist deutlich in den Hintergrund. Ökologische Anlagekriterien überwiegen deutlich, was sich auch in der teilweise angegebenen Verteilung der nachhaltigen Kapitalanlagen widerspiegelt: Besonders Investitionen im Bereich regenerativer Energiegewinnung (z. B. Windenergie, Photovoltaik, Solarenergie oder Biogas), umweltschonende Produktion, Dienstleistungen und Immobilien werden als Positivkriterien genannt. Trotz des allgemeinen Hinweises auf die gleichrangige Berücksichtigung der Dimensionen und anderer angeführter Kriterien gibt es – wenn Angaben vorliegen – bei den tatsächlich getätigten Investitionen häufig eine starke Tendenz zu regenerativen Energien. Bei der Stuttgarter Versicherung war dies 2018 etwa für den überwiegenden Anteil der nachhaltigen Anlagen der Fall (Stuttgarter Lebensversicherung a. G. 2018). Soziale Gesichtspunkte werden hingegen wesentlich allgemeiner gehalten und sind häufig nur an gesetzlichen Mindeststandards orientiert: zum Beispiel Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, Kinderarbeit oder Chancengleichheit.32 Insgesamt finden sich drei dominante Muster an Begründungen und Rechtfertigungen für Nachhaltigkeit beziehungsweise die Notwendigkeit einer nachhaltigen Altersvorsorge-Veranlagung: Erstens beziehen sich vorhandene Begründungen auf die Möglichkeit, die Finanzanlage für die eigene Vorsorge mit moralischen Vorstellungen und sozial-ökologischem Handeln verbinden zu können. Den bereits in einer allgemeinen Definition stark gemachten Vereinbarkeitsgedanken führen die Organisationen in Begründungen und Zweckbestimmungen nachhaltiger Altersvorsorge fort: Sie dient dazu, persönlich ökonomisch vom Finanzmarkt zu profitieren, Einkommen fürs Alter zu generieren und zusätzlich im Sinne der Allgemeinheit und Umwelt zu handeln. Während die Nachhaltigkeit des Finanzprodukts den Vorsorgenden vorrangig als eine Art ethische Zusatzleistung präsentiert und erklärt wird, spielt sie für die Qualität der Altersvorsorge-Möglichkeit selbst, im Sinne von Aspekten der Sicherheit oder Stabilität der Rentenanlagen am Finanzmarkt, als Begründung keine vordergründige Rolle. Canada Life bietet Nachhaltigkeitsfonds mit ethischer und ökologischer Ausrichtung an. […] So kann auch die Altersvorsorge im Einklang mit persönlichen Wertevorstellungen wachsen.33 Das Schönste jedoch bei der Diskussion über nachhaltige Geldanlage ist die emotionale Identifizierung mit der Wahl der Fonds: Die Kombination aus gutem Gewissen, einer
32https://www.concordia.de/ww/de/pub/nachhaltigkeit/nachhaltige_kapitalanlagen/nachhaltigkeitsleitlinien.cfm, Stand: 29.10.2015. 33https://www.canadalife.de/nachhaltigkeit, Stand: 18.08.2019.
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Renditeerwartung über den festverzinslichen Anlagen und innerer Verbundenheit mit den Anlagegrundsätzen überzeugt eine zunehmend steigende Anzahl an Anlegern […].34
Zweitens findet eine Rechtfertigung der Berücksichtigung nicht-finanzieller ökologischer, sozialer und ethischer Aspekte bei der Rentenanlage über ein ökonomisches Argument statt. Betont wird dabei ausdrücklich, dass die Orientierung an persönlichem Gewinnstreben und Kapitalvermehrung auch für die nachhaltige Anlage leitend sei. Obwohl sich alle Anbieter/innen als Finanzmarktakteur/innen über die ökonomische Begründungslogik rechtfertigen müssen, stellen einige, insbesondere für fondsbasierte Produkte, Nachhaltigkeit in den Dienst einer höheren Rendite beziehungsweise der Ermittlung von überdurchschnittlich rentablen Anlagebereichen, während andere schlicht die Wirtschaftlichkeit betonen und hervorheben, dass es keine Einbußen gebe und auch auf Sicherheit und Stabilität der Anlagen als Gut verweisen. Nachhaltige Anlageaspekte sollen auch hier ökonomische Vorteile verschaffen und keinesfalls als Verzicht auf hohe Renditechancen verstanden werden: „So fördern Sie mit Ihrer persönlichen Altersvorsorge […] die nachhaltige Entwicklung von Umwelt und Gesellschaft – und das ohne Risiko und ohne Verzicht auf ausgezeichnete Rendite und stabile Beiträge.“35 Vermögensbildung nach ökologisch-ethischen Grundsätzen hat nichts mit Gutmenschentum oder gar einer Verpflichtung zur Selbstausbeutung zu tun. Es geht vielmehr um ein gesundes Gewinnstreben, verbunden mit bewusstem, verantwortlichem Handeln. Damit steht es eher im Gegensatz zur allgemeinen Gleichgültigkeit und Unkenntnis als im Gegensatz zum Ziel eines strategischen Vermögensaufbaus.36
In dieser stark ökonomisch geprägten Begründungs- und Rechtfertigungsvariante von Nachhaltigkeit durch die Finanzdienstleister/innen wird besonders deutlich eine Art positive Schnittmenge zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit konstruiert, auf die sich das Blickfeld der Anbieter/innen auf nachhaltige Anlagemöglichkeiten konzentriert: „sozial und nachhaltig handelnde Unternehmen [die] an den internationalen Märkten überdurchschnittliche Erträge [erzielen]“37. Neben regenerativen Energien sind fokussierte Themenfelder die Bereiche Gesundheit und Pharmazie sowie nachhaltiger Konsum und Nahrungsmittel, die von den Finanzdienstleister/innen zu jenen Investitionsbereichen gezählt werden, die sie als „Zukunftsmärkte“38 und
34https://www.canadalife.de/mcdownload/Investment_spezial_022011.pdf?sid=SID%28D:MediaC
enter,P:Datei,N_CDFJDH1OO8V2G!Datei%29, Stand: 30.10.2015. 35http://www.transparente.de/nachhaltig.html, Stand: 18.08.2019. 36https://www.oekoworld.com/privatkunden/rentenversicherungen/, Stand: 18.08.2019. 37 https://www.oekoworld.com/oekoworld-kapitalanlagegesellschaft/uebersicht-fuergeschaeftspartner/gute-gruende-fuer-oekoworld/, Stand: 20.10.2015. 38http://www.vavev.de/images/vav/Anlagebericht_VAV.pdf, Stand: 29.10.2015.
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„boomende Branchen“39 bezeichnen. Erklärt wird dazu: „Die Umwelt zu retten und faire Bedingungen für alle zu schaffen, ist ein langwieriger, sinnvoller Prozess. Und ein gigantischer Wachstumsmarkt obendrein.“40 Die Begründungslogik von Nachhaltigkeit bleibt hier anschlussfähig an eine Finanzlogik, die als letzte Rechtfertigung der Notwendigkeit einer Berücksichtigung sozial-ökologischer Aspekte auftritt.41 Dies gelingt auch, indem diese Aspekte als Risiko- und damit zugleich als Kostenfaktoren gerahmt werden: Auf den ersten, flüchtigen Blick erscheinen die beiden Anwendungskriterien Nachhaltigkeit und profitorientiertes, modernes Asset Management widersprüchlich. Tatsächlich ist der „Nachhaltigkeitsfilter” ein wichtiges Instrument, unabsehbare Verluste aus Umweltkatastrophen zu vermeiden.42
Das heißt nicht, dass das nachhaltige Altersvorsorge-Produkt seine spezifischen sozial-ökologischen Eigenschaften verlieren würde, aber diese müssen zusätzlich eine Prüfung ihrer finanziellen Profitabilität bestehen können. Von einem nachhaltigen Anlageuniversum werden daher weniger profitable Investitionsbereiche, welche die finanzmarktlogischen Erwartungen irritieren könnten, tendenziell ausgeklammert. Eine dritte, aber insgesamt marginale und wenig ausgeführte Begründungsweise stellt darauf ab, dass die Nachhaltigkeit der Investitionen der Stabilität und Langfristigkeit der Kapitalanlagen diene. Parallel dazu spielt auch die persönliche Sicherheit der Vorsorgenden im Zusammenhang mit der Begründung nachhaltiger Altersvorsorge-Produkte eine Rolle: „Die oeco capital nutzt nachhaltige Investments als stabile Basis für einen langfristigen Anlageerfolg.“43 Oder auch: „Persönliche Sicherheit und ökologische Verantwortung durch nachhaltige Altersvorsorge.“44 Eine langfristige und stabile Ausrichtung ihrer Anlagen erwähnen zwar die meisten Anbieter am Rande, aber ohne es zu einem vorrangigen Argument oder Motiv für eine nachhaltige Altersvorsorge(-veranlagung) zu machen: „Um langfristige Leistungsversprechen halten
39 https://www.oekoworld.com/fileadmin/media_oekoworld/Downloads/OEKOWORLD_
3PfiffigeGruende.pdf, Stand: 18.08.2019. Stand: 18.08.2019. 41Finanzmarktrationale Begründungsmuster dieser Art weisen auch die Berichte der Nachhaltigkeitsaktivitäten von Banken auf (Feist und Fuchs 2014, S. 233): So wie eine reine Kostendeckung in der Finanzmarktrationalität noch nichts über die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens aussagt (Feist und Fuchs 2014; Kädtler 2009), werden entsprechende Erwartungen an Wachstumsund Renditesteigerung auch an die Nachhaltigkeitsaspekte gestellt. Zum Argument der Finanzialisierung von Nachhaltigkeit (vgl. Besedovsky 2018; Hiß 2014). 42https://www.oekoworld.com/die-oekoworld-ag/ueber-uns/profil/, Stand: 29.10.2015. 43https://www.concordia.de/ww/de/pub/nachhaltigkeit/nachhaltige_kapitalanlagen/nachhaltigkeitsleitlinien.cfm, Stand: 29.10.2015. 44https://www.concordia.de/ww/files/pdf43/Foerder-Rente-futur--DinLang--MK-LV-140—012015-sko1.pdf, Stand: 29.10.2015. 40https://www.oekoworld.com,
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zu können, handelt die Allianz grundsätzlich nachhaltig orientiert.“45 Eine direkte Verknüpfung nachhaltiger Anlagekriterien mit mehr Stabilität und Sicherheit für die Altersvorsorge findet sich vergleichsweise in wenigen Aussagen. Die Ziele Nachhaltigkeit und persönliche Sicherheit der Vorsorge werden sogar eher getrennt voneinander gerechtfertigt. Wird eine direkte Verbindung gezogen, fehlt eine Ausführung, inwiefern die berücksichtigten Nachhaltigkeitsaspekte die Altersvorsorge-Anlage nun stabiler oder sicherer machen beziehungsweise wie dies konkret mit der Langfristigkeit der Investitionen zusammenhängt. Diese Beobachtung ist insofern überraschend, als dass sich gerade die spezifisch lange Dauer und notwendige Langfristigkeit einer Rentenanlage und dafür entwickelter Finanzprodukte für so eine Rechtfertigungsweise anbieten würden. Für dieses Begründungsmuster der Stabilität nachhaltiger Anlagen zeigten sich nur dezente Unterschiede zwischen den Organisationen; allgemein recht marginal ausgeprägt trat es eher bei spezialisierten Anbieter/innen auf.46 Ein spezialisierter Anbieter schließt etwa Anleihen von Großbanken aus, mit der kombinierten Begründung, dass diese in die Finanzierung sozial-ökologisch problematischer Projekte investieren und außerdem selbst krisenanfällig sind.47 Auf nachhaltiger Basis ausgewählte Unternehmen würden geringeren Risiken unterliegen48, da sie besser auf mögliche Umweltkatastrophen eingestellt und Regulierungsrisiken begrenzt sind, weil „neu geforderte Standards oft bereits umgesetzt sind.“49 So wird hier Nachhaltigkeit am Rande auch mit der Sicherheit des angelegten Alterseinkommens verknüpft: Die „sichere Altersvorsorge“ soll „auf der Basis nachhaltiger Kapitalanlagen“ erfolgen50. Den nach Nachhaltigkeitsvorstellungen ausgewählten Anlagen werden hier stabile Eigenschaften zugeschrieben. Diese Auslegung der Nachhaltigkeitslogik – die nicht so sehr im Fokus der untersuchten Finanzdienstleister/innen selbst zu stehen scheint – findet sich hingegen deutlich in folgender hier wiedergegebener Sichtweise von Finanzberater/innen:
45https://www.allianz.com/v_1440752422000/media/responsibility/documents/Fondsreport2015. pdf, Stand: 29.10.2015. 46Generell finden sich Eigenheiten der wenigen ‚Spezialisten‘ im Bereich nachhaltiger Altersvorsorge hauptsächlich in den divergenten praktisch-materiellen Merkmalen der Organisationen und Produkte. 47https://www.concordia.de/ww/de/pub/nachhaltigkeit/nachhaltige_kapitalanlagen.cfm, Stand: 30.10.2015. 48https://www.oekoworld.com/fileadmin/downloads_oekoworld/PK/Produktinformationen/OEW_ OEKOVIOLA_PK.pdf, Stand: 30.10.2015. 49https://www.oekoworld.com/privatkunden/ueber-uns/philosophie, Stand: 30.10.15. 50https://www.concordia.de/ww/de/pub/nachhaltigkeit/nachhaltige_kapitalanlagen/nachhaltigkeitsbeirat.cfm, Stand: 30.10.2015.
8.6 Ergebnisse: Nachhaltigkeitsverständnisse
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Mittel- bis langfristig seien verantwortlich wirtschaftende Unternehmen krisensicherer und profitierten von den zunehmenden Regulierungen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung (Bergius 2015, S. 3).
Hingegen rechtfertigt eine Vielzahl von Anbieter/innen innerhalb ihrer Nachhaltigkeits-Informationspflicht gerade ihre Nicht-Berücksichtigung damit, dass sie der Sicherheit und Rentabilität verpflichtet sind (Verbraucherzentrale Bremen 2016), was von Befürwortern wiederum kritisiert wird, denn Nachhaltigkeit müsse als Teil der treuhänderischen Verantwortung verstanden werden (z. B. Bergius 2015). Deutlich wird einmal mehr, wie sehr in diesem Feld Verhandlungen über Zielkonflikte, sowie über Kombinationen und Vereinbarkeit von Zielen der Nachhaltigkeits- und Finanzmarktlogik geführt werden. Als wichtige Rahmenbedingung zur Ermöglichung von Nachhaltigkeit im Allgemeinen und im Speziellen für die Altersvorsorge fungiert in den Darstellungen der Finanzdienstleister regelmäßig die Verantwortung der Vorsorgenden, deren individuelle Wahl und spezifischen Werteorientierungen: Bei den fondsgebundenen Vorsorgekonzepten der Allianz bestimmen Sie selbst, in welche Fonds Sie investieren möchten und welche Kriterien Ihren Ansprüchen an Nachhaltigkeit gerecht werden.51
Implizit vermittelt und betont wird die Eigenverantwortung der privaten Vorsorgenden, dafür zu sorgen, dass die Beiträge etwa nicht zum Schaden für Umwelt oder Gesellschaft angelegt werden. Damit geht die individuelle Verantwortung einher, beurteilen, vergleichen, unterscheiden und überprüfen zu müssen, was die Finanzdienstleister/innen tatsächlich berücksichtigen. Wie oben bereits erwähnt, fällt auf, dass auch um den privaten Ermessensspielraum über Nachhaltigkeit durch die Anbieter/innen gerungen wird: Der Verband deutscher Versicherungsunternehmen betont als wichtige Bedingung für die Berücksichtigung von Nachhaltigkeit, dass sie unternehmensindividuell und freiwillig bleiben soll und lehnt eine Verpflichtung in Form einheitlicher Definitionen, Offenlegungen oder gesetzliche Vorgaben für Investitionsstandards dazu ab (GDV 2015, S. 6, 8 f., 28). Es sollte jedoch keine grundsätzliche Verpflichtung zur Berücksichtigung von zum Beispiel Sozial- oder Umweltstandards im Rahmen von Nachhaltigkeitsbelangen sowie deren Offenlegung geben. […] Stattdessen können die Unternehmen […] ökologische und soziale Standards sowie eine Bewertung der Grundsätze der Unternehmensführung eigenverantwortlich […] in ihre Anlageentscheidungsprozesse einfließen lassen (GDV 2015, S. 8).
Dabei argumentiert der Versicherungsverband mit der „Diversität unterschiedlicher Wertevorstellungen bei diesem Thema“ und einem „Wettbewerb der Ideen“
51https://www.allianz.com/v_1440752422000/media/responsibility/documents/Fondsreport2015. pdf, Stand: 30.10.2015.
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zwischen den Unternehmen, die durch die „fehlende Trennschärfe“ der Nachhaltigkeit sogar gefördert werde (GDV 2015, S. 6). Nachhaltigkeit bedingt sich dann durch die individualisierte, privatisierte Verantwortung von Vorsorgenden und Finanzunternehmen, aber nicht durch gesellschaftlich ausverhandelte Regeln, die für alle Anbieter/innen und Produkte gleichermaßen gelten.
8.7 Diskussion und Fazit Der Beitrag gab zunächst einen Einblick darin, wie sich die teilweise Umstellung von Umlagedeckung auf Kapitaldeckung in Form der Teilprivatisierung der Alterssicherung und die damit verbundene Entwicklung einer Notwendigkeit und Norm zusätzlicher privater, kapitalmarktabhängiger Altersvorsorge gesellschaftlich und auf die Individuen, aber auch am Finanzmarkt auswirkt(e). Es zeigten sich, im Lichte der Finanzialisierungsdebatte, unterschiedliche Konsequenzen und Problemstellungen der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge etwa in Bezug auf individualisierte (Finanzmarkt-)Risiken sowie in der Produktion systemischer Risiken und Instabilitäten: So verschieben sich Verlustrisiken und Marktinstabilitäten, etwa durch Zins- und Kursschwankungen, in der finanzialisierten Rente von der Verantwortung kollektiver Akteure hinein in den privaten Verantwortungsbereich der Individuen (Mertens und Meyer-Eppler 2014). Mit den global angewachsenen Pensionsvermögen erhöhte sich der Wettbewerbsdruck um rentable Anlagemöglichkeiten und damit die Bereitschaft zu risikoaffinem Verhalten mit neuen Instrumenten sowie die systemische Instabilität (vgl. Christen 2013). Die finanzialisierte Altersvorsorge treibt diese Verhältnisse und leidet zugleich darunter. Die globalen Verluste kapitalgedeckter Pensionsvermögen in der letzten Finanzkrise reflektieren das besondere Problem schwer kontrollierbarer systemischer Instabilitäten der Finanzmärkte für langfristig planbare, stabile Vorsorgeleistungen. Die Verwendung der Milliardenvermögen, die mit der privaten, geförderten Altersvorsorge an die Märkte gelangt, folgt deren Logiken und Mechanismen, ohne gesellschaftliche Zweckbestimmung oder Transparenz wohin das Geld fließt. Was gerade bei der staatlich geförderten Altersvorsorge Kritik an sozial-ökologisch oder ethisch problematischen Investitionspraktiken hervorruft (Stichwort Streumunition/Waffenproduktion, Nahrungsmittelspekulation). Gerade bei der Veranlagung geförderter Altersvorsorge zeigen sich – im Kontext politischer Lenkungsmöglichkeiten, großer Summen, potenziell langer Anlagehorizonte sowie der breiteren gesellschaftlichen Beteiligung – Ideen und Ansprüche der sozial-ökologischen Nachhaltigkeit, zum Beispiel in der frühen, aber schwachen Nachhaltigkeitsberichtspflicht, sowie frühzeitigen, anhaltenden Forderungen nach gesetzlichen Mindeststandards. Wir argumentieren, dass gerade im Feld der Altersvorsorge eine gesellschaftliche Nachhaltigkeitslogik als zusätzliche Rationalisierungs- und Begründungsordnung Aufmerksamkeit erlangt, die sich eben auch als Reaktion und Bearbeitungsstrategie der negativen Konsequenzen und Begleiterscheinungen ihrer finanzmarktlogischen
8.7 Diskussion und Fazit
389
urchdringung sowie der gesellschaftlichen Kritik daran entwickelt.52 Wir betonen so D den Aspekt der Finanzialisierung, insbesondere der Alterssicherung, als einen paradoxen Kontextfaktor in der Herausbildung von Nachhaltigkeitsstrategien beziehungsweise einer Nachhaltigkeitslogik im Finanzfeld, die dort negative gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen zu begrenzen und zugleich neue Einflussmöglichkeiten für Nachhaltigkeitsziele zu nutzen sucht. Vor diesem Hintergrund haben wir das empirische Feld nachhaltiger Altersvorsorge charakterisiert, und die Nachhaltigkeitsverständnisse der Finanzorganisationen analysiert. Die herausgearbeiteten Feldcharakteristika zeigen den geringen Institutionalisierungsgrad der neuen Rationalisierungs- und Begründungsordnung auf Feldebene (z. B. keine einheitliche Definition, Intransparenz der Kriterien, fehlende Vergleichbarkeit, große Varianz, softe Berichtspflicht), die daher unter aktiver Beteiligung der Finanzakteur/innen diskursiv und praktisch hergestellt und angeeignet wird. Anhand der Textproduktion der Finanzdienstleister konnten wir exemplarisch zeigen, wie in deren Definitionen, Begründungen und praktischen Umsetzungen bestimmte Elemente und Auslegungen von Nachhaltigkeit in den Vordergrund treten und um sie gerungen wird. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in der Art und Weise, wie Nachhaltigkeit in den Finanzorganisationen und -produkten privater Altersvorsorge adaptiert wurde, wesentliche Irritationen finanzmarktrationaler Erwartungen vermieden werden können. Nachhaltigkeitsdefinitionen der untersuchten Finanzdienstleister/innen funktionieren in zentraler Weise entlang der Setzung der Vereinbarkeit und impliziten Konfliktfreiheit der verschiedenen sozial-ökologischen und insbesondere ökonomischen Ziele. Das modifiziert den allgemeinen Gedanken der Verbundenheit aller Lebewesen und verschiedener Systeme (auf Makroebene der Nachhaltigkeitslogik angelegt, siehe dazu den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band), der ursprünglich die Grenzen ökonomischer Ziele und ihre Externalisierung von Kosten an die gemeinsamen Lebensgrundlagen und sozial-ökologischen Systeme aufzeigt: die mantraartig hervorgehobene Vereinbarkeit klammert solche Fragen nach Grenzen, Zielkonflikten und Abstrichen von Partikularinteressen zugunsten eines gemeinsamen Ganzen aus. Die vorab mit einer Gleichrangigkeit der Ziele konnotierte Nachhaltigkeitsdefinition überdeckt die Marginalisierungen in ihrer tatsächlichen inhaltlichen und praktischen Umsetzung, zum Beispiel von sozialen Gesichtspunkten gegenüber ökologischen (bspw. durch die Konzentration auf regenerative Energien). Die Nachhaltigkeitsberücksichtigung wird deutlich geprägt von finanzmarktrationalen Begründungsmustern: Diese bedingen häufig, was nachhaltige Vorsorgeanlagen letztlich sind. Finanzielle
52Auch
sind mit der nachhaltigen Altersvorsorge Hoffnungen verbunden, langfristig und sicher zu investieren, denn die Idee zum Beispiel einer Nachhaltigkeitsberichtspflicht zielt neben sozial-ökologischen Aspekten auch darauf ab, langfristiges Kapital für eine nachhaltige Entwicklung, aber auch langfristigere stabilere Investitionen bereit zu stellen.
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rofitabilität wird als Maßstab an ökosoziale Nachhaltigkeitswerte angelegt.53 Ein Bezug P auf stabilisierende Eigenschaften von Nachhaltigkeit für die Pensionsanlagen findet sich bei den untersuchten Finanzorganisationen selbst nur als vergleichsweise randständige Auslegung der Nachhaltigkeitslogik im Feld (im Sinne ihrer Verknüpfung mit Risikobewusstsein und Krisensicherheit), scheint aber (von außen) verstärkt eingefordert zu werden. Zudem zeigt sich die besondere Rolle der gesetzten Bedingung individueller Werte(– pluralität) und privaten Ermessens bei der Ausgestaltung und Aushandlung von Nachhaltigkeit im Feld. Die Verantwortung für die Berücksichtigung extra-finanzieller, sozial-ökologischer Auswirkungen der Pensionsgelder wird in der diskursiven Auseinandersetzung der Organisationen in der privaten Sphäre verankert, im privaten Ermessensspielraum der Unternehmen und Investor/innen sowie in der privaten Verantwortung der Kleinanleger/innen. An den rekonstruierten Debatten im und über das Feld nachhaltiger Altersvorsorge zeigt sich, dass gerade um diese Dimension heftig gerungen wird, und damit wiederum wie umkämpft die Institutionalisierung der Nachhaltigkeitslogik im Feld ist. Ob die Berücksichtigung sozial-ökologischer Aspekte private Ermessenssache bleibt und im ‚Wettbewerb der Werte‘ (GDV 2015) entsteht, oder ob einheitliche Definitionen und verbindliche regulative Standards notwendig sind (vgl. Verbraucherzentrale Bremen 2016), ist ein Kern der Aushandlung. Im Kontext deregulierter Finanzmärkte geht es dabei auch darum, ob Nachhaltigkeit als Ersatz oder als Anstoß für deren Regulierung verstanden und gestaltet wird. In den Konstruktionen nachhaltiger Altersvorsorge durch die Finanzmarktakteur/ innen sind letztlich vorrangig die einzelnen Vorsorgenden gefordert, individualisiert Verantwortung zu übernehmen für die Konsequenzen der Finanzanlagen in Bezug auf Allgemeinheit und Umwelt. Negative Auswirkungen der finanzialisierten Alterssicherung, ob in Form von Risiken, Instabilitäten oder ethischen und sozial-ökologischen (Neben-) Effekten, sind somit tendenziell von den Vorsorgenden zu verantworten aber auch zu regulieren.54 Nicht nur Altersarmut und Verluste bei der Rentenanlage werden dann aber als Folge mangelnder Selbstvorsorge, fehlender Finanzmarktkompetenz, falscher Produktwahl und damit als individuelles Fehlverhalten interpretierbar und darauf reduzierbar, sondern auch die ethischen und sozial-ökologischen Folgewirkungen der Geldanlage.
53Ähnlich zeigt sich in den Nachhaltigkeitsberichten von Banken, wie die finanzielle Bewertung zur Vorbedingung von (gelungener) Nachhaltigkeitspraxis definiert wird (Feist und Fuchs 2014, S. 233). 54Veränderungen der politischen Gestaltung des Finanzmarkts hin zu Bestrebungen, die Individuen als Verbraucher stärker in Regulierungsaufgaben einzubinden, z. B. durch die Betonung von Konsument/innen-Verantwortung, zeigen sich etwa auch an politischen Offensiven zur Finanzbildung (Weber 2010, S. 378).
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Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten? Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft Daniela Woschnack
Inhaltsverzeichnis 9.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Gesellschaft und Unternehmen – gegenseitige Erwartungsstrukturen, Aushandlungsprozesse und Interdependenzgeflechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Unternehmerische Verantwortlichkeit: Das Konzept der Accountability im Kontext von gesellschaftlicher Legitimation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Unternehmen, Nachhaltigkeit und die Veröffentlichung von nicht-finanziellen Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.1 Empirische Daten und Methode sowie Vorgehen bei der empirischen Analyse. . . . 9.5.2 Ergebnisse der empirischen Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Fazit: Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
In welchem Verhältnis stehen Unternehmen und Gesellschaft? (Wie) hat sich dieses Verhältnis im Zuge der Globalisierungstendenzen der letzten Dekaden verändert? – Diese Fragen greift der vorliegende Beitrag auf und beantwortet sie für das bisher eher wenig institutionalisierte Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung. Die nicht-finanzielle Berichterstattung als ‚moderne‘ Form der Unternehmenskommunikation ist geprägt von vielfältigen Akteuren und Initiativen sowie dynamischen Entwicklungen auf der regulatorischen Ebene. Auf der Basis von 38 qualitativen, problemzentrierten diskursiven Interviews werden die im Feld vorhandenen Narrative mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse rekonstruiert und herausgearbeitet, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hiß et al., Nachhaltigkeit und Finanzmarkt, Wirtschaft + Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30259-7_9
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einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft (neu) zu verhandeln. Diese Narrative können schließlich als Ausgangspunkt genutzt werden, um die Dynamiken, die mit einer stärkeren Regulierung und Standardisierung im Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung einhergehen (könnten), verorten zu können.
9.1 Einleitung1 Als „Zauberlehrling der Moderne“ (Maurer 2008, S. 17) ist es ein Attribut unserer heutigen Zeit – das Unternehmen. Sein Daseinszweck beschränkte sich einst auf die Erstellung von Produkten und Dienstleistungen „zum Zwecke des Tausches über den eigenen Bedarf hinaus“ (Hiß und Nagel 2017, S. 333), doch mittlerweile übersteigt die Bedeutung und Macht der größten multinationalen Unternehmen bereits die einer Vielzahl staatlicher Akteure (Hiß und Nagel 2017, S. 331, siehe auch Davis 2009). Ihre Ausbreitung sowie die damit verbundene Macht- und Bedeutungszunahme ist einer Strukturinnovation moderner Gesellschaften gleichzusetzen (Maurer 2008, S. 17; Maurer und Schimank 2008b). Unternehmen gelten als zentrale Grundpfeiler und Kerninstitution moderner Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme (Berghoff 2004, S. 7, 22; Maurer und Schimank 2008a, S. 7) ebenso wie als „ökonomischer Motor der Geschichte“, „soziale Interaktionsfelder“, „kulturschaffende Institutionen“ und „politische Akteure“ (Berghoff 2004, S. 22, 23, 24, 26). Doch bekanntlich hat jede Medaille zwei Seiten und so werden Unternehmen im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend auch sehr kritisch beäugt. Ihr scheinbar unaufhaltsamer Aufstieg zu einer der Kerninstitutionen moderner Gesellschaften (Berghoff 2004, S. 7, 22) birgt neben dem glamourösen Schein auch die Gefahr, dass Unternehmen das gesellschaftliche Leben dominieren und durch ein unmoralisches, ausschließlich auf den eigenen Profit ausgerichtetes Verhalten gesellschaftliche Problemlagen schaffen oder bestehende weiter verschärfen. Vor allem der anhaltende Konkurrenzdruck, der zu einer stetigen Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen und letztendlich zu einem
1Das
diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt ‚Doppelte Dividende? Beitrag des nachhaltigen Investierens zur Stabilisierung des Finanzmarkts‘ wurde von April 2015 bis September 2018 im Rahmen der Förderinitiative ‚Finanzsystem und Gesellschaft‘ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UF1504 gefördert und unter Leitung von Prof. Dr. Stefanie Hiß an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Mein besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, ohne die diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Die Autorin arbeitet dieses Teilprojekt im Rahmen ihres Promotionsvorhabens noch weiter aus und plant für das Jahr 2021 die Vorlage einer Dissertation mit dem Arbeitstitel ‚Unternehmen als verantwortungsbewusste gesellschaftliche Akteure?! Eine soziologische Betrachtung am Beispiel der nicht-finanziellen Berichterstattung‘.
9.1 Einleitung
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sogenannten Race to the Bottom, einer kontinuierlichen Unterbietung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards (siehe u. a. Bohle 2006; Ortmann 2015, S. 159–161; Tabb 2003) führt, ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt dieser Kehrseite. Der Skandal rund um Rana Plaza im Jahr 2013 und damit der Einsturz eines maroden Gebäudekomplexes in Bangladesch, der über 1100 Menschen das Leben kostete und bei dem weit mehr als 2000 Menschen verletzt wurden, ist ein erschreckendes Beispiel für eben diesen Einfluss von Unternehmen (siehe u. a. Diettrich 2017; Tagesschau.de 2017). Auch die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 demonstriert mit beeindruckender Klarheit, welche Auswirkungen ein profitgetriebenes, auf Kurzfristigkeit orientiertes Handeln von Unternehmen haben kann (siehe u. a. Honegger et al. 2010; Koslowski 2009; Piper 2010; Schrooten 2008; Sinn 2010). Im Zuge dessen tritt das Thema Transparenz zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus, denn – so die dahinterstehende Idee – durch die Offenlegung von ausführlichen Informationen zu Unternehmensaktivitäten werden auch potentielle Risikofaktoren sichtbar. Als eine Art neuartiges Risikomanagementsystem würde dies eine frühzeitige Kenntnisnahme dieser Faktoren und das Einleiten entsprechender Reaktionen durch das Unternehmen selbst sowie durch eine breitere Gesellschaft ermöglichen. Ereignisse wie der Rana-Plaza-Skandal oder eine weitere Wirtschafts- und Finanzkrise könnten verhindert oder zumindest abgeschwächt werden. Zudem würden Unternehmen infolge von mehr Transparenz auch eher dazu angehalten sein, ihre Aktivitäten moralischer zu gestalten – so die theoretischen Überlegungen. Dahinter steht jedoch auch der Drang, das Verhältnis von Gesellschaft und Unternehmen sowie damit das Wirtschafts- und Finanzsystem (neu) zu reflektieren und (neu) zu verhandeln. Immerhin haben die Globalisierungstendenzen der letzten Dekaden nur allzu deutlich gezeigt, dass es eine Reihe von (neuen) Risiken gibt, die neben den altbekannten und anerkannten finanziellen Risiken soziale und ökologische Systeme bedrohen können. Es gilt demnach, das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft in den Blick zu nehmen und über deren Potential, das jeweils andere soziale Gebilde zu (de-)stabilisieren, zu reflektieren. Die Unternehmen der modernen Welt werden bereits seit vielen Jahrzehnten mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, transparent über die Gesamtheit ihrer unternehmerischen Aktivitäten zu berichten. Mit Beginn der 1970er Jahre haben sich infolgedessen Standards für die Berichterstattung zu finanziellen Aspekten eben dieser unternehmerischen Tätigkeiten entwickelt. Unternehmen nutzen diese Standards und berichten über Ländergrenzen hinweg in ihren Geschäftsberichten zu ihrer finanziellen Performance, um eventuelle Risiken monetärer Art transparent(er) zu machen. Doch damit allein erfüllen Unternehmen die Forderung nach einer gesamtheitlichen Transparenz nicht, denn ihre Unternehmensaktivitäten schließen neben finanziellen Aspekten auch eine Vielzahl nicht-finanzieller Aspekte ein. Seit dem Aufstieg des Themas Nachhaltigkeit zu einem gesellschaftlichen Leitkonzept mit Beginn der 1990er Jahre etabliert sich auch mehr und mehr die Forderung nach einer Berichterstattung zu nicht-finanziellen Aspekten der unternehmerischen Aktivitäten und damit der Nachhaltigkeitsperformance von Unternehmen. Dieser
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ntwicklung liegt die Einsicht zugrunde, dass es neben finanziellen Risiken noch E weitere Risiken gibt, die Einfluss auf das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem haben können. Mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Erwartung nach einer ganzheitlichen Berichterstattung zu Unternehmensaktivitäten geht folglich auch die Anerkennung neuer Risikoformen einher. Hierbei handelt es sich um Risikoformen, die nicht-finanzieller Art sind und infolge der Auswirkungen von Unternehmensaktivitäten im Umweltoder Sozialbereich entstehen. So hat unter anderem der Klimawandel als ein zentrales gesellschaftliches Problem vielfältige direkte und indirekte Auswirkungen auf Unternehmen, beispielsweise wenn ansteigende Temperaturen Menschen sowie Tiere und Pflanzen belasten und gesundheitliche Folgen nach sich ziehen oder auch wenn sich die Vegetationsperioden verschieben. Auch die immer stärker zunehmenden Unwetter können eine Gefahr für die Ernten darstellen ebenso wie für Produktionsgebiete, die in der Folge nicht selten überschwemmt werden (siehe u. a. Umweltbundesamt 2017; Umweltbundesamt o. J.). Erste Forderungen nach einer nicht-finanziellen Berichterstattung kamen bereits in Form des sogenannten „social accounting“ (Berthoin Antal et al. 2002; Hiss 2013, S. 237; Tschopp und Huefner 2014) in den 1960er und 1970er Jahren auf, doch im Gegensatz zur Finanzberichterstattung ist die nicht-finanzielle Nachhaltigkeitsberichterstattung noch immer am Anfang ihrer Entwicklung und der Weg zu verbindlichen Standards scheint noch weit. Dennoch versuchen Unternehmen zunehmend den gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen und gesellschaftliche Legitimität durch eine nicht-finanzielle Berichterstattung zu erhalten. Aktuell berichten bereits über 70 % der 100 weltweit größten Unternehmen über ihre nicht-finanzielle Performance; noch zu Beginn der 1990er Jahre waren es nur knapp 10 % (KPMG International Cooperative 2015, S. 30). Angetrieben durch die sich zunehmend ausbreitende institutionelle Makrologik der Nachhaltigkeit (vgl. den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band) etabliert sich mehr und mehr eine neue legitime Form der Berichterstattung, die damit auch neue Themen(felder) auf die Agenda von Unternehmen sowie der Gesellschaft setzt. Zugleich bietet sie die Möglichkeit, das Verhältnis von Gesellschaft und Unternehmen in den Fokus der Analyse zu stellen. An diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an und beantwortet die Frage, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu verhandeln. Auf der Basis von 38 qualitativen, problemzentrierten diskursiven Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmen verschiedener Größen, von Initiativen zur Entwicklung von Standards im Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung, von Finanzmarktakteuren sowie von Nichtregierungsorganisationen und Fachverbänden, Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wurden die im Feld vorhandenen Narrative in Bezug zur genannten Forschungsfrage mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) rekonstruiert. Dieser Zugang bietet sich an, da die soziale Welt gesellschaftlich konstruiert ist (Berger und Luckmann 2012; Maines 2001) und als Ergebnis von Kommunikationsprozessen verstanden werden
9.1 Einleitung
401
kann (Maines 1993). Folglich beinhaltet die Mehrheit aller Sprechakte und Selbstdarstellungen von Individuen Elemente von Narrativen (Maines 1993, S. 21 f.), die für Individuen wiederum als Instrumente zur Sinnstiftung (Boje 1991, S. 106; Delgado 1989, S. 2414; Shapiro 2015, S. 3) sowie zur Abgrenzung gegenüber beziehungsweise zur Verortung innerhalb der institutionellen Umwelt (Delgado 1989, S. 2412) dienen. Die Rekonstruktion von Narrativen zum Thema der nicht-finanziellen Berichterstattung eröffnet folglich die Möglichkeit, die von den Interviewten im Feld konstruierte soziale Welt zu rekonstruieren und die dahinterliegenden latenten Sinnzusammenhänge zu identifizieren. Diese geben Aufschluss über die von den Individuen unhinterfragt genutzten Denkmuster, die deren soziales Handeln maßgeblich prägen und damit unternehmerische Aktivitäten bestimmen. Mithilfe der empirischen Analyse konnten sechs Narrative rekonstruiert werden, die das Feld in Bezug zur genannten Forschungsfrage beschreiben. Diese Narrative sind nicht als disjunkt zu verstehen. Vielmehr nehmen sie Bezug aufeinander und bedingen sich teilweise gegenseitig. Als Ergebnis der empirischen Analyse kann konstatiert werden, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung als Anfang und zugleich Ende eines Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen und damit als Reflexionsraum für eine Neuverhandlung der bisherigen Wirtschaftsweise und des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen anerkannt wird. Damit geht auch die stärkere Aufmerksamkeit für und die Anerkennung von neuen (systemischen) Risiken sowie Chancen einher. Durch die nicht-finanzielle Berichterstattung werden Themen auf die gesellschaftliche und unternehmerische Agenda gesetzt, die vorab nicht im Kontext von unternehmerischen Aktivitäten zur Diskussion standen. Dadurch wird ein umfassendes oder zumindest ein umfassenderes Bild von Unternehmen und potentiellen Risikofaktoren ermöglicht, was den gesellschaftlichen Akteuren wiederum ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Als Folge wird die nicht-finanzielle Berichterstattung als ein, das Gesellschaftssystem stabilisierendes Instrument wahrgenommen. Diese Wirkung kann das Berichterstattungsinstrument jedoch nur entfalten, wenn die Unternehmen, die im Rahmen der Berichterstattung als deutende Akteure aktiv werden, auch die unternehmerische Realität berichten. Hervorzuheben bleibt, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung trotz ihrer Motivation, bestehende Prozesse des Wirtschaftens umzudenken, dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordnet ist. Dies könnte das Ergebnis der bislang geringen Standardisierung im Feld und der damit einhergehenden aktiven Rolle von Unternehmen als deutende Akteure sein. Mit Blick auf die Forschungsfrage ist festzuhalten, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung als Reflexionsraum zur (Neu-)Verhandlung des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen anerkannt wird. Die geringe Standardisierung und Institutionalisierung des Feldes könnten jedoch Gründe dafür sein, dass ökonomische und monetäre Prinzipien noch immer die mit der nicht-finanziellen Berichterstattung einhergehenden Prozesse des Umdenkens determinieren. Der vorliegende Beitrag ist wie folgt strukturiert: Nachdem zunächst auf das Verhältnis von Gesellschaft und Unternehmen eingegangen wird, schließt sich die
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9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten?
Betrachtung der spezifischen Verantwortlichkeit von Unternehmen im Kontext des aus dem neuen soziologischen Institutionalismus stammenden analytischen Konzepts der gesellschaftlichen Legitimation an. Darauf aufbauend wird das Thema der Nachhaltigkeit im unternehmerischen Kontext und speziell die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen in den Blick genommen. Daran anschließend erfolgt die empirische Analyse und damit die Rekonstruktion der Narrative, nachdem die empirischen Daten sowie die angewendete Methode und das Vorgehen zur empirischen Analyse vorgestellt wurden. Im sich anschließenden synoptischen Fazit werden die identifizierten Narrative einer soziologischen Betrachtung und Interpretation unterzogen und Implikationen in Bezug auf die Forschungsfrage herausgearbeitet.
9.2 Gesellschaft und Unternehmen – gegenseitige Erwartungsstrukturen, Aushandlungsprozesse und Interdependenzgeflechte Ob als Arbeitgeber oder als Produzenten und Distributoren von Waren und Dienstleistungen, Unternehmen zwingen die Bürgerinnen und Bürger moderner Gesellschaften und ihre politischen Systeme in eine unausweichliche Abhängigkeit. Über ihre Wertschöpfungs- und Innovationsprozesse bestimmen sie „die Leistungsfähigkeit ganzer Volkswirtschaften“ (Berghoff 2004, S. 22) mit und beeinflussen so den gesellschaftlichen Wohlstand und die Verteilung wirtschaftlicher und sozialer Ressourcen. Sie treten als handelnde Objekte in vielfältigen Gesellschaftsbereichen auf, gründen Stiftungen, spenden für wohltätige Zwecke und betreiben Lobbyismus (Hiß und Nagel 2017, S. 333; Maurer 2008, S. 17). Kurzum: Ein Leben in modernen Gesellschaften ist nur „mit und von Unternehmen und ihren Produkten“ (Berghoff 2004, S. 22) möglich. Unternehmen sind damit nicht nur wirkmächtige, sondern vor allem auch „omnipräsente Akteure“ (DiMaggio 2001; Hiß und Nagel 2017, S. 333; Morgan et al. 2001). Dies wird auch bei näherer Betrachtung der täglichen medialen Berichterstattung deutlich: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über die Erfolge von Unternehmen berichtet wird. Als eben solche werden beispielsweise ein stetig ansteigender Unternehmensbörsenwert oder auch die Einführung von neuen Produkten, die einen gesellschaftlichen Mehrwert versprechen, wie beispielsweise neue Technologien im Bereich der Elektromobilität, verstanden (siehe weiterführend auch Rammert 2017). Aber auch die Skandale von Unternehmen bekommen nicht allzu selten einen prominenten Platz im medialen Diskurs eingeräumt (Diochon et al. 2013; Ortmann 2015; Skeel 2005). In der jüngeren Vergangenheit war es unter anderem der Volkswagenkonzern, der die Schlagzeilen in Deutschland wochenlang infolge gefälschter Abgaswerte dominierte. Aber auch andere Unternehmen tauchen aufgrund geschönter Bilanzen, prekärer Arbeitsverhältnisse oder auch einer dramatischen Umweltzerstörung immer wieder in der medialen Berichterstattung auf. Infolge dieser medienbasierten Inszenierung tritt oftmals in den Hintergrund, dass auch die Gesellschaft Einfluss auf Unternehmen hat – so ist es schließlich die
9.2 Gesellschaft und Unternehmen – gegenseitige Erwartungsstrukturen
403
esellschaft, die die Unternehmen als Organisationen erst ermöglicht und ihre AusG gestaltung in prägnanter Art und Weise (mit)bestimmt (Hiß und Nagel 2017, S. 331). Unternehmen und Gesellschaft stehen in einem Wechselverhältnis, welches durch vielfache und komplexe Verschränkungen geprägt ist und, in Abhängigkeit von historischen und sozialen Wandlungsprozessen, permanent (neu) verhandelt wird (Hiß und Nagel 2017, S. 331 f.). Basis dieses Wechselspiels und seiner Aushandlungsprozesse sind gegenseitige Erwartungshaltungen und -strukturen. Auf der einen Seite werden Unternehmen beispielsweise mit der gesellschaftlichen Forderung zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in Form der Etablierung von Umwelt- und Sozialstandards in der Wertschöpfungs- und Lieferkette konfrontiert. Artikuliert werden derartige Erwartungen zumeist durch politische oder zivilgesellschaftliche Initiativen. Auf der anderen Seite stellen Unternehmen unter anderem die Forderung an die Gesellschaft, in wirtschaftlicher Hinsicht möglichst viele Freiheiten genießen zu können, die auf entsprechend transparent gestalteten rechtlichen Rahmenbedingungen basieren (Hiß und Nagel 2017, S. 332). In diesem Sinne versuchen beide Akteursgruppen „auf die Sphäre des Gegenübers zuzugreifen. Sie verhandeln darüber, wo die Trennlinie zwischen ihnen verlaufen soll und wie die Zuständigkeiten zwischen beiden verteilt sind“ (Hiß und Nagel 2017, S. 322). Als Folge dieser Aushandlungsprozesse wird nicht nur stetig neu definiert, was es heißt, dass Unternehmen gesellschaftliche Akteure mit einer spezifischen Verantwortlichkeit sind. Vielmehr wird auch die Konzeption von Unternehmen in der Gesellschaft permanent auf den Prüfstand gestellt und neu definiert. Dabei erscheint es mit Blick auf die Unternehmenslandschaft in Deutschland jedoch schwer, von den Unternehmen zu sprechen. Denn auch, wenn die mediale Inszenierung eine „unternehmerische[…] Monokultur“ (siehe auch Davies 2009; Hiß und Nagel 2017, S. 333) vermuten lässt, so ist die deutsche Unternehmenslandschaft von einer starken Heterogenität geprägt. Diese Heterogenität kommt vor allem in der unterschiedlichen Größe von Unternehmen, verschiedenen Rechtsformen und Eigentumsverhältnissen sowie der unterschiedlichen Branchenzugehörigkeit zum Ausdruck (Berghoff 2006; Hiß und Nagel 2017, S. 333 f.; Kelly 2012; Nyssens 2006; Plate et al. 2011). Unabhängig davon erscheint es vor allem vor dem Hintergrund des rasanten Bedeutungs- und Machtzuwachses unumstritten, dass Unternehmen „über ein großes Potential zur Lösung gesellschaftlicher Probleme auch globalen Zuschnitts [verfügen]“ (Hiß und Nagel 2017, S. 344). Gleichzeitig jedoch, und das ist die Krux, tragen Unternehmen auch maßgeblich zur Generierung von gesellschaftlichen Problemen wie dem Klimawandel, der Ausbreitung von sozialer Ungerechtigkeit oder auch kriegerischen Konflikten bei. Ob Unternehmen in diesem Gefüge schließlich ‚Brandstifter‘ sind, die Konflikte erst zum Entflammen bringen oder aber ‚Feuerlöscher‘, die Auswirkungen einzudämmen vermögen, ist maßgeblich auch durch die Konzeption von Unternehmen in der jeweiligen Gesellschaft determiniert (Hiß und Nagel 2017, S. 344). Auch hier ist es das spezifische Wechselverhältnis mit seinen vielfältigen und komplexen Verschränkungen zwischen Unternehmen und Gesellschaft, das die moderne Welt mit seinen Problemlagen charakterisiert – oder besser gesagt, die permanente (Neu-)Verhandlung
404
9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten?
dieses Wechselverhältnisses in Abhängigkeit von historischen und sozialen Wandlungsprozessen sowie den damit einhergehenden sich verändernden Erwartungsstrukturen (Hiß und Nagel 2017, S. 331 f.). Unverändert bleibt jedoch, dass Unternehmen als geprägte aber auch zugleich prägende gesellschaftliche Akteure die soziale Welt über ihre unternehmerischen Aktivitäten maßgeblich mitbestimmen und eine entsprechende gesellschaftliche Verantwortung besitzen, die im folgenden Abschnitt näher betrachtet wird.
9.3 Unternehmerische Verantwortlichkeit: Das Konzept der Accountability im Kontext von gesellschaftlicher Legitimation Als gesellschaftliche Akteure besitzen Unternehmen eine spezielle Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft, welche mit der wissenschaftlichen Konzeption der Corporate Accountability abzubilden versucht wird. Das allgemeine Konzept der Accountability findet vor allem innerhalb der öffentlichen Verwaltung, der internationalen Entwicklung, der Politikwissenschaft und des Financial Accounting Anwendung, wobei eine Vielzahl an entsprechenden wissenschaftlichen und praktischen Arbeiten in den letzten 15 bis 20 Jahren entstanden ist. Damit einhergehen jedoch auch vielfältige (unterschiedliche) Konzepte und Vorstellungen zu Accountability beziehungsweise den Dimensionen von Accountability.2 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konzepten basieren vorrangig auf den jeweiligen ‚Problemfeldern‘, auf die sich die Verantwortlichkeit bezieht sowie damit einhergehend auf die beteiligten Akteure. Unabhängig von einer konkreten Definition kann Accountability als Mechanismus oder auch als Vorgang gesehen werden, wobei „being accountable […] as a positive quality in organisations or officials“ verstanden wird (Bovens 2010, S. 946). Versteht man Accountability hingegen als Wert oder normatives Konzept, dann spricht man von einem „set of standards for the evaluation of the behaviour of public actors“ (Bovens 2010, S. 946). Hervorzuheben ist, dass es keine einheitliche Definition zum Thema Verantwortlichkeit gibt; vielmehr ist Accountability „one of many possible ways to constrain the (mis-)use of power“ (Lindberg 2013, S. 202). Von diesem Gedanken ausgehend lässt sich die Grundidee von Accountability als Verantwortlichkeit oder Rechenschaftspflicht ableiten, die allen Konzept- und Definitionsversuchen gleich ist: „[…] when decision-making power is transferred from a principal (e.g. the citizens) to an agent (e.g. government), there must be a mechanism in place for holding the agent accountable
2Für
ausführliche Informationen siehe u. a. Barton (2006), Behn (2001), Bovens (2010), Chan und Rosenbloom (2010), Dowdle (2017), Greiling und Grüb (2015), Lindberg (2013), Normanton (1966), Rached (2016), Romzek (2000), Romzek und Ingraham (2000), Salminen und Lehto (2012), Schedler (1999) und Zumofen (2016).
9.3 Unternehmerische Verantwortlichkeit
405
for their decisions and tools for sanction“ (Lindberg 2013, S. 203; für einen Vorschlag zur Einteilung von Sub-Typen von Accountability siehe Lindberg 2013, S. 212–217).3 In jeder Form von Accountability gibt es folglich einen Akteur oder eine Institution, einen sogenannten Agent, der beziehungsweise die eine entsprechende Verantwortlichkeit besitzt. Darüber hinaus existiert ein (gesellschaftlicher) Bereich oder ein Themenfeld, auf den beziehungsweise das sich diese Verantwortlichkeit bezieht; es existiert also eine sogenannte Domain. Schließlich gibt es noch einen Akteur oder eine Institution, gegenüber dem beziehungsweise der der Agent die Verantwortlichkeit für die Domain besitzt. Dieser sogenannte Principal hat das Recht, diese Verantwortlichkeit vom Agent einzufordern. Kommt der Agent seiner Verantwortlichkeit nicht (ausreichend) nach, so kann der Principal den Agent sanktionieren (Lindberg 2013, S. 209 f.). Accountability meint folglich neben einer Sanktionsfähigkeit auch eine Verantwortlichkeit gegenüber sozialen Systemen oder Bereichen, wodurch dem Konzept der Accountability auch eine moralische Facette innewohnt. Die Verantwortlichkeit, die Unternehmen in ihrer Rolle als gesellschaftliche Akteure besitzen, wird als Corporate oder auch Business Accountability4 bezeichnet und ist als eine Unterform dieses allgemeinen Accountability-Konzepts zu verstehen. Ebenso wie das allgemeine Konzept ist auch Corporate Accountability ein sehr unbestimmtes Konzept, welches historisch und je nach Wirtschafts- und Kapitalismusform variiert (siehe dazu u. a. auch die Konzeption der Varieties of Capitalism von Hall und Soskice 2001; Hiß und Nagel 2017, S. 341). Folglich müssen die beteiligten Akteure – im Falle von Corporate Accountability Unternehmen und die Gesellschaft mit ihren jeweiligen Bereichen und Akteuren – die Idee von unternehmerischer Verantwortlichkeit sowie deren praktische Umsetzung und gesellschaftliche Relevanz permanent (neu) verhandeln und (re-)interpretieren. Für Unternehmen ist es besonders wichtig, dass sie ihre Auffassung und ihr Verständnis von Corporate Accountability stets so auf das gesellschaftliche Konzept von unternehmerischer Verantwortlichkeit anpassen, dass sie einerseits ihrem unternehmerischen Handeln nachkommen können und andererseits die an sie gestellten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen und so gesellschaftliche Legitimität erlangen. Mit dieser Ausrichtung erfasst das Konzept der Corporate Accountability die Breite der Gesellschaft als zentrale Aushandlungspartnerin für Unternehmen. Es grenzt sich damit deutlich von enger gefassten Theorien zur Beschreibung der Wechselwirkung von Unternehmen mit ihrer institutionellen Umwelt ab, wie etwa von der aus der
3Einige
Ansätze verstehen Accountability fälschlicherweise als Synonym zu Themen oder Konzepten wie gute Unternehmensführung (Governance), Transparenz und Demokratie oder auch Effizienz und Responsibility, was die „ambiguity, vagueness, and collective semantic confusion“ bezüglich der Konzeption verdeutlicht (Lindberg 2013, S. 203). 4Im weiteren Verlauf beschränke ich mich auf die Bezeichnung Corporate Accountability, da diese im wissenschaftlichen Diskurs verbreiteter ist.
406
9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten?
Neuen Institutionenökonomik stammenden Prinzipal-Agenten-Theorie, die den Fokus auf „die Leistungsbeziehung der an einer Transaktion beteiligten Akteure“ (Hochhold und Rudolph 2009, S. 134; siehe auch Janocha 2014, S. 55–74; Mumm 2016, S. 63–82) legt. Mit dem Konzept der Corporate Accountability ist folglich keine eng gefasste Definition von unternehmensspezifischen Stakeholdern verbunden. Vielmehr geht es darum, den Blick für die intensive gesamtgesellschaftliche Verwobenheit zwischen Unternehmen und Gesellschaft zu öffnen und Unternehmen, unabhängig von konkreten Vertragsbeziehungen, als gesellschaftliche Akteure zu verhandeln. Folgt man der neo-institutionalistischen Organisationstheorie, so ist die Erlangung und Erhaltung von gesellschaftlicher Legitimation eine Notwendigkeit für Organisationen, um am Markt überleben zu können (u. a. DiMaggio und Powell 1983; Meyer und Rowan 1977). Gemäß dem neuen soziologischen Institutionalismus müssen sich Organisationen den Erwartungsstrukturen ihrer institutionellen Umwelt anpassen beziehungsweise den gestellten gesellschaftlichen Anforderungen nachkommen, um so Legitimität durch eben diese institutionelle Umwelt zu erlangen oder ihre bereits vorhandene gesellschaftliche Legitimität weiter aufrecht zu erhalten und auszubauen. Nur so ist gewährleistet, dass sie auch weiterhin mit allen notwendigen Ressourcen versorgt werden, keine gesellschaftlichen Sanktionen fürchten müssen und am Markt bestehen können (u. a. Dowling und Pfeffer 1975, S. 122; Senge 2011; Walgenbach und Meyer 2008). In diesem Sinne werden Organisationen dann als legitim erachtet, wenn sie die Funktion erfüllen, die ihnen ihre institutionelle Umwelt zuschreibt sowie den darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie herangetragen werden, nachkommen und in Anlehnung an die sozial akzeptierten Regeln, Gesetze, Normen und Werte handeln (Deephouse und Suchman 2008; Hasse und Krücken 2005, S. 50–56; Walgenbach und Meyer 2008, S. 63 ff.). Sobald eine Organisation als legitim erachtet wird, kann dieser von ihrer institutionellen Umwelt die entsprechende gesellschaftliche Legitimität zugesprochen werden. Folglich repräsentiert Legitimität „a relationship with an audience, rather than being a possession of the organization“ (Suchman 1995, S. 594). Sie ist damit als fragiles Konstrukt zu verstehen, welches „jederzeit infrage gestellt bzw. entzogen werden [kann]“ (Walgenbach und Meyer 2008, S. 65). Folglich können beziehungsweise müssen Organisationen aktiv versuchen, ihre gesellschaftliche Legitimität zu erhalten oder Legitimität zu erlangen, um den Verlust von überlebensnotwendigen Ressourcen zu verhindern. Im Falle von nicht (mehr) legitimierten Unternehmen könnten beispielsweise Kundinnen und Kunden die Produkte des Unternehmens boykottieren, staatliche Sanktionen wie Strafzahlungen gegen das Unternehmen verordnet werden oder Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner aus der Wertschöpfungs- und Lieferkette könnten ihre Verträge kündigen. Eine der Grundannahmen des neuen soziologischen Institutionalismus ist folglich, dass organisationale Strukturen sowie Praktiken und damit auch die Strukturen und Praktiken von Unternehmen maßgeblich durch ihren institutionellen Kontext geprägt werden (DiMaggio und Powell 1983; Meyer und Rowan 1977). Dabei bilden gesellschaftliche Institutionen, die die an Organisationen gestellten Erwartungen beeinflussen und prägen, eine Art
9.4 Unternehmen, Nachhaltigkeit und die Veröffentlichung
407
Regelsystem zur Ermöglichung und gleichzeitig zur Begrenzung von organisationalem Handeln (Senge 2006). Anhand dieses Erklärungsansatzes kann auch die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortlichkeit durch Unternehmen sowie deren zunehmende Moralisierung erklärt werden (weiterführend siehe u. a. Hiß 2006). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Organisationen dann gesellschaftliche Legitimation von ihrer institutionellen Umwelt zugesprochen bekommen, wenn sie die Funktion(en) erfüllen, die ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben wird beziehungsweise werden. Darüber hinaus müssen sie den an sie gestellten gesellschaftlichen Erwartungen nachkommen und ihre unternehmerischen Aktivitäten an sozial anerkannten Regeln und Normen sowie Gesetzen und Werten ausrichten. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie einerseits ihrer Funktion als Wirtschaftsakteur nachkommen müssen, indem sie Waren oder Dienstleistungen anbieten. Darüber hinaus wird Unternehmen in ihrer Funktion als gesellschaftlicher Akteur auch eine gewisse Verantwortlichkeit für die Gesellschaft, eine Corporate Accountability, zugeschrieben. In welchen Bereichen diese Verantwortlichkeit gesehen wird, wird permanent (neu) verhandelt. Der vorliegende Beitrag fokussiert den Bereich der unternehmerischen Berichterstattung und damit die gesellschaftliche Erwartung nach mehr unternehmerischer Transparenz. Ziel dieser Erwartungen ist es, Unternehmen dazu zu bringen, ihre Aktivitäten risikoärmer zu gestalten sowie eine Langfristperspektive im Unternehmensalltag zu etablieren. Indem Unternehmen demnach ihrer unternehmerischen Verantwortlichkeit nachkommen und neben der bereits stark etablierten Berichterstattung zu Finanzkennzahlen auch zu nicht-finanziellen Themen berichten, können sie gesellschaftliche Legitimation durch ihre institutionelle Umwelt erlangen. In diesem Sinne kann Corporate Accountability durch die Berichterstattung zu nicht-finanziellen Themen als eine Grundlage für die Erlangung und die Erhaltung von gesellschaftlicher Legitimität durch Unternehmen interpretiert werden.
9.4 Unternehmen, Nachhaltigkeit und die Veröffentlichung von nicht-finanziellen Informationen Die umfangreiche Medienberichterstattung zum Dieselgate-Skandal des Volkswagenkonzerns in der jüngeren Vergangenheit hat eindrücklich gezeigt, wie wichtig das Thema der unternehmerischen Transparenz im gesellschaftlichen Diskurs ist. Unternehmen als gesellschaftliche Akteure mit einer spezifischen unternehmerischen Verantwortlichkeit sind folglich darauf angewiesen, dieser gesellschaftlichen Erwartung nach mehr Transparenz nachzukommen, um gesellschaftliche Legitimität zu erhalten und am Markt bestehen zu können. Für die Berichterstattung zu finanziellen Informationen wurden die Finanzmarktinstrumente des Accountings und Reportings entwickelt, die jeweils auf unterschiedliche Art und Weise die „economic activity“ (Power 2012, S. 301) von Unternehmen abzubilden versuchen. Grundidee dieser Informationsinstrumentarien ist, dass Unternehmen
408
9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten?
ihre gesellschaftliche Umwelt direkt, das heißt beispielsweise ohne Finanzmarktintermediäre wie Ratingagenturen, die Unternehmen anhand verschiedener Kriterien bewerten (Hiß und Nagel 2012; Hiss und Nagel 2014), mit Informationen zu ihren Aktivitäten versorgen. Damit können die Berichterstattungsinstrumente als eine Art Bindeglied zwischen Unternehmen und Gesellschaft verstanden werden, welches die bestehende Informationsasymmetrie ein Stück weit aufzulösen versucht (Healy und Palepu 2001). Vor allem Investoren nutzen die offengelegten Informationen, um diese in ihre Investitionsentscheidungen einfließen zu lassen. Gab es zunächst noch national sehr unterschiedliche Accounting- und Reportingansätze zur Vergleichbarmachung von Unternehmen über Ländergrenzen hinweg, so stellten sich mit einem fortschreitenden Globalisierungsprozess seit den 1970er Jahren mehr und mehr Standardisierungstendenzen ein (Botzem 2012; Botzem und Quack 2008). Als Ergebnis dieses Prozesses hat das International Accounting Standards Board (IASB) als privater Akteur5 die mittlerweile global akzeptierten und angewendeten International Accounting Standards (IAS) und die International Financial Reporting Standards (IFRS) entwickelt, auf deren Grundlage Unternehmen standardisierte Angaben zu den finanziellen Aspekten ihrer unternehmerischen Aktivitäten machen. Auf dieser Basis werden Unternehmen vergleich- und bewertbar gemacht. Bereits im Jahr 2003 hat die EU-Kommission diese Standards als rechtsverbindlich erklärt (Baker und Barbu 2007; Gallhofer und Haslam 2007; Mattli und Büthe 2005, S. 400; Nagel et al. 2017, S. 193; Nölke 2015; Nölke und Perry 2007; Power 2012). Neben diesen Ansätzen zur Berichterstattung von finanziellen Aspekten der unternehmerischen Aktivitäten gibt es auch solche zur Offenlegung von nicht-finanziellen Aspekten. Im Gegensatz zu den finanzgetriebenen Ansätzen sind diese bislang noch am Beginn ihrer Entwicklung und stecken sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen, sodass es bislang keine global akzeptierten Standards oder Richtlinien gibt (Tschopp und Huefner 2014; Uyar 2016). Ziel von Ansätzen zur nicht-finanziellen Berichterstattung ist es, die nicht-finanziellen Aktivitäten von Unternehmen abbildbar und zu einem Teil auch messbar zu machen, um Unternehmen darauf aufbauend vergleichen und bewerten zu können. Ähnlich wie im Finanzbereich wurden auch hier verschiedene Accountingund Reportinginstrumente entwickelt, die dazu dienen sollen, dass Unternehmen entsprechende Informationen aufbereiten und direkt an ihre institutionelle Umwelt weitergeben können. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren gab es erste Forderungen an Unternehmen, nicht-finanzielle Informationen ihrer Geschäftstätigkeit offenzulegen. Zu Beginn war es vor allem die Forderung nach einem sogenannten „social accounting“ (Berthoin Antal et al. 2002; Hiss 2013, S. 237; Tschopp und Huefner 2014), die die nicht-finanzielle Berichterstattung prägte. Einen enormen Aufschwung im gesellschaftlichen Diskurs
5Für
weiterführende Informationen zur Thematik der Private Governance siehe u. a. Brammer et al. (2011), Büthe (2004), Graz und Nölke (2008), Nölke und Perry (2007).
9.4 Unternehmen, Nachhaltigkeit und die Veröffentlichung
409
sowie innerhalb der wissenschaftlichen und politischen Debatte erhielt das Thema in den 1980er bis 2000er Jahren infolge der zunehmenden Prominenz von Nachhaltigkeit als gesellschaftlichem Leitbild, welches durch die World Commission on Environment and Development (WCED) und die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) in Rio de Janeiro fest im gesellschaftlichen Diskurs verankert wurde (siehe u. a. Hauff 1987; United Nations 1992; Voss 2012). Trotz der Relevanz, die Nachhaltigkeit in den letzten Dekaden erlangt hat, ist das Konzept vor allem von Offenheit und Vagheit geprägt (Döring und Ott 2001, S. 315; Enquete-Kommission 1998, S. 16; Grober 2013, S. 20). Die wohl am häufigsten zitierte Definition für Nachhaltigkeit beziehungsweise einer nachhaltigen Entwicklung ist die der World Commission on Environment and Development (Beiersdorf 2012, S. 51 f.). In ihrem Bericht, dem sogenannten Brundtland-Bericht (1987), definiert die WCED eine nachhaltige Entwicklung als „[a] development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (WCED 1987, S. 41). Die Kommission legt damit einen klaren Fokus auf eine inter- und intragenerationale Gerechtigkeit.6 Ergänzt wird diese Definition infolge des Weltgipfels von Rio de Janeiro (1992) durch das sogenannte Nachhaltigkeitsdreieck. Als Denkfigur versinnbildlicht es Nachhaltigkeit als Konzept, welches drei wesentliche Dimensionen beinhaltet: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Diese sind idealtypisch als gleichrangig und interdependent zu betrachten (Grober 2013, S. 21, 268–270). An die beschriebene Definition und das Nachhaltigkeitsdreieck anlehnend hat das von John Elkington geprägte Modell der Triple Bottom Line (Drei-Säulen-Modell) im wissenschaftlichen Diskurs vielfach Beachtung gefunden (Banerjee 2003; Colantonio 2011; Davidson 2009, S. 607; Elkington 1994, 2004; Hawkes 2001; McKenzie 2004; Sarkis et al. 2010). Die Konzeption verweist ebenso auf die Gleichwertigkeit der drei Nachhaltigkeitskomponenten – Ökologie, Ökonomie und Soziales – als substantielle Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung und zugleich auf ihre Interdependenzen (Elkington 2004; Grober 1999, S. 21; Hutchins und Sutherland 2008, S. 1688). Wie dieser kurze Einblick in die Welt der Definitionen und Konzepte zu Nachhaltigkeit zeigt, ist diese vor allem durch große Offenheit und viel Raum für Deutungen und Interpretationen geprägt. Lange Zeit war die Mehrzahl aller Definitionen und Konzeptionen von einer Schwerpunktsetzung auf ökologische Themen dominiert (Colantonio 2011; Koning 2002). Triebfeder hierfür ist primär das kontinuierlich zunehmende Bewusstsein für die begrenzte Belastungsfähigkeit der Umwelt, die unter anderem der Bericht des Club of Rome oder der Stern Report hervorheben (Enquete-Kommission 1998, S. 17; Grober 2013, S. 221–242; Jackson 2011; Meadows et al. 1972; Stern 2007). Soziale Aspekte tauchen in der Diskussion um Nachhaltigkeit beziehungsweise eine nachhaltige Entwicklung meist als Bedingung oder mögliche Lösung für ökologische Probleme auf, jedoch nur selten als eine zur ökologischen
6Für
eine kritische Betrachtung der Brundtland-Definition siehe Jacobs (1999).
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(und ökonomischen) Komponente gleichwertigen Dimension (Bebbington und Dillard 2009; Boström 2012; Colantonio 2011). Erst in den letzten Dekaden entwickelt sich das Interesse an der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit – im wissenschaftlichen wie gesamtgesellschaftlichen und politischen Bereich. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass auch sozialen Ordnungen Grenzen der Belastungsfähigkeit gesetzt sind (Åhman 2013, S. 1153; Biart 2002; Brandl 2002; Enquete-Kommission 1998, S. 17, 22–24; Littig und Grießler 2004). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Unternehmen den zunehmenden gesellschaftlichen Forderungen nach mehr Transparenz im Hinblick auf ihre nicht-finanziellen Aktivitäten nachkommen können – ist doch Nachhaltigkeit als Konzept so unbestimmt, dass es schwer oder fast unmöglich erscheint, alle relevanten nicht-finanziellen unternehmerischen Informationen zu bestimmen und darauf auf bauend entsprechend ausführlich zu diesen zu berichten. Dennoch oder vielleicht gerade wegen dieser Unbestimmtheit hält der Aufschwung der nicht-finanziellen Berichterstattung weiter an. Mittlerweile ist auch diese Form der Berichterstattung sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch innerhalb der Praxis ein fest etabliertes Thema. Dies zeigen beispielsweise die Berichterstattungsaktivitäten der 100 größten Unternehmen weltweit – waren es 1993 noch lediglich 12 %, die Informationen bezüglich ihrer nicht-finanziellen Aspekte offenlegten, sind es aktuell mehr als 70 % und damit über 60 % mehr als noch Anfang der 1990er Jahre (KPMG International Cooperative 2015, S. 30). Entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung hat in Deutschland ohne Zweifel die EU-Direktive zur nicht-finanziellen Berichterstattung (European Parliament und Council of the European Union 2014) und das daraus abgeleitete nationale Gesetz (German Council for Sustainable Development 2017). Dennoch bleibt das Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung von einer starken Heterogenität und Diversität geprägt. Es existieren eine Vielzahl an Initiativen mit unterschiedlichen Ansätzen zur Systematisierung, Operationalisierung und letztendlich Berichterstattung von nicht-finanziellen Informationen, wie etwa die Global Reporting Initiative (GRI), der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) sowie das International Integrated Reporting Council (IIRC) oder auch das aus den USA stammende Sustainability Accounting Standards Board (SASB). Die Ansätze der Initiativen unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf ihren Entwicklungsprozess und die beteiligten Akteure sowie im Hinblick auf ihre Ausrichtung auf nationale und/oder internationale Unternehmen. Vielmehr hat sich auch eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Berichterstattung etabliert – neben der klassischen Nachhaltigkeitsberichterstattung, deren Ergebnis ein separater Bericht ist, der meist zeitversetzt zum Geschäfts- oder Lagebericht eines Unternehmens veröffentlicht wird, besteht auch die Möglichkeit integriert oder kombiniert zu berichten, die entsprechenden nicht-finanziellen Informationen auf der Unternehmenshomepage oder auch über Newsletter und ähnliche Kanäle zu publizieren oder die nicht-finanziellen Kennzahlen im Sinne eines Nachhaltigkeitsaccountings in die Unternehmensbilanz einzuberechnen (Nagel et al. 2017, S. 198 f.).
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse
411
Die nicht-finanzielle Berichterstattung dient als Bindeglied zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Sie ermöglicht es, ein gesamtheitliches Bild von Unternehmen zu zeichnen, welches neben finanziellen Aspekten auch die nicht-finanziellen Seiten der unternehmerischen Aktivitäten berücksichtigt. Im Gegensatz zum Feld der Finanzberichterstattung ist das der nicht-finanziellen Berichterstattung noch wenig institutionalisiert und von Heterogenität und Diversität geprägt (siehe dazu weiterführend auch Nagel et al. 2017). Unternehmen müssen mit dieser Heterogenität und Diversität umgehen lernen, um der gesellschaftlichen Erwartung nach mehr unternehmerischer Transparenz nachkommen zu können. Im Dickicht von Berichterstattungsund Operationalisierungsansätzen sind sie es, die entscheiden, welche Informationen wie veröffentlicht werden. Damit bestimmen sie zugleich (mit), welches Bild von ihnen im gesellschaftlichen Diskurs gezeichnet wird, denn haben sie „zunächst eher passiv auf diese gesellschaftlichen Veränderungen und die damit einhergehenden Deutungen, Mythen, Rituale und Symbole reagiert, so betreiben in den letzten Jahren vor allem multinationale Konzerne erfolgreich eine (Neu-)Definition ihrer gesellschaftlichen Rolle und damit die Re-Legitimierung von Unternehmen und Interessensverbänden“ (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 108). Ebenso wie es Holger Backhaus-Maul und Martin Kunze (2012) sowie Janina Curbach (2009) für das Phänomen der Corporate Social Responsibility beschreiben, kann auch die nicht-finanzielle Berichterstattung „als eine Handlungsoption und ‚Strategie‘ beschrieben [werden], wie Unternehmen gesellschaftliche Definitions- und Deutungsmacht wieder erlangen können“ (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 108; Curbach 2009). Es geht demnach nicht nur um eine „Regulierung von Unternehmen, sondern auch Regulierung durch Unternehmen“ (Curbach 2009, S. 248, Herv. i. O.). Folglich muss sich auch die Gesellschaft der Heterogenität und Diversität der Ansätze (siehe dazu weiterführend u. a. Woschnack et al. 2015) und der Berichte bewusst werden und Unternehmen als deutende Akteure wahrnehmen. Grundlage hierfür ist die Reflexion und (Neu-)Definition der Rolle von Unternehmen sowie des Interdependenzgeflechts zwischen ihnen und der Gesellschaft. Inwieweit die nicht-finanzielle Berichterstattung einen Raum für diese Reflexionsprozesse bietet, wird im folgenden Kapitel anhand einer Narrationsanalyse untersucht.
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse 9.5.1 Empirische Daten und Methode sowie Vorgehen bei der empirischen Analyse Zur Beantwortung der Forschungsfrage, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu verhandeln, rekonstruiere ich auf der Basis von diskursiven
412
9 Warum sollten Unternehmen über Nachhaltigkeit berichten?
I nterviews die im Feld vorhandenen Narrative7 (siehe u. a. Gadinger et al. 2014). Dieser Zugang bietet sich an, da die soziale Welt gesellschaftlich konstruiert ist (Berger und Luckmann 2012; Maines 2001) und als Ergebnis von Kommunikationsprozessen verstanden werden kann (Maines 1993). Folglich beinhaltet die Mehrheit aller Sprechakte und Selbstdarstellungen von Individuen Elemente von Erzählungen (Maines 1993, S. 21 f.), die wiederum die individuellen Handlungen und dahinterliegenden Denkmuster versinnbildlichen (Boje 2008, S. 7; Shapiro 2015, S. 2) und damit die „goals and intentions of human actors“ widerspiegeln (Richardson 1990, S. 117). Narrationen sind in diesem Zusammenhang als Berichte über tatsächliche oder fiktive Ereignisse zu verstehen, die durch die subjektive Darstellung von Sachverhalten soziale Prozesse und Umstände wiedergeben und so der Versprachlichung von sozialem Wandel dienen. Als Instrumente zur Sinnstiftung (Abolafia 2010; Boje 1991, S. 106; Delgado 1989, S. 2414; Pentland 1999; Shapiro 2015, S. 3) sowie zur subjektiven Abgrenzung gegenüber und Einordnung innerhalb der institutionellen Umwelt (Delgado 1989, S. 2412) haben Erzählungen eine „fundamental role […] in creating subjective meaning for human actors“ (Beattie 2014, S. 112; Contrafatto 2014; Long 2016). Sie prägen damit die subjektiven Handlungen und das Denken von Individuen und darüber folglich auch gesellschaftliche Prozesse in erheblichem Maße (mit) (u. a. Polkinghorne 1988; Richardson 1990, S. 118) und bilden gesellschaftlich geteilte Normen und Werte ab (Ewick und Silbey 1995, S. 198). Die Rekonstruktion von Narrativen als „erzähltheoretisch fundiert[e]“ Analysemethode (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 223) bietet die Möglichkeit, die hinter spezifischen Aussagen stehenden allgemeinen, latenten Sinnzusammenhänge aufzudecken, die wiederum Rückschlüsse auf die von den Individuen unhinterfragt genutzten Denkmuster zulassen. Die Analyse der Erzählungen, auch als Narrationsanalyse bezeichnet, zielt darauf ab, die mit den Narrationen transportierten subjektiven Darstellungen von Sachverhalten oder sozialen Prozessen sowie die enthaltenen impliziten Aussagen zu identifizieren, miteinander in Beziehung zu setzen und so Sinnzusammenhänge, auch Sinnebenen genannt, aufzudecken. Diese wiederum können beispielsweise im Hinblick auf ihre Kontinuität analysiert oder mit Narrativen anderer Individuen zum gleichen Sachverhalt verglichen werden. Die Generierung von Erkenntnissen basiert schließlich auf der Interpretation der gegenseitigen Bezüge der identifizierten Sinnzusammenhänge eines Individuums beziehungsweise der zwischen Individuen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 223). Auf dieser Basis können die von den Interviewten rekapitulierten sozialen Prozesse wissenschaftlich rekonstruiert werden (siehe dazu auch den Beitrag von Woschnack, Fessler, Griese und Hiß in diesem Band).
7In
Anlehnung an die Debatten des wissenschaftlichen Diskurses werden die Begriffe Narrativ(e), Narration(en) und Erzählung(en) im Folgenden synonym verwendet.
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse
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Die empirische Analyse des vorliegenden Beitrags ist als Narrationsanalyse konzipiert, die Narrative als Forschungsobjekt begreift. Sie basiert auf 38 telefongestützt durchgeführten, problemzentrierten diskursiven Interviews mit einer Vielzahl von verschiedenen Akteur/innen, die allesamt das Feld von Unternehmen beziehungsweise die Schnittstelle zwischen Unternehmen und Gesellschaft abbilden. Für die Erhebung des empirischen Materials wurde die Methode des problemzentrierten diskursiven Interviews gewählt, da diese aufgrund der Spontaneität der Interviewsituation persönliche Stellungnahmen und Brüche in der Argumentation erzeugt und so die Identifikation der latenten Sinnstrukturen, die die Aussagen der Interviewten prägen und durch Narrative transportiert werden, ermöglicht und weitergehende tiefenhermeneutische Analysen obsolet macht (Markova 2013, S. 109, 121; Ullrich 1999). Gewährleistet wird dies durch die Verwendung bestimmter Befragungstechniken wie etwa provokanten, hypothetischen Fragestellungen oder auch Aufforderungen zur expliziten Begründung von Aussagen (Ullrich 1999, S. 437–439). Zudem können durch diese Form der Datenerhebung „längere, in sich geschlossene narrative Darstellungen“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 225) zu bestimmten Themenbereichen provoziert werden, die notwendig sind, um unabhängig vom „manifesten Inhalt“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 225) auch den Sprachstil und die entsprechende Symptomatik und damit verschiedene Sachverhaltsdarstellungen mit ihren praktischen Rückbezügen identifizieren zu können (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 225). Die 50- bis 90-minütigen Interviews wurden zwischen August 2016 und Februar 2017 geführt mit Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmen unterschiedlicher Größe8 (∑ 23), verschiedener Berichterstattungsinitiativen (∑ 2), von Finanzmarktakteuren (∑ 2) und NGOs beziehungsweise Fachverbänden und Vereinigungen (∑ 5). Darüber hinaus wurden Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmensberatungen (∑ 3) sowie von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (∑ 3) geführt. Ergänzt wurden die
8Insgesamt
wurden 23 Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmen geführt; 20 davon mit multinationalen Unternehmen (MNU) und davon wiederum 10 mit DAX 30-Unternehmen. Drei Interviews wurden mit kleinen und mittelständischen Unternehmen geführt. Zur Auswahl der Untersuchungsobjekte im Bereich der Unternehmen wurden zunächst alle Unternehmen, die im DAX 30 gelistet sind, angefragt. Um eine valide Auswahl zu gewährleisten, wurden die entsprechenden Unternehmen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten bestimmt (31. August 2016 sowie 10. Oktober 2016). Diejenigen Unternehmen, die zu mindestens einem Zeitpunkt im DAX 30 gelistet waren, wurden für die empirische Untersuchung angefragt. Da es sich beim DAX um den Leitindex für den deutschen Aktienmarkt handelt, der folglich die größten und umsatzstärksten Unternehmen listet (siehe u. a. Janßen und Rudolph 1992; Schneider 2011; Stankov 2008), ist gewährleistet, dass die entsprechend einflussreichsten Unternehmen in der Untersuchung berücksichtigt wurden. Aufgrund der Heterogenität der deutschen Unternehmenslandschaft wurden darüber hinaus alle Mitglieder des Forums Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft – Econsense angefragt (31. August 2016). Da die Unternehmenslandschaft
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durch die Transkription der Interviews generierten empirischen Daten durch Daten, die durch eine Analyse von relevanten Dokumenten und den Homepages der untersuchten Organisationen erhoben wurden. Auf dieser Grundlage konnte ein umfassendes Hintergrundwissen zu den einzelnen Befragten sowie den von ihnen repräsentierten Organisationen aufgebaut werden, welches das Verständnis und die Interpretation der aus den Interviews rekonstruierten Narrative vereinfacht. Die Auswertung der empirischen Daten erfolgte mithilfe einer computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). In Anlehnung an das von Mayring (2015) entwickelte Ablaufmodell zur inhaltlichen Strukturierung ergab sich folgendes Vorgehen für die empirische Analyse: Die Bestimmung der Analyseeinheiten erfolgte auf Basis umfangreicher Recherchen zur Thematik der nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen sowie ihrer Etablierung im Feld. Das letztendlich für die Analyse zusammengetragene Material besteht aus den Transkripten der geführten Interviews sowie relevanten Dokumenten, wobei sich die empirische Analyse vorrangig auf das empirische Material, welches auf der Grundlage der geführten Interviews generiert wurde, fokussierte. Das darüber hinausgehend generierte Material diente in erster Linie als eine Art Hintergrundwissen zur Einordnung der Aussagen aus den Interviews, da es sich bei diesen Dokumenten um Träger von Mitteilungen an die institutionelle Umwelt der Organisationen handelt, die von eben diesen Organisationen selbst konstruiert wurden (Kromrey 2006, S. 320). Nachdem die Analyseeinheiten bestimmt wurden, erfolgte die induktive Entwicklung des Kategoriensystems, welches der Systematisierung des empirischen Datenmaterials dient. Das Kategoriensystem ist offen konzipiert, das heißt es wird im gesamten Verlauf der Analyse des empirischen Materials bei Bedarf angepasst oder erweitert. Anschließend erfolgte der Materialdurchlauf mithilfe der Analysesoftware MAXQDA, zunächst als Grob- und anschließend als Feincodierung. So wurden in einem ersten Schritt relevante Erzählpassagen im Analysematerial durch die Zuordnung zu der entsprechenden Kategorie des Kategoriensystems (im Analyseprogramm als Code bezeichnet) aus dem Material extrahiert; bei Bedarf wurden neue Kategorien erstellt
in Deutschland stark von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) geprägt ist (IfM Bonn 2017), wurde ebenso versucht, diese in die empirische Untersuchung mit zu integrieren. Der Zugang zu KMU wurde über entsprechende Unternehmensberatungen gesucht. Ebenso wurden nach dem Schneeballprinzip Unternehmen angefragt, die wiederum andere Personen empfohlen haben. Insgesamt war der Rücklauf im KMU-Bereich jedoch deutlich schlechter als im MNU-Bereich, was u. a. der bisher eher geringen Präsenz und Aktualität der nicht-finanziellen Berichterstattung in diesem Unternehmensbereich geschuldet sein kann. Aufgrund der heterogenen und vielfältigen deutschen KMU-Landschaft sowie einer eher schlechten Rücklaufquote im KMU-Bereich ist die in die empirische Untersuchung integrierte Auswahl an kleinen und mittelständischen Unternehmen eher unsystematisch, wodurch sich ein Feld für zukünftigen Forschungsbedarf bereits zu Beginn der Untersuchung offenbart hat.
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse
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oder bereits vorhandene angepasst. Nach der Bezeichnung und Extraktion der Fundstellen erfolgte in einem zweiten Schritt die Paraphrasierung des extrahierten Materials sowie dessen Zusammenfassung nach Kategorien – für jede Organisation separat – als Grundlage für die sich anschließende Auswertung, Interpretation und den synoptischen Vergleich der Erzählpassagen. Dabei wurden für jeden Akteur beziehungsweise jede Akteurin, der/die als Repräsentant/in für eine Organisation steht, Narrativpassagen offengelegt, sodass die jeweiligen Sachverhaltsdarstellungen sichtbar werden. Durch die Extraktion der Narrativpassagen ist es schließlich möglich, diese Sachverhaltsdarstellungen sowie ihr Verhältnis zueinander und die dahinterliegenden Sinnebenen zu erfassen. In einem dritten Schritt erfolgte die Clusterung der identifizierten Narrativpassagen und damit die Entkopplung der dahinterstehenden impliziten Aussagen von konkreten Handlungssubjekten und Organisationen, um feldspezifische Aussagen treffen zu können. Dabei werden die Elemente der Erzählungen aller Interviewten miteinander verglichen und gleiche beziehungsweise ähnliche Narrationen mit ihren spezifischen Sachverhaltsdarstellungen zusammengefasst, um die im Feld wirkenden Sinnstrukturen zu rekonstruieren. Die thematische Fokussierung der diskursiven Interviews wurde bewusst auf die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen gelenkt, da es sich hierbei um ein vergleichsweise junges Phänomen handelt, welches vor allem durch die aktuellen Entwicklungen im Zuge der EU-Direktive zur nicht-finanziellen Berichterstattung und der daraus abgeleiteten nationalen Gesetze neue Dynamik erfährt. Gerade in dieser ‚Umbruchsphase‘ müssen die Handlungssubjekte anhand bereits vorhandener Denkmuster neue entwickeln, was auch die Dynamik im Feld und den Kampf um die Deutungsmacht zur Standardisierung nicht-finanzieller Informationen zeigt. Die Analyse von Narrationen bietet die Möglichkeit, eben diese Aushandlungsprozesse offenzulegen.
9.5.2 Ergebnisse der empirischen Analyse Auf Basis der empirischen Analyse habe ich sechs Narrative rekonstruiert. Die identifizierten Narrative bedingen sich teilweise gegenseitig und sind nicht als sich gegenseitig ausschließend und konsequent voneinander trennbar anzusehen. Die Tab. 9.1 gibt einen zusammenfassenden Überblick zu den im Feld identifizierten Narrativen. Im weiteren Verlauf des Artikels werden nun die Narrative samt ihrer Beschreibung sowie argumentativen Einbettung und einzelnen Beispielpassagen aus den Interviews vorgestellt, um die Sachverhaltsdarstellungen und die dahinterliegenden Sinnebenen zu verdeutlichen. Das eigentliche Narrativ ist dabei immer durch eine Hervorhebung abgesetzt; Zitatpassagen aus den Interviews sind als solche gekennzeichnet. Dabei variiert die Länge der Beschreibungen zu den einzelnen Narrativen, was mit dem Facettenreichtum der dazugehörigen Sachverhaltsdarstellungen im empirischen Material zusammenhängt.
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Tab. 9.1 Überblick über die im Feld identifizierten Narrative Die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen ist der Anfang und zugleich das Ende eines Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen Die nicht-finanzielle Berichterstattung fördert die Aufmerksamkeit für und die Anerkennung von neuen (systemischen) Risiken sowie Chancen Die nicht-finanzielle Berichterstattung ist ein systemstabilisierendes Instrument Die nicht-finanzielle Berichterstattung kann nur einen langfristig stabilen Reflexionsraum bieten, der eine entsprechend systemstabilisierende Wirksamkeit entfalten kann, wenn sie die unternehmerische Realität abbildet. Eine zunehmende Regulierung ist der zentrale Hebel zur stärkeren Ausbreitung und Etablierung von nicht-finanzieller Berichterstattung Die nicht-finanzielle Berichterstattung ist dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordnet Quelle: Eigene Darstellung
Ein zentrales Narrativ zur allgemeinen Sicht auf die Berichterstattung zu nicht-finanziellen Aspekten der Unternehmensaktivitäten sowie ihrer Funktion ist Folgendes: Die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen ist der Anfang und zugleich das Ende eines Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen. Die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen wird von den Befragten als Output und damit als Ende eines vorgelagerten Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen verstanden. Zugleich bietet diese Form der Berichterstattung den Handlungssubjekten neue, vorab nicht verfügbare beziehungsweise nicht systematisch erhobene Informationen zu zentralen Aspekten des unternehmerischen Handelns, die wiederum der Anfang eines Prozesses des Umdenkens sein können. Zentraler Punkt ist folglich der Gedanke, dass ein Prozess des Umdenkens innerhalb von Unternehmen und damit auch in Bezug auf Unternehmen durch die Gesellschaft stattfinden muss. Die nicht-finanzielle Berichterstattung wird als ein wesentlicher Faktor dieses Prozesses verstanden, da sie auf der einen Seite die Ausgangsbasis bietet, indem nicht-finanzielle Informationen offengelegt werden, und auf der anderen Seite das Ergebnis dieses Prozesses in schriftlicher Form manifestiert. Eine Unternehmensberatung, die sich auf den Mittelstand spezialisiert hat, hebt den angesprochenen Prozess des Umdenkens deutlich hervor: „Ich glaube […], dass es da wirklich der Prozess sein muss innerhalb von Unternehmen einfach die Art und Weise zu wirtschaften umzudenken. Eben nicht mehr auf den kurzfristigen Profit zu achten, oder auch den kurzfristigen Return on Invest, sondern wirklich mit jedem einzelnen Mitarbeiter und auch eben die Strategie so umzudenken und so langfristig zu machen, dass eben das ganze Thema einfach anders verstanden wird. Eben aber auch die Beziehung zu Finanzpartnern, zu Kunden“ (UB MS 2).
Weiterhin herrscht die Überzeugung im Feld, dass dieses Umdenken einerseits der Gesellschaft nützt, aber andererseits auch dem Unternehmen selbst, da bestehende
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse
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Prozesse neu reflektiert und einer Art ‚Effektivitätsprüfung‘ unterzogen werden. In diesem Zusammenhang führt die Interviewte weiter aus, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung der „Output oder eine […] Transparentmachung dieser Strategie sein sollte“ (UB MS 1) und hebt damit hervor, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung das Ende eben dieses zentralen Prozesses des Umdenkens ist, der diesen und seine Ergebnisse dokumentiert. Auch eine Finanzmarktakteurin argumentiert in die gleiche Richtung. Sie hebt dabei jedoch den Aspekt hervor, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung zugleich der Anfang des Prozesses des Umdenkens ist, denn sobald Unternehmen zu bestimmten Themen berichten (müssen), wollen diese schließlich auch, „dass sie was Positives zu berichten haben. Und das kann ja dann schon anstoßen, dass bestimmte Managementsysteme und Prozesse einfach im Unternehmen verbessert werden, dass die mehr auch intern kontrollieren, was passiert, um eben solche Risiken zu minimieren, und das kann natürlich dann dazu führen, dass bestimmte Kontroversen einfach nicht mehr passieren“ (FMA 1). Die verschiedenen Sachverhaltsbeschreibungen stellen sehr klar heraus, dass ein Umdenken der aktuellen unternehmerischen Praxis als unausweichlich angesehen wird. Der nicht-finanziellen Berichterstattung als Anfang und zugleich Ende dieses Prozesses wird zudem die Funktion zugeschrieben, diesem Umdenken mehr (Nach-)Druck zu verleihen, da es die Ergebnisse der Entwicklungen durch deren Abbildung in Zahlen, Kennziffern oder kurzen Statements sowie darauf aufbauend durch die Formulierung von Zielsetzungen dokumentiert (siehe dazu weiterführend auch Mennicken und Vollmer 2007). Dass die Notwendigkeit eines Prozesses des Umdenkens und einer neuen Ausrichtung von Unternehmen und ihrer Geschäftsmodelle ein zentrales Thema im Feld ist, zeigt beispielsweise der Umstand, dass sich auch das Finanzsystem zunehmend damit befasst. So formuliert ein multinationales Unternehmen, welches eine starke, intrinsisch motivierte Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und eine nachhaltig orientierte Wirtschaftsweise hat, dass „das ganze [nachhaltig orientierte] Geschäftsmodell, die[se] ganze Ausrichtung des Unternehmens, das wird schon interessant für den Finanzmarkt“ (Un 13). Eine Finanzmarktakteurin unterstreicht das zunehmende Interesse des sogenannten ‚konventionellen‘ Finanzmarkts für nicht-finanzielle Risiken ebenfalls: „[…] inzwischen gibt es mehr und mehr, ja, traditionelle Investoren, die klassisch auf Risiko schauen, die aber merken, dass man eben nicht nur das finanzielle Risiko sich anschauen soll, sondern eben auch soziale und Umweltrisiken, […] weil die auch Auswirkungen haben auf den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens“ (FMA 1). Dies wiederum zeigt auch den zunehmenden Druck auf Unternehmen, sich der Idee einer ganzheitlichen Unternehmensstrategie, die neben finanziellen Aspekten auch nicht-finanzielle Aspekte enthält, anzunehmen, denn, so formuliert es ein Fachverband treffend, „Geld ist nun mal die größte Triebfeder, die wir Menschen haben“ (V2). Gleichzeitig wird die nicht-finanzielle Berichterstattung als „gesellschaftlich moralischer Imperativ“ (Un 11) bezeichnet, was die Getriebenheit der Entwicklungen durch die Gesellschaft verdeutlicht. Doch was genau können Unternehmen und die Gesellschaft mit den durch die nicht-finanzielle Berichterstattung hervorgebrachten Informationen anfangen? Welche
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Chancen und zugleich Herausforderungen bringen diese mit sich? Folgt man den Aussagen der interviewten Personen im Feld, so geht es vor allem um Folgendes: Die nicht-finanzielle Berichterstattung fördert die Aufmerksamkeit für und die Anerkennung von neuen (systemischen) Risiken sowie Chancen. Die in diesem zweiten Narrativ enthaltenen Sachverhaltsdarstellungen beziehen sich einerseits auf die Tatsache, dass durch die nicht-finanzielle Berichterstattung sowohl die Aufmerksamkeit für als auch die Anerkennung von neuen, teilweise systemisch relevanten Risiken und Chancen gefördert wird, die vor allem eine Langfristperspektive besitzen. Durch die nicht-finanzielle Berichterstattung erfolgt somit auch ein Umdenken der für Unternehmen und die Gesellschaft relevanten Risikofaktoren sowie möglicher Chancen, die sich aus diesem neuen Risikoverständnis ergeben. In diesem Sinne wird die nicht-finanzielle Berichterstattung auch als neues Risikomanagementsystem und Instrument zur Risikominimierung verhandelt. Hinzu kommt, dass der nicht-finanziellen Berichterstattung vor allem in Krisenzeiten eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Sie wird als eine Art Handlungsanweisung verstanden. Diese Zuschreibung findet ihren Nährboden in den Geschehnissen der Vergangenheit, denn trotz hochstandardisierter finanzieller Risikomanagementsysteme gab es vielfältige Unternehmensskandale und -krisen sowie Wirtschafts- und Finanzkrisen, sodass deren Ursachen nicht ausschließlich durch finanzielle Faktoren begründet sein können. Im Feld wachsen daher zunehmend Verständnis und Interesse für eine gesamtheitliche Betrachtung der unternehmerischen Aktivitäten, was die Berücksichtigung nicht-finanzieller Aspekte in Risikomanagementsystemen einschließt. Damit verbunden ist auch die Idee, Langfristigkeit stärker im Feld der Unternehmen zu etablieren. Das mit der nicht-finanziellen Berichterstattung einhergehende Reflektieren und Neubeziehungsweise Umdenken von Risiken verdeutlicht der Begriff der „langfristige[n] Risiken“ (Un 10) sehr gut, der im Feld geprägt wird. In der Folge werden Aspekte, die zuvor nicht als risikoreich für Unternehmen und die Gesellschaft angesehen wurden, nun als eben solche systemrelevanten Risiken identifiziert und anerkannt. Es kommt also zu einer Verschiebung der Definition von Risiken sowie der Auffassung davon, was risikoreiche und risikoarme Unternehmen sind. Plötzlich können Unternehmen, die noch vor einigen Jahren als wenig risikoreich eingestuft wurden, als bedrohlich oder potentiell destabilisierend für die Gesellschaft identifiziert werden. Diese neue Denkweise strahlt auch auf den Finanzmarkt aus. So berichtet ein Großunternehmen, dass nachhaltige Unternehmen inzwischen auch vom Finanzsystem als risikoärmer betrachtet werden, denn die Akteurinnen und Akteure des Finanzmarkts sehen „sehr wohl […], dass der Risikowert, die Risiken bei nachhaltigen Unternehmen natürlich deutlich, deutlich, deutlich niedriger sind als bei nicht entsprechend handelnden. Und in einem jetzt auch an Unsicherheiten zunehmendem Umfeld und nach Erfahrungen wie dem VW-Skandal und anderen Geschichten merken sie, wie die Sensibilität am Kapitalmarkt da eben wirklich sprunghaft nach oben geht“ (Un 7). Mit dieser Neuausrichtung der unternehmerischen Risikoabschätzung geht auch eine neue Sicht auf Unternehmen und damit neue Chancen für unternehmerische Aktivitäten
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beziehungsweise das Geschäftsfeld eines Unternehmens einher. So führt eine Initiative zur nicht-finanziellen Berichterstattung aus: „[…] ‚Risiko‘ würde ich […] erweitern um Chancen. Weil das auch so eine Erkenntnis ist aus den Dialogen mit mittelständischen Unternehmen, die ja auch häufig mal klagen darüber, dass sie keinen Zugang zu Kapital haben. Und das liegt insbesondere an den herkömmlichen Risikoabschätzungsmodellen, die es so gibt, und dass dem keine Chancenevaluierung oder Chancenabschätzung gegenübersteht“ (I 1). Das heißt, indem ein neues Verständnis von Risiken in die Unternehmen und den gesellschaftlichen Diskurs Einzug hält, ergeben sich potentielle neue (finanzielle) Möglichkeiten für Unternehmen, die zuvor aufgrund der herrschenden Auffassungen zu Liquidität, Risiko und Effizienz nur bedingt bestanden. Da sich der Prozess der (Neu-)Definition und des Neu- beziehungsweise Um-Denkens von Risiko und risikoreichen sowie risikoarmen Unternehmen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft jedoch noch in seinen Kinderschuhen befindet, gehen auch gewisse Probleme oder Ungewissheiten damit einher. Ein Fachverband beschreibt dies wie folgt: „[…] es [wird] eine Entwicklung geben, durch das sich ändernde Klima, die brutal wird. Und diese Änderung ist etwas, was die Unternehmen jetzt praktisch gar nicht mehr beeinflussen können, weil es schon viel zu spät ist, auf die sie sich aber einstellen müssen, weil dadurch neue Sachzwänge entstehen. Es ist dann zu warm, es werden damit ganz neue Dinge also zum Beispiel Tiere, die sich hier plötzlich ansiedeln, die vorher gar nicht klimatisch hierher gepasst haben, dass die Meeresströme sich irgendwie umdrehen, dass wir, wie wir das jetzt schon erlebt haben, plötzlich eine Art Monsunwetter bekommen in einer Klimazone, wo es das bisher nicht gab mit völlig neuen Ereignissen, auf die weder die Wettervorhersage noch die Landwirtschaft eingestellt ist und, und, und. Diese Dinge werden enorme wirtschaftliche Auswirkungen haben. Und die werden über diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen und Notsituationen werden Sachzwänge aufgebaut werden, die wiederum Druck ausüben werden aus der Gesellschaft heraus, aus der Kundschaft heraus, und das wird zu einer Umorientierung vielleicht auch noch führen“ (V 2).
Diese Klimarisiken werden unter anderem im nicht-finanziellen Bericht aufgegriffen und das „kann sicherlich noch mal sensibilisieren“ (Un 20). Diese Sensibilisierung geht auch mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit einher. So führt ein DAX-30-Unternehmen aus: „[…] die Berichterstattung führt dazu, dass wir aufmerksamer auf gewisse Themen blicken und uns da möglicherweise irgendwie nicht so leicht ein Fehlverhalten [passiert]“ (Un 11). Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft illustriert den geschilderten Umstand zudem am Beispiel der Berichterstattung zu Klimaaspekten anschaulich und verweist erneut auf die zentrale Position des Finanzmarkts: „Ja, nehmen wir mal Klimareporting jetzt. Was ist denn die Zielsetzung? Die Zielsetzung ist sozusagen, wir haben hier ein Megaproblem, das ist der Klimawandel. Und wir haben hier systemische Risiken und zwar nicht nur in einzelnen Unternehmen, sondern aus Investorensicht natürlich im Portfolio. […] als Investor muss ich das bewerten, und wenn ich das bewerten will, brauche ich Informationen. Und diese Informationen habe ich nicht, weil das Unternehmen selber kaum in der Lage ist darzustellen, inwieweit sich Klimawandel-Risiken
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auf das Unternehmen in der Zukunft auswirken werden. Und es gibt ja nicht nur die Fragestellung, wie hoch sind meine CO2-Emissionen, […] sondern da geht es auch um andere Themen. Da geht es um Fragestellungen, habe ich gefährdete Standorte, bin ich gegebenenfalls in einem Produktionsstandort investiert, wo ich Wassermangel, Wasserknappheit habe, wo ich über Veränderungen letztendlich der Umwelt gegebenenfalls Transport-, Logistikprobleme habe. Da gibt es so viele Fragestellungen, mit denen man sich jetzt auseinandersetzen muss, dass man einfach erkennt, ja, das ist systemimmanent und systemisch auch wichtig, dass Investoren diese Risiken kennen und bewerten und dann auch in ihrer Entscheidung berücksichtigen“ (WP 1).
Ein weiterer Fachverband führt dies ebenfalls aus und betont, dass „[…] Klimawandel oder durch Klimawandel verursachte Risiken [Risiken sind, denen] […] das Unternehmen ausgesetzt [ist] […]. Das sind schon sehr materielle Risiken. Die versucht der Finanzmarkt inzwischen auch einzupreisen“ (V 4). Allerdings besteht aktuell noch ein Daten- und Methodikproblem, was vor allem die Datenverfügbarkeit und -erhebung sowie Datenauswertung und die Vergleichbarkeit der erhobenen Daten angeht: „Da ist man methodisch noch nicht so richtig weit, aber gerade im Umweltbereich hat das durchaus Potenzial, auch substanzielle Krisen zu vermeiden. […] Aber methodisch sind wir da noch ganz am Anfang“ (V 4). Zudem gilt es eine Standardisierung anzustreben, da „[…] viele Ratings [und Berichterstattungsinitiativen] in der Regel die gleichen Themen abfragen, die dann aber vielleicht noch unterschiedlich gewichtet werden, oder das eine Detail wird damit abgefragt, dort aber nicht und umgekehrt“ (Un 8). Für die Interviewten geht es vor dem Hintergrund neuer Formen von Risiken und Krisen zunehmend auch um die Notwendigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu schaffen. Die Berichterstattung zu nicht-finanziellen Themen wird vor diesem Hintergrund als „vertrauensbildende Maßnahme“ (WP 2) wahrgenommen, vor allem wenn es um einen (potentiellen) Reputationsverlust geht, der im Zuge der (Neu-)Definition von Risiken auch als zentrale Bedrohung für Unternehmen wahrgenommen wird. Die Handlungssubjekte identifizieren ein ausgeprägtes Vertrauen ihrer Stakeholder und der Gesellschaft im Allgemeinen als Hilfestellung, um im Falle des Eintretens dieser neuen Art von Risiko die Schäden für das Unternehmen abzumildern. Die zugrundeliegende Idee scheint simpel: Durch eine erhöhte Transparenz in Bezug auf unternehmerische Aktivitäten, die durch eine nicht-finanzielle Berichterstattung erreicht wird, vermitteln Unternehmen das Bild eines ehrlichen Akteurs, der gewillt ist, sich neuen gesellschaftlichen Themen zu stellen. Ob und inwieweit es ihm jedoch gelingt, die mit den neuen Themen einhergehenden Herausforderungen für die unternehmerische Praxis auch zielführend umzusetzen, scheint davon zunächst abgekoppelt zu sein. Vielmehr erzeugt allein die Tatsache, dass sich Unternehmen dem Drang nach mehr Transparenz beugen und scheinbar neue Informationen zu ihrer Geschäftstätigkeit offenlegen, bereits Vertrauen und Glaubwürdigkeit, was wiederum den Schaden für das Unternehmen im Falle von bestimmten Krisen, wie dem Verlust von Reputation, abmildern kann (Kühl 2011, S. 136–157). Damit wird jedoch auch sehr deutlich, wie stark die Interdependenzen zwischen den neu anerkannten Risiken und den bereits stark institutionalisierten
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Risiken monetärer Art sind. Ein Großunternehmen formuliert diesbezüglich: „[…] bei Reputationskrisen hilft es sicherlich, wenn man eine hohe Glaubwürdigkeit erworben hat durch eine saubere Berichterstattung. Das hilft einem sicher, das wird einem vielleicht dann eher geglaubt, dass es wirklich jetzt hier nicht irgendwie Absicht war oder einfach irgendwie verheimlicht wurde oder so, sondern dass es einfach dumm gelaufen ist, das kommt ja mal vor“ (Un 13). Auch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hebt diesen Aspekt hervor: „Stellen Sie sich mal vor, die BASF hätte eine schlechte oder wenig Nachhaltigkeitsberichterstattung gehabt und wäre intransparent gewesen. Und dann haben Sie so einen Unfall. Dann gehe ich mal davon aus, dass der Schaden in Bezug auf das Image und die Reputation des Unternehmens nach einem Unfall deutlich höher ausfällt als wenn sie ein gutes Nachhaltigkeitsmanagement haben, eine gute Transparenz, eine gute Information und dann natürlich mit solchen Sondersituationen auch entsprechend professionell dann auch umgehen“ (WP 1).
Die Mitarbeiterin einer Unternehmensberatung fasst den Sachverhalt wie folgt zusammen: Unternehmen „tun es eben aus einem gewissen Risikomanagement heraus, um sozusagen Reputationsverlust zu vermeiden, […] ein potenzieller, man weiß es ja nicht“ (UB 1). Darauf aufbauend formuliert die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, dass es auch um eine Art Handlungsanleitung in Krisenzeiten geht – „wenn ich es nicht zu 100 % verhindern kann, habe ich Mechanismen und Prozesse etabliert, die zumindest Risiken so abmildern, dass nicht das Schlimmste passiert, oder dass ich relativ schnell erkennen und Maßnahmen ergreifen kann, dass eben gesundheitsstörende Zustände sofort durch entsprechende Kommunikation eingedämmt werden können“ (WP 1). Basis dieser Schlussfolgerung, die von einer Vielzahl der Interviewten geteilt wird, sind die Ereignisse der Vergangenheit: Trotz hochstandardisierter finanzieller Risikomanagementsysteme gab es zahlreiche Krisen, sodass neben finanziellen Faktoren auch Aspekte nicht-finanzieller Art Einfluss auf diese gehabt haben müssen. Es geht also darum, die unternehmerischen Aktivitäten in ihrer Gesamtheit zu betrachten und auch nicht-finanzielle Aspekte in Risikomanagementsystemen zu berücksichtigen. Mit der nicht-finanziellen Berichterstattung wird somit ein neues „Risikomanagementsystem“ (Un 17; UB 1; V 1) im Feld etabliert, dessen Anwendung teilweise bewusst und teilweise unbewusst erfolgt. Zugleich wird die nicht-finanzielle Berichterstattung auch als „Instrument der Risikominimierung“ (Un 8) im Hinblick auf langfristige Krisen wahrgenommen. Damit verhilft sie auch dazu, Langfristigkeit im Unternehmensalltag und am Finanzmarkt stärker zu etablieren. Ein Großunternehmen führt aus, „[…] man hat einfach versucht, Risiko zu minimieren, indem man eben vorsorglich sich darum kümmert, dass jetzt bei uns in der Beschaffungskette zum Beispiel alles nach unseren Regeln läuft“ (Un 17) und verdeutlicht auch den Gegensatz zum bisherigen Business as usual: „[…] Nachhaltigkeit ist […] das einzige Thema, das sich wirklich anschaut, was passiert denn in 15–20 Jahren; wohingegen unser normales Business, das beschäftigt sich mit den nächsten drei Jahren, und dann hört es auf. […] Und ich glaube, da kann Nachhaltigkeit
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auch noch extrem wertvoll werden, wenn man das wirklich versucht oder schafft, sinnvoll zu verknüpfen, dann, ja, dann wäre vieles geschehen, ja, oder geschaffen“ (Un 17). Eine Unternehmensberatung spricht die nicht-finanzielle Berichterstattung in diesem Kontext „[…] als unbedingte Voraussetzung für Wandel“ (UB 1) an. Eine Initiative zur nicht-finanziellen Berichterstattung, die ihren Fokus auf den Klimawandel beziehungsweise dessen Abwendung legt, merkt an, „[…] die Motivation der Unternehmen hat drei Komponenten: das eine ist, dass die Unternehmen wissen, dass Klimawandel für sie ein relevantes Thema ist, und dass sie sich damit auseinandersetzen, und dass es natürlich gut ist, wenn man das in einer standardisierten und strukturierten Weise macht, die einem eine Orientierung gibt, die einem eine Art Strategiehandbuch gibt, und die einem auch die Möglichkeit des Vergleichs gibt“ (I 2). Aus diesen Argumentationen schlussfolgern eine Reihe der Interviewten, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung ein systemstabilisierendes Instrument ist. Basis der Argumentation ist die Einsicht, dass nicht-finanzielle Berichterstattung die Möglichkeit bietet, Krisen und Risiken, die nicht zwangsläufig monetärer Art sind, aber Unternehmen im Hinblick auf ihre finanzielle Performance schädigen können und letztendlich auch destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft als solche haben können, langfristig und vorausschauend entgegenzuwirken. Es geht also darum, dass durch die bereits dargelegten Prozesse des Umdenkens und (Neu-)Definierens im Zuge der Etablierung von nicht-finanzieller unternehmerischer Berichterstattung neue, für das Gesellschaftssystem relevante Risiken und Chancen identifiziert werden, deren Thematisierung und Beachtung im unternehmerischen Alltag gesamtgesellschaftlich stabilisierende und damit systemstabilisierende Wirkung haben können. Damit wird der nicht-finanziellen Berichterstattung ein Wirkungsbereich zugeschrieben, der sich weit über das Unternehmensfeld hinaus auf eine Vielzahl weiterer sozialer Systeme und letztendlich auf das gesamte Gesellschaftssystem bezieht. Die Befragten verdeutlichen die systemstabilisierende Wirkung von nicht-finanzieller Berichterstattung jeweils durch sehr spezifische Beispiele. Ein DAX-30-Unternehmen formuliert beispielsweise, dass nicht-finanzielle Berichterstattung „[…] ein sehr geeignetes Instrumentarium [ist], um vorausschauend quasi auf mögliche Krisen oder Risiken hinzuwirken, und dann eventuell natürlich auch vorausschauend dann so was zu verhindern“ (Un 21). Ein weiteres DAX-30-Unternehmen hebt die interne Wirkung zur Bindung und Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen sowie die Bildung einer Unternehmenskultur hervor: „[Nicht-finanzielle Berichterstattung] ist ein systemstabilisierender Faktor. […] Also, erst mal der Grund, warum Unternehmen in Krisen geraten könnten, systemische Gründe werden abgeschwächt. […] Dann, wenn das Unternehmen in eine Krise kommt, ist es zum Beispiel sehr wichtig, inwiefern Mitarbeiter zu dem Unternehmen stehen. Es hat meiner Meinung nach einen klar positiven Impact auf die Mitarbeiterbindung, überhaupt auf die Kultur in einem Unternehmen, dieses Commitment von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Unternehmen, also, dadurch wird das gefördert, dadurch ist das an sich schon mal krisensicher“ (Un 22).
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Aufgrund der Interdependenz zwischen Wirtschafts- beziehungsweise Finanzsystem und Gesellschaft gilt es auch, das Finanzsystem resilienter zu gestalten. Die nicht-finanzielle Berichterstattung wird als ein Mittel gesehen, um auch an diesem Punkt mehr Stabilität und Resilienz zu erzeugen: Nicht-finanzielle Berichterstattung ist ein Instrument, mit dem „[…] man tendenziell dafür sorgen kann, dass man die richtigen Investoren [im Finanzsystem] hat, und dass man [die dem Finanzsystem immanente] Volatilität eher begrenzt“ (Un 23). Hinzu kommt, dass nicht-finanzielle Aspekte als Themen des gesellschaftlichen Lebens wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu den zahlendominierten Themen rund um die finanzielle Performance von Unternehmen, die von der Gesellschaft meist als Black Box wahrgenommen werden, haben die gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure bei nicht-finanziellen Themen eher das Gefühl, die ihnen gelieferten Informationen in ihre Alltagssprache transferieren zu können. Diese scheinbare Abschwächung der bestehenden Informations-Asymmetrie zwischen Unternehmen und Gesellschaft vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, was in der Folge die Wahrnehmung der nicht-finanziellen Berichterstattung als ein systemstabilisierendes Instrument verstärkt. Diese stabilisierende Funktion für das Gesellschaftssystem als solches, das ist ein weiteres zentrales Narrativ im Feld, bietet die nicht-finanzielle Berichterstattung in Form eines langfristig stabilen Reflexionsraums nur, wenn sie die unternehmerische Realität abbildet. Dieses Narrativ bezieht sich auf die grundlegende Funktion von nicht-finanzieller Berichterstattung: Der Abbildung von weiteren, nicht-finanziellen Informationen von Unternehmen, die zu einem umfassenden Bild von eben diesen und ihren Aktivitäten beitragen sollen. Die Interviewten sind sich nicht nur darüber einig, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung zu einem Umdenken der bisherigen Wirtschaftsweise und damit einhergehend der Rolle von Unternehmen beiträgt und in der Folge systemstabilisierend wirken kann, sondern auch in dem Punkt, dass hierfür die Ehrlichkeit der berichtenden Organisationen grundlegend ist. Nur wenn die nicht-finanziellen Berichterstattungsaktivitäten auch die unternehmerischen Aktivitäten so darstellen, wie sie in der Realität vorzufinden sind, kann die nicht-finanzielle Berichterstattung auch einen stabilen Raum zur Reflexion von bestehenden Verhältnissen bieten und in der Folge langfristig systemstabilisierend wirken. Es geht also darum, dass Unternehmen sich wieder stärker als passiven Akteur begreifen, der ‚Aufträge‘ – in diesem Falle die Berichterstattung seiner Aktivitäten – ausführt, statt die an ihn herangetragenen Erwartungen als aktiver Akteur zu modellieren und die Berichterstattung seiner Aktivitäten im Sinne eines Greenwashings so anzupassen, dass gezielt ein bestimmtes Bild von ihm als gesellschaftlicher Akteur in den Diskurs getragen wird. Ein Großunternehmen und ein DAX-30-Unternehmen formulieren diesen Knackpunkt im Bereich der nicht-finanziellen Berichterstattung wie folgt: „[…] am Ende entscheidet immer das Unternehmen selber und die U nternehmenskommunikations-Abteilung, welche Daten oder welche Informationen nach außen gehen. […] Letztendlich kann ein Unternehmen immer die Transparenz zulassen, die es selber will“ (Un 5). Unternehmen haben also „[…] viele Möglichkeiten […], in so einem Bericht auch Dinge zu vergraben“
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(Un 12). Damit sprechen die Interviewten selbst den Aspekt an, dass sich Unternehmen in den letzten Dekaden von einem passiven zunehmend hin zu einem aktiven Akteur entwickelt haben, der bewusst die an ihn gestellten gesellschaftlichen Anforderungen beeinflussen beziehungsweise aufgrund fehlender Standards sowie allgemeingültiger Richtlinien und Handlungsanleitungen nutzbringend für sich (um-)deuten kann. Das heißt, Unternehmen bewegen sich aufgrund der Heterogenität und Diversität, die aktuell das Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung prägen, in einem diffusen und wenig definierten Bereich, der verschiedene Reaktionen auf die an sie gestellten Erwartungen zulässt. Unternehmen können folglich die an sie gestellten gesellschaftlichen Forderungen entsprechend ihrer Bedürfnisse beantworten. Auf die gesellschaftliche Erwartung nach mehr unternehmerischer Transparenz und damit auf die nicht-finanzielle Berichterstattung übertragen bedeutet dies, dass Unternehmen letztendlich selbst bestimmen können, welches Bild von ihnen im gesellschaftlichen Diskurs entsteht, indem sie gezielt nicht-finanzielle Informationen (nicht) veröffentlichen. Damit agieren sie nicht mehr als passiver Akteur, der die an ihn gestellten gesellschaftlichen Anforderungen wahrnimmt und darauf reagiert, sondern vielmehr als aktiver gesellschaftlicher Akteur, der die bereits beschriebene (Neu-)Definition seiner eigenen Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges aktiv (mit) lenkt (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 108; Curbach 2009). Nutzen Unternehmen ihre Rolle als aktiver, deutender Akteur schließlich dazu, nicht die Lebenswirklichkeit in den Organisationen offenzulegen, sondern vielmehr unmoralisches Verhalten, Skandale oder sonstige nicht-nachhaltige Aktivitäten zu vertuschen, kann die nicht-finanzielle Berichterstattung ihre Funktionen als Reflexionsraum und systemstabilisierendes Instrument nicht mehr erfüllen, da eine gezielte und umfassende Risiko- und Chancenabschätzung nicht möglich sind. Stattdessen können – ähnlich wie in der Finanzkrise 2007/2008 – Blasen entstehen, die sich aus vagen, lückenhaften oder gar falschen Informationen speisen. Die Befragten führen dies ebenfalls aus und betonen, dass das Potential von nicht-finanzieller Berichterstattung nur genutzt werden kann, wenn die Berichterstattung eine Art „Tätigkeitsbericht“ (Un 19) ist. Kurz gesagt: Die „Lebenswirklichkeit muss mit dem, was in den Berichten steht, auch übereinstimmen“ (V 2). Damit darf nicht-finanzielle Berichterstattung nicht als „Marketing- und Vertriebsinstrument“ (V 5) missbraucht werden, dessen Ergebnis „eine Werbebroschüre ist ‚Was haben wir gemacht, und wo haben wir irgendwelches Geld hingespendet, und welchen Sportverein unterstützen wir‘“ (V 5), so formuliert ein weiterer Fachverband. Nur wenn die nicht-finanzielle Berichterstattung auch ein Abbild der unternehmerischen Realität ist, kann sie eine stärkere Etablierung und Institutionalisierung erfahren und ihre systemstabilisierende Wirkung in aller Gänze entfalten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Unternehmen wieder stärker in die Rolle eines passiven Akteurs gedrängt werden können und wie in der Folge die nicht-finanzielle Berichterstattung stärkere Ausbreitung und Etablierung finden kann. Im Feld herrscht diesbezüglich folgendes Narrativ vor: Eine zunehmende Regulierung ist der zentrale Hebel zur stärkeren Ausbreitung und Etablierung von nicht-finanzieller
9.5 Rekonstruktion von Narrativen: Empirische Analyse
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Berichterstattung. Damit sind sich die Befragten darüber einig, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung als Kommunikationsinstrument noch weit am Anfang ihrer Entwicklung steht und vor allem eine stärkere Standardisierung angestrebt werden muss. Sie sind sich zudem in dem Punkt einig, dass eine damit einhergehende stärkere Ausbreitung des Instruments und Etablierung innerhalb des Feldes nicht aus diesem heraus gewährleistet werden kann. Vielmehr wird die Verantwortung an die Politik und damit auf die regulatorische Ebene gegeben. Die Einigkeit des Feldes bezüglich dieses Aspekts zeigt sich auch dadurch, dass die Befragten kaum verschiedene Darstellungen zu diesem Sachverhalt bieten. Vielmehr wird mehrheitlich hervorgehoben, dass das, was mit der EU-Direktive zur nicht-finanziellen Berichterstattung und den daraus abgeleiteten nationalen Gesetzen begann, sich fortsetzen muss – „[d]a ist tatsächlich der Regulator gefordert“ (Un 6), das „regulatorische Umfeld“ (Un 7). Zudem sind die Ausführungen zu einer stärkeren Regulierung im Bereich der nicht-finanziellen Berichterstattung meist positiv konnotiert. So wird der „regulatorische […] Druck durchaus als positiv [gesehen], weil er Dinge bewegen kann“ (Un 6). Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass durch eine stärkere Regulierung der nicht-finanziellen Berichterstattung auch die allgemeine Nachhaltigkeitsarbeit vorangetrieben werden kann, wie ein DAX-30-Unternehmen beispielhaft wie folgt formuliert: „Also, wir beobachten ja durchaus auch das politische Momentum, die politische Absicht, über die Berichterstattung einen Hebel aufzubauen für die Nachhaltigkeitsarbeit“ (Un 11). Genau „das ist das Positive […] an […] regulatorischen […] Anforderungen“ (Un 7). Auf Grundlage der bereits vorgestellten Narrative konnte zudem noch eine Art übergeordnetes Narrativ im empirischen Material identifiziert werden, welches als prägendes Motiv aller Aussagen und Aktivitäten zur nicht-finanziellen Berichterstattung verstanden werden kann, da es in der Mehrzahl der bereits dargestellten Sachverhaltsdarstellungen und Argumentationsmuster latent mitschwingt: Die nicht-finanzielle Berichterstattung ist dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordnet. In den umfangreichen Erzählungen und damit den Sachverhaltsdarstellungen der Handlungssubjekte wird an einer Vielzahl an Stellen implizit deutlich, dass Unternehmen trotz des Prozesses des Neu- beziehungsweise Umdenkens altbekannter Prozesse stets dem Profitgedanken zugewandt sind. Die finanzielle Performance ihrer Organisation scheint dabei stets das oberste Ziel zu sein, selbst wenn es eben genau darum geht, diese Denkmuster aufzubrechen und mit alternativen Handlungsweisen neu zu verzahnen. So werden die neu anerkannten, nicht-finanziellen und damit langfristigen Risiken stets den monetären Risiken untergeordnet beziehungsweise auf diese bezogen. Dieses grundlegende Denkund Handlungsmuster wird jedoch nur an wenigen Stellen explizit artikuliert. Ein mittelgroßes Unternehmen, welches eine starke Fokussierung auf Nachhaltigkeit hat, führt in Bezug zu dem Narrativ, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordnet ist, Folgendes aus: „Ich glaube […], dass die Unternehmen, grad die großen, auf ihren Gewinn schauen und nicht auf das Ökologische und das Soziale, sondern das halt Beiwerk ist. Und man spart
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halt Logistikkosten also oder man kann die Logistik grün gestalten, spart aber in Wahrheit Kosten. Oder man setzt sich Solarzellen aufs Dach, hat aber dann dafür eine EEG-Umlage, die man bekommt. Also es ist, ich glaube, dass […] vieles dann gemacht wird, wenn es sich monetär bemerkbar macht“ (Un 1).
Es zeigt sich also, dass die Intensität der Nachhaltigkeitsorientierung von Unternehmen vor allem von Überlegungen geprägt ist, ob nachhaltig orientierte Unternehmen eine bessere oder zumindest keine schlechtere Rendite haben. Ein Fachverband formuliert diesbezüglich: Die stärkere Integration und Beachtung von nicht-finanziellen Aspekten innerhalb des unternehmerischen Handels und der Unternehmenspraxis „[…] wird dann Anregungen finden, wenn sie nachweisen können, dass sie mit nachhaltigen Strategien eine bessere Rendite erzielen können als mit nicht nachhaltigen Strategien“ (V 5). Es zeigt sich sehr deutlich, dass Geld die entscheidende „Stellschraube“ (V 2) ist, denn „[i]n dem Moment, wo man mit einer verantwortlichen Nachhaltigkeitsorientierung Geld verdient, funktioniert das auch alles“ (V 2). Auch wenn die Notwendigkeit für die Erhebung von nicht-finanziellen Aspekten im Feld gesehen wird, so steht weiterhin im Vordergrund, dass das Unternehmen auch in Zukunft überlebt – und dazu sind neben der Langfristperspektive auch eine Konzentration auf kurzfristige und damit zumeist finanzielle Aspekte notwendig.
9.6 Fazit: Narrative über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft Als „Zauberlehrling der Moderne“ (Maurer 2008, S. 17) nehmen Unternehmen eine zentrale Position innerhalb von modernen Gesellschaften ein. Ihr Einfluss durchdringt eine Vielzahl von sozialen Systemen und Strukturen bis hin zum Alltag jedes einzelnen Menschen. Ein Leben scheint nur „mit und von Unternehmen und ihren Produkten“ (Berghoff 2004, S. 22) möglich zu sein. Doch welche gesellschaftliche Rolle nehmen diese wirkmächtigen und omnipräsenten Akteure in der Moderne konkret ein? Welche Corporate Accountability wird ihnen zugeschrieben und welchen Einfluss haben Unternehmen auf die Gesellschaft und gesellschaftliche Teilsysteme? Welchen Einfluss kann die Gesellschaft, beispielsweise über ihre Erwartungsstrukturen, auf Unternehmen ausüben, um sie zu risikoärmeren Akteuren zu machen? Das Verhältnis von Gesellschaft und Unternehmen ist, wie zu Beginn des vorliegenden Beitrags gezeigt wurde, von stetigen Aushandlungsprozessen und der gegenseitigen Abwägung von Erwartungsstrukturen geprägt. Zudem müssen sich Unternehmen gegenüber der Gesellschaft legitimieren, um Sanktionen abzuwenden und am Markt bestehen zu können. Aufgrund dieser fluiden Gemengelage, die sich in Folge von historischen und sozialen Wandlungsprozessen permanent im Umbruch befindet, muss stetig (neu) verhandelt werden, was es heißt, dass Unternehmen gesellschaftliche Akteure mit einer spezifischen Verantwortlichkeit sind. Neben der Frage zur moralischen Komponente von Unternehmen wird auch die allgemeine Konzeption von Unternehmen
9.6 Fazit: Narrative über das Verhältnis von Unternehmen
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in der Gesellschaft stetig (neu) auf den Prüfstand gestellt und (neu) definiert. Es gibt somit keine abschließenden Antworten auf die Fragen nach der konkreten Rolle von Unternehmen im gesellschaftlichen Gefüge und der Interdependenzstruktur zwischen Gesellschaft und Unternehmen. Mit dem Konzept der Nachhaltigkeit, welches in den letzten Dekaden zu einer Art gesellschaftlichem Leitbild avanciert ist, sind auch neue Themen auf der gesellschaftlichen Agenda angekommen. Das Wissen um die Endlichkeit des Ökosystems Erde und die begrenzte Belastbarkeit von sozialen Systemen treibt mehr und mehr ein Umdenken unserer aktuellen Wirtschafts- und Lebensweise an. Aus soziologischer Perspektive verlaufen gesellschaftliche Entwicklungen immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Wandel und Stabilität. Auf der einen Seite sind es Prozesse wie Krisen und Transformationen, die gesellschaftlichen Wandel verdeutlichen; auf der anderen Seite demonstrieren Begriffe wie Institutionen und Organisationen die relative Stabilität von gesellschaftlichen Strukturen (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 102). Große gesellschaftliche Einschnitte und Veränderungen, wie etwa die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch der Aufstieg von Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Leitbild, führen demnach meist zu „Veränderungen in den Vorstellungen und Rollen gesellschaftlicher Akteure, d. h. in diesem Falle von Wirtschaft und Unternehmen“ (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 102). Getrieben von der gesellschaftlichen Erwartung müssen sich auch Unternehmen mehr und mehr mit dem Thema der Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Ausdruck findet dies unter anderem in der gesellschaftlichen Forderung nach einer zunehmenden unternehmerischen Transparenz in Form der Berichterstattung zu nicht-finanziellen Themen, die ein gesamtheitliches Bild von Unternehmen und damit eine Reflexion bezüglich des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen ermöglichen soll. Unternehmen kommen dieser Anforderung nach, um sich im Sinne ihrer unternehmerischen Verantwortlichkeit, also ihrer Corporate Accountability, gesellschaftlich zu legitimieren. An diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an und untersucht empirisch, inwiefern die nicht-finanzielle Berichterstattung von Unternehmen einen Reflexionsraum bietet, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu verhandeln. Auf der Basis von 38 problemzentrierten diskursiven Interviews mit einer Vielzahl von Repräsentantinnen und Repräsentanten verschiedener Organisationen, die das Feld von Unternehmen und Gesellschaft abbilden, habe ich zur Beantwortung der Forschungsfrage sechs Narrative rekonstruieren können. Diese Narrationen schließen sich gegenseitig nicht aus; sie sind nicht als disjunkte Konstrukte zu verstehen. Vielmehr bedingen sie sich zum Teil gegenseitig und nehmen aufeinander Bezug. Die nicht-finanzielle Berichterstattung wird als Anfang und zugleich Ende eines Prozesses des Umdenkens innerhalb von Unternehmen beschrieben. Den Handlungssubjekten ist demnach bewusst, dass mit der nicht-finanziellen Berichterstattung ein Umdenken der bisherigen Wirtschaftsweise und des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen einhergeht oder einhergehen muss. Folglich wird die nicht-finanzielle Berichterstattung als Reflexionsraum anerkannt. Das notwendige Umdenken und das
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(Neu-)Verhandeln von alten Strukturen und Mustern bedingt auch eine stärkere Aufmerksamkeit für und die Anerkennung von neuen (systemischen) Risiken sowie Chancen. Da es sich bei diesen neuen Themen und Risiken vor allem um solche handelt, die eine Langfristperspektive haben, wird die nicht-finanzielle Berichterstattung auch als eine Art Handlungsanleitung in Krisenzeiten verstanden. Indem neue Themen auf die Agenda gesetzt werden, neue Informationen über Unternehmen öffentlich gemacht und neue Risikofaktoren als relevant anerkannt werden, erfolgt eine Anpassung an den gegebenen gesellschaftlichen Kontext. Mit der nicht-finanziellen Berichterstattung werden Themen wie der Klimawandel oder die begrenzte Belastbarkeit von sozialen Systemen auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt. Durch die Beachtung von beziehungsweise die Auseinandersetzung mit derartigen Aspekten im Unternehmensalltag wird ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Gerade in Zeiten eines hochkomplexen Wirtschafts- und Finanzsystems, dessen Funktionsweisen kaum durchschaut werden können, scheint die nicht-finanzielle Berichterstattung Themen zu behandeln, die für die Gesellschaft und ihre Individuen lebensnaher und damit besser zu fassen sind. Zudem geht es aber auch darum, die sich aus der Veröffentlichung von nicht-finanziellen unternehmerischen Informationen ergebenden Chancen für die Gesellschaft und die Unternehmen beziehungsweise ihren Erfolg zu reflektieren. Damit wird die nicht-finanzielle Berichterstattung als ein systemstabilisierendes Instrument wahrgenommen. Um diese systemstabilisierende Wirkung auch entfalten zu können, muss die nicht-finanzielle Berichterstattung jedoch die unternehmerische Realität abbilden. Nur so kann ein langfristig stabiler Reflexionsraum geschaffen werden. Zwar gilt die nicht-finanzielle Berichterstattung als Bindeglied zwischen Unternehmen und Gesellschaft, die es ermöglicht, ein gesamtheitliches Bild von Unternehmen zu zeichnen, welches neben finanziellen Aspekten auch solche nicht-finanzieller Art berücksichtigt. Doch gerade wegen der Heterogenität und Diversität, die aktuell das Feld der nichtfinanziellen Berichterstattung prägen, bestimmen im Endeffekt die Unternehmen selbst, welches Bild von ihnen im gesellschaftlichen Diskurs entsteht, indem sie gezielt Informationen (nicht) veröffentlichen. Sie reagieren folglich nicht mehr nur passiv auf die gesellschaftlichen Erwartungen, sondern können auch eine (Neu-)Definition ihrer gesellschaftlichen Rolle lenken (Backhaus-Maul und Kunze 2012, S. 108; Curbach 2009). Die nicht-finanzielle Berichterstattung als anerkannter Reflexionsraum bezüglich des Verhältnisses von Gesellschaft und Unternehmen und ihrer Interdependenzen birgt ein sehr fruchtbares Spielfeld für Unternehmen als deutende Akteure. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen die nicht-finanzielle Berichterstattung als Output eines gesamtheitlichen Umdenkens nutzen und einen Tätigkeitsbericht verfassen und keine Imagebroschüre. Um dies zu gewährleisten, benötigt es, folgt man den Interviewten im Feld, einer stärkeren Regulierung. Als ein starkes und die Mehrheit aller Aussagen beeinflussendes Narrativ tritt hervor, dass die nicht-finanzielle Berichterstattung dem Motiv der Steigerung der finanziellen Performance untergeordnet ist. Auch wenn die ökonomische Performance von Unternehmen zentral ist, um ihr Überleben am Markt zu sichern, so erscheint es doch auch
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sehr bezeichnend, dass gerade im Hinblick auf eine (Neu-)Verhandlung der aktuellen Wirtschaftsweise und des aktuellen Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Unternehmen monetäre Argumente die Oberhand gewinnen. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, wie sich diese (Neu-)Verhandlung entwickelt, sobald sich eine stärkere Standardisierung im Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung ausbreitet und Unternehmen ein Stück weit wieder zum passiven Akteur gedrängt werden, der bestimmte Erwartungen erfüllen muss, um sich gesellschaftlich zu legitimieren, ohne diese selbst (mit) zu bestimmen. Unternehmen in modernen Gesellschaften sind vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt. Dies findet unter anderem in einer zunehmenden Etablierung der nicht-finanziellen Berichterstattung ihren Ausdruck. Wie im Beitrag gezeigt wurde, bietet diese Form der unternehmerischen Kommunikation einen Reflexionsraum, um über das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu verhandeln. Auf Basis einer Narrationsanalyse konnten die zentralen Sachverhaltsdarstellungen und Sinnzusammenhänge, die diesen Reflexionsraum bestimmen, rekonstruiert werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die zunehmende Regulierung und Standardisierung, die im Feld der nicht-finanziellen Berichterstattung in den kommenden Jahren vermutlich Einzug halten wird, auf diese Sachverhaltsdarstellungen und Sinnzusammenhänge auswirken und ob sich eine stärkere Institutionalisierung des Feldes nachweisen lässt.
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