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German Pages 375 [376] Year 2014
Musil-Forum
Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne
Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller
Band 33 · 2013/2014
De Gruyter
Klaus Amann zum 65. Geburtstag
Redaktion: Harald Gschwandtner
ISBN 978-3-11-036982-3 e-ISBN (eBook) 978-3-11-036645-7 e-ISBN (ePub) 978-3-11-039240-1 ISSN 1016-1333 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Editorial Nachdem der Band 32 des Musil-Forums nicht zuletzt aufgrund der Einführung eines relativ aufwändigen peer-review-Verfahrens erst im September 2013 erscheinen konnte, soll durch den Band 33 (2013/2014) endlich der seit längerem bestehende einjährige Auslieferungsrückstand aufgeholt werden. Mit dieser Korrektur des Erscheinungsrhythmus wird das Musil-Forum nun wieder wie vorgesehen im Zweijahresabstand erscheinen. Der hier vorgelegte Band dokumentiert in seinem Themenschwerpunkt das IRMG-Kolloquium »Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit«, das unter der Leitung von Walter Fanta von 12. bis 14. April 2012 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt stattgefunden hat. Gewidmet ist er dem langjährigen Präsidenten der IRMG und Gründer sowie Leiter des Klagenfurter Robert-Musil-Instituts Prof. Dr. Klaus Amann, der am 22. Februar 2014 seinen 65. Geburtstag gefeiert hat und dessen bisherige Forschungen die Thematik des ›literarischen Lebens‹ in Österreich auf maßstabsetzende Weise historisch und theoretisch erschlossen haben (mehr dazu sowie zum Schwerpunktthema des vorliegenden Bandes im Vorwort von Walter Fanta). Der bereits in Planung befindliche Band 34 (2015/2016) des Musil-Forums wird in seinem Themenschwerpunkt die Präsentationen und Diskussionen der von 8. bis 9. Mai 2014 in München veranstalteten IRMG-Tagung »Robert Musil und der Erste Weltkrieg« dokumentieren. Zusätzliche Einsendungen von Beiträgen zu diesem Schwerpunktthema sind genauso willkommen wie thematisch anders ausgerichtete Abhandlungen zu den üblichen Gegenstandsbereichen des Musil-Forums (Musil-Forschung, Literatur und Kultur der ›Klassischen Moderne‹, österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts). Norbert Christian Wolf, Rosmarie Zeller
Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt) Karl Corino (Tübingen) Walter Fanta (Klagenfurt) Christoph Hoffmann (Luzern) Alexander Honold (Basel)
Inka Mülder-Bach (München) Birgit Nübel (Hannover) Wolfgang Riedel (Würzburg) Peter Utz (Lausanne) Karl Wagner (Zürich)
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Themenschwerpunkt: »Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit« Walter Fanta: Vorwort
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Bernhard Metz: Über Robert Musils Bücher im Kontext zeitgenössischer Buchgestaltung . . . . . . . . . . . . .
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Walter Fanta: Das Geld, der Dichter, Der Mann ohne Eigenschaften und seine Verleger . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oliver Pfohlmann: »Glücklich und feldzugsplanend«? Robert Musil, die Neue Rundschau und die »Jüngste Generation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harald Gschwandtner: Dienst und Autorschaft im Krieg. Robert Musil als Redakteur der Zeitschrift Heimat . . .
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Ulrich Boss: Ein Autor von ›hypertropher Virilität‹. Geschlecht in der Musil-Rezeption der 1920er und 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nicole Streitler-Kastberger: Etho-Ästheten. Musil und einige Kritikerzeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus. Robert Musils Differenzierung Dichtung/Satire . . . . . . . . . . .
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Birgit Nübel: Die »Exterritorialität der Frau in der Männerwelt«: Robert Musils Briefe Susannens . . . . . . . . . .
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Anne Fleig: Rasende Schnecke. Robert Musil, Der Querschnitt und das kulturelle Leben seiner Zeit . . . . . . .
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Inhalt
Rosmarie Zeller: »Musil [. . .] ist hierzulande so gut wie unbekannt.« Musil und die Schweizer Literaturszene der 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gregor Streim: »ob Exilant oder nicht«? Robert Musils ambivalentes Verhältnis zur literarischen Emigration . . . .
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Abhandlungen Massimo Salgaro: Musils Modell-Leser
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Rosmarie Zeller: Nachruf auf Marie-Louise Roth (1926–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Internationale Robert-Musil-Gesellschaft
Archiv/Miszellen Karl Corino: Nochmals zu: Törleß-Auflage hochgejubelt? Von Widersprüchen und Dunkelziffern . . . . . . . . .
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Annette Daigger, Isabelle Dalaudière: Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung an die Universität des Saarlandes. Ein Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
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Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen
Walter Fanta
Vorwort Den Themenschwerpunkt dieses Bands bilden Beiträge zum Kolloquium Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit vom 12. bis zum 14. April 2012 in Klagenfurt. Mit der Wahl des Tagungsthemas versuchte der Vorstand der Gesellschaft bewusst Akzente in Richtung auf historische und soziologische Kontextualisierung zu setzen, indem er den Fokus auf die Kategorie ›literarisches Leben‹ richtete. Musils Rolle als Akteur im literarischen Feld unter Bewahrung von größtmöglichem methodologischem Pluralismus wissenschaftlich zu erforschen, dabei nicht bei Musil stehen zu bleiben, Forschungspositionen zu vergleichen und zu diskutieren, war das Ziel der Tagung. Bei der Auswahl der Vorträge wurde darauf geachtet, dass die Einlassung mit dem literarischen Leben nicht am historischen, politischen, biographischen, institutionellen Außen haften bleibt, sondern auch das ästhetische, literarische Innen zu seinem Recht kommt. Gewissermaßen als Bezugsrahmen für die Wiedereröffnung der literatursoziologischen Debatte um Musil und Musils Œuvre im literarischen Feld dienten zwei in den letzten Jahren erschienene Publikationen, der Sammelband Terror und Erlösung1 sowie Norbert Christian Wolfs Studie zu Kakanien als Gesellschaftskonstruktion2 mit ihrer Interpretation des Mann ohne Eigenschaften aus Bourdieu’scher Perspektive. Auf dieser Grundlage erfolgten die Schwerpunktsetzungen für das Kolloquium. Der Abdruck der Ergebnisse in diesem Band geschieht mit zwei Einschränkungen: Erstens erteilten die externen Gutachter nicht allen eingereichten Beiträgen ihre Zustimmung, zweitens haben die Herausgeber des Musil-Forums drei Aufsätze, die aus dem Kolloquium hervorgegangen sind (Innerhofer, Müller, Öhlschläger), aus Platzgründen bereits in Band 32 des Jahrbuchs veröffentlicht. Die schriftlichen Fassungen von zwölf Kolloquiumsbeiträgen überstanden die Hürden der Begutachtung und dürfen für sich in Anspruch nehmen, die wissenschaftliche Diskussion zum Tagungsthema abzubilden. Einer davon wurde aus inhaltlichen Gründen jedoch in die allgemeinere Rubrik ›Abhandlungen‹ gereiht (Salgaro). Die im themati1
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Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37). Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20).
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Walter Fanta
schen Schwerpunkt verbliebenen Beiträge lassen sich sieben Themenfeldern zuordnen: Buchkultur und Verlagswesen (Fanta, Metz); Musils Redakteurstätigkeiten 1914–1918 (Gschwandtner, Pfohlmann); Rezeptionsaspekte (Boss); Musil im Vergleich mit Kritikern seiner Zeit (Streitler-Kastberger); Musils Tätigkeit für das Feuilleton (Fleig, Nübel); Gattungsaspekte satirischen Schreibens (van der Steeg); Musils Rolle innerhalb der literarischen Emigration (Streim, Zeller). Ihre Reihung im Band folgt allerdings nicht dieser thematischen Aufteilung, sondern der Chronologie der besprochenen Texte und biographischen Stationen. Die Grundidee für das Kolloquium ist mit der Person und dem wissenschaftlichen Wirken von Klaus Amann, dem Präsidenten der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft, eng verknüpft; ihm ist dieser Band anlässlich seines 65. Geburtstags und seines Eintritts in den Ruhestand gewidmet. Klaus Amann, in Vorarlberg geboren, ist nach seinem Studium an der Universität Wien 1976 an die damals neugegründete Universität Klagenfurt gekommen und hat am Aufbau der hiesigen Germanistik entscheidend mitgewirkt. 1997 wurde er zum außerordentlichen Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Alpen-Adria-Universität ernannt. Bereits 1994 hat er das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt gegründet und wurde dessen Leiter. 2004 erfolgte seine Berufung auf die neu geschaffene Professur für Geschichte und Theorie des Literarischen Lebens am Robert-Musil-Institut. Am 30. September 2014 wird Klaus Amann in den Ruhestand treten und auch die Leitung des Robert-MusilInstituts abgeben. Dieses Institut, welches sich im Geburtshaus Musils befindet, beherbergt auch das regionale Kärntner Literaturarchiv mit einem Sammelschwerpunkt auf literarischen Manuskripten der deutsch- und slowenischsprachigen Kärntner Literatur. Angeschlossen ist das Kärntner Literaturhaus, welches literarische Lesungen und andere Literaturformate veranstaltet. Klaus Amann prägte den Literaturbetrieb in Kärnten und bestimmte darüber hinaus die literaturwissenschaftliche Forschung in Österreich über zwanzig Jahre wesentlich mit. Er veranstaltete wissenschaftliche Symposien zu wichtigen Vertretern der österreichischen Gegenwartsliteratur, initiierte und leitete Forschungs- und Editionsprojekte zur österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, verfasste wichtige Publikationen zur Sozial- und Institutionengeschichte der modernen österreichischen Literatur sowie zum Themenfeld ›Literatur und Politik‹ und widmete sich auch in seiner Lehre vorrangig Fragen der Literatursoziologie und der Literaturkritik. Bleibende Verdienste hat sich Klaus Amann insbesondere auch um die digitale Musil-Ausgabe erworben. Nachdem sich die von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé 1992 herausgegebene CD-ROM mit der Gesamttranskription des literarischen Nachlasses von Musil rasch als veraltet erwies, wurden an verschiedenen Orten historische-kritische Ausgaben einzelner Werke vorbereitet. Es ist das Verdienst von Klaus Amann, eine für alle
Vorwort
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an Musil-Editionen Beteiligten akzeptierte Gesamtlösung zustande gebracht zu haben. 2000–2004 leitete er das vorbereitende Projekt zur Kommentierung des Musil-Nachlasses und 2004–2007 das Projekt Musil – digitale Gesamtausgabe. Beide Projekte wurden vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert. 2009 schließlich erschien die Klagenfurter Ausgabe, die kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften, unter der Mitherausgeberschaft und aktiven Mitwirkung von Klaus Amann, als DVD-ROM . Klaus Amanns eigene inhaltliche Auseinandersetzung mit Robert Musil entwickelte sich aus seinem institutionengeschichtlichen und literatursoziologischen Ansatz. Bereits in seinen frühen großen Untersuchungen zum österreichischen PEN-Club3 und zum Anschluss der österreichischen Schriftsteller an das Dritte Reich4 hatte er auf die spezielle Rolle Musils hingewiesen. Während seiner Mitarbeit an der Klagenfurter Ausgabe befasste er sich mit Musils kultur- und literaturpolitischen Reden, Tagebuchaufzeichnungen, Aphorismen und Essayfragmenten der 1930er Jahre, im Zuge ihrer Kommentierung für die Edition arbeitete er Musils unbestechlichen, unparteilichen, in seiner geistigen Unabhängigkeit einzigartigen Status als Kritiker staatlicher Kulturpolitikskultur heraus. Die Resultate dieser Analysen flossen in die 2007 erschienene Monographie Robert Musil – Literatur und Politik ein – eine maßstabsetzende Untersuchung, die im Anhang eine Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass enthält und neue Standards in der Erforschung des ›politischen‹ Musil etabliert hat.5 Klaus Amanns bislang letzte Publikation zu Robert Musil, in der er sich mit dessen ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ auseinandersetzt, bezieht das Soziologische und Politische eng auf die literarische Gestalt zurück.6 Daraus darf bei Klaus Amann vielleicht auf eine geistige Rückkehrbewegung zu seinen früheren wissenschaftlichen Arbeitsgebieten geschlossen werden: Von der ästhetischen Form ausgehend, beginnend mit seiner Dissertation über Stifter, führte sein Weg zur historisch-politischen Außenseite der Literatur und am Ende wieder zurück zur literarischen Ausdrucksform, wie sie Musil dem ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ im Mann ohne Eigenschaften gab.
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Vgl. Klaus Amann: P. E. N. Politik, Emigration, Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub. Wien u. a. 1984. Vgl. Klaus Amann: Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte. Frankfurt a. M. 1988 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 16). Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007 (= rowohlts enzyklopädie). Vgl. Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 237–254.
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Walter Fanta
Als Klaus Amann am 12. April 2012 das Kolloquium der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft eröffnete, fand er für die Stellung Musils im literarischen Leben seiner Zeit folgende Worte, die Amanns spezifische Sicht auf Musil zum Ausdruck bringen und hier deshalb zumindest auszugsweise wiedergegeben seien, zumal sie auch eine Vorgabe für die Debatten während der Tagung bildeten: Er verweigert sich allem, was nach Partei, nach Dogma oder nach affektiver Gefolgschaft aussieht. Wesentlich scheint mir dabei, dass er seine Gegenposition zu den Gruppierungen der politischen wie auch der literarischen Öffentlichkeit aus der Reflexion seiner Aufgaben und Möglichkeiten als Schriftsteller entwickelte. Dies bedeutet, er schreibt und spricht bewusst und programmatisch in der Rolle eines Einzelnen, nirgendwo Zugehörigen, er schreibt und spricht aus der Position des Gegenüber, des Unzufriedenen, auch des Oppositionellen. Er spricht, im Unterschied zu den Parteiliteraten und politischen Günstlingen seiner Zeit, nicht mit der Macht im Rücken, sondern aus dem Abseits der Literatur. Diese Position am Rande hat seine Sensibilität für die prekäre gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers und für seine eigene Position geschärft. Aus seiner durch Unzufriedenheit fokussierten Wahrnehmung der Veränderungen im literarischen Feld – Stichworte: Großschriftsteller, ›Ullsteinisierung‹ – leitete er die entsprechenden politischen Schlüsse ab: »Der Kaufmann bemächtigte sich der Literatur, dann das Kriegspressequartier, und zuletzt der Staat. Eine folgerichtige Entwicklung.« Unter diesem Aspekt der Wechselwirkung zwischen politischer und literarischer Öffentlichkeit gehören etwa seine Beobachtungen zur Kulturpolitikskultur zu den luzidesten Kommentaren, die wir über austrofaschistische ›Politik‹ und ›Kultur‹ besitzen.7
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Wir danken Klaus Amann für die Überlassung des Manuskripts seiner Eröffnungsworte.
Bernhard Metz
Über Robert Musils Bücher im Kontext zeitgenössischer Buchgestaltung* Abstract: Robert Musil, like many other writers during the first half of the 20th century, was at least to a certain degree interested in the typesetting, printing and binding of his books and consequently was very likely involved in typographic decisions. In this regard, he is comparable to authors such as James Joyce, Franz Kafka, Thomas Mann, Marcel Proust, Paul Valéry, Robert Walser, Virginia Woolf or Stefan Zweig, who also had an interest in the paper, type and binding of their books and showed remarkable knowledge and awareness of book design and layout. In this article, I discuss Musil’s books from a typographic point of view, and compare them to other examples of contemporary European book design. I restrict myself to literary monographs published during Musil’s lifetime, starting with Die Verwirrungen des Zöglings Törleß and ending with Über die Dummheit, focussing on the years between 1906 and 1937 and covering the more traditional and more innovative aspects of Musil’s books published with Wiener Verlag, Georg Müller, S. Fischer, Rowohlt or Bermann-Fischer. Likewise, I briefly analyse the book design of the European novel around 1930 and contrast Der Mann ohne Eigenschaften with Alfred Döblin’s Berlin Alexanderplatz, Hans Henny Jahnn’s Perrudja, Thomas Mann’s Buddenbrooks and his Joseph tetralogy, and the first German translations of James Joyce’s Ulysses and Céline’s Voyage au bout de la nuit.
Dass Robert Musil die Drucklegung seiner Bücher mitverfolgte und in Teilbereichen auch mitbestimmte, ist evident. Das gilt für viele Autoren seit der Jahrhundertwende, wo eine zuvor eher selten anzutreffende Sensibilität für das über Buchgestaltung gesteuerte Autorenimage zu finden ist, für das Buch als Ware, die es zu verkaufen gilt, aber auch als typographisches Kunstwerk, einer äußeren Entsprechung inhaltlicher Qualität.1 Musil unterscheidet sich darin nicht groß von James Joyce, Franz Kafka, Thomas Mann, Marcel Proust, Paul Valéry, Robert Walser, Virginia Woolf, Stefan Zweig und vielen * 1
Harald Gschwandtner, Rosmarie Zeller und einem anonymen Peer-Reviewer danke ich für ihre vielfältigen Hinweise, die zur Verbesserung des vorliegenden Beitrags führten. Vgl. Renate Scharffenberg: Der Beitrag des Dichters zum Formwandel in der äußeren Gestalt des Buches um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Diss. Univ. Marburg 1953; Heinz Sarkowski (Hg.): Wenn Sie ein Herz für mich und mein Geisteskind haben. Dichterbriefe zur Buchgestaltung. Frankfurt a. M. 1965 für Zeugnisse von Klopstock bis Robert Walser; Bernd Jentzsch: Von der visuellen Wohlhabenheit. Der Autor und seine buchästhetischen Vorstellungen. Ein Vortrag gehalten am 26. April 1991 in der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Mit sieben typografischen Beispielen von E. R. Weiß, Paul Renner, Walter Tiemann, Klaus Detjen und Juergen Seuss. München 1991.
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Bernhard Metz
anderen, denen die für ihre Bücher verwendeten Schrifttypen, Papiere und Bindungsvarianten allesamt nicht gleichgültig waren.2 In der Zusammenarbeit mit Redaktionen und Setzereien/Druckereien und auch ihren Verlegern gegenüber wiesen sie ein mitunter bemerkenswertes Formbewusstsein und Wissen um typographische Gestaltungsmöglichkeiten auf. Bei Musil muss diesbezüglich vieles implizit vorausgesetzt werden, da keine Belege dafür vorhanden sind, dass er sich zu Fragen der Buchgestaltung generell bzw. zu Typographie und Gestaltung in Bezug auf seine eigenen Texte speziell geäußert hätte. Dies liegt daran, dass eine diese Themen berührende Autor/Verleger-Korrespondenz nicht erhalten ist (die wenigen relevanten Partien werden später angeführt) und mit Ausnahme der Druckfahnenkapitel des Mann ohne Eigenschaften keine Bürstenabzüge oder Korrekturfahnen zu Musils Werken vorliegen.3 Ein Fehlen solcher Autoräußerungen ist auf der anderen Seite methodisch verschmerzbar; bei arbeitsteilig produzierten Gegenständen wie Büchern sind Autoren zwar notwendig und vielleicht sogar zentral, hinsichtlich Gestaltungsfragen aber in aller Regel verzichtbar. 2
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Ein Sonderfall ist diesbezüglich Stefan George, der eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit für die Gestaltung seiner Bücher bezeigte und den angeführten Autoren, die Interesse ohne allzu gravierende Involvierung, also den Standardfall benennen sollen, daher fast schon wieder entgegensteht. Sich George ohne Berücksichtigung von Typographie und Buchgestaltung zu nähern, ist schwer vorstellbar; entsprechend gibt es dazu auch eine länger andauernde literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung, die bei Musil, Kafka oder Thomas Mann (und der großen Menge anderer Autoren) erst vor Kurzem eingesetzt hat, vgl. exemplarisch Roland Reuß: Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der ›Stefan-George-Schrift‹, in: Doris Kern, Michel Leiner (Hg.): Stardust. Post für die Werkstatt. KD Wolff zum Sechzigsten. Frankfurt a. M., Basel 2003, S. 166–191, Rüdiger Nutt-Kofoth: The Book in the Poetological Concept of Stefan George. Some Remarks on the Physical and Iconic Side of the Published Text – with an Editorial Conclusion, in: Variants. The Journal of the European Society for Textual Scholarship 4 (2005), S. 111–131, sowie Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George. Frankfurt a. M., Basel 2007. Im neuen George-Handbuch wird zu dieser Sonderstellung ausgeführt: »Seit dem 18. Jahrhundert sind zahlreiche mehr oder weniger intensive – wenn auch nicht immer durchgesetzte – Gestaltungswünsche von Autoren hinsichtlich Typographie, Ausstattung oder Illustration überliefert [. . .]. Über solche korrigierenden oder nur abwehrenden Gestaltungswünsche ging StG von Anfang an weit hinaus: Er konzipierte und verwirklichte Buchgestaltungen, die seinen strengen poetischen Formvorstellungen entsprachen [. . .]. Dass StG so ungewöhnlich stark die Gestaltung seiner Publikationen bestimmte, liegt bis 1898 vor allem auch daran, dass bis zum ersten Vertrag mit einem professionellen Verleger, Georg Bondi, alle Veröffentlichungen als Privatdrucke, auch privat finanziert, erschienen. An die Einflussmöglichkeit gewöhnt und im Lauf der Jahre in herstellerischen Fragen – technisch wie gestalterisch – sehr erfahren, bedang sich StG auch gegenüber Bondi aus, dass die Gestaltung der Verlagsausgaben in allen Details seiner Zustimmung bedürfe.« (Wulf D. von Lucius: Buchgestaltung und Typographie bei Stefan George, in: Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer, Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. I . Berlin, Boston 2012, S. 467–491, hier S. 467 f.) Rosmarie Zeller hat mich in diesem Zusammenhang auf Musils »Wiener Theatermesse« in der Prager Presse vom 9. 9. 1921 hingewiesen, wo »das hohe technische Niveau der Wiener Verlage« erwähnt wird; dieser Passus ist m. E. aber kaum auf Buchgestaltung zu beziehen und wie der anschließende Verweis auf Erwin und Robert Müller ironisch zu verstehen.
Über Robert Musils Bücher im Kontext zeitgenössischer Buchgestaltung
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Buchgestaltung ist selbst dann beschreibbar, wenn es keine Auslassungen zu Intentionen und Einschätzungen der geplanten wie fertigen Bücher vonseiten ihrer Autoren, Verleger oder selbst Gestalter gibt, sondern einfach anhand der vorliegenden Objekte selbst. Entsprechend stehen im Folgenden Musils Bücher im Zentrum. Diese sollen aus einer typographischen Perspektive betrachtet und mit anderen Beispielen der zeitgenössischen europäischen Buchgestaltung kontrastiv verglichen werden. Das kann als antihermeneutischer Zugang angesehen werden, der Bücher unter ihren materialen Gesichtspunkten analysiert und andere Codes ausblendet. Zudem soll es lediglich um literarische (bzw. essayistische) Monographien zu Musils Lebzeiten gehen, d. h. die Übersicht beginnt mit der Erstausgabe des Törleß und schließt mit Über die Dummheit, das als Reihenbuch besondere Aufmerksamkeit verdient. Damit werden Musils vielfältige Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften, als Beiträger zu Sammelbänden oder als wissenschaftlicher Autor, die es allesamt wert wären, unter der hier eingenommenen typographischen und gestalterischen Perspektive untersucht zu werden, außen vor gelassen. Auch auf die in Musils Buchkritiken sehr gelegentlich anzutreffenden Äußerungen zur Ausstattung der von ihm besprochenen Bücher, aus denen sich mit viel Interpretation ästhetische Präferenzen und Wissensbestände des Rezensenten ableiten ließen, wird nicht eingegangen. Im Gegenzug werden Musils dramatische Buchpublikationen, Die Schwärmer sowie Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer, in die Untersuchung miteinbezogen, da man (auch wegen des Umfangs und nicht zuletzt wegen ihrer missglückten Aufführungsgeschichten) von Lesedramen sprechen kann, die nicht zufällig gedruckt wurden. Diese Beschränkung hat nicht zuletzt methodische Gründe, weil einer Mitbestimmung oder Kollaboration von Autoren bei der Buchgestaltung in der Sparte der literarisch-belletristischen Monographie mehr Bedeutung zukommt als bei anderen Textsorten und Gattungen. Externe Gestaltungsvorgaben, wie sie sich durch Reihenzugehörigkeit, Papierwahl, Zusammenarbeit mit einer bestimmten Druckerei u. a. ergeben, können in den Bereichen der wissenschaftlichen oder nicht selbständigen Publikation noch seltener abgeändert werden, obschon bestimmte Autoren auch dort darauf bestehen. Worauf schließlich auch nicht eingegangen wird, sind unvollendete Buchprojekte Musils wie Aus einem Rapial. Der vorliegende Beitrag ist als erster allgemeiner Überblick zu verstehen, an den sich wesentlich genauere Studien zu den exakt verwendeten Drucktypen und -verfahren (auch im Sinne eines druckanalytischen Vergleichs einer weit größeren Anzahl von Exemplaren aus verschiedenen Auflagen) und den Bindungs- und Ausstattungsvarianten der einzelnen Bücher Musils anschließen müssten. Der Fokus liegt auf der Inhaltstypographie, nicht auf Einband- und Papiervarianten oder Aspekten der Titelblattgestaltung. Es geht im Folgenden somit vorrangig um Musil als Autor literarischer Prosa und um die drei Jahrzehnte von 1906 bis 1937.
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Bernhard Metz
1. Deutschsprachige Bücher im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Dass gerade dieser Zeitraum für die deutsche und deutschsprachige Buchgestaltung, Gebrauchsgraphik und Schriftenproduktion bedeutsam ist, wird seit Langem erkannt und hat zu einer Vielzahl von Publikationen geführt.4 Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts ist auch technologiehistorisch von Interesse, weil der traditionelle Handsatz im Zeitungsdruck, aber bei von großen Publikumsverlagen beauftragten Großdruckereien auch schon im Bereich des Buchdrucks Konkurrenz von Maschinen-Satz- und -Gießsystemen (Linotype, Monotype, Intertype u. a.) bekam. Diese revolutionierten das Zeitungswesen und veränderten durch technologisch bedingte Änderungen wie der Einführung neuer Drucktypen auch die typographische Gestaltung von Druckerzeugnissen. Der traditionelle Buchdruck mit Handsatz und gelegentlich noch Handpresse, der trotz eines enormen Innovationspotentials, das zumindest seit Ende des 18. Jahrhunderts vielfältige Verbesserungen und Ökonomisierungen mit sich brachte, relativ konservativ war, reagierte darauf mit einer Qualitätsoffensive, so dass es wohl zu keiner Zeit in der Geschichte der Druckkunst mehr qualitativ hervorragende neue und auch wiederentdeckte ältere Druckschriften gab als zwischen 1900 und 1940.5 Im deutsch4
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Vgl. u. a. Hans Leitmeier: Gedanken über die Bedeutung der deutschen Buchkunst im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 15 (1940), S. 483–497; Georg Kurt Schauer: Deutsche Buchkunst. 1890 bis 1960. Bd. I : Text. Bd. II : Abbildungen und Bibliographie. Hamburg 1963; Paul Raabe (Hg.): Das Buch in den zwanziger Jahren. Vorträge des zweiten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 16. bis 18. Mai 1977. Hamburg 1982; Joseph Lammers, Gerd Unverfehrt (Hg.): Vom Jugendstil zum Bauhaus. Deutsche Buchkunst 1895–1930. Münster 1981; Jeremy Aynsley: Grafik-Design in Deutschland 1890–1945. Mainz 2000; Jürgen Holstein: Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919–1933. Berlin 2005. Vgl. Albrecht Seemann, Emil Wetzig: Handbuch der Schriftarten. Eine Zusammenstellung der Schriften der Schriftgießereien deutscher Zunge nach Gattungen geordnet. Leipzig 1926– 1939; Dagmar Welle: Deutsche Schriftgießereien und die künstlerischen Schriften zwischen 1900 und 1930. Regensburg 1997, S. 63–233; Peter Neumann: Herstellungstechnik und Buchgestaltung. Industrielle Buchproduktion. Buchgestaltung, in: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des Deutschen [sic] Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1.1: Das Kaiserreich 1870– 1918. Frankfurt a. M. 2001, S. 170–196, bes. S. 172 f. u. 186 f.; Peter Neumann: Drucktechnische Entwicklungen u. Wulf D. v. Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst, beide in: Ernst Fischer, Stephan Füssel (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2.1: Die Weimarer Republik 1918–1933. München 2007, S. 305–314, bes. S. 311–313, u. S. 315– 340, bes. S. 322, sowie grundlegend Hans Reichardt: Internationales Verzeichnis der BleisatzSchriften. Frankfurt a. M. 2011, http://www.klingspor-museum.de/Intl_Bleisatz_Index.html (Zugriff am 15. 4. 2014). Der Unterschied zwischen Setz-/Gießsystemen und Handsatz, die allesamt auf dem Hochdruck basieren, ist freilich weit geringer als der zu späteren Photooder Computersatzsystemen und im fertigen Druckprodukt mitunter kaum feststellbar. Die gängigen Maschinensatzsysteme adaptierten und lizensierten erfolgreiche Handsatzschriften, so brachte bspw. eine Gießerei wie die Frankfurter D. Stempel, in Deutschland zuständig für Linotype-Konzessionen und die Produktion von Linotype-Matrizen, neue Schriften sowohl
Über Robert Musils Bücher im Kontext zeitgenössischer Buchgestaltung
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sprachigen Raum umfasst diese Periode so bedeutende Schriftenentwerfer, Gestalter, Buchkünstler und Gebrauchsgraphiker wie Peter Behrens, Lucian Bernhard, Otto Eckmann, Fritz Helmuth Ehmcke, Jakob Erbar, Friedrich Wilhelm Kleukens, Rudolf Koch, Paul Renner, F. H. Ernst Schneidler, Walter Tiemann oder E. R. Weiß.6 Diese Hochzeit der Buchgestaltung wird sekundiert von einer Blütezeit der Buchillustration mit Künstlern wie Richard Janthur, Alois Kolb, Alfred Kubin, Hans Meid, Emil Preetorius, Karl Rössing, Max Slevogt oder Hugo Steiner-Prag, die teilweise ältere Texte neu illustrierten, teilweise aber auch erstmalig publizierte Texte mit Illustrationen versahen. Auch Bucheinbände und -umschläge wurden stärker als bisher graphisch gestaltet und banden dabei Bildmaterial auf bislang unübliche Weise ein, so dass mit Wulf v. Lucius gesagt werden kann, die »große buchgestalterische Innovation der Zwanzigerjahre lag im Äußeren der Bücher«: Sowohl der Schutzumschlag als auch die Vorderdeckel der stark an Bedeutung gewinnenden Kartonagen werden sowohl typographisch wie illustrativ ganz im Sinne von ›Reklame‹ verkaufsfördernd modern, d. h. plakativ, gestaltet: sie atmen jenen Geist von Tempo und Intensität, der das Selbstbild der Epoche prägte. E. R. Weiss sprach von Rhythmus und Unruhe.7
Verlagseinbände gab es seit Mitte des 19. Jahrhunderts, doch auch sie wurden nun verstärkt graphisch gestaltet und auch darauf hin angelegt, im Sortimenterschaufenster ausgestellt zu werden.8 Als Besonderheit dieser neubewerteten Einband- und Umschlaggestaltung kann auch der gerade Buchrücken gelten, der neue Gestaltungsmöglichkeiten mit sich brachte. Erstmals wurde es möglich, die komplette Rückenfläche graphisch zu nutzen, ohne sich dabei an den Bünden der Buchbinder orientieren zu müssen.9
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für dieses System als auch für den Handsatz heraus und arbeitete mit einigen der bedeutendsten Schriftgestalter zusammen. Es gab in größeren Druckereien bei vielen Druckaufträgen und Buchprojekten auch Verschränkungen der Satzverfahren, indem bspw. der Inhalt mit Mengensatzschriften mittels Maschine, Titelseiten und Überschriften mit Auszeichnungsschriften aber per Hand gesetzt wurden. Vgl. u. a. die »Beiträg[e] zur Geschichte der deutschen Buchkunst im ersten Viertel des XX . Jahrhunderts« im Imprimatur-Jahrbuch von 1940, besonders Albert Windisch: Deutsche Werkschriften-Gestalter seit 1900, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), S. 81–97, u. Heinrich Jost: Die neue Buchkunst in Deutschland. Eine chronologische Rückschau über die typographische Entwicklung, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), S. 105–128, sowie die von Hans Reichardt zusammengestellten Portraits unter Übersicht der internationalen Schriftdesigner, http://www.klingspor-museum.de/Kuenstler.html (Zugriff am 15. 4. 2014). Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 328. Vgl. Nina Schleif: SchaufensterBücher. Zu einer vergessenen Debatte über Äußerlichkeiten, in: Christof Windgätter (Hg.): Wissen im Druck. Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung. Wiesbaden 2010, S. 116–139. Vgl. Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 332, sowie die Ausführungen bei E.[mil] R.[udolf] Weiß: Das Buch als Gegenstand. Ein Brief [an Moritz Heimann], in: S. F.[ischer] V.[erlag]: Das XXVte Jahr 1886/1911. Berlin 1911, S. 52–66, bes. S. 63 f. Kritisch
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Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts ist zudem verlagshistorisch von Belang, weil in dieser Zeit Ende des 19. Jahrhunderts vereinzelt anzutreffende Arbeitsteilungen weiträumig eingeführt wurden, die bis heute für die professionelle Gestaltung von Büchern bedeutsam sind, u. a. die zunehmende Verzahnung von Verlagen und zugehörigen (Haus-)Druckereien, aber auch die Ansiedlung eigener Herstellungsabteilungen innerhalb von Verlagen oder die dauerhafte Anstellung von Graphikern bzw. regelmäßige Zusammenarbeit mit externen Fachkräften. Die Buchgestaltung wurde damit erstmals in größerem Umfang nicht mehr stillschweigend den Druckereien überlassen, die sie ohne konsistente Gestaltungsprinzipien bzw. mitunter zum eigenen Vorteil durchführten, sondern verblieb nun oftmals bei den Verlagen, die so für eine einheitliche Gestaltung aller Verlagsprodukte sorgen konnten.10 In größerem Umfang als bisher nahmen in dieser Zeit Verlage Autoren ganz unter Vertrag, ›machten‹ also nicht einfach nur Bücher, sondern Autoren, wobei dieses Prinzip, das auch einige der nachträglichen Inverlagnahmen der Bücher Musils erklärt, von Verlegern wie Samuel Fischer bzw. Lektoren wie Moritz Heimann früh praktiziert wurde.11 Um ›Autoren zu machen‹,
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dazu Jan Tschichold: Gerader Rücken, Kastenband?, in: Typographische Monatsblätter 71 (1952), S. 482, zit. nach: ders.: Schriften 1925–1974. Hg. v. Günter Bose, Erich Brinkmann. Bd. 2: 1947–1974. Berlin 1992, S. 99/101, wo es u. a. heißt: »Der Deckenband mit dem geraden Rücken, Ausdruck einer verzeihlichen ästhetischen Freude an dem kastenmäßigen, scheinbar ›modernen‹ Aussehen des Buches, kam in den Jahren der ›Neuen Sachlichkeit‹ zwischen 1924 und 1928 auf und ist damals sehr häufig gewesen. Wer sich aber mit seinen Nachteilen auseinanderzusetzen hatte, wird ihn nur in einigen Ausnahmefällen gelten lassen. [. . .] Die Kastenbände verfehlen zwar selten ihre Wirkung auf mancherlei Leute, die sie für besonders ›chic‹ halten; der verantwortungsbewußte Hersteller wertvoller Bücher aber sollte sie vermeiden.« Vgl. Heinz Sarkowski: Der Herstellerberuf. Entstehung und Wandel, in: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens 3 (1988), S. 107– 118; Neumann: Drucktechnische Entwicklungen (s. Anm. 5), S. 311. So schreibt Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. [Ein Überblick.] München 3 2011 [1991], S. 303 [278]: »Immer mehr Verlage überließen die Produktion ihrer Bücher nicht mehr nur der Druckerei, sondern arbeiteten selbst mit Buchgraphikern zusammen. Von der Jahrhundertwende an gewann deshalb auch der Beruf des ›Herstellers‹ im Wissenschaftsverlag, seit den zwanziger Jahren im Publikumsverlag an Wichtigkeit.« Vgl. zudem die Beiträge in Jäger (Hg.): Geschichte des Deutschen [sic] Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1.1 (s. Anm. 5); Georg Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871–1918. Frankfurt a. M. 2003 (Bd. 1.2) bzw. Berlin, New York 2010 (Bd. 1.3); Fischer, Füssel (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels (s. Anm. 5). Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (s. Anm. 10), S. 307 [281 f.]. Dazu Samuel Fischer 1911: »Auch dem Schriftsteller wird die Wahl des Verlegers leichter gemacht, wenn er weiß, wo er hingehört, in welchem Autorenkreise er zu Hause ist. Der persönlich differenzierte Verlag wird mit der Zeit einen Kreis von Autoren in den Bereich seiner Wirksamkeit ziehen, der im Rahmen eines einheitlichen Verlagskomplexes deutlicher sichtbar gemacht werden kann, als verstreut an verschiedenen Verlagsstellen mannigfachsten Charakters. Die Geschlossenheit und Einheit des Verlags erleichtert ihm die Schaffung des Marktes für seine Produkte.« (S.[amuel] Fischer: Der Verleger und der Büchermarkt, in: S. F.[ischer] V.[erlag]: Das XXVte Jahr 1886/1911. Berlin 1911, S. 24–33, hier S. 25 f.)
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ist eine einheitliche und auf Wiedererkennbarkeit hin angelegte Gestaltung ihrer Bücher und ein entsprechendes Verlagslayout bzw. Corporate Design vorteilhaft, wenn nicht sogar unabdingbar. Seit der Jahrhundertwende häufte sich zudem ein neuer Verlegertypus, der sogenannte »Kulturverleger oder Individualverleger«,12 der sich um ›seine‹ Autoren kümmert und in regem Austausch mit ihnen steht, Mäzen und Unternehmer, Förderer und Ratgeber, väterlicher Freund und Vertrauensperson, gar persönlich befreundet mit ihnen ist.13 Er arbeitet Programme und Verlagsziele seiner Autoren aus, plant langfristig ihren literarischen Erfolg und empfindet seine Arbeit als kulturellen Auftrag,14 wie dies von Fischer überliefert ist, der seine Tätigkeit folgendermaßen charakterisierte: »Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers. Setzt er sich für etwas ein, was in die Zukunft hinein Leben verspricht, so kann der Sieg, sofern seine Sache gut ist, früher oder später nicht ausbleiben.«15 Die Zeit, in der Musils näher zu analysierende Buchpublikationen entstehen, ist auch die Zeit so überragender Verlegerpersönlichkeiten wie Eugen Diederichs, Samuel Fischer, Anton Kippenberg, Albert Langen, Georg Müller, Reinhard Piper, Ernst Rowohlt, Kurt Wolff oder Paul Zsolnay. Ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts fallen schließlich auch Experimente mit neuen Formen und eine radikale Abkehr von traditionellen typographischen Lösungen, vorgebracht u. a. durch Jan Tschichold und die Neue Typographie. Linksbündiger Flattersatz, der Einsatz von graphisch reduzierten serifenlosen Schriften und die großzügige Verwendung von Photographien, Abbildungen und Infographiken wurden der herkömmlichen ornamentalen Gestaltung entgegengesetzt, Tschichold führt in Die Neue Typographie unter dem Stichwort »Schrift« aus: 12
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Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (s. Anm. 10), S. 304 [279]. Vgl. zum Aufkommen des Kulturverlegers Ende des 19. Jahrhunderts auch Birgit Kuhbandner: Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008 (= Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Bd. 17). Vgl. Fischer: Der Verleger und der Büchermarkt (s. Anm. 11), S. 24: »Die Pflege der Dichtkunst als Zweig des Buchhandels gehört zu den persönlichsten Aufgaben des Verlegers. Hier handelt es sich darum, die verborgensten Kräfte zu erkennen und zu fördern. Die Pflege des Talents setzt hier stärker, als in anderen Zweigen des Verlagsbuchhandels, die persönliche Wirksamkeit des Verlegers mit allen seinen menschlichen Fähigkeiten voraus. Als Geschäftsmann, als Freund und Mäzen soll er dem Dichter und seinem Werke zur Seite stehen.« »Und wenn ihr’s nicht kauft, so will ich rühmlich dran pleite gehen«, spricht Ernst Rowohlt, »der Riese aus Bremen«, in einer Illustration der Literarischen Welt zu »Des deutschen Buches kurioser Tändel-Markt« seine idealistische Verlagsphilosophie aus: Die Literarische Welt (5. 12. 1930), Nr. 49, S. 1. Zit. nach: Franz Pfemfert: Bruchstück einer Unterhaltung [mit Samuel Fischer], in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 4 (11. 7. 1914), Nr. 28, Sp. 601–605, hier Sp. 603.
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Alle Schriftformen, deren Wesen durch zum Skelett hinzutretende Ornamente (Schraffuren bei der Antiqua, Rauten und Rüssel bei der Fraktur) entstellt ist, entsprechen nicht unserem Streben nach Klarheit und Reinheit. Unter allen vorhandenen Schriftarten ist die sogenannte »Grotesk« oder Blockschrift (die richtige Bezeichnung wäre »Skelettschrift«) die einzige, die unserer Zeit geistig gemäß ist. Wer so an der Fraktur, dieser Kanzlistenschrift des 16. Jahrhunderts, hängt, daß er nicht von ihr lassen kann, sollte sie dann auch nicht durch eine u n s e r e r Zeit gemäße Gruppierung, die nie zu ihr passen kann, vergewaltigen. Die Fraktur, ebenso wie Gotisch und Schwabacher, hat so wenig mit uns zu tun, daß sie als Aufbauform zeitgemäßer Typographie vollkommen ausschaltet [sic].16
Ein Beispiel für eine solche ornamentlose »Skelettschrift« ist die seit 1927 zunehmend besser ausgeführte und bald gut verfügbare Futura der Bauerschen Schriftgießerei Frankfurt a. M., eine geometrisch konstruierte Schrift, die Tschicholds damaliges Ideal perfekt verkörpert. In Schriftreklamen und Anzeigen wurde die auf Anregung von Jakob Hegner von Paul Renner gestaltete Futura als »Schrift unserer Zeit« beworben und entsprechend vermarktet.17 Renner hatte zuvor den Georg Müller-Verlag jahrelang als Gestalter beraten und trug entscheidend zum Erscheinungsbild von dessen Büchern bei.18 Gleichwohl blieben deutschsprachige Drucke bis Mitte des 20. Jahrhunderts zweischriftig, gebrochene Schriften (bevorzugt Frakturen) fanden neben serifenlosen bzw. viel häufiger Serifen-/Antiquaschriften Verwendung, eine Besonderheit im Vergleich zum angloamerikanischen Raum oder der Romania. Daher kann mit Susanne Wehde zur kulturellen Konnotation dieses Zweischriftensystems, auf das Tschicholds Angriff referiert, da damit nur eine ältere Opposition zwischen gebrochenen und Antiqua-Schriften wieder aufgenommen wird, resümiert werden: So herrscht unter den künstlerisch-funktionalistischen Gestaltern Konsens über die Ablehnung der Fraktur-Schriften [. . .]. Umgekehrt dauert der Kampf der nationalpolitischen Fraktur-Befürworter gegen die Antiqua (und Grotesk) bis in die Dreißigerjahre hinein an, weil sie im Kontext umfassender Modernisierungsprozesse in Technik, Wirtschaft und Kunst zunehmend Verwendung finden [. . .].19 16 17
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Jan Tschichold: Die Neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäß Schaffende. Berlin 1928, S. 75 f. Vgl. Alexander Lawson: Futura and the Geometric Sans-serif Types, in: ders.: Anatomy of a Typeface. Boston 1990, S. 337–348; Welle: Deutsche Schriftgießereien (s. Anm. 5), S. 218; Aynsley: Grafik-Design in Deutschland (s. Anm. 4), S. 104 f.; Alexandre Dumas de Rauly, Michel Wlassikoff: Futura. Une gloire typographique. Paris 2011. Vgl. Paul Renner: Vom Georg-Müller-Buch bis zur Futura und Meisterschule. Erinnerungen [. . .] aus dem Jahrzehnt von 1918 bis 1927, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), als paginierte Beilage nach einem Tafelteil zwischen S. 192 u. 193, sowie Paul Renner: Das moderne Buch. Rede auf der im August des Jahres 1946 in Lindau stattgefundenen ersten Tagung der Verleger und Buchhändler der französisch besetzten Zone. Lindau 1946. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 69), S. 269.
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Noch um 1930 wurde der Großteil der deutschen Belletristik aus gebrochenen Schriften gesetzt – wo es nicht mehr geschah, war dies markiert.20 So gab es neben der eher traditionellen Verwendung meist von Frakturen auch »modern[e] Autoren wie Walter Benjamin, Franz Hessel oder Egon Erwin Kisch in Antiqua«.21 Und eben auch Musil, ab 1927 ausschließlich. Diesen Autor unter einer typographischen und buchgestalterischen Perspektive zu analysieren, ist daher vielfach lohnenswert: Zum einen wurden seine Bücher u. a. durch den Wiener Verlag, Georg Müller, S. Fischer, Rowohlt, den Humanitas-Verlag und Bermann-Fischer, die häufig auch von bedeutenden Buchgestaltern beraten wurden, in Deutschland, Österreich und der Schweiz publiziert. Zum anderen gibt es neben diesen Verlagspublikationen mit entsprechend zumindest in 1000er-Auflagen produzierten Büchern, darunter ein Reihenbuch, in Musils Bibliographie auch drei bibliophile Pressendrucke zu verzeichnen, obschon nur einer davon als typisch gelten kann. Musils Bücher umfassen damit das komplette Spektrum zeitgenössisch möglicher Ausstattungs-, Verlags- und Distributionsoptionen (und mit der postumen Nachlasspublikation von 1943, auf die hier nicht eingegangen wird, sogar den Eigendruck im Selbstverlag). Was fehlt, ist eine Buchgemeinschaftsausgabe, die auch die typographische Neugestaltung eines bereits publizierten monographischen Textes gezeigt hätte, was es nur beim Törleß gibt, Musils zu Lebzeiten erfolgreichstem Buch mit über 13 000 Exemplaren in acht bzw. neun Auflagen bei vier Verlagen.22 Musils Buchpublikationen sind zwischen den Polen bibliophiler Tradition und technischer Innovation, zwischen traditionellem Handsatz und zeitgenössischem Maschinensatz, zwischen der Verwendung gebrochener und Antiqua-Schriften angesiedelt und besetzen fast alle diesbezüglich möglichen Positionen. Neben ausstattungsmäßig relativ unmarkierten preisgünstigen Gebrauchsbüchern gibt es hochpreisige Pressendrucke in kleiner Auflage, aber auch auf ein Massenpublikum zielende und dennoch überragend gestaltete und ausgestattete Bücher wie Die Schwärmer im Sibyllen-Verlag oder Vinzenz, Drei Frauen und Der Mann ohne Eigenschaften bei Rowohlt. Diese 20 21 22
Vgl. Anm. 117 zu Fraktur-/Antiqua-Verteilungsstatistiken in unterschiedlichen Buchgattungen. Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 320. Vgl. grundsätzlich Urban van Melis: Die Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik. Mit einer Fallstudie über die sozialdemokratische Arbeiterbuchgemeinschaft Der Bücherkreis. Stuttgart 2002 (= Bibliothek des Buchwesens, Bd. 13), sowie ders.: Buchgemeinschaften, in: Ernst Fischer, Stephan Füssel (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2.2: Die Weimarer Republik 1918–1933. Berlin, Boston 2012, S. 553–588. Hätte es eine Buchgemeinschaftsausgabe gegeben, wäre es wohl auch der Törleß gewesen, Martha Musil erwähnt gegenüber Armin Kesser, Brief v. 10. 3. 1948: »Die Gutenberggilde dagegen wäre mir für den Törleß recht gewesen (auch Robert).« (Martha Musil: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet. Bd. I . Hg. v. Marie-Louise Roth in Zusammenarbeit mit Annette Daigger u. Martine von Walter. Bern u. a. 1997 (= Musiliana, Bd. 3/I), S. 227–229, hier S. 228) Vgl. zur Gesamtauflage des Törleß zu Musils Lebzeiten auch Anm. 43.
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Vielfachadressierung von Buchausgaben durch unterschiedliche Ausstattungen und Preisgestaltungen ist signifikant für die Zwischenkriegszeit.23 23
So weist »die Buchgestaltung dieser Periode Charakteristika auf, die sie vom Zustand davor und danach recht deutlich abgrenzen. Insbesondere ist es das Nebeneinander von beharrender Tradition und dem Aufbruch in eine neue Kultur – vornehmlich sich ausprägend in Berlin, das damals als kulturell modernste Stadt der Welt gesehen wurde.« (Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 315) Dass im Folgenden (so eruierbar) die Preise für Bücher angegeben werden, ist insofern problematisch, als Musils Bücher in (mit unterschiedlichen Grenzen) Österreich, Deutschland und der Schweiz in einem Zeitraum erschienen, der einen Weltkrieg und eine Weltwirtschaftskrise und diverse Währungsumstellungen und Inflationen umfasst, diese somit über mehr als drei Jahrzehnte reichenden Preisangaben schwer vergleichbar sind. Hilfreich zur Einschätzung zeitgenössischer Buchpreise sind die Arbeiten von Barbara Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens, in: Jäger (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1.2 (s. Anm. 10), S. 300–367; dies.: Der Buchverlag der Weimarer Republik 1918–1933. Eine statistische Analyse. Diss. LMU München 2005, http://edoc.ub.uni-muenchen.de/4278/ (Zugriff am 15. 4. 2014); dies.: Statistik und Topographie des Verlagswesens, in: Fischer, Füssel (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 2.1 (s. Anm. 5), S. 341–378. Dort erfährt man, dass um 1908 der Durchschnittspreis eines belletristischen Buches im deutschen Kaiserreich ohne Beilagen bei 2,10 Mark lag (bei 3310 ausgezählten Titeln), insgesamt bei 2,23 Mark (bei 4045–4162 belletristischen Titeln sowohl mit als auch ohne Beilagen, was 13,7–14,2% aller damals publizierten Titel entspricht); das ist, nicht zuletzt aufgrund der Umfänge belletristischer Literatur, vergleichsweise wenig, durchschnittlich kostete ein Buch damals 3,49–3,52 Mark: »Da die einzelnen Werke einen erheblichen Umfang aufweisen – mag er sich nach 1890 auch erkennbar reduzieren – steht die Schöne Literatur ihrem Anteil an der Gesamtseitenproduktion nach schon 1870 an der Spitze aller Fachgebiete. Der Ladenpreis der Einzelwerke ist, gemessen an ihrem Umfang, ›spottbillig‹. Aufgrund der hohen Titelzahlen steht das Fachgebiet daher auch nach seinem Anteil am Gesamtladenpreis beinahe allen anderen Fachgebieten voran.« (Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens [2003], S. 346) Für die Zeit zwischen 1919 und 1932 gelten für Belletristik folgende Durchschnittsumfänge und -preise: »Die Publikationen der Schönen Literatur umfassen rund 180 Seiten. Werke mittleren Umfangs (bis 48 Seiten) sind in der Sparte auffällig selten nachgewiesen. Der Ladenpreis der Sparte ist 1926 bei maximalen 3,69 Reichsmark verzeichnet und fällt bis 1932 auf 2,61 Reichsmark.« (Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens [2007], S. 356) Im Vergleich dazu liegt der gesamtdurchschnittliche Ladenpreis für ein Buch 1926 (bei einer Gesamtanzahl von 30 064 ausgezählten Titeln) bei 5,21 RM, 1932 (bei insgesamt 21 452 Titeln) bei 5,08 RM, klettert 1930 aber krisenbedingt auf 6,26 RM (für dieses Jahr werden 26 961 Titel gezählt). Das heißt für diesen Zeitraum: »Der Vergleich mit dem durchschnittlichen Einzelladenpreis weist das Werk der Schönen Literatur als billig aus. 1925 und 1926 liegt sein Preis 30 Prozent unter dem Durchschnitt. In den folgenden Jahren sinkt er sogar zurück bis unter 50 Prozent. In diesem Zeitraum steigt der allgemeine durchschnittliche Ladenpreis, während der der Sparte zurückgeht. Das Jahr 1930 markiert dabei mit einem Preisanteil von 45,5 Prozent den Höhepunkt. 1931 und 1933 erreicht der Ladenpreis nochmals die 60-Prozent-Marke, doch fällt er im Jahr dazwischen (1932) auf die 50 Prozent zurück.« (Kastner: Der Buchverlag der Weimarer Republik, S. 156) Als Koordinaten zur besseren Einschätzung der Preisgestaltungen der Bücher Musils sind diese Angaben hochinteressant, wenn sie auch bspw. zu Ausstattungsvarianten kaum Aussagen zulassen, wo die Datenbasis geringer ist: »Eine Auswertung aller publizierten Titel nach den Größen Umfang, Format, Einbandqualität und Preis liegt explizit für das Jahr 1926 vor.« (Kastner: Der Buchverlag der Weimarer Republik, S. 46) Hier kommt Kastner, allerdings für die Gesamtproduktion, zu folgenden Ergebnissen: »Die Untersuchung zu den verschiedenen Einbandarten und deren Gewichtungen innerhalb der Titelproduktion des Jahres 1926 zeigt, dass knappe 60 Prozent der Ersterscheinungen und Neuauflagen broschierte Werke waren. 13,9 Prozent
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2. Legen Sie Wert auf gute Ausstattung Ihrer Bücher? Die Spannung zwischen bibliophilen Pressendrucken und bezahlbaren Gebrauchsbüchern bestimmt auch die Umfrage, die 1930 in der Literarischen Welt unter dem Titel »Allerhand aktuelle bibliophile Probleme. I. Legen Sie Wert auf gute Ausstattung Ihrer Bücher? Eine Frage an Dichter und Schriftsteller« abgedruckt wurde.24 In vielen Beiträgen, es gibt Stellungnahmen von Theodor Däubler, Bruno Frank, Heinrich Eduard Jacob, Thomas Mann, Julius Meier-Graefe, Albrecht Schaeffer, Friedrich Schnack, Jakob Wassermann und Karl Wolfskehl, wird der Wunsch geäußert, Bücher zu verbilligen, sie in Gebrauchsbücher (bzw. »Gebrauchsgegenstände«, so Jacob) zu verwandeln, zugleich aber auch die Forderung nach einer gelungenen Gestaltung erhoben. Dem geht voran, was E. R. Weiß 1910 in einem berühmten Brief an den S.-Fischer-Lektor Moritz Heimann ausführte, sein später oft zitiertes Plädoyer für die »Schätzung des rein typographischen Buches« und das »Ideal des ganz einfachen Gebrauchsbuches, des modernen Buches überhaupt«, wo »alles, was daran ist, notwendig, und dieses Notwendige höchst einfach, entsprechend und angenehm ist.«25
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aller Publikationen des Jahres 1926, also über ein Siebtel, waren broschiert und gebunden, also in verschiedenen Einbandarten im Handel erhältlich. Die parallele gebundene Ausgabe war überwiegend eine Leinwand-Bindung, seltener Halbleinwand. Nur sehr wenige broschierte Werke lagen alternativ in Pappe oder Halbleder gebunden vor. Auffällig viele hingegen waren broschiert und zugleich auch in verschiedenen Bindungen zu erhalten (1,3 Prozent der Gesamtproduktion). [. . .] Analysiert man abschließend den Einzelwerkpreis der Veröffentlichungen des Jahres 1926 und deren jeweiligen Anteil an der Gesamtproduktion, lassen sich Querverbindungen zu den vorangestellten statistischen Erhebungen ziehen: Vorwiegend broschierte Publikationen, überwiegend im Oktavformat (oder kleiner) bilden (zusammen mit den kartonierten Werken) über 60 Prozent der Gesamtproduktion, mit einem Ladenpreis bis 3 Reichsmark. [. . .] Das preisliche Mittelfeld (Einzelwerkpreis zwischen drei und fünf Reichsmark) bilden broschierte Werke mit hoher Seitenzahl (über 200) oder gebundene Werke mittleren Umfangs mit Leinwand- oder Halbleinwand[-] oder Pappbindung, überwiegend Oktavformat. Sie stellen knapp ein Fünftel der Gesamtproduktion dar. Werke mit relativ hohem Ladenpreis (fünf bis zehn Reichsmark) haben unter allen Veröffentlichungen des Jahres 1926 auch noch einen gewichtigen Anteil von knapp über 10 Prozent.« (Kastner: Der Buchverlag der Weimarer Republik, S. 48 f.) Vgl. Die Literarische Welt (21. 3. 1930), Nr. 12, S. 3–5. Dass Musil in dieser Umfrage fehlt, ist verwunderlich; er war mit dem Herausgeber Willy Haas gut bekannt, Die Literarische Welt von Rowohlt gegründet worden und für dessen Autoren immer eine besondere Plattform. Dass er eine Stellungnahme rundheraus abgelehnt hat oder wie Thomas Mann ironisch auf diese Anfrage reagiert hätte, ist freilich nicht unwahrscheinlich. Letzterer antwortete unter Bezugnahme auf seine durch E. R. Weiß gestaltete bibliophile Ausgabe (vgl. Anm. 116 u. Abb. 17): »Ich habe ein natürliches Vergnügen daran, wenn der Verleger meine Bücher in schmucker und gediegener Ausstattung unter die Leute bringt, finde z. B. die dreibändige Dünndruckausgabe meiner Erzählungen ganz reizend und verurteile es scharf, daß sie so wenig gekauft wird.« (Legen Sie Wert auf gute Ausstattung Ihrer Bücher? Eine Frage an Dichter und Schriftsteller, in: Die Literarische Welt (21. 3. 1930), Nr. 12, S. 3–5, hier S. 3) Weiß: Das Buch als Gegenstand (s. Anm. 9), S. 57 u. S. 61 f.
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Weiß’ Äußerung ist im vorliegenden Kontext bedeutungsvoll, weil von ihm u. a. Einband und Schutzumschlag des Mann ohne Eigenschaften gestaltet wurden, die noch für die Wiener Bermann-Fischer-Wiederauflage 1938 (sowie für die Nachlassausgabe 1943) als so geglückt angesehen wurden, dass sie (nur minimal verändert) beibehalten wurden. Damit gelang es Weiß, dem Mann ohne Eigenschaften ein Aussehen und einen Wiedererkennungswert zu geben, mit dem der Roman bis 1952 ausschließlich in Verbindung gebracht wurde, auch wenn die durch Werner Rebhuhn gestalteten besser greifbaren Frisé-Ausgaben seither in den Vordergrund gerieten. Kein Geringerer als Walter Tiemann charakterisierte Weiß 1939 in einem Vortrag zur neuen deutschen Buchkunst als »Typophilen und [. . .] besten Typographen unter den Künstlern«.26 Wie kein zweiter steht er für die deutsche Buchgestaltung der Zeit von 1900 bis 1940 aus einem einheitlichen gestalterischen Prinzip, so geht auf ihn u. a. das Erscheinungsbild des Eugen Diederichs-Verlags zurück, er war aber auch einer der maßgeblichen Gestalter bei S. Fischer oder Rowohlt: Das ganze Buch als solches war ihm das Wesentliche. Seine inneren Gesetze, das Typographische, die Verbindung des Satzes mit der schmückenden Beigabe und der Einband. [. . .] Und zwar war er nicht nur der Ästhet, Erlesenes für Feinschmecker zu bereiten, etwa nur in Presse-Drucken auf edelsten Papieren seine künstlerischen Überzeugungen niederzulegen, ihm war das Maschinenbuch, das Buch der großen Auflagen, eine ebenso willkommene Gelegenheit, seine reformatorischen Ideen zum Ausdruck zu bringen.27
Im zweiten Teil der Literarische Welt-Umfrage »Hat die Bibliophilie in Deutschland eine Zukunft? Eine Frage an Meister des Buchdruckes und Bibliophile« kommen Buchgestalter und Typographen selbst zu Wort, u. a. Fritz Helmuth Ehmcke und Jakob Hegner. Letzterer, verantwortlich für die Herstellung von Musils Drei Frauen und des Mann ohne Eigenschaften und dem »Maschinenbuch«, also dem Einsatz von Setz- und Setzgießmaschinen sowie neuartigen Druckerpressen und Bindemaschinen, gegenüber offen ablehnend eingestellt, äußerte: Ob die Bibliophilie eine Zukunft hat? Wenn sie einen Sinn haben sollte, wird sie kraft ihres Sinnes weiterleben; wenn sie keinen Sinn hat, wird sie kraft ihrer Sinnlosigkeit nicht umzubringen sein. Also hat sie jedenfalls eine Zukunft. Zur Zeit scheint sie vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen empfehlenswert. Die schwierigen Bücher – und schwierig ist alles Ungewohnte – werden vor allem in Deutschland nicht gelesen, bestenfalls zu Geschenkzwecken gekauft. Jeder gönnt dem anderen, daß er sie lese, die wenigsten lesen sie selbst. Der Verlag muß also seine Bücher geschenkmäßig machen, d. h. so »schön« wie möglich machen. Oder aber: Die schwierigen Bücher vertragen anfangs nur eine kleine Auflage, und der Verkaufspreis ist der Auflage not26 27
Walter Tiemann: Gedanken zur neuen deutschen Buchkunst, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), S. 98–104, hier S. 100. Tiemann: Gedanken zur neuen deutschen Buchkunst (s. Anm. 26), S. 101 f.
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wendig angemessen. Je kleiner die Auflage, desto beträchtlicher der Verkaufspreis des einzelnen Exemplares. Um nun diesen Preis halbwegs berechtigt erscheinen zu lassen, wird der Ausgleich besonders guter Ausstattung geschaffen. Wenn ich aber die Wahl hätte, das »schönste«, wenig gelesene Geschenkbuch hohen inneren Wertes oder das dürftigste Lesebuch ebenso hohen inneren Wertes herzustellen, ich setzte meinen Ehrgeiz darein, der schlechteste Drucker der Welt zu heißen.28
Ob Hegner, der als »Erster Drucker Deutschlands« galt und berühmt dafür war, auch umfangreiche Druckaufträge im traditionellen Handsatz ausführen zu lassen, dabei an den Mann ohne Eigenschaften dachte, der im November 1930 erscheinen sollte? Der hohe innere Wert, aber auch die Schwierigkeit, traf auf dieses Buch wohl zu, doch ebenso eine überragende Gestaltung und Ausstattung.
3. Musils frühe Buchpublikationen: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Vereinigungen Musils erstes Buch unterläuft solche Fragen nach Gebrauchsbuch oder Luxusdruck auf eigene Weise. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß erschien 1906 im nur wenige Jahre zuvor von Fritz Freund übernommenen Wiener Verlag.29 Dessen Bücher waren überdurchschnittlich gut und auch mit Illustrationen ausgestattet und auf hohe Auflagen und enorme Absätze hin kalkuliert.30 Dass dieses Verlagsmodell riskant war und Freund über kurz oder lang in den Ruin führen musste, hat Murray Hall vor drei Jahrzehnten 28 29
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Die Literarische Welt (21. 3. 1930), Nr. 12, S. 4. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Wien, Leipzig 1906 (eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin 1A 70042, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. 00/22602 Ba. 2 sowie Universitäts- und Stadtbibliothek Köln SD28/4504). »Kurz nach dem 25. Oktober« 1906 erfolgte die Auslieferung, so Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 395. Nanao Hayasaka hat eine große Menge vorzüglicher Farbphotographien von Musil-Erstausgaben im Internet publiziert, welche die hier lediglich verkleinert und einfarbig reproduzierbaren Abbildungen von Einzelseiten ideal ergänzen. Dies umfasst neben Abbildungen der Törleß-Ausgabe von 1906 (s. Abb. 1), c-faculty.chuou.ac.jp/~nanaocor/deutsch/toerless.html, auch solche von Vereinigungen (s. Anm. 48 u. Abb. 4), c-faculty.chuo-u.ac.jp/\ttilde{}nanaocor/deutsch/vereinigungen.html, Die Schwärmer (s. Anm. 58 u. Abb. 5), c-faculty.chuo-u.ac.jp/~nanaocor/deutsch/schwarmer.html, Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (s. Anm. 67 u. Abb. 6), c-faculty.chuo-u.ac.jp/ ~nanaocor/deutsch/vinzenz.html, Grigia (s. Anm. 77 u. Abb. 8), c-faculty.chuo-u.ac.jp/~nanaocor/deutsch/grigia.html, Der Mann ohne Eigenschaften (s. Anm. 96 u. Abb. 12, Abb. 13), c-faculty.chuo-u.ac.jp/~nanaocor/deutsch/moe1.html u. c-faculty.chuo-u.ac.jp/~nanaocor/ deutsch/moe2.html, Nachlass zu Lebzeiten (s. Anm. 127 u. Abb. 23), http://c-faculty.chuo-u. ac.jp/\~nanaocor/deutsch/Nachlass\%20zu\%20Lebzeiten.html, sowie von Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Dritter Band. Aus dem Nachlass herausgegeben von Martha Musil. Lausanne 1943, http://c-faculty.chuo-u.ac.jp/\~nanaocor/deutsch/moe3.html (Zugriff jeweils am 15. 4. 2014). Zu Freunds Autoren gehörten Hermann Bahr, Max Burckhardt, Moritz Heimann, Theodor Herzl, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich Mann, Felix Salten, Richard Schaukal, Johannes
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im Musil-Forum aufgezeigt.31 Gemessen an anderen Büchern des Wiener Verlags kostete der Törleß relativ viel, in der fünften Auflage, die 1907 angezeigt wurde, geheftet 3,– Mark und gebunden 4,50 Mark.32 Die Gestaltung der Erstausgabe des Törleß ist der Jahrhundertwende verhaftet, auch wenn wir diesen Roman heute anders und in seiner Modernität als radikaler wahrnehmen, nicht zuletzt im Wissen um die voraussetzungsreichen wissenschaftlichen Studien, die in ihn eingegangen sind. Der zweifarbige Schutzumschlag mit Rankenwerk, Bordüren und Golddruck folgt dem Jugendstil, ebenso die Titelei, die sich an der Eckmann-Schrift ausrichtet. Wie andere Publikationen des Wiener Verlags weist das Titelblatt das Verlagssignet eines Pierrots mit Violine auf.33 Das zwischen Schmutztitel und Titel auf der Impressumseite befindliche Maeterlinck-Motto wurde aus der Bradley (im deutschen Sprachraum auch als Amerikanische Altgotisch und unter anderen Namen bekannt) und mit Ornamenten gesetzt,34 wie solche kein wei-
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Schlaf, Arthur Schnitzler u. v. a.; zum Wiener Verlag allgemein Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1819–1938. Bd. I : Geschichte des österreichischen Verlagswesens. Wien u. a. 1985 (= Literatur und Leben. N. F., Bd. 28/I), S. 80–91. Murray G. Hall: Der Törleß- und Reigen-Verleger, in: Musil-Forum 9 (1983), H. 1/2, S. 129– 149. Vgl. die Verlagsanzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 4. 4. 1907 in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 269. Dieser Preis blieb über Jahrzehnte stabil, auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage des Mann ohne Eigenschaften 1938 (8. Tausend) beträgt er: »Geheftet RM 3.– · Leinen RM 4.50«. Eine Törleß-Ausgabe mit dem Erscheinungsjahr 1907 ist in keiner öffentlichen Bibliothek lokalisierbar, allerdings wurde sie besprochen, vgl. F.[ranz] B.[lei]: Von Büchern, in: Die Opale. Blätter für Kunst & Litteratur (1907), 1. Halbbd., S. 213–216, hier S. 213. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 261. Auf die Positionierung und Bedeutung des Mottos verweist Karl Pestalozzi: Metaphysische Klaustrophobie: Maeterlinck als Schlüssel zu Musils Törless, in: Günter Abel, Jörg Salaquarda (Hg.): Krisis der Metaphysik. [Wolfgang Müller-Lauter zum 65. Geburtstag.] Berlin, New York 1989, S. 498–520, hier S. 518. Dabei erwähnt Pestalozzi die Gestaltung der deutschen Übersetzungen von Maeterlincks Le Trésor des humbles (1896), dem »Hauptwerk für Musil« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 134), und schreibt: »Das Buch erschien 1898 unter dem Titel Der Schatz der Armen in deutscher Uebertragung [sic] durch Friedrich von OppelnBronikowski, der alle Werke Maeterlincks übersetzt hat. Ausgestattet war es von Melchior Lechter in der sakralen Art, die wir von seinen Ausgaben Stefan Georges kennen. Die späteren, textlich revidierten Ausgaben versah Wilhelm Müller-Schoenefeld mit etwas bescheideneren Jugendstil-Ornamenten.« (S. 498) Wahrscheinlich schickte Musil das Törleß-Manuskript wegen Maeterlinck an Diederichs: »Zuerst wandte er sich vermutlich an Diederichs in Jena, der seine Götter Maeterlinck und Emerson publizierte [. . .]. Diederichs [. . .] forderte das Werk an, aber ließ sich, Maeterlinck-Motto hin oder her, auf diesen skandalösen Roman nicht ein.« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 257) Da Musil aus der prächtigeren Ausgabe des Schatz der Armen von 1898 vielfach exzerpierte, ist anzunehmen, dass dieses Buch eines seiner Ausstattungsideale auch für seinen Debütroman abgab (wobei das Motto, von einem Komma abgesehen, nach der Ausgabe von 1902 zitiert wird, die nur eine Druckfarbe und ein gewöhnlicheres Format aufweist, aber gleichwohl nicht alltäglich gestaltet ist), vgl. Maurice Maeterlinck: Der Schatz der Armen. In die deutsche Sprache übertragen durch Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Autorisierte Ausgabe. [Titelbilder, Zierate, Überschriften, Zahlen, Initialen, Schriftordnung von Melchior Lechter, unter dessen artistischer Leitung dieses Buch
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teres von Musils Büchern aufweist. Die Gestaltung von Schmutztitel, Motto und Titel weicht durch diese Auszeichnungsschriften von anderen Titeln des Wiener Verlags deutlich ab; es ist möglich, dass dies auf Gestaltungswünsche Musils zurückgeht, der auf diese Weise seine Nähe zu Maeterlincks Schatz der Armen anzeigen wollte,35 was beim Inhalt nicht umsetzbar war, der in spürbarem Gegensatz dazu aus einer Normal-Fraktur gesetzt wurde (s. Abb. 1).36
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[. . .] bei Otto von Holten, Berlin, gedruckt wurde.] Florenz, Leipzig 1898, S. 25, u. Maurice Maeterlinck: Der Schatz der Armen. Autorisierte Ausgabe. In das Deutsche übertragen von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski. Mit Schmuckleisten und Initialen von Wilh.[elm] Müller-Schoenefeld. Jena 1902, S. 31. Musils Maeterlinck-Exzerpte listet die KA (Kommentare & Apparate/Register/Autoren & Werke/Maeterlinck, Maurice; dort teilweise fehlerhaft abgeschrieben und mit falschen Seitenangaben versehen) nach Aufstellungen von Adolf Frisé (vgl. Tb I, S. 134 f., 138 u. 587–591, bzw. Tb II, S. 77 f., 84, 394–401 u. 841). Lechters Schatz der Armen (s. Anm. 34) gilt als »vielgerühmtes Meisterwerk, das für Liebhaber den Beginn der deutschen Buchkunst des 20. Jahrhunderts markiert.« (Marion Janzin, Joachim Güntner: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. Hannover 3 2007 [1995], S. 386) Vgl. Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930). Wiesbaden 1998 (= Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Bd. 8), S. 469–471; Neumann: Herstellungstechnik und Buchgestaltung (s. Anm. 5), S. 184 u. 189. Pestalozzi: Metaphysische Klaustrophobie (s. Anm. 34) regt an, dass Musil sich bei der Verwendung von Dreipunkten sowie Geviertstrichen an Maeterlinck orientiert habe, also ein orthotypographisches Stilelement übernahm: »Im Druckbild des Törless fällt auf, daß viele Sätze und Satzteile in Punkte (. . .) auslaufen, besonders an Stellen, an denen Törless von ›etwas‹ überwältigt wird. [. . . F]ür die auslaufenden Punkte ist Maeterlinck ein Vorbild, in seinen Dramen unterhalten sich seine Figuren vor allem auf diese Weise. Musil hat sich offensichtlich dieses Mittel für die szenischen Partien seines Romans zu eigen gemacht. Auch in seinen Essays, in denen er im eigenen Namen spricht, benutzt Maeterlinck dieses Mittel. Zwischen den so markierten Absätzen soll das Schweigen einbrechen. Musil verfährt ähnlich, und vielfach erfolgt die Trennung der Abschnitte mit Hilfe einer durchgezogenen Reihe von Gedankenstrichen. Der weiße Zwischenraum bekommt auf diese Weise gewissermaßen Stimme. Die Erstausgabe [des Törleß] verfährt großzügiger als die späteren Drucke mit dem freien Raum, große Zwischenräume und ganze Seiten bleiben weiß.« (S. 519 f.) In seine Überlegungen zu einer solchen Rhetorik des Schweigens bezieht Pestalozzi auch Plessners Umschlaggestaltung ein: »Damit regt schon der erste Anblick des Buches dazu an, den Roman mindestens auch als mystisches Buch zu lesen.« (S. 520) Unter Normal-Fraktur (diese Bezeichnung kommt erst im 20. Jahrhundert auf, bspw. in der um 1911 publizierten Schriftprobe der Offenbacher Schriftgießerei Roos & Junge NormalFraktur. Eine vorzügliche Schrift für Werke, Zeitschriften, Zeitungen und Akzidenzen) versteht man einen seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nachweisbaren normalisierten Fraktur-Typus, der die um 1800 aufgekommenen Reform-Frakturen an Genormtheit und Symmetrie nochmals übertrifft und bis ins 20. Jahrhundert die meistbenutzte Fraktur darstellt. Jede deutsche Schriftgießerei hatte ab 1830 eine (odere mehrere) meist nur Fraktur genannte Normal-Fraktur(en) im Angebot, die teilweise kaum voneinander zu unterscheiden sind; im Seemann (s. Anm. 5), S. 33–40, werden annähernd 70 aufgeführt. Die in der Erstausgabe des Törleß verwendete Schrift ist mehr oder weniger diejenige, die mit vollständigem Figureninventar als »Normal-Fraktur, auch unter zahlreichen anderen Namen, wie Armin-, Büxenstein-, Mars- und Pressa-Fraktur, um 1830, Schriftkünstler unbekannt« abgebildet ist in: Bund für deutsche Schrift (Hg.): Kunstwerke der Schrift. Schöne Druckschriften aus sechs Jahrhunderten. Deutsche Gedichte und Sinnsprüche im Kleid schöner Druckschriften. Zusammengestellt von Wolfgang Hendlmeier. 48 Muster gebrochener und runder Schriften aus allen Stilgruppen jeweils mit Textbeispiel und Figurenverzeichnis. 1 Stammtafel zur Entstehung der abendländischen Schriften. Hannover 21982 [1981], S. 59. Die für den deutschen Erstdruck
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Die Erstausgabe des Törleß ist ein wertig aufgemachtes Buch in großzügiger Gestaltung und Einrichtung, gedruckt wurde bei der k. u. k. Hofbuchdruckerei Winiker & Schickardt, Brünn, wo viele Bücher des Wiener Verlags entstanden.37 Hätte man Geld sparen wollen, wäre engerer Satz, auch aus einem geringeren Schriftgrad, möglich gewesen, dann hätte das Buch auch keine 316 Oktav-Seiten umfasst (pro Seite gibt es 26 Zeilen, die 70 mm weit laufen, pro Zeile lediglich 40–45 Zeichen); allerdings ist das Papier nicht sonderlich gut und recht holzhaltig. Im Vergleich zum Törleß wirkt Thomas Manns Romanerstling von 1901, auf dessen spätere Ausgaben zurückzukommen sein wird, weitaus biederer (s. Abb. 2).38 Die dort verwendete Normal-Fraktur entspricht der im Törleß gewählten, aber der (wesentlich umfangreichere) Text Manns wurde enger gesetzt: Die Erstausgabe der Buddenbrooks weist pro Seite regulär 30 Zeilen auf, diese laufen 81 mm lang und sind damit länger, enthalten mit 50–55 Zeichen auch mehr Lettern als im Törleß. Nicht zuletzt die Verwendung gotischer Schriften (Titelblätter und Bandangaben aus der Morris-Gotisch sowie der Mediäval- bzw. Psalter-Gotisch) und die aus der Neuen Schwabacher gesetzten Überschriften/Teilangaben verleihen den Buddenbrooks eine beim Törleß nicht mehr anzutreffende Anmutung des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl war die Herstellung dieses Romans 1901 technisch innovativ, er wurde im »Typograph-Maschinensatz von Oscar Brandstetter in Leipzig« gesetzt und dort auch gedruckt.39 Die Erstauflage der Buddenbrooks umfasste 1000 Exemplare und blieb wohl wegen ihres hohen Preises von 14,– Mark gebunden, 12,– Mark broschiert, fast ein Jahr liegen, bis sie abverkauft war.
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von Maeterlincks Schatz der Armen (s. Anm. 34) verwendete Romanische Antiqua von Heinz König war gleichwohl keine exklusive Schrift. Sie wurde 1888 von Genzsch & Heyse herausgebracht, wäre Musils Buch von Diederichs angenommen worden, hätte der Törleß leicht aus ihr gesetzt werden können und wäre vielleicht auch nicht in Fraktur erschienen. Berliner Exemplar (neu gebunden): Buchblock 125 × 190 × 15 mm, Bundsteg 20 mm, Kopfsteg 35 mm, Außensteg 35 mm, Fußsteg 40 mm; Frankfurter Exemplar: Buchblock 116 × 174 × 15 mm (beschnitten, vermutlich ein kartoniertes Exemplar, das neu gebunden wurde), Bundsteg 24 mm, Kopfsteg 32 mm, Außensteg 22 mm, Fußsteg 27 mm; Kölner Exemplar (neu gebunden): Buchblock 125 × 186 × 15 mm, Bundsteg 24 mm, Kopfsteg 35 mm, Außensteg 31 mm, Fußsteg 36 mm. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. [Zwei Bände.] Berlin 1901 (eingesehenes Exemplar des ersten Bands: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 3 X 553–1, beschnitten und neugebunden). Buchblock 110 × 177 × 28 mm, Bundsteg 9 mm, Kopfsteg 19 mm, Außensteg 20 mm, Fußsteg 23 mm. Das Linotype- und das Typograph-Satz- und Gießsystem waren 1897 auf der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig erstmals in Deutschland vorgestellt worden. Die Druckerei Brandstetter schloss einen Exklusivvertrag ab, der sie zum alleinigen Nutzer und Vertreter des Typograph-Systems innerhalb Deutschlands machte, umgehend wurden 24 Setzmaschinen installiert, die nach anfänglichen Problemen und einigen Modifikationen bald erfolgreich eingesetzt werden konnten; vgl. Walter Lange: 75 Jahre Oscar Brandstetter. Der harfende Greif. Dreiviertel Jahrhundert im Dienste der Schwarzen Kunst. Leipzig 1937, S. 40 f., u. Neumann: Herstellungstechnik und Buchgestaltung (s. Anm. 5), S. 173.
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Abb. 1: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Wien, Leipzig 1906, S. 1.
Abb. 2: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Berlin 1901, Bd. I, S. 5.
Abb. 3: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. München, Leipzig 1911, S. 7.
Abb. 4: Robert Musil: Vereinigungen. Zwei Erzählungen. München, Leipzig 1911, S. 3.
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Dass Törleß, den Musil zuvor drei Verlagen vergeblich angeboten hatte,40 ein beachtlicher Erstlingserfolg wurde und schon ein halbes Jahr später in die fünfte Auflage gehen konnte (sollte die angezeigte Auflagenhöhe stimmen), mag auch am Verlagsprogramm gelegen haben, das Murray Hall einschließlich der Werbestrategien zu Musils Debüt minutiös aufgearbeitet hat, und das neben Schnitzlers Reigen, skandalumwobenen Militärromanen wie Fritz Oswald Bilses Aus einer kleinen Garnison oder Lieb’ Vaterland . . . auch den einen oder anderen erotischen bzw. pornographischen Text wie Die Gedenktafel der Prinzessin Anna oder Die Bekenntnisse einer Prinzessin von Felix Salten umfasste, der durch Freund vermittelt auch Josefine Mutzenbacher anonym im Selbstverlag drucken ließ.41 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß mit seiner Kopplung von Internatswelt und pubertärer Sexualität mit Prostitution und sadomasochistischer Erpressung passte oberflächlich betrachtet hervorragend in dieses auf Skandale ausgerichtete Programm. Dass der Roman, der zu Musils Lebzeiten (von Verlagswerbung abgesehen) nie mit einer Gattungsbezeichnung versehen wurde, erst 1911 bei Georg Müller wieder veröffentlicht wurde, hatte seinen Grund einzig darin, dass der Wiener Verlag 1907 Konkurs anmelden musste, so dass dort auch kein weiterer Text Musils mehr erscheinen konnte.42 Am Ende sollte der Törleß Musils erfolgreichstes und auch auflagenstärkstes Buch werden:43 Der Wiener Verlag gab an, fünf Auflagen und damit 40
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Musil bot das Manuskript Diederichs in Jena, J. C. C. Bruns in Minden sowie Schuster & Löffler in Berlin an. Zur Motivierung dieser Anfragen und Alfred Kerrs Beteiligung auch bei der glücklich bewerkstelligten Inverlagnahme durch den Wiener Verlag vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 257–261. Arthur Schnitzler: Reigen. 10 Dialoge, geschrieben Winter 1896–97. Buchschmuck von Berthold Löffler. Wien, Leipzig 1903; Fritz von der Kyrburg (Leutnant [Fritz Oswald] Bilse): Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild. Wien, Leipzig 1903; Fritz Oswald Bilse: Lieb’ Vaterland . . . Roman aus dem Soldatenleben. Wien, Leipzig 1905; Felix Salten (i. e. Felix Salzmann): Die Gedenktafel der Prinzessin Anna. Wien, Leipzig 1902; ders.: Die Bekenntnisse einer Prinzessin. Wien, Leipzig 1905; Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt. Wien 1905. Balzacs Drollige Geschichten, Henri Lavedans Das Bett oder Helene Keßlers (i. e. Hans von Kahlenberg) Nixchen. Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Tochter bspw. wurden mit dem Hinweis »Dieses Buch ist in Deutschland verboten!« in Buchanzeigen regelrecht beworben. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 365: »Schon Ende September 1906, noch vor Erscheinen der ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹, hatte der Wiener Verlag bei Musil nach einem weiteren Manuskript gefragt.« Und ist es geblieben; von keinem Text Musils gibt es mehr unterschiedliche Einzelausgaben, von keinem mehr Übersetzungen, von keinem nach Auslaufen der Urheberrechte zum 1. 1. 2013 auch aktuell mehr Neuausgaben. Die Gesamtauflagenhöhe des Törleß zu Musils Lebzeiten ist trotz dieses Erfolges strittig, kürzlich äußerte dazu Karl Corino: Törleß hochgejubelt, in: Musil-Forum 32 (2011/2012), S. 220: »Die Ausgabe, die Rowohlt Ende 1930 auslieferte, bezeichnete er als das 11. bis 15. Tausend. Da der Wiener Verlag 1906/07 fünf Auflagen zu je 1000 Exemplaren gedruckt haben will, war der einfache Schluss, Georg Müller habe 1911 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß mit 5000 Stück aufgelegt. Dies ist offenbar falsch. In seinem Zehnjahreskatalog, den Georg Müller im Spätjahr 1913 herausgebracht haben dürfte, bietet er
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5000 Exemplare gedruckt zu haben, 1911 erschienen bei Müller in München zwei bzw. drei weitere Auflagen,44 ab 1914 wurde der Roman als Titelauflage der Müller-Ausgaben bei S. Fischer in Berlin, ab 1925 bei Rowohlt in Berlin weiterverkauft.45 1930/31 folgte schließlich bei Rowohlt eine als »11.–15. Tausend« ausgewiesene Auflage im Neudruck.46 Diese wiederum weist eine Einbandgestaltung von E. R. Weiß auf und ist die einzige Antiqua-Ausgabe des Romans zu Musils Lebzeiten (s. Abb. 21, Abb. 22). Die Wiederauflage des Törleß erschien im Mai 1911 bei Georg Müller in München, war mit großzügigem Durchschuss aus der Altdeutschen Fraktur gesetzt und kostete als Klein-Oktavband geheftet 3,– Mark und gebunden 4,– Mark (rot-grün kartonierter Einband mit floralem Muster und Titelschildchen).47 Bei den um 55 mm abgesenkten Kapitelanfängen weist sie englische Linien auf, wie sie aus der Tradition des 19., ja noch 18. Jahrhunderts stammen, auch die Initialen sind älteren Einrichtungsgebräuchen verpflichtet (s. Abb. 3). Die Pagina steht zwischen zwei Geviertstrichen dominierend am Kopf der Kolumne und ist aus einem größeren Grad gesetzt als der Text, was damals bereits unüblich war. Die den Törleß typographisch strukturierenden, aus 14 bis 17 Geviertstrichen gebildeten Linien innerhalb der Kapitel treten in dieser Einrichtung ebenfalls auffällig hervor. Gedruckt wurde bei Mänicke und
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vom Törleß wie von den Vereinigungen das 2. Tausend an. Es existieren allerdings Exemplare eines 3. Tausends (eines davon in meinem Besitz), die auf dem Titelblatt die Angabe ›3. Auflage‹ tragen (eine Auflage entspricht nach damaligem Sprachgebrauch tausend Stück). [. . .] Fazit: Da Georg Müller nur 3000 Exemplare des Törleß gedruckt hatte, ist Rowohlts Angabe ›11. bis 15. Tausend‹ falsch. Es müsste heißen: 9. bis 13. Tausend.« Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. München, Leipzig 1911; Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Zweite Auflage. München, Leipzig 1911. Auf dem Schutzumschlag von Bd. II des Mann ohne Eigenschaften wird der zu diesem Zeitpunkt zu Rowohlt übergegangene Müller-Druck des Törleß 1932 als »6.–10. Tausend« angegeben. Zu einer dritten Auflage und differierenden Auflagenzahlen s. Anm. 43. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Berlin 1911 (Titelauflage mit Verlagsüberklebung von Musil: Törleß (s. Anm. 44); es existieren sowohl Exemplare mit S. Fischerals auch mit Rowohlt-Überklebung). Das Titelblatt der zweiten Auflage der Müller-Ausgabe mit S. Fischer-Überklebung ist abgebildet in: Friedrich Pfäfflin, Ingrid Kussmaul: S. Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Marbach 1985, S. 281. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Berlin 1931. Diese Ausgabe des Törleß wurde wohl anlässlich der zweiten Auflage (6.–7. Tausend) von Bd. I des Mann ohne Eigenschaften herausgebracht, vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Berlin 1931, S. 1076, wo eine Verlagsanzeige ausweist: »Ferner erschienen von | ROBERT MUSIL | Die Verwirrungen des Zöglings Törleß | Roman. Neuauflage im Druck«. Musil: Törleß (s. Anm. 44) (eingesehene Exemplare: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 14 L 578 sowie Staatsbibliothek Berlin Yx 37630 (Zweite Auflage)). Buchblock 105 × 168 × 25 mm (neu gebunden, beschnitten), Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 20 mm, Außensteg 22 mm, Fußsteg 22 mm sowie Buchblock 105 × 163 × 20 mm (neu gebunden und beschnitten), Bundsteg 13 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 24 mm, Fußsteg 20 mm. Die Preise nennt eine Verlagsanzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 14. 3. 1911, reproduziert in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 394.
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Jahn in Rudolstadt, Müllers bevorzugter Druckerei, der Törleß fiel mit 318 Seiten fast so umfangreich wie in der Erstausgabe aus, hinzu kommen zwei Seiten Verlagsanzeigen. Fast identisch ausgestattet sind in Bezug auf Format und Schrift die gleichfalls 1911 bei Müller erschienenen Vereinigungen, ein schönes KleinOktav mit hellem Leseband in braun-grünem Pappband mit Titelschildchen, ebenfalls von Mänicke und Jahn in Rudolstadt hergestellt, mit 174 Seiten und 2 Seiten Inhaltsverzeichnis/Vacat wiederum mit großzügigem Durchschuss aus der Altdeutschen Fraktur gesetzt (Abb. 4).48 Allerdings hatte sich die Zeilenanzahl verändert: Die Vereinigungen kommen mit 23 Zeilen (hier sollte die Publikation umfangreich ausfallen) auf 174 Seiten, während beim Törleß bei gleicher Schrift Text einzubringen war. Bei gleichem Papierformat, gleicher Zeilenbreite und gleichem Schriftgrad (es gibt auch wieder englische Linien und abgesenkte Kapitelbeginne, freilich weisen die Unterteilungen nun meist 18 Geviertstriche auf) ist dies nur durch das Einbringen weiterer Zeilen pro Seite möglich, entsprechend hat im Törleß jede Seite 26 Zeilen, drei mehr als in den Vereinigungen. Interessanterweise tragen diese auch das Müller-Verlagssignet, das E. R. Weiß gestaltet hatte und das die Müller-Auflagen des Törleß schmückt, noch nicht auf dem Titelblatt.49 Vereinigungen wurde in einer Auflage von 3000 Stück gedruckt, doch diese konnte bis 1938 von den verschiedensten Verlagen nicht verkauft werden – schon mit seinem zweiten Buch setzte Musils verlegerisches Scheitern ein. Dabei ist unwahrscheinlich, dass sich die Sammlung in einem anderen Verlag, einer geänderten typographischen Einrichtung oder gar medialen Darbietungsform besser verkauft hätte. Müller war damals eine der ersten Adressen und auch bei S. Fischer (von 1914 bis 1924), Rowohlt (von 1924 bis 1937) und Bermann-Fischer (ab 1937), die das Buch als Titelauflage übernahmen, wurde es nicht zum Bestseller.50 Musils Pläne, die zu starke Linearität 48
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Robert Musil: Vereinigungen. Zwei Erzählungen. München, Leipzig 1911 (eingesehene Exemplare: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 88/77/21875(8), Staatsbibliothek Berlin 360835 (mit gelben Schnitten), beide mit kartoniertem Verlagseinband). Buchblock 110 × 171 × 14 mm, Bundsteg 17 mm, Kopfsteg 23 mm, Außensteg 25 mm, Fußsteg 28 mm sowie Buchblock 110 × 171 × 14 mm, Bundsteg 18 mm, Kopfsteg 20 mm, Außensteg 24 mm, Fußsteg 31 mm. Mareike Giertler: In zusammenhanglosen Pünktchen lesen. Zu den Auslassungszeichen in Musils Die Vollendung der Liebe, in: dies., Rea Köppel (Hg.): Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. München 2012, S. 161–183, versucht, Punkt- und Geviertstrichvorkommnisse in Vereinigungen für eine zahlentheoretische Interpretation auszuwerten. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 401: »Georg Müller verkaufte in den knapp drei Jahren, in denen er Musils Verleger war, nicht ganz tausend Exemplare.« Die Auslieferung von Törleß und Vereinigungen erfolgte »Ende Mai 1911« (S. 395). Corino schreibt zudem: »Das zweite und dritte Tausend der ›Vereinigungen‹ wurde nacheinander von Georg Müller, S. Fischer, Rowohlt und Bermann Fischer angeboten, der Rest 1938 nach Musils Emigration in die Schweiz verramscht [. . .]. Nach einer Aufstellung des Bermann-Fischer Verlags in Wien vom
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und Kodexhaftigkeit der Vereinigungen abzumildern, Corino zufolge die »Idee einer Lose-Blatt-Sammlung«,51 hätten dies kaum geändert, so reizvoll die Vorstellung ist. Im »Vorwort zur Neuausgabe der Novellen«, die es nie geben sollte, skizzierte Musil später: Der »Fehler dieses Buches ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, #d#\w|a#ß#\s| es ist.«52 Auch am Verkaufspreis von geheftet 3,– Mark bzw. gebunden 4,– Mark wird es nicht gelegen haben, dass sich die Vereinigungen schlecht verkauften.53 Georg Müller legte seine Vorstellungen und Überzeugungen zum Buch in einer berühmt gewordenen Selbsterklärung, einem »Geleitwort des Verlegers«, folgendermaßen dar. Es weist seinen Verlag, dessen Bücher damals hauptsächlich von Renner gestaltet wurden, als Vorreiter des qualitativ hochwertig produzierten Gebrauchsbuchs aus:54 Heute wo der Geschmack der meisten Buchdruckereien durch jahrzehntelanges Darniederliegen der Buchkunst auf einem Niveau angelangt ist, das nicht mehr tiefer sinken kann, hat der Verleger die schärfsten Kämpfe durchzufechten, wenn er seine Werke in einer seinen Intentionen entsprechenden Ausstattung herausbringen will. Die Unkultur ist gerade auf diesem Gebiete so sehr Tradition geworden, daß der drucktechnische Schlendrian jede Neuerung oder jedes Zurückgreifen auf alte Buchkultur als einen frivolen Eingriff auf seine Rechte betrachtet und sich demgemäß mit allen Mitteln passiver Resistenz auch gegen den kleinsten Fortschritt sperrt. Gerade in der Hebung der Kultur der Bücher aber liegt neben der Wahl und der Förderung der Autoren der Reiz und das Erfreuende der Berufstätigkeit für den Verleger, der mehr sein will als ein nüchterner Buchfabrikant. Der Reiz, der dem Verleger seinen mit allen nur erdenklichen Widerwärtigkeiten gepflasterten Weg erst angenehm gangbar macht, liegt in der künstlerischen, schöpferischen Herstellung
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Juli 1938 waren noch 588 Exemplare in Rohbogen, 738 broschierte, 15 kartonierte und 451 gebundene Exemplare auf Lager, insgesamt 1792 Stück. Verkauft wurden in ca. 27 Jahren also nur etwa 1200 Exemplare (Bundesarchiv Berlin, Document Center RKK 2100, Ba 0015, File 12).« (S. 1569) Die Aufstellung findet sich auf Seite 7 der 13-seitigen Bestandsliste »LAGER JULI 1938 der Werke von [. . .]« in der Reichskulturkammer-»Arisierungsakte (Peter Suhrkamp)/ Dr. Bermann/S. Fischer Vlg«, die Bundesarchiv-Signatur lautet mittlerweile R 9361-V/4063, vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1825–1827. Eine Bermann-Fischer-Ausgabe mit überklebtem Titelschild auf dem Buchdeckel ist abgebildet in Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 491. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 401. KA/Transkriptionen/Heft II/72. Vgl. die Verlagsanzeige in Musil: Törleß (s. Anm. 44), S. 319; auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage des Mann ohne Eigenschaften 1938 (8. Tausend) beträgt der Preis: »Geheftet RM 2.50 · Leinen RM 3.50«; der Titel verkaufte sich wohl nicht gut. Vgl. zu Verlag und Verleger Heinrich F. S. Bachmair: Georg Müller. Ein Beitrag zur Münchner Buchkunst, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), S. 33–44, sowie Eva von Freeden, Rainer Schmitz (Hg.): Sein Dämon war das Buch. Der Münchner Verleger Georg Müller. München 2003.
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des Buches, in dem Auffinden neuer, noch unbekannter Talente und deren Förderung.55
Unter »Einiges über Buchausstattung« zur Ausstattung seiner eigenen Bücher schrieb Musils Verleger von 1911 bis 1914 zudem, und dies zeigt, wie viel ihm dieser Autor wert war:56 Das Gebrauchsbuch, so der Romanband, muß sich mit geringerem Materiale begnügen, denn sein Preis darf gewisse Grenzen nicht übersteigen. Damit wird natürlich nicht gesagt, daß die Ausgestaltung nicht künstlerisch einwandfrei sein könne, denn die Behauptung, ein geschmackvoll ausgestattetes Werk könne nicht billig sein, ist durchaus falsch. [. . .] Ein Roman- oder Novellenband muß aber außerdem auch in handlichem Formate ausgegeben werden, um überall gelesen werden zu können. Diesen Forderungen Rechnung tragend, schuf ich meine biegsamen handlichen Leinenbände, die Papp- und Rohseidenbände usw. Von Buchschmuck sehe ich bei derartigen Werken meistens vollständig ab, denn dieser lenkt nur von dem Texte des Buches ab. Dagegen lege ich Gewicht auf eine klar leserliche Type und eine angenehme, den Augen nicht schädliche Papierfarbe.57
4. Musils Dramen: Die Schwärmer und Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer Musils erstes Drama Die Schwärmer erschien, obwohl er sich seit 1911 damit befasste, erst 1921 im Dresdener Sibyllen-Verlag.58 Ausschlaggebend dafür waren, Musil war mit Törleß und Vereinigungen bereits zu S. Fischer gewechselt und verhandelte auch eingehend mit Rowohlt (sowie dem ReißVerlag), finanzielle Gründe sowie der Umstand, dass er keine Bühne und keinen Regisseur finden konnte, die das Stück inszeniert hätten.59 Es mag auch an Johannes von Alleschs Vermittlungsleistungen gelegen haben, dessen Wege zur Kunstbetrachtung im 1920 neu gegründeten Sibyllen-Verlag herausgekommen waren (und in den Schwärmern auch beworben werden),60 dass 55
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Georg Müller-Verlag München: 1903–1908. Katalog der in den ersten fünf Jahren des Bestehens erschienenen Bücher. München, Leipzig 1908, zit. nach: Georg Müller: Zwei Aufsätze aus dem Fünfjahres-Katalog. 1903–1908, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde IX (1940), ohne Paginierung als Beilage zwischen S. 40 u. 41 und einem Tafelteil. Müller: Zwei Aufsätze aus dem Fünfjahres-Katalog (s. Anm. 55), o. S., unterscheidet »gemäß der von mir gepflegten beiden Verlagsrichtungen [. . .] zwei Buchtypen«: »Das mit einfacherem Materiale herzustellende Gebrauchsbuch, darin eingeschlossen der für die weitere Menge bestimmte Roman, und der Luxusdruck, die für den Bibliophilen bestimmten Werke.« Müller: Zwei Aufsätze aus dem Fünfjahres-Katalog (s. Anm. 55), o. S. Robert Musil: Die Schwärmer. Schauspiel in drei Aufzügen. Dresden 1921 (eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin Ys 49120 sowie Universitätsbibliothek der HumboldtUniversität Berlin Yy 18736:F8). Zur Rekonstruktion der Verhandlungen Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 640–647. Gustav Johannes von Allesch: Wege zur Kunstbetrachtung. Mit 20 Abbildungen. Dresden 1921. Die Verlagsanzeige weist als Preis 28,– Mark (gebunden 38,– Mark, in Halbleinen 44,–
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Musils Stück dort im August 1921 zu einem (nachkriegszeitbedingt hoch angesetzten) Preis von geheftet 24,– Mark, gebunden 30,– Mark erschien. Dafür bekam man einen stattlichen Oktavband auf ordentlichem Papier, überragend gesetzt und von der Roßberg’schen Buchdruckerei Leipzig gedruckt, dessen Text ohne erhebliche Kürzungen nicht auf die Bühne zu bringen war.61 Bemerkenswert an den Schwärmern ist die Druckschrift, die in anderen Publikationen des Sibyllen-Verlags aus der gleichen Zeit nicht zu finden und für eine deutsche Druckerei um 1920 ungewöhnlich ist,62 die Cheltenham. Ursprünglich von Bertram Goodhue und Ingalls Kimball für die Cheltenham Press in New York entworfen (dieser Entwurf wurde auch als Boston Old Style bekannt), wurde sie von Morris Fuller Benton für ATF (American Type Founders) überarbeitet und stand ab 1903 zur Verfügung, um 1904 auch für den Linotype-Maschinensatz. Wohl keine andere Schrift verkörpert eindrucksvoller die eigenständige US-amerikanische Typographie des frühen 20. Jahrhunderts, wo die ›Chelt‹ zum »embodiment of type design that is thoroughly American« wurde, auch wenn sie bald ausschließlich als Auszeichnungsschrift Verwendung fand, obwohl sie als Leseschrift konzipiert worden war.63 Dass diese Schrift für Die Schwärmer verwendet wurde, ist ungewöhnlich. Hinzu kommt eine gute Seitenaufteilung, bei jeder neuen Zeile, auch in den ersten, gibt es Gevierteinzüge, deren Fortlassung Platz gespart hätte (s. Abb. 5).64 Darum aber ging es bei diesem 244 Seiten (plus vier Seiten Ver-
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Mark) aus und enthält als weitere Titel, die Musils Interesse hervorgerufen haben könnten, u. a. Traugott Konstantin Oesterreichs Der Okkultismus im modernen Weltbild (12,– Mark, gebunden 17,– Mark). Es werden dort aber auch dezidiert bibliophile Publikationen wie Arno Holz’ Die Blechschmiede. Pandivinium/Pandaemonium/Panmysterium (60,– Mark, in Halbleinen 85,– Mark, in Halbleder, vom Verfasser signiert, 150,– Mark) sowie Paul Zechs Der Wald. Gedichte (8,– Mark, gebunden 11,– Mark, in Halbleder, vom Verfasser signiert, 40,– Mark) angezeigt. »Am 22. August 1921 lieferte der Verlag das Werk aus – die Auflage betrug wohl 2000, höchstens 3000 Exemplare.« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 649) Den Preis nennt eine Verlagsanzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 1. 8. 1921, reproduziert in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 645. 1927 beträgt er »Geheftet Rm 3.– gebunden Rm 4.50« (Musil: Rede zur Rilke-Feier (s. Anm. 90), Umschlag). Eine wenig repräsentative Stichprobe von zwölf zwischen 1920 und 1922 im Sibyllen-Verlag erschienenen Titeln, darunter vorwiegend nichtliterarische Publikationen wie Oesterreichs Okkultismus im modernen Weltbild (s. Anm. 60), zeigt keine weitere Verwendung der Cheltenham; allerdings wurde keiner dieser Titel von der Roßberg’schen Buchdruckerei gedruckt, es überwiegt deutlich die Wittenberger Druckerei Herrosé & Ziemsen. Zechs Wald bspw. wurde, was für Musils Drama gleichfalls eine Option dargestellt hätte, aus einer gebrochenen Schrift gesetzt, aus der Weiß-Fraktur, wozu es im Impressum heißt: »Text-Schrift und Entwurf des Einbandes von E. R. Weiß.« (Zech: Der Wald (s. Anm. 60), S. 64) Vgl. Alexander Lawson: Cheltenham, in: ders.: Anatomy of a Typeface (s. Anm. 17), S. 253– 261, hier S. 253. Lawson schreibt (allerdings 1990, heute wäre dies anders): »Cheltenham is, in all probability, the most widely known type designed in the United States.« (S. 253) Das Exemplar der Staatsbibliothek weist einen kartonierten Verlagseinband (125 × 185 mm) mit Verlagssignet und grün eingefärbtem Kopfschnitt auf (Buchblock 120 × 182 × 18 mm,
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lagsangaben) umfassenden Buch nicht, dessen Zeilen 86 mm weit laufen. Die graphischen Eigenheiten der Cheltenham, ornamentale Auszeichnungselemente zu übernehmen und historische Eigenheiten verschiedener Schriftstile zu amalgamieren, kommt der Gestaltung der Schwärmer entgegen. Was freilich ablenkt (wie immer, wenn deutschsprachiger Text aus Schriften gesetzt wird, die für andere Sprachen konzipiert wurden), ist der ausgeprägte Größenunterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben; das ist auch einer der Gründe, warum eine Schrift wie die Cheltenham für deutschsprachige Texte selten verwendet wird. Ausgehend von eigenen Theorien zur Leserlichkeit von Druckschriften, wonach die Oberlängen das Schriftbild konstituieren und wir nicht einzelne Buchstaben lesen, sondern Wortumrisse wahrnehmen, hatte Goodhue seine Schrift mit extremen Oberlängen und geringen Unterlängen konzipiert; das wirkt befremdlich und war wohl einer der Gründe, warum die Cheltenham selbst in den USA bald vornehmlich als Auszeichnungsschrift verwendet wurde. Es könnte bei zeitgenössischen deutschsprachigen Lesern, die literarische Texte ohnehin in Fraktur zu lesen gewohnt waren, zu einer Distanzierung oder Reserviertheit gegenüber dem Drama geführt haben. Die Schwärmer sind damit, ob dies ihrem Autor bewusst war oder nicht, ein ungewöhnliches Buch; gesetzt aus einer Schrift, die als eine der ersten überhaupt wissenschaftliche Annahmen über die gute Leserlichkeit von Zeichenkombinationen umsetzen sollte, gelingt eben dies (bedingt durch die vielen Majuskeln) beim Satz deutschsprachiger Texte weniger gut. Die Cheltenham war zudem die erste Schrift, die es gut ausgebaut (mit unterschiedlichen Schnitten) als Schriftfamilie gab, und auch die erste, die sowohl für den traditionellen Handsatz als auch für den Maschinensatz zur Verfügung stand.65 Auf Verlangsamung zielend, zumindest was den gewöhnlichen deutschsprachigen Leser dieser Zeit angeht, bietet die typographische Einrichtung der Erstausgabe den Text der Schwärmer in einer außergewöhnlichen Weise. Beim Verlagswechsel wurde das Buch des Sibyllen-Verlags von Rowohlt übernommen.66
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Bundsteg 11 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 23 mm, Fußsteg 32 mm), das der HumboldtUniversität ist neugebunden mit eingebundenem Umschlag (Buchblock 120 × 184 × 18 mm, Bundsteg 11 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 23 mm, Fußsteg 34 mm). Nahezu alle Schriftgießereien boten Derivate der Cheltenham unter eigenem Namen an, so Berthold die Toskana (1907), Flinsch die Roosevelt (ca. 1907), Woellmer die Lessing-Antiqua (1908), Krebs die Katalog-Antiqua (1911), Butter die Pfeil-Antiqua (vor 1921); Monotype-Varianten standen ab 1911 als Gloucester bzw. Gloucester Old Style ebenfalls zur Verfügung. In der Verlagsanzeige zur zweiten Auflage des Mann ohne Eigenschaften 1931 (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (s. Anm. 46), S. 1076) ist als Preis der Schwärmer angegeben: »Geh. 3.–, gebunden 4.50«, auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage des Mann ohne Eigenschaften 1938 (8. Tausend) beträgt er: »Geheftet RM 2.50 · Ppb. RM 3.50«; Die Schwärmer verkauften sich Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 649, zufolge niemals gut: »17 Jahre später, im Juli 1938, waren noch über tausend Exemplare [einer Startauflage von »wohl 2000, höchstens 3000«] auf Lager.« (vgl. Anm. 50)
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Abb. 5: Robert Musil: Die Schwärmer. Schauspiel in drei Aufzügen. Dresden 1921, S. 8.
Abb. 6: Robert Musil: Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer. Posse in drei Akten. Berlin 1924, S. 9.
Abb. 7: Robert Musil: Die Portugiesin. Berlin 1923, S. 1.
Abb. 8: Robert Musil: Grigia. Novelle. Potsdam 1923, S. 1.
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Musils dramatische Posse Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer, Anfang 1924 bei Rowohlt erschienen, wurde weit von Berlin entfernt in Bad Reichenhall von der Druck- und Verlags-Aktiengesellschaft »Buchkunst« erstellt.67 Kunstvoll ist dieser Oktav-Druck in jeder Hinsicht: Aus einer sehr schönen und relativ seltenen Type gesetzt, der Erbar-Mediäval, die 1914 von der Schriftgießerei Ludwig & Mayer Frankfurt am Main herausgebracht wurde, gehört auch Vinzenz zu Musils typographisch gesehen gelungensten Büchern (s. Abb. 6). Es gibt kein ›ß‹, ein sehr markantes Ausrufungszeichen, ein zweiteiliges (wie in gebrochenen Schriften ähnlich einem Gleichheitszeichen realisiertes) Divis; auf die stärker ornamentalen Alternativfiguren, die für viele Buchstaben zur Verfügung gestanden hätten, wurde verzichtet. Die Szenenanweisungen und Didaskalien sind aus geringeren Graden kursiv gesetzt, um in den Hintergrund zu rücken. Nur das heute etwas bräunliche Papier will nicht recht passen zur typographischen Qualität dieses Drucks. Vinzenz kostete mit seinen 108 Seiten (mit Verlagsanzeige) geheftet 1,50 Goldmark und gebunden 2,50 Goldmark, es gab wohl nur eine Auflage von 1000 Exemplaren.68 Die beiden dramatischen Publikationen Musils, das eint sie, zeigen, dass der Markterfolg eines literarischen Werks von der typographischen Gestaltung kaum abhängig ist. Beide sind im Rahmen des Möglichen originell und außergewöhnlich, beide aus Drucktypen gesetzt, die zum Zeitpunkt der Publikation (zumindest in Deutschland) als neuartig und selten gelten konnten, beide sind attraktiv und großzügig gestaltet und lassen, was es an zeitgenössischen Drucken sonst zu sehen gibt, weit hinter sich, gemessen an Textmenge und Umfang auch zu relativ günstigen Verkaufspreisen. Gleichwohl stellen seine Dramen die größten Misserfolge Musils dar und führten trotz ihrer bemerkenswerten Gestaltung zeitlebens kaum dazu, dass er als vielversprechender Dramatiker bekannt geworden wäre.69 Die Unvertrautheit mit der 67
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Robert Musil: Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer. Posse in drei Akten. Berlin 1924 (eingesehene Exemplare: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 14 L 852: Buchblock 130 × 198 × 5 mm (beschnitten und neugebunden), Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 15 mm, Außensteg 25 mm, Fußsteg 33 mm, sowie Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Wm 4801: Buchblock 134 × 200 × 5 mm, Bundsteg 20 mm, Kopfsteg 15 mm, Außensteg 24 mm, Fußsteg 35 mm, mit ursprünglichem Verlagseinband und zweifarbigem Umschlag). Vgl. die Anzeigen-Beilage zur Neuen Rundschau vom März 1924 in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 701. In der Verlagsanzeige in der zweiten Auflage des Mann ohne Eigenschaften (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (s. Anm. 46), S. 1076) wird der Verkaufspreis sieben Jahre später mit »Geh. 1.–, gebunden 2.–« angegeben, auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage 1938 (8. Tausend) beträgt er »Geheftet RM –.80 · Ppb. RM 1.50«. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1827, gibt, ausgehend von der Bestandsliste des BermannFischer-Verlags (s. Anm. 50, die Pressendrucke werden hier nicht aufgeführt) an: »Von den ›Schwärmern‹ waren 1157 Exemplare übrig. Bei einer Gesamtauflage von 2000 Exemplaren waren seit 1921 843 Exemplare verkauft. Von ›Vinzenz‹ waren 338 Exemplare übrig. Bei einer Gesamtauflage von (geschätzten) 1000 Exemplaren waren seit 1923 662 Exemplare verkauft.« Methodisch ist diese Auszählung angreifbar, weil sie zum einen davon ausgeht, dass Auflagen-
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Cheltenham mag sogar dazu geführt haben, dass Die Schwärmer auf eine geringere Resonanz stießen, als wenn sie aus einer anderen Schrift gesetzt worden wären.
5. Musils Pressendrucke: Die Portugiesin, Grigia und Der Vorstadtgasthof Musils erster Handpressendruck, Die Portugiesin, erschien 1923 in der Officina Serpentis.70 1911 von Eduard Wilhelm Tieffenbach in Berlin-Steglitz gegründet, nutzte sie anfangs verschiedene Druckschriften, später sogar eine exklusive Officina-Serpentis-Type. Diese Hausschrift, eine der Schwabacher ähnliche gotische Schrift, wurde nach dem Vorbild der Drucke des Nürnberger Wiegendruckers Anton Koberger gestaltet, hinzu kamen Initialen und Titel von E. R. Weiß, Felix Meseck und H. Th. Hoyer.71 Musils Portugiesin hingegen wurde aus der Leibniz-Fraktur von Genzsch & Heyse gesetzt, das Buch zählt 29 Seiten mit 29 Zeilen und weist eine Auflage von 200 Exemplaren auf, davon 25 auf handgeschöpftem Büttenpapier. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Rowohlt-Verlag den Vertrieb für die Officina Serpentis übernommen und ließ selbst dort drucken; damit war Die Portugiesin Musils erste Rowohlt-Publikation, noch vor Vinzenz oder Drei Frauen.72 Die Portugiesin ist ein schöner, wenn auch etwas wunderlicher Pressendruck in Quarto auf besonderem Papier73 mit Initial-S, Superscript-e und sehr breiten Rändern (s. Abb. 7). Diese Gestaltung trifft – wie Corino anmerkt, spielt die Novelle »als einziger Prosatext Musils in einer fernen, feu-
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zahlen immer exakt eingehalten wurden (was nie der Fall ist, immer wurde mehr gedruckt) und weil sie zum anderen fehlende Exemplare als verkaufte rechnet. Sie zeigt aber gut, dass von allen Büchern Musils, die sich im Juli 1938 im Besitz von Bermann-Fischer befanden, seine dramatischen relativ zu den anderen am unverkäuflichsten waren. Robert Musil: Die Portugiesin. Berlin 1923 (eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin Yx 52349 (unbeschnitten) sowie 317656 (beschnitten)). Buchblock 195 × 260 × 3 mm, Bundsteg 22 mm, Kopfsteg 30 mm, Außensteg 68 mm, Fußsteg 56 mm sowie Buchblock 187 × 249 × 3 mm, Bundsteg 22 mm, Kopfsteg 25 mm, Außensteg 60 mm, Fußsteg 50 mm. Vgl. Jost: Die neue Buchkunst in Deutschland (s. Anm. 6), S. 121 f.; Schauer: Deutsche Buchkunst. Bd. I (s. Anm. 4), S. 93–95. Im Impressum heißt es: »Handpressendruck der Officina Serpentis Berlin-Steglitz, Satz von M. Hoffmann, Druck von E. W. & E. H. Tieffenbach für Ernst Rowohlt Verlag, Berlin W35. Die Auflage beträgt 200 Exemplare auf Bütten, Nro. 1–25 wurden auf handgeschöpftem Papier abgezogen.« Das Wasserzeichen weist einen Bären mit Rad und der Jahreszahl 1597 auf, was Bärbütten der Papierfabrik Flinsch anzeigt, ein in dieser Zeit für bibliophile Drucke ab einer gewissen Auflagenzahl häufig verwendetes Papier, allerdings kein handgeschöpftes Büttenpapier wie bei der Vorzugsausgabe; vgl. Rolf Buscher: Vom Wasserzeichen zum Markenpapier. Die Papiermarkierung als Mittel der Absatzpolitik im 20. Jahrhundert. Diss. Univ. Trier 2007, S. 254, http://ubttest.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2007/434 (Zugriff am 15. 4. 2014).
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dalen Vergangenheit«74 – gut den Inhalt.75 Kartoniert kostete der Druck 12,– Goldmark, die Halbpergamentausgabe 18,– Goldmark.76 Damit war Die Portugiesin (von der Vorzugsausgabe der Grigia und Inflationspreisen bei den Schwärmern abgesehen) Musils teuerstes zu Lebzeiten verlegtes Buch; auch aufgrund seiner geringen Auflage ist es in öffentlich zugänglichen Sammlungen und Bibliotheken relativ selten anzutreffen. Im Januar 1924 erschien, auf 1923 datiert, Grigia, ein illustrierter Pressendruck mit sechs Radierungen von Alfred Zangerl als achter Band in der von Franz Blei herausgegebenen Reihe der Sanssouci-Bücher des Potsdamer Müller & Co.-Verlags (seit 1925 Müller & Kiepenheuer). Die Auflage betrug 2100 Stück, darunter 100 signierte Vorzugsausgaben mit Radierungen auf Japanpapier zu 40,– Mark, und kostete in Halbleinwand bzw. Halbpergament 6,50 bzw. 8,– Mark.77 Es ist ein von Mänicke und Jahn in Rudolstadt ausgeführter aus der Berthold-Didot gesetzter Oktav-Druck mit breiten Rändern, der nicht zuletzt durch die eingeklebten Radierungen Zangerls gewinnend ausfällt und den relativ kurzen Text auf 48 Textseiten bringt (pro Seite 22 Zei74 75
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Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 703. Zur verwendeten Schrift, der Mitte der 1920er Jahre im Umfeld vieler neuer Frakturentwürfe antiquierten Leibniz-Fraktur, heißt es in Albert Kapr: Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz 1993, S. 156: »Die Leibniz-Fraktur steht zwischen der älteren Luther-Fraktur und der etwas jüngeren Breitkopf-Fraktur. Sie ist bei allen hierfür geeigneten Großbuchstaben dem Elefantenrüssel treu geblieben und entsprach den damaligen [»Mitte des 18. Jahrhunderts«] Vorstellungen von einer guten Lese-Frakur.« Vgl. die Anzeigen-Beilage zur Neuen Rundschau vom März 1924 in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 701. 1927 wird als Preis genannt: »Kartoniert Rm 10.– Halbpergament Rm 15.–« (Musil: Rede zur Rilke-Feier (s. Anm. 90), Umschlag). Robert Musil: Grigia. Novelle. [Mit 6 Originalradierungen von Alfred Zangerl.] Potsdam 1923 (eingesehene Exemplare: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 38/78/11191(6), mit liniertem roten Halbleineneinband von 130 × 187 mm sowie Staatsbibliothek Berlin Rx 9223 mit Halbpergamenteinband von 132 × 189 mm und Originalradierungen). Buchblock 125 × 183 × 5 mm, Bundsteg 14 mm, Kopfsteg 20 mm, Außensteg 25 mm, Fußsteg 48 mm sowie Buchblock 127 × 184 × 5 mm, Bundsteg 16 mm, Kopfsteg 19 mm, Außensteg 26 mm, Fußsteg 50 mm. Das Exemplar der University of Toronto Library LG M9874gr mit Halbpergamenteinband ist als farbiges Digitalisat einsehbar im Internet Archive (https://archive.org/details/ grigianovelle00musiuoft, Zugriff am 15. 4. 2014). Im Impressum liest man: »Das Buch wurde im Auftrage von Müller & Co. Verlag, Potsdam, bei Mänicke und Jahn, Rudolstadt, in einer Auflage von 2100 Exemplaren in der Didotantiqua gedruckt. Die Radierungen Nr. 1–100 sind auf Japanpapier abgezogen und vom Künstler signiert. Diese Bände werden von Hand gebunden und in der Presse numeriert.« (Im Original Versaliensatz) Die Preise rekonstruiert Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 702, da sie inflationsbedingt bei Erscheinen höher angesetzt waren, und führt zur Vorzugsausgabe den Antiquar Georg Fritsch mit der Vermutung an, »es seien nur 25 statt 100 Exemplare der Vorzugsausgabe zu 40 RM hergestellt worden.« Ein solches (dann rareres Vorzugsexemplar) umfasste, als es 2001 zum Verkauf angeboten wurde, nicht nur »6 signiert[e] Originalradierungen, jede von einem weißen Blatt gefolgt«, sondern auch »Grünes Original-Leder mit goldgeprägter Deckelvignette und Rückentitel, Kopfgoldschnitt und Innenkantenvergoldung.« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1672 f.) Dieser geringer angenommenen Auflagenzahl steht entgegen, dass fortwährend Vorzugsexemplare, auch in grünes Leder eingebundene, von Antiquariaten relativ preisgünstig angeboten werden.
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len mit ca. 50 Zeichen pro Zeile). Störend auf diese großzügige Einrichtung wirkt sich aus, dass manche Zeilen zu eng ausgeschlossen wurden und die Wortabstände dort zu gering ausfallen; auch die 86 mm lange gerade Linie zu Beginn und die durch zwei Geviertstriche verlängerte englische Linie am Ende des Textes sind etwas unpassend (s. Abb. 8). Die Müller-Pressendrucke konnten durch hohe Auflagen und Ausgabendiversifizierungen kostengünstig kalkuliert werden und waren von Vorzugsausgaben abgesehen keine hochpreisigen Exklusivdrucke wie die der Officina Serpentis.78 Trotzdem waren Pressendrucke und Vorzugsausgaben teuer und für viele unerschwinglich, wie Lucius verdeutlicht: Aber auch im niedrigen Preissegment etwa des Georg Müller-Verlags waren angesichts eines Preisrahmens vom M 3,– bis 4,50 für ein normales Gebrauchsbuch M 40,– für Ronsards Sonette für Helene im Pergamenteinband ein beachtlicher Preis. Bibliophile Bücher waren teuer, zehn- bis hundertmal so teuer wie ein normales Buch mit demselben Text.79
Laut Corino hatten Musils Ausflüge ins bibliophile Milieu ausschließlich finanzielle Beweggründe, keine buchästhetischen: »Musil [. . .] mußte [. . .] darauf achten, aus seiner Arbeit maximalen Ertrag zu schöpfen und sie möglichst doppelt oder dreifach zu verwerten.«80 Dafür boten sich die Pressendrucke an, zumal Zeitschriftenpublikationen geringere Umfänge aufwiesen und niedriger entlohnt, allerdings auch häufiger nachgedruckt und überdies weit besser verbreitet wurden.81 Dass größere Verlage wie S. Fischer neben ihren teilweise mit 1000er- bis 10 000er-Startauflagen kalkulierten Publikationen auch kleinere Pressendrucke unternahmen, war in den 1920er Jahren gebräuchlicher, als dies heute wirken mag.82 Für die Autoren waren damit 78
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Das zeigt sich nicht zuletzt am Format: Die in Auflagen von 2100 Exemplaren gedruckten Sanssouci-Bücher weisen gewöhnliche Gebrauchsbuchmaße von ca. 125 × 183 mm auf, vgl. bereits das erste Buch der Reihe: Charles Baudelaire: Kleine Gedichte in Prosa. Ausgewählt u. übertragen v. Erik-Ernst Schwabach. Potsdam 1923. Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 336. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 702. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 702, vermutet, da Carl Schmitt 1922 von Blei für ein gleichfalls illustriertes 60-seitiges Bändchen ein Honorar von 2000,– Mark zugesagt wurde, bei Grigia »für Musil wohl eine Einnahme von ca. 2000 Mark, also etliche Monatseinkommen.« Für Die Portugiesin nimmt er als »Ertrag: ca. 300 Mark« an. Die enge Verbindung von Pressenverlagen und Publikumsverlagen, wie sie bei Müller oder Rowohlt zu sehen ist, war nicht durchgängig anzutreffen. Die meisten Verlage für Gebrauchsbücher orientierten sich auch nicht am ästhetischen und handwerklichen Niveau der Pressendrucke, vgl. Lucius: Buchgestaltung und Buchkunst (s. Anm. 5), S. 334: »Häufig wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Pressendrucke gleichsam eine ästhetische Leitfunktion für die Buchgestaltung in der Breite, also das Gebrauchsbuch hätten. Davon kann – abgesehen von [. . .] bibliophil orientierten Verlagen wie Insel, Georg Müller, Jakob Hegner, S. Fischer, zum Teil Diederichs – gerade in den Zwanzigerjahren nicht die Rede sein: das auf breitere, kaufkraftschwächere Käuferschichten zielende Buch gerade der Zwanzigerjahre beginnt sich mit eigenem Stil und Selbstbewusstsein neben der Bibliophilie und ohne Bezugnahme auf deren Kriterien zu entwickeln.« Zum Rowohlt-Verlag, der neben der
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zusätzliche Einkommensquellen verbunden, da die zugrundeliegenden Texte in aller Regel bereits erschienen waren oder es sich um Vorabdrucke handelte, die auf umfangreichere Arbeiten verwiesen. Der dritte Pressendruck Musils, der erst 1931 erschien und hier gleich noch vorgestellt wird, ist noch rarer als Die Portugiesin: der wohl nur in 25 nummerierten und signierten hors de commerce-Exemplaren erstellte Pandora-Privatdruck Der Vorstadtgasthof. Erst seit seiner Veröffentlichung in der Klagenfurter Ausgabe als Digitalisat ist er ohne erheblichen Aufwand zugänglich.83 Der Vorstadtgasthof erschien mit Illustrationen von Richard Ziegler als 18. Heft der »Pandora-Drukke« und ist nicht nur durch die gezeichnete U-Initiale und die große Anzahl an Illustrationen, auf 13 Doppelblättern finden sich 17 Wachsdrucke, sondern auch aufgrund seiner eigenwilligen (für Zieglers Arbeiten typischen) Orthographie und den durch Schreibmaschinentypen realisierten Satz auffällig (s. Abb. 9). Es ist nicht nur Musils Buch mit der höchsten Dichte bzw. größten Menge an Illustrationen pro Text oder Gesamtumfang, sondern mit seinen aufeinander gefaltet 280 × 390 mm messenden Doppelblättern auch formatmäßig Musils größtes zu Lebzeiten publiziertes Buch, das annähernd Folioformat aufweist. Hinzu kommt als Besonderheit, dass es sich damit auf der einen Seite sowohl um die einzige monographische Einzelpublikation dieses Textes als auch um dessen letzte Ausgabe zu Lebzeiten handelt, der Autor auf der anderen Seite in einer exemplarspezifischen handschriftlichen Widmung »mit Übernahme der Haftung nur für den illustrativen Teil! Robert Musil« eine denkwürdige Distanzierung von der Textgestaltung vorgenommen hat.84
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Officina Serpentis noch mit anderen Pressen zusammenarbeitete, schreibt Stephan Füssel: Belletristische Verlage, in: Fischer, Füssel (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 2.2 (s. Anm. 22), S. 1–90, hier S. 32: »Gerade in der Zeit der Inflation erwiesen sich die Pressendrucke als eine gute Investition, da sie von den Käufern als Geldanlage genutzt wurden und dem Verlag mittel- und langfristige Verkaufserfolge einbrachten. Ab 1925 nahmen die Pressendrucke jedoch signifikant ab.« Musil wurde bei Rowohlt nur mit der Portugiesin in einem Pressendruck verlegt. Dieser Druck konnte nur als ständiges Exponat im Robert-Musil-Literatur-Museum Klagenfurt eingesehen werden, wo die Doppelseite 9/10 dauerhaft ausgestellt wird, alle anderen Angaben beziehen sich auf das Digitalisat der Klagenfurter Ausgabe: Robert Musil: Der Vorstadtgasthof. [Zeichnungen fon Richard Ziegler.] Berlin 1931; erstmalig erschien der Text 1924 in einer kurzlebigen, von Franz Hessel herausgegebenen Rowohlt-Zeitschrift; vgl. Robert Musil: Der Vorstadtgasthof, in: Vers und Prosa. Eine Monatsschrift (1924), H. 3, S. 89– 93. So weist es das über die KA verfügbare Digitalisat von Exemplar 12 im Vorsatz auf, vgl. auch Walter Fanta: Der Vorstadtgasthof – das Unbegreifliche begreifen, in: Massimo Salgaro (Hg.): Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe. Bedingungen und Möglichkeiten einer digitalen Edition. München 2014 (= Musil-Studien, Bd. 42), S. 27–44. Das seit 2009 in Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek Wien befindliche Exemplar 13 trägt als Widmung bspw.: »Gräfin Mary Dobrzensky mit niedergeschlagenen Augen überreicht! Weihnachten 1933. Robert Musil« (Newsletter der Österreichischen Nationalbibliothek (2009), Nr. 3, S. 6).
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Abb. 9: Robert Musil: Der Vorstadtgasthof. Berlin 1931, S. [2].
Abb. 10: Robert Musil: Drei Frauen. Novellen. Berlin 1924, S. 11.
Abb. 11: Robert Musil: Rede zur RilkeFeier in Berlin am 16. Januar 1927. Berlin 1927, S. 5.
Abb. 12: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Berlin 1930, S. 9.
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Gleichwohl ist diese Keimzelle des Mann ohne Eigenschaften, als die man den Vorstadtgasthof ansehen kann, Musils experimentellstes Buch: Keine andere seiner Buchpublikationen bricht so vehement mit orthographischen und gestalterischen Konventionen, keine ist nicht nur thematisch, sondern auch in der künstlerischen Inszenierung härter, radikaler und unversöhnlicher, keine weiter entfernt davon, gefällig zu sein oder gar einen schönen Text zu präsentieren. Der Vorstadtgasthof, Musils Buch mit der geringsten Auflage und zugleich sein großformatigstes Druckwerk, ist zugleich das Buch, an dessen konkreter Gestaltung und Ausführung er vermutlich am wenigsten beteiligt war. Es funktioniert auch technisch und ökonomisch nur als Pressendruck in Kleinstauflage und ging wohl nie in den Verkauf, das Druckverfahren wäre bei deutlich mehr Exemplaren unzureichend gewesen und muss als Notlösung in Verbindung mit der geringen Auflage angesehen werden. Zu Musils Pressendrucken lässt sich zusammenfassend sagen, dass sie die in dieser Zeit bestehenden Spannungen zwischen gebrochenen und Antiquaschriften, zwischen illustrierten und nichtillustrierten Texten, zwischen sehr teuren und relativ raren und vergleichsweise zugänglichen in hoher Auflage gedruckten und weniger exklusiven Büchern in nuce widerspiegeln. Beim Vorstadtgasthof trifft man sogar auf eine philologisch hochinteressante Ausgabe letzter Hand, die vom Autor ausdrücklich nicht autorisiert wurde. Freilich publizierte Musil im Vergleich zu seinen Zeitgenossen im Bereich des Pressenbuchs wenig.
6. Musils mittlere Buchpublikationen: Drei Frauen und Rilke-Rede »Gedruckt bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden« erschien 1924 bei Rowohlt die Novellensammlung Drei Frauen.85 Diese Publikation zeigt, dass auch das in hoher Auflage gedruckte Gebrauchsbuch der 1920er Jahre attraktiv gestaltet werden konnte, es gibt einen marmorierten Einband mit Titelschildchen, ein zweifarbiges Titelblatt, die jeweils erste Zeile von Grigia und Die Portugiesin wurde wie die 15 Kapiteleinsätze von Tonka im Versalsatz ausgeführt. Der Satzspiegel ist großzügig, gesetzt wurde mit viel Durchschuss aus der Walbaum-Antiqua, einer zu diesem Zeitpunkt so gut wie verges85
Robert Musil: Drei Frauen. Novellen. Berlin 1924, S. 168 (Versalien, auf der letzten Seite unterhalb der Verlagswerbung; eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin Yx 52839, geheftetes Exemplar mit rot-schwarzem Kartoneinband: Buchblock 108 × 189 × 10 mm (beschnitten), Bundsteg 10 mm, Kopfsteg 23 mm, Außensteg 24 mm, Fußsteg 40 mm, sowie Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Wm 3208, gebundenes Exemplar mit marmoriertem Einband: Buchblock 111 × 189 × 10 mm, Bundsteg 10 mm, Kopfsteg 21 mm, Außensteg 27 mm, Fußsteg 42 mm). Das Berliner Exemplar weist leicht gesprenkelte Schnitte auf, das Frankfurter einen dunkel eingefärbten Kopfschnitt.
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senen klassizistischen Schrift, die Hegner im Grunde erst wiederentdeckte (s. Abb. 10). Musil war über dieses Buch zurecht zufrieden, Martha teilte ihrer Tochter mit:86 »Die ›Drei Frauen‹ sind jetzt erschienen und sehr hübsch gedruckt.«87 Auch das Papier ist gut ausgesucht, wenig voluminös, der Buchblock weist bei 168 Seiten eine Dicke von 10 mm auf, was ein handliches Oktavbändchen ergibt. Die Verkaufspreise betrugen geheftet 3,– Goldmark, gebunden 4,50 Goldmark sowie als Ausstattungsoption, die es bei Musils von Rowohlt verlegten Büchern sonst nur bei Die Portugiesin gab, in Halbpergament 7,50 Goldmark.88 Von allen seinen Büchern ist Musils Hegner-Druck der Drei Frauen vielleicht am überzeugendsten durchgestaltet, ein in allen Belangen geglücktes Buch, das auch die drei Novellen erst zu der Einheit zusammenführt, die durch die Titelgebung angezeigt wird. Hegner galt mit seinem Verlag zu dieser Zeit als einer der besten Setzer und Drucker Deutschlands, als manischer Handwerker mit höchsten Qualitätsansprüchen, der den Ehrennamen »Erster Drucker Deutschlands« trug und Setzmaschinen ablehnte, um lieber im Handsatz arbeiten zu lassen. Über ihn urteilte der Typograph Hans Peter Willberg: [M]aßstabbildend und von großer Bedeutung für die Neue Deutsche Buchkunst ist der Verleger, Drucker und Buchgestalter Jakob Hegner. In seiner Offizin in Hellerau bei Dresden entstehen Bücher, die durch eine fast asketische typographische Einfachheit und zugleich durch äußerste Sensibilität und Sicherheit der gesamten Gestaltung und der Schriftwahl im besonderen sich auszeichnen. Hegner war einer der ersten deutschen Drucker, die nicht nur die Schönheit scheinbar vergessener Drucktypen wieder entdeckten, sondern sie wieder aktivierten, nicht durch Nachschöpfung, sondern durch Neuguß aus den alten Matrizen. Hegners Bücher sind in noch höherem Maße zeitlos als die Tiemanns und Poeschels.89 86
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Zuvor schrieb Musil am 22. 12. 1923 an Blei: »Mit Grigia und der etwas umgearbeiteten Tonka kommt sie [i. e. Die Portugiesin] jetzt auch als Novellenband heraus, bei Hegner gedruckt, ich hab schon die letzten Korrekturen erledigt.« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Franz Blei, 22. 12. 1923) KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 6. 3. 1924. Vgl. die Anzeigen-Beilage zur Neuen Rundschau vom März 1924 in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 701; auf dem Schutzumschlag zu Bd. II des Mann ohne Eigenschaften 1932 beträgt der Preis: »Geheftet M 2.50 · Gebunden M 3.50 · Halbpergamentbd. M 4.50«, auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage von Bd. I des Mann ohne Eigenschaften 1938 (8. Tausend): »Geheftet RM 2.50 · Ppd. RM 3.50 · Hpgt. RM 4.50«. Hans Peter Willberg: Zur Situation der Buch- und Schriftkunst in den zwanziger Jahren, in: Raabe (Hg.): Das Buch in den zwanziger Jahren (s. Anm. 4), S. 47–62, hier S. 54. Vgl. Wilhelm Haefs: Ästhetische Aspekte des Gebrauchsbuchs in der Weimarer Republik, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 6 (1996), S. 353–382, hier S. 356: »Die gesteigerte Aufmerksamkeit für das schön und zweckmäßig gestaltete Gebrauchsbuch ist, von Seiten der Buchgestalter, freilich auch als Reaktion auf die in den zwanziger Jahren so oft beklagte Inflation der sogenannten ›Luxusdrucke‹ und des kunstgewerblichen, ohne Rücksicht auf buchgestalterische Prinzipien illustrierten Buchs zu verstehen. Am eindrucksvollsten zeigt sich diese Tendenz in den unprä-
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Musils Rede zur Rilke-Feier vom 16. Januar 1927 wurde kurze Zeit später bei Rowohlt broschiert für 1,50 Reichsmark im Druck vorgelegt;90 mit 20 Seiten, davon ein zweieinhalbseitiges »Nachwort zum Druck«, stellt sie wohl Musils kürzeste Buchpublikation dar, ein Opusculum, das als Buch heute nicht gelten könnte, da der Umfang zu gering ist (die Rede selbst weist zwölfeinhalb Seiten auf).91 Gedruckt wurde beim Leipziger Traditionsunternehmen Poeschel & Trepte. Carl Ernst Poeschel hatte mit Walter Tiemann 1907 die JanusPresse, die erste deutsche Privatpresse, gegründet und galt wie Hegner als einer der hervorragendsten Drucker, wenn nicht gar als »der beste Drucker Deutschlands«.92 Bei Poeschel & Trepte wurde der Maschinensatz erst 1925 eingeführt, aber noch weiterhin im Handsatz gearbeitet.93 Davon ist hier wenig zu sehen, die Rede zur Rilke-Feier ist eine ohne größeren Anspruch zu Papier gebrachte Drucksache. Das liegt weniger am für einen solchen Titel beachtlichen Groß-Oktavformat als am einfachen holzhaltigen Papier, den überlangen Zeilen von 104 mm und dem Fraktursatz. Der kurze Redetext setzt mit einer englischen Linie (bei einem um 35 mm abgesenkten Kapitelbeginn) ein und wirkt von seiner typographischen Einrichtung, als käme er aus einer anderen Zeit (s. Abb. 11). Man bedauert daher kaum, dass die Rede zur Rilke-Feier Musils letztes Buch in einer gebrochenen Schrift war – kein einzi-
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tentiösen, durchdacht und zurückhaltend vornehm in klassischen, großzügig gesetzten und mit handlichen Einbänden versehenen Drucken Jakob Hegners«. Robert Musil: Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927. Berlin 1927 (eingesehene Exemplare: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 4 X 429 (beschnitten) sowie Staatsbibliothek Berlin 317658 (eingebundene Originalbroschur)). Buchblock 142 × 216 × 2 mm, Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 23 mm, Fußsteg 27 mm sowie Buchblock 148 × 219 × 2 mm, Bundsteg 19 mm, Kopfsteg 19 mm, Außensteg 25 mm, Fußsteg 28 mm. Den Preis nennt eine Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 31. 1. 1927, reproduziert in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 841, die Auflage betrug 2000 Exemplare; auf dem Schutzumschlag zu Bd. II des Mann ohne Eigenschaften 1932 beträgt der Preis: »Geheftet M 1.–«, auf dem Schutzumschlag zur dritten Auflage des Mann ohne Eigenschaften 1938 (8. Tausend) liegt der Preis wieder bei 1,50 Mark. Darauf kommt Musil zu Beginn seines Nachworts selbst zu sprechen; als Buchpublikation eigne sich seine Rede nicht: »Eine Rede ist nicht ein gesprochenes Druckwerk. Sie hängt mit den Elementen des unmittelbaren Effekts, dem Hier und Jetzt, den Personen der Zuhörer und der sich selbst einsetzenden Person des Redners, in einer solchen Weise zusammen, daß ohne diese Elemente nicht eine Partitur, sondern bloß ein Fragment übrigbleibt. Wenigstens gibt es Reden von dieser Art, und die, welche ich hier vorlege, war so gemeint. [. . .] Daß ich mich trotzdem zum Gegenteil entschließe, ja sogar jeden Versuch einer Änderung unterlasse, ehe ich das erloschene Wort dem Druck übergebe, geschieht aus dem Ermessen, daß diese Rede auch dann Bruchwerk bliebe, wenn ich sie um alles das ergänzte, was ihr auf den ersten Blick fehlt.« (Musil: Rede zur Rilke-Feier (s. Anm. 90), S. 18) Vgl. Hans Peter Willberg: Nachwort, in: Carl Ernst Poeschel: Zeitgemäße Buchdruckkunst. Stuttgart 1989 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1904), S. I – XVI, hier S. III, sowie Schauer: Deutsche Buchkunst. Bd. I (s. Anm. 4), S. 198 f. So ist auch das Imprimatur-Jahrbuch von 1940 (s. Anm. 6) dem »Meisterdrucker Dr. h. c. Carl Ernst Poeschel, Leipzig, Ehrenmitglied der Weimarer Gesellschaft der Bibliophilen, in aufrichtiger Verehrung gewidmet.« (S. 1) Vgl. Neumann: Herstellungstechnik und Buchgestaltung (s. Anm. 5), S. 174.
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ges seiner Bücher wurde aus den interessanten neuen Frakturen, die zeitgleich entstanden, gesetzt.94
7. Musils Hauptwerk: Der Mann ohne Eigenschaften und seine Gestaltung im Vergleich zu zeitgenössischen europäischen Romanen Als Der Mann ohne Eigenschaften 1930 auf 1075 Seiten erschien, war er vorbildlich gesetzt und gedruckt. E. R. Weiß hatte ihm durch seine Einbandund Umschlaggestaltung ein unverwechselbares Aussehen gegeben, womit auch gezielt geworben wurde. Weiß »blieb stets dem traditionellen Grundsatz der Buchgestaltung treu, dass Einband und Umschlag und die dafür verwendeten spezifischen Ausdrucksmittel am Gehalt des Buches orientiert sein sollten, mehr noch: die äußeren Gestaltungsmerkmale sollten in einer nachvollziehbaren Beziehung zum Inhalt des Buches bzw. dem Geschehen unmittelbar entnommen sein.«95 Dabei ist der Leineneinband zweifarbig dunkelbraun und rot (Bd. II dunkelblau und rot) auf Buchrücken (42 × 90 mm) und -deckel (70 × 50 mm) bedruckt, während die Schrift negativ zu lesen ist und die Graphik auch Musils Nachnamen erkennen lässt. Durch die serifenlose Schrift (es entspricht ihr keine gängige Druckschrift) und die abstrahierte Graphik wird der Roman als modern ausgewiesen, während zeitgleich für deutschsprachige Einband- und Umschlaggestaltungen häufig Schreib- oder auch gebrochene Schriften verwendet wurden. Der Verkaufspreis war nicht niedrig, geheftet kostete Der Mann ohne Eigenschaften 8,– Mark (ursprünglich geplant 12,– Mark), in Leinen 16,– Mark. Der kürzere und 608 Seiten umfassende zweite Band von 1932/33 kam geheftet auf 8,50 Reichsmark, in Leinen auf 12,– Reichsmark.96 Gedruckt wurde 94
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Vgl. u. a. Kapr: Fraktur (s. Anm. 75), S. 122–143 u. 170–197, sowie Wolfgang Hendlmeier: Liste bemerkenswerter Gebrochener Schriften. 380 Schriften der Stilarten Gotisch · Schwabacher · Fraktur mit Schriftmustern und Bezugsquellen (17. 6. 2013), http://www.variatio-delectat. com/52Frakturschriften-Liste.pdf (Zugriff am 15. 4. 2014), S. 5, 9, 11–13, 16, 18, 30 u. 35–40. Haefs: Ästhetische Aspekte (s. Anm. 89), S. 361. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. [Erstes Buch. Erster Teil. Zweiter Teil.] Berlin 1930 u. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. [Zweites Buch. Dritter Teil.] Berlin 1933; vgl. die Verlagsanzeigen im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 26. 11. sowie vom 2. 12. 1932 in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1002 f. u. 1111–1113. Der erste Band (1.–5. Tausend 1930, 6.–7. Tausend 1931) wurde 1932/33 geheftet zu 10,– Reichsmark und in Leinen gebunden zu 14,– Reichsmark angeboten. 1938 wurde der Roman noch einmal ausstattungsidentisch zu den vorangehenden Ausgaben im Bermann-Fischer-Verlag im 8. Tausend nachgedruckt: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. [Erstes Buch. Erster Teil. Zweiter Teil.] Wien 1938. Dies sollte die nicht mehr erfolgte Publikation des dritten Bandes (Zweites Buch. Vierter Teil) des Mann ohne Eigenschaften begleiten, zu dem lediglich Druckfahnen erstellt wurden: »Der dritte Band sollte geheftet ca. RM 3,60, in Leinen ca. RM 6,– kosten.« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1819)
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bei Julius Kittls Nachfolger Keller & Co in Mährisch-Ostrau, gesetzt aber im Handsatz im Hellerauer Verlag Jakob Hegner97 aus einer damals neuen und unverbrauchten Schrift, der Stempel-Garamond, die bis heute eine der meistverwendeten Buchdruckschriften für belletristische Literatur geblieben ist und beispielsweise auch für das Musil-Forum Verwendung findet. Sie wurde als Hausschrift der D. Stempel AG unter Rudolf Wolf ab 1924 entwickelt, kam 1925 als Recte-Schnitt auf den Markt, Kursiv-Schnitt und ein halbfetter Schnitt folgten 1926 und 1927, eine halbfette Kursiv 1932/33.98 1930 war der Mann ohne Eigenschaften daher ein typographisch und buchkünstlerisch auf der Höhe der Zeit produziertes Buch, bei dem auch die großzügigen Proportionen auffallen und das keinen Vergleich mit heutigen Satzstandards zu scheuen braucht.99 Jede Seite weist 35 Zeilen, jede Zeile ca. 50 Zeichen auf, die ersten Worte jedes Kapitels wurden im Versalsatz ausgeführt (s. Abb. 12, Abb. 13), die Kapiteltitel kursiv gesetzt, hinzu kommen als Ausstattungsmerkmale Leseband und gefärbter Kopfschnitt; Der Mann ohne Eigenschaften wurde bis heute nie wieder in einer vergleichbaren typographischen Qualität publiziert (so erreichte keine der Frisé-Ausgaben auch nur annähernd dieses Ausstattungsniveau oder gab den Text so großzügig gesetzt). Musil notierte am 4. April 1930 bezüglich der Typographie: »Mein Buch wird bei Hegner gedruckt u Row.[ohlt] hat mir Proben geschickt. Ich wählte die größte, der von ihm als zulässig bezeichneten Schriften u. schlug ihm eine noch größere vor.«100 97
Vgl. Peter Schifferli: Vom Druckfehlerteufel und von der Hoffnung Jakob Hegners auf ein himmlisches Alphabet. Einige Brocken Verlegerlatein. Zürich 21986 [1984]. Mit Hegner war Musil auch unzufrieden, vgl. die Briefe an Blei vom 23. 5. 1930 (»unser Freund Hegner macht recht störende Druckfehler und läßt von Zeit zu Zeit etwas aus«) sowie vom 3. 8. 1930 (»daran [. . .] ist in erster Linie unser Freund Hegner schuld, der so schlampig gedruckt [gesetzt] hat, daß Rowohlt einen Korrektor aufnehmen mußte« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Franz Blei, 23. 5. bzw. 3. 8. 1930). 98 Vgl. Chronik der D. Stempel AG, in: Chronik der Schriftgießerei D. Stempel AG Frankfurt a. M. Sechzig Jahre im Dienste der Lettern. 1895–1955. Frankfurt a. M. 1954, S. [21]–[39], hier S. [27]. 99 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (s. Anm. 96) (eingesehene Exemplare: Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Wm 5434 Bd1/2 sowie Freie Universität Berlin Philologische Bibliothek GM 4902 M281.930-1/-2). Buchblock 120 × 190 × 36/25 mm, Bundsteg 14 mm, Kopfsteg 15 mm, Außensteg 25 mm, Fußsteg 30 mm; das Frankfurter Exemplar trägt den Schutzumschlag der Wiener Bermann-Fischer-Ausgabe von 1938, vielleicht nachträglich ergänzt, aber auch gängige Praxis: »Bei neuen Bindequoten oder bei Nachdrucken wurden Titelbogen oder Umschläge ausgewechselt, so etwa bei Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹. E. R. Weiß zeichnete sein 1930 für Rowohlt entworfenes Einbandsignet auf den Bermann-Fischer Verlag um. So existieren Exemplare mit Wiener Impressum und Wiener Einband und Exemplare mit Berliner Impressum und Wiener Einband.« (Friedrich Pfäfflin: 100 Jahre S. Fischer-Verlag 1886–1986. Buchumschläge. Über Bücher und ihre äußere Gestalt. Frankfurt a. M. 1986, S. 18; eine Abbildung des überarbeiteten Schutzumschlags der Bermann-FischerAusgabe von 1938 ebd., S. 145) 100 KA/Transkriptionen/Heft 30/34.
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Abb. 13: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Berlin 1933, S. 9.
Abb. 14: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Berlin 1929, S. 12.
Abb. 15: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1930, S. 9.
Abb. 16: Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs. Roman. Berlin 1933, S. IX .
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Dass bei Hegner nur noch gesetzt, aber nicht mehr gedruckt werden konnte, lag daran, dass dieser 1930 im Zuge der Weltwirtschaftskrise die eigenständige Leitung seines Betriebs aufgeben musste.101 Ein Verkaufserfolg wurde der Roman trotz seiner drei Auflagen mit insgesamt 8000 Exemplaren (in zwei Verlagen und beim ersten Band) zu Lebzeiten nie; ob er es in einer anderen (kostengünstigeren und weniger gelungenen) typographischen Einrichtung geworden wäre, ist fraglich, und teuerer angesetzt noch weniger.102 Wie innovativ und zugleich zeitlos perfekt seine Gestaltung ausfiel, wird deutlich, sobald man andere zeitgenössische Romane, mit denen Modernität gemeinhin assoziiert wird, mit dem Mann ohne Eigenschaften vergleicht. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz erschien 1929 bei S. Fischer, die Startauflage betrug 10 000 Stück und war damit doppelt so hoch wie die von Musils Roman.103 Gesetzt und gedruckt wurde vom Bibliographischen Institut Leipzig, wo der Verlag auch andere auflagenstarke Bücher wie die Romane Thomas Manns herstellen ließ, für ein Projekt dieser Größenordnung keine ungewöhnliche Wahl. Bei konventionellem Seitenformat und Satzspiegel104 ist aus heutiger Sicht die Wahl von Leibniz- und NormalFraktur auffällig, die im 20., aber auch schon 19. Jahrhundert bei besonderen belletristischen Buchprojekten häufig durch feiner gestaltete Frakturen ersetzt wurden (s. Abb. 14). In Berlin Alexanderplatz kommen sie in unterschiedlichen Graden für die einleitenden Buchzusammenfassungen und den Inhaltssatz zur Anwendung, eine Differenzierung, die in späteren AntiquaNachdrucken des Romans nivelliert wurde. Es gibt weitere drucktechnische 101 Vgl. Schauer: Deutsche Buchkunst. Bd. I (s. Anm. 4), S. 236: »Im Jahr 1913 war der Hellerauer Verlag Jakob Hegner gegründet worden, und 1918 richtete der Verleger sich [. . .] eine Offizin ein, die bereits nach wenigen Jahren neben Poeschel & Trepte als die vornehmste von Deutschland galt. Sie arbeitete – auch für die umfangreichsten Arbeiten die Setzmaschine verschmähend – nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch u. a. für Rowohlt und Paul Cassirer, Lambert Schneider und S. Schocken, im übrigen in großem Umfang für bibliophile Unternehmungen in der Zeit von 1919–1924. Als die Ungunst der Zeit und die unwirtschaftliche Kühnheit seiner geschäftlichen Vorstellungen 1930 (im Jahr des Bankenkrachs) seine Hellerauer Unternehmungen zum Erliegen gebracht hatten, fand Hegner im Rahmen des großen Druckhauses O. Brandstetter, Leipzig, eine neue Entfaltungsmöglichkeit.« 102 Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1827, rechnet, von der Bermann-Fischer-Bestandsliste (s. Anm. 50) ausgehend, aus: »Vom ›Mann ohne Eigenschaften‹, Bd. I, waren 837 Exemplare übrig. Bei einer Gesamtauflage von 8000 Exemplaren waren seit 1930 7163 Exemplare verkauft. Vom ›Mann ohne Eigenschaften‹, Bd. II, waren 1102 Exemplare übrig. Bei einer Gesamtauflage von 5000 Exemplaren waren seit 1932 3898 Exemplare verkauft.« 103 Musil lamentierte: »Aber warum will Rowohlt nur fünftausend drucken? Das ist, angesichts eines Romans, gleich kein besonderes Zeichen seiner Erwartungen!« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Franz Blei, 24. 3. 1930) 104 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Berlin 1929 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 5 L 317, mit blauem Verlagseinband mit roter Schrift und gelben Linien von 145 × 207 mm und ursprünglichem gelben Kopfschnitt). Buchblock 125 × 204 × 30 mm, Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 24 mm, Fußsteg 32 mm.
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Besonderheiten wie die berühmte ikonographische Darstellung Berlins oder die Formeldarstellung im Zweiten Buch wie auch die Verwendung von Initialen. Gleichwohl muss Berlin Alexanderplatz auf die Avantgarde unter den Schriftsetzern und graphischen Gestaltern, zumindest aber auf die Vertreter der Neuen Typographie, anachronistisch gewirkt haben, gerade wegen Georg Salters aufregender Einband- und Umschlaggestaltung, dem wohl berühmtesten buchgestalterischen Entwurf der Weimarer Republik.105 Döblins Konzept eines Bänkelsängervolksbuchs mag dadurch typographisch umgesetzt worden sein, die sprachlichen und stilistischen Besonderheiten des Romans, besonders sein moderner Montagestil, werden durch den Fraktursatz eher verdeckt. Geschadet hat es kaum: Berlin Alexanderplatz erschien im November 1929; bis zum November 1932, wenig später kam der zweite Band des Mann ohne Eigenschaften heraus, war Die Geschichte vom Franz Biberkopf bereits im 46.–50. Tausend, Verkaufszahlen, die Musil zu Lebzeiten mit all seinen Büchern nicht erreichen sollte.106 Noch drastischer fällt der Unterschied aus, wenn man ein Buch vergleichend heranzieht, das als einer der größten verlegerischen Erfolge der Weimarer Republik gelten kann, die Volksausgabe der Buddenbrooks, ebenfalls von 1929. Thomas Manns erster Roman, der sich nicht schlecht verkaufte, aber von dem trotz eines Verkaufspreises von gebunden 6,– Mark, geheftet 5,– Mark seit dem Erscheinen der einbändigen Ausgabe 1903 nie mehr als ca. 6000 Stück jährlich abgesetzt werden konnten, wurde 1929 als wohlfeile Volksausgabe (mit Druckvermerk 1930) neu aufgelegt.107 Diese kostete auf 105 Vgl. zu Salters Einband- und Umschlaggestaltungen generell Jürgen Holstein: Georg Salter. Bucheinbände und Schutzumschläge aus Berliner Zeit 1922–1934. Mit einer Auswahl-Bibliographie zur Buchumschlag-Literatur. Berlin 2003. 106 Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 393–396. Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1827, berechnet anhand der unter Anm. 50 angeführten Aufstellung von 1938, die »verkaufte Gesamtauflage zu Musils Lebzeiten dürfte die Zahl 35 000 keinesfalls überstiegen haben.« Der bestverkaufte Roman der Weimarer Republik war Remarques Im Westen nichts Neues, den Bermann-Fischer gerne bei S. Fischer verlegt hätte, der 1929 aber bei Ullstein erschien und schon im Folgejahr eine Millionenauflage erreichte; vgl. Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 366–368, u. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (s. Anm. 10), S. 343 [314]. 107 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. 401. bis 450. Tausend der ungekürzten Volksausgabe 1930 (586. bis 635. Auflage aller Ausgaben). Berlin 1930 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 12 X 110, in grauem Leinenverlagseinband). Buchblock 115 × 183 × 30 mm, Bundsteg 11 mm, Kopfsteg 16 mm, Außensteg 17 mm, Fußsteg 20 mm. Vgl. Mann: Buddenbrooks (s. Anm. 38) u. Thomas Mann: Buddenbrooks: Verfall einer Familie. Roman. Zweite Auflage. Berlin 1903. Die zweibändige Erstausgabe von 1901 wirkt durch A. Schäffers Jugendstil-Einbandgestaltung antiquierter als die einbändige von 1903 mit der farbigen Umschlagzeichnung von Wilhelm Schulz. Zur Publikations- und Verkaufsgeschichte der Buddenbrooks vgl. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt a. M. 1970, S. 301–306; zur Umschlaggestaltung verschiedener Ausgaben Georg Kurt Schauer: Das Äußere der ›Buddenbrooks‹, in: Almanach. Das achtundsechzigste Jahr. Frankfurt a. M. 1954, S. 92–96 (mit Tafelteil); Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 129– 131; Pfäfflin: Buchumschläge (s. Anm. 99), S. 58–60; mit farbigen Abbildungen dokumentiert
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736 Seiten in Ganzleinenausstattung 2,85 Mark und wurde am 7. November 1929 auf das Weihnachtsgeschäft kalkuliert in 150 000 Exemplaren auf den Markt gebracht. Fünf Tage später wurde dem Autor der Literaturnobelpreis zugesprochen, die Startauflage war umgehend verkauft, kletterte noch vor Weihnachten auf 650 000 Stück und betrug bis zum November 1932 fast eine Million Exemplare.108 Sieht man sich diese mit einem Schutzumschlag von Wilhelm Wagner ausgestattete »ungekürzte Volksausgabe« näher an, wirkt die etwas bösartige Charakterisierung, Buddenbrooks sei Theodor Fontanes gelungenster Roman, sogleich glaubhaft.109 Gesetzt wurde mit auffallend schmalen Rändern aus der Lutherschen Fraktur, gedruckt recht sorglos (manche Seiten weisen zu viel, manche zu wenig Farbe auf) auf nicht ausreichend opakem Papier (s. Abb. 15). Für einen deutschsprachigen Roman markiert das zu dieser Zeit eine nicht außergewöhnliche, wenngleich spürbare Traditionalität, die weniger mit der ausführenden Druckerei (Oscar Brandstetter in Leipzig) als mit der Auflagenhöhe zusammenhängt. Die Volksausgabe der Buddenbrooks war, wie andere vergleichbare »ungekürzte Volksausgaben« auch, als wichtiges Marketinginstrument dieser Zeit auf Platzersparnis, hohe Auflagenzahlen und einen geringen Verkaufspreis hin angelegt und wurde bewusst auf günstigem Papier gedruckt, die Verwendung einer robusten Fraktur bot sich (im Gegensatz zu einer feineren, aber empfindlicheren Drucktype) an, auch als ideologisch motivierte Wahl und als Indikator von Volksnähe. Die typographische Einrichtung war somit der Forderung geschuldet, keine Experimente einzugehen und verlegerische Risikominimierung zu betreiben, der Erfolg hätte ausbleiben und der geringe Preis zu Verlusten führen können. Im Unterschied zu Ullstein oder Knaur, wo Mann ab 1927 seine eigene Romane der Welt-Reihe herausgab, hatte man bei S. Fischer mit preisgünstig kalkulierten und in extrem hohen Auflagen gedruckten Büchern bis dato keine Erfahrung gesammelt.110 Es wurde aber auch nicht einfach eine beliebige bereits vorliegende Ausgabe noch einmal preisgünstig satzidentisch auf den Markt gebracht – die Gesammelten Werke Manns führte Buddenbrooks als Bd. I seit 1922 an –, sondern neu gesetzt und noch knapper kalkuliert. Das brachte den Roman »ungekürzt« auf den bis dahin geringsten Umwerden sie auch in Hans-Peter Haack: Erstausgaben Thomas Manns. Ein bibliographischer Atlas. Leipzig 2011, S. 20–30. 108 Vgl. Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 368–376, u. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels (s. Anm. 10), S. 339 f. [310 f.]. 109 Besonders, da für beide Autoren und deren »Wohlfeile Ausgaben« auf zwei gegenüberliegenden »Verlagsanzeigen« geworben wird; Mann: Buddenbrooks (s. Anm. 107), S. 732 f. Eine Abbildung des Umschlags mit Bauchbinde des Erstdrucks bietet Haack: Erstausgaben (s. Anm. 107), S. 31. 110 Vgl. den Vortrag vom 8. 10. 1930 vor dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller: Gottfried Bermann-Fischer: Über die billigen Sonderausgaben moderner Autoren, in: Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 383–386.
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fang, verstimmte aber zugleich auch frühere Käufer der Gesammelten Werke nicht.111 Allerdings waren auch Manns Romane der Folgezeit, bei einem Autor, der nach der Zuerkennung des Nobelpreises über jeden Verkaufszweifel erhaben war, eher konservativ gestaltet, wie am Joseph-Roman zu sehen ist. Die Geschichten Jaakobs erschien 1933 mit einer Startauflage von 10 000 Stück auf LXIV plus 407 Seiten und war an Karl Erich Mendes Gestaltung der Gesammelten Werke (Ripsleineneinband mit Goldprägung und Signet mit Lyra, Pfeil und Bogen und TM-Initialen, zweifarbiges rot-schwarzes Titelblatt etc.) ausgerichtet. Der Schutzumschlag wurde nach einem Entwurf von Karl Walser gefertigt, Schriftgrad, großzügiger Durchschuss und UngerFraktur waren ebenfalls den etwas antiquierten Vorgaben der Werke-Ausgabe verpflichtet (s. Abb. 16). Der junge Joseph wurde 1934 auf 343 Seiten wieder in 10 000 Exemplaren gedruckt.112 Monumental wirkt die Pagina zwischen zwei Geviertstrichen am Seitenkopf (bei »Vorspiel: Höllenfahrt« aus römischen Ziffern), gleichzeitig wurde für die Werke-Ausgabe eher billiges Papier verwendet (Buchblockdicke 38 mm bzw. 30 mm), ein auf Großauflage hin optimiertes Druckobjekt mit dem Anschein hoher Wertigkeit. Trotz der Exil-Situation des Bermann-Fischer-Verlags erschien Joseph in Ägypten, der dritte Band, in nahezu identischer Ausstattung: Gesetzt wurde noch beim Bibliographischen Institut Leipzig, der Druck schon von Waldheim-Eberle in Wien ausgeführt, auf voluminöserem Papier (Buchblockdicke 111 Das zeigt ein Vergleich verschiedener Buddenbrooks-Ausgaben: Während die ersten aus Normal-Frakturen (vgl. Anm. 33) gesetzten und von Brandstetter in Leipzig produzierten Ausgaben (s. Anm. 107) auf über 1100 Seiten kommen (566 plus 539 Seiten mit je fünf Seiten Verlagsanzeigen; die späteren einbändigen Auflagen sind satzidentisch zur Erstausgabe mit neu einsetzender Paginierung und oft nur separat gebunden bzw. später wieder in zwei Bänden verkauft worden), hat schon die anlässlich des 50. Tausends veranstaltete und von Emil Preetorius gestaltete zweibändige »Jubiläumsausgabe«, die aus der Unger-Fraktur gesetzt wurde, unter 1000 Seiten (499 plus 477 ohne Verlagsanzeigen): Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Jubiläumsausgabe. Fünfzigste Auflage. Berlin 1910. Spätere Auflagen sind ein- wie zweibändige satzidentische Nachdrucke der Jubiläumsausgabe in unterschiedlichen Einbänden, die mit dem 119.–128. Tausend ab 1922 auch Bd. I der Gesammelten Werke bildete. Die Antiqua-Ausgabe der Buddenbrooks von 1928 (s. Anm. 118 u. Abb. 17) weist 740 Seiten (plus Verlagsanzeigen) auf, satzidentisch zu ihr gab es eine Lizenzausgabe für den Volksverband der Bücherfreunde im Wegweiser-Verlag: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Berlin [1928]. Eine Lizenzausgabe der 736-seitigen Volksausgabe von 1929/30 gab es in Halbleder zudem bei der Deutschen Buch-Gemeinschaft, gedruckt bei A. Seydel & Cie in Berlin: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin [1930]. 112 Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs. Roman. Berlin 1933 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 38/93/35108(4)-1, in Leinen mit gefärbtem Kopfschnitt). Buchblock 119 × 183 × 38 mm, Bundsteg 14 mm, Kopfsteg 20 mm, Außensteg 22 mm, Fußsteg 27 mm; Thomas Mann: Der junge Joseph. Roman. Berlin 1934 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 38/93/35108(4)-2, in Leinen mit gefärbtem Kopfschnitt). Buchblock 119 × 183 × 30 mm, Bundsteg 14 mm, Kopfsteg 21 mm, Außensteg 22 mm, Fußsteg 26 mm.
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48 mm) bei 756 Seiten in einer Auflage von 10 000 Stück, wieder nach den Gestaltungsvorgaben der Gesammelten Werke.113 Band IV, Joseph der Ernährer, sollte erst 1943 in einer Auflage von 5500 Exemplaren herauskommen, ohne Umschlagzeichnung Walsers und in der Caslon-Antiqua, gedruckt von Petterson in Stockholm;114 von da an wurde Thomas Mann, nicht nur im Rahmen der Stockholmer Gesamtausgabe, sondern auch in späteren Einzelausgaben, aus Antiqua-Typen gesetzt.115 Der Weg des Bermann-Fischer-Verlags ins Exil hatte auch dessen Bücher gestalterisch internationalisiert. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die von E. R. Weiß gestaltete und in 10 000 Exemplaren vom Bibliographischen Institut Leipzig produzierte »Wohlfeile Dünndruckausgabe« der Erzählenden Schriften von Thomas Mann von 1928. Sie umfasst in drei in blaues Leinen mit Goldprägung gebundenen handlichen Bänden Buddenbrooks, Königliche Hoheit und Die Novellen sowie Der Zauberberg. Die Texte wurden aus der Caslon gesetzt und damit aus einer Antiquaschrift, was zumindest bei Neuauflagen von ursprünglich bereits in Fraktur erschienenen Texten eine Option darstellte, selbst bei Thomas Mann (s. Abb. 17). Vergleicht man Buddenbrooks in dieser Dünndruckausgabe der Erzählenden Schriften mit dem Druck ihrer Erstausgabe oder der Volksausgabe von 1929, ist gleichwohl auffällig, wie stark sie diesen verhaftet ist (s. Abb. 2, Abb. 15).116 Auf die Auszeichnung der im Fraktursatz gesperrten Anteile durch Kursivierung wurde verzichtet, sondern wieder gesperrt, gleichwohl ist der Roman durch die Verwendung von Kolumnentiteln wesentlich besser strukturiert. Etwas plump wirkt nur das unausgewogene Verhältnis der Stege, trotzdem ist diese Ausgabe der Buddenbrooks die eleganteste, die zu Lebzeiten ihres Autors erschien. Interessant ist sie nicht zuletzt, weil hier zum ersten Mal die sonst auffälligen fremdsprachigen Dialogpartien nicht mehr durch Schriftwechsel markiert sind, was aber auch im Zauberberg dieser Dünndruckausgabe der Fall ist. 113 Thomas Mann: Joseph in Ägypten. Roman. Wien 1936 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 38/93/35108(4)-3, kartoniertes Exemplar mit von der Firma Brüder Rosenbaum Wien gedrucktem Schutzumschlag). Buchblock 119 × 187 × 48 mm, Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 23 mm, Außensteg 21 mm, Fußsteg 29 mm. Vgl. Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 477. 114 Vgl. die Abbildungen von Karl Walsers Schutzumschlägen in Pfäfflin: Buchumschläge (s. Anm. 99), S. 136 f. u. 143, sowie Haack: Erstausgaben (s. Anm. 107), S. 148–153. 115 Thomas Mann: Joseph der Ernährer. Roman. Stockholm 1943 (eingesehenes Exemplar: Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar 115406-A, ockerfarbener Leineneinband 120 × 197 mm). Buchblock 192 × 113 × 34 mm, Bundsteg 10 mm, Kopfsteg 15 mm, Außensteg 21 mm, Fußsteg 28 mm. Haack: Erstausgaben (s. Anm. 107), S. 154, bietet eine Abbildung des Schutzumschlags. 116 Thomas Mann: Die Erzählenden Schriften. Gesammelt in drei Bänden. Dünndruckausgabe. Erster Band: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. [171. bis 180. Auflage aller Ausgaben des Romans »Buddenbrooks«.] Berlin 1928 (eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin Yc 11100/30–1 sowie Universitätsbibliothek Wuppertal CQPB 1057–1, beide in blauem Originalleineneinband von 110 × 178 mm mit Leseband). Buchblock 102 × 175 × 18 mm, Bundsteg 8 mm, Kopfsteg 14 mm, Außensteg 13 mm, Fußsteg 14 mm.
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Abb. 17: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1928, S. 11.
Abb. 18: Hans Henny Jahnn: Perrudja. Roman. Berlin 1929, Bd. I, S. 16.
Abb. 19: James Joyce: Ulysses. Zürich 1930, Bd. I, S. 3.
Abb. 20: Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Roman. Leipzig, Mährisch-Ostrau [1933], S. 9.
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Dass Der Mann ohne Eigenschaften wie zuvor die Drei Frauen aus einer Antiqua gesetzt wurde, war daher ungewöhnlich, wenn auch nicht singulär, nicht einmal für den Erstdruck eines Romans um 1930.117 So erschien 1929 auch Hans Henny Jahnns Perrudja in zwei stattlichen Bänden auf 431 bzw. 437 Seiten bei Kiepenheuer großzügig mit viel Durchschuss (doch ohne Einzüge) aus der ATF-Bodoni gesetzt.118 Diese von Morris Fuller Benton neu gestaltete Schrift auf Grundlage von Bodonis klassizistischen Originalen kam 1910/1911 bei ATF (American Type Founders) als Handsatzschrift heraus und stand umgehend auch für das Monotype- und später für das Linotype-Satzsystem zur Verfügung, viele europäische Schriftgießereien führten die ATF-Bodoni bald ebenfalls (s. Abb. 18). Das Impressum ruft Exklusivitätsgesten auf, die es bei Musil nur bei den Pressendrucken gab, Perrudja »wurde im Auftrage der Lichtwark-Stiftung zu Hamburg in einer einmaligen Auflage von 1020 Exemplaren von der Buchdruckerei Gerhard Stalling A. G., Oldenburg und Hamburg, im Sommer 1929 gedruckt. Zwanzig Exemplare, numeriert I–XX, wurden auf Van-Gelder-Velinpapier abgezogen und vom Verfasser signiert.«119 Damit wurde gleichsam deklariert, dass Perrudja als europäischer Roman auch in ganz Europa gelesen zu werden verdiente. Dasselbe gilt für Georg Goyerts deutsche Erstübersetzung des Ulysses, die 1930 im Rhein-Verlag Zürich erschien (ihr ging 1927 ebenfalls im RheinVerlag ein dreibändiger Privatdruck voraus): Dieses Buch der Buchdruckerei 117 Schauer: Deutsche Buchkunst. Bd. I (s. Anm. 4), S. 239, weist darauf hin, »dass Hegner in den zwanziger Jahren Fraktur und Antiqua nebeneinander verwendete. Erst nach und nach – in den dreißiger Jahren aber entschieden – tra[t] die [. . .] Antiqua [. . .] beherrschend in den Vordergrund.« Vergleichbar schreibt Kastner: Der Buchverlag der Weimarer Republik (s. Anm. 23), S. 158: »Mit einem Anteil von 84 Prozent dominiert die Fraktur 1926 deutlich die Schöne Literatur. Doch ihr Einfluss geht im Laufe der Jahre merklich zurück: 1928 sind noch 79 Prozent der Publikationen in Frakturschrift gehalten, 1930 nur mehr 72 Prozent und 1932 schließlich nur mehr 65 Prozent. Auch hier weisen die letzten Jahre der Republik einen unaufhaltsamen Siegeszug der Antiqua nach. Sie ziert 1932 über ein Drittel aller Werke der Schönen Literatur.« Vgl. auch Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens [2007] (s. Anm. 23), S. 367 f.: »Das Verhältnis von Fraktur und Antiqua ist im Gesamtverlag 1926 relativ ausgewogen. [. . .] Bis zum Ende der Republik wandelt sich das Bild: Die Antiqua überwiegt nun im Gesamtverlag mit einem Anteil von knapp 60 Prozent. [. . .] Einen starken Zuwachs an Antiqua-Schrifttum verzeichnen über die Jahre auch alle anderen, bislang eindeutig durch die Fraktur geprägten Verlagszweige. So [. . .] ist jedes vierte Jugend- bzw. Kinderbuch sowie jedes dritte belletristische Werk nicht mehr in Fraktur gehalten.« 118 Hans Henny Jahnn: Perrudja. Roman. Berlin 1929 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 2 L 143–1/2, Nummer 17 der laut Impressum zwanzig gedruckten Velin-Exemplare in originalem Halbledereinband von 153 × 225 mm mit Titelschildchen und Goldprägung, aber ohne Autorsignatur). Maße ca. (Bde. I u. II) Buchblock 148 × 221 × 35 mm, Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 24 mm, Außensteg 30 mm, Fußsteg 50 mm. 119 Jahnn: Perrudja. Bd. II (s. Anm. 118), S. 438. Die auf Velin-Papier, einem besonders glatten und gleichmäßigen Papier, das zu dieser Zeit nur noch selten verwendet wurde, weil maschinell produzierte Papiere ohnehin gleichmäßig ausfallen, gedruckten Exemplare gerieten wohl nicht in den Handel, stellten also in diesem Fall keine öffentlich wählbare Ausstattungsvariante des Romans dar.
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G. Binkert Winterthur wurde in zwei Bänden auf 632 plus 611 Seiten aus der ATF-Bodoni gesetzt, während für literarische Übersetzungen ins Deutsche zu dieser Zeit oft gebrochene Schriften verwendet wurden (s. Abb. 19). Er nähert sich durch die Wahl einer klassizistischen Satzschrift, auffällig sind auch die großen Initialien und fehlenden Einzüge, dem in der Imprimerie Darantière in Dijon gedruckten englischsprachigen Original, das 1922 bei Shakespeare & Company in Paris erschien, an.120 Ein letztes Beispiel zum Roman um 1930, bevor abschließend noch einmal Musils späte Bücher im Zentrum stehen, stellt Célines Voyage au bout de la nuit bzw. deren deutsche Übersetzung dar. In der Druckerei, die Bd. I und II des Mann ohne Eigenschaften gedruckt hatte, aber auch als Verlag fungierte, Kittl in Leipzig und Mährisch-Ostrau, erschien ein Jahr nach der Originalausgabe ein dicker, 600-seitiger Roman.121 Der Übersetzer ist nicht vermerkt, es war Isak Grünberg, dessen Übertragung zusammen mit den Verlagsrechten in die mährische Provinz verscherbelt wurde, weil Piper im nationalsozialistischen Deutschland ein solches Buch wohl nicht mehr verlegen wollte.122 Reise ans Ende der Nacht tritt auch in der Übersetzung nicht wie ein deutscher Roman auf, eine klassizistische Antiqua wie die ATF-Bodoni, die auch bei Jahnns Perrudja und Joyces Ulysses verwendet wurde, gibt es in deutschsprachigen literarischen Texten um 1930 nicht häufig, besonders die hier gesetzte ›tz‹-Ligatur ist selten zu finden (s. Abb. 20). Der Druck orientiert sich gleichsam an der Originalausgabe. Das sieht man, sobald man die 1932 erschienene Erstausgabe des Romans heranzieht, die bei Denoël & Steele in Paris auf 624 Seiten erschien: Ein typisches französisches Verlagserzeugnis, aus einer Didot gesetzt und in der Grande Imprimerie des Troyes auf holzhaltigem Papier gedruckt.123 Es bleibt damit auch in der Übersetzung etwas 120 James Joyce: Ulysses. [Zwei Bände. Übersetzt v. Georg Goyert.] Zürich 1930 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 1 M 51–1/2). Buchblock 115 × 182 × 29 bzw. 30 mm (beschnitten), Bundsteg 12 mm, Kopfsteg 16 mm, Außensteg 22 mm, Fußsteg 29 mm. 121 Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. [Übersetzt v. Isak Grünberg.] Roman. Leipzig, Mährisch-Ostrau [1933] (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Universitätsbibliothek 11 N 3). Buchblock 128 × 199 × 43 mm (beschnitten), Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 18 mm, Außensteg 18 mm, Fußsteg 28 mm. 122 Julius Kittls Nachfolger Keller & Co gehörten über eine Aktienteilhaberschaft Anteile am Rowohlt-Verlag, der in eine KGaA umgewandelt worden war. Rowohlt druckte dort bevorzugt, bei Kittl konnten bis 1938 noch Bücher erscheinen bzw. im Vertrieb bleiben, die im nationalsozialistischen Deutschland indiziert waren bzw. als zu riskant gelten mussten. Vgl. Füssel: Belletristische Verlage (s. Anm. 82), S. 31. 123 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuit. Roman. Paris 1932 (eingesehenes Exemplar: Freie Universität Berlin Philologische Bibliothek Fqr/C 72/1); der originale Verlagseinband war kartoniert, im Impressum heißt es (in Versalien): »Il a été tiré de cet ouvrage dix exemplaires sur papier vergé d’Arches, numérotés de 1 à 10, et cent exemplaires sur Alfa, numérotés de 11 à 110, qui constituent l’édition originale.« Buchblock 110 × 175 × 35 mm (beschnitten, neugebunden und mit rotem Kopfschnitt versehen), Bundsteg 13 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 13 mm, Fußsteg 17 mm. Das ebenfalls eingesehene Exemplar der Pfälzischen Landesbiblio-
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zu spüren von der Neuheit dieses provokanten Romans mit seiner atemlosen Zeichensetzung, seinem Übermaß an Ausrufungs- und Fragezeichen und vor allem Dreipunkten und der Herausforderung, die dieser weltumspannende Text seinerzeit bedeutet hat; trotzdem folgt er im Vergleich zum Mann ohne Eigenschaften einer traditionelleren Einrichtung.
8. Musils späte Buchpublikationen: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Nachlass zu Lebzeiten und Über die Dummheit Eine besondere Stellung kommt der Törleß-Ausgabe zu, die 1930/31 bei Rowohlt erschien; sie ist die einzige Buchpublikation Musils zu Lebzeiten, die eine bildhaft realistische Umschlaggestaltung (Verlagssignets etc. nicht mitgezählt) aufweist, auf einem Text basierend, der zu diesem Zeitpunkt bereits in anders eingerichteten Buchausgaben vorlag. Dieser Törleß wurde aus der Caslon-Antiqua gesetzt, also erstmals nicht mehr aus einer Fraktur, Musils Roman erschien bei Rowohlt 20 Jahre nach der Müller-Veröffentlichung erstmalig nicht mehr als Titelauflage, sondern als eigenständiger und sogar stilistisch überarbeiteter Text.124 Gedruckt wurde 1930 in einer Auflage von 5000 Exemplaren bei Haag-Drugulin in Leipzig, einem Zusammenschluss der berühmten (aber wirtschaftlich angeschlagenen) Drugulin-Offizin mit der Druckerei F. E. Haag, wo zu diesem Zeitpunkt bibliophile Drucke sowie gehoben ausgestattete Gebrauchsbücher entstanden.125 Die Auslieferung erfolgte Ende Dezember 1930, zu spät für das Weihnachtsgeschäft, das Titelblatt trägt die Jahreszahl 1931, das Impressum 1930. Diese Ausgabe letzter Hand des Törleß verpasst etwas die Chance, die für den Mann ohne Eigenschaften gewählte typographische Einrichtung oder eine andere zeitgemäßere Gestaltung zu wählen; gleichwohl konnte zur Fraktur nicht mehr zurückgekehrt werden, der Rowohlt-Törleß schließt an die 1930er Jahre an und ist zumindest modern intendiert. Das gelingt nur in Teilen, weil offenbar von den Einrichtungen der Vorgängerdrucke zu viel übernommen wurde: Immer noch vorhanden sind die thek Speyer 2/1773, Buchblock 112 × 176 × 35 mm (beschnitten und neugebunden), Bundsteg 13 mm, Kopfsteg 18 mm, Außensteg 15 mm, Fußsteg 17 mm, ist u. U. eines der Exemplare, die Céline nachträglich in Leder binden ließ, um sie zu verschenken; auf diesem teilweise arg beschädigten Exemplar ist ein Lederrücken aufgeklebt, es trägt auf dem Schmutztitel die handschriftliche Widmung: »A Mr Henri Toures [?]/Hommage de l’auteur/Louis Celine [sic]«. 124 Musil: Törleß (s. Anm. 46) (eingesehenes Exemplar: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung GEW 23176, unbeschnittener Kartoneinband 129 × 205 mm). Buchblock 127 × 203 × 18 mm, Bundsteg 15 mm, Kopfsteg 21 mm, Außensteg 31 mm, Fußsteg 35 mm (alle Maße unbeschnitten). Der Verkaufspreis betrug in »Leinwand 6,50 RM« (Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1915). 125 Vgl. Schauer: Deutsche Buchkunst. Bd. I (s. Anm. 4), S. 196–198.
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Linie (80 mm lang, nun allerdings mit ca. 0,5 mm durchgehend dick) sowie die aus jeweils 10 Geviertstrichen gebildeten Unterbrechungen zwischen den Kapiteln, jedes Kapitel beginnt 40 mm abgesenkt (s. Abb. 21). Es gibt immer noch Initialen bzw. das jeweils erste Wort eines Kapitels beginnt mit Versalien, gefolgt von Kapitälchen, kursiv wurde nur das Maeterlinck-Motto gesetzt, sonst wurden Auszeichnungen durch Sperrung vorgenommen. Dabei kommen 35 Zeilen auf jede Seite mit ca. 50 Zeichen pro Zeile, bei einem Umfang von 237 Seiten (davon zwei Vacat und eine Verlagsanzeige), neuartig wirkt (wie im Mann ohne Eigenschaften) die Verwendung von Guillemets. Gedruckt wurde auf Werkdruckpapier (Buchblockdicke 18 mm), es gibt einen schönen Karton- bzw. Leineneinband mit einer von E. R. Weiß stammenden Einbandillustration (s. Abb. 22). Sie zeigt einen uniformierten Jüngling vor einem Gebäude im Gras liegen, die zu Beginn des achten Kapitels geschilderte Szene: »Da Törleß in seiner Unruhe keine Lust zu weiterem Spaziergange hatte, umschritt er bloß das Gebäude und warf sich am Fuße der fast fensterlosen Seitenmauer in das fahle, raschelnde Gras.« Sein sich anschließendes Erlebnis, alles »als etwas Doppelsinniges, zu empfinden«, wird durch diese Illustration als zentral für den Roman ausgewiesen.126 Mit Nachlass zu Lebzeiten, Ende 1935 (datiert auf 1936) im Humanitas-Verlag in Zürich erschienen, passiert buchtechnisch noch einmal etwas Auffälliges.127 Interessant ist die Schweizer Typographie und Orthotypographie, die zur Auflösung von Umlauten (›Ue‹ statt ›Ü‹) und zur Vermeidung von ›ß‹ führt, weswegen der Titel korrekt Nachlass zu Lebzeiten lautet, obwohl das bis heute nur wenige Kataloge und kaum eine Bibliographie richtig verzeichnen. Nachlass zu Lebzeiten ist ein sorgfältig ausgeführtes Klein-Oktav auf voluminösem Papier, seine 220 Seiten ergeben einen Buchblock von 20 mm Stärke, gesetzt wurde aus einer der interessantesten Antiquaschriften 126 Musil: Törleß (s. Anm. 46), S. 98 f. 127 Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten. Zürich 1936 (eingesehene Exemplare: Staatsbibliothek Berlin 317659, in Originalleineneinband mit rot unterlegtem Goldprägetitel [I . Auflage] , sowie Freie Universität Berlin Philologische Bibliothek Pm 2970/129, beschnitten und neugebunden [II . Auflage]). Buchblock 107 × 175 × 19 mm, Bundsteg 12 mm, Kopfsteg 17 mm, Außensteg 23 mm, Fußsteg 30 mm sowie Buchblock 102 × 169 × 19 mm, Bundsteg 11 mm, Kopfsteg 14 mm, Außensteg 20 mm, Fußsteg 28 mm. Simon Menzels Humanitas-Verlag, eine Neugründung von 1934, ermöglichte es besonders jüdischen Autoren, die im Deutschen Reich nicht mehr verlegt wurden, weiterhin einen Verlag zu behalten und ein Auskommen zu haben. Zu den Titeln, die hier bis 1944 erstmalig erschienen, zählen u. a. Ernst Glaesers Der letzte Zivilist (1935), Friedrich Torbergs Abschied (1937), Ernst Weiß’ Der Verführer (1938) oder Sammlungen wie Alfred Polgars Sekundenzeiger (1937), später aber auch Übersetzungen englischsprachiger Autoren wie John Steinbeck (Die Früchte des Zornes, 1940, u. Der Mond ging unter, 1943) oder Sinclair Lewis (Bethel Merriday, 1943). Musil hat sich bei diesem Verleger (»meinem Zufallsund Interimsverleger Dr. Menzel«) nicht wohlgefühlt, vgl. seine Briefe bzw. Briefentwürfe an Menzel vom 20. und 23. 11. bzw. vom 4. 12. 1935 sowie an Curt Glaser vom 11. 11. 1935 (KA/ Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938). Der Verlag ging 1947 in den von Menzel gemeinsam mit seiner Frau Sophie gegründeten Diana-Verlag Zürich über, der heute zu Random House gehört.
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Abb. 21: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Berlin 1931, S. 9.
Abb. 22: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Berlin 1931, Umschlag.
Abb. 23: Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten. Zürich 1936, S. 7.
Abb. 24: Robert Musil: Über die Dummheit. Wien 1937, S. 7.
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dieser Jahre, der 1923 für Hand- und Linotype-Satz bei Stempel herausgekommenen Ratio Latein von Friedrich Wilhelm Kleukens (s. Abb. 23).128 Der Band enthält keine Angaben zum Druckort, nur »Printed in Switzerland«; die Zeilenblöcke werden vertikal ausgeglichen, es gibt auffällige Zwischentitel und jeweils 31 Zeilen, aber keine Verwendung des für die Ratio Latein grundsätzlich verfügbaren Kursiv-Schnitts, stattdessen Sperrungen, was für Druckerzeugnisse aus Ländern mit vorherrschender Fraktur-Tradition nicht ungewöhnlich ist. Gleichwohl scheint es zwischen Musil und seinem Verleger Simon Menzel Ärger wegen der Ausstattung gegeben zu haben, bezogen auf den Verkauf des Buches auch in kartonierter Ausgabe.129 Dieser scheint noch schleppender verlaufen zu sein als der der Vereinigungen, Corino schreibt dazu: »Von der 3000er-Auflage wurden der Überlieferung nach nur (ein paar) hundert Exemplare verkauft. Den größten Teil scheint der Verleger bald verramscht zu haben.«130 Trotz (oder gerade wegen) dieser Misslichkeiten und Missverständnisse, Unzufriedenheiten und empfundenen Zurücksetzungen gibt es zu keiner Buchpublikation Musils so umfassende Zeugnisse von der Beteiligung des Autors an der Drucklegung. So zeigen seine als Briefkonzept überlieferten Äußerungen gegenüber Menzel vom 27. November 1935, wozu auch die Briefe bzw. Briefkonzepte vom 23. und 30. November hinzuzunehmen sind, welch reges Interesse Musil an der typographischen Einrichtung seiner Texte hatte und wie aufmerksam er diese verfolgte. Dabei geht es nicht nur um vergleichsweise unspektakuläre Fragen wie die nach der Reihenfolge sowie Gruppierung einzelner Texte und deren Nummerierung, sondern auch um die Stellung von Vacat-Seiten, die Positionierung des Inhaltsverzeichnisses oder eine Schriftgradabänderung auf der Titelseite. Musil hat all diese Korrekturwünsche nicht nur geäußert, sondern zudem in den Korrekturfahnen vermerkt, auch wenn das Buch ohne nochmalige Rücksprache mit dem Autor gedruckt wurde. Er hat sich in persönlichen Gesprächen, telephonisch, telegraphisch und via Express- und Normalbrief an der Gestaltung und Drucklegung von Nachlass zu Lebzeiten beteiligt, hat nicht einfach unwidersprochen angenommen, was ihm vorgelegt wurde, sondern offenbar sehr genaue Vorstellungen davon gehabt (und geäußert), wie sein Buch zu drucken sei.131 Es liegt nahe, auch für Musils andere Bücher, zu denen keine 128 Vgl. Chronik der D. Stempel AG (s. Anm. 98), S. [26]. 129 Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Simon Menzel, 20. 11. 1935. 130 Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1220. 131 Vgl. KA/Transkriptionen/Weitere Mappen/Briefkonzepte I/27: »Auch habe ich noch keine Nachricht von Ihnen in der Frage des Umbruchs der ›Bilder‹. Ich will natürlich den Umbruch nicht zweimal korrigieren,. Ich habe Ihnen tel. und schriftl. meine Einwände bekanntgegeben, sollte Sie. sollten Sie Ich habe das Gefühlen Eindruck, daß Sie sich diesen nicht entziehen werden; sollten Sie aber doch die erste Form des Umbruchs beibehalten wollen, so werde ich mich dem natürlich nicht widersetzen, wenn ich es auch für sehr unglücklich hielte: aber in jedem
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vergleichbaren Zeugnisse vorliegen, ein nicht minder großes Interesse dieses Autors an möglichst exakten Umsetzungen spezifischer typographischer Wünsche anzunehmen, ob sie ihm nun zugestanden wurden oder nicht.132 Seine Stellungnahme in einem Briefkonzept an Menzel können exemplarisch für ein typographisches Interesse auch an seinen früheren Büchern stehen, die Genauigkeit der Terminologie ist dabei auffällig: Ich habe gestern den Probe=Umbruch erhalten u Ihnen sofort depeschiert, denn ich halte es für unbedingt geboten, daß jedes Stück auf neuer Seite beginnt. Es ist allgemein so üblich (s zb. die Altenberg- oder Polgarausgaben), (möchte In Continuo denken, setzt unwillkürlich herab) und besonders hier nötig wenn es sich um dichterische kleine Prosa handelt, und besonders in unserem Fall nötig, weil sonst die I . Abteilung quantitativ in ein Mißverhältnis zu den anderen gerät. Am Titelblatt habe ich heute eine Umstellung angezeichnet Dagegen halte ich es für möglich, an den Grenzen der Abteilungen je 3 Seiten zu sparen u habe das Seite 12 bzw. 15 notiert; ich weiß allerdings nicht, ob es ausstattungstechnisch richtig ist. Am Titelblatt habe ich Voranstellung des Namens angezeichnet, um was den Titel stärker macht. Mit der a einer ausgiebigen Verkleinerung des dort angewandten Schriftgrads bin ich einverstanden.133
Musils letzte Buchpublikation zu Lebzeiten (die Neuauflage des ersten Bandes vom Mann ohne Eigenschaften bei Bermann-Fischer 1938 kann außer acht gelassen werden, weil sie typographisch der Erstausgabe folgt) erschien wie Nachlass zu Lebzeiten nicht mehr in Deutschland, sondern im nach Wien umgesiedelten Bermann-Fischer-Verlag, also in einem Exilverlag.134 Die Werkbund-Rede Über die Dummheit folgt wie alle in der Schriftenreihe Ausblicke publizierten Texte einer Einrichtung, die mit Thomas Manns Freud und die Zukunft von 1936, das die Reihe eröffnete, einsetzte.135 Ursprünglich sollte Über die Dummheit die zweite Veröffentlichung darin bilden, wurde zum
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Fall benötige ich auch diese Ihre Entscheidung, um in der Korrektur fortzufahren zu können oder die 2te Ausgabe des Umbruchs abzuwarten! [. . .] Der Satz ist häufig ziehmlich krum [sic] gerändert.« So waren etliche Entscheidungen auch kompromissbehaftet, vgl. zum Satz des Mann ohne Eigenschaften Musils Notiz vom 4. 4. 1930 zur Frage nach Parenthesenstrichen zum Anzeigen von Sprecherwechseln oder den von Hegner bevorzugten Guillemets (KA/Transkriptionen/ Heft 30/34). KA/Transkriptionen/Weitere Mappen/Briefkonzepte I/26, vgl. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Simon Menzel, 27. 11. 1935. Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1819–1938. Band II : Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien u. a. 1985 (= Literatur und Leben. N. F., Bd. 28/II), S. 94, besteht darauf, dass der Wiener Bermann-Fischer-Verlag von 1936 bis 1938 »kein ›Exilverlag‹ im üblichen Sinn« gewesen sei und schlägt vor, diese Bezeichnung erst ab der Stockholmer Zeit zu verwenden: »So ist es nicht zutreffend, wenn Bermann in seinen Erinnerungen von einem ›Exilverlag‹ spricht [. . .]. Daß er Autoren und Werke verlegte, die im Reich verboten waren, reicht nicht aus, um dieses Prädikat zu beanspruchen: zum wirklichen Emigranten wurde er anläßlich des ›Anschlusses‹.« Thomas Mann: Freud und die Zukunft. [Vortrag gehalten in Wien am 8. Mai 1936 zur Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag.] Wien 1936. Pfäfflin: Buchumschläge (s. Anm. 99), S. 144,
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großen Ärger Musils aber lange liegen gelassen und kam erst nach bzw. neben Valérys Politik des Geistes heraus, wie in einem Briefentwurf beklagt wird.136 Die Bücher der Reihe, zwischen 40 und 100 Seiten lang, umfassen ein weites thematisches Spektrum und führen die eingestellte Neue Rundschau weiter, wie deren Umschläge waren die Ausblicke-Titel mit rot-schwarz bedrucktem Umschlagskarton broschiert sowie mit dem Rappenköpfe-Signet des Bermann-Fischer-Verlages versehen, das wieder E. R. Weiß gestaltet hatte.137 Die Ausblicke-Reihe war geschmackvoll gestaltet, mit großzügigem Satzspiegel in Groß-Oktav auf voluminösem Papier mit großen Schriftgraden aus der Walbaum-Antiqua gesetzt (s. Abb. 24), und wurde zu einem relativ niedrigen Preis von 1,65 Mark verkauft. Über die Dummheit wurde bei Waldheim-Eberle in Wien in einer Auflage von 3000 Exemplaren gedruckt.138 Ob Musil, der sich dagegen verwahrte, durch dickes Papier (und großes Format) ein Buch aufzublähen, mit der folgenden Tagebuchnotiz auch etwas zu Über die Dummheit sagt? Mit Menzel als Verleger des Humanitas-Verlags hatte er schlechte Erfahrungen gemacht, die sich mit Bermann-Fischer bei der Publikation von Über die Dummheit, das mit 48 Seiten freilich nur eine Buchblockdicke von 5 mm aufweist, wiederholt hatten: Sehr dicke Bücher sollen jetzt in Amerika wieder modern sein. Ursache, wie anzunehmen ist, irgendein grosser Erfolg eines Wälzers. Die Augen Dr. Menzels (Humanitas Verl.) leuchten sachverständig auf, wenn er mir erzählt, dass von kurzen Geschichten (Nachlass) jetzt in Amerika nichts zu erwarten wäre. Ein neues Buch von ihm, das höchstens 400 normale Seiten hätte, ist auf 675 gebracht und dann noch durch dickes Papier und Einband so gestaltet, dass es fast ein Würfel, und so dick wie hoch ist. Schon die Augen sehen: das konfektionelle Extrem einer Mode. gibt Abbildungen der Umschläge. Freud und die Zukunft trägt noch nicht den Zusatz »Schriftenreihe ›Ausblicke‹« und auch noch nicht die Bermann-Fischer-Rappenköpfe. 136 KA/Transkriptionen/Weitere Mappen/Briefkonzepte I/73, vgl. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Bruno Fürst, 7. 4. 1937, sowie Paul Valéry: Die Politik des Geistes. [Übersetzt v. Maria Giustiniani.] Wien 1937. 137 Vgl. Gottfried Bermann Fischer: »Das Verlagssignet, die beiden Rappenköpfe [. . .], hatte ich mir vor meinem Abschied in Berlin von E. R. Weiß [. . .] zeichnen lassen.« (Zit. nach: Pfäfflin, Kussmaul: S. Fischer (s. Anm. 45), S. 472 f.) So wurde die Reihe charakterisiert: »In zwangloser Folge werden unter dem Sammeltitel ›Ausblicke‹ fortlaufend kleinere in sich geschlossene Arbeiten veröffentlicht werden, Vorträge, Aufsätze, in denen hervorragende Schriftsteller zu allgemein interessierenden Themen, zentralen Problemen unserer Zeit und aller Zeiten, in einer allgemein zugänglichen Form Stellung nehmen. Auf knappen Umfang konzentriert, gibt jede dieser Arbeiten einen wesentlichen Ausschnitt aus dem Geistesleben der Gegenwart und ihrem Bemühen um Klarheit und Menschlichkeit.« (Klappentext zu Musil: Über die Dummheit (s. Anm. 138)) Dass Über die Dummheit hier gut placiert war, ist evident. 138 Robert Musil: Über die Dummheit. Wien 1937 (eingesehene Exemplare: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 14 L 705 (beschnitten) sowie Staatsbibliothek Berlin 317475 (eingebundene Originalbroschur)). Buchblock 145 × 220 × 5 mm, Bundsteg 20 mm, Kopfsteg 28 mm, Außensteg 35 mm, Fußsteg 45 mm sowie Buchblock 150 × 224 × 5 mm, Bundsteg 22 mm, Kopfsteg 30 mm, Außensteg 38 mm, Fußsteg 48 mm; vgl. die Verlagsanzeige in Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1227, für die Preisangabe.
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Man sieht den Handel und seine Dummheit. Stelle dir nun die Frage, was entstünde, wenn uns nur die Bedeutung der Bücher wichtig wäre. [. . .] Deutschland käme mit 1 oder 2 Verlagen aus. [. . .] Die Richtung ginge auf den illuminierten Essay. Es ist die unhaltbare Utopie meiner eigenen Richtung.139
9. Fazit: Über Robert Musils Bücher Der Befund, der hier zu Musils Büchern dargeboten wird, ist vielleicht nicht aufregend, aber auch nicht ganz unerheblich. Die Buchpublikationen Musils scheinen sich, zumindest was die Fraktur/Antiqua-Opposition angeht, was man so strikt freilich nie zuweisen darf und was nicht immer vom Autor entschieden wurde, nach der Publikation der Rilke-Rede zu modernisieren; nach 1927 ist keines von Musils Büchern mehr aus einer gebrochenen Schrift gesetzt worden.140 Die moderne bzw. zeitlos nüchterne Anmutung seiner nach 1924 bei Rowohlt erschienenen Bücher (Hegners Stilideale waren ja durchaus klassizistisch orientiert), wozu auch Nachlass zu Lebzeiten gezählt werden kann, wird evident, sobald man andere Großromane um 1930 vergleichend heranzieht, die im deutschen Sprachraum, das zeigen Döblins Berlin Alexanderplatz sowie Thomas Manns Joseph-Romane, bis weit in die 1930er Jahre hinein aus gebrochenen Schriften gesetzt wurden. So steht Der Mann ohne Eigenschaften eher als innovativer europäischer Gegenwartsroman da und in einer Reihe mit zeitgenössischen europäischen Romanen, exemplarisch wurden Joyces Ulysses bzw. dessen deutsche Übersetzung sowie Célines Voyage au bout de la nuit bzw. deren deutsche Erstübersetzung herangezogen, aber auch die Erstausgabe von Jahnns Perrudja. Die typographisch interessantesten bzw. auch auffälligsten Buchpublikationen Musils neben den Hegner-Drucken sind in seinem Œuvre eher randständig, es sind seine Dramen Die Schwärmer und Vinzenz. Dass Musil sich der Qualität der Hegner’schen Ausstattung und typographischen Einrichtung (sowohl der Drei Frauen als auch des Mann ohne Eigenschaften) bewusst war, wird durch die angeführten Stellen belegt, aber auch durch die offenbar als selbstverständlich angesehene Weiterführung dieser Einrichtung in der Bermann-Fischer-Ausgabe von 1938.141 Nur Der Vorstadtgasthof kann, was 139 KA/Transkriptionen/Mappe VIII/5/43; vgl. KA/Transkriptionen/Heft 30/110. Vgl. Musils Überlegungen zur mit dem Verlagswesen verbundenen Arbeitstätigkeit in Verbindung mit der geringen Wirkung von Literatur in KA/Transkriptionen/Mappe IV/1/7 A 43 N 46. 140 Eine bei Corino: Robert Musil (s. Anm. 29), S. 1281, reproduzierte Verlagsankündigung (»Robert Musil | Das Gesamtwerk | im | Bermann-Fischer Verlag | Wien«) zeigt, dass zumindest für Werbezwecke bei ihm noch um 1938 gebrochene Schriften verwendet wurden: Robert Musil sowie Das Gesamtwerk sind aus der Tiemann-Gotisch gesetzt. 141 Die nicht mehr erschienenen Druckfahnen zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften zeigen, dass die einmal gewählte typographische Einrichtung beibehalten worden wäre, wieder wurde aus der Stempel-Garamond gesetzt, mit kursivierten (wenngleich nicht mehr gesperr-
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die typographische Einrichtung anlangt, als in eine unkonventionelle, gar avantgardistische Richtung weisende Publikation angesehen werden; gleichwohl ist gerade dort Musils konkrete Beteiligung an der Buchgestaltung, vielleicht sogar an der des Texts, als am geringsten anzusetzen. Des Weiteren zeigt die Korrespondenz mit »[s]einem Zufalls- und Interimsverleger« Menzel ein Gespür Musils auch für typographische Finessen, also für Bereiche, denen Autoren bei der Buchherstellung gemeinhin gleichgültig gegenüber stehen. Dies alles spricht dafür, dass ihm die typographische Gestaltung seiner Bücher nicht unwichtig war, ja dass er eine bestimmte typographische Einrichtung als spezifische Gestalt eines Textes annahm. Musils Ästhetik verweist zudem auf die Lektüre von Büchern und eine Erkenntnis, die nur über das gedruckte Buch und einen entsprechend konzentrierten und fokussierten Lektüremodus zu vermitteln sei. Zumindest für den Mann ohne Eigenschaften scheint er diese spezifische biblionome Form, diese ›Buchhaftigkeit‹ (Bookishness) eines Romans in Buchform, anders als vielleicht bei den Vereinigungen, als (einzig) adäquat dafür angesehen zu haben, was er mitzuteilen hatte.142 Das zeigt nicht nur das dem Lesetext der Klagenfurter Ausgabe zugrunde liegende Handexemplar des Mann ohne Eigenschaften, sondern auch ein Text wie »Anweisung zum Lesen u Setzen des Mpts.«,143 aber auch, wie stark Musil an den Druckfahnen zumindest seines Hauptwerks weiterarbeitete und sie unentwegt umschrieb. Das fertige Buch dachte Musil im Rahmen der typographischen Gestaltungsrichtlinien des Mann ohne Eigenschaften, wie sie Hegner und Weiß 1929/1930 vorgegeben hatten. Musil schrieb auf das Buch zu, korrigierte zwar noch in den Fahnen, aber im Bewusstsein einer zunehmenden Finalisierung und Perfektionierung seines Schreibens gerade durch diese technologische Zurichtung. In einem der Vorwortentwürfe zu Nachlass zu Lebzeiten führt er aus: »Wie jeder Schriftsteller habe ich viel mehr geschrieben als drucken lassen; aber #weil# \wie | bei mir der Weg von den ersten Anreizen bis zum fertigen Werk länger ist als bei anderen, sind die frühen Zustände auch wertloser.«144 Das verlegerisch produzierte gedruckte Buch mit seinen arbeitsteilig umgesetzten Partien Manuskript/Typoskript, Satz, Korrektorat, Revision, Druck und Bindung war auch Teil von Musils Textverarbeitungsprogramm und die Voraussetzung ten) Kapiteltiteln und Versalsatz bei den Kapitelanfängen, die Zeilen laufen gleich lang (über Satz-/Seitenspiegel und Umbrüche/Zeilenzahl pro Seite geben die Druckfahnen keinen Aufschluss). 142 Vgl. dazu Massimo Salgaro: Robert Musil teorico della ricezione. Contiene il saggio inedito La psicotecnica e la sua possibilità di applicazione nell’esercito. Bern u. a. 2012 (= Musiliana, Bd. 16), S. 221–278, sowie Sergej Rickenbacher: Der Fehler, kein Buch zu sein. Die Klagenfurter Robert Musil-Ausgabe und die ästhetische Erfahrung des Buches u. Bernhard Metz: Bücher, nicht Texte: Warum wir Musil in der Klagenfurter Ausgabe nicht lesen können, beide in: Salgaro (Hg.): Musil in der Klagenfurter Ausgabe (s. Anm. 84), S. 173–195 u. 197–217. 143 KA/Transkriptionen/Mappe VII/16/4 Dah 2 1 Diotima-K. 144 KA/Transkriptionen/Mappe II/1/54 Vorwort I 2.
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dafür, bestimmte schriftstellerische Operationen überhaupt vornehmen zu können. Diesem Augenmerk auf die Gestaltung der eigenen Bücher entgegen steht eine Äußerung Martha Musils, wonach sie es war, die sich zumindest um die Einbände des Mann ohne Eigenschaften gekümmert hatte. Armin Kesser gegenüber vermerkte sie über die Zusammenarbeit mit Musils langjährigem Verleger: Rowohlt: [. . .] Auch ich stand ja früher gut mit ihm; alles, was nicht reine Dichtung war, wollte er mit mir besprechen; Robert war es ganz recht, weil ihn jede praktische Unterredung reizte u. störte. Auf mich ist auch der verschiedenfarbige Einband von Bd. I und II zurückzuführen; Bermann hat sich dann bei der Neuauflage von Bd[.] I nicht daran gehalten.145
Musil hat sich zu Fragen der Buchgestaltung nie generell geäußert bzw. wurde schlicht nicht dazu befragt. Das Thema Typographie und Buchgestaltung hat er in seinen literarischen Texten nirgends thematisiert.146 Dass es nicht mehr Belege gibt, liegt aber auch daran, dass Verlagskorrespondenz kaum erhalten ist, und mit Ausnahme der Nachlasskapitel des Mann ohne Eigenschaften keine Bürstenabzüge oder Korrekturfahnen zu Musils Werken vorliegen. Was Musil auf die »Legen Sie Wert auf gute Ausstattung Ihrer Bücher?«-Umfrage in der Literarischen Welt 1930 geantwortet hätte, ist schwer zu sagen; dass er nicht einbezogen wurde (bzw. vielleicht auch eine Auskunft verweigerte) und stattdessen Äußerungen von schon damals bedeutungslosen Autoren abgedruckt wurden, muss heute als verpasste Chance angesehen werden.
145 Martha Musil an Armin Kesser, Brief v. 29. 12. 1948, in: Musil: Briefwechsel (s. Anm. 22), S. 263– 265, hier S. 263. 146 Es gibt lediglich in der Mann ohne Eigenschaften-Vorstufe Der Anarchist den Typographen Eduard Schupala, der »als Setzer die verschiedenartigsten Werke durcheinander liest« (KA/ Transkriptionen/Mappe I/6/97) und eine entsprechend breite, aber auch konfuse und widersprüchliche Bildung aufweist. Sein Auftauchen ist also eher Musils frühem Plan geschuldet, ein möglichst weit angelegtes Figurenpanoptikum zu schaffen (»Typen aus denen sich die Handlung aufbaut, müssen konstitutiv für das heutige Leben sein. [. . .] Uzw. Typus AB . . . unter Bedingungen αβ .« (KA/Transkriptionen/Heft 21/21)), als dem Versuch, einen durch typographische Arbeitsvorgänge formierten Wissens- und Erkenntnistypus darzustellen.
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Das Geld, der Dichter, Der Mann ohne Eigenschaften und seine Verleger Abstract: This paper argues that Musil’s relationship to money was instrumental in the protraction of the process of writing The Man without Qualities. Musil’s relationships with his publishers were difficult. Looking back from the perspective of the author, it is clear that Musil was unable to form a relationship of trust with any of the well-known publisher-personalities with whom he worked in the course of his career – with neither Samuel Fischer, Ernst Rowohlt nor Gottfried Bermann Fischer. The irrational mistrust that characterized the publisher-author relationship for Musil was deeply-rooted in his psyche. This distrust will be analysed in the second section of the paper with an explanatory model (modes of economic subsistence), which can be linked to Musil’s sense that his right to write should be supported by his father, and later by his publishers as substitute fathers. Musil’s fathers – real and adopted – could never make his dream of a vacation from life, a life of writing, come true.
1. Kein Mittel, ihn zum Arbeiten zu zwingen Robert Musils Verhältnis zu seinen Verlegern wurde bisher eher kritisch betrachtet. Der folgende Beitrag entwickelt Verständnis für Musils Haltung, deren Wurzeln einerseits biographischer Natur sind, andererseits mit Musils Selbstverständnis seiner Autorenrolle zusammenhängen. Mit Verlegern, die seinen Grundvorstellungen entgegengekommen wären, hätte sich Musil zu einer professionellen, von gegenseitigem Vertrauen geprägten Partnerschaft zusammenfinden können; da aber dieses Grundverständnis fehlte, agierte Musil seinen Verlegern gegenüber mit Vorsicht und Misstrauen. Über weite Strecken liest sich die Verlagsgeschichte Musils auch angesichts des heutigen literarischen Lebens wie ein Lehrstück. Aus dem Jahr 1933 stammt die Notiz im Nachlass Musils: »Nachwort: Dieses Buch mußte aus Geldmangel vor dem Höhepunkt abgebrochen werden, und es ist ungewiß, ob es weitergeführt wird.«1 Geldmangel – die ökonomische Situation des Autors bestimmte die Arbeit am Roman Der Mann ohne Eigenschaften und das Nicht-Zustandekommen seines Abschlusses in einem entscheidenden Maß mit. Während der ersten Hälfte der 1920er Jahre war Musil noch bestrebt, als Wiener Theater-, Kulturkritiker und Feuilletonist 1
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bei Berliner bzw. Prager Blättern Fuß zu fassen, um zu wirtschaftlicher Absicherung zu gelangen. Er empfand aber die Anspannung durch beruflichen Gelderwerb, schon vor dem Krieg als Bibliothekar (1911–1913), nach dem Krieg als psychologischer Berater im Heeresministerium (1920–1922) und schließlich als Kritiker (1921–1924), als enorme Ablenkung und Behinderung seiner Arbeiten an dem Drama (Die Schwärmer) und dem Romanprojekt, aus dem Der Mann ohne Eigenschaften hervorgehen sollte. Ab Anfang 1925 erhielt er vom Rowohlt-Verlag Vorauszahlungen für den Roman; er beendete seine Tätigkeit als Kritiker und Essayist und versuchte in den folgenden Jahren, auf den Rowohlt-Vorschüssen seine Existenzgrundlage zu errichten. Aus der vertraglichen Bindung an Rowohlt, die de jure bis 1936 bestehen blieb, erwuchs ein sich über zwölf Jahre haltender psychischer Antriebs- und Belastungszyklus aus »produktionsfördernder Selbsttäuschung«, »Vorspiegelung des immer wieder ein Stück weiter hinausgeschobenen Abschlußtermins«,2 Frustration über die Terminüberschreitung und schließlich aversiver, aggressiver Stimmung gegen den Verleger, von dem sich der Autor in seiner Produktivität behindert oder gar verhindert sah. Bereits am 12. Dezember 1925 berichtete Musil an Johannes von Allesch: Ich war mit meinem Roman nicht zur vorgesehenen Zeit fertig, er [i. e. Rowohlt] verlängerte die Frist, ohne zu nörgeln usw. Zuletzt wollte er aber selbst eine Verschiebung auf das kommende Frühjahr und versprach mir, die Finanzierung fortzusetzen. Ich benützte das, um das Manuskript noch einmal zu überarbeiten, was ihm sehr zum Vorteil gereicht [. . .]. (Br I, S. 389)
Diese fatale Kreislauf-Struktur bestimmte Musils Verhältnis zum Verlag bis in die letzten Lebensjahre; die Situation des Jahres 1925 wird immer wiederkehren: die, in der sich der Autor vom Verlag – finanziell, aber nicht nur finanziell – im Stich gelassen fühlte; aber auch die, in der er das Drängen des Verlegers als störend empfand: »Die Aufregung verdirbt mir immer das Konzept, so daß ich danach umfangreiche Verbesserungsarbeiten am Manuskript durchführen muß« (Br I, S. 391). 1929 erlebte Musil die Konfliktsituation mit Rowohlt bereits als ausgesprochen scharf: »Er [i. e. Rowohlt] ist böse auf mich, weil ich ihm das Manuskript immer noch nicht liefern kann, und hat damit ja nicht Unrecht; aber er nützt das in seiner Weise aus und hat sich Dinge erlaubt, die außerordentlich unordentlich sind, so daß unser Verhältnis heute am Zerreißen ist.« (Br I, S. 450) Ernst Rowohlt hat in seine launige Einlassung zum Verhältnis Verleger/Autor unter dem Titel Fingerzeige. Über den Umgang mit Autoren, Anfang 1933 im Querschnitt veröffentlicht, offenbar auch die Erfahrungen mit Robert Musil eingearbeitet, wenn er schreibt: Will dein neuer Autor sein Manuskript erst schreiben oder vollenden, so zahl ihm nach Möglichkeit keinen Vorschuß, er hat dich an der Gurgel. Wenn du ihm deinen letzten Pfennig gegeben hast, wird er erklären, daß er mit dem Vorschuß nicht aus2
Eckhard Heftrich: Musil: eine Einführung. München 1986, S. 82.
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gekommen ist, er könne absolut nicht weiterschreiben, wenn er nicht sofort an die Riviera reisen könnte. [. . .] Willst du den schon gezahlten Vorschuß nicht verlieren, mußt du weiter bluten. Es gibt kein Mittel, ihn zum Arbeiten zu zwingen.3
Für Musil wiederum waren die Verlagsvorschüsse zu der Zeit schon überlebenswichtig, da ihn die Arbeit an dem Monsterprojekt des Romans bereits so sehr gefangen nahm, dass an Aufgabe oder Nebenerwerb nicht mehr zu denken war. Eines der Brieffragmente im Nachlass tut davon kund, eingebettet in Romannotizen über den Möglichkeitssinn erinnert er den Cheflektor Paul Mayer daran, »daß für Jänner noch kein Geld eingetroffen ist«.4 Das Verhältnis mit Rowohlt konnte 1929 noch einmal repariert werden. Im Sommer 1931 aber erfuhr es eine ärgere Belastungsprobe. Der Verlag war, in Folge der Weltwirtschaftskrise, in Liquiditätsprobleme geraten, ein Konkurs drohte, Musil erhielt von Rowohlt den Entwurf eines neuen Vertrags zugesandt, über dessen Bedingungen er sich in einem Brief an Franz Blei in einem Ton zum Teil noch scherzhafter Entrüstung äußerte: Mir schlägt er [i. e. Rowohlt] ungefähr vor, daß ich auf mein vertragliches Recht der Vorausbezahlung der zweiten Auflage bzw. ihrer Gutschrift, die meine Schulden fast ganz tilgt, verzichten solle, wofür er mir einen Teil dieser Summe als verkleinerte Rente durch 6 Monate weiterbezahlt, seine Rückstände bezahlt, andererseits aber von mir radikalen Verzicht auf alle Einnahmen fordert, solange bis sich die zwei Verlage gedeckt haben. Als Entschädigung würde er mit mir bald einen Vertrag auf ein neues Buch schließen, das ich natürlich erst in einem Jahr zu schreiben anfangen kann, so daß ich aus der Schuldknechtschaft überhaupt nicht herauskäme, und außerdem kenne ich das Vertragsschließen mit ihm in solchen Augenblicken schon, wo einem das Wasser an der Kehle steht. Ich will ihm einen angemessenen Vorschlag machen, aber wenn er sich dagegen verschließt, so sehe ich keine Möglichkeit. Lieber tot als Sklav; obwohl es mit dem totsein höchst dunkel ist. (Br I, S. 525)
Das Gefühl des Erpresst- und Genötigtseins entlud sich in einem Briefentwurf an Ernst Rowohlt persönlich, direkt, ungefärbt: Diesmal haben Sie mich ohne Geld u Antwort hängen lassen, u haben mir bis heute auch nicht die Auskünfte gegeben, um die ich Sie bat, obwohl Ihnen meine Situation bekannt ist. Ähnliche Geschehnisse sind unter anderen Verhältnissen vorangegangen. Wenn Ihnen etwas nicht paßt, dann nehmen Sie auf den andern keine Rücksicht [. . .]. Unter diesen Umständen will ich lieber auf die Vorzüge Ihrer Person verzichten [. . .]. Sie handeln schlecht, nicht ich[.] (Br I, S. 522)
Außerhalb von Musils Wahrnehmungsfeld lag, dass auch dem Verleger das Wasser an der Kehle stand, er alle Hände voll damit zu tun hatte, sein Unternehmen zu retten und für Musil ein Risiko einging, das schon keines mehr war, weil er einen materiellen Erfolg des Mann ohne Eigenschaften für aussichtslos halten musste. Der Sanierer Otto Gerschel sei bei der Überprüfung 3 4
Zit. nach: 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik. Hg. v. Hermann Gieselbusch, Dirk Moldenhauer, Uwe Naumann u. Michael Töteberg. Reinbek b. Hamburg 2008, S. 57. KA/Transkriptionen/Mappe II/4/120.
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der Buchprojekte auf ihre Rentabilität bei Cheflektor Paul Mayer auf granitenen Widerstand gegen die Nicht-Verlängerung des Vertrags mit Musil gestoßen, weiß die offizielle Verlagschronik zu berichten. Nachdem ihm der Cheflektor ganz offen gesagt hatte, dass dieses Werk auch in absehbarer Zeit keinen Gewinn abwerfen werde, verlangte der Finanzexperte die Vertragsauflösung. Wortreich versuchte Paul Mayer ihm begreiflich zu machen, dass der literarische Wert dieses Buches für den Rowohlt-Verlag weitaus größer sei als der jedes normalen Verlagsartikels. [. . .] ›Der Cotta-Verlag hatte seinen Goethe, und wir haben unseren Musil; wir wollen ihn einfach haben!‹ Das hinterließ offenbar Eindruck, denn einige Tage später zog der Controller sein Veto zurück.5
In seiner offiziellen Selbstdarstellung schreibt sich der Verlag noch heute die Heldenrolle bei der »schweren Geburt« des Mann ohne Eigenschaften zu, und dem Autor eher die Rolle des Schwerenöters, dessen Vorschüsse in keinem Verhältnis zum Erfolg stünden. Es hätten mindestens 11 000 Exemplare verkauft werden müssen, um das Geld wieder hereinzubringen, das Rowohlt an Vorschüssen an den Autor ausbezahlt hatte. Laut Auslieferungsstatistik habe man aber bloß 7163 Exemplare vom Ersten Buch und dann gar nur 3898 Exemplare vom Zweiten Buch absetzen können.6 Einer Berechnung von Karl Corino zufolge, auf die sich die Verlagschronik offenbar stützt, habe Rowohlt von 1924 bis 1931 insgesamt 21 000 Mark Vorschuss geleistet, das sind im Durchschnitt 250 Mark pro Monat, umgerechnet in heutige Kaufkraft ca. 1300 Euro, das entspricht etwa dem Anfangsgehalt eines Lehrers in Österreich.7 Der Lebensunterhalt von Musil und seiner Frau gründete sich 1931 ausschließlich auf Vorschüsse und Tantiemen des Rowohlt-Verlags, die Zahlungsunfähigkeit des Verlags stellte daher die Existenz des Autors in Frage. In einer Aussprache am 17. September 1931 in Berlin konnte der Verleger die Wiederaufnahme der Zahlungen für sechs Monate zusagen, Musil musste jedoch einer Aufteilung des Zweiten Buchs in zwei Teilbände zustimmen. Allesch teilte er am 18. September 1931 darüber mit: »Seit gestern läßt sich klarer in die Zukunft sehen, wenn auch nicht gerade schön, weil ich mich mit Rowohlt ausgeglichen habe. [. . .] Es ist ein Provisorium von sechs Monaten, mit vielen Nachteilen für mich. Aber meine Situation war zuletzt die der Maultasch auf Hoch Osterwitz.« (Br I, S. 527)8 Die 1931 durch Rowohlt erzwungene Teilung des Zweiten Buchs war Musil zufolge für das Nichtzustandekommen des Romanabschlusses mitver5 6 7 8
Dirk Moldenhauer: Eine schwere Geburt: Der Mann ohne Eigenschaften, in: 100 Jahre Rowohlt (s. Anm. 3), S. 86–88, hier S. 86. Vgl. Moldenhauer: Eine schwere Geburt (s. Anm. 5), S. 86–88. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1733 f. Nach einer bekannten Kärntner Sage gelang es der Tiroler Gräfin Margarete 1335 nicht, die Kärntner Burg Hochosterwitz einzunehmen, weil die Burginsassen vorzutäuschen vermochten, sie hätten noch genug zu essen.
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antwortlich. Der Nachlass überliefert ein eigenes Blatt »Abbruch Rowohlt«.9 Das Kürzel ›Abbruch Rowohlt‹ ist als Indikator eines paradigmatischen Richtungswechsels zu werten: Laut Arbeitsprotokoll beendete die »Rowohlt Affäre« am 17. Juni 1931 einen kontinuierlichen Schreibfluss seit Mitte Oktober 1930.10 Während Musil bis Juni 1931 bei der Entwicklung der Konzeption für die zweite Romanhälfte und dem stufenweisen Aufbau der Kapitelentwürfe systematisch und mit Ruhe vorgegangen war, kam es mit dem vorübergehenden Abbruch im Sommer 1931, begleitet von verzweifelten und enervierenden Versuchen, Geld vom Verlag zu bekommen oder als Mitarbeiter bei Berliner Zeitungen unterzukommen, und der Wiederaufnahme der Arbeit Ende September 1931 zu einem Umschlag. Musil sah sich gezwungen, für einen rasch zu veröffentlichenden Teil des Bandes bereits eine Maschinschrift anzufertigen, der Romanschluss geriet dabei aus dem Blickfeld, das angekündigte »erzählerische Rinnen« (Br I, S. 498) versiegte in uferlosen Rekapitulationen und Reflexionen. An dieser folgenschweren Entwicklung schob der Autor dem Verleger zumindest einen Teil der Verantwortung zu. Noch in seinen letzten Lebensjahren wird Musil dem gespannten Verhältnis zu Rowohlt und der Nötigung zur Publikation des Teilbands die Hauptschuld am hinausgeschobenen Romanabschluss zuweisen. Eine Quelle aus zweiter Hand, die Erinnerung des Zürichers Rudolf Jakob Humm, scheint dies zu bestätigen: »Auch Robert Musil war eine Zeitlang in Zürich, ein vergrämter Herr, der meine Frau und mich zum Tee einlud und uns die Art erklärte, wie er seine Romane zusammenfüge. Einmal habe ihn der Verleger gedrängt, und das ganze Buch sei ihm schief geraten, und nun habe er seine liebe Not, es in die ursprüngliche Richtung zurückzuführen«.11 Im diametralen Gegensatz dazu befand sich offenbar die Wahrnehmung des Verlegers, der rückblickend erzählt: Musil war ein Mensch, der einen ungeheuren, sympathischen und suggestiven Eindruck machte. Ich war, so möchte ich beinahe sagen, Wachs in seiner Hand. Denn es ging ihm immer sehr schlecht, und er kam nie mit den zwischen uns ausgemachten Raten aus. Es war so, dass er zwölf Monate lang monatlich soundsoviel Geld bekommen sollte und dafür aber soundsoviele Seiten Manuskript abzuliefern hatte. Das hat er aber nie geschafft. [. . .] Er brachte immer, wenn er kam, neue Fassungen mit; die waren aber meistens durcheinander geraten, und da wurde man immer sehr verwirrt. Das war sehr nervenanstrengend, auch für mich.12
Hinter diesen gegensätzlichen Positionen verbirgt sich ein Interessenskonflikt, der über den Fall Musil-Rowohlt hinaus für das Schreiben von Literatur unter Marktbedingungen als exemplarisch gelten kann. Der Verleger Ernst 9 10 11 12
KA/Transkriptionen/Mappe II/8/79. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/4. Zit. nach: Stefan Howald: Verweigerte Assimilation. Robert Musil und die Schweiz, in: Rapial 2 (1992), H. 3, Sp. 1–6, hier Sp. 4. Zit. nach: Moldenhauer: Eine schwere Geburt (s. Anm. 5), S. 86 f.
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Rowohlt besetzte im Literaturbetrieb der Weimarer Republik eine Schlüsselstellung, weil er mehr als alle anderen großen Literaturverlage auch Literatur jenseits des Mainstreams verlegte und sich des Prinzips der Querfinanzierung bediente, indem er die mit Bestsellerautoren erwirtschafteten Einnahmen schwer vermarktbaren Buchprojekten wie dem Mann ohne Eigenschaften zugute kommen ließ. Doch bei all seinem Engagement und trotz seines exzessiven bohemienhaften Habitus war Rowohlt ein Kaufmann, der rechnete; er musste es sein und er bekannte sich auch dazu. »Dein Meisterstück im Umgang mit den Autoren legst du aber ab, wenn du ihnen beigebracht hast, daß dein Vorteil auch ihr Vorteil ist«, schreibt er in seinem Credo im Querschnitt, angesichts des Erscheinungsdatums knapp vor der ›Machtergreifung‹ Hitlers auch das Testament des freien Rowohlt-Verlags.13 Die Standpunkte scheinen unvereinbar, vor allem angesichts der Zeitläufte; das Gefühl, in einer extremen Zwangslage produzieren zu müssen, prägte die Stimmung Musils auch im Sommer 1932 wieder, Schreib-, Geldund Gesundheitssorgen fielen zusammen. Am 2. Oktober 1932 schrieb er an Oskar Maurus Fontana: [Ich] büßte es mit wochenlangen Übertemperaturen, Kopfneuralgien und ähnlichem, das meinen armen Schädel wie Raben umflatterte, während er jeden Tag so und soviel Meter Dichtung herausgeben sollte. Ich wäre auch ohne das mit dem Buch nicht fertig geworden, und unter diesen Umständen sind es sechs- bis siebenhundert Druckseiten geworden, die Rowohlt vor oder gleich nach Weihnachten herausgeben will, wogegen ich mich wegen der niederschlagenden kaufmännischen Notwendigkeiten nicht wehren kann, obgleich es meinem Gefühl widerstrebt, den zweiten Band zu teilen. Die Verhältnisse sind sehr schlimm, meine Schulden so groß, daß Rowohlt erklärt, das Buch nicht weiter eskontieren zu können, und versucht, die Mittel für die Fortsetzung bis zum Ende auf irregulären Wegen zu beschaffen, durch eine Kreuzung von Subskription und Wohlfahrt. Ich sitze da, schreibe weiter und nehme an, daß ich in drei Wochen noch leben werde. Gut begründet ist es aber nicht. (Br I, S. 539)
Die Lage im Sommer 1932, als Musil von Juni bis August im Ostseebad Brunshaupten in Vorpommern festsaß und wegen Krankheit und Geldsorgen die Arbeit am Zweiten Buch wieder vorübergehend abbrechen musste, bedeutete eine verschärfte Wiederholung der Situation des Vorjahres. Das Ausbleiben von Rowohlt-Zahlungen schlug sich in einem handschriftlichen Entwurf mit der Überschrift Vermächtnis nieder: Es wird mir wohl möglich sein, dem, was ich bisher von diesem Buch veröffentlicht habe, noch einige Kapitel hinzuzufügen, aber es ganz zu Ende zu führen, erscheint so gut wie unmöglich. Denn es ist kein Geld dafür da. [. . .] Ich bemerke, während ich das niederschreibe, daß diese Tatsache, die ich bisher nach Möglichkeit zu verheimlichen suchte, obwohl sie mich in den letzten Jahren einigemal in die nächste Nähe des Suicid gebracht hat, auch im Allgemeinen gar nicht ohne Wichtigkeit ist. [. . .] Es 13
Zit. nach: 100 Jahre Rowohlt (s. Anm. 3), S. 59.
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ist die gleiche Art, wie wenn man an einem Seil über einem Abgrund hängt. Durch 10 Minuten für kühne Menschen vielleicht ein Kitzel; Durch 10 Jahre etwas, das alle Nerven zermürbt. Manchmal stürzt man auch schon, dann bleibt man wieder hängen. Es ist vor allem der dauernde Zustand, daß alles von einem einzigen Umstand abhängt. Wenn zum Beispiel heute mein Verleger versagt, so habe ich nicht die Zeit, einen neuen zu finden. Wenn ich krank werde, habe ich nicht die Zeit dazu und das Geld für den Arzt.14
Dass die von ökonomischen Zwängen bestimmte Veröffentlichung des Teilbands im Dezember 1932 zustande kam, brachte keine Erleichterung. Keine innere, da sie weder an Umfang noch an Qualität Musils Ansprüchen an sich selbst genügte, noch verschaffte die Publikation eine äußere Beruhigung. Denn »die Fron geht weiter« (Br I, S. 552), eine Finanzierung der Fortsetzung durch Rowohlt war nur bis März 1933 zugesagt, bis zu diesem Termin sollte der Autor den Roman fertigstellen. Im Postskriptum eines Briefs an Fontana vom 12. Januar 1933 kommentierte dies Martha Musil: »Natürlich ist das ganz unmöglich und jeder, dem ich es erzähle, lacht darüber; aber Sie können sich vorstellen, wieviel Ärger das Verhalten des Verlags mit sich bringt.« (Br I, S. 556) Musil hatte das Gefühl, man ließe ihn »nach jedem Stückchen Geld springen wie den Hund nach dem Zucker« (Br I, S. 553). In der Korrespondenz entlud sich der Druck als Aggressivität gegen den Verleger persönlich: »Rowohlt läuft in Ehrwald Ski« (Br I, S. 554), »der Verleger darf Wintersport treiben, der Autor muß arbeiten!« (Br I, S. 552) Zweifellos geschähe dem Engagement Rowohlts für Musil Unrecht, wenn man sich einseitig die Perspektive des Autors zu eigen machen wollte. Corino demonstriert in seiner Musil-Biografie, wie massiv sich der »Autor und sein Verleger Ernst Rowohlt« (so der Abschnittstitel)15 in ihrem Habitus voneinander abheben, obwohl sie sich doch scheinbar beide in demselben Feld (dem literarischen) bewegen, um zwei Bourdieu’sche Begriffe für die Bezeichnung des Dilemmas zu gebrauchen. Musils Status als den Produktionsbedingungen der ausgehenden Weimarer Republik nicht angepasster Autor geht auch aus einer Äußerung Heinrich Manns im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Werkbeihilfe von Anfang 1933 hervor: »Es ist wohl die Frage, ob ein Autor ohne Kapital sich heute auf eine vieljährige Arbeit einlassen darf.« (Br I, S. 558) Vordergründig teilte Musil selbst die Skepsis hinsichtlich der ökonomischen Vertretbarkeit des Großprojekts, das ihn, nachdem er sich ihm einmal mit Leib und Leben verschrieben hatte, zu Verzweiflung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins trieb, der späten Abhängigkeit von unsicheren Zuwendungen privater Förderer, der früheren, nicht minder ungewissen, von Rowohlt, der sich
14 15
KA/Transkriptionen/Mappe I/7/35. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 938 ff.
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immer verschanzt hinter kaufmännische[n] Berechnungen, deren letzter Sinn der ist, daß er kein Vertrauen in den Absatz hat, obgleich er den künstlerischen Wert nach dem Urteil seines Lektors hochhob. [. . .] Ich mußte aber gute Miene zum bösen Spiel machen, weil ich mit einem halben Riesenbuch in der Hand bei der heutigen Lage der Dinge völlig hilflos bin. (Br I, S. 463)
Aus der Sicht Musils stellte sich der Konflikt als unveränderbar dar, sein Mann ohne Eigenschaften war vor der Finanzkrise und nach ihr und vor der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ und nach ihr stets dasselbe »halbe Riesenbuch«. Für Rowohlt indessen bedeutet es Mitte der 1920er Jahre etwas völlig anderes, Musils Großprojekt eine Langzeitförderung angedeihen zu lassen als 1931/32 und nochmal etwas anderes 1933 und in den Folgejahren. Der Verlag war schon vor 1933 mehrheitlich im Besitz des Ullstein-Konzerns; mit dessen Arisierung 1934 gehörte auch Rowohlt de jure zum NS-Verlagsimperium; der Verlag wurde nach Ernst Rowohlts Ausscheiden der Deutschen Verlagsanstalt als Imprint angegliedert, bestand aber noch weiter bis 1943.16 Robert Musil kehrt im Frühsommer 1933 von Berlin nach Wien zurück, nominell blieb er bis 1936 Autor Rowohlts, doch substanziell gelangte die VerlegerAutor-Beziehung Anfang 1933 bereits zu einem Ende, es floss kein Geld mehr, der erste Teilband des Zweiten Buchs konnte sich am deutschen Markt nicht durchsetzen. Unter den Entwürfen des fallengelassenen Vorworts zum Nachlaß zu Lebzeiten von 1935 finden sich Passagen in äußerst kritischem Ton, ein bitteres Epitaph auf das klinisch tote Autor-Verleger-Verhältnis: Er [i. e. der Verleger meiner Werke] glaubt, ich selbst zu sein. Akzeptiert es gern, daß es ein ungeheures Risiko sei, ein Buch wie den MoE zu verlegen. Er behält alle Eingänge zurück. Er hat für sich abgestrichen und nicht für mich. Er macht mit den Verträgen, was er will, als hätte er sie mit sich selbst abgeschlossen.17
Das Verlegersünden-Register kann als Endabrechnung Musils mit Rowohlt verstanden werden, denn der Nachlaß zu Lebzeiten erschien nicht mehr bei dem Berliner Verlag.18 Als eine Art Epilog zur Geschichte der Schwierigkeiten mit Rowohlt lässt sich die der versuchten Publikation der Zwischenfortsetzung (Zweiter Teil des Zweiten Buchs) beim Bermann-Fischer-Verlag 1937/38 auffassen. Die Situation von 1932/33 wiederholte sich, indem das Gedeihen des Romans offenbar an einem neuralgischen Punkt anlangte und ein Abschluss – zumindest ein Zwischenabschluss – dem Anschein nach bevorstand, durch radikale Veränderung der politischen Lage jedoch wieder aufgeschoben wurde und durch 16
17 18
Zu Rowohlt im Dritten Reich über die eher apologetischen Darstellungen hinaus vgl. David Oels: Rowohlts Rotationsroutine. Markterfolge und Modernisierung eines Buchverlags vom Ende der Weimarer Republik bis in die fünfziger Jahre. Essen 2013. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/57. Martha Musil traf sich zu Weihnachten 1935 mit Ernst Rowohlt, um einen letzten Versuch zur Wiederaufnahme des Verlagsverhältnisses zu unternehmen. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1925.
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Wegfall der Publikationsmöglichkeit schließlich in weite Ferne rückte. Versuche, die Musil 1938 unternahm, die Hilfe des Verlegers Gottfried Bermann Fischer und anderer, ihm und seiner Frau den Weg in die Emigration zu ebnen, gegen die Möglichkeit auszuspielen, im Dritten Reich einen Verleger zu bekommen, waren eindeutig unrealistisch, gefährlich und beruhten auf Selbsttäuschung. In einer ersten brieflichen Kontaktaufnahme nach der Anschluss- und Liquidationskatastrophe am 11. Juni 1938 schlug Musil dem nach Stockholm emigrierten Bermann Fischer erst noch vor: Sie sorgen nach Ablieferung von Band II/2 für die Wiederaufnahme der regelmäßigen Zahlungen an mich. Wir verlegen den Abschluß des ganzen Romans auf eine nicht engherzig bemessene spätere Zeit. Erhöhen trotzdem meine Monatsrente um so viel, daß ich wirklich davon leben kann [. . .]. (Br I, S. 823)
Der Verleger ging darauf ein und fügte zudem hinzu: »Ausserdem habe ich Schritte eingeleitet, um Ihnen eine Grundlage draussen zu schaffen.« (Br I, S. 830) Doch Musil wehrte sich dagegen, Wien verlassen zu müssen. Zugleich führte er Verhandlungen mit Eugen Claassen vom Hamburger Goverts-Verlag und mit dem kommissarisch verwalteten Wiener Büro des liquidierten Bermann-Fischer-Verlags, er korrespondierte auch mit Peter Suhrkamp in Berlin, zu dieser Zeit Leiter des S. Fischer Verlags, und der Beck’schen Verlagsbuchhandlung in München (vgl. Br I, S. 823–829). Mit Claassen zerschlugen sich die Verhandlungen nach der Erinnerung von Zeugen nur deswegen, weil auch der Hamburger Verlagsleiter wie Bermann Fischer in seinen Briefen aus Stockholm von Musil eine rasche Fertigstellung des Mann ohne Eigenschaften verlangte. Einer Auskunft des Autors Rudolf Brunngraber zufolge habe Claassen Musil persönlich in Wien aufgesucht und ihm, »für mindestens zwei Jahre, ein Monatsfixum von rund 600 Schilling angeboten, indes unter der Bedingung, er verlange den Termin zu wissen, bis zu dem der MoE beendet sein werde«.19 Dass Claassen als regelrechter Abgesandter der Reichskulturkammer nach Wien gekommen wäre, um Musil zu gewinnen, darf wohl ausgeschlossen werden.20 Musil begründete die Weigerung, dem Goverts-Verlag ein Exposé der Romanfortsetzung zu liefern, »weil ich erstens jetzt keine Zeit habe, zweitens, noch nie jemand ein Exposee von mir verlangt oder erhalten hat (und es auch ohne das gegangen ist), und weil mir drittens alles daran liegt, daß Goverts-Claassen mich für eine so seltene Katze halten, daß sie mich im Sack kaufen« (Br I, S. 1052), schrieb Musil am 15. August 1939 bereits von Genf aus an Carl Seelig nach Zürich. Das hatte primär mit einem Nicht-Festlegen-Können zu tun, was die Fertigstellung des Romans betrifft. Auf Bermann Fischers öffentliche Ankündigung des Fortsetzungsbandes im Frühjahr 1939 reagierte Musil mit Verärgerung, denn er habe sich 19 20
Das teilt Adolf Frisé im Kommentar der Briefe-Ausgabe mit. Vgl. Br II, S. 475. Vgl. Anne-M. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich. München 2007 (= Archiv für Geschichte des Buchwesens. Studien, Bd. 5), S. 150–152.
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»verbeten, daß irgendetwas von einer Verbindung zwischen dem B[ermann]F[ischer]-V[erlag] und mir verlautet, ehe meine Bücher von Wien losgelöst sind.« (Br I, S. 1005) Darin spiegelt sich einerseits der Rest illusionärer Hoffnung, im Dritten Reich könnten neue Möglichkeiten, Ablösezahlungen für die in Wien liquidierten Bestände oder gar neue Marktchancen liegen, andererseits die Abwehr dagegen, durch eine öffentliche Ankündigung in Zugzwang wegen eines Fertigstellungstermins zu geraten. Um die Aussicht auf Absatz seines Werks im Deutschen Reich zu wahren, hätte Musil die Bedrohung für seine Frau als Halbjüdin nach den Nürnberger Rassegesetzen, den Eintritt in die Reichsschrifttumskammer und eine Anpassung an die politischkulturellen Verhältnisse in Nazi-Deutschland in Kauf genommen,21 wie er Eugen Claassen gegenüber zumindest vorgab: »es spräche viel dafür, daß ich ihn [i. e. meinen Wohnsitz] dann in die Gegend von Hamburg verlege. Das bedeutet natürlich auch eine geistige Entscheidung, auf die ich mich, in der Stille allerhand Eindrücke verarbeitend, vorbereitet habe.« (Br I, S. 860) Die Risiken seines Kokettierens mit Verlegern aus dem Dritten Reich nahm Musil offenbar nicht wahr, er blendete die politische Evidenz aus und beschränkte seine Absichten ganz auf die Weiterführung seines Werks. Er vermochte sich nicht festzulegen, hier wie dort wollte er Brücken nicht abbrechen; vorrangig wurde für ihn eine langfristige Unterstützungszusicherung, um Zeit zu bekommen; wer ihm diese gewährte, dem würde er seine Seele verkaufen. Er fragte, auf Bermann Fischer gemünzt: »Und welchen Wert hat es, jemand zu überreden, der aus sich selbst so wenig das Richtige will?«, und stellt fest: »Es wird mir nichts übrig bleiben, als mich im letzten Augenblick selbst zu retten« (Br I, S. 853). Was ist das Richtige in diesem Schwanken zwischen dem Exil-Verleger in Stockholm und dem zwischen Bleiben und Exil schwankenden Autor? Musils Korrespondenz hat nach ihrer Veröffentlichung die Lesart provoziert, Musil habe »als das Richtige nicht eine Emigration, sondern [. . .] finanzielle Sicherheit auch intra muros«,22 d. h. in Deutschland verbleibend, gemeint. Doch niemand wollte ihm das verlangte Generalbudget an Zeit für das Schreiben pauschal bewilligen und alle Perspektiven im Dritten Reich brachen zusammen, als sein Werk auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums geriet. Als Grund für das Verbot, von dem Musil vermutet, es sei »so gut wie sicher, daß die Unterdrückungsmaßnahme diesmal gegen mich als Person zielt, daß sie eine Quittung für meinen Mangel an Zustimmung darstellt« (Br I, S. 898), könnte der missverständliche Zusatz Die Verbrecher im Zwischentitel Ins Tausendjährige Reich des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften ausgereicht haben. Tatsächlich wird im Index (Stand 31. De21 22
Vgl. dazu Werner Fuld: Der Schwierige. Zu Verlagsproblemen Robert Musils, in: Text + Kritik (31983), H. 21/22, S. 44–62, hier S. 52 f. Fuld: Der Schwierige (s. Anm. 21), S. 53.
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zember 1938) auch nur das Zweite Buch angeführt; außerdem der Nachlaß zu Lebzeiten als im Ausland erschienenes Druckwerk.23 Corino erklärt das Verbot dagegen anlassbezogen damit, dass »die Nazis Musils Abreise aus Wien – entgegen seinen Behauptungen – doch als verschleierte Emigration durchschauten.«24 Weder die Unsicherheit über das Ausmaß und die Gründe des Verbots noch auch spät aufflackernder Optimismus, »daß sich die Angelegenheit Moe. in würdiger Weise applanieren ließe« (Br I, S. 1026), wie Musil am 12. Juli 1939 an Claassen schrieb, mit dem er also trotz allem weiter verhandelte, änderten etwas daran, dass die Option auf einen Verleger im Reich in Wirklichkeit nicht hielt und zugleich aber auch die realste auf einen Emigrationsverlag, die Neugründung Bermann Fischers in Stockholm, verspielt war. Die Kommunikation mit dem Verleger hatte nach dem Exodus aus Wien längst ähnlich verkrampfte Formen angenommen wie ehemals die mit Rowohlt. Auch mit Bermann Fischer rang Musil um die Zahlung von Vorschüssen bei ungewissem Abschluss des Romans. In der Person von Viktor Zuckerkandl, dem Lektor Bermann Fischers, erkannte er immerhin eine Vertrauensperson; die Korrespondenz, die Musil aus der Schweiz mit Zuckerkandl in Stockholm 1938/39 noch führte, dokumentiert Enttäuschung, Gekränktsein und anwachsende persönliche Antipathie gegen Gottfried Bermann Fischer. Die Lektüre der Memoiren des Verlegers widerlegt Musils Argwohn, dass diesem an Musil tatsächlich wenig gelegen war, freilich kaum. Die Renommierautoren des ehemaligen S. Fischer Verlags, Thomas Mann und Hermann Hesse, standen ihm bei Weitem näher.25 Wenn er Bermann Fischer auch »keine Träne« (Br I, S. 1422) nachweinte, wie Musil in seinem letzten als Äußerung an die Mitwelt geplanten Brief an Henry Hall Church mitteilen wollte, so klang in einem weiteren späten Reflex auf den verlorenen Verlagskrieg jedoch auch die Einsicht an, in einer kritischen Situation falsch disponiert zu haben, »in einem schweren Augenblick, wo ich innerlich nicht mit mir fertig wurde: Verbot des MoE, Zerstörung der Verhandlungen mit Claasen [sic] oder Schweizer Verlag«. Er zeigte sich geneigt, für seine »innere Opposition gegen die Freunde u. Feinde, Wunsch, weder da noch dort zu sein, u. doch Klage darüber, daß man mich da u. dort abstößt«, die Möglichkeit einzuräumen, dass er »selbst Schuld daran trage« (Tb I, S. 972). Der Rückblick aus der Autor-Perspektive ergibt das Bild, dass Musil zu keiner der namhaften Verlegerpersönlichkeiten, bei denen er in seiner Laufbahn untergekommen war, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen vermochte, weder zu Ernst Rowohlt noch zu Gottfried Bermann Fischer. Ein irrationales 23 24 25
Vgl. Frisé im Kommentar der Briefe-Ausgabe (Br II, S. 475). Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1314. Vgl. Gottfried Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt. Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1971, S. 154 ff.
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Misstrauen vonseiten des Schriftstellers prägte die Verlagsbeziehungen, die Gründe dafür liegen tiefer. Sie hängen mit Musils Beziehung zum Geld zusammen und mit seiner bewussten, von Rationalisierung geprägten Haltung den ökonomischen Grundlagen seiner Tätigkeit als Schriftsteller gegenüber. Diesem Verhältnis zwischen Geld und Geltung (zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital im Sinne Bourdieus) gehe ich im zweiten Teil meiner Untersuchung nach. Es hat mit der Frage zu tun, ob die Henne zuerst da ist oder das Ei. Gibt es Verlage und den ganzen Literaturbetrieb, weil es Literatur gibt, oder gibt es Literatur, damit Verlage, Kritiker, Literaturprofessoren oder Putzfrauen an Theatern existieren können? Dass die Rangordnung dieser Dinge auf dem Kopf steht, hat Musil selbst in seiner ›unzeitgemäßen Frage‹ beschrieben: »Was ist ein Dichter?« Dort stellt er einen »Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen« an: So gibt es unzählige Menschen, die davon leben, daß es Hühner oder, daß es Fische gibt, aber die Fische und Hühner leben nicht davon, sondern sterben daran; anderseits leben sie aber in gewissem Sinn doch auch davon, ja sie werden sogar gemästet, wenigstens eine Weile lang. Dieses Verhältnis ist so verwickelt wie eine Schlinge, in die man nicht ohne Not den Hals stecken soll, aber bei Fischen und Hühnern steht wenigstens fest, was sie sind, und sie bilden keine Störung der Fisch- und Hühnerzucht, wogegen der Dichter ganz entschieden eine Störung der Geschäfte bedeutet, die sich auf der Dichtung aufbauen. (GW II, S. 619)
Für jedermann auch heutzutage verständlich lautet die kritische Frage an den Kunstbetrieb also: Geht es um die Kunst oder geht es ums Geschäft? Bei aller Kenntnis und bei allem Verständnis für die Mechanismen des Literatursystems seiner Zeit, die man Musil nicht abzusprechen braucht: Musils künstlerischer Selbstentwurf »für Menschen, die nicht da sind« (Tb I, S. 880), kam schließlich einer fundamentalistischen Systemverweigerer-Position gleich; sie bildete das logische Ende einer Entwicklungslinie in mehreren Stadien.
2. Das Recht auf Schreiben Was bedeutete in den 1920er und 1930er Jahren die Produktion eines Romans vom konzeptionellen Zuschnitt des Mann ohne Eigenschaften in ökonomischer Hinsicht? Welche Aussichten bestanden, dass der Tauschwert des vollendeten Produkts den zeitlichen Aufwand des Autors bei der Produktion übersteigt, die Produktion also als rentabel zu bezeichnen wäre? Fragen wie diese hat Musil, zumindest in solcher Diktion, nicht formuliert. Die Relation zwischen Produktionszeit und Produktionskosten sowie der ökonomische Marktwert des Produkts war Musil, der sich seiner sonst in allen Dingen sehr bewusst war und der der Welt der Zahlen ausbildungsbedingt nicht fern stand, im rechnerischen Sinn nicht geläufig. Gegen das Kaufmännische hegte er eine auch nach außen hin demonstrierte und sich im Roman spiegelnde Antipathie.
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Einer Neigung zu Kalkulationen allerdings, die sich auf Umfang von noch zu schreibenden Seiten und Dauer der Produktion beziehen, begegnet man im Nachlass durchaus; Musils Berechnungen pflegten freilich in der Regel nicht aufzugehen. Ein ähnlich problematisches Verhältnis wie zum Faktor Zeit im Produktionsablauf hatte Musil zum Faktor Geld. Er scheint ihn im Fortschreiten seiner Konzentration auf den Mann ohne Eigenschaften sukzessive aus dem Bewusstsein zu drängen. Während der Briefwechsel 1922–1925 mit Arne Laurin, dem Redakteur der Prager Presse, ständigen Kleinkrieg um das Honorar dokumentiert, auch die zyklischen Spannungen mit Rowohlt 1925– 1932 ihre Quelle in Musils Sorge haben, vom Verleger finanziell übervorteilt zu werden, sah er sich in den Jahren danach mehr und mehr auf Almosen angewiesen. Zu Geldfragen nahm er eine neurotisch wirkende Haltung mit physischen Abwehrreaktionen ein, die scharfen Beobachtern wie Elias Canetti nicht entgingen: Es war bekannt, daß Musil mit Geld nicht umzugehen verstand, ja mehr noch, eine Abneigung dagegen hatte, Geld in die Hand zu nehmen. Er ging nirgends gern allein hin, beinahe immer war seine Frau dabei, die in der Elektrischen die Tramkarten für ihn löste und im Café für ihn bezahlte. Er hatte kein Geld bei sich, ich habe nie eine Münze oder einen Schein in seiner Hand gesehen. Man hätte denken können, daß Geld mit seiner Hygiene unvereinbar war. Er weigerte sich, an Geld zu denken, es langweilte und belästigte ihn. Es war ganz in seinem Sinne, daß seine Frau Geld wie Fliegen von ihm verscheuchte.26
Karl Otten erinnert sich an Ähnliches: »Seltsam war auch Musils Einstellung dem Gelde, dem Geldschein oder der Münze gegenüber. Er, der in Briefen an Verleger oder Herausgeber von Zeitschriften gerade die Frage der Honorare des langen und breiten erörterte und Überweisungstermine und Modalitäten festlegte, trug nie Geld mit sich! Diese Funktion übernahm seine Frau Martha«.27 Man darf annehmen, dass dem Unvermögen, Fertigstellungstermine einhalten zu können, wie dem demonstrativ abwehrenden Verhältnis zum Geld, nicht bloß eine bewusste strategische Abwehrhaltung zugrunde lag, Geld nahm für Musil vielmehr einen psychischen Symbolwert an. Zur Erklärung der Gründe für Musils schwieriges Verhältnis zu seinen Verlegern, die in der Selbstcharakterisierung zum Ausdruck gelangte, er sei ein »viel zu diffiziles Verlagsobjekt« (Br I, S. 961), trägt die Rekapitulation der Entwicklungsstadien seiner vertrackten Geld-Beziehung bei. Ein einheitlicher Ausgangspunkt, das väterliche Vermögen, begleitet den Autor in paradoxer Weise bis in späte Lebensabschnitte. Der junge Musil befand sich in einem für die Generation der Jahrhundertwende-Schriftsteller nicht untypischen psycho-sozialen Moratorium. Er hielt enge Tuchfühlung mit den Brünner Familienstrukturen, vor allem blieb er vom Familienvermögen 26 27
Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937. München 1985, S. 185 f. Karl Otten: Eindrücke von Robert Musil, in: Karl Dinklage (Hg.): Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 357–363, hier S. 362.
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abhängig, selbst nach seiner Eheschließung. Die Bindung ist bewusst und gewollt, zumindest erscheint es so im Autobiografie-Heft. Ich hatte als Junge und Jüngling ganz naiv die Meinung, daß Geld ein Familieneigentum sei, von den Eltern also zwar genossen werden dürfe, aber doch so verwaltet werden müsse, daß es mir dereinst ungeschmälert, wenn nicht schon vermehrt zukomme. Ich stellte also auch meine Ansprüche daran, und daß ich bis zum 30sten Jahr nur meiner Ausbildung lebte, erschien mir ganz natürlich. (Tb I, S. 922)
Nach dem Berliner Studium schlug er mehrfach Möglichkeiten zu einer Hochschul- bzw. Universitätslaufbahn aus, seine Tätigkeit als Bibliothekar vor dem Ersten Weltkrieg war ihm unangenehm und er suchte sich ihr so gut es geht zu entziehen, was ihm die väterliche Unterstützung gestattete. Dass Musil es als seinen legitimen Anspruch ansah, für seine schriftstellerische Produktion vom Familienvermögen zehren zu können, erklärt sich aus dem Anspruch dem Vater gegenüber, ein Recht auf das Schreiben zu besitzen. Der Anspruch erstreckt sich freilich über die Person des Vaters, der 1924 starb, hinweg auf dessen nachgelassenes Vermögen, welches Musil zur Finanzierung seiner schriftstellerischen Arbeit konsumieren wollte. Dem Versiegen des Familienvermögens wird in der späteren Selbsterklärung Musils für seine Schwierigkeiten bei der Fertigstellung des Romans ein zentraler Platz zugewiesen. Nicht Konsum, nein, Inflation habe das Geld zum Verschwinden gebracht. Dass die Möglichkeit des Vaters, über den Tod hinaus das Recht des Sohnes auf das Schreiben zu gewährleisten, sich auf natürliche Weise erschöpft habe, wird nicht eingeräumt; eine anonyme Macht habe diesen Anspruch vernichtet. Im fallengelassenen Vorwort des Nachlaß zu Lebzeiten steht »Inflation«28 in einer Liste der Gründe für das Fiasko verzeichnet, das ihn zwinge, seinen Nachlass schon zu Lebzeiten herauszugeben. Ausformuliert lautet das Argument in einem verzweifelten Unterstützungsaufruf unter dem Titel Ich kann nicht weiter: »Ich besaß vor der Inflation ein Vermögen, das es mir in bescheidener Weise gestattete, meiner Nation als Dichter zu dienen.«29 Aus Zwischentönen, die das Stichwort Inflation in Musils Manuskripten begleiten, lässt sich der Vorwurf gegen einen widrigen geschichtlichen Verlauf herauslesen, in dem Privatvermögen für Dichter nicht mehr einfach vorausgesetzt werden könne. Wie eine ganze Generation von Söhnen, die aus dem Krieg heimgekehrt nicht mehr an das Leben im von den Vätern und Großvätern geschaffenen Wohlstand anknüpfen konnte, hatte auch Musil Anteil an dem kollektiven Trauma, das der verlorene Krieg und die wertlosen Kriegsanleihen bescherten. Er habe nach dem Krieg »durch die Inflation das gesamte Vermögen« verloren, führt Musil in einem Curriculum vitae im Nachlass (1938) an, sein Vermögen, nicht das des Vaters.30 28 29 30
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/57. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/141. KA/Transkriptionen/Mappe III/3/1.
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Im Entwurf der humorvollen Skizze Was ist ein Dichter? Eine unzeitgemäße Frage (1931) notierte er über den Dichter: »leicht begreiflich, daß er von dem Zeitpunkt an, wo er in der Inflation sein ererbtes Privatvermögen verlor, allerhand Erlebnisse hatte«;31 in der veröffentlichten Endfassung ist dieser Satz nicht mehr vorhanden. Denkmuster des dekadenten Vorkriegsbürgersohns schlagen selbst in späten Bemerkungen noch durch. Der Anspruch dem Vater gegenüber spiegelt sich im Mann ohne Eigenschaften in Ulrichs Beziehung zum Geld, Interpreten lesen das sorglose Leben, das Musils Held führen darf, als Kompensation der Geldsorgen des Autors und als Wunschprojektion. In einer Notiz zum Vermächtnis stellte Musil selbst den Konnex her: »Ulrich ist verwöhnt, reich, unzeitgemäß.«32 Ulrichs Vater, ein »Mann mit Eigenschaften«, mit Vermögen, erteilt seine Zustimmung zu Ulrichs Urlaub vom Leben, indem er diesen Urlaub finanziert, so stillschweigend, dass davon im ganzen Roman weiter so gut wie nicht die Rede ist. Eine der experimentellen Grundannahmen des Romans besteht ja im Austesten der Utopie, ob ein Leben jenseits der väterlichen Lebensersatzordnung möglich ist, wozu die Ökonomie, der Erwerb gehört, aber auch das Schreiben, wie wir noch sehen werden. Die Väter Musils, die wirklichen und die angenommenen, haben ihm selbst den Wunsch nach Urlaub vom Leben, einem Leben im Schreiben, nie erfüllen können. Dass das Familienvermögen als Startkapital für eine schriftstellerische Karriere herhalten musste, dafür ist Musil in seiner Generation kein Einzelfall. Auffallend ist, mit welcher Selbstverständlichkeit Musil auch in späten Jahren noch voraussetzte, von jemandem erhalten werden zu müssen, der ihm das Schreiben ermöglichte. Er übertrug den Anspruch sukzessive auf neue Adressaten, die den Vater als Geldgeber zu ersetzen hatten. In diesem Sinn erscheint das Familienvermögen als primärer Modus der Existenzsicherung; die Wettbewerbsbedingungen des Literaturmarkts können als sekundäre bezeichnet werden und die Verlags- und Marktbindungen ersetzenden Modi als tertiäre. Aus der Analyse der drei Modi könnten sich zumindest Versatzstücke für eine Habitus-Bestimmung des Autors Musil ergeben, unter den soziologischen Voraussetzungen des Bürgertums in der Krise vielleicht für den modernen Schriftsteller als einen über Musil hinausreichenden Fall. Insgesamt erhebt Musil während der Dauer der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften Anspruch auf sieben Modi der ökonomischen Existenzsicherung. Allein schon die große Zahl der beanspruchten Existenzabsicherungsformen unterstreicht den improvisierten Charakter der von Musil angenommenen Schriftsteller-Rolle. Es handelt sich um die folgenden Modi:
31 32
KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/189. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/65.
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primärer Modus
I
Familienkapital
bis 1923
sekundärer Modus
II
Öffentlicher Wettbewerb
1925–33 1936/38
tertiärer Modus
III A III B III C
Bürgerlicher Erwerbsberuf Journalistische Tätigkeit Preise und Förderungen
III D III E
Rente(n) Mäzene
bis 1922 bis 1925 1923/24 1930/33 1936–38 ab 1932
Im tertiären Modus der Existenzsicherung rückte Musils Verhältnis zum Verleger in der Tat aus der Dimension des rein Geschäftsmäßigen hinaus. Musil fühlte sich durch den Verleger – »er glaubt, ich selbst zu sein«33 – in seiner Autonomie eingegrenzt, bei einem eventuellen Verlagswechsel aber, wie er ihn 1931 erwog, gleich wieder »wie ein Kind, das in eine fremde Familie getan wird« (Br I, S. 524). Der Verlag erfüllte für Musil eine umfassendere Aufgabe als bloß den Verkauf seiner Bücher. Deutlich ausgedrückt ist dies in einer elegischen Stelle in der Korrespondenz: Wenn ich dereinst die Schwere dieses Lebens beschreiben sollte, werde ich das Schwerste gewiß nicht vergessen: keinen Verlag zu besitzen, der nach seinen Kräften alles für mich tut, damit ich alles nach meinen Kräften tun kann. Das geht über persönliche Mißhelligkeiten und Sorgen hinaus. (Br I, S. 1006)
Ein weiteres Indiz, dass es Musil um die persönliche Anerkennung seines Tuns durch den Verleger selbst zu tun ist, steuert die Erinnerung Ernst Rowohlts bei: »Musil hatte [. . .] immer die Vorstellung, er müsse mir das ganze Manuskript persönlich vorlesen.«34 Damit verbindet sich der Gedanke, der Verleger müsse für seinen Autor »eintreten« und ihm sogar »Ehrenbezeugung« erweisen, wie es allen Ernstes in einem Briefentwurf im Nachlass heißt (Br I, S. 430). Die Ansprüche Musils lassen sich besonders deutlich aus dem Briefwechsel mit dem Züricher Humanitas-Verlag ablesen, wo Ende 1935 die von Musil selbst zusammengestellte Anthologie von KurzprosaVeröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften unter dem Titel Nachlaß zu Lebzeiten erschien.35 Der Interimsverleger Simon Menzel bekam das durch bittere Erfahrungen seit 1931 gehärtete Geltungsbedürfnis des Autors besonders zu spüren. In einem empörten Brief beschwert sich dieser über eine Verlagsaussendung an den Buchhandel, in der er sich nicht prominent 33 34 35
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/57. Zit. nach: Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 949. Die tatsächliche Auslieferung der ersten Auflage des Nachlaß zu Lebzeiten erfolgte Mitte Dezember 1935, in den offiziellen Veröffentlichungsdaten des Buchs wird 1936 als Erscheinungsjahr angegeben, 1936 erschien eine zweite und dritte Auflage. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1925.
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genug platziert sieht, »eine ganz unverständliche Herabsetzung meiner Geltung«, und er macht die Verbindung mit dem Verlag davon abhängig, ob man sich dort dazu entschließt, »an mir einen Autor zu betreuen, der zu den allerersten gerechnet wird« (Br I, S. 664). Musil hatte aber auch Ernst Rowohlt mehrfach vorgeworfen, er sei »propagandistisch für mich nicht so eingetreten wie für andere«, weil dem Verleger »viele Leute in den Ohren liegen, die genau wissen, daß entweder ich etwas bedeute oder sie.« (Br I, S. 389) Der Anspruch Musils überschritt die routinemäßig und professionell ausgeführten Marketingstrategien eines modernen Verlags. Der Autor forderte ein Grundvertrauen vonseiten des Verlegers ein, das ihm dieser als unbegrenzten Vorschuss auf seine Geltung, seinen Rang, seinen Anspruch, sein Recht auf das Schreiben gewähren sollte; dieses Grundvertrauen ist aus Musils Sicht nicht an das abzuschließende, fertigzustellende Buch gebunden. Ein Verleger wie Rowohlt kann aber letztlich nur nach »Gewinn an Buchdeckeln«36 abrechnen, das »pure Misstrauen«, er werde für die umfangreichen Vorschüsse kein entsprechendes Manuskript bekommen, ließ ihn »den Geldhahn zudrehen« und die Kosten für aufwändige Werbemaßnahmen auf leere Versprechungen hin scheuen, wie schon 1926 beim Abbruch der Zwillingsschwester geschehen.37 Die Weigerung des Verlags, seinen bedingungslosen Anspruch anzuerkennen, löste beim Autor Misstrauen und ein Gefühl aus, beharren zu müssen; das wieder trieb die Abwärtsspirale zur Blockade an, zur Schreibverzögerung, zum Schreibstillstand. Existenzielle und tiefenpsychologische Verankerung erfuhr das Recht auf das Schreiben, das nichts anderes bedeutet als die Behauptung des Primats des Schreibens vor dem Geschriebenen, also des Existenzrechts des Autors vor der Literatur und vor ihrem wie immer strukturierten Betrieb, beim jungen Autor der Vereinigungen. Musil entschied sich für Philosophie bzw. Psychologie und bald darauf auch für das Schreiben und die Literatur gegen den Willen des Vaters, gegen dessen auf harte Tatsachen gerichtetes Zweckmäßigkeitsdenken, dessen Beruf (Technik) und rationalistisches Weltverständnis. Er richtete sich auf die nicht-ratioïde Welt der Mutter und deren Erforschung (Gefühle, Sexualität, Psychologie, Literatur) und nahm es auf sich, sich Aufklärung über das Andere jenseits der mechanistischen Rationalität zu verschaffen. Erster Adressat war der Vater, doch wird ihn die Produktion des Sohnes, seinem Wertesystem entsprechend, nur erreichen, wenn sie verifizierbar ist, wenn sie Erfolg hat. Der Ausdruck des Erfolgs ist ein quantifizierbarer Wert, gesellschaftliche Geltung, ökonomisch ausgedrückt in Tantiemen. Musils Wendung zur Literatur brauchte die Bestätigung des Vaters. Diese Anerkennung blieb allerdings aus, woraus beim Schreibenden eine Kraft des Beharrens erwuchs, die den bisherigen Disput um die Annahme 36 37
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/57. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 942.
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des Produkts durch den Disput um das Recht des Sohnes auf das Schreiben ersetzte. Ein äußerer Reflex der inneren Dispute findet sich in Brief- und Tagebuchreaktionen Musils auf das Drängen des Vaters, der Sohn möge eine fest besoldete Anstellung annehmen bzw. beibehalten (1908–1912). Auch äußerte der Vater »Herzenstöne des Stolzes« (Br I, S. 118) über die Verleihung des Ritterkreuzes 1917. Im einzigen erhaltenen Brief des Vaters vom 13. Januar 1918 drängte dieser den Sohn, doch den Adels- und den Ingenieurstitel zu führen (vgl. Br I, S. 138). Die vom Vater herrührenden Insignien haben höheren Wert als die zweifelhaften literarischen Ehren, die der Sohn anzuhäufen suchte. Zu erkennen sind Verschiebungen in mehrere Richtungen: Musil wurde nicht Schriftsteller, um Geld zu verdienen, sein Antrieb kehrte sich sogar ins Gegenteil: Obwohl er kein Geld verdiente, wollte er das Schreiben als sein Recht gegen den Vater und dessen Repräsentanten, die in der Gesellschaft allerorts anzutreffen waren, verteidigen. Aus diesem Zusammenhang erwuchs ein fest gefügter Denk- und Handlungsmodus: Musils Beharren auf seinem Recht auf das Schreiben. Das Pochen auf dieses wirkte auf das gesellschaftliche Selbstverständnis, den sozialen Status und die ökonomische Situation des Schriftstellers, seinen Habitus. Musils Selbstdefinition als Autor schlug sich in komplementären Denk- und Handlungsmodalitäten nieder, in dem vorwiegend veröffentlichten Vorstellungskomplex vom Dichter und in dem vorrangig privaten Vorstellungskomplex Musils von seiner Geltung. Dabei stellte sich Musil nicht von vornherein gegen die Regeln des literarischen Wettbewerbs, im Gegenteil: Die Lektüre der Korrespondenz, welche die Teilpublikation des Mann ohne Eigenschaften 1930 begleitet, vermittelt den Eindruck, er habe die Öffentlichkeit gesucht und ihre Resonanz mit Ungeduld erwartet. »Ihre Nachricht, daß das Manuskript im Verlag [. . .] gefällt, kommt nicht zu spät«, schrieb er, während er noch mitten in der Fertigstellungsarbeit des Ersten Buchs steckte, »in meiner ständigen Depression bin ich Ihnen sehr dankbar für die Mitteilung. [. . .] Aber warum will Rowohlt nur 5000 drucken?« (Br I, S. 461) 1931 bereitete er mehrfach Anfragen an Rowohlt nach der Entwicklung der Auflagenhöhe des Ersten Buchs vor: »5200 sind gedruckt [. . .]. Erst 20. VIII 31 hieß es, nur 4800 gedruckt« (Br I, S. 523). An der Aufnahme des ersten Romanbands nahm er regen Anteil, sie war allerdings dazu angetan, den Autor nüchtern zu stimmen. Die Klagenfurter Ausgabe ediert auch die von Musil selbst angelegte Zeitungsausschnittsammlung mit Rezensionen zum Ersten und Zweiten Buch, welche im Wiener Nachlass gesondert aufbewahrt liegen. Wie intensiv der Autor sich mit den Kritiken befasste, bezeugen vielfache farbige Unterstreichungen und handschriftliche Anmerkungen. Das Erste Buch stellte sich vor allem als ein großer Kritikererfolg dar, der die zu der Zeit bereits bedrückende finanzielle Situation Musils freilich keineswegs zu entschärfen vermochte. Dass »man den Mann ohne Eigenschaften imstande ist, bis auf das Höchste zu loben, beinahe ohne daß dabei für den Dichter etwas abfällt«, verwundert ihn. Die Feststellung
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bezieht sich nicht, wie man in Unkenntnis des Kontexts vermuten würde, auf finanziellen Misserfolg, sondern darauf, dass der Autor »unter den deutschen Dichtern bisher unterschätzt worden sei, davon spricht kein Mensch, so als ob das eine ganz andere Sache wäre.« (Br I, S. 504) Die literarische Öffentlichkeit trat in ein Gläubigerverhältnis zu Musil, sie hatte rückwirkend Wiedergutmachung dafür zu leisten, dass sie den Autor bisher nicht ausreichend registrierte. Angesichts dessen darf das Ausbleiben öffentlicher Resonanz auf den ersten Teilband des Zweiten Buchs als zusätzlicher Erklärungsfaktor für die Starre herangezogen werden, in die der Schriftsteller 1933 verfiel. Das Schreiben an Thomas Mann vom 5. Dezember 1932 bestätigt, wie sehr sich Musil durch die Publikation des Teilbands in die Geiselhaft öffentlicher Anerkennung begeben hatte. Thomas Mann bezeichnete den Mann ohne Eigenschaften 1932 in der Weihnachtsumfrage des Tagebuchs neuerlich, wie schon 1930, als bestes Buch des Jahres. Bevor er nach dem Aufruf »Lest es!« seine Argumente für Musils Roman formulierte, sprach der Rivale sehr direkt die mangelnde Markttauglichkeit an: Braucht Robert Musils großer Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ heute noch meine Empfehlung? Er braucht sie nicht, ich bin durchdrungen davon, in der Sphäre des Geistes. Aber er braucht sie im elend Wirklichen. Denn er wird nicht gekauft oder nicht hinlänglich gekauft, daß die Vollendung des großartigen Planes gesichert wäre, – dieser Riesenkomposition anschaulichen Geistes, an der Musil seit zehn Jahren arbeitet, und deren zweiter – mittlerer – Band dem seit zwei Jahren vorliegenden glanzvollen ersten noch diesen Winter folgen soll. Der Verlag, so hört man, erklärt sich außerstande, die Fortführung des Werkes zu finanzieren, wenn nicht ein größerer ›Erfolg‹ sich einstelle, das Unternehmen ist gefährdet, der Dichter von Entmutigung bedroht. Das ist traurig, beängstigend und beschämend. Man muß die Öffentlichkeit aufrufen und sie ermahnen, daß sie sich nicht durch Teilnahmlosigkeit [sic] schuldig mache an der Verkümmerung einer kühnen Idee, eines dichterischen Unternehmens, dessen Außerordentlichkeit, dessen einschneidende Bedeutung für die Entwicklung, Erhöhung, Vergeistigung des deutschen Romans schon außer Zweifel steht.38
Die Zustimmung des Literatur-Nobelpreisträgers erwies sich aber weder als wirksam genug, um die allgemeine Aufnahme durch die Kritik und die Verkaufsziffern (und damit das Verhältnis zum Verlag) zu verbessern, noch ließ sie Musil die nötige Ermutigung zukommen. Fraglich bleibt, ob die direkte Intervention Thomas Manns überhaupt eine Chance hatte, dem Abdriften des literarischen Mainstreams in die Bahn der völkischen Literatur in den Wochen der ›Machtergreifung‹ Hitlers noch eine Wendung zu geben. Mitte der 1930er Jahre fühlte sich Musil gebremst, aber noch nicht besiegt. Public relations war ihm zwar dem Begriff nach, doch nicht in der Bedeutung fremd. Bemühungen, zur Anregung von Übersetzungen und damit zur Vermittlung des Romans im nicht-deutschsprachigen Ausland sowie zu einem 38
KA/Dokumente/Zeitgenössische Rezensionen/Thomas Mann in: Das Tagebuch, 3. 12. 1932.
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größeren Bekanntheitsgrad in Österreich beizutragen, nachdem das Dritte Reich als Markt so gut wie nicht in Frage kam, dokumentieren das Öffentlichkeitsbewusstsein des Autors. In einem Brief an den Redakteur Moritz Scheyer vom Neuen Wiener Tagblatt, dessen Entwurf im Nachlass erhalten ist, beanstandete Musil im Januar 1936 mit sehr scharfem Blick auf das Detail eine fehlgelaufene PR-Aktion, eine Rezension des eben in Zürich erschienenen Nachlaß zu Lebzeiten: Ich bitte Sie, sich das Blatt vom 12[.] Jänner, Seite 28 vorzunehmen, wo die Besprechung zu finden ist. Als große Überschrift steht dort, wenn Sie es mit zeitungskundigem Auge betrachten: ›Von neuen Büchern‹, darunter in Halbgröße: ›Eine neue Dichterin‹, ›Ein Buch vom Sterben‹ und ›Roman u Erzählung‹, und erst als ein Teilchen des letzteren Teils werden Sie mich finden. Redaktionell bin ich also offenkundig nur mit 1/15 bewertet worden, um es kurz zusammenzufassen. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich sehr darüber ärgere, denn das T[ag]b.[latt] hat heute großen Einfluß, und sowohl der durchschnittliche Zeitungsleser als auch der sehr vom Äußern abhängige Wiener Sortimenter richten sich nicht nach dem freundlichen Gehalt von Rutras Worten, sondern nach dieser Art der Darbringung. Die Behandlung, die ich dabei gefunden habe, ist ja wohl indiskutabel u. entspricht meiner Stellung nicht, auch wenn man diese noch so skeptisch beurteilen wollte. Sie selbst haben einmal die Güte gehabt, in einem Feuilleton über mich die Frage aufzuwerfen, warum ich in Österreich so wenig bekannt sei. Ich darf heute, wie ich glaube, auf diesen Fall als ein Beispiel hinweisen, dem ein großer Teil der Antwort abzulesen ist. (Br I, S. 701 f.)
Deutlich erkennbar ist neben dem ausgeprägten Sinn für werbepsychologische Einzelheiten die Betonung der eigenen Stellung, zu übersetzen mit Marke Autor, im Literaturbetrieb. Das Streben nach Öffentlichkeitswirksamkeit musste sich nach dem Wegfall Deutschlands als Markt auf die noch zugänglichen deutschsprachigen Märkte Österreichs, der Schweiz und der Tschechoslowakei beschränken, sichtbar in weiteren Briefen Musils, an Harry Goldschmidt etwa, Musikkritiker der Nationalzeitung (Basel), in dem er sich über die öffentliche Resonanz seiner Lesung in Basel am 17. November 1935 Aufschluss zu verschaffen sucht. Darf ich Sie noch um drei kleine Gefälligkeiten bitten, weil ich zu sehr in Anspruch genommen bin, sie mir selbst zu leisten: 1) um die Zusendung der Besprechung in Ihrem Blatt, die ich noch nicht gesehen habe 2) um eine Nachricht, ob die Züricher Z[ei]t[un]g. in ihrem Schweigen verharrt oder von mir doch noch Notiz genommen hat 3) um den Namen des Herrn, der in unserer Gesellschaft gewesen ist und in den Basler Nachrichten über mich geschrieben hat. (Br I, S. 674)
Musils internationales Renommee blieb freilich beschränkt und seine Stellung im Literaturbetrieb des ständestaatlichen Österreich die eines Außenseiters. 1931 beklagte er sich noch eher scherzend: »Jetzt kämpft das vereinigte Philistertum Österreichs dafür, daß Wildgans den Nobelpreis erhalte, [. . .] und mir, der ich in solcher Konkurrenz nicht chancenlos wäre, fehlt die Hauptwaffe« – nämlich der fertige Mann ohne Eigenschaften (Br I, S. 513). In das Autobiogra-
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phie-Heft trug er 1937 ein: »Es ist mir verwehrt, in Österreich ein Dichter zu werden« (Tb I, S. 920); und 1940/41 stellte er die »Unfähigkeit solcher Tätigkeit wie meiner« fest, »auch nur auf den Oberösterreicher oder Kärntner zu wirken« (Tb I, S. 993). Es entspricht Musils Verständnis seiner öffentlichen Stellung, dass er es ablehnte, sich der Literatur des 1938 von der Landkarte Europas eliminierten Österreich zurechnen zu lassen. Er wollte auch angesichts des Schrecken verbreitenden Deutschen Reiches ein deutscher Dichter bleiben und nicht zur Rolle des österreichischen Schriftstellers Zuflucht nehmen und den Boten eines verlorenen Landes von peripherer Geltung spielen. Posthum formuliert: »Robert wäre aber nicht recht gewesen, daß man ihn immer den ›österreichischen‹ Dichter nennt.«39 Von der Öffentlichkeit der deutschsprachigen Schweiz fühlt sich der Immigrant ignoriert. Er rächt sich damit, das Land, das sich für das »Beste aller Welten hält«, in dem er sich bis zuletzt deplatziert fühlt, wegen seiner anachronistischen Biedermeierlichkeit zu verachten (Tb I, S. 811; siehe weiters Tb I, S. 803–806, 985, 994 u. 945).40 Musils Geltungsbewusstsein, geprägt von der langen finanziellen Abhängigkeit vom Vater, der nie geglückten (nie entschieden angestrebten) Integration in ein bürgerliches Berufsleben, den Abhängigkeitsverhältnissen von Zeitungen, Zeitschriften und Verlagen, ist das eines sozial und ökonomisch Machtlosen, eines dagegen intellektuell und emotional Machtbewussten und Machtbedürftigen. Die Charakterisierung des jungen Musil durch Moritz Heimann, Lektor beim S. Fischer Verlag, adressiert an Samuel Fischer, den Eigentümer der Neuen Rundschau, bei der Musil 1914 als Redakteur angestellt ist, deutet schon auf das ausgeprägte und von der Umwelt als problematisch empfundene Streben nach Geltung hin: Sein Talent, das unnachgiebig und diamanthart ist, ist doch auch zähe und entbehrt der eigentlichen Produktivität, worunter ich nicht die Menge des Geschaffenen verstehe, sondern eine eigentümliche, schwer zu definierende Spannung. Ganz im Einklang damit ist es, daß seine Natur und sein Geist um sich selber kreisen, in allen Instinkten exklusiv sind und des Hochmuts sich nur aus Höflichkeit entschlagen.41
Hinter der Spannung, die antreibt, jedoch auch den Abschluss der Produktion verzögert, steht Musils Wille, besser sein zu wollen als die anderen. Er empfand stets ein ausgeprägtes Konkurrenzverhältnis zu Autoren, die bei ähnlichen Zielen erfolgreicher waren. Thomas Mann gegenüber sah er sich insgeheim einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, je mehr der Rivale sich öffentlich für ihn aussprach. So hegte er Sorge, als Plagiator angesehen zu werden. Für eine seine Vorreden notierte er 1930, bezogen auf eine 39 40 41
KA/Dokumente/Briefe Martha Musils/Martha Musil an Nellie Kreis, 18. 5. 1942. Vgl. dazu auch den Beitrag von Rosmarie Zeller in diesem Band. Moritz Heimann an Samuel Fischer, 10. 1. 1915, in: Samuel Fischer, Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt a. M. 1989, S. 337–345. Zit. nach: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 69–73, hier S. 69.
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Beschreibung der körperlichen Erscheinung Diotimas: »Fettpolster wird an Zauberberg erinnern«.42 Die geplante Rechtfertigung unterblieb freilich; was Musil sich vornahm, klingt auch wenig überzeugend: »Sagen, daß gleichzeitig entstanden, in der Luft liegt, daß es also auf das ankommt, was der Autor dazu sagt«. Broch gegenüber agierte er selbst mit dem Plagiats-Vorwurf. »Ich habe aber die Ehre, ihre militante Art seit Jahren zu kennen«, begann der Autor der Schlafwandler seine Gegenwehr gegen einen brieflichen Anwurf Musils, der nicht erhalten ist, dessen Tenor aber aus Brochs Antwort rekonstruierbar scheint: »An und für sich ist Ihr Brief, verehrter Herr Doctor, nämlich unbeantwortbar. Denn der kaum versteckte Vorwurf, ich hätte Ihren Namen verschwiegen, um meine eigene Wirkungsmöglichkeit zu sichern oder zu vergrößern, ist [. . .] einfach ungeheuerlich.« (Br I, S. 580) Offenbar konnte Musil »keine Ähnlichkeit mit zeitgenössischen Werken [. . .] ertragen«,43 er insistierte unnachgiebig auf seiner eigenen unbedingten Originalität. Dass er »manchmal sehr bewußt auftrete«, entschuldigte er dem dänischen Kritiker Frederik Schyberg gegenüber damit, »daß ich mich fast ebenso lange, als ich schreibe, in einem latenten Gegensatz zur zeitgenössischen Literatur, vornehmlich zur deutschen befinde« (Br I, S. 956). Er sah sich nicht außerhalb des literarischen Felds der Dichtung seiner Nation stehen, doch sein Schreiben war für ihn Wettbewerb, das Werk die Waffe. Elias Canetti analysierte diesen agonalen Zug an Musil: Seine Haltung zu Männern war die des Kampfes. Er fühlte sich im Krieg nicht fehl am Platz, er sah darin eine persönliche Bewährung. [. . .] Er hatte eine natürliche oder sagen wir traditionelle Einstellung zum Überleben und schämte sich ihrer nicht. Nach dem Krieg trat der Wettbewerb an dessen Stelle, darin war er wie ein Grieche.44
Im dritten und letzten Stadium seiner schriftstellerischen Laufbahn bäumte sich Musil vergeblich gegen die Unmöglichkeit auf, angesichts des Zusammenbruchs der Zivilisation im Jahr der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ 1933 die Literatur weiter als Waffe verwenden zu können. Doch nicht er hatte versagt, sondern das System. Er schrieb weiter, nun schrieb er jenseits des Systems, auch wenn er es nicht wusste, für eine Generation, die noch nicht war.45 Der Lektor in Stockholm sollte angesichts seiner Pläne nicht befürchten, er »schaukle auf Spinnefäden, ohne ein Ende zu finden« (Br I, S. 931), doch das war nur mehr Taktik für einen Plan B, an den er selbst nicht mehr glaubte. In seinem letzten Brief vom 23. Dezember 1940 an Zuckerkandl, der da schon in Amerika war, gestand Musil, »daß ich noch immer den Mann ohne Eigenschaften wie ein Paar Handschellen an mir hängen habe; ich bin auch gar nicht weiter gekommen mit dem Buch, doch hoffe ich: tiefer. [. . .] Es 42 43 44 45
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/222. Heftrich: Musil (s. Anm. 2), S. 50. Canetti: Das Augenspiel (s. Anm. 26), S. 180. Vgl. Tb I, S. 880: »ich schreibe für Menschen, die nicht da sind!«
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ist so etwas wie Selbstbehauptung der Dichtung gegenüber den allzu heftigen Mächten der Wirklichkeit.« (Br I, S. 1254) Längst war er, und nun aus besseren Gründen als in seiner Jugend, auf die Behauptung seines unbedingten Rechts auf das Schreiben zurückgekehrt.46 Der Vater, für den Verleger und Mäzene als Stellvertreter eingetreten waren, ist nicht mehr der innere Auftraggeber, der er in den Anfängen vielleicht gewesen war. Bereits im Todesjahr des Vaters notierte Musil in einem Vorwort-Entwurf für den Roman: »Ich widme diesen Roman der deutschen Jugend. Nicht der von heute [. . .], sondern der, welche in einiger Zeit kommen wird und genau dort wird anfangen müssen, wo wir [. . .] aufgehört haben.«47 Darauf ruht sein Recht. Deshalb schreibt er. Literatur ist kein Geschäft. Autorschaft ist kein Beruf. Schreiben ist – Berufung.
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Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 144. Klaus Amann beschreibt Musils (kultur)politische Haltung ebenso als Konsequenz von »Musils Hingabe an diesen selbstgestellten Anspruch, seine ganze Existenz dem Werk zu widmen«. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/187.
Oliver Pfohlmann
»Glücklich und feldzugsplanend«? Robert Musil, die Neue Rundschau und die »Jüngste Generation«1 Abstract: It is well known that Robert Musil expressed vehement disdain for expressionism in the period between the World Wars. However, little regard has been paid to his championing of early expressionism. In early 1914, he hired on as an editor and critic at the publisher Samuel Fischer’s Neue Rundschau in order to position himself as a »leader« of the »youngest generation«. This episode reveals a »different« Robert Musil: not a solitary figure grappling with the literary world, but rather one who felt a kinship with the avant-garde, and who was indeed an involved, committed agent and proponent thereof. The outbreak of war brought an untimely end to Musil’s liaison with the youth.
1. Musil und »Die schreibenden Menschen« Mitte der 1920er Jahre notierte Robert Musil bei der Arbeit an seinem Roman, der damals noch den Titel Die Zwillingsschwester trug: Ich widme diesen Roman der deutschen Jugend. Nicht der von heute – geistige Leere nach dem Krieg – ganz amüsante Schwindler – sondern der, welche in einiger Zeit kommen wird u. genau dort wird anfangen müssen, wo wir vor dem Krieg aufgehört haben [. . .] (Darauf beruht auch die Berechtigung, heute einen Vorkriegsroman zu schreiben!!)2
Das, womit Musil selbst aufhörte, als ihn im Sommer 1914 der Kriegsausbruch überraschte, lässt sich dank seines Nachlasses recht genau bestimmen: Es war eine neue Folge seiner Literarische Chronik benannten Sammelbesprechungen für die Neue Rundschau, die für die September- oder Oktoberausgabe gedacht war. Von ihr konnte er nur noch den ersten Teil fertigstellen, eine problemorientierte Einleitung mit dem Titel Die schreibenden Menschen. Dabei 1
2
Eine erste Beschäftigung des Verfassers mit dem Themenkomplex »Musil als Literaturredakteur der Neuen Rundschau« erschien unter dem Titel: »Ein Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften« – Robert Musil, die ›Neue Rundschau‹, der Expressionismus und das »Sommererlebnis im Jahre 1914«, in: Weimarer Beiträge 49 (2003), H. 3, S. 325–360 (darin auch eine Analyse von Musils Reaktion auf den Kriegsausbruch und seines Essays Europäertum, Krieg, Deutschtum). Einige Passagen dieser ersten Untersuchung gingen in die vorliegende Darstellung ein. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/187 (Vorwort Zwillingsschwester 3).
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handelt es sich um eine pessimistische Reflexion über das sich in der Moderne immer weiter ausdifferenzierende Kultursystem und die damit verbundenen Folgen für die Literatur. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war eine schon damals nicht mehr zu überblickende Buchproduktion, die den Dichter vermuten ließ: »[E]s muß mit dem leben des Lebens etwas nicht stimmen, wenn die Auswanderung auf das Papier so groß ist.«3 Noch erstaunlicher sei aber, so Musil weiter, dass diese Schriftflut nur noch selten der Kommunikation diene, sondern im Gegenteil »der Abschließung einer Menschengruppe« gegenüber anderen. Die Kultur als Ganzes zerfalle so in immer mehr und immer kleinere hochspezialisierte Teilbereiche. Jeder Teilbereich – heute würde man sagen: Subsystem – sei nach außen hin tendenziell anschlusslos, weite sich aber intern zu einem unendlich großen Mikrokosmos, jeder mit seinen eigenen Helden, wie etwa in einer Zeitschrift für Schuhe, in der »plötzlich ganz groß ein Herr Soundso auf einen zu[kommt], der in wahrhaft genialer Weise dem amerikanischen Schuh den Weg nach Europa geebnet haben soll.«4 Die psychosozialen Folgen der fortschreitenden Ausdifferenzierung bestehen nach Musil vor allem im Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu einem »Ganzen«. Gemeinschaftsgefühle würden zwar gern beschworen, seien aber nur noch in »Ausnahmsstunden« fühlbar: [Der Einzelne] fühlt widerwillig, daß er in etwas Übergroßem aufgeht, von dem er an greifbarer Gegenleistung, außer einigen Bequemlichkeiten, gegen die er rasch abstumpft, eigentlich nur die Garantie erhält, daß es ohne Störung auch weiter so bleiben dürfe. Von all den unerhörten Erlebnissen, die er als Kind auf sich warten glaubte, erlebt er nichts oder ein weniges, das zufällig an seinem Lebensstandort vorbeitreibt.5
Ausgelebt werde das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und ›unerhörten Erlebnissen‹ vor allem im Teilbereich der Literatur. Das Subsystem Literatur zeichnet sich für Musil dadurch aus, dass in ihm die ewig gleichen Inhalte nur immer wieder anders gewendet werden. Während sich dabei die Autoren in ihren vier Wänden als Weltherrscher fühlen können, sind die Leser froh, so Musil, wenn ihnen niemand etwas Neues zumutet, sondern ihnen der Autor als »Gesinnungsgenosse[ ]« entgegentritt, als »Auslagenarrangeur seines Innern«. »Die Folge davon« sei die außerordentliche Einflußlosigkeit dieser Literatur auf das Ganze u. ihre Herabsetzung zu einer leeren Selbstbestätigung der Autoren. Sieht man sie täglich von unzähligen sonst netten Europäern wie eine harmlose Gewohnheit ohne Leid u zwischen den täglichen Pflichten vollzogen, so wächst die Vorstellung davon zu der einer häßlichen Manie, eines verspäteten Knabenlasters schnurrbärtiger Männer.6 3 4 5 6
KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/13. KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/13. Alle KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/14. Alle KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/15.
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Nun schrieb aber derselbe Robert Musil im selben Sommer 1914 in einem anderen Essayfragment, er messe der Literatur »eine Wichtigkeit bei, die weit über die Wichtigkeit andrer menschlicher Tätigkeiten emporragt«.7 Ja, was nun: wichtigste menschliche Tätigkeit oder doch nur eine Form der Masturbation?
2. Musil glüht Sicher ist jedenfalls: Musil fühlte sich 1914 zugehörig, nämlich zur Avantgarde, oder boshafter gesagt, zum Expressionismus – also zu eben jener Literaturströmung, von der er Jahrzehnte später behaupten würde, er hätte sie zwar mit den Vereinigungen unbeabsichtigt eingeleitet, aber weiter nichts mit ihr zu tun haben wollen.8 Sicher ist aber auch, dass Musil 1914 Einfluss auf die Literatur nehmen wollte, und zwar richtig, also nicht durch ein neues Buch – auch wenn er zu dieser Zeit gerade an den Schwärmern laborierte –, sondern als Literaturredakteur bei der Neuen Rundschau, der Kulturzeitschrift des S. Fischer Verlags in Berlin. Vergleicht man die nur wenige Monate ausgeübte Tätigkeit mit seinen anderen beruflichen Versuchen im Laufe seines Dichterlebens, so muss man sie als Sonderfall in Musils Biografie einstufen: Sie war mehr als nur ein weiterer seiner halbherzigen Versuche, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein ›bedeutender Mann‹ zu werden.9 Es ging in diesem Fall auch nicht vorrangig darum, sich den Lebensunterhalt zu verdienen – auch wenn die neue Tätigkeit sehr gut bezahlt war10 und auch wenn sie natürlich mit erheblichem symbolischem Kapital verbunden war. Und schon gar nicht kam Musil zur Neuen Rundschau wie Ulrich zu seiner Stelle als Ehrensekretär der Parallelaktion, also nach dem Prinzip des unzureichenden Grundes. Nein, Musil steuerte diese Redakteursstelle über Jahre hinweg zielstrebig an, ja, für seine Verhältnisse war er sogar regelrecht heiß auf sie. Das ist auch deshalb überraschend, weil er noch Anfang Dezember 1910 konstatiert hatte: Im Streben nach Verdienst nach Möglichkeiten gesucht, für Zeitungen u Zeitschriften zu schreiben. Der Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rundsch. oder im Pan ist mir zu ekelhaft. Wenn irgend ein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der u. jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen. Ich muß dies festhalten, hier ist ein Widerstand, über den ich nicht hinweg soll. Einzige Entschuldigung: fixes Engagement – habe ich einstweilen nicht. / Was man so verstreut 7 8 9 10
KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/413 (Möglichkeit einer Ästhetik). Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe III/3/1. Vgl. dazu Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 23–49. Fischer vereinbarte mit Musil ein Jahresgehalt von 5000 Mark, vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 472. »Die Verbesserung seines Gehalts gegenüber Wien war für Musil bei S. Fischer [. . .] nicht unerheblich.« (S. 1595)
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schreibt, muß Bruchstück, mindestens Abfall, eines breiten, nicht zufälligen Strebens sein.11
Doch bereits im Sommer 1912 schrieb Musil an seinen Förderer Franz Blei, der für ihn den Kontakt zu dem Verleger Samuel Fischer vermittelte: Fischer hat mir noch nicht geschrieben; ich würde bestimmt annehmen, wenn man mich schreiben läßt, (über Bücher) was ich will; ich wäre sogar sehr glücklich und feldzugsplanend. Ihnen daher sehr (Steigerungen gibt es nicht mehr) dankbar, wenn Sie ihn – sollte er’s jetzt nicht tun – ein andermal daran erinnerten.12
Einstweilen empfahl sich Musil für höhere Aufgaben mit programmatischen Essays und Kritiken, im Pan, im Losen Vogel und auch schon in der Neuen Rundschau, und knöpfte sich dabei gleich Verlagsgrößen wie Gerhart Hauptmann und Hermann Bahr vor.13 Das scheint auch Samuel Fischer imponiert zu haben; im Januar 1914 lud der Verleger Musil zu einem Vorstellungsgespräch nach Berlin ein. Neben der Redakteursstelle ging es dabei auch um die Übernahme seiner beiden ersten Buchpublikationen durch Fischers Verlag.14 Hinterher notierte der Dichter: Gang zu Fischer. Ich nehme mir unterwegs vor, die geschäftlich exorbitante, persönlich mir notwendige Forderung zu stellen. Sie erscheint mir so unmöglich, daß ich zu dichten beginne. Ich merke ein leises Nachgeben im andern. Ich glühe. Ich habe nur den einen Willen, den Erfolg nachhause zu bringen. Ich spüre überhaupt, daß ich einen Willen habe. Eine ganz harte, glückselige Beziehung zwischen zwei Menschen.15
Ist der erfolgsfixierte, feurige Autor dieser Zeilen wirklich Robert Musil, der sich einmal eine autistische Veranlagung zuschreiben wird und seine Zeit häu11 12 13
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KA/Transkriptionen/Heft 5/38. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Franz Blei, 12. 6. 1912. Musil verriss Gerhart Hauptmanns Stück Gabriel Schillings Flucht (Anfang 1912 in der Neuen Rundschau vorabgedruckt) im Losen Vogel, Nr. 4/1912. Zu seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hermann Bahrs Essayband Inventur in der Neuen Rundschau, Nr. 9/1913, schrieb er Oskar Bie, Fischers Chefredakteur und damit sein Vorgesetzter in spe, vorsorglich: »Inhaltlich bin ich wegen Bahr etwas besorgt, weil es keine rechte Geburtstagshaltung ist, sich mit ihm zu balgen. Allerdings, vielleicht doch die rechte, denn er selbst sagt, daß ihm Widerspruch lieber sei als bloß Lob. Auch betone ich (beim Übergang zu Blei), daß der Widerspruch nur dem einzelnen Buch gilt und bemühe mich ansonsten, meine allgemeine Wertschätzung für Bahr überall durchblicken zu lassen, wo es die Geschlossenheit des Ganzen gestattet. Auch glaube ich wohl, was ich schrieb, daß Bahr es sich diesmal, trotz aller Paradoxie, geistig ein wenig behaglich gemacht hat. Wenn Sie meinen, daß ich noch etwas ändern soll, bitte ich Sie so um Mitteilung, daß ich es noch bei der Korrektur einfügen kann.« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Oskar Bie, August/September 1913) Vgl. dazu den Brief Franz Bleis an Kurt Wolff vom April 1913 in: Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers 1911–1963. Hg. v. Bernhard Zeller u. Ellen Otten. Frankfurt a. M. 1966, S. 75 f. KA/Transkriptionen/Heft 7/34 u. 35.
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fig mit dumpfem Brüten und aus dem Fenster Schauen verbringt?16 Der im Jahr zuvor monatelang wegen schwerer Neurasthenie mit Herzrasen, Depression und hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdbarkeit berufsunfähig war?17 Man kann es kaum glauben. Natürlich lassen sich gewichtige biografische Gründe für Musils ungewöhnlichen Enthusiasmus anführen: Dass er nach seiner Heirat mit der zweifachen Mutter Martha Marcovaldi im April 1911 als Familienvater Geld verdienen musste, verstand sich von selbst. Ebenso klar war aber auch, nach dem Debakel mit den Vereinigungen, dass er wenig Aussichten hatte, von seinen nicht gerade mainstreamtauglichen Texten als freier Autor leben zu können. Zwar hatte er seit 1911 eine Stelle als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien, die von außen gesehen als durchaus zumutbar erschien.18 Musil allerdings fühlte sich von dieser sicheren Beamtenstelle aller Zeit und Energie zum Schreiben beraubt, weshalb er sich in die genannten psychosomatischen Symptome flüchtete. Darüber hinaus freilich haftete ihr der Makel an, dass sie ihm von seinem Vater verschafft worden war. Die demütigende Erfahrung, im Alter von dreißig Jahren und voller ehrgeiziger Pläne aus dem vor Aufbruch, gerade auch in der Literatur, schier berstenden Berlin vom Vater zurück ins heimatliche Österreich zitiert zu werden, findet im Mann ohne Eigenschaften das bekannte Echo.19 Man kann sich vorstellen, welch eine Genugtuung gegenüber seinen Eltern für ihn die Aussicht auf eine fast schon triumphale Rückkehr nach Berlin bedeutete! Soweit die biografische Gemengelage. Sie reicht aber nicht aus zu erklären, warum Musil gerade diese Redakteursstelle unbedingt haben wollte. Entscheidend dafür war das Vorhaben, für das er die Redaktion der Neuen Rundschau verstärken sollte. Und hier trafen zunächst mit dem zwar renommierten, aber kommerziell erfolglosen Dichter Robert Musil und dem mächtigen Verleger Samuel Fischer zwei höchst ungleiche Akteure des literarischen Feldes aufeinander – die sich jedoch für die geeigneten Partner hielten, eine Art Zweckbündnis einzugehen. Was also zog Musil zur Neuen Rundschau? Welche Pläne hatte er, welche Fischer mit ihm? Inwieweit konnte Musil seine Absichten in der kurzen Zeit seiner Redakteurstätigkeit verwirklichen? 16 17 18
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Vgl. dazu KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Stefanie Tyrka, 31. 5.–2. 6. 1902, sowie KA/Transkriptionen/Mappe III/5/35. Vgl. in KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Dokumente die Atteste von Dr. Otto Pötzl vom 3. 4. und 28. 7. 1913 sowie von Dr. Blanka vom 17. 4. und 10. 8. 1913. Da sie ihm offenbar nur die Vormittagsstunden kostete, vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 1575, sowie KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Alois Musil, 12. 5. 1911. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/Kap. 19. Schon im Vorfeld hatte Musil über die Aussicht einer Rückkehr nach Wien als Bibliothekar resigniert geschrieben: »Wird etwas aus Wien, dann betrachte ich mich als endgültig unter die Räder gekommen, wird nichts, ist es fast noch schlimmer.« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Johannes von Allesch, 10. 9. 1910)
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3. Musil will nicht nur eine »juryfreie Ausstellung« veranstalten Zunächst: Wenn nach der Jahrhundertwende eine Zeitschrift die Moderne repräsentierte und den Anspruch vertrat, ihr die Richtung zu zeigen, dann war es die 1890 von Otto Brahm und Samuel Fischer unter dem Titel Freie Bühne für modernes Leben gegründete Zeitschrift Die neue Rundschau. Sie war das führende Kulturorgan des gebildeten, liberalen Bürgertums.20 Die Namen der Beiträger, nicht nur aus Kunst und Literatur, sondern auch aus den Wissenschaften, lesen sich wie ein Who is Who der bedeutendsten Intellektuellen der Epoche. Gerade die Diskussion neuer Gedanken und Erkenntnisse in essayistischer Form, das Zusammentreffen von Literatur und Wissenschaft in einem Medium, war für diese Zeitschrift charakteristisch. Die damals tonangebende Kulturzeitschrift im deutschsprachigen Raum dürfte die Gedankenwelt gerade des jungen Robert Musil entscheidend mitgeprägt haben.21 Die kulturelle Aufbruchs- und Reformbewegung der Jahrhundertwende – die »letzte[ ] geistige[ ] Bewegung in Deutschland von großer lebendiger Kraft«22 , wie Musil 1923/24 schrieb – wurde von keiner anderen Zeitschrift auf so hohem intellektuellen Niveau diskutiert. 1912 schrieb Musil in Franz Bleis Losem Vogel leicht ironisch von der »vielgelesenen literarischen Zeitschrift, deren leider oft übersehenes Verdienst darin besteht, an der Spitze des kulturellen Fortschritts zu marschieren und ihn dadurch vor einem halsbrecherischen Tempo zu behüten.«23 Schon ein, zwei Jahre später allerdings mehrten sich die Stimmen jener, für die die Neue Rundschau eben nicht mehr an der Spitze des kulturellen Fortschritts marschierte. In der Literatur kündigte sich seit 1912/13 ein Generationswechsel an, und Samuel Fischers Verlag lief Gefahr, den Anschluss zu verpassen. In Leipzig hatte der Verleger Kurt Wolff eine Reihe junger Autoren um sich geschart, darunter Arnold Zweig, Walter Hasenclever, Franz 20
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Zur Geschichte der Zeitschrift vgl. Wolfgang Grothe: Die Neue Rundschau des Verlages S. Fischer, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1961/1963), Sp. 809–995, Peter de Mendelssohn: Die Geschichte der »Neuen Rundschau«. Aus Anlaß des achtzigjährigen Bestehens der Zeitschrift, in: Neue Rundschau 80 (1969), S. 597–615, sowie das im Jahr 2002 im Rahmen des bmbf-Projektes »Literaturkritik – Geschichte, Theorie, Praxis« an der Universität Marburg veröffentlichte Online-Porträt: Oliver Pfohlmann (in Zusammenarbeit mit Dörte Hartung): Freie Bühne – Neue Rundschau (1890 bis heute), in: http://cgi-host.uni-marburg.de/ \~omanz/forschung/modul.php (Pfad: Literarische Moderne/Medium/Freie Bühne – Neue Rundschau; Zugriff am 20. 2. 2014). Nachweisen lässt sich Musils Rezeption der Neuen Rundschau ab 1905 (vgl. seine Exzerpte aus Ellen Keys 1905 erschienenem Essay Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst, KA/ Transkriptionen/Heft 11/38 f.), doch dürfte er sie schon vorher gelesen haben. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/18 (Der deutsche Mensch als Symptom). KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit. Als Samuel Fischer 1934 starb, galt er Musil als »der bedeutendste Verleger auf dem Gebiet der Schönen Literatur [. . .], den Deutschland in den letzten hundert Jahren besessen hat!« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Hedwig Fischer, 18. 10. 1934)
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Kafka, Max Brod und Hugo Ball. Neue literarische Zeitschriften wie Der Sturm (seit 1910) oder Die Aktion (seit 1911), beide in Berlin erscheinend, wurden zu Foren junger Avantgardekünstler, die sich von jenen Autoren und Periodika, die sich um 1900 etabliert hatten, polemisch abgrenzten. Albert Ehrenstein beispielsweise spielte 1913 die jungen Literaturblätter gegen die »fettig materialisierten Rundschauen«, den »Organen unserer Neunzigjährigen«, aus.24 Als Konkurrenz für die Neue Rundschau traten 1913 etwa Die Weißen Blätter auf den Plan: »Wie sich die ältere Generation in der ›Neuen Rundschau‹ ausspricht, so sollen die ›Weißen Blätter‹ das Organ der jüngeren Generation sein«, tönte René Schickele in einer Ankündigung – eine deutliche Kampfansage.25 Und Zeichen dafür, dass die Neue Rundschau in Gefahr war, zum Verlautbarungsorgan einer über kurz oder lang obsolet werdenden Autorengeneration zu werden. Was es mit der neuen Generation auf sich hatte, welche Richtung sie einschlagen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden. Sie hatte noch nicht mal einen Namen: Der der bildenden Kunst entstammende Begriff ›Expressionismus‹ wurde zwar schon für literarische Werke verwendet (erstmals 1911 von Kurt Hiller), hatte sich aber noch längst nicht durchgesetzt.26 Üblicher waren Bezeichnungen wie ›die jüngste Generation‹, ›Neopathetiker‹, ›Neutöner‹, ›Jüngst-Berliner‹ oder ›jüngste Dichtung‹, wie sie auch von Fischer und Musil verwendet wurden. Von dieser ›jüngsten Generation‹ fühlte sich der Verleger unter Zugzwang gesetzt, ohne sich ihr allerdings wirklich nahe zu fühlen. In dieser Situation war es nun Musil gewesen, der bei seinem Bewerbungsgespräch im Januar 1914 den Verleger mit dem Vorschlag konfrontierte, ihn einzustellen, um als Lektor, Literaturscout und Kritiker die besten Vertreter der »jüngsten Generation« dem S. Fischer Verlag zuzuführen.27 Darüber hinaus wollte Musil ein neues Forum für die junge Literatur in Form eines Beiblattes zur Neuen Rundschau entwickeln, das auch einzeln verkauft werden sollte. Beides belegt ein Brief von Fischers Cheflektor Moritz Heimann vom 10. Januar 1914 an den Verleger.28 Offenkundig kam für Fischer dieser Vorschlag wie gerufen. In dem zwischen Musil und dem 24 25
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Zit. nach: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Hg. v. Thomas Anz u. Michael Stark. Stuttgart 1982, S. 504. Zit. nach: Paul Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910–1921. Stuttgart 1964, S. 48. Vgl. Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart 2002, S. 2. Die Bezeichnung »Expressionismus« setzte sich erst während der Kriegsjahre durch, Musil verwendete sie erst seit der Nachkriegszeit, vgl. KA/Transkriptionen/Heft 10/51. Schon auf der Hinfahrt nach Berlin am 3. 1. 1914 hatte er sich in Leipzig mit dem Verleger Kurt Wolff getroffen und sich von ihm womöglich mit Namen und Adressen versorgen lassen (sofern er sie nicht von seinem Mentor Franz Blei hatte); vgl. KA/Transkriptionen/Heft 7/34. Dokumentiert in: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 69–71.
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S. Fischer Verlag geschlossenen Vertrag heißt es, dem neuen Mitarbeiter obliege neben der Verantwortung für die die Literaturkritik der Zeitschrift vor allem die Heranziehung der jungen Schriftsteller-Generation, die Einholung und redaktionelle Sichtung der Produktion zur Veröffentlichung in der Neuen Rundschau, eventl. auch zur Buchausgabe für den Verlag. [. . .] Es obliegt ihm ferner die kritische Begründung und Führung dieser Gruppe in der Rundschau durch Essais und Aufsätze.29
Mit Musil sollte Fischers Zeitschrift, die 1914 ihr 25-jähriges Jubiläum feiern würde, also auch weiterhin an der ›Spitze des kulturellen Fortschritts‹ marschieren, wenn nicht gar wieder seine Richtung bestimmen. Praktisch war geplant, dass der Verleger Musil ungefähr drei bis vier Bogen der Rundschau ein paarmal im Jahr zur Verfügung stellt, damit ich [Musil] darinnen neue (d. h. dem Rundschaupublikum noch unbekannte), wertvolle Schriftsteller vor diese zahlreiche Öffentlichkeit bringe. Ähnlich also, als ob eine neue Zeitschrift erschiene; mit dem Unterschied, daß sie einen gesicherten Leserkreis vorfindet.30
Auch wenn man sich den Solitär Musil als Lektor, Förderer, gar als »Führer« und Kopf ausgerechnet der Expressionisten nur schwer vorstellen kann – eben das wollte er bei der Neuen Rundschau werden, auf eigene Initiative. Bis dahin war er erst durch zwei schmale Bücher und eine Handvoll Essays als Vertreter der Avantgarde hervorgetreten. Nun wollte er seine künstlerische Krise nach den Vereinigungen, das in der Wiener Zeit seit 1911 vorherrschende Gefühl von Isolation und Stagnation überwinden, indem er als Multiplikator, als gatekeeper, eine Schlüsselstelle im Literaturbetrieb besetzte und als Redakteur und Kritiker sein ästhetisches Programm beim wichtigsten Literaturorgan des bedeutendsten Verlages der Zeit ins Literatursystem einspeiste. In der Metropole Berlin, am Quellpunkt der Entwicklung, hoffte er, den Kurs der literarischen »Vorhut« in seinem Sinne beeinflussen zu können. Glaubte Musil wirklich, dass sich die »Jüngsten« von ihm lenken lassen würden? Offenbar ja, und dazu hatte er auch einige Berechtigung. Denn für die Frühexpressionisten war der damals 33-jährige Dichter ein bewundertes Vorbild, offenbar sogar so etwas wie eine Autorität. Mit Sicherheit war er für sie einer der Ihren.31 1909 wurde etwa Musils Erstlingsroman Die 29 30 31
KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Dokumente/Vertrag mit S. Fischer Verlag, Neue Rundschau. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Franz Kafka, 22. 2. 1914. Dafür, dass es vor 1914 auch bei Robert Musil ein Gemeinschafts- oder Wir-Gefühl die literarische Avantgarde betreffend gab, spricht auch folgende Formulierung aus einem Brief anlässlich der Vereinigungen: »[. . .] ich schneide bei den Mitgliedern unserer unsichtbaren Kirche nicht zu meiner Zufriedenheit ab.« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Franz Blei, Juli 1911)
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Verwirrungen des Zöglings Törleß im »Neuen Club« Kurt Hillers in Berlin, einer der Geburtsstätten des Expressionismus, hoch gehandelt.32 1911 waren es mit Ernst Blass, Alfred Wolfenstein und Kurt Pinthus gerade Vertreter des Frühexpressionismus, die Musils im Übrigen von der Kritik abgelehnten Novellenband Vereinigungen enthusiastisch begrüßten. Ernst Blass hatte Musil aus Anlass seines Debütromans schon im Prager Tageblatt vom 7. April 1907 als »Entdecker von Neu-Seelland« und »Erweiterer des Bewußtseinsgebiets« gerühmt und veröffentlichte 1914 Musils Kurzprosastück Römischer Sommer (später Das Fliegenpapier betitelt) in der von ihm herausgegebenen Monatsschrift Die Argonauten. Ludwig Rubiner zitierte in seinem berühmten Manifest Der Dichter greift in die Politik, 1912 in Die Aktion erschienen, voller Bewunderung einen Satz aus dem »unermesslich liebenswerten Novellenbuch Vereinigungen«.33 Und der Herausgeber der Aktion, Franz Pfemfert, druckte nicht nur Alfred Kerrs hymnische Rezension des Törleß, die ursprünglich 1906 im Berliner Tag erschienen war, 1911 nochmal ab,34 sondern ebenso 1913 Musils Essay Politik in Österreich.35 Ihm war Musils neue Redakteurstätigkeit bei der Neuen Rundschau wichtig genug, dass er auf sie in der Aktion aufmerksam machte.36 Auch während des Krieges veröffentlichte Pfemfert in der Aktion in subversiver Absicht gleich zwei Hinweise auf Musils Törleß als gegenwärtig nützliche Lektüre.37 Und Kurt Pinthus schließlich, Lektor des Kurt Wolff Verlags, rechnete Musil noch 1916 in seinem Überblick Zur jüngsten Dichtung, erschienen in der Anthologie Vom jüngsten Tag, zu ihren herausragenden Vertretern.38 Davon, dass Musil für diese Aufgabe der geeignete Mann war, waren jedoch nicht alle überzeugt. Skeptisch zeigte sich Fischers ›rechte Hand‹ Moritz Heimann in dem erwähnten Brief an den Verleger vom 10. Januar 1914. Für Heimann war Musil zwar »ohne Zweifel ein Mann von ungewöhnlichen 32
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Namentlich von den Club-Mitgliedern Erich Unger und Erwin Loewenson (der auch Vorlesungen von Musils Doktorvater Carl Stumpf besuchte), vgl. Richard Sheppard (Hg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914. Bd. 1. Hildesheim 1980, S. 161 u. 312. Die Aktion 2 (1912), H. 21, Sp. 651 f. Der zitierte Satz lautet: »Es kommt ja nur darauf an, dass man wie das Geschehen ist und nicht wie die Person, die handelt.« (KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Vereinigungen/Die Versuchung der stillen Veronika/120) Die Aktion 1 (1911), H. 39, Sp. 1229–1233. Die Aktion 3 (1913), H. 30, Sp. 711–715. Vgl. Die Aktion 4 (1914), H. 23, Sp. 512: »Robert Musil beginnt in dieser Nummer [dem Juniheft; O. P.] mit seinen kritischen Literaturberichten.« Vgl. Die Aktion 4 (1914), H. 48/49, Sp. 917; Die Aktion 5 (1915), H. 39/40, Sp. 503. Vgl. Vom jüngsten Tag. Ein Almanach neuer Dichtung. Zweite unveränderte Auflage. Leipzig 1917, S. 240. Die genannten Reverenzen frühexpressionistischer Autoren machen deutlich, dass die im Exil formulierte Selbstanzeige Musils, er habe 1910 mit den Vereinigungen »vielleicht durch Irrtum, den lit. Expressionismus in Deutschland ein[geleitet]«, durchaus einige Berechtigung hatte. Dass es sich aber bei dem Nachsatz »mit dem M.[usil] aber weiterhin nichts zu schaffen haben wollte« (beide KA/Transkriptionen/Mappe III/3/1) um eine Verdrängung oder Verleugnung handelt, sollte der vorliegende Aufsatz deutlich machen.
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Eigenschaften«, ob er aber auch über die für seine Aufgaben nötigen sozialen Kompetenzen verfügte, bezweifelte Heimann: Sein Talent, das unnachgiebig und diamanthart ist, ist doch auch zähe und entbehrt der eigentlichen Produktivität, worunter ich nicht die Menge des Geschaffenen verstehe, sondern eine eigentümliche, schwer zu definierende Spannung. Ganz im Einklang damit ist es, daß seine Natur und sein Geist um sich selber kreisen, in allen Instinkten exklusiv sind und des Hochmuts sich nur aus Höflichkeit entschlagen. [. . .] Diese fehlerhafte Anlage würde ich in unserm Zusammenhang nicht zu erwähnen haben, wenn sie nur Musils Schriftstellerei anginge; aber sie geht viel mehr die ihm zugedachte Tätigkeit des Organisierens an, und insbesondere die Fähigkeit, junge Leute (andere Literaten, andere Herzen und Hirne!) zu betreuen.39
Doch eine einzige Aussprache zwischen Heimann und Musil genügte, so Heimann in dem Brief weiter, seine Bedenken auszuräumen und ihn davon zu überzeugen, dass sich der neue Kollege seiner Aufgabe und Verantwortung wohlbewusst war. Wie überzeugend muss dieser ›Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften‹ gewesen sein, dass er Heimann, der die Entscheidung seines Chefs offensichtlich für falsch gehalten hatte und der auch von Musils Fähigkeiten als Kritiker wenig überzeugt war,40 in dieser Unterredung für sich gewinnen konnte!? Was Fischers Entscheidung für Musil angeht: Für den Verleger dürfte er trotz der Zweifel seines Lektors Heimann die Idealbesetzung gewesen sein. Denn war Musil für die Frühexpressionisten ein Vorbild, so konnte er als Österreicher und laut Franz Blei legitimer Erbe des jungen Wien41 zugleich die Kontinuität zu Stammautoren Fischers wie Schnitzler, Rilke oder Hofmannsthal wahren.42 Auch sein Alter sprach für Musil, stand der 33-Jährige doch zwischen der Generation der Fischers (55 Jahre), Schnitzlers (52) oder Heimanns (46) auf der einen und der der um 1890 geborenen ›Jüngsten‹.43 Die Musil zugedachte vermittelnde Rolle entsprach freilich auch dem ohnehin nur gedämpften Interesse Fischers am Frühexpressionismus, das nur »passiv zurückhaltender, abwartender und sehr zweiflerischer Natur«44 war. Die offizielle Linie war freilich eine andere; geradezu vollmundig bekannte 39 40
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Beide zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 69–71. »Alle seine [Musils] Äußerungen in der Rundschau litten, [. . .] daß sie die Objekte bis zur Unwahrhaftigkeit einstellten [. . .]«; zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 71. Vgl. Bleis Törleß-Rezension in: Die Opale (1907), H. 2, S. 213. Für Barbara Hoffmeisters These, Fischer habe Musil auch deshalb eingestellt, um ihn langfristig als seinen Nachfolger aufzubauen, indem er dem Dichter eine »Art Juniorverlegerschaft« angeboten habe, gibt es allerdings keinen Beleg. Vgl. Barbara Hoffmeister: S. Fischer, der Verleger. 1859–1934. Eine Lebensbeschreibung. Frankfurt a. M. 2009, S. 355. Richtig ist allerdings, dass die Nachfolgefrage für Fischer, zumal nach dem überraschenden Tod seines Sohnes Gerhart am 9. 9. 1913, der den Verleger in eine anhaltende Depression stürzte, ein schwelendes Problem war. Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 471. Grothe: Die Neue Rundschau (s. Anm. 20), Sp. 937.
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sich der Verleger im Juli 1914 zur ›jüngsten Generation‹, als Franz Pfemfert ihn in einem Interview in der Aktion nach seinem Verhältnis zu ihr fragte: Ich habe an keinem Punkt der Entwicklung Halt gemacht, warum sollte ich der jüngsten Generation gegenüber die Entwicklung für abgeschlossen halten? Aus dem Kreis Ihrer [Pfemferts; O. P.] Autoren sind im Laufe des letzten Jahres bei mir drei Bücher erschienen; auch die NEUE RUNDSCHAU hat sich Ihrem Mitarbeiterkreis nie versagt.45
Dass sich Musil über die halbherzige Haltung des Verlegers keine Illusionen machte, belegt seine Einladung zur Mitarbeit an einen dieser ›Jüngsten‹, Franz Kafka, vom 22. Februar 1914. Die an ihn gestellten Erwartungen und seine eigenen Absichten formuliert Musil darin selbstbewusst, aber auch erstaunlich offen, wenn man bedenkt, dass er den Adressaten bis dahin persönlich gar nicht kannte: Dafür, daß nichts von Begönnern dem Publikum gegenüber darin [in der Auswahl von Avantgarde-Texten für die Neue Rundschau; O. P.] liegt, werde ich sorgen. Der Standpunkt, den ich offiziell einnehmen muß, ist ungefähr: Die Rundschau hat bei der Wahl ihrer Beiträge sehr viel Rücksichten zu nehmen. Sie hat ihre Tradition, von der sie glaubt, daß sie ihr Experimente verbietet. Nun wuchs aber sehr viel Kräftiges eben deshalb neben ihr. Dem will sie sich zur Verfügung stellen. Bei der etwas unübersichtlichen Vielfalt der Erscheinungen kann sie sich nicht identifizieren, indem sie einfach in sich aufnimmt (das gäbe auch in der Tat ein schwer erträgliches Gemisch); sie läßt daher jeden einzelnen und jede Gruppe für sich selbst sprechen und wirken. Typus: ein besuchter Kunstsalon mit fester Tendenz macht in einigen Zimmern eine juryfreie Ausstellung. / Ich fürchte, daß Ihr Geschmack zu exklusiv dafür ist, aber ich möchte Sie bitten, trotzdem mitzutun, denn rein praktisch ist eine große Publizität damit verbunden, und wenn ich bloß einige bedeutende Mitarbeiter habe, kann ich der Sache etwas später eine ideell wirklich bedeutsame Wendung geben und den Charakter des Provisorischen ganz abstreifen.
Und weiter schreibt Musil: »für später plane ich selbst schon einiges, für den Anfang muß ich den angedeuteten Charakter wahren oder nur leicht verändern.«46
4. Musil führt die »Ultramargarine-Jugend« Musil begann seine Tätigkeit bei der Neuen Rundschau am 1. Februar 1914. Die Arbeitsbedingungen waren exzellent: Im Verlagsgebäude in der Bülowstraße 90 im Berliner Westen musste er nur Dienstag und Freitag von 15 bis 45 46
Die Aktion 4 (1914), H. 28, Sp. 606. Das Interview wurde im Rahmen einer Aktion-Sondernummer veröffentlicht, in der Fischers Lebensleistung gewürdigt wurde. Beide KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Franz Kafka, 22. 2. 1914.
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16 Uhr Sprechstunden halten.47 Alle zwei bis drei Monate hatte er eine Folge seiner unter dem Titel Literarische Chronik erscheinenden Sammelrezensionen abzuliefern (die erste erschien in der Juni-Ausgabe, eine zweite folgte im August). So gesehen, hätte er also durchaus seinen neuen Job als gemütliche Redakteursstelle ansehen können, um vor allem seine eigenen Werke voranzutreiben. Stattdessen stürzte er sich fast schon mit Feuereifer in seine neue Aufgabe und entfaltete, soweit es sich rekonstruieren lässt, bis er sich Ende Juli in den Sommerurlaub auf Sylt verabschiedete, einiges an Aktivität. Vor allem knüpfte er sogleich Kontakte zu jungen Autoren und zeigte in der Berliner Literaturszene Präsenz – beispielsweise durch den Besuch eines von Franz Pfemfert veranstalteten Aktionsballes im Februar.48 Am 14. Februar bat er Egmont Seyerlen alias Egmont Farussi um einen Beitrag: Seyerlen war Autor von Die schmerzliche Scham, einem 1913 bei S. Fischer erschienenen Skandalroman um schwüle Pubertätserlebnisse.49 Über Max Brod kontaktierte er ebenfalls noch im Februar, wie erwähnt, Franz Kafka, von dem bis dahin erst bei Ernst Rowohlt die Betrachtung und bei Kurt Wolff das Heizer-Fragment erschienen waren. Musil war von dem Prager Newcomer so überzeugt, dass er ihm gleich eine Art Carte blanche für die Neue Rundschau ausstellte.50 Kafka hatte Die Verwandlung anzubieten; doch aus diesem Coup wurde nichts: Da nur ein stark gekürzter Abdruck möglich gewesen wäre, zog Kafka den Text im April wieder zurück.51 Für den neuen Redakteur mit der Aufgabe, herausragende Produktionen ›jüngster‹ Literatur einzuholen, war dieser Vorfall ohne Zweifel eine Niederlage. Man darf vermuten, dass dabei ästhetische Vorbehalte von Fischer ebenso eine Rolle spielten wie 47 48
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Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 472. Robert und Martha Musil wohnten ab Mitte 1914 in der Mommsenstraße 64, Berlin-Charlottenburg. In einem Dankesbrief an den zu dieser Zeit bereits eingerückten Musil erinnert sich Alfred Wolfenstein: »Dann war in der Zeit meines noch nicht angenom[m]enen Buches [Die gottlosen Jahre; O. P.] besonders schön der Aktionsball [der Zeitschrift Die Aktion; O. P.], bei dem Sie [Musil; O. P.] in einer besonders freundlichen Weise mit mir herumgingen.« (KA/Lesetexte/ Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Alfred Wolfenstein an Robert Musil, 26. 9. 1914) Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Egmont Seyerlen, 14. 2. 1914. »Betrachten Sie bitte diese ›Zeitschrift‹ als Ihr persönliches Organ für alles, was Sie in der Kunst oder damit zusammenhängenden Gebieten durchgesetzt wissen wollen. Vor allem sich selbst. Beschränkung einzig in der Länge der Beiträge, die 20 Rundschauseiten nicht wesentlich übersteigen dürfen, denn Fortsetzungen sind unmöglich. Dichtung wie Aufsatz.« (KA/Lesetexte/ Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Franz Kafka, 22. 2. 1914) Kafka, der zu dieser Zeit verzweifelt nach Möglichkeiten suchte, seinen Prager Posten aufgeben und sich in Berlin mit journalistischen Arbeiten durchschlagen zu können, erschien Musils Angebot zunächst als eine Schicksalsfügung. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Franz Kafka an Robert Musil, März/April 1914, sowie zu diesem Vorgang allgemein Hartmut Binder: Kafka und »Die Neue Rundschau«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 94–111; Reiner Stach: Kafka – Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt a. M. 2002, S. 456–469.
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im Fall von Leonhard Franks Novelle Die Ursache, die Fischer wegen einer Hinrichtungsszene ablehnte. Am Ende erschien Die Ursache ebenso wie Die Verwandlung in Die Weißen Blätter, Beleg dafür, wie schwer sich der S. Fischer Verlag mit den Produktionen der Avantgarde tat.52 Überhaupt sind die Beiträge der ›Jüngsten‹ in den von Musil mitbetreuten Rundschau-Ausgaben dieser Monate überschaubar geblieben, es finden sich lediglich Texte von Kurt Hiller, Robert Walser und Alfred Wolfenstein.53 Letzterer war so etwas wie Musils Entdeckung: Wolfensteins Gedichtband Die gottlosen Jahre hatte Musil bei einem denkwürdigen Leseabend im Hause Fischer durchgesetzt; am 9. März trugen er und Rainer Maria Rilke gemeinsam Wolfensteins Gedichte vor und überzeugten das skeptische Publikum,54 darunter Moritz Heimann, der dem Verleger im Anschluss schrieb: Ich muß bekennen, daß ich beim ersten Lesen stumpfer war, als mit meiner Pflicht vereinbar ist, und ich bin Musil dankbar, daß er mir die Revision aufgezwungen hat. Es ist in diesen Gedichten wirklich ein Seelenklang, etwas Tiefes, Ergreifendes, vor dem vorbeigehört zu haben ich mir böse anrechne.55
Außerdem wurde das geplante »Beiblatt« zur Neuen Rundschau realisiert. Im April besorgte Musil die erste Ausgabe, es sollte aufgrund des Kriegsausbruchs die einzige bleiben. Dass sich Musil bei der Titelwahl nicht durchsetzen konnte, zeigt ebenso wie die Textauswahl, wie stark die konservativen Kräfte im Verlag waren: S. Fischers Mitteilungen über neuere Literatur war aus Sicht der Jüngsten, die aktivistische Substantive wie Sturm oder Aktion favorisierten, natürlich ein reichlich verzopfter Name.56 Musils Einleitung, die seltsamerweise anonym erschien, ist ein Plädoyer für die Kraft und Lebendigkeit der Gegenwartsliteratur: 52 53
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Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 1599, sowie KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegsund Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Robert Musil, 22. 6. 1915. Darüber hinaus waren in den betreffenden Rundschau-Ausgaben – von Musils Literarischen Chroniken abgesehen – noch einige Rezensionen frühexpressionistischen Publikationen gewidmet, etwa Franz Werfels Gedichtband Wir sind und Kurt Hillers Die Weisheit der Langenweile. Im Übrigen wurde die Neue Rundschau weiterhin dominiert von arrivierten Autoren wie Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann und Johannes B. Jensen, ging es in den literarischen Essays, neben den politischen, wirtschaftlichen und historischen Aufsätzen, um Themen und Autoren, an denen vor allem ihre Aktualitätsferne auffällt, wie z. B. Fichtes schriftstellerische Persönlichkeit, die in mittelalterlichen Legenden häufig dargestellte Nähe von Tieren zu Heiligen, Jean Paul und, natürlich, Goethe. Monty Jacobs porträtierte den Zeitschriftengründer Otto Brahm, Alfred Kerr steuerte sein Tagebuch des Kritikers bei. Bemerkenswert ist auch ein umfangreicher Aufsatz Maurice Maeterlincks über Die Pferde von Elberfeld (darunter der berühmte »kluge Hans«), für Rainer Maria Rilke eines der stärksten Lektüre-Erlebnisse jenes Sommers 1914, wie er am 13. 6. 1914 Marie von Thurn und Taxis schreibt (Rainer Maria Rilke, Marie v. Thurn und Taxis: Briefwechsel. Bd. 1. Hg. v. Ernst Zinn. Zürich 1951, S. 383 f.). Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 477 f. Zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 72. Der aber Moritz Heimann, Musils von vielen Verlagsmitarbeitern geteilten Einwänden zum Trotz, am besten gefiel; vgl. seinen Brief an Samuel Fischer vom 5. 4. 1914, dokumentiert in Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 71 f.
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Man hört nicht selten von Leuten, deren Bildung über jeden Zweifel ist, Aussprüche von vornehmer oder vornehmtuerischer Abwehr gegen die zeitgenössische Literatur. [. . .] / Man versteht eine Kunst nicht, wenn man sie nicht als eine Kraft versteht [. . .]. Als Kraft aber ist sie immer Gegenwart. Und darum muß man mit Freude sehen, wenn in die Beruhigung eines literarischen Zustands immer wieder neue Unruhe tritt; es ist die alte Unruhe, ist das Leben. [. . .] Seit der Bewegung der achtziger Jahre ist ein Menschenalter vergangen; noch blüht und fruchtet die Kraft von damals ungeschwächt; um so schwerer hat es die junge Generation. Aber sie ist da [. . .]. / In Zeiten literarischer Unruhe war immer die Lyrik das empfindlichste Instrument, Neuwetter anzusagen. Lyriker waren auch vor dreißig Jahren die ersten Sturmschwalben, die ersten Sieger und die ersten Besiegten. Und aus der Stimmung, die sie mitschufen, kamen das gültige neue Drama und der Roman. Eine solche Stimmung scheint sich vorzubereiten.57
In der Debütausgabe waren denn auch die Lyriker Wolfenstein und Herrmann-Neiße vertreten, daneben der Expressionist Georg Kaiser – aber eben auch Fischer-Stammautoren wie Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann und Emil Ludwig. Der offenbar notorisch skeptische Moritz Heimann kommentierte am 10. April 1914 den ersten Entwurf von Musils Einleitung mit den Worten, sie werde »dem Versuch mit der Ultramargarine-Jugend [!] ein Gewicht hinzufügen, das er sehr nötig hat«,58 forderte aber einen breiteren, allgemeineren Ansatz. Heimanns Spott hin oder her: Musil war in jenen Monaten alles andere als ein Fremdkörper in der frühexpressionistischen Szene. Er war nachweislich mit Persönlichkeiten wie Peter Baum59 oder Carl Einstein60 bekannt, die in dieser Szene gut vernetzt waren, und bewies mit der Auswahl der von ihm in seinen Literarischen Chroniken rezensierten Autoren seine Kennerschaft: neben Kafka und Wolfenstein61 wären etwa Robert Walser, Reinhard Johannes Sorge, Max Brod, Leonhard Frank und Franz Jung zu nennen. Der junge Oskar Maurus Fontana, der Musil im April 1914 in Berlin erlebte, erinnerte sich später, wie sehr scheu, in sich zurückgezogen, aber auch voll vibrierender Lust am Werdenden und Sich-Entfaltenden Musil war. [. . .] was ich damals gleich bei ihm spürte, war das impulsiv Instinktive, das elementar Witternde. Es war etwas von einem edlen Panther an ihm, der ruhig saß und mit von weither kommenden, unentwirrbaren
57 58 59 60 61
KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1908–1914/Beiträge in S. Fischers Mitteilungen/Zur Einführung. Zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 72. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Peter Baum an Robert Musil, 13. 4. 1914. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 17/10. Die Unbekümmertheit, mit der Musil den von ihm geförderten Autor sowohl mit einem Werbetext bewarb (im Beiblatt) als auch rezensierte (in der Literarischen Chronik), ist aus heutiger Sicht erstaunlich. Über Konflikte zwischen der Rolle eines Lektors und der eines Kritikers scheint sich Musil keine Gedanken gemacht zu haben. Allerdings war es in der Neuen Rundschau durchaus üblich – und wurde im Literaturbetrieb auch spöttisch moniert –, dass sich in der Zeitschrift S. Fischer-Autoren gegenseitig rezensierten.
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Augen schaute. Aber plötzlich sprang der Panther los und hielt das fest, was ihn gereizt hatte oder was er haben wollte.62
Max Herrmann-Neiße, der Musil am 26. Juni 1914 im Fischer Verlag besuchte, notierte in seinem Tagebuch: »Um 3 wieder zu Fischer, Musil zu sprechen. Sehr sympathischer Mensch, Österreicher, etwa wie ein freierer, offnerer, gütigerer, reinerer, froherer Franz Jung.«63 Ja, sogar die Gunst des Prinzen Jussuf von Theben vermochte Musil (gemeinsam mit Franz Blei) zu gewinnen. Seinem ›Dalai Lhama van Wien on Omgägend‹ berichtete der Prinz: »Dr. Musil ist reizend zu mir. Kennen Sie ihn. Ein feiner Dr. Blei.« – so Else LaskerSchüler noch am 6. Juli 1914 an Karl Kraus.64 Aufschlussreich für jene ästhetischen Ziele, mit denen Musil bei Samuel Fischer anheuerte, sind natürlich vor allem seine eigenen Rundschau-Beiträge aus den Jahren 1913/14. Sie lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Da sind erstens die überwiegend ablehnenden Besprechungen von, im weitesten Sinn, essayistisch-lebensphilosophischen Werken wie Walther Rathenaus Zur Mechanik des Geistes65 oder Margarete Susmans Vom Sinn der Liebe. Wiederkehrendes Thema dieser Beiträge ist das für Musil in der Moderne problematisch gewordene Verhältnis von Verstand und Gefühl/Seele, das sich auf gesellschaftlicher Ebene im Verhältnis von (Natur-)Wissenschaft und Literatur widerspiegelt. »Der künstlerisch denkende Mensch ist heute bedroht durch den nicht künstlerisch denkenden Menschen [d. h. den Wissenschaftler; O. P.] und durch den nicht denkenden Künstler«.66 Zentraler Gedanke von 62 63
64 65 66
Zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 77. Max Herrmann-Neiße: Briefe I. 1906–1928. Hg. v. Klaus Völker u. Michael Prinz. Berlin 2012, S. 188. Die jüngst veröffentlichten Briefe Herrmann-Neißes bieten eine ausgesprochen plastische und detailreiche Erzählung seiner Bemühungen, nicht zuletzt dank der Schützenhilfe Alfred Kerrs, im Berliner Literaturbetrieb Fuß zu fassen und Autor des S. Fischer Verlages zu werden. Einen Tag zuvor, am 25. 6., hatte Herrmann-Neiße im Verlagsgebäude erstmals mit Oskar Bie gesprochen: »Der Bie war endlich da und sehr freundlich. Er sagte mir, daß er jetzt die Redaktion mit dem Musil zusammen mache, nun hätte der noch verschiedene Einwände gegen meine Gedichte, und da dem Bie was dran läge, den Musil ganz von mir zu überzeugen, weil ihm mein Buch sehr gefiele, so wäre es ihm lieb, wenn Musil und ich uns mal aussprächen, er wollte das vermitteln und ich sollte zu dem Zweck Freitag nachmittag um 3 Uhr mal in den Verlag kommen. Mir ist es erst recht lieb, Musil kennen zu lernen.« (S. 182) Am 26. 6. spricht Herrmann-Neiße zunächst mit dem Verleger selbst; Fischer will den verunsicherten Jungautor, der sich mit Heiratsplänen trägt, davon überzeugen, dass er bei seinem Talent ganz von seinen literarischen und literaturkritischen Arbeiten leben könnte, anstatt eine nicht-literarische Stellung anzunehmen (S. 187). Am Nachmittag dieses Tages folgt dann das Gespräch mit Musil, zu dem Herrmann-Neiße noch notiert: »[Musil] [s]agt, daß müßte von [Oskar] Bie ein Irrtum sein, er hätte meine Gedichte noch garnicht gelesen, will aber gern darüber schreiben. Und mir auch Bücher zur Besprechung geben, lobt sehr meine ›Groteskes Quartett‹-Glosse. Dienstag will er mir eventuell bald welche mitgeben, wenn ich Mittwoch nach Neisse fahre.« (S. 188) Else Lasker-Schüler: Briefe 1914–1924. Hg. v. Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt a. M. 2004 (= Werke und Briefe, Bd. 7), S. 55. Zu Rathenaus Reaktion auf Musils Verriss vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 481–489. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Essaybücher.
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Musils essayistischem Werk, zumal in den Jahren vor 1914, ist der Versuch, Kunst und Literatur neu zu legitimieren bzw. funktionalisieren, angesichts der Erfolge der empirischen Wissenschaften (v. a. der Psychologie) einerseits und eines sich von diesem Fortschritt demonstrativ abkoppelnden, vorhandene Publikumsbedürfnisse bedienenden, kommerzialisierten Literatur- und Kulturbetriebs andererseits. Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen – abgesehen von Ausnahmefällen – eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflösen muß, um abzumagern.67
Gerade hier nun liegt, so meine These, der Hauptgrund dafür, dass sich Musil mit den Frühexpressionisten verbunden fühlte – und zugleich, warum er nach 1918 gegen die expressionistische Literatur so heftig polemisierte: Letztere war für Musil ein Verrat an den gemeinsamen ästhetischen Zielen der Vorkriegszeit. Denn die ›Jüngste Generation‹ vor 1914 zeichnete sich für Musil gerade dadurch aus, dass sie – wie er selbst – versuchte, Intelligenz und Geist in die Dichtung zu bringen und den Leser dauerhaft zu verändern. Sie wollte mehr als nur eine »leere Selbstbestätigung der Autoren«68 sein. 1919/ 1920 konstatierte Musil enttäuscht: Bevor ich einrückte, gab es eine explosive, intellektuelle Vorstellungslyrik, [. . .] herausgesprengte philosophische Gedankenpartien mit mitgerissenen Fleischfetzen von Gefühl behangen. / Als ich zurückkehrte gab es den Expressionismus.69
Betrachtet man die zweite Gruppe von Musils Rundschau-Beiträgen aus dem Jahr 1914, seine unter dem Titel Literarische Chronik erschienenen Sammelbesprechungen von Publikationen frühexpressionistischer Autoren, fällt auf, dass sie, von einzelnen, behutsam formulierten Einwänden abgesehen, durchweg von Zustimmung, mitunter gar von Begeisterung zeugen.70 Sie belegen nicht nur seine Verbundenheit mit dieser Generation, sondern auch sein Bemühen, sich den jungen Autoren als Förderer und Impulsgeber zu empfehlen – und zugleich deren Werke einem breiteren Publikum zu vermitteln. Der Unterschied zur Dauerpolemik in seinen Theaterbesprechungen aus den 1920er Jahren könnte größer kaum sein. 1922 schrieb Musil: 67 68 69
70
KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1908–1914/Der mathematische Mensch. KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/15. KA/Transkriptionen/Heft 10/51. Hier dürften auch die tieferen Gründe dafür zu suchen sein, warum Musil nach Kriegsende Fischers Angebot, wieder als Redakteur zur Neuen Rundschau zurückzukehren, ausschlug – und nicht in dem Streit um ein »paar tausend Inflationsmark« (KA/Transkriptionen/Heft 30/26), die Musil Fischer aufgrund der nach Kriegsausbruch zunächst weiterlaufenden Bezüge schuldete. Zum Literaturkritiker Musil vgl. die instruktive Studie von Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12). Zur Zeit als Redakteur bei der Neuen Rundschau vgl. S. 31–38.
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Der Expressionismus wurde dementsprechend auch nur in der Form bereichernd, während er im geistigen Wesen banal blieb und nicht über die Evokation ohnedies schon bekannter Ideen hinauskam. Was er mit Vorliebe tut, ist eine Art ›Ideen anbellen‹, denn in der Tat ist die – mit zwei Ausrufzeichen statt einem Fragezeichen versehene – Anrufung großer Menschheitsideen, wie Leiden, Liebe, Ewigkeit, Güte, Gier, Dirne, Blut, Chaos usw., nicht wertvoller als die lyrische Tätigkeit eines Hundes, der den Mond anbellt, wobei ihm das Gefühl in der Runde antwortet.71
Nicht Musils ästhetische Werte hatten sich nach 1918 geändert, geändert hatte sich der populär gewordene Expressionismus, der sich nun durch eine »sentimentale Nörgelei am Verstand«72 auszeichnete. Dagegen sind die ästhetischen Werte und Eigenschaften, die Musil 1914 an den besprochenen frühexpressionistischen Werken (abgesehen von Sorges Stück Der Bettler durchweg erzählerische und lyrische Texte) lobte, intellektuelle Schärfe, Nüchternheit, Askese, Disziplin, Konstruktivität und der Aufbau neuer ethischer Werte. So rühmt Musil an Carl Sternheims Novelle Busekow »die außerordentliche Disziplin, die Kälte, die Geometrie, die Nüchternheit dieses Dichters: das ist trocken saubere Menschenart. Ist einer, der in hartem Holz zu sägen liebt und nicht Laubstreu für Lesekühe schneidet.«73 Auch an den Gedichtbänden Die eiserne Brücke von Paul Zech und Die gottlosen Jahre von Alfred Wolfenstein fasziniert ihn die intellektuelle Schärfe dieser Lyrik, die sich von jeder Gefühlsduselei fernhält: Man darf strenge und anstrengende Reize nicht für unkünstlerisch halten, will man sich ihr [Wolfensteins Lyrik; O. P.] nähern. Nicht zufällig sind [. . .] diese ›gottlosen Jahre‹ auch Gott-lose Verse, sofern Gott in der heutigen Lyrik das repräsentative Vorkommnis für Gefühle ist, die man nicht ausdrücken kann, eine Hypothek auf Dichterisches, ein ungedeckter Scheck; denn Wolfenstein ist einer der seltenen Dichter, die bis auf das letzte Wort in harter Münze zahlen.74
Nur scheinbar im Gegensatz zu der Favorisierung von Intellektualität steht Musils Lob für die Texte Robert Walsers, Kafkas und Max Brods. An Kafkas Texten wie auch an denen Max Brods konstatiert er zwar anerkennend den Wert von Naivität und Primitivität in der Literatur, doch handele es sich dabei um eine bewußt inszenierte, »absichtliche Naivität«.75 Den Reiz dieser Texte erklärt er mit dem Hinweis auf die Psychoanalyse und der Freud’schen Traumtheorie: So ästhetisch reizvoll wie die oftmals verblüffend naiven Traumproduktionen erscheinen ihm auch Brods Texte. Und an Robert 71 72 73 74 75
KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Symptomen-Theater I. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, 230. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik I [Neue Rundschau 06/1914]. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik I [Neue Rundschau 06/1914]. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik II [Neue Rundschau 08/1914].
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Walsers Geschichten faszinieren Musil die Ironie und (romantische) Selbstreferentialität: »Eine Wiese ist bei ihm bald ein wirklicher Gegenstand, bald jedoch nur etwas auf dem Papier. Wenn er schwärmt oder sich entrüstet, läßt er nie aus dem Bewußtsein, daß er es schreibend tut und daß seine Gefühle auf Draht stecken.« In Kafka glaubt er, einen »Spezialfall des Typus Walser« zu erblicken.76 Den Wert von Mendelssohns Roman Nacht und Tag sieht Musil »in der Sammlung von Ansätzen zu ungelebten, nie verwendeten Moralen, die alle irgend einmal als gleich möglich vor uns lagen; an denen der Mensch vorbei wächst zu seinem Ethos des Erwachsenen«,77 und somit in der Übereinstimmung mit seiner eigenen Suche nach neuen moralischen Konzeptionen.78 In Musils Besprechungen geht es durchaus auch immer wieder um die emotionalen Wirkungen dieser nüchtern-asketischen Dichtungen. Musil bezieht sich sogar zustimmend auf jene Wirkungen, die in den Folgejahren für den Expressionismus zentral werden sollten: Erschütterung und Wandlung des Rezipienten. In der Besprechung von Franz Jungs Roman Kameraden! heißt es: Was bleibt von Kunst? Wir bleiben . . . Wenige und ungenaue Einzelheiten; biographische Zufälle des Lesers; Wissen um eine große Erschütterung, die so nie wiederkehrt; alles nicht das Entscheidende. Das Eigentliche: Wir, als Geänderte, bleiben.79
5. Musil glüht schon wieder Wäre aus Musil, wäre er länger als Redakteur tätig gewesen, wirklich, wie es seine Absicht war, der Programmatiker und Impulsgeber der ›jüngsten Generation‹ geworden? Hätte er verhindern können, dass sich der Expressionismus bald schon mehr und mehr in formelhaften ›O Mensch‹-Bekenntnissen erschöpfte, in in Dichtung gekleidetes humanistisches Engagement? Den Beobachtungen Moritz Heimanns zufolge wohl eher nicht. Bereits am 5. April 1914 resümiert Fischers Lektor in einem Brief an den Verleger: Dr. Musil ist ein ausgezeichneter Schriftsteller, kein Organisator. Und es ist merkwürdig und nicht ohne boshaften Beigeschmack, zu beobachten, wie schon jetzt, kaum daß er angefangen hat, zwischen der Ultra-Jugend und ihm die Gegensätze und Unstimmigkeiten so groß sind, daß er zu den Konservativen neigt.80 76 77 78 79 80
Alle KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik II [Neue Rundschau 08/1914]. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik I [Neue Rundschau 06/1914]. Vgl. etwa KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1908–1914/Moralische Fruchtbarkeit. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Literarische Chronik I [Neue Rundschau 06/1914]. Zit. nach: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 28), S. 71.
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Allerdings ist unklar, welche Unstimmigkeiten dies gewesen sein sollen. Der einzige Beleg für sich anbahnende Gegensätze zwischen Musil und seinen Schützlingen vor Kriegsausbruch ist Franz Jungs Verärgerung über Musils Kameraden!-Besprechung Mitte Juni, also zwei Monate nach Heimanns Kommentar. Jungs Freund Herrmann-Neiße schrieb darüber am 14. Juni Leni Gebek: »Jung kommt [. . .]. Schimpft seltsamerweise auf Musils Worte über seine Kameraden und behauptet paradox, der Hiller hätte sich mehr Mühe gegeben, ihn zu verstehen.«81 Plausibler erscheint die Annahme, dass Musil die ästhetischen Widerstände seiner konservativen Vorgesetzten zunehmend frustrierten. Darüber hinaus deutet ein bekannter Kommentar des späten Musil darauf hin, dass seine Leidenschaft für die »Jugend« im Sommer bereits wieder am Verlöschen war: Mein Ausschluß und Selbstausschluß aus Deutschland erklärt sich zum Teil auch so: Ich war 1914 in einer Krise. Die Fortsetzung durch Jugend, die ich bei der Neuen Rundschau sogar fördern sollte, gefiel mir nicht. Die Vereinigungen, die Mühe und der Mißerfolg, lagen mir noch in den Gliedern. Die Schwärmer waren ein Nebel geistiger Materie, ohne dramatisches Skelett (siehe die ersten Entwürfe). Meine Aufsätze befriedigten mich nicht, die Notizen zu verschiedenen Sujets waren vielleicht nicht immer uninteressant, aber von nichts hatte ich den Eindruck, daß es wesentlich sei. / Der Krieg kam wie eine Krankheit, besser wie das begleitende Fieber, über mich.82
Mit Blick auf das eingangs erwähnte Fragment Die schreibenden Menschen könnte man vermuten, dass bei Musil ein Desillusionierungsprozess einsetzte: Denn was wäre ein erfolgreicher Impulsgeber der Avantgarde letztlich anderes gewesen, als ein Herr Soundso, der auf womöglich geniale Weise der jüngsten Dichtung den Weg ins bürgerliche Lesepublikum geebnet hätte? Und wo blieb bei all dem eigentlich sein eigenes Schreiben? Eine Antwort auf diese Fragen musste er in diesem Sommer 1914 nicht mehr finden, da wie durch ein Wunder eine dieser von ihm beschworenen seltenen ›Ausnahmsstunden‹ Wirklichkeit wurde, in der sich alle eins fühlten.
81
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Herrmann-Neiße: Briefe I (s. Anm. 63), S. 150. Karl Corino vermutet, Heimanns Äußerung könnte sich auf Walter Benjamin beziehen, der Musil offenbar vergeblich seinen Essay Metaphysik der Jugend zur Publikation in der Neuen Rundschau angeboten hatte; vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 10), S. 475 u. 1600, Anm. 30. KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte 1928–1942/I. Wien/Berlin (1927–1939)/33: Autobiographie (1937–1942), Nr. 167 (Werktitel wurden im Zitat kursiviert; O. P.).
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Dienst und Autorschaft im Krieg Robert Musil als Redakteur der Zeitschrift Heimat Abstract: Until now, Robert Musil’s publishing activity during the First World War has not been extensively researched. One of the reasons is that the texts he wrote or edited for the (Tiroler) Soldaten-Zeitung in 1916 and 1917, as well as for the weekly newspaper Heimat in 1918, do not appear to be consistent with his literary work. This article focuses on questions of authorship in times of war and tries to answer them in relation to the complex tensions between individual creativity and »duty« using the example of Robert Musil. The fact that he published his contributions anonymously is crucial here. Finally, concepts from sociology of literature are applied to these observations.
1. Die Einordnung und Bewertung von Robert Musils publizistischer Tätigkeit im Ersten Weltkrieg hat der einschlägigen Forschung wiederholt Schwierigkeiten bereitet. In zu deutlichem Widerspruch zu seinen ansonsten vertretenen politischen, intellektuellen und nicht zuletzt ästhetischen Positionen scheinen nicht wenige der zwischen Sommer 1914 und Herbst 1918 verfassten bzw. als Redakteur jedenfalls verantworteten Texte auf den ersten Blick zu stehen – und mitunter auch auf den zweiten. Das angesichts dieser Differenz empfundene Unbehagen, das in zahlreichen Forschungsbeiträgen zum Ausdruck kommt,1 steht indes – und darauf sollen sich die folgenden Überlegungen konzentrieren – in einer engen Verbindung zu Aspekten und Konzepten von Autorschaft, ja zu der »Art«, in der ein »Text auf jene Figur verweist, die ihm, zumindest dem Anschein nach, äußerlich ist und ihm vorausgeht.«2 Die Rede von ›Musils Kriegspublizistik‹ ist in diesem Zusammenhang jedoch schon insofern intrikat, als man hier – wie in ähnlich gearteten Fällen einer im Grunde abseits des literarischen ›Werks‹ sich konstituierenden Publizität – eben nicht von einem homogenen, problemlos in ein Werkganzes zu 1
2
Helmut Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse. Weyarn 1997, S. 825–848, hier S. 826, etwa spricht allgemein von einer »tiefen Irritation«, welche die Lektüre der Kriegspublizistik »angesehener Autoren [. . .] beim heutigen Leser hervorrufen kann.« Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, hier S. 238.
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integrierendem Korpus ausgehen kann; ein Umstand, der nicht nur auf die unterschiedlichen Grade der ›Onymität‹ der Texte (Gérard Genette) zurückzuführen ist, sondern im Zuge der Analyse insbesondere auch auf institutionelle und allgemein historische Kontexte bezogen werden soll. Am Beginn von Musils Kriegsbiographie steht jedenfalls im Spätsommer 1914 mit dem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum ein mit vollem Namen gezeichneter Text: Seine im September-Heft der Neuen Rundschau publizierte Begrüßung des Kriegsausbruchs,3 die Beschwörung der »Tugenden« »Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung [und] Schlichtheit«, seine Feier von ›Schönheit‹ und ›Brüderlichkeit‹ des Krieges (GW II, S. 1020), wirkt aus der Perspektive der Nachgeborenen zweifellos befremdlich. Obschon es sich hier (auch) um eine durchaus »pragmatisch[ ]« zu verstehende »Anpassung an den Jargon des Chauvinismus«4 handeln mag, hat Corino den umstrittenen Essay wohl zurecht als »eines der deprimierendsten Beispiele aus der Musilschen Publizistik«5 bezeichnet. Indem Europäertum, Krieg, Deutschtum »einen Katalog affektiv stark besetzter Topoi aus der populären Kriegsapologetik«6 aufbietet, steht er jedenfalls nur zu deutlich im Gegensatz zur ansonsten von Musil geübten Praxis gedanklicher Durchdringung und analytischer Dekonstruktion stereotyper Denk- und Redeweisen. Und es ist dabei, wie Oliver Pfohlmann mit Blick auf Musils Œuvre zuletzt ausgeführt hat, tatsächlich »[f]rappierend«, »wie wenig sein Anspruch an Reflexion Musil davor bewahrte«, in den »kollektiven Todeschor« einzustimmen.7 Die so intensive wie extensive Auseinandersetzung mit dem Kriegsausbruch anlässlich des 100-jährigen ›Jubiläums‹ hat zuletzt freilich ein weiteres Mal darauf aufmerksam gemacht, dass Vokabular und sprachliche Muster der Begeisterung, wie sie in Musils Essay zur Anwendung kommen, im Rückblick auf die literarische Produktion des Sommers 1914 alles andere als singuläre Manifestationen darstellen.8 Gerade im Umkreis der Mobilmachung ist eine Unzahl an Beispielen kriegsaffirmativer Lyrik und Essayistik auszumachen, die – 3
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Für die Neue Rundschau arbeitete Musil seit Anfang des Jahres als Literaturkritiker und Redakteur. Vgl. dazu grundlegend Oliver Pfohlmann: »Ein Mann von ungewöhnlichen Eigenschaften«. Robert Musil, die »Neue Rundschau«, der Expressionismus und das »Sommererlebnis im Jahre 1914«, in: Weimarer Beiträge 49 (2003), H. 3, S. 325–360, und den einschlägigen Abschnitt in Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 467–495. Vgl. dazu außerdem den Aufsatz von Oliver Pfohlmann in diesem Band des Musil-Forums. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 207. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 493. Roger Willemsen: Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. München 1985, S. 145. Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 68. Vgl. exemplarisch Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 2013, bes. S. 126–150, Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München 2014, bes. S. 62–85, sowie den nun auch auf Deutsch vorliegenden Band von Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Aus dem Niederländischen v. Waltraud Hüsmert. Berlin 2014.
Dienst und Autorschaft im Krieg
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formal wie in Hinblick auf ihren Aussagegehalt – mitunter auf irritierende Weise ›gleichgeschaltet‹ erscheinen, und dabei zum einen den Krieg zu einem historisch notwendigen »Element nationaler und kultureller Entwicklung« stilisieren,9 zum anderen jedoch in weiten Teilen auf einer »vollkommen antiquierten Vorstellung über das wirkliche Kriegsgeschehen« aufbauen.10 Die Hymnen auf den nach Jahren der Enge und der Ereignislosigkeit endlich ausgebrochenen Krieg, die keineswegs nur von national-konservativen Autoren und Denkern angestimmt wurden,11 sollten bei vielen Schriftstellern bald der Ernüchterung weichen: »Die Verlustlisten: . . . tot . . . tot . . . tot . . . so untereinandergedruckt, niederschmetternder Eindruck«, konstatiert Musil gegen Ende 1914 in einem seiner Notizhefte.12 Die durchaus prekäre Frage, wie in dieser geschichtlichen Konstellation Musils Ausführungen in Europäertum, Krieg, Deutschtum ideologiegeschichtlich wie biographisch zu verorten und zu interpretieren sind, ist durch den Umstand, dass Musil der Krieg als »kardinale Zeit-Chiffre der Modernität« zeitlebens ein »erklärungsbedürftiges Syndrom« bleiben sollte13 – die philologische Analyse also immer mit einer so kritischen wie komplexen Selbstanalyse des Autors einhergeht –, nicht eben einfacher zu beantworten. Gerade deshalb, weil zu diesem Themenkomplex bereits eine große Anzahl an Studien vorliegt,14 die sich insbesondere auch 9 10
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Wolfgang Kruse: Ursachen und Auslösung des Krieges, in: ders. (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918. Frankfurt a. M. 1997, S. 11–25, hier S. 16. Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (s. Anm. 1), S. 840. Vgl. zu diesem Problemkomplex auch die Ausführungen in Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. München 2006, passim. Vgl. Hans Weigel: Auch das war vorgestern. Bestandsaufnahme literarischer Kriegspropaganda in der österreichisch-ungarischen Monarchie und im Deutschen Reich 1914–1918, in: ders., Walter Lukan, Max D. Peyfuss: Jeder Schuß ein Ruß – Jeder Stoß ein Franzos. Literarische und graphische Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich 1914–1918. Mit 138 Abbildungen. Wien 1983, S. 5–30, hier S. 12 f.: »Ganz allgemein ist das Phänomen festzustellen, daß nicht nur die Nationalen, die Konservativen zu Barden der ›Eisernen Zeit‹ werden, sondern auch die Linken, die Fortschrittlichen, die Humanisten.« Vgl. auch Eberhard Sauermann: Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. Wien u. a. 2000 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 4), S. 20; Bernd Hüppauf: Kriegsliteratur, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte u. erweiterte Studienausgabe. Paderborn u. a. 2009, S. 177–191, hier S. 182. KA/Transkriptionen/Heft 17/10. Alexander Honold: Berlin. Der Krieg als literarisches Datum, in: Annette Daigger, Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern u. a. 2008 (= Musiliana, Bd. 14), S. 131–152, hier S. 133 u. 136. Vgl. zusätzlich zu den bereits angeführten die folgenden einschlägigen Arbeiten: Paul Zöchbauer: Der Krieg in den Essays und Tagebüchern Robert Musils. Stuttgart 1996 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 316); Alexander Honold: Auf dem Fliegenpapier. Robert Musil im Ersten Weltkrieg, in: Literatur für Leser 20 (1997), S. 224–239; Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, bes. S. 7–16; Mathias Mayer: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. München 2010 (= Ethik – Text – Kultur, Bd. 4), bes. S. 237–254.
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mit der Verbindung von Krieg und ›anderem Zustand‹ in Musils Poetik und Essayistik auseinandersetzen,15 sollen sich die folgenden Überlegungen auf Musils Redakteurstätigkeit für die ab März 1918 wöchentlich erscheinende Soldatenzeitung Heimat konzentrieren. Nach einer knappen, für das Folgende notwendigen Rekonstruktion von Musils Kriegsbiographie (2.) soll die Frage der Musil’schen Autorschaft(en) in Zeiten des Krieges näher beleuchtet werden (3.), um diese am Ende mit literatursoziologischen Ansätzen in Beziehung zu setzen (4.).
2. Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die den Ersten Weltkrieg vornehmlich an ihren Schreibtischen gefeiert und euphorisch begrüßt hatten, rückte Musil schon im August 1914 selbst ein und wurde wenig später mit seinem Landsturmbataillon zur Grenzsicherung nach Südtirol abkommandiert, wo es sich, befreit von den sozialen Bürden eines bürgerlichen Lebens, anfangs recht gut leben ließ.16 Von der Mutter nach seinem Dafürhalten wohl überfürsorglich unterstützt, wie die zahlreichen Briefe und die darin angekündigten Essenspakete mit beiliegenden Ernährungs- und Warmhaltetipps andeuten,17 und ansonsten nur von am Ende recht marginalen Problemen der soldatischen Bürokratie in der Etappe geplagt, blieb dennoch kaum Zeit für die eigene literarische Tätigkeit.18 Nach dem Ende 15
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Vgl. dazu exemplarisch Kai Evers: »Krieg ist das gleiche wie aZ«: Krieg, Gewalt und Erlösung in Robert Musils Nachkriegsschriften, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 227–250. Vgl. Pfohlmann: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 71. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Hermine Musil an Robert Musil, Ende Jänner 1915: »Damit Du Dich aber vor Katarrhen und Rheuma bewahrst, so befolge meinen guten Rat: Wenn Du von der Übung heimkommst, muß das Zimmer gut warm geheizt sein, und scheue nicht die Mühe, Dich umzuziehen, trockene Wäsche erhöht das Wohlbefinden, läßt die Ermüdung nicht verspüren und bewahrt Dich vor obigen Übeln, ich weiß, Du tust es nicht gerne, aber überwinde Dich zu Deinem eigenen Vorteil. [. . .] [P]flege Dir auch die Füße, mit Alaun-Fußbädern, Zitrone oder Franzbranntwein, und gegen Schuhdruck Salizyltalg. Nähren mußt du Dich, jetzt, bei dem strapaziösen Leben, ganz rationell. Besonders Frühstück: Tee mit Speck und Eiern; unterwegs stets Speck, Salami, Schokolade; überhaupt esse sehr viel Speck, das ernährt die Nerven, und Butter.« Wiederholt hat Musil auf den Umstand hingewiesen, dass seine literarische Produktion in der Zeit des Weltkriegs weitgehend stagniert sei; eine von ihm selbst stammende, vermutlich 1922 angefertigte Übersicht über sein literarisches Schaffen und die jeweiligen Aufenthaltsorte führt für 1914 noch »Berlin« bzw. »Schwärmer, Essays, Hemmungen« an; für 1914 bis 1916 ist in der Folge eine »Pause« eingetragen, unterbrochen lediglich durch »3 Gedichte« im Jahr 1915 (GW II, S. 938), wobei es sich wohl um Heimweh, An ein Zimmer und Das Namenlose handelt (vgl. GW II, S. 466). Erst für die Nachkriegszeit sind in Musils Übersicht wieder Titel konkreter literarischer Texte angeführt. Bei dieser Bestandsaufnahme darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass zahlreiche Werke, die seit den 1920er Jahren erscheinen sollten,
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des Dreibundes mit dem Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente, Kampfeinsätzen an der Isonzo-Front und einer schweren Erkrankung im März 1916 wurde Musil im Juli desselben Jahres zur Soldaten-Zeitung nach Bozen versetzt und arbeitete dort bis zu deren Einstellung am 15. April 1917 größtenteils als »verantwortlicher Redakteur«.19 Das anfänglich Tiroler Soldaten-Zeitung benannte Blatt war schon kurze Zeit nach der Kriegserklärung Italiens als Armeezeitung gegründet worden; mit der recht bald erfolgten weitgehenden Stillstellung der Fronten wuchs jedenfalls das Lese- und Informationsbedürfnis der Soldaten, worauf die Soldaten-Zeitung im Rahmen ihres journalistischen Genres mit einer Mischung aus zerstreuenden und patriotisch-erbaulichen Texten zu antworten versuchte.20 Mit Musils Einstieg in die Redaktion der Soldaten-Zeitung sei, so der Historiker Roman Urbaner, schließlich nicht nur ein »Qualitätssprung« verbunden gewesen, sondern auch die Schaffung eines »scharfe[n] politische[n] Profil[s]«,21 das sich offenbar nicht immer durch die erwünschte Linientreue auszeichnete. Denn während die Zeitung im Sinne ihres propagandistischen Auftrags affirmative wie konsistente Deutungen des Kriegsgeschehens hätte bieten sollen, zeigte sie sich unter Musils Leitung in der Folge – trotz umfänglicher Zensurmaßnahmen vonseiten militärischer Stellen22 – »erstaunlich kritisch« in ihren
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zum Teil umfassend aus dem in den Arbeitsheften notierten thematischen wie sprachlich-metaphorischen Material schöpften – man denke an Grigia oder Die Portugiesin, an die 1928 publizierte Novelle Die Amsel oder einzelne Kurzprosastücke, die später für die Veröffentlichung im Nachlaß zu Lebzeiten noch einmal einer Revision unterzogen wurden. Die dafür aufschlussreiche Textgenese der Grigia hat zuletzt Rosmarie Zeller: Musils Arbeit am Text. Textgenetische Studie zu Grigia, in: Musil-Forum 32 (2011/2012), S. 41–64, erhellend nachgezeichnet. – Die Texte, die von elementaren Erfahrung eines persönlichen Ausnahmezustands zeugen, haben ihre endgültige Ausarbeitung jedenfalls »erst in den zwanziger Jahren erhalten« – und sind somit, so Honold: Auf dem Fliegenpapier (s. Anm. 14), S. 230 u. 225, durch den »Blick der Ernüchterung post eventum gegangen«. Eine Kurzfassung von Musils militärischer Laufbahn findet sich in der frühen Dokumentation von Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.): Robert Musil. Leben – Werk – Wirkung. Zürich u. a. 1960, S. 225–234; eine ausführlichere Darstellung in Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 497–592; zahlreiche Abbildungen und fotografische Dokumente in der Bildmonographie von Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 219–259. Vgl. Roman Urbaner: Schriftführer Musil. Der Jahrhundertschriftsteller als Chefredakteur der Soldatenzeitung, in: Quart-Heft für Kultur Tirol 5 (2005), S. 54–67, hier S. 57; vgl. zur allgemeinen Funktion von Soldatenzeitungen auch Robert L. Nelson: Soldatenzeitungen, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte u. erweiterte Studienausgabe. Paderborn u. a. 2009, S. 849–850, hier S. 849: »Die Skizzen und Erlebnisberichte aus dem täglichen Leben im Schützengraben, Sportnachrichten sowie Unterhaltungs- und ›Humorecken‹ wurden als willkommene Unterbrechung einer häufig unbeweglichen Kriegsführung geschätzt.« Umfangreichere Studien zu den Soldatenzeitungen der Habsburgermonarchie fehlen leider weitgehend. Urbaner: Schriftführer Musil (s. Anm. 20), S. 59. Vgl. zur militärischen Zensurpraxis und ihren verschiedenen Institutionen schon die folgenden Arbeiten der 60er Jahre: Klaus Mayer: Die Organisation des Kriegspressequartiers beim k. u. k. AOK im ersten Weltkrieg 1914–1918. Diss. Univ. Wien 1963, S. 55 f. u. 107–113;
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Analysen des status quo der Habsburger Monarchie,23 indem neben dem zweifelhaften Patriotismus von Kriegsgewinnlern und Schiebern auch die im Laufe des Krieges zunehmend zutage tretenden Konfliktlinien innerhalb des kakanischen Vielvölkerstaats thematisiert wurden: Die »Immobilität des Staates, die unbewältigte Nationalitätenfrage und dadurch das Problem des Irredentismus, die Parteienmißwirtschaft, die Trägheit der Bürokratie und die Klientelwirtschaft«24 wurden neben der eingehenden Kommentierung des Krieges zu zentralen Themen der Berichterstattung. Am 15. April 1917 sollte die letzte Nummer der Soldaten-Zeitung erscheinen; der nicht namentlich gezeichnete Leitartikel dieser ›Abschiedsausgabe‹, die neben zahlreichen Fotografien auch einen Abdruck von Kleists Erdbeben in Chili enthielt, profiliert explizit die Idee eines »kritischen Patriotismus«, der sich nicht den »selbstzufriedenen Trompeterchen der Gloria des Vaterlandes hinzugesellen« will.25 Kurz darauf wurde Musil ins Hauptquartier der Isonzo-Armee nach Adelsberg/Postojna versetzt. »Sie fragen, was ich getrieben habe oder wie ich getrieben worden bin?«, wiederholt Musil eine briefliche Anfrage Rilkes im November 1924, also sechs Jahre nach dem Ende des Krieges, und antwortet postwendend: »Damals [. . .] rückte ich ein und blieb bis gegen Ende draußen, nur das letzte Jahr machte ich teilweise im Kriegspressequartier mit.«26 Nachdem er also gut dreieinhalb Jahre mit kurzen krankheitsbedingten Unterbrechungen »draußen«, d. h. vor allem an der Südfront bzw. in deren Hinterland, im Dienst der k. u. k. Armee gestanden hatte, wurde Musil aufgrund seiner publizistischen Erfahrungen im März 1918 vom Heeresgruppenkommando Boroevi´c zur redaktionellen Gruppe des Kriegspressequartiers in Wien versetzt. Musil, mittlerweile zum Landsturmhauptmann befördert, wurde dort mit der Schriftleitung der neu gegründeten Wochenschrift Heimat betraut, deren erste Nummer – im Übrigen als einzige in Fraktur gesetzt – am 7. März 1918 erschien und die bis in den Oktober des letzten Kriegsjahres weiterlaufen sollte. Dass die Quellenlage dazu eine schwierige ist – ungefähr die Hälfte der Nummern der Heimat konnte bisher nicht ausfindig gemacht werden27 – und die konkreten Um-
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Hildegund Schmölzer: Die Propaganda des Kriegspressequartiers im ersten Weltkrieg 1914– 1918. Diss. Univ. Wien 1965, S. 8 u. 11 f.; Kurt Paupié: Handbuch der österreichischen Pressegeschichte. Bd. II : Die zentralen pressepolitischen Einrichtungen des Staates. Wien, Stuttgart 1966, S. 154 u. 161 f. Pfohlmann: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 77. Elena Giovannini: Der Parallel-Krieg. Zu Musils Arbeit in der »Soldatenzeitung«, in: MusilForum 13/14 (1987/1988), S. 88–99, hier S. 91. N. N.: Vermächtnis, in: Soldaten-Zeitung (15. 4. 1917), Nr. 45, S. 3–4, hier S. 4. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Rainer Maria Rilke, 16. 11. 1924. Vgl. das Verzeichnis in KA/Kommentare & Apparate/Register/Gesamtverzeichnis der Kriegspublizistik/Aus der Redaktion der Zeitung ›Heimat‹/Gesamtverzeichnis der Beiträge in der Zeitung ›Heimat‹.
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stände von Musils Redakteurstätigkeit für das Kriegspressequartier bisher nur teilweise ermittelt sind, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass ein nicht unwesentlicher Teil der entsprechenden Dokumentation zu Kriegsende planmäßig vernichtet wurde und sich im erhaltenen Material neben zahlreichen Verwaltungsakten lediglich »meist sehr ungenaue Namenslisten« finden.28 Kein leichter Stand für neugierige Philologen und Historiker. Die Heimat, die erstmals Karl Corino genauer untersucht hat,29 erschien seit Anfang März 1918 wöchentlich mit einem Umfang von acht, später auch vier Druckseiten. Sie enthielt politisch-propagandistische Leitartikel ebenso wie kurze literarische Texte – von österreichischen Schriftstellern wie Franz Grillparzer, Peter Rosegger, Marie von Ebner-Eschenbach, Enrica von Handel-Mazzetti, aber in der neunten Nummer auch Kleists Bettelweib von Locarno sowie insgesamt drei Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel und ein kurzer Text von Iwan Turgenjew.30 Der im unpaginierten An28
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Mayer: Die Organisation des Kriegspressequartiers (s. Anm. 22), S. 6; gerade für »die tatsächlichen propagandistischen Leistungen des KPQ fehlen in den Akten des [Wiener] Kriegsarchivs fast alle Unterlagen.« (S. 7) Vgl. dazu auch Jozo Džambo: Armis et litteris – Kriegsberichterstattung, Kriegspropaganda und Kriegsdokumentation in der k. u. k. Armee 1914–1918, in: ders. (Hg.): Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung. Teil 1: Beiträge. München 2003, S. 10–37, hier S. 28. Vgl. Karl Corino: Profil einer Soldatenzeitung aus dem Ersten Weltkrieg, »Heimat«, und ihres Herausgebers Robert Musil, in: Musil-Forum 13/14 (1987/88), S. 74–87. Die folgende Aufstellung bezieht sich lediglich auf die erhaltenen, in der Klagenfurter Ausgabe als Faksimiles zugänglichen Exemplare der Heimat, d. h. die Nummern 1 bis 14 sowie 19 und 20. – Peter Rosegger: Ein stolzer Mann, in: Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, S. 3; Franz Grillparzer: Merkspruch, in: Heimat 1 (14. 3. 1918), Nr. 2, S. 3; Peter Rosegger: »Da Regenschirm«, in: Heimat 1 (28. 3. 1918), Nr. 4, S. 4; [Marie von] Ebner-Eschenbach: Eine Begegnung, in: Heimat 1 (11. 4. 1918), Nr. 6, S. 3; [Enrica Handel-Mazzetti]: Wiedersehen, in: Heimat 1 (11. 4. 1918), Nr. 6, S. 3 f.; Peter Rosegger: Als ich den Kaiser Josef suchte, in: Heimat 1 (18. 7. 1918), Nr. 20, S. 2. – Joh.[ann] P.[eter] Hebel: Einträglicher Rätselhandel, in: Heimat 1 (4. 4. 1918), Nr. 5, S. 4; [Iwan] Turgenjew: Das Fest beim höchsten Wesen, in: Heimat 1 (18. 4. 1918), Nr. 7, S. 3; Heinrich v. Kleist: Das Bettelweib von Locarno, in: Heimat 1 (2. 5. 2918), Nr. 9, S. 3 f.; [Johann Peter] Hebel: Der silberne Löffel, in: Heimat 1 (9. 5. 1918), H. 10, S. 5; [Johann Peter] Hebel: Der listige Steiermärker, in: Heimat 1 (6. 6. 1918), Nr. 14, S. 5 f. Aus dem Bereich des Kanons ist außerdem die Geschichte Till Eugenspiegel und die 12 Blinden, die in Nr. 14 der Heimat vom 6. 6. 1918 ohne Nennung des Verfassers abgedruckt wurde, anzuführen. – Darüber hinaus finden sich in den erhaltenen Ausgaben noch mehrere literarische Texte von heute weitgehend unbekannten Autoren, z. B.: Emil Eril: Das verbotene Bad, in: Heimat 1 (14. 3. 1918), Nr. 2, S. 5 f.; Fritz Stüber-Gunther: Seelenheilmittel, in: Heimat 1 (21. 3. 1918), Nr. 3, S. 5 f.; Ludwig Kapeller: Der Wolkenhäusler, in: Heimat 1 (28. 3. 1918), Nr. 4, S. 4 f.; Karl Marilaun: Angenehme Feiertage, in: Heimat 1 (18. 4. 1918), Nr. 7, S. 3; Eduard Pötzl: Festessen, in: Heimat 1 (25. 4. 1918), Nr. 8, S. 3; B. Nušiˇc: Die Badehose, in: Heimat 1 (9. 5. 1918), Nr. 10, S. 3; Dr. A. v. Mörl: Im U-Boot, in: Heimat 1 (9. 5. 1918), Nr. 10, S. 6; [Vinzenz] Chiavacci: Der Barbier des Kaisers, in: Heimat 1 (16. 5. 1918), Nr. 11, S. 3 f.; G. F.: Schindelbacher und der Herr im Frack, in: Heimat 1 (16. 5. 1918), Nr. 11, S. 5.; Josef Neumair: Mein Strohsack. Aus dem serbischen Feldzug 1914, in: Heimat 1 (23. 5. 1918), Nr. 12, S. 3; I. Matiˇc: Mustafas »Fehler«, in: Heimat 1 (23. 5. 1918), Nr. 12, S. 5; Karl Braun: Ein »Künstlerleben«, in: Heimat 1 (30. 5. 1918), Nr. 13, S. 4 f.; Jan Neruda: Tag und Nacht, in: Heimat 1 (30. 5. 1918), Nr. 13, S. 5; Ludwig Kapeller:
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Abb. 1: Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Die Abbildungen des Beitrags wurden mit freundlicher Erlaubnis von Walter Fanta aus der Klagenfurter Ausgabe entnommen.
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kündigungsblatt der ersten Nummer (s. Abb. 1) formulierten Maxime, vor allem »[u]nterhaltende und leicht anziehend belehrende Stoffe, nicht kindisch, aber volkstümlich, nie roh oder geschmacklos«,31 zu bieten, wurde in den abgedruckten fiktionalen Texten weitgehend entsprochen. Es handelte sich dabei jedenfalls nicht um Originaltexte, die speziell für die Soldatenzeitung geschrieben worden wären, hatte es doch schon im programmatischen Ankündigungsblatt geheißen: »Auf völlige Originalität der Aufsätze wird nicht gesehen, besonders beim Unterhaltungsstoff.«32 – Außerdem enthielt die Heimat »Wissenswertes« aus dem Kriegsalltag, die für das Repertoire der Propaganda charakteristischen Erfolgsberichte von den verschiedenen Fronten sowie Meldungen über Versorgungsmängel in den Ländern der Entente, entsprechende Schaubilder mit kriegswirtschaftlichen Statistiken (s. Abb. 2), Kommentare zur alliierten Presse, einen ›Feldpostkasten‹ sowie unterhaltsames Beiwerk (z. B. Rätselaufgaben). Mit Ausnahme der namentlich gezeichneten literarischen Texte und eines in Nr. 9 der Heimat unter dem Pseudonym »Pankraz Schittenhelm« veröffentlichten Artikels mit dem Titel »Militarismus«33 sind die Beiträge anonym erschienen. Potenzielle Verfasser der in der Heimat erschienenen Texte sind indes die Mitglieder der redaktionellen Gruppe des Kriegspressequartiers, der neben Musil auch andere bedeutende Autoren und Journalisten angehörten: Franz Blei34 ebenso wie Egon Erwin Kisch, Albert Paris Gütersloh, Franz Werfel oder für die tschechische Ausgabe der Heimat, Domov, auch der spätere Chefredakteur der Prager Presse, Arne Laurin.35 Aufgrund der lückenhaften Aktenbestände des Kriegspressequartiers und der daraus resultierenden Quellenlage kann und soll das Ziel der folgenden Ausführungen aber nicht die Präsentation von neuem, historiographisch und musilbiographisch wertvollem Material sein.
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Mein erster Flug. Im Postflugzeug von Wien nach Kiew, in: Heimat 1 (11. 7. 1918), Nr. 19, S. 2; Anton Langer: Der Grübler, in: Heimat 1 (11. 7. 1918), Nr. 19, S. 2; N. N.: Kroatisches Volkslied, in: Heimat 1 (11. 7. 1918), Nr. 19; S. 2; N. N.: Fritz und Hans, in: Heimat 1 (18. 7. 1918), Nr. 20, S. 2. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Die Verfasserschaft Franz Bleis gilt als relativ gesichert. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/ Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Kriegspublizistik/Beiträge in der ›Heimat‹/Musil als Redakteur der ›Heimat‹. Zu Musil und Blei im Ersten Weltkrieg vgl. Silvia Bonacchi, Emanuela Veronica Fanelli: »Ein nie gesättigtes Verlagen nach Geist. . .«: Zur Beziehung zwischen Franz Blei und Robert Musil, in: Dietrich Harth (Hg.): Franz Blei. Mittler der Literaturen. Hamburg 1997, S. 108–138, hier S. 117 ff., sowie die ausführliche Darstellung in Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 274–388. Vgl. Corino: Profil einer Soldatenzeitung (s. Anm. 29), S. 76; zur literarischen und publizistischen Tätigkeit des Kriegspressequartiers vgl. auch den immer noch grundlegenden Aufsatz von Peter Broucek: Das Kriegspressequartier und die literarischen Gruppen im Kriegsarchiv 1914–1918, in: Klaus Amann, Hubert Lengauer (Hg.): Österreich und der große Krieg 1914– 1918. Die andere Seite der Geschichte. Wien 1989, S. 132–139.
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Abb. 2: Heimat 1 (30. 5. 1918), Nr. 13, S. 6.
Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, auf welche Weise Musils Tätigkeit für das Kriegspressequartier zu analysieren und adäquat zu beschreiben ist.
3. Wie zahlreiche andere Autoren, die im Krieg in unterschiedlichen publizistischen Organisationen der Habsburger Monarchie ihren (schreibenden) Dienst versahen, stand Musil im Rahmen seiner Redakteurstätigkeit vor der Herausforderung, im Spannungsfeld von politisch codierten (und damit ästhetisch heteronomen) Ansprüchen an sein Schreiben auf der einen und der eigenen literarischen Praxis als Autor auf der anderen Seite seine Position zu definieren.36 Nicht von ungefähr kreisen Musils Reflexionen über den 36
Seit Kurzem liegt nun eine aktuelle, die bisherigen Forschungsergebnisse übersichtlich zusammenfassende Diplomarbeit zur Tätigkeit österreichischer Autoren für Kriegspressequartier
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Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs und seine eigene Rolle in dieser historischen Scharnierzeit, die er nach 1918 in immer neuen Anläufen unternahm, wiederholt um jene beiden »Kernfragen des literarischen Lebens«, die Klaus Amann für Musils essayistische Versuche der 1930er Jahre ausgemacht hat: »die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat bzw. Politik und Literatur und die Frage nach dem gesellschaftlichen Standort des Schriftstellers zwischen politischer Verantwortung und künstlerischer Autonomie.«37 Amanns Fokus liegt an der hier zitierten Stelle zwar auf den Möglichkeiten einer selbstbestimmten und ›verantwortungsvollen‹ Position als Autor und Intellektueller angesichts des Nationalsozialismus, seine Einschätzung lässt sich jedoch m. E. auch auf Musils historisch weiter zurückreichende Reflexionen beziehen; zumal sich in den Notizheften Hinweise dafür finden lassen, dass er noch in den 1930er Jahren den Bereich »Politik u[nd] Kultur« parallel zu im engeren Sinne zeitgenössischen Überlegungen wiederholt auf den Ersten Weltkrieg bezogen hat.38 Doch dazu im Folgenden mehr. Anfang 1915 – also noch vor dem Kriegseintritt Italiens an der Südfront – beantwortet Musil die nach Trafoi, den damaligen Ort seiner Stationierung, gesendete Aufforderung Friedrich Markus Huebners, kurze Beiträge zur Zeitschrift Zeit-Echo. Ein Kriegs-Tagebuch der Künstler zu verfassen,39 abschlägig: »Meinen besten Dank für die freundliche Aufforderung. Ich würde es sehr gerne tun, glaube aber kaum, daß ich in der nächsten Zukunft Zeit finden werde ihr zu folgen.« Und er fährt mit der für die vorliegende Untersuchung entscheidenden Wendung fort: »Denn der Dienst läßt nicht viel von mir übrig.«40 Auch wenn der »Dienst« hier noch nicht die Aufgaben als verantwortlicher Redakteur für von staatlicher Seite installierte Zeitungsprojekte meint, könnte die zitierte Briefstelle doch als Anlass dazu dienen, genauer zu bestimmen, wie in Zeiten des Krieges eine Autonomie reklamierende Autorschaftskonzeption durch gegenläufige, heteronome Ansprüche an einen ›Dienstnehmer‹ und de facto Befehlsempfänger in Bedrängnis gerät. Hinweise dazu finden sich nicht zuletzt auch in Musils ex-post-Reflexionen seiner Notizhefte: Im gesellschaftlich-politischen Klima der frühen 1930er Jahre, in dem
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und Kriegsarchiv vor: Hannes Gruber: »Die Wortemacher des Krieges«. Zur Rolle österreichischer Schriftsteller im Kriegspressequartier des Armeeoberkommandos 1914–1918. Diplomarb. Karl-Franzens-Univ. Graz 2012. Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (s. Anm. 14), S. 18. KA/Transkriptionen/Heft 34/83. Huebners Kurzcharakterisierung des Zeitschriften-Projekts hätte Musil freilich interessieren können: »Wir möchten durchaus vermeiden – glückte es stets?? – Gutachten über den Krieg zu geben, oder, wovon jetzt die Tageszeitungen überlaufen, Kriegsessayismus zu bringen. Nichts nur Referierendes oder nur Orientierendes – statt dessen, in möglichster Unmittelbarkeit das (oder ein) Erlebnis, der Wirklichkeit oder des Denkens.« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Friedrich Markus Huebner an Robert Musil, 9. 1. 1915) KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Robert Musil an Friedrich Markus Huebner, 13. 1. 1915.
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ein Teil der Bevölkerung weiterhin glaube, »dem Leben als einer mehr oder weniger zivilisatorischen Veranstaltung beizuwohnen«, während »der andere [. . .] den Eindruck eines Theaterbrandes« habe, sei es, so der soziologisch wie massenpsychologisch versierte Autor, nicht weiter verwunderlich, »daß da robuste Männer mit einfachen Entschlüssen das Kommando übernehmen.«41 Die weitere Argumentation folgt nun jener Verschränkung der Zeitebenen der 1910er und 1930er Jahre, die nicht nur für den Mann ohne Eigenschaften charakteristisch werden, sondern Musil auch in seinen essayistischen Überlegungen wiederholt beschäftigen sollte: Der »Hauptfehler« liege, so Musil, nämlich »im Übergreifen auf das Kulturelle in KPQ-weise«,42 mithin in einer mangelnden Resistenz des Literarischen gegenüber den Machtansprüchen der politischen Sphäre. Obschon Musils Vergleich in dieser unpublizierten Notiz dazu tendiert, die manifesten Unterschiede der entsprechenden historischen und ideologischen Kontexte zu negieren, kann sie jedenfalls als Hinweis darauf gelesen werden, dass seine eindringliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht und Literatur auch in späteren Jahren immer wieder auf seine Redakteurstätigkeit zurückverweist: gewissermaßen als (durchaus auch biographische) Urszene einer heteronomen Inanspruchnahme von Kunst und Literatur durch Formen publizistischer Propaganda. Mit ähnlicher argumentativer Stoßrichtung notiert er in der ebenfalls im Laufe der 1930er Jahre angelegten Mappe III/5 Überlegungen zur Indienstnahme der Literatur durch außerkünstlerische Einflüsse, hier in der historischen Abfolge von Markt zu Macht: »Der Kaufmann bemächtigte sich der Literatur, dann das KPQ, u[nd] zuletzt der Staat.«43 Fokussiert man den Blick nun wieder auf die Redaktion der Heimat 1918 und geht dabei davon aus, dass die Aufgabe der Kriegspropaganda als Form einer »Sinnindustrie«44 vornehmlich darin bestand, ihre höchst heterogene Rezipientenschaft mit »adäquaten Deutungsangeboten« zu versorgen,45 Durchhalteparolen mithin wichtiger und erwünschter waren als konzise Analysen, dann muss sicher bezweifelt werden, ob und wie die bruchlose Integration der Zeitschriftenartikel in das Œuvre des literarischen Autors Robert Musil sinnvoll wäre – selbst wenn durch thematische oder stilistische Nähe eine Verfasserschaft Musils mit großer Sicherheit angenommen werden kann.46 Die Verfahrensweise der Heraus41 42 43 44
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KA/Transkriptionen/Heft 34/83. KA/Transkriptionen/Heft 34/83. KA/Transkriptionen/Mappe III/5/36. Michael Jeismann: Propaganda, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte u. erweiterte Studienausgabe. Paderborn u. a. 2009, S. 198–209, hier S. 202. Urbaner: Schriftführer Musil (s. Anm. 20), S. 57. Zu den Abstufungen der Zuschreibungssicherheit vgl. die Kategorien in Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1980, S. 179; vgl. auch Regina Schaunig: Viribus unitis. Robert
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geber der digitalen Klagenfurter Ausgabe im bald zur Verfügung stehenden Update – i. e. die Faksimilierung der Soldaten-Zeitung und der Heimat bei gleichzeitiger Nicht-Aufnahme der Beiträge in den Kreis der Lesetexte –,47 scheint mir in diesem Kontext aus mehreren Gründen zielführend zu sein, was in der Folge mit Blick auf aktuelle Positionen der Autorschaftsforschung kurz erläutert werden soll. Die zentralen Problemlagen dieses biographisch-philologischen Komplexes gruppieren sich dabei einerseits um die Frage nach der – auch ökonomisch zu verstehenden – Freiheit des Schreibens im Kontext einer Soldatenzeitung, die an bestimmte Vorgaben, etwa im Fall der Heimat aus dem Kriegspressequartier, gebunden war; andererseits um die Praxis der Anonymisierung der Beiträge, die sowohl institutionelle als auch individuelle Implikationen aufweist.48 Wenn Musil Mitte der 1930er Jahre in einer der fallengelassenen Vorwortentwürfe zum Nachlaß zu Lebzeiten das Kriegspressequartier als »Speichelleckerabteilung« charakterisierte und die problematische Position des Schriftstellers ›im Dienst‹ mit der prägnanten Formel, eine »fertige Weltanschauung« vertrage »keine Dichtung«, man müsse »für sie ein Kriegspressequartier einrichten«,49 zu bestimmen versuchte, so zeigt sich darin gerade zweierlei: zum einen die fast zwanzigjährige Distanz des Schriftstellers zu seiner redaktionellen Karriere, zum anderen die eminente Differenz zwischen dem eigenen, von Musil schon früh zur Schau getragenen Selbstverständnis als Dichter und der »fertige[n] Weltanschauung«, die er unter der Ägide des Kriegspressequartiers zu vertreten bzw. zu verbreiten hatte. Oder mit Louis Begley: ›Lügen‹ unterliegt ›in Zeiten des Krieges‹ eben anderen Voraussetzung als in Friedenszeiten – man denke nur an das in den Veröffentlichungen staatlicher Stellen betriebene ›Heldenfrisieren‹, das Musil in einer
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Musils Schreiben in kollektiver Anonymität, in: Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 202–223, hier S. 210 f. Die aktuellste Publikation zum Thema konnte für den vorliegenden Aufsatz nicht mehr berücksichtigt werden: Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino und 87 Musil zugeschriebenen Zeitungsartikeln. Klagenfurt, Wien 2014. Vgl. Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 205 u. v. a. S. 223: Es »wäre aufgrund der sensiblen Autorschaftsfrage davon abzuraten, eine Textauswahl dieser Größenordnung in eine Werkausgabe Musils zu integrieren, auch wenn zukünftige Studien für eine wesentliche Erweiterung des bisher zugeschriebenen Kanons plädieren sollten. So wurde auch seitens des Herausgeberteams der Klagenfurter Ausgabe entschieden, Musils Kriegspublizistik in eine ausführliche Dokumentation der Schreibgeschichte aufzunehmen, nicht aber in Form von Lesetexten zu edieren.« Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 208, etwa hat darauf hingewiesen, »dass Musil innerhalb seiner speziellen Funktion als Chefredakteur nicht als Autor, sondern als Befehlsempfänger handelte.« Vgl. auch ebd., S. 204 f.: »Was er schrieb, was er vertrat, schrieb und vertrat er augenscheinlich nicht als Autor, sondern als weisungsgebundener Angehöriger der Krieg führenden Armee.« KA/Lesetexte/Bd. 14 Gedichte, Aphorismen, Selbstkommentare/Selbstkommentare aus dem Nachlass/Vorwort I– IV . Vgl. auch Transkriptionen/Mappe VIII/3/21.
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Theater-Kritik in der Prager Presse aus dem Jahr 1921 als die Überbietung des »simplere[n] Heldenleben[s]« im Schützengraben durch das »heldenhaftere[ ] Heldenleben des Kriegspressequartiers« charakterisiert hat (GW II, S. 1512).50 Selbst wenn in manchen Texten »Musils Handschrift deutlich« werden mag51 und man – wie vergleichende Untersuchungen zeigen – »immer wieder auf eingängige rhetorische Figuren [stößt], wie man sie aus seinen Artikeln in der ›Soldaten-Zeitung‹ schon kennt«,52 sollten die aus der Praxis der Anonymisierung hervorgehenden Fragestellungen nicht vorschnell beiseite gewischt werden. Zwar erwähnt etwa Martha Musil in einem Brief an ihre Tochter vom 29. März 1918, der »Leitartikel« der Heimat stamme »von Robert«,53 doch ist für die Einbindung in einen Werkkontext meines Erachtens weniger die später detektivisch zu enttarnende Verfasserschaft von zentralem Interesse,54 sondern vielmehr das spezifische Spannungsfeld zwischen Autorschaft, Autorität und Anonymität. Kurt Flasch hat in seiner erhellenden Studie zur ›geistigen Mobilmachung‹ – u. a. anhand der Beispiele Rudolf Borchardts und Hugo Balls – auf die Schwierigkeit hingewiesen, »einzelne Weltkriegstexte als singuläre Wortgebilde singulärer Autoren in singulären Situationen« zu betrachten, da »dieses traditionelle geisteswissenschaftliche Verfahren im Widerspruch zum Massencharakter der intellektuellen Produktion« stehe.55 Überträgt man Flaschs Ansatz auf Musil, lässt sich diese Interpretation einerseits auf den kriegsapologetischen Essay in der Neuen Rundschau beziehen, weil dort trotz expliziter Nennung des Autornamens die Frage der Individualität der Musil’schen Position zu diskutieren wäre, andererseits aber eben auch auf die Möglichkeiten autonomer Autorschaft im Kontext publizistischer Kollektivismen. Es ist dabei zweifellos richtig, dass »[ü]ber die konkrete Gestaltung des kooperativen Schreibens [. . .] nur spekuliert werden [kann]«,56 doch könnten Konzepte ›kollektiver‹, ›multipler‹ oder ›transindividueller‹ Autorschaft57 dabei helfen, den Standort von Musils Redakteurstätigkeit in Leben und Werk genauer zu beleuchten und in der Folge auch über den 50 51 52 53 54
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Zur Praxis des ›Heldenfrisierens‹ vgl. Sauermann: Literarische Kriegsfürsorge (s. Anm. 11), S. 31. Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 210. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 580. Es handelt sich dabei mutmaßlich um den Beitrag »Politische Wochenschau – trau – wem?« in der 4. Nummer der Heimat vom 28. 3. 1918 (vgl. Br II, S. 87). Vgl. Foucault: Was ist ein Autor? (s. Anm. 2), S. 247: »[W]enn er [i. e. ein Text] uns infolge eines Missgeschicks oder des expliziten Willens des Autors anonym erreicht, so besteht das Spiel alsbald darin, den Autor zu suchen. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel.« Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin 2000, S. 227. Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 222. Vgl. Stephan Pabst: Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss, in: ders. (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. Berlin,
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Abb. 3: Heimat 1 (9. 5. 1918), Nr. 10, S. 8: erstmalige Nennung Musils als verantwortlicher Schriftleiter.
Status der fokussierten Texte in Hinblick auf editionsphilologische Fragen nachzudenken. Stephan Pabst hat kürzlich auf eine Praxis hingewiesen, »in der ganz bewusst Anonymität eingesetzt wird, um die Autorität des Kollektivsubjekts Zeitung im Kampf um die Meinungshoheit zu sichern.«58 D. h. im konkreten Fall: Wenn in der ersten Ausgabe der Heimat richtungsweisend formuliert wird, »[j]ede Polemik, alle Parteistreitigkeiten müss[t]en fern bleiben«,59 so ist schon die spätere Nennung Musils als verantwortlicher Redakteur ab Mai 1918 problematisch (s. Abb. 3); hätten doch Leser mit gutem Langzeitgedächtnis diesen Namen leicht mit dem Verfasser von Essays und Novellen in Verbindung bringen können (z. B. Vereinigungen oder Das Unanständige und Kranke in der Kunst, beide 1911), die mit der programmatisch postulierten »Heimatliebe« und dem geforderten »warme[n], gemütvolle[n] Ton« der Zeitung kaum in Einklang zu bringen gewesen wären.60 Gleichzeitig bemühte sich das Kriegspressequartier offenbar nach Kräften, die eigene Beteiligung an der Heimat zu verschleiern. So heißt es im schon zitierten Brief Martha Musils an ihre Tochter, man sehe es der Zeitung, die sie im Übrigen für graphisch nicht eben gelungen hielt,61 »nicht an, daß sie vom K. P. Q. herausgegeben wird, es soll auch nicht bekannt werden«;62 und auch das Beilageblatt zur ersten Ausgabe der Heimat formuliert – neben der Ankündigung individueller Anonymität: »Autoren zeichnen nicht oder nur mit Chiffre.« – bereits als Richtlinie: »Der Schein des Offiziellen, irgend eine Pression auf den Soldaten müssen ausgeschaltet werden.«63 Eine Praxis mithin, die wohl auch für andere publizistische Unternehmungen des Kriegspressequartiers kennzeichnend war.64 Ein wesentlicher Grund
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Boston 2011 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 126), S. 1–34, hier S. 26 f. Pabst: Anonymität und Autorschaft (s. Anm. 57), S. 29. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 7. 4. 1918. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 29. 3. 1918. Heimat (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. Vgl. Mayer: Die Organisation des Kriegspressequartiers (s. Anm. 22), S. 54 f.: »Manchmal war es notwendig, tendenziöse Nachrichten oder Gerüchte der Presse zukommen zu lassen, etwa informative Bemerkungen zu Verlautbarungen des AOK . Dies geschah mittels ›Laufzettel‹. Alle diese Nachrichten durften ihre Herkunft aus dem KPQ unter keinen Umständen verraten [. . .].« Vgl. zu Formen einer institutionellen Anonymität auch ebd., S. 69 u. 103.
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dafür dürfte im während des Kriegs immer mehr geschwundenen Vertrauen in die vom Kriegspressequartier und seinen Publikationsorganen ausgehenden Informationen gelegen haben,65 wovon nicht wenige zeitgenössische Quellen berichten. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang der im Kriegspressequartier als Kriegsberichterstatter engagierte Richard A. Bermann genannt: Die im Kriegspressequartier lebenden und unter strenger Aufsicht der Militärzensur schreibenden Journalisten genossen beim Publikum keinen besonderen Ruf. Sie waren zwar für die offiziellen Lügen, die sie zu verzapfen hatten, keineswegs immer verantwortlich, aber verantwortlich wurden sie von ihren Lesern gemacht.66
Der Glaube an die Redlichkeit der offiziellen Berichterstattung hatte seit Kriegsbeginn jedenfalls massiv gelitten; eine Verschleierung der institutionellen Anbindung tat not. Das Ziel im Kontext der Heimat scheint es demnach gewesen zu sein, eine Art doppelter Anonymität zu schaffen – also sowohl auf der Ebene der persönlich beteiligten Autoren als auch auf jener der Institution. So wurde anfangs nur Josef Neumair, der spätere Präsident des Österreichischen Bundesverlages, gewissermaßen als »Strohmann«67 im Impressum genannt. Erst die zehnte Nummer der Heimat vom 9. Mai 1918 führt »Dr. Robert von Musil« als »[v]erantwortliche[n] Schriftleiter« an, Nummer 13 vom 30. Mai schließlich auch als »Herausgeber« (s. Abb. 4). Die Anonymität diente also nicht dem Schutz der Autoren vor staatlichem Zugriff, wie das bei verschiedenen Zeitschriftenprojekten gerade auch des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen war,68 sondern sollte die propagandistische Durchschlagskraft durch die Verschleierung individueller Standpunkte und institutioneller Rückbindungen erhöhen: ›doppelte Anonymität‹ als Voraussetzung für die Wahrnehmung als objektives Informationsmedium (gerade im Vielvölkerstaat und vor dem Hintergrund einer in mehreren Sprachen erscheinenden Zeitung eine nicht zu unterschätzende Aufgabe). Ebenso handelte es sich bei der kollektiven Anonymität der Soldatenzeitungen nicht um 65
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Vgl. Jeffrey Verhey: Krieg und geistige Mobilmachung: Die Kriegspropanda, in: Wolfgang Kruse (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918. Frankfurt a. M. 1997, S. 176– 183. Richard A. Bermann (alias Arnold Höllriegel): Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne einen Helden. Mit einem Beitrag v. Brita Eckert, hg. v. Hans-Harald Müller. Wien 1998, S. 168. Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 218. Josef Neumair dürfte jedoch zu dieser Zeit in anderer Funktion für das Kriegspressequartier tätig gewesen sein; jedenfalls nennt Paupié: Handbuch der österreichischen Pressegeschichte (s. Anm. 22), S. 159, mit Bezug auf Quellen aus dem Kriegsarchiv »Hauptmann Dr. Neumair« als leitenden Redakteur der Frontzeitung, die im Rahmen der im Februar 1918 gegründeten Frontpropagandagruppe herausgegeben wurde: »Inhalt: Kriegsberichte, unterhaltende Aussagen.« (S. 169) Vgl. Pabst: Anonymität und Autorschaft (s. Anm. 57), S. 23. Vgl. dazu auch die Ausführungen zur Anonymität in Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort v. Harald Weinrich. Aus dem Französischen v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001, S. 47.
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Abb. 4: Heimat 1 (30. 5. 1918), Nr. 13, S. 8: erstmalige Nennung Musils als Herausgeber und verantwortlicher Schriftleiter.
die Konsequenz einer dezidiert künstlerischen Argumentation, die wie Franz Bleis Loser Vogel einen poetologisch motivierten »planvolle[n] Bruch« mit literaturästhetischen Traditionen darstellte69 und etwa von Ludwig Rubiner 1912 in der Aktion – »Biographie gilt nicht mehr. Name ist gleichgültig« – emphatisch gefeiert wurde.70 Friedrich Kittlers suggestives Bild der »depersonalisierten Schreibhände, die seit 1900 übers Papier fliegen«,71 wird hier – abseits avantgardistischer Zeitschriftenprojekte der Vorkriegszeit – von Formen politisch-propagandistischen Kalküls überlagert. Neben der Gefahr der Unterminierung eines staatlich gelenkten Projekts durch die Preisgabe der jeweiligen Verfasser ist die Praxis des Nicht-Zeichnens jedoch auch auf der individuellen Ebene des Autors zu verhandeln. Im frühen Tagebuchheft 5 hatte Musil schon Ende 1910 im Zusammenhang eines ihm »ekelhaft« erscheinenden »Feuilletonismus« notiert: »Wenn irgend ein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der und jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen.«72 Haben wir es hier also mit dem antizipierten Unbehagen zu tun, im Nachhinein mit Publikationsprojekten in Verbindung gebracht zu werden, die die eigene Position im literarischen Feld – zur Zeit dieser Notiz arbeitet Musil an den avancierten, seine Stellung als avantgardistischer Autor festigenden Vereinigungen – korrumpieren bzw. als unschöne Ausrutscher im Gesamtwerk übrig bleiben könnten? Auch die Überlegung des Ehepaars Musil vor dem Start der Heimat zielten, folgt man den brieflichen Zeugnissen, auf die Gefahr des namentlichen Zeichnens ab: »Sie wollen eine neue patriotische Wochenschrift machen und sind froh, daß sie Robert dazu gefunden haben«, schreibt Martha Musil am Tag des Erscheinens der ersten Nummer an Annina Marcovaldi und fügt die Zweifel ihres Mannes an: »Robert muß aber seinen Namen hergeben und weiß noch nicht, ob er das tun soll.«73 Marcus Krause hat am Beispiel Musils auf den Umstand hingewiesen, dass die Neuedition von Texten eines Schriftstellers, »die zuvor nicht oder nur schwer erreichbar waren«, den »Autorstatus« in nicht unerheblichem 69 70 71 72 73
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800 · 1900. München 4 2003, S. 413. Ludwig Rubiner: Die Anonymen, in: Die Aktion 2 (1912), Nr. 10, Sp. 299–302, Zit. Sp. 302. Kittler: Aufschreibesysteme (s. Anm. 69), S. 414. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Tagebuchhefte 1899–1926/II . Berlin/Wien/Berlin (1907–1914)/5: Pappheft (1910–1913)/Tagebuch und Literarische Projekte. KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Martha und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 7. 3. 1918.
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Maße zu »verändern« imstande ist.74 Obschon Krause, der darauf insistiert, »wie eng die Konstitution von Autorschaft mit der Konstitution einer Textoder Werkeinheit zusammenhängt«,75 dabei nicht im Speziellen auf Musils Kriegspublizistik eingeht, ist die von ihm fokussierte Thematik für meine Überlegungen von zentraler Bedeutung; berührt sie doch einen grundlegenden Aspekt der Verfasstheit von ›Autorschaft‹, den schon Michel Foucault in seinem längst kanonischen Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur? (1969) ins Spiel gebracht hat: das »zugleich theoretische[ ] und praktische[ ] Problem«, ob »alles, was er [i. e. ein Autor] geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks« ist.76 Zuletzt haben Arbeiten wie jene von Christoph Hoffmann zu Benns medizinischen Schriften darauf aufmerksam gemacht, dass die Zusammenfassung heterogener Textkorpora unter einem Eigennamen ein implikationsreiches Problemfeld eröffnet.77 Ausgehend von Foucaults Beobachtung, wonach die Praxis, eine Auswahl von Texten unter dem gleichen Namen zu rubrizieren, dazu führe, dass »zwischen ihnen eine Beziehung der Homogenität, der Abhängigkeit, der wechselseitigen Beglaubigung, der gegenseitigen Erklärung oder der gleichzeitigen Verwendung« hergestellt werde,78 gehen diese u. a. der komplexen Frage nach, auf welche Weise die Philologie ex post Relationen zwischen Texten etabliert, die diese zum Werk eines bestimmten historisch verbürgten Autors zusammenfassen. Ist also nicht auch für Musil eine Viel- oder Mehrzahl von ›Autorschaften‹ zu konstatieren, die die Integration von anonymen, in einer bestimmten (unfreien) Funktion verfassten Texten in einen größeren Werkkontext – und damit auch in eine Gesamtausgabe – zu einem editionsphilologisch wie literaturtheoretisch prekären Vorgehen macht? Oder wie es bei Gérard Genette heißt: zu einem »Gewaltstreich[ ]«, »bei dem die Nachwelt eine Zuschreibung vor74 75 76
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Marcus Krause: Beitrag zur Beurteilung der Autorschaften Musils, in: Sprache und Literatur 43 (2012), H. 110, S. 66–80, hier S. 72. Krause: Beitrag zur Beurteilung der Autorschaften Musils (s. Anm. 74), S. 73. Foucault: Was ist ein Autor? (s. Anm. 2), S. 240. – In ähnlicher Weise wäre etwa zu fragen, ob jene Arbeiten, die Bildhauer für die entsprechende Abteilung des Kriegspressequartiers anfertigten – etwa »Büsten und Porträtreliefs von Armeeführern«, »Reliefplaketten« oder Entwürfe für »Orden und Auszeichnungen« –, als Teil von deren künstlerischem Werk angesehen werden können oder sollen. Vgl. dazu Andreas H. Zajic: Die Kriegsbildhauer im Dienst des k. u. k. Kriegspressequartiers im Ersten Weltkrieg, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 59 (2005), H. 3/4, S. 275–285, Zit. S. 281. Vgl. Christoph Hoffmann: Literaturforschung. Über medizinische Schriften Gottfried Benns, in: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hg.): »fülle der combination«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. München 2005 (= Trajekte), S. 319–341, sowie ders., Lidia Westermann: »Literatur-Auszüge«. Gottfried Benn als Referent der »Berliner Klinischen Wochenschriften«, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XX (2010), H. 3, S. 636–648. Vgl. zu diesem Problemkomplex allgemeiner auch Arne Höcker: Wissenschaftliche Autorschaft. Autorität, Verantwortung und kreatives Schreiben, in: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010, S. 431–441. Foucault: Was ist ein Autor? (s. Anm. 2), S. 244.
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nimmt, ohne sich allzu sehr um den Willen des verstorbenen Autors zu kümmern«?79 Es soll hier gleichwohl nicht der Versuch unternommen werden, im Sinne einer Apologie des Autors gegen seine nachgeborenen Denunzianten eine Relativierung oder Verschleierung von Musils propagandistischen Arbeiten zu betreiben. Vielmehr verstehen sich Überlegungen wie diese als Beitrag zu einer grundlegenden philologischen Fragestellung. Diese setzt bei dem tendenziellen Unbehagen an, das die Forschung mitunter zu ergreifen scheint, wenn die Erwartungshaltung an ein konsistentes Autorbild, das es bloß zu (re)konstruieren gilt, nicht erfüllt wird – und die in der Folge dazu verleitet, Musils journalistisches Schreiben im Krieg zwangsläufig als mehr oder weniger verzeihliches ›Intermezzo‹80 zu verharmlosen.81 Ohne dabei die grundsätzliche Legitimität von im engeren Sinne biographischen Annäherungen an Autor und Werk in Frage zu stellen – zumal dieser Aufsatz ja selbst von der im engeren Sinne biographischen Dimension eines Autorschaftsverständnisses seinen Ausgang genommen hat –, scheint mir der von Krause formulierte Versuch einer differenzierten Neuinterpretation von Musils ›Autorschaften‹ im Kontext der Wissenspoetologie ein äußerst fruchtbarer Ansatz zu sein, um das intrikate Verhältnis von Dienst und Autorschaft im Ersten Weltkrieg zu beschreiben.
4. Wenn Martha Musil im Briefwechsel mit ihrer Tochter als Vorteile einer Beschäftigung im Kriegspressequartier anführt, dass sie die Gelegenheit bieten könnte, »mit allen möglichen Leuten in Fühlung treten« zu können, so liegt es durchaus nahe, Musils Bereitschaft zur Mitarbeit an der Heimat auch als strategisches Kalkül angesichts der ihren Zenit längst überschritten habenden k. u. k. Monarchie zu verstehen. In der Terminologie der Bourdieu’schen Kultursoziologie etwa ließen sich die Überlegungen, die Musil offenbar gemeinsam mit seiner Frau anstellte, als Abwägen divergierender Kapitalsorten interpretieren: Indem die Forderung nach journalistischer Unterstützung der 79
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Genette: Paratexte (s. Anm. 68), S. 49. Meine Überlegungen zielen freilich nicht darauf ab, den ›Willen‹ des Autors als adäquaten und tatsächlich eruierbaren Forschungsgegenstand wieder etablieren zu wollen. Vgl. dazu auch die Überlegungen in Hoffmann, Westermann: »LiteraturAuszüge« (s. Anm. 77), S. 645. Vgl. Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12), S. 38. Andreas Schumann: »Der Künstler an die Krieger«. Zur Kriegsliteratur kanonisierter Autoren, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 34), S. 221–233, hier S. 222, etwa spricht davon, dass die »Rezeption die kriegsbegeisterten Äußerungen kanonisierter Autoren gerne zugunsten späterer pazifistischer Positionen verdrängt« habe bzw. immer noch verdrängt.
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Kriegspropaganda als Extremfall der dominierten »Position des literarischen [. . .] Feldes innerhalb des Feldes der Macht«82 verstanden werden kann, wäre zu untersuchen, wie hier implizit die strategischen, bereits in die Nachkriegszeit hinüberdeutenden Vorteile der Akkumulation ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapitals durchgespielt werden. Dabei ist insbesondere der spätzeitliche Charakter seiner Redaktionstätigkeit zu berücksichtigen, und zwar insofern, als es sich – davon zeugen auch die in der Heimat beantworteten Feldpostbriefe an die Redaktion83 – 1918 zusehends abzeichnete, dass der Krieg seinem Ende zusteuerte. Nicht von ungefähr beginnt schon der Leitartikel der ersten Nummer der Zeitung mit dem Satz: »Es geht nun doch dem Frieden zu: mit langsamen Schritten immerhin, aber mit sicheren.«84 Als »Soldatenfreund[ ]« konzipiert,85 versuchte die Heimat nicht mehr einem aggressiven Bellizismus das Wort zu reden, sondern den Frieden als möglichst umgehend zu erreichendes Ziel zu propagieren. Von Anfang an verweisen die politischen Leitartikel der Heimat auf den sich ankündigenden Frieden, dem lediglich die kriegstreiberische Unbeugsamkeit und Uneinsichtigkeit der Entente entgegenstehe: Alle Völker Europas sehnten sich, so der einschlägige Artikel Wo sind die wahren Kriegsverlängerer?, »von Tag zu Tag brennender nach der Stunde, die der Not und dem Blutvergießen ein Ende bereiten soll«, während die politischen Führer der Alliierten diese Forderung ignorierten: »Statt Lehren zu ziehen, predigen Clemenceau und Genossen Lehren. Lehren des Hasses und der Verleumdung, sie reden Blut, sie rufen Rache!«86 Eine für die Propaganda des Ersten Weltkriegs charakteristische Abfolge von Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen, die bei der Bewertung des Kriegsausbruchs ihren entscheidenden Ausgang genommen hatte (s. Abb. 5).87 In dieser Zeit des bereits antizipierten Übergangs waren die zukünftigen Spielregeln des Schreibens und Publizierens weitgehend in der Schwebe, ja 82 83
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87
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2001, S. 340. Siehe z. B. die Rubrik »Briefkasten« in: Heimat 1 (9. 5. 1918), Nr. 10, S. 8: »Sie brauchen um Ihre Zukunft nach dem Kriege keine Sorge zu haben. Es wird in jeder Branche ein solcher Bedarf an tüchtigen Leuten sein, daß sie sofort eine Stelle finden werden. [. . .] Wenn Sie uns Ihren Beruf vor dem Krieg mitteilen, so werden wir Ihnen Genaueres sagen können.« N. N.: Soldaten, es ist Eure Zeitung, in: Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, S. 1. Bis 1917 trat das Kriegsüberwachungsamt noch entschieden dagegen auf, der weit verbreiteten Sehnsucht nach Frieden in offiziellen Zeitungen Ausdruck zu verleihen; eine Haltung, die bald nicht mehr mit voller Strenge aufrechterhalten werden konnte. Vgl. dazu Sauermann: Literarische Kriegsfürsorge (s. Anm. 11), S. 28. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. N. N.: Wo sind die wahren Kriegsverlängerer?, in: Heimat 1 (14. 3. 1918), Nr. 2, S. 1–2, hier S. 1. Vgl. dazu auch Abb. 5 bzw. als weitere Beispiele die folgenden Leitartikel der Heimat: N. N.: Verständigungsfriede – Gewaltfriede, in: Heimat 1 (21. 3. 1918), Nr. 3, S. 1–2, N. N.: Oesterreichisch-ungarisches Merkblatt, in: Heimat 1 (11. 4. 1918), Nr. 6, S. 1–2, sowie N. N.: Wie sich Italien den Frieden denkt, in: Heimat 1 (2. 5. 1918), Nr. 9, S. 1–2, wo von den »italienischen Kriegshetzern« die Rede ist (S. 1). Vgl. dazu ausführlicher Jeismann: Propaganda (s. Anm. 44), S. 200.
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Abb. 5: Heimat 1 (28. 3. 1918), Nr. 4, S. 8.
es war nicht zuletzt fraglich, welche Investitions- und Akkumulationsstrategien die Reetablierung als freier Schriftsteller nach dem Krieg am besten möglich machen würden. Für Musil eine zweifellos schwierige Situation, die etwa darin zum Ausdruck kommt, dass er parallel zu seiner Tätigkeit als dienstpflichtiger Journalist bereits an poetologisch wegweisenden Essays wie der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) arbeitete und sich für politische Bewegungen wie Robert Müllers Katakombe zu interessierten begann, die denkbar weit vom weltanschaulichen Profil des Kriegspressequartiers entfernt lagen. Anstatt Musils letztes Kriegsjahr nun als Ausdruck einer »bemerkenswerte[n] Schizophrenie«88 zu pathologisieren oder als »Experimente mit der Theorie des ›Doppel-Ichs‹«89 ästhetisch zu verklären, scheint 88
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Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 581. Was Karl Corino ins Pathologische überführt, könnte im Sinne von Autorrollen oder ›Autorschaften‹ eben auch als funktionale – und dabei durchaus pragmatische – Trennung differierender Schreib- und Denkweisen verstanden werden. Schaunig: Viribus unitis (s. Anm. 46), S. 222. Schaunig bezieht sich dabei auf das DramenFragment Das Doppel-Ich oder Der Verlust der Persönlichkeit oder Das Erlebnis eines Zigarrenhändlers, das laut Klagenfurter Ausgabe im letzten Kriegsjahr bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden ist. Wie sehr in diesem jedoch tatsächlich Aspekte seiner Redakteurstätigkeit für die Heimat verhandelt werden, ist jedenfalls fraglich. Zwar wird darin eine »Hotelzeitschrift« geplant, für die schließlich als Redakteur »ein bedeutender Schriftsteller«
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es mir fruchtbarer, die von Karl Corino festgestellte »Aufspaltung in den willfährigen Durchhalte-Journalisten und in den Schriftsteller, der an die Vorstellungen der Friedensjahre anknüpfte«,90 konkreter im Modell einer »doppelte[n] Autorschaft« zu fassen, wie Christoph Hoffmann es in ähnlicher Weise für Benns medizinische Publizistik vorgeschlagen hat.91 Darin wäre dann auch die Frage zu integrieren, wie differierende Formen eines Schreibgestus oder entsprechende ›Funktionalstile‹92 mit jeweiligen habituellen Codierungen korrelieren. Gewendet auf den konkreten Fall hieße das: Wenn Musil in seinen nachträglichen Tagebuchaufzeichnungen moniert, er sei im Kriegsdienst zum ersten Mal in seinem Leben auf eine so große Zahl an Nicht-Lesern getroffen,93 und die Frage eines adäquaten Verhaltens als Soldat einen wesentlichen Aspekt der brieflichen Rüge seines Vaters Anfang 1915 ausmacht,94 so lässt sich Robert Musils Kriegsbiographie hier und in der Folge gerade auch als Austarieren zwischen zwei grundverschiedenen Ansprüchen verstehen: das künstlerische Selbstbewusstsein mit Hang zur (geist-)aristokratischen Hybris auf der einen Seite, der nun in der hierarchischen Struktur des Militärs klar verortete Dienstgrad, der ihn trotz seiner Ernennung zum Oberleutnant, später zum Hauptmann, eben doch als Befehlsempfängers definierte, auf der anderen. Während Musils Nachkriegsschriften, etwa der umfangreiche Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921), konzise und explizit autoreflexive Analysen der Begeisterung zu Beginn des Kriegs und der Verschiebung der Formen des Erlebens und Erfahrens im Zeichen des gewalttätigen Völkerexzesses liefern, sind die im Rahmen seiner Redakteurstätigkeit entstandenen Beiträge mehrheitlich als Gebrauchstexte für das tägliche publizistische Handwerk zu verstehen, die einen vergleichsweise geringen Grad der Auto-
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eingestellt wird, der bereits »einen Namen« und »schon was geleistet« hat (KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/47 u. 51), mit Ausnahme dieser strukturellen Parallele lässt sich aber kaum eine thematische Nähe aufweisen, die es naheläge, das Fragment als Reflexion über Musils berufliche Stellung im Kriegspressequartier zu verstehen. Corino: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 581. Hoffmann: Literaturforschung (s. Anm. 77), S. 320. Vgl. Arntzen: Musil-Kommentar (s. Anm. 46), S. 178. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 33/83. Vgl. dazu den Brief von Musils Vater aus dem März 1915, der seinen Sohn davor warnt, bei anderen Mitgliedern der Armee »den Eindruck der Arroganz hervor[zu]rufen«: »Ich habe bei Deinen wechselvollen Beziehungen zu den verschiedensten Menschen, mit denen Du dienstlich in Berührung kamst, die Erfahrung gemacht, daß Du stets in einen unliebsamen Gegensatz zu denselben gekommen bist und man Dich daher nie so einschätzen lernte, als Du es vermöge Deiner geistigen und sonstigen Eigenschaften verdient hättest; Du verlangst von den Menschen viel zuviel und bietest ihnen zu wenig. [. . .] Nimm es Deinem alten Vater nicht übel, wenn er sieht, wie wenig Du es verstehst, Dir, trotz Deiner geistigen und sonstigen guten Eigenschaften, Freunde zu machen, und Dir daher nicht jene Beurteilung zuteil wird, die Du verdienst, und sei mir nicht böse, wenn ich Dich aufmerksam mache, daß es noch immer Zeit ist, diesen Fehler abzulegen.« (KA/Lesetexte/Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/Alfred Musil an Robert Musil, 3. 3. 1915)
Dienst und Autorschaft im Krieg
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risierung aufweisen. Die in der Soldaten-Zeitung und der Heimat anonym veröffentlichten Texte tragen die unübersehbaren Zeichen ihrer Produktionsund nicht zuletzt auch Rezeptionsbedingungen und können, selbst wenn die Zuschreibung an einen Verfasser »Robert Musil« zweifelsfrei möglich sein sollte, kaum als Ausdruck seines persönlichen Gestaltungswillens interpretiert werden;95 handelte es sich bei der Heimat doch im Wesentlichen um eine »Durchhaltegazette«,96 deren redaktionelle Vorgaben, wie es in der ersten Nummer programmatisch heißt, auf einen »[e]infache[n], möglichst volkstümliche[n], lebendige[n], leicht lesbare[n] Stil« abzielten und einen »[w]ürdige[n], ernste[n] und warme[n], gemütvolle[n] Ton« anvisierten.97 Doch wie ist nun methodisch mit dem Phänomen umzugehen, dass durch das ›Naheverhältnis‹ der Heimat-Beiträge zum literarischen Autor Robert Musil jenen eine seltsame Dignität verliehen wird, die ihnen aufgrund ihrer Vertextungsprinzipien kaum zukommen würde, der Eigenname die Dutzendware also auf eigentümliche Weise aufzuwerten scheint? Denn zweifellos verändert ein Akt der Zuschreibung sowohl den Status des einzelnen Textes als auch jenen des Autors.98 Wie im Falle Benns oder Döblins hat man es »mit einem Schreiber zu tun, der gleichzeitig in einem anderen Kontext als literarischer Autor auftritt«, und bei dem es wohl ebenso »einem Etikettenschwindel« gleichkäme, den Redakteur und Beiträger einer Soldatenzeitung »mit dem namensgleichen Autor in eins zu setzen«.99 Geht man nun etwa im Falle von Benns medizinischen Schriften davon aus, dass sich literarische und medizinische Textsorten insbesondere durch den Grad der jeweiligen »Zweckbestimmung des Schreibens« unterscheiden,100 so lässt sich für Musils Tätigkeit im Kriegspressequartier vermutlich Ähnliches behaupten: Analog zu Hoffmanns Trennung zwischen der »Wissensformation ›Literatur‹« und der »Wissensformation ›Medizin‹«101 wäre dann gewissermaßen eine diskur95 96 97
Vgl. dazu allgemein Pabst: Anonymität und Autorschaft (s. Anm. 57), S. 23. Corino: Profil einer Soldatenzeitung (s. Anm. 29), S. 76. Heimat 1 (7. 3. 1918), Nr. 1, [unpag.]. In dieser Konstellation scheint nicht zuletzt Roland Barthes’ längst kanonische Unterscheidung zwischen dem Schriftsteller, für den ›schreiben‹ stets als intransitives Verb fungiert, und dem Schreiber, dessen Schreiben nur »nur im Schatten der Institutionen hervorgebracht und konsumiert« werden kann, durch: Während der Schriftsteller etwas »vom Priester« habe, ähnele der Produktionsgestus des Schreibers, so Barthes’ pointierte Kategorisierung, dem »Beamten« (Roland Barthes: Schriftsteller und Schreiber [frz. 1960], in: ders.: Literatur oder Geschichte. Frankfurt a. M. 1969, S. 44–53, hier S. 50). 98 Vgl. dazu Krause: Beitrag zur Beurteilung der Autorschaften Musils (s. Anm. 74), S. 74 f., der diese Frage anhand von Musils frühen Notizheften durchspielt: »Es handelt sich bei ihm [i. e. einem Hefteintrag] nun nicht mehr um die Notizen eines neunzehnjährigen Studenten [. . .], sondern um einen Text, den man von seinen autobiographischen Bezügen entkleiden kann, um ihn als Literatur und den monsieur le vivisecteur als frühe Figuration jenes Autortypus zu lesen, der wissenschaftliche Methodik mit literarischer Ästhetik, Beobachtungsobjektivität mit Erfahrungssubjektivität zu verbinden trachtet.« 99 Hoffmann, Westermann: »Literatur-Auszüge« (s. Anm. 77), S. 644 f. 100 Hoffmann: Literaturforschung (s. Anm. 77), S. 340. 101 Hoffmann: Literaturforschung (s. Anm. 77), S. 341.
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sive Formation ›Propaganda‹ anzunehmen, der schließlich die ›im Dienst‹ verfassten oder als Redakteur verantworteten Artikel zuzurechnen wären. Die Opposition von ›Dienst‹ und (literarischer) ›Autorschaft‹ meint in dieser Perspektive tatsächlich nicht mehr »zwei sich ungebührlich miteinander verquickende Schreibweisen«102 – wovon das eingangs skizzierte Unbehagen größtenteils seinen Ausgang nehmen mag –, sondern im Grunde unterschiedliche Anlässe, ›zur Feder zu greifen‹.
102 Hoffmann, Westermann: »Literatur-Auszüge« (s. Anm. 77), S. 645.
Ulrich Boss
Ein Autor von ›hypertropher Virilität‹ Geschlecht in der Musil-Rezeption der 1920er und 1930er Jahre Abstract: Adopting The Man without Qualities as a decisively masculine novel, contemporary critics reiterated a trope with which reviewers such as Alfred Döblin, Robert Müller and Franz Blei had already characterised Musil’s earlier texts. The reviews of the novel are therefore typical of how evaluations in terms of originality in the literary and poetological debates of the 1920s and 30s were regularly translated into the established gender hierarchy. The need to make such judgements can thus just as much be seen as the symptom of a modern consciousness of a crisis in masculinity as can the hyper-athletics of the novel’s hero himself and the pitiful figure cut by the other men in The Man without Qualities.
1. Ein Passus in Alfred Kerrs enthusiastischer Besprechung des Törleß beeindruckte Robert Musil so nachhaltig, dass er ihn sich in seinem Arbeitsheft gleich zweimal notierte. Er exzerpierte ihn im Zusammenhang mit seiner Arbeit an den Vereinigungen zunächst ausführlich am 5. September 1910 und vergegenwärtigte ihn sich noch einmal am 17. Januar 1911.1 Kerr, der den »selbständige[n]«, »tapferen Geist« Musil mit seiner Rezension unversehens zu einem namhaften Autor machte, nannte den Törleß eine mit »Mut« und »Kraft« verfasste Erzählung »ohne Weichlichkeit. Es steckt darin keine, sozusagen, Lyrik«.2 ›Selbständigkeit‹, ›Tapferkeit‹, »Mut«, »Kraft« und »ohne Weichlichkeit«: Das waren in den Einteilungen der traditionellen Geschlechteranthropologie samt und sonders dezidiert männliche Eigenschaften. Die Symbiose zudem, die »Weichlichkeit« und »Lyrik« hier eingehen, kann als Ausdruck und Folge des zunehmenden, insbesondere ökonomischen Bedeutungsverlusts der Gattung gelesen werden, der mit ihrer Feminisierung einherging. Thomas Mann, 1
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Vgl. Tb I, S. 226 u. 233. Teile meines Beitrags sind inzwischen auch eingegangen in: Ulrich Boss: Männlichkeit als Eigenschaft. Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin, Boston 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 134). Alfred Kerr: Robert Musil, in: Berliner Tageblatt, 21. 12. 1906, wie alle anderen Rezensionen enthalten in: KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen.
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Ulrich Boss
um nur ein Beispiel zu nennen, hat diese Kontiguität von Genre und Genus 1919 in seinem Gesang vom Kindchen ausgedeutscht. Darin stellt er sich nicht nur als wackeren pater familias dar, sondern auch als »Mann[ ] der gradausgehenden Rede«.3 Seine gradlinig-männliche Prosa hält er nachdrücklich von den lyrischen Versuchen fern, die er als Knabe, in einem vormännlichen Lebensabschnitt also, unternahm. Verhindern, dass gerade Kerr seine sexuelle und schriftstellerische Männlichkeit wiederholt in Zweifel zog, konnte diese Selbststilisierung im Übrigen nicht. Noch sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Gesangs setzte Kerr in seinem Spottgedicht Thomas Bodenbruch den Roman, mit dem Mann seinerseits den literarischen Durchbruch geschafft hatte, zum flügellahmen Machwerk eines »skrophulös[en]« »lederne[n] Kommis’chen[s]« herab.4 Den also schon in der allerersten, prominentesten Törleß-Rezension mindestens angelegten Assoziationsstrang – die Sexuierung Musils als eines besonders männlichen Autors5 sowie der Lyrik als unterschwellig weiblich – nimmt spätestens Alfred Döblin wieder auf, als er Musil 1923 den KleistPreis zuspricht. Er betont, Musil habe »vielen poetisierenden Zeitgenossen« »einen freien und sicheren männlichen Geist voraus«.6 Diese Formulierung gibt Käthe Schulze in ihrer Besprechung der Drei Frauen verbatim wieder7 und hallt auch in den Musil-Portraits nach, die Robert Müller für die Prager Presse und die Wiener Allgemeine Zeitung verfasste. Müller hebt nicht nur den »männlichen Geist«, sondern merkwürdigerweise selbst den »athletisch geschulten Körper« Musils hervor.8 Verstehen lässt sich diese eigentümliche Hervorhebung wohl nur in ihrem mentalitätsund literaturgeschichtlichen Kontext. Der Typus des Sportlers wurde in den 1920er Jahren von verschiedenen Autorinnen und Autoren zu einem neuen Leitbild der Männlichkeit erhoben.9 Er verkörperte in der zeitgenössischen 3
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Thomas Mann: Gesang vom Kindchen. Idylle, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 8: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen. Frankfurt a. M. 21974, S. 1068–1101, hier S. 1068 f. Vgl. Yahya Elsaghe: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen. Köln u. a. 2004 (= Literatur, Kultur, Geschlecht. Große Reihe, Bd. 27), S. 278 f. Alfred Kerr: Caprichos. Strophen des Nebenstroms. Berlin 1926, S. 168. Musil betonte 1927 in seiner Würdigungsschrift Zu Kerrs 60. Geburtstag seinerseits, Kerr habe den »Übergang vom kastrierten Essay, dem feierlichen Kunstaufsatz, der unter den ungünstigen Umständen der Zeitung in der Entwicklung zurückgeblieben ist, zu einer ausdrucksfähigeren und wegweiserhaft in die Augen springenden Ausdrucksweise angebahnt und vollzogen.« (GW II, S. 1180; Hervorhebung U. B.) Alfred Döblin: [Die Kleist-Preise für 1923] (19. 10. 1923), in: ders.: Kleine Schriften 2. 1922– 1924. Hg. v. Anthony W. Riley. Olten, Freiburg i. Br. 1990 (= Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 316. Vgl. Käthe Schulze: Zeitgenössische Literatur. Robert Musil: Drei Frauen, in: Neueste Nachrichten, 2. 8. 1925. Robert Müller: Der erotischste Schriftsteller, in: Prager Presse, [ohne Datum] 1924. Vgl. u. a. Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York 2008 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 51);
Ein Autor von ›hypertropher Virilität‹
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Geschlechtersemantik männliche Ingredienzen wie Vitalität, Willensstärke und Kraft zur Erneuerung: lauter Merkmale, die auf ›geistig‹-ästhetischem Gebiet den Gegenpol zur Literatur der Décadence bilden sollten. In genau der Art scheinen sich Musils »Geist« und Athletik für Müller wechselseitig zu bedingen. Für ihn, dessen eigenes Auftreten »einen Hang zu Sport und Körperkult« gehabt haben soll,10 fungiert Musils ›athletisch geschulte‹ Physis offenbar als Indiz auch für intellektuelle Energie. Sie wird ihm zum Anhaltspunkt dichterischer Gestaltungs- und Umgestaltungskraft, die im literarischen Feld spätestens seit den Stürmern und Drängern männlich besetzt war.11 Müller charakterisiert Musil als Stilisten »im Sinn nicht des Berichtens, Schilderns, Abbildens, sondern des Schaffens« und hebt ihn ab von den »schlechte[n] und dumme[n], aber sinnliche[n] Autoren« insbesondere des Impressionismus.12 Er kontrastiert Musils Texte mit den »Schreibereien« der »Ausgehungerten und Zukurzgekommenen«, deren erotische »Hirngespinste« »auf Hungerdelirien und mangelnde Kenntnisse schließen« ließen.13 Musil hingegen bringe nicht epigonal anverwandelte Phantasmen zu Papier, sondern zerlege die »Wirklichkeit« »in Kausalnexe von bisher unergründetem Tiefsinn«.14 Damit repräsentiere er, kurzum und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, einen »höchste[n] Männertypus« und sei ein Autor von schlechterdings »hypertrophe[r] Virilität«.15 Gerade die so glühend betonte »Virilität« macht Müller indessen dafür verantwortlich, dass Musils Novellen und Dramen auf so wenig oder nicht genügend Resonanz stießen. Während für ihn Musils schriftstellerische Originalität und Substanz ganz im Zeichen der Männlichkeit stehen, führt er dessen mangelnden Erfolg auf eine Effeminierung des Lesepublikums und der Gesellschaft im Allgemeinen zurück. Er profiliert Musil vor dem Hintergrund einer Krise der Männlichkeit und partizipiert damit an einem Diskurs, der in der Weimarer und ersten österreichischen Republik weit verbreitet war. Musils so »ganz männliche Bücher«, beklagt er, enthielten unglücklicherweise – und hier taucht auch Kerrs Denunziation des ›Weichlichen‹ wieder auf – »keinen Appell an die verweichlichten Durchschnittsgeister der Zeit«.16 Sie böten
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Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne, in: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam, Atlanta 2000 (= Avantgarde, Bd. 14), S. 141–162, hier S. 150; Uwe Baur: Sport und subjektive Bewegungserfahrung bei Musil, in: ders., Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 99–112, hier S. 101. Deniz Göktürk: Künstler, Cowboys, Ingenieure . . . Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912–1920. München 1998, S. 206. Vgl. Koschorke: Die Männer und die Moderne (s. Anm. 9), S. 144. Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8). Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8). Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8). Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8). Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8).
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namentlich »den Frauen nichts, die sich« bei den damaligen ›best sellers‹ wie »Courts-Mahlers [sic!] oder H. H. Ewers befriedig[t]en«.17 An diese literatur- und publikumskritische Diagnose knüpft daraufhin Franz Blei an, der »promotion manager«18 Musils schlechthin. Er variiert sie, als er in einer »Rundfrage« im Leipziger Tageblatt Musils Novellenband Drei Frauen zum wertvollsten Buch des Jahres 1924 kürt, weil es mit seiner psychologischen Vielschichtigkeit die Novellengattung reformiere. Bleis Anmerkungen sind aber nicht nur – einmal mehr – symptomatisch dafür, wie wirkungsbezogene, differenz- und originalitätsästhetische Wertungen mit bestimmten Männlichkeitsvorstellungen verbunden waren. Sie geben auch Aufschluss darüber, welche Männlichkeitstypen von dieser Verweiblichung ausgenommen waren, welche als charakteristisch für den ›männlichen Geist‹ der Moderne galten und warum Musil von seinem Bildungsweg her so prädestiniert erscheinen musste, diesen ›Geist‹ schriftstellerisch zu repräsentieren. Musils Novellen, so Blei, seien in ihrer innovativen »Komplexheit« »für Menschen, die im Besitze des Wissens ihrer Zeit dieses nicht aufgeben müssen, um ein Literaturwerk dieser Zeit zu lesen«.19 Und das heißt: »Keine gehobene Unterhaltungslektüre für Frauen, wie unsere ganze schöne Literatur von oben bis hinunter. Sondern für Männer, die Ingenieur sind, Mathematiker«.20 Mit diesen namhaften Wortmeldungen von Kerr, Döblin, Müller und Blei war die Tonart angestimmt, die sich auch in etlichen der Rezensionen zum Mann ohne Eigenschaften wieder nachweisen lässt. Ein paar besonders exemplarische dieser Rezensionen seien hier kurz vorgestellt: Eine der ersten Kritiken zum Roman stammt von Ludwig Marcuse und erschien in der hauseigenen Wochenschrift des Rowohlt Verlags, Das Tagebuch. Darin bezeichnet Marcuse Musils Helden, der ja seinerseits ein diplomierter Ingenieur und Mathematiker ist, als »stark und groß wie Nietzsches Übermensch«.21 Er beschreibt Ulrich als einen, der sich nicht »in Gefühlchen und Ideechen« »verläppert«, sondern »für den großen Plan« aufspart, »der dem kommenden Dasein den Lebensrahmen geben soll«.22 Durch ihn, so Marcuses Urteil (das der Rowohlt Verlag in seine Werbebroschüre übernahm23 ), werde Musils ›vitaler‹ Roman zu einem »der männlichsten«, einem »der geistigsten«, einem 17 18 19 20 21 22 23
Müller: Der erotischste Schriftsteller (s. Anm. 8). Murray G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa. Franz Blei und der Etikettenschwindel 1918, in: Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft 15 (1983), S. 129–141, hier S. 131. Franz Blei: Das beste Buch, in: Leipziger Tageblatt, 4. 1. 1925. Blei: Das beste Buch (s. Anm. 19). Ludwig Marcuse: Hinweis auf ein Meisterwerk, in: Das Tagebuch 11 (1930), H. 49, S. 1958– 1961. Marcuse: Hinweis auf ein Meisterwerk (s. Anm. 21). Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen/Werbeausschnitte.
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»der gewalttätigsten«, einem »der revolutionärsten Bücher, die je geschrieben worden sind«.24 In der Magdeburgischen Zeitung betont Bernard Guillemin hernach die Ausrichtung dieses »ganz großen«, »weltfähigen« Romans auf das »Neue«, seinen »Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber«.25 Er stellt Musils Ulrich einem anderen ausgebildeten, aber nicht ›praktizierenden‹ Ingenieur gegenüber, Thomas Manns Hans Castorp. Den Mann ohne Eigenschaften »mit seinem heroischen Wissenschaftsbegriff und temperamentvollen Aktivismus« erachtet er im Vergleich mit dem passiven Protagonisten des Zauberbergs als »unendlich viel klüger«.26 Ulrich sei »reifer und kritischer, ein durchaus männlicher Geist, der – man lasse sich durch sein beständiges Reflektieren nicht täuschen – sehr genau weiß, was er will«.27 Suggeriert Guillemins Bemerkung, dass trotz der männlichen Kodierung des ›Geists‹ ein Übermaß an Reflexion diese Männlichkeit wieder dezimieren und zu ›femininer‹ Wankelmütigkeit und Unentschiedenheit führen könnte, streicht Ernst Herbert Lucas sodann im Hamburger Monatsblatt Der Kreis für sein Teil Ulrichs Willenskraft und Entschlossenheit heraus. (»Es erwarten ihn Selbstmord oder Sieg. Nichts dazwischen.«28 ) Lucas beteuert, »daß ein derart gründlicher, bis in die abwegigsten Tiefen reichender Verstand noch niemals in einem Buch vorgeführt worden« sei,29 und koppelt diese Superlative ebenfalls an eine – wiederum maximalistische – Kulturalisierung der Geschlechterdifferenz. Denn von Ulrich beziehungsweise Musil (»Der Dichter scheut sich nicht, seine eigene Meinung durch ihn auszusprechen«) stamme der überhaupt »männlichste Gedanke unserer Zeit«: dass die »Relativität der Anschauungen« lediglich »das Resultat schlechten und zu früh aufhörenden Nachdenkens« sei.30 Nach der Veröffentlichung des zweiten Bandes schließlich stimmen auch Paul Eisner von der Prager Presse oder der Feuilletonleiter der Berliner Zeitung am Mittag, Ernst Otto Hesse, in diesen euphorisch-maskulinistischen Ton mit ein. Eisner sieht in Musils Roman, einem »der kühnsten Buchexperimente unserer Zeit«, neuerlich die »unerbittlich exakt arbeitende Passion
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Marcuse: Hinweis auf ein Meisterwerk (s. Anm. 21). Vgl. ders.: Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Wirtschaftskorrespondenz für Polen, 10. 1. 1931; ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musils großer Roman, in: Neue Badische Landeszeitung, 24. 1. 1931; ders.: Musil – Der Mann ohne Eigenschaften, in: Mitteldeutscher Rundfunk, 26. 1. 1931; ders.: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Hamburger Fremdenblatt, 14. 2. 1931. Bernard Guillemin: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Magdeburgische Zeitung, 1. 1. 1931. Guillemin: Robert Musil (s. Anm. 25). Guillemin: Robert Musil (s. Anm. 25). Ernst Herbert Lucas: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Der Kreis (1931), H. 6. Lucas: Robert Musil (s. Anm. 28). Lucas: Robert Musil (s. Anm. 28).
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eines Prosektors« am Werk.31 Er misst ihm eine »unbelletristische« »Leidenschaftlichkeit im Denkerischen« zu, in der auch er die »potenzierteste geistige Mündigkeit und Virilität« wahrzunehmen glaubt.32 Hesse schließlich lädt Musils exakten und gründlichen Geist abermals geschlechtlich auf und äußert gleichermaßen einen männlichen Supremat des Verstands. Er rä- oder resoniert, im Mann ohne Eigenschaften – der »ebenso gehaltlich wie stilistisch hohe Anforderungen, höchste Anforderungen« stelle – habe »einer der männlichsten Männer und einer der geistigsten Menschen dieser unserer immer ungeistiger werdenden Epoche seine Zusammenfassung gegeben«.33
2. Die Rezensionen, die Musil in den 1920er und 1930er Jahren erhielt, bezeugen also sinnfällig, wie die damaligen poetologischen Diskussionen von Geschlechtermetaphern und -zuschreibungen geprägt waren. Sie allein bekräftigen, wie zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften alles, »wirklich alles [. . .] dichotomisch-geschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert« wurde.34 Zugleich fordern sie eine genauere Untersuchung der Geschlechter- und Männlichkeitsregulative in Musils Œuvre und gerade auch im Mann ohne Eigenschaften ein, auf den sich meine Ausführungen im Folgenden beschränken. Dabei werfen die Elogen auf Musils schriftstellerische Virilität auch die Frage auf, in welcher Beziehung sie eigentlich zum rezeptionsgeschichtlich jüngeren Befund stehen, zu dem Wolfgang Schmale vor knapp zehn Jahren in seiner Geschichte der Männlichkeit in Europa gelangt ist. Der Mann ohne Eigenschaften, konnte Schmale darin ganz selbstverständlich und ohne weitere Erklärung festhalten, firmiere »gewissermaßen als Emblem« der »Debatten über die Krise der Männlichkeit«.35 Im Zeichen dieser vielbeschworenen Krise, in die tradierte Männlichkeitsideale während Musils Lebzeiten gerieten, steht bereits der unmittelbare Romananfang. Im ersten Kapitel wird sogleich ein nicht näher beschriebener »Mann« von einem »Inbegriff der Zukunftstechnik«36 angefahren, wie sie das Automobil auch in Musils Romanwelt versinnbildlicht. Das Bedrohungsoder Katastrophenszenario von den in den USA »durch Autos« »jährlich« 190 000 getöteten und 450 000 verletzten Personen, das der nur probeweise, 31 32 33 34 35 36
Paul Eisner: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Prager Presse, 23. 2. 1933. Eisner: Der Mann ohne Eigenschaften (s. Anm. 31). Otto Ernst Hesse: Ein Dokument der Zeit. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 2. Band, in: Berliner Zeitung am Mittag, 14. 3. 1933. Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien u. a. 2003, S. 154. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (s. Anm. 34), S. 231; Hervorhebung U. B. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München, Wien 1998, S. 206.
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nur im Konditional Arnheim benannte Spaziergänger in der Folge entwirft, hält einer positivistischen Nachprüfung zwar nicht stand (MoE, S. 11). Es lässt sich so weder für die ›story time‹ des Romans noch für das Jahr 1924 belegen, für das Musil sie nota bene nach »einer offiz[iellen] amerikan[ischen] Statistik« in seinem Arbeitsheft 21 vermerkte (Tb I, S. 639). Dennoch sind die im Roman so prominent platzierten »ominösen Ziffern« keineswegs so »offenkundig surreal[ ]« und phantastisch,37 wie die Forschung bisweilen pauschal, über die Verkehrstoten und -verletzten, urteilte.38 Zumindest ihre handgreiflich-direkte Herkunft ist wohl auch nicht, wie andernorts spekuliert wurde, in den großen Verlusten der habsburgischen Truppen im ersten Weltkriegsjahr zu orten.39 Weder die vorschnelle Annahme ihrer gänzlichen Fiktivität noch die ohnehin nicht exakt übereinstimmenden habsburgischen Verwundetenzahlen40 können ja die Datumsangabe motivieren, mit der Musil seine offiziellen Angaben im Notizheft versah. Vielmehr sind gerade die 450 000 Verletzten genau so in mindestens einem »illustrierten« deutschsprachigen Medium von 1925 greifbar: in der populärwissenschaftlichen Umschau, einer »Wochenschrift für die Fortschritte in Wissenschaft u. Technik«, die in der Weimarer Zeit eine Auflage von immerhin 15 000 bis 20 000 Exemplaren er37 38
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Eckhard Heftrich: Musil. Eine Einführung. München, Zürich 1986, S. 112. Adolf Frisé führt im Kommentarband zu den Tagebüchern lediglich die »Statistik der Eisenbahn-Unfälle in den USA« an (»Für 1913 [. . .] 10 964 Tote, 200 308 Verletzte, für 1924 [. . .]: 6617 Tote, 143 739 Verletzte«), erklärt die »Zahlen« in Tagebuchheft und Roman aber dennoch für »offensichtlich imaginär[ ]«. Er stellt fest, »Straßen- (d. h. Auto-)Unfälle« seien »für 1913 wie auch für 1924 noch nicht ähnlich statistisch registriert« worden, und »im übrigen hätte die Statistik keinesfalls jeweils zum selben Ergebnis geführt« (Tb II, S. 453, Anm. 513). Walter Weiss: Eindeutigkeit und Gleichnis. Beiträge zur geistigen Bewältigung der (modernen) Welt, in: Literatur und Kritik (1980), H. 149/150, S. 570–578, hier S. 575 f., glich immerhin die Verkehrstotenzahlen mit den ›Historical Statistics of the USA‹ ab und konnte feststellen, dass darin 1913 »nicht 190.000 Verkehrstote durch Automobile« verzeichnet sind, »sondern ca. 3.700, also etwa ein Fünfzigstel« – und 1924 immer noch »erst ca. 17.500, also ca. 1:11«. Daraus zog er den Schluss, Musil hätte die Zahlen »zur – ironischen – Verwendung« in seinem Roman frei erfunden. Vgl. Alexander Honold: Endings and Beginnings. Musil’s Invention of Austrian History, in: Harold Bloom (Hg.): Robert Musil’s The Man Without Qualities. Philadelphia 2005 (= Bloom’s Modern Critical Interpretations), S. 113–122, hier S. 121. Vgl. ders.: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 88; ders.: Metropolis aus dem Schützengraben. Über den Zusammenhang von Masse und Mobilmachung bei Ernst Jünger und anderen, in: Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 36 (1998), S. 34–42, hier S. 42. Honold zufolge hatten die habsburgischen Truppen von August 1914 bis Juli 1915 rund 190 000 gefallene Soldaten und 490 000 Verwundete zu beklagen. Die »Abweichung bei den Verwundetenzahlen«, mutmaßt er, sei »vermutlich dem hierbei größeren ›Ermessensspielraum‹ geschuldet, der zu abweichendem Zahlenmaterial geführt haben kann; der Zugang zu diesem Material dürfte für Musil zur Zeit des Dienstes im Kriegspressequartier und später im Heeresministerium kein Problem gewesen sein.« (Honold: Die Stadt und der Krieg [s. Anm. 39], S. 88, Anm. 42)
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reichte.41 Dort findet sie sich unter der Überschrift »Kraftwagenunfälle in Amerika«, zusammen mit der Gesamtzahl der Todesopfer, die diese Unfälle gefordert haben sollen und die ihrerseits bis auf eine einzige, fehlende Ziffer mit der im Mann ohne Eigenschaften genannten übereinstimmt. Nicht nur also sollen sich 1924 im US-amerikanischen Straßenverkehr »450 000 Kraftwagenunfälle mit leichten und schweren Verletzungen« ereignet haben, sondern auch »19 000 Menschen« durch »Kraftwagen« getötet worden sein.42 Ob nun Musil bei seinem Notat ein Abschreibe- oder Erinnerungsfehler unterlaufen ist oder ob er die Anzahl der Todesfälle schon im Arbeitsheft absichtlich verzehnfachte, um sie dann so in seinen Roman einzuarbeiten: Das geläufige Interpretament, das Verkehrsunglück und die Unfallstatistik als proleptischen Verweis auf den verheerenden ›Unfall‹ des Ersten Weltkriegs zu deuten, verliert dadurch nicht unbedingt seine Plausibilität. Der statistisch serialisierte Unfall im Eingangskapitel setzt so oder so eine beispielhafte moderne Erfahrung in Szene. Die Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers in Konfrontation mit der technischen Entwicklung konnte nirgends gravierender und traumatisierender erlebt werden als in den Materialschlachten der Grabenkriege. Extratextuell kann der in der ›kochenden Blase‹ der Großstadt durch ein »Symbol für Modernität«43 zu Schaden gekommene Körper des Mannes so auf die »Serie von Demütigungen« verweisen, die der »männliche Körper« »im Industriezeitalter« zu ertragen hatte: als »Kriegerkörper«, als »Arbeiterkörper« oder als »selbstbeherrschter, orientierungsfähiger Organismus«.44 Romanimmanent antizipiert er die Körperschäden und -defizite, die den Merkmalssätzen beinahe aller Männerfiguren eingeschrieben sind. Denn zum satirischen Prozess, den Musil seinen Männerfiguren macht, gehört regelmäßig, ihren Pseudo- oder ›Durchschnittsgeist‹ durch die Betonung physischer Mankos zu denunzieren. Ob die in corpore gedemütigten Männerfiguren nun pyknisch oder asthenisch, impotent oder neurasthenisch sind: Entweder stehen ihre festen Werte in Kontrast zu ihrem »weibisch[ ]«-weichlichen Körperbau (MoE, S. 967), ihr prätendierter geistiger Durchblick zu 41
42
43 44
Vgl. Arne Schirrmacher: Kosmos, Koralle und Kultur-Milieu. Zur Bedeutung der populären Wissenschaftsvermittlung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (2008), S. 353–371, hier S. 357 f. K. A. Tramm: Kraftwagenunfälle in Amerika, in: Die Umschau. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft u. Technik. Vereinigt mit Naturwissenschaftl. Wochenschrift und Prometheus 29 (4. 7. 1925), H. 27, S. 540. Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 167. Koschorke: Die Männer und die Moderne (s. Anm. 9), S. 145. In einem älteren Entwurf der Unfallszene, 1926/27, zieht im Übrigen noch Arnheim selber eine Verbindung vom »Opfer der Straße« zu den »Betriebsunfällen«, mit denen er zu »rechne[n]« »gewohnt« ist (KA/Transkriptionen/Mappe VII/6/351).
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ihrer eigens hervorgehobenen Myopie oder ihre rassenhygienischen Forderungen zu ihrer unreinen Haut.45 Darüber hinaus kann die Unfallgeschichte des »Mann[es]« auch als exemplarisch dafür verstanden werden, wie die einzelnen Männlichkeitserzählungen im Romanverlauf ihrerseits immer wieder von Neuem verunglücken. Das Scheitern der Männerfiguren, herkömmliche Geschlechternarrationen fortzuschreiben oder überhaupt erst in Gang zu setzen, trägt wesentlich zur Untergangsstimmung in der auseinanderbrechenden Habsburgermonarchie bei: Während der ganzen zwei ersten Bände des Romans wird keine einzige Ehe geschlossen und kein einziges Kind geboren.46 Vielmehr spielt die Mehrheit der verheirateten Frauenfiguren mindestens mit dem Gedanken einer Scheidung und aktualisiert so ein ›Mutterrecht‹, das im Mann ohne Eigenschaften ohnehin um sich greift:47 Die ›hetärische‹ Bonadea belügt und betrügt ihren anonym bleibenden Mann seit Jahren. Die ›gynaikokratische‹, »großartige Diotima« (MoE, S. 1133) erzieht und erniedrigt sexuell den ›kleinen‹ Sektionschef Tuzzi. Die ›amazonische‹ Clarisse fühlt sich Walter gegenüber als Mann und entzieht sich ihm körperlich. Agathe demontiert das Vaterrecht mit ihrer Scheidung und Testamentsfälschung. Leo Fischel wird von seiner Tochter als Vater nicht mehr anerkannt und zu Hause seit Jahren gleichsam »gemordet« (MoE, S. 1554). Den antisemitisch gesinnten Studenten Hans Sepp mit seinem »christgermanischen Kreis junger Leute« muss er bei sich zu Hause dulden wie einst Odysseus »die Freier der Penelope« (MoE, S. 312, 478). Dieser Student oder »Schulbub[ ]« selber (der in einer älteren Textschicht noch den dialektal so hübsch sprechenden Namen Hans Tepp tragen sollte) gehabt sich auch »mit einundzwanzig Jahren« noch »wie ein Kind« und reibt »mit seinen kindischen Zärtlichkeiten« Gerdas »Nerven« auf (MoE, S. 477, 555, 617). Der maliziös als »dieser Sohn« in den Roman eingeführte, eigentlich schon »gegen fünfzig Jahre« alte Arnheim leidet unter einem Vaterkomplex und macht auf Diotima zuletzt den Eindruck eines ›erotischen Feiglings!‹ (MoE, S. 96, 382; vgl. S. 1036). Der Dichter Friedel Feuermaul, der an seiner »Zigarre« »mit der Gier eines Kalbes« saugt, »das seine 45 46
47
Vgl. dazu ausführlicher Boss: Männlichkeit als Eigenschaft (s. Anm. 1), S. 58–65. Das einzige Kind, das am Ende des zweiten Bands wenigstens erwartet wird, stammt von einem Vater, der im kakanischen Wien unter mehr denn nur einem Aspekt als fremd und andersartig erscheint. Das für sein Teil mit Alteritätsmerkmalen versehene jüdisch-galizische Dienstmädchen Rachel wird also nicht etwa von einem Österreicher »schwanger«. Sie erwartet ein Kind von einem »verdorbene[n] junge[n] Berliner«, der sich weit mehr noch als über seine Nationalität durch seine Ethnizität von allen anderen Figuren des Romans unterscheidet: von dem »kleinen Mohrenknaben« Soliman (MoE, S. 107, 180 u. 1027). Vgl. dazu auch Ulrich Boss: Solimans ›ungeschicktes Theater‹. Zum Stereotyp des ›Coons‹ in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: KulturPoetik 12 (2012), H. 1, S. 58–71, hier S. 66–68. Vgl. Ulrich Boss: ›Mutterrecht‹ im Mann ohne Eigenschaften, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 73–92.
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Schnauze gegen den mütterlichen Euter stößt«, verdankt seinen Erfolg in der Hauptsache den Beziehungen seiner ihn ›bemutternden‹ Mäzenin Melanie Drangsal (MoE, S. 1004 f.). Der »Tugut« und Pädagoge Lindner scheitert bei der Erziehung seines »Tunichtgut« von Sohn und lässt sich von der »schönen und gefährlichen« Agathe »verwirren« und »spöttisch« vorführen (MoE, S. 1066, 1070, 1081). Usw. Wenn Musil sich notierte, die »Geschichte dieses Romans« komme »darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird« (MoE, S. 1937), dann gilt das demnach auch für die darin blockierten Männlichkeitsgeschichten. Wie dem Roman selber ist auch ihnen das »primitiv Epische abhanden gekommen«, wie er sind auch sie »unerzählerisch geworden« (MoE, S. 650). Seine achronische und essayistisch-digressive Erzählstruktur kann folglich nicht nur homolog gedacht werden zur historischen Situation der kakanischen Monarchie im Allgemeinen, in der kein Konsens mehr erzielt wird, wie die Vergangenheit verstanden und die Zukunft bewältigt werden könnte.48 Sondern sie lässt sich auch und im Besonderen auf die männlichen Geschlechtererzählungen beziehen, die ihrerseits Umwege nehmen, unentschlossen steckenbleiben und sich einem linearen Fortgang verweigern. Obwohl Erzählmodus und Männlichkeitskrise insoweit korreliert werden können, gilt es allerdings zwischen dem erzählten Geschlecht und dem Geschlecht des Erzählers zu unterscheiden. Die narrative Strategie des Romans lässt sich zwar als »Schreiben der Krise« begreifen, wie Walter Moser sie charakterisiert hat.49 Wie schon die zeitgenössische Rezeption aufweist, affiziert die im Mann ohne Eigenschaften so omnipräsente Geschlechterkrise aber Musils poetologisches Programm, die Erzähltechnik des Romans und seinen fiktiven Autor gerade nicht. Denn das »ordentliche Nacheinander von Tatsachen« wird im Romantext selber als unangemessenes, unterkomplexes Darstellungsverfahren verabschiedet (MoE, S. 650). Der Erzähler und Ulrich – ob jener hier gedachte Figurenrede wiedergibt oder in eigener Instanz dessen Gedanken fortführt, bleibt in der Schwebe – fassen die »Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer [E]indimensionalen« einhellig als unzulässige Vereinfachung auf (MoE, S. 650). Die linear-kausale ›erzählerische Ordnung‹ wird als psychohygienische Schutzmethode derjenigen Figuren diskreditiert, die das Bedürfnis haben, sich »im Chaos geborgen« zu fühlen (MoE, S. 650). Bloß Schreiberlinge wie Feuermaul, der »nicht zehn Minuten warten« kann, »ohne einen Unsinn zu sagen« (MoE, S. 1003), propa48 49
Vgl. dazu Stefan Jonsson: Subject Without Nation. Robert Musil and the History of Modern Identity. Durham 2000, S. 218. Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197, hier S. 188.
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gieren noch die ›alte Naivität des Erzählens‹.50 Das »episch unerschütterliche ›Und‹« soll lediglich »dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen« ersetzen (MoE, S. 1014 f.). Es wird mit dem anrüchigen Terrain der Trivialliteratur assoziiert und kann sowohl ontogenetisch als auch geschlechtsspezifisch entsprechend gebannt werden: als eine »perspektivische Verkürzung des Verstandes«, mit der »schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen« (MoE, S. 650; Hervorhebung U. B.).51
3. Wenn Musils Zeitgenossen seinen Roman als »eins der männlichsten« je geschriebenen »Bücher« wahrnehmen und schätzen konnten, liegt das aber nicht nur am ›Gendering‹ der eigenen Erzähltechnik, das der Erzähler hier und nicht nur hier konkretisiert. Es liegt schon nach Ausweis der Rezensionen auch am »stark[en] und groß[en]« Romanhelden selber, der buchstäblich vom ersten Wort des Texts an mindestens die Eigenschaft hat, ein beziehungsweise »Der Mann« zu sein. Mit seinem, so die Basler Nachrichten, »übermännlichen Wesen[ ]«52 figuriert er innerhalb des Romans als »höchste[r] Männertypus« und bildet den Rahmen, in dem das restliche männliche Personal bewertet und abqualifiziert wird. »Am besten erkennt man diesen Mann, dessen Eigenschaften es sind, keine Eigenschaften zu haben«, schrieb Marcuse, »an seinen Gegnern. Alle Schatten der Welt weisen auf ihn als Lichtquelle«.53 Die Krise der anderen konstituiert die Männlichkeit des einen mit. Ulrichs Portrait bestätigt, dass Maskulinität als ›restricted status‹ nicht zuletzt über mann-männliche Konfigurationen, über Hierarchien innerhalb des eigenen Geschlechts begriffen und umgesetzt wird. Das zeigt sich schon am Äußeren des Titelhelden: Er bleibt ausdrücklich »ohne die Weichheiten«, die Arnheim »an seinem eigenen Körper nicht« vor sich »verbergen« kann (MoE, S. 540) – und die auch Walter, Lindner, Siegmund und selbst einer marginalen Figur wie Dr. Friedenthal angelastet werden.54 Dekoriert mit Gelenken, die »wie schmale Stahlglieder die Muskeln« abschließen (MoE, S. 159), erhält er nicht die »weichen Mädchenbeine« Walters, sondern »muskulöse[ ] Schenkel« (MoE, S. 217 u. 473). Im Gegensatz zu den leptosomen Hans Sepp, Tuzzi, Meingast, Lindner oder 50 51
52 53 54
In einem Brief vom 15. 3. 1931 an Johannes von Allesch schrieb Musil, die »alte Naivität des Erzählens« reiche »der Entwicklung der Intelligenz gegenüber nicht mehr« aus (Br I, S. 504). Vgl. bereits die beiden Vorkriegsessays Über Robert Musil’s Bücher und Die Kunst des Erzählens. Schon dort ging es Musil darum, das »Erzählen vom« ›Ammen‹- und »Kinderfrauenberuf« zu »emanzipieren« (GW II, S. 999; KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/149). Sk: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Basler Nachrichten, 28. 5. 1933. Ludwig Marcuse: o. T., in: Kattowitzer Zeitung, 3. 10. 1931. Vgl. MoE, S. 48, 64, 828, 838, 967 u. 979.
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Schmeisser ist er weder ›knochig‹ noch ›mager‹.55 Sein »Brustkorb« sitzt »wie ein gewölbtes Segel am Mast« und auf seinem »breitschultrig[en]« »Manneskörper[ ]« thront ein »kräftig und entschlossen« aussehendes, »mächtige[s] Gesicht« (MoE, S. 159, 942, 490 u. 258). Darauf plagen ihn keine ›Pusteln‹ (vgl. MoE, S. 551). Anders als Hans Sepp hat Ulrich explizit keine »unreine Haut«, »geputzte Fingernägel« und nicht »fett gesträubte[s]«, sondern »gekämmtes Haar« (MoE, S. 283, 315 u. 560). Wie zu Beginn des Texts eigens fest- und sichergestellt wird, besitzt er überdies – im Unterschied zu den nervösen Fischel, Leinsdorf, Arnheim und Lindner56 – in der »ganze[n] moderne[n] Nervosität« »noch immer vorzügliche Nerven« (MoE, S. 969 u. 27). Dürfen in Musils Roman eine ganze Reihe von Frauenfiguren erotisch attraktiv sein, bleibt der ›sex appeal‹ des Protagonisten unter den männlichen Charakteren ein Alleinstellungsmerkmal. Freuds Befund in Der Dichter und das Phantasieren, für die in Literatur verwandelten dichterischen Tagträume sei typisch, dass »sich stets alle Frauen des Romans in den Helden verlieben«,57 passt musterbeispielhaft zu den Geschlechterbeziehungen im Mann ohne Eigenschaften. Das Indefinitpronomen »alle« trifft darin wohl vollständiger zu, als es sich selbst Freud je hätte träumen lassen. Es ist hier durchaus keine Hyperbel. Keine der Frauenfiguren, die für den Romanhelden als Sexualobjekte in Frage kommen, kann sich seiner Anziehungskraft entziehen. Sein Aussehen soll sich sogar so weitgehend mit dem klassischen Schönheitsideal decken, dass er sich »manchmal selbst wie ein Vorurteil« vorkommt, »das sich die meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden« (MoE, S. 93). Er hat »bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen« (MoE, S. 93). Die ›autoreflexive‹ Rede vom »Vorurteil« deutet bereits an, dass der muskelbepackte Körper des Mannes ohne Eigenschaften nicht in gänzlich ungestörter Harmonie zu seinem Charakter steht. Ulrichs virile Athletik, über die Musil seinem Roman sozusagen trivialliterarische58 beziehungsweise, quellenkritisch gesehen, medizinisch-psychologische59 Versatzstücke integriert, ›spiegelt‹ »den Frauen« eine »gangbare Männlichkeit« nur vor (MoE, S. 285). Für diese ›Gangbarkeit‹ besitzt der Protagonist ausdrücklich »zu viel Geist und Widersprüche« (MoE, S. 285). Sie ist also gerade auch mit dem auffälligs55 56 57
58 59
Vgl. MoE, S. 551, 785, 828, 966 f., 1133, 1455, 1537 u. 1630 f. Vgl. MoE, S. 174, 542, 1179 u. 1605 f. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren, in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud et al. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906–1909. Frankfurt a. M. 1999, S. 213–223, hier S. 220. Vgl. auch Ina Hartwig: Sexuelle Poetik. Proust. Musil. Genet. Jelinek. Frankfurt a. M. 1998, S. 111. Die Beschreibungen von Ulrichs Körper stimmen teilweise bis in den Wortlaut hinein mit den Ausführungen überein, die Ernst Kretschmer in Körperbau und Charakter zum ›athletischen Typus‹ machte. Vgl. zu diesen imitativen Anleihen Boss: Männlichkeit als Eigenschaft (s. Anm. 1), S. 66.
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ten anderen seiner ›distinctive features‹ nicht vereinbar, mit seiner »männlichen Gedankenlust« (MoE, S. 1464). Dennoch ist Ulrichs Muskelstärke mehr als nur eine beliebige Kostümierung, als lediglich eine »Maske«, »die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet« (MoE, S. 285). Denn von den positiven Konnotationen, die dem auch in gewissen literarischen Kreisen angesagten Typus des Sportlers anhafteten, dürfte der Titelheld gleichwohl profitiert haben. Zu diesen positiven Konnotationen gehörte für Marieluise Fleißer, die in solchen Kreisen verkehrte, insbesondere »eine bestimmte Kampfeinstellung des Lebensgefühls«.60 Ohne das wegweisende Potenzial des ›Sportsmanns‹ vorwiegend in der körperlichen Leistung selber zu orten, erklärte sie ihn deshalb 1927 in ihrem Essay Sportgeist und Zeitkunst zum charakteristischen modernen Menschentyp. Auch auf dem Gebiet des Geistes, forderte Fleißer, komme es hinfort darauf an, sich vom zurückliegenden Zeitgefühl zu befreien und durch beharrlichen Willen die nötige intellektuelle Spannkraft aufzubauen, um gedankliche Herausforderungen anzugehen. Mit neuer Dynamik und Vitalität sei so ein verjüngender kultureller Aufbruch einzuleiten. Fleißer betonte mit voluntaristischer Verve, es gelte durch »Kämpfe und Siege des Geistes« die Welt lebendiger zu machen61 und »den Samen des Willens zu säen, der ein energisches, sich selber vortreibendes Geschlecht« erwecke.62 Musil seinerseits hatte zum Sport als Zeitgeist bekanntlich ein ambivalentes Verhältnis und nahm solche oder ähnliche Analogisierungen – etwa zwischen der Psychotechnik eines »großen Geist[s]« und eines »Boxlandesmeister[s]« – in seinem Roman aufs Korn (MoE, S. 45). Dennoch gibt der Sport auch darin ein Terrain des »Männervergleich[s]«63 ab und korrespondiert Ulrichs sportliche Überlegenheit mit den ›Siegen des Geistes‹, die er in den Gesprächen mit seinen Kontrastfiguren davonträgt.64 Insoweit erscheint 60
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64
Marieluise Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst. Essay über den modernen Menschentyp, in: dies.: Roman, Erzählende Prosa, Aufsätze. Hg. v. Günther Rühle. Frankfurt a. M. 21983 (= Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 317–320, hier S. 317. Vgl. zu Fleißer und Musil auch: Anne Fleig: Bruder des Blitzes. Sportgeist und Geschlechterwettkampf bei Marieluise Fleißer und Robert Musil, in: dies., Birgit Nübel (Hg.): Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie. München 2011, S. 181–197. Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst (s. Anm. 60), S. 317. Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst (s. Anm. 60), S. 320. Henning Eichberg: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts. Stuttgart 1978 (= Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik, Bd. 12), S. 26. Obwohl ihm das bisweilen »unaussprechlich unsinnig« vorkommt, das heißt mit angemessener Reserviertheit gegenüber den lebensreformerischen Programmen der Körperkultur-, Fitnessund Bodybuildingbewegungen, beginnt der Mann ohne Eigenschaften seinen Tagesablauf »gewöhnlich« mit einem morgendlichen Training, das »einen geübten Leib in dem Zustand eines Panthers zu erhalten« vermag (MoE, S. 61). Die »Morgen«-, »Leibes«- und »Tugendübungen«, mit denen sich der »mager[e]« Pädagoge Lindner schon seit »einigen Jahren« diszipliniert, er-
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die Athletik des Romanhelden hier für ihr Teil als ein Vehikel, um auch seine geistige Vitalität und seine Position als »Repräsentant des modernen Zeitgefühls«65 zu unterstreichen. Wie Musil selber in Müllers Portrait verkörpert der Mann ohne Eigenschaften mit seiner intellektuellen »Kampfeinstellung« jedenfalls ganz buchstäblich den Willen zur Veränderung und geistigen Reorganisation, die – so Musils Notat in den 1930ern – »Möglichkeiten der Neuordnung« (MoE, S. 1887). Anders als seine gedanklich unproduktiven Gegenfiguren, die sich sämtlich der einen oder anderen festgefahrenen Ideologie ergeben, steht Ulrich »in einem Mann-Mannesverhältnis zu den sogenannten großen Ideen« (MoE, S. 900). In der stagnierenden, energie- und kraftlos gewordenen, innerlich erschöpften Gesellschaft Kakaniens figuralisiert er mithin die Hoffnung auf einen Um- und Aufbruch, auf eine Zukunft, in der nicht nur ›seinesgleichen geschieht‹. Diese Hoffnung, die erneuernde und utopische Kraft, die »Phantasie«, die »auf Veränderungen« ausgerichtet ist (MoE, S. 247), wird damit auch hier an ein idealtypisches Männlichkeitsbild gebunden. Zu einer solchen »Hoffnung«,66 zu einem derartigen ›Pionier‹67 macht den Protagonisten zwar erst sein Überschuss an »männliche[m] Geist«, der ihn von der eigens auf Distanz gehaltenen »gangbare[n] Männlichkeit« eines schlichten Sportlers abhebt.68 Nicht zuletzt sein ›athletisch geschulter Körper‹ aber erlaubt Ulrich, vergleichsweise souverän zwischen verschiedenen Männlichkeitspositionen hin und her zu wechseln und solchermaßen seine Virilität zu bekräftigen.69 Denn seine bisweilen überzeichnete Athletik, seine
65 66 67 68
69
zielen hingegen keine vergleichbaren Resultate (MoE, S. 1050). Sie kommen allein unter die Signatur des Lächerlich-Komischen zu stehen. In gleicher oder gleichartiger Form wird Ulrich auch von weiteren Männerfiguren über den Sport abgesetzt. So entsinnt sich etwa Clarisse, er habe »früher unvergleichlich besser Tennis gespielt als Walter« (MoE, S. 53). Sie weiß noch, »bei seinen rücksichtslosen Schlägen manchmal so heftig empfunden zu haben, der wird erreichen, was er will, wie sie es nie vor Walters Malerei, Musik oder Gedanken empfand« (MoE, S. 53 f.) – obwohl sie von Walter immerhin »hoffte«, er werde eines Tages »ein noch größeres Genie sein« »als Nietzsche« (MoE, S. 146). Auch Hagauer wird, ebenfalls im Tennis, selbst von der Sport ›verabscheuenden‹ und dennoch »unvergleichlich besser« spielenden Agathe »sechs zu null« geschlagen (MoE, S. 704). Und während Ulrich als junger Reiterleutnant »Rennen« ›geritten‹ ist (MoE, S. 36) und dabei in einem der früheren Kapitelentwürfe sogar »schwere Hindernisse genommen« hat (KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/32), ist General Stumm mit seinen »kleine[n] Hände[n] und Beine[n]« ein vollkommen »untauglicher Reiter« (MoE, S. 342). Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst (s. Anm. 60), S. 317. Lucas: Robert Musil (s. Anm. 28). Vgl. Guillemin: Robert Musil (s. Anm. 25). Vgl. dagegen Fleig: Körperkultur und Modere (s. Anm. 9), S. 222, für die Ulrichs Überschuss an Geist nicht seine Männlichkeit bestärkt, sondern seinen »betont männlichen Körper« als Maskerade lesbar macht, die Ulrichs »Selbstzweifel [. . .] kaschiert«. Als das für einmal nicht der Fall ist und Ulrich von drei ›Strolchen‹ »übel zugerichtet« wird, weil er in Gedanken ist, nicht schnell genug reagiert und so »auf sportlichem Gebiet« einen »Fehler« macht, wird er schon in Bonadeas Mietkutsche »wieder Mann«. Er nimmt die ›Niederlage‹ sportlich, verteidigt »das Geschehene« »[n]atürlich« und »zieht sich« so selbst in seinem »Zustand von Schwäche« »eine neue Geliebte zu« (MoE, S. 25–28).
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»muskulöse Geistigkeit«70 sollte gewiss auch dabei förderlich sein, ihn gegen bestimmte Verdächtigungen abzusichern. Die Verdächtigungen, denen er hätte ausgesetzt werden können, dürften auf der Hand liegen. Dass Ulrich äußerlich so aufdringlich dem »neuen Bild der Männlichkeit« (MoE, S. 45) angeglichen ist und derart überdeutlich die Männlichkeitsdefizite der anderen Figuren wettzumachen hat, schützte ihn supplierbar davor, mit Vorstellungen der zeitgenössischen Dekadenzkritik assoziiert zu werden. Als verlässliches Signal der Leserlenkung beugte es Lektüren vor, die vielleicht selbst in Marcuses Rezension des ersten Bandes anklingen, wenn darin auch von Ulrichs »Achillesferse« die Rede ist: von seiner geschlechtertypologisch ambigen, »angreiferisch-abwartende[n] Haltung«, die sich »in eine eindeutige Tat« erst noch »auflösen« müsse.71 Vor allem aber sicherte es den Titelhelden ab gegen Assoziationen, in deren Zeichen erst recht seine Geschwisterbeziehung, der angedeutete Inzest und seine Beschäftigung mit Mystik im zweiten Band hätten wahrgenommen werden können. Der Publizist und Kritiker Kurt Pinthus beispielsweise grenzte 1929 in seinem programmatischen Essay Männliche Literatur den virilen Antiillusionismus der Neuen Sachlichkeit nicht nur von der ›schreienden‹ und ›jammernden‹ »Jüngling[s]«-Dichtung des Expressionismus ab, sondern auch von der ›reizsam‹-nervösen Literatur der Jahrhundertwende.72 Der sachlich schreibende »Mann«, verkündete Pinthus, lasse in seiner »männliche[n] Literatur« »weniger den sogenannten Geist sprechen, als die Tatsachen«; »die Idee« trete darin »kaum noch als bewegendes Element in Kraft«.73 Ulrichs Gedankenfreude und insbesondere sein Interesse für ›andere Zustände‹ aber – auch für das »kosmische Erlebnis« der Liebe, das für Pinthus nicht mehr Gegenstand einer versachlichten und vermännlichten Literatur sein konnte – sollte augenscheinlich niemand als Ausfluss eines effeminierten, unzeitgemäßen oder neurasthenischen ›Geistes‹ fehlinterpretieren.74 Mit Ulrich, der sich »mit Recht für einen männlich empfindenden Mann« hält (MoE, S. 900), wird die theoretische Durchdringung der Mystik und des ›anderen Zustands‹ an eine Figur delegiert, die über solche Verdächtigungen erhaben war. Sie konnte nicht in den Geruch jener bloß »nervöse [. . .] Zustände« schildernden gestrigen Literatur geraten, die Pinthus einer neuen Generation der »zukunftsträchtigen Dichtung« entgegensetzte (auch er im Übrigen, indem er 70
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Walther Petry: Der Mann ohne Eigenschaften. Bemerkungen zu Robert Musils Roman, in: Neue Zürcher Zeitung, 14. 2. 1931; Hervorhebung U. B. Petry schrieb vom »Buch« als Ganzem, dass es sich von »der zeitgenössischen Belletristik« »durch eine muskulöse Geistigkeit« abhebe. Marcuse: Hinweis auf ein Meisterwerk (s. Anm. 21); Hervorhebung U. B. Kurt Pinthus: Männliche Literatur, in: Das Tagebuch 10 (1929), H. 22, S. 903–911, hier S. 903. Vgl. S. 904 u. 910. Pinthus: Männliche Literatur (s. Anm. 72), S. 904. Pinthus: Männliche Literatur (s. Anm. 72), S. 910.
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eine ›harte‹ und ›trainierte‹ Sprache forderte, die sich »dem Körper eines Boxers vergleichen« lasse).75 Zwar lässt sich Musils eigenes mit dem von Pinthus skizzierten ästhetischen Programm einer neusachlichen Reportageliteratur nicht oder kaum vermitteln (obwohl Pinthus’ Aufsatz ebenso wie Marcuses Rezension des Mann ohne Eigenschaften und mehrere kleinere Texte Musils im Tagebuch des Rowohlt Verlags erschien76 ). Trotz dieser weitgehenden Unvermittelbarkeit jedoch ist Ulrichs Gestaltung als ›Athletiker‹77 auch aus dem Kontext der poetologischen Debatten der 1920er Jahre zu verstehen. Der literaturkritische und -programmatische Kampfbegriff der Männlichkeit – das bezeugen die Rezensionen, die Musils Roman erhielt – sollte nicht einfach den literarischen Kontrahenten überlassen werden. Sowohl die Männlichkeitsbescheinigungen der Literaturkritik als auch Ulrichs eigene ›hypertrophe Virilität‹ lassen sich damit geradeso als Symptom eines Krisenbewusstseins der Männlichkeit lesen wie die traurige Gestalt, welche die anderen Männer im Mann ohne Eigenschaften abgeben. Der mit Musil befreundete Béla Balázs machte in seiner Replik auf Pinthus’ Artikel denn auch klar, dass Reportagen, die lediglich das greifbar Wirkliche reproduzieren wollten, seinem Männlichkeitsverständnis diametral entgegenstünden. Unter dem Titel Männlich oder kriegsblind? bestand er darauf, dass männlich zu schreiben nur heißen könne, ›den Tatsachen‹ analytisch nachzuspüren, sie geistig zu differenzieren und ›bohrend‹ in schwer zugängliches psychisches Gebiet vorzustoßen. So oder ähnlich erscheint in Musils Roman eine Ausweitung der »harten, nüchternen, geistigen Kraft« des wissenschaftlich-analytischen Denkens auf die ›Fragen der Seele‹ und des ›anderen Zustands‹ als »zukunftsträchtige[ ]« männliche Herausforderung, als Sendung einer »Rasse geistiger Eroberer« (MoE, S. 46). Für den in der »harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre« der Mathematik sachverständigen Ulrich hat dieser Zustand »nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen brauchte« (MoE, S. 39 u. 688). Im Gegenteil: Indem der Romanprotagonist den ›dark continent‹ dieser »weiblichen Erlebensweise« auszuleuchten versucht (MoE, S. 688), macht er sich hinter eines der für Musil dringendsten Probleme der Zeit. »Über die Tatsachen sich und Andern Gedanken zu machen«, schrieb Balázs in seinem Aufsatz, »da beginnt
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Pinthus: Männliche Literatur (s. Anm. 72), S. 903, 907 u. 910. Nur gut einen Monat vor Pinthus’ Männliche Literatur erschien darin z. B. Musils Protestschrift gegen die unautorisierte Berliner Urraufführung der Schwärmer: Robert Musil: Der Schwärmerskandal, in: Das Tagebuch 10 (1929), H. 16, S. 648–651. Vgl. Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. Berlin 1921, S. 17 f.
Ein Autor von ›hypertropher Virilität‹
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die Männlichkeit, die wir meinen«.78 Die in diesem Sinn ›gedankenlosen‹ »Berichte« neusachlicher Literaten hingegen minderte er ihrerseits zu baren Dokumenten der »seelischen Müdigkeit«, des ›Kuschens‹ und der »Impotenz« herab: zu einer »Literatur von Krüppeln«.79
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Béla Balázs: Männlich oder kriegsblind?, in: Die Weltbühne 25 (1929), H. 26, S. 969–971, hier S. 970; Hervorhebung U. B. Balázs: Männlich oder kriegsblind? (s. Anm. 78), S. 969 f.
Nicole Streitler-Kastberger
Etho-Ästheten Musil und einige Kritikerzeitgenossen Abstract: The following essay focuses on Musil as a critic amongst a field of critics of his time, all bound by the same interest in the »ethics« of literature and theatre, and, thus, also in the »ethics« of criticism. The »etho-aesthetes«, as Musil called them, worked for similar newspapers and magazines and were mostly familiar with each other and their work. Besides critical »subjectivism«, »aestheticism«, »descriptive objectivity« and the »politicization« of critique, they form in the early 1920s a separate field of criticism, interested in and influential for both literature and social development. Their interest in the ethics of aesthetics seems to coincide with contemporary philosophical reflections on ethics within the »Wiener Kreis«, »philosophical anthropology« and »Neukantianismus«. Therefore they are, on a larger scale, part of the ethical discourse of the time.
Wäre jemand imstande, ein Buch über Ethik zu schreiben, das wirklich ein Buch über Ethik wäre, so würde dieses Buch mit einem Knall sämtliche anderen Bücher auf der Welt vernichten.1 Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik (ca. 1929/30)
Der folgende Aufsatz versucht, die Arbeit Musils als Literatur- und Theaterkritiker kritikgeschichtlich in einem Feld ähnlich gesinnter Kritiker und diskursgeschichtlich in einem größeren diskursiven Feld zu verorten. Dabei kommt, wie gezeigt werden wird, dem Konzept des »Ethischen« bei allen diesen Kritikern eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Im Rahmen einer diskursanalytischen Untersuchung, die sich vor allem mit den Termini und Kriterien des Urteilens beschäftigt, wird versucht, die Spuren dieses Ethischen bei den »Etho-Ästheten«2 , wie Musil sie einmal nannte, ausfindig zu machen. Die vergleichende Analyse der Kritiker Robert Musil, Alfred Kerr, Alfred Polgar, Franz Blei, Hermann Broch, Efraim Frisch und Moritz Heimann geht dabei über die bereits in meinem Buch Musil als Kritiker auf1 2
Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik, in: ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hg. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1989, S. 9–19, hier S. 13. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Dramatische Fragmente/Tempora Maier und ihre Zeitgenossen/3.
Etho-Ästheten
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gestellte These ihrer Verwandtschaft3 insofern hinaus, als hier nicht nur, im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes, ihre theoretische Basis dargestellt, sondern darüberhinausgehend, im zweiten Abschnitt, auch ihre kritische Praxis beleuchtet wird. In einem dritten und abschließenden Teil wird versucht, das solcherart beschriebene kritische Feld als Teil eines gesellschaftlichen EthikDiskurses zu begreifen, der seinen Ausgang in der zeitgenössischen Philosophie nimmt.
1. Ethik und Kritik – Theorie Kaum eine Epoche der Literaturkritik ist durch eine solche Diversität der kritischen Positionen und Kriterien gekennzeichnet wie die Zeit zwischen der Reichsgründung 1871 und 1933. Die für meinen Aufsatz entscheidende Phase, diejenige zwischen 1918 und 1933, gemeinhin als die Epoche der Weimarer Republik bzw. der Ersten Republik in Österreich bezeichnet, verschärft das »Nebeneinander höchst unterschiedlicher literarischer Richtungen und Tendenzen« und »kritischer Strategien und Werthierarchien«4 noch: Eine positivistisch beeinflusste »deskriptive Objektivität«,5 wie sie Otto Brahm und der frühe Alfred Kerr gepflogen hatten, gehörte zum Standard weiter Teile der Kritik; daneben kam aber auch der »Subjektivierung«6 und »Ästhetisierung«7 der Kritik, wie sie Hermann Bahr und der bereits genannte Alfred Kerr populär machten, eine bedeutende Rolle zu; die »Politisierung«8 der Kritik, wie sie etwa bei Franz Mehring, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Alfred Döblin und beim späten Kerr sowie in der völkischen Kritik (etwa bei Bartels) beobachtbar ist, verschärfte nicht nur den Ton in der Kritik, sondern führte zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit in der Kritik. Wie man bereits an diesen einleitenden Zeilen ablesen kann, vermochte Alfred Kerr alle diese kritischen Strömungen in seiner Person zu vereinen. Darüber hinaus kann man ihn aber auch als Teil einer Gruppe von Kritikern sehen, die unter den Begriffen »Ethische Kritik« oder »Ethisierung« der Kritik zusammengefasst werden könnte.9 Dazu sind vor allem folgende Kritiker zu zählen: Robert Musil, Alfred Kerr, Alfred Polgar, Franz Blei, 3 4 5
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Vgl. Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12), S. 143–154, insbes. S. 144. Streitler: Musil als Kritiker (s. Anm. 3), S. 143. Russell A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980). Stuttgart 1985, S. 205–274, hier S. 226. Berman: Literaturkritik (s. Anm. 5), S. 210. Berman: Literaturkritik (s. Anm. 5), S. 227. Berman: Literaturkritik (s. Anm. 5), S. 230. Vgl. Streitler: Musil als Kritiker (s. Anm. 3), S. 143–154.
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Nicole Streitler-Kastberger
Hermann Broch, Moritz Heimann, der Lektor des S. Fischer Verlags und Beiträger der Neuen Rundschau, der Weltbühne und der Zeit, und Efraim Frisch, der Herausgeber des Neuen Merkur. Für Letzteren hat Musil bekanntlich in den Jahren 1922–1925 ein paar seiner wichtigsten theaterkritischen Essays geschrieben: die Reihe Symptomen-Theater I und II und Der »Untergang« des Theaters – ursprünglich als Symptomen-Theater III geplant – sowie den filmkritischen und allgemein poetologischen Essay Ansätze zu neuer Ästhetik, der ausgehend von Béla Balázs’ Filmtheorie Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924) nach einer »neuen Ästhetik« sucht. Ethische Kritik, als »Ethical Criticism« seit einigen Jahren im Journal of Literary Theory aufs Heftigste diskutiert,10 meint dabei kein Programm zur behutsamen Behandlung von Literatur und Autoren, obwohl eine solche »Behutsamkeit«11 das Gros der hier besprochenen Kritiker auszeichnet, sondern eine Kritik, die Literatur an ethischen Gesichtspunkten misst, und damit sind sittlich-moralische im engeren Sinne, aber auch lebenspraktische Kriterien im weiteren Sinne gemeint. Eine solche Kritik operiert vor allem mit folgenden Kategorien und Begriffen: Zeitgemäßheit oder Aktualität – nur was zeitgemäß oder avanciert ist, kann ethisch relevant sein – und zwar in puncto menschlicher Bedeutsamkeit (wobei hier immer wieder der Begriff »Mensch« oder das »Menschliche« zum Einsatz kommt und dem vermeintlich antiquierten Begriff der »Seele« eine wichtige Rolle zufällt) und in puncto moralischer Relevanz (wobei hierzu nicht nur der Begriff »Moral«, sondern auch Begriffe wie »Idee« und »Geist« zu zählen sind). Bei Kerr liest sich das folgendermaßen: »Die Kunst vom Menschen ist ja das Wichtigste« und »Heutigen die Kunst vom heutigen Menschen«.12 Wie bei Musil kommt auch bei ihm dem Begriff der »Lebensangelegenheit«13 deshalb eine entscheidende Bedeutung zu: »Keine Bühnenkunst mehr: sondern eine Lebensangelegenheit«,14 schreibt er 1908 über Ibsens John Gabriel Borkman. Musil lobt in ähnlicher Weise im Nachwort zum Moskauer Künstlertheater von 1921, dass das Theater der Moskauer keine Kunst im Sinne von Künstlichkeit, sondern eine »Lebensangelegenheit«15 sei. Die Ablehnung der »Bühnenkunst« eines Max Reinhardt durch Kerr und Musil ist wesentlich so zu verstehen, als Ablehnung einer zu stark am »Formalen« und »Theatralischen« und nicht so sehr am »Menschlichen« interessierten 10
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Vgl. das Journal of Literary Criticism Nr. 4/1 u. 2 (2010), 5/1 (2011) u. 6/2 (2012), insbes.: Marshall W. Gregory: Redefining Ethical Criticism. The Old vs. the New, in: Journal of Literary Criticism 4 (2010), H. 1, S. 273–301. Joseph Roth: »Handbuch des Kritikers«, in: Das Neue Tage-Buch 6 (15. 1. 1938), H. 3, S. 70. Alfred Kerr: Belanglosigkeit der Kunst, in: ders.: Der Ewigkeitszug. Berlin 1917 (= Gesammelte Schriften in 2 Reihen. Reihe 1, Bd. 2), S. 1–17, hier S. 6. Kerr: Belanglosigkeit (s. Anm. 12), S. 2. Kerr: Belanglosigkeit (s. Anm. 12), S. 2. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Nachwort zum Moskauer Künstlertheater.
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Regiekunst.16 Musil definiert deshalb auch die Aufgabe des Dichters folgendermaßen: Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.17
Der Kritiker hat folglich genau diesen »lockende[n] Vorbilder[n], wie man Mensch sein kann«, nachzuspüren, denn um sie geht es ganz zentral, sie gilt es herauszudestillieren und in den gesellschaftlichen Stoffwechsel einzuspeisen. Im Mann ohne Eigenschaften wird Musil später schreiben, dass die einzige Frage, die das Denken wirklich lohne, die Frage des »rechten Lebens«18 sei; eine Formulierung, die sich in fast identischer Form in Wittgensteins Vortrag über Ethik findet, wo er schreibt, dass es in der Ethik darum gehe, »zu erforschen, welches die rechte Art zu leben ist.«19 Musils Frage nach dem rechten Leben ist also eine ethische Frage. Sie bildet letztlich den Fokus seines großen Romans,20 steht aber, wie zu zeigen sein wird, bereits in den Literatur- und Theaterkritiken der frühen und mittleren 20er Jahre im Zentrum seines Interesses.21 Auch bei Kerr finden sich ähnliche Formulierungen. So spricht er vom »Kampf um eine kühne vernünftige Menschenordnung«,22 den in seinem etwas übersteigerten Selbstverständnis eher der Kritiker als der Autor auszufechten hat. Der Kritiker habe »[f]estzustellen, was vom Theater über das Theater hinausging«,23 er habe »Ethiker«24 zu sein. Aufgrund mangelnder Aktualität verreißt Polgar 1908, also im Jahr von Kerrs Borkman-Kritik, Ibsens Nora: Die Komödie der femme incomprise ist von dem seitherigen Wandel in Begriffen und Anschauungen hart mitgenommen worden. Ihr Ernst hat Schaden gelitten. Ihr 16 17 18 19 20
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Vgl. Streitler: Musil als Kritiker (s. Anm. 3), S. 145. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Skizze der Erkenntnis des Dichters/167; Hervorhebung im Original. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/407. Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 11. Vgl. Mathias Mayer: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. München 2010 (= Ethik – Text – Kultur, Bd. 4), insbes. S. 237–254, u. ders.: Der Epilog als Signatur – eine ethische Perspektive auf Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik. Unter Mitarbeit v. Björn Schäffer u. Claudia Röser. München 2009 (= Ethik – Text – Kultur, Bd. 1), S. 145–157. Den Hinweis auf diese beiden Arbeiten verdanke ich Harald Gschwandtner. Vgl. dazu Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999 (= Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft), S. 186 f. Alfred Kerr: Einleitung zu den Gesammelten Schriften, in: ders.: Das neue Drama. Berlin 1917 (= Gesammelte Schriften in 2 Reihen. Reihe 1, Bd. 1), S. V– XXII, hier S. XV . Kerr: Belanglosigkeit (s. Anm. 12), S. 1. Alfred Kerr: Vorwort zum ersten Band, in: ders.: Das neue Drama (s. Anm. 22), S. 7–15, hier S. 13.
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Pathos ist brüchig geworden. Die feierliche Schlußabrechnung, die ganze großartige Argumentation der unverstandenen Frau hat einen Schimmel von Lächerlichkeit angesetzt.25
Was nicht mehr zeitgemäß ist, ist vom Standpunkt der ethischen Kunstkritik bedenklich, sind ihm doch keine relevanten »[m]enschologische[n] Merkwürdigkeiten«26 und damit keine »Vorbilder, wie man Mensch sein kann«,27 ablesbar. Immer wieder versucht Polgar wie Musil, die einzelne »ungewöhnlich[e] Erscheinun[g]«28 in ihrer Singularität zu erfassen, aber dennoch ihr Allgemeines oder Verallgemeinerbares herauszulösen. Dieses induktive klassifikatorische Verfahren beschreibt Hermann Broch in seinem Essay Der Theaterkritiker Polgar, wo er den Kritiker als »ins Leben vorgeschobene[n] Vorposten der Philosophie«29 bezeichnet. Vom kritischen »wir« schreibt er weiters: [J]enes »wir«, das der Träger des objektiv-philosophischen Urteils ist, kennt nur ein einziges Bindeglied zum realen Menschen und den Äußerungen seines »Lebens«: das ethische. Alle Philosophie geht in Ethik auf; das Phänomen des »Schönen« ist ihr ebensowenig Gehalt des Lebens wie das der »Natur«, sondern lediglich theoretisches Objekt zur Deduktion der ethischen Gesetzlichkeit. [. . .] Das »wir« als aufnehmendes Medium der Kunstwirkung kann daher niemals »ästhetisch«, sondern eben nur ethisch auf diese reagieren. Das kritische Urteil als Ergebnis dieser Reagenz ist niemals ein ästhetisches, sondern ausschließlich ein ethisches.30
Die Ethik des Kritikers sei aber »induktiv«, nicht »deduktiv«: »Der Kritiker ist kein Philosoph; er steht, wir sagten es, im ›Leben‹«.31 Der Kritiker sei »Sprachrohr der Idee und der Würde des Menschen« und »Träger des ethischen Gewissens«,32 weshalb er zu seinem »ethischen Amte ›Gesinnung‹«33 brauche. In Polgars Handbuch des Kritikers (1938) sieht Broch dieses Ideal erfüllt, es sei deshalb ein veritables »Handbüchlein der Moral«, »nicht nur 25
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31 32 33
Alfred Polgar: Nora, in: ders.: Theater II . Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1986 (= Kleine Schriften, Bd. VI), S. 75–78, hier S. 75. Alfred Polgar: Das Deutsche Volkstheater, in: ders.: Theater II (s. Anm. 25), S. 133–137, hier S. 133. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Skizze der Erkenntnis des Dichters/167. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Die heilige Johanna. Hermann Broch: Der Theaterkritiker Polgar, in: ders.: Schriften zur Literatur 1. Kritik. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1975 (= Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1), S. 49–52, hier S. 50. Hermann Broch: Der Kunstkritiker, in: ders.: Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1975 (= Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/2), S. 36–42, hier S. 39 f. Broch: Der Kunstkritiker (s. Anm. 30), S. 40. Broch: Der Kunstkritiker (s. Anm. 30), S. 40. Broch: Der Kunstkritiker (s. Anm. 30), S. 40.
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der künstlerischen, sondern weit darüber hinaus der menschlichen schlechthin«.34 Auch Moritz Heimann und Efraim Frisch betreiben Kritik als »Auslegung der Literatur in lebenspraktischer Hinsicht«, wie Gert Mattenklott das einmal formuliert hat.35 Ergebnis dieser Auslegung sei immer wieder eine »Philosophie des à propos, deren Übereinstimmung mit allgemeinen Tendenzen des Zeitalters [. . .] offensichtlich« sei.36 In seiner Rezension des zweiten Bandes von Musils Mann ohne Eigenschaften, unter dem Titel Moralische Kristallbildung am 6. April 1933 in der Frankfurter Zeitung erschienen, interessiert Frisch vor allem die »moralisch[e] Kultur« des Romans, »im weiteren Sinne von moeurs, im engeren ihrer ethischen Voraussetzungen und Möglichkeiten«.37 Der Leser werde »Zeuge und Teilnehmer eines Kristallisationsprozesses, eines moralischen Werdens«.38 Generell versuche Frisch, so Mattenklott, in der Kritik, die jeweiligen »Minima Moralia« aus den literarischen Werken abzulesen »im Sinn von Weisheiten lebenspraktischer Ethik«.39 Für Franz Blei schließlich liegt das Wesen der Kritik darin, »die sittliche Größe und Bedeutung«40 eines Kunstwerks zu beurteilen. Vom Dichter sagt er: Es gibt kein zeitloses Dichten, denn der Dichter lebt als ethisch höchst wertvoller Teil der menschlichen Gemeinschaft in und aus einer bestimmten Zeit in die Zeiten, nicht aus den Zeiten in seine Zeit. [. . .] Nur dieses Mit-Leben gibt dem Dichter den Wert, der als ethischer sein Tun mit anderm Tun vergleichen läßt. Es wird die sittliche Größe und Bedeutung des Werkes daran zu erkennen sein, bis zu welchem Umfang der Dichter seine erlebte und erlittene Umwelt zum Ausdruck bringt.41
Eine solche ethische Schwerpunktsetzung der Literatur und der Kritik überwindet den »Ästhetizismus« und »Subjektivismus« der Jahrhundertwende in einem gesamtgesellschaftlichen Konzept, wie dies bereits die Frühromantik formulierte,42 einem Konzept, das an der Wirksamkeit von Literatur und Kri34
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Hermann Broch: Alfred Polgar: »Handbuch des Kritikers«, in: ders.: Philosophische Schriften 1. Kritik. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1977 (= Kommentierte Werkausgabe, Bd. 10/1), S. 269–270, hier S. 270. Gert Mattenklott: Literarische Kritik im Kontext deutscher Judaica, in: Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik zwischen Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposium. Stuttgart 1990 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände, Bd. 12), S. 87–97, hier S. 96. Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 91. Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 95. Efraim Frisch: Moralische Kristallbildung, in: ders.: Zum Verständnis des Geistigen. Hg. u. eingeleitet v. Guy Stern. Heidelberg, Darmstadt 1963, S. 130–134, hier S. 133. Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 96. Franz Blei: Marginalien zur Literatur, in: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan. Eingeleitet u. ausgewählt v. Ernst Schönwiese. Graz, Wien 1965 (= Stiasny-Bücherei, Bd. 154), S. 98–105, hier S. 99. Blei: Marginalien zur Literatur (s. Anm. 40), S. 99. Vgl. etwa Bernhard Fetz: Von ästhetischen Kramläden zum Kartell der Langeweile. Friedrich Schlegels Bedeutung für die aktuelle Literaturkritik, in: Wendelin Schmidt-Dengler,
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tik festhält, oder, um es mit Polgar zu sagen: Es zeigt sich ein bedeutender kritikgeschichtlicher Wandel darin, »daß heute einer, der bemerkt werden will, doch schon etwas sagen muß und nicht mehr damit auskommt, in einer süß-verringelten Manier nichts zu sagen«.43 Polgar erteilt damit dem ästhetisierenden Subjektivismus eine klare Absage. Musil geht demgegenüber noch einen Schritt weiter, indem er der Kritik ein dezidiert ethisches Programm verordnet. In äußerst plakativer Weise formuliert er dieses im Tagebuch: Wenn die Kritiker gegenüber den Gestalten eines Buchs und dem Dichter sich bloß fragen würden, was sind das für Menschen? Einfach neue Exemplare der Gattung Mensch registrieren wollten, statt sich mit Kunstgesetzen abzugeben, die sie nicht verstehen. Sie würden nicht nur in den meisten Fällen das Gescheiteste sagen, was sich überhaupt über ein Dichtwerk sagen läßt, sondern sie würden auch das ersehnte Wunder vollbringen (wenigstens wird sein Ausbleiben immer wieder beklagt) die Dichtung mit der Menschheit zu vereinen, sie aus ihrer Isolation hereinzuholen in die warme Mitte. (Tb I, S. 451)
»[N]eue Exemplare der Gattung Mensch [zu] registrieren«, wäre also laut Musil die lohnendste Aufgabe der Kritik. Die Ähnlichkeit zu der weiter oben zitierten Passage über die »lockende[n] Vorbilder, wie man Mensch sein kann«,44 ist augenscheinlich. Dass die Ethisierung der Kritik nicht irgendeiner Form von moralischer Norm oder Normalzustand huldigt, ist damit evident. Vielmehr geht es ihr darum, induktiv aus der Literatur eine neue Ethik, und das heißt nichts anderes als neue Formen des Menschseins, »neue Exemplare der Gattung Mensch« herauszudestillieren. Das solcherart von Musil formulierte Programm geht in die Richtung eines »inductive ethos«,45 einer induktiven Ethik im Broch’schen Sinne, die auf der Empirie und dem individuellen emotionalen oder ethischen Erlebnis fußt. Eine solche induktive Ethik, die auch pragmatische Aspekte begreift, führt über den ›anderen Zustand‹ hinaus hin zu einer alltagstauglichen Ethik und will der heterogenen Gesellschaft der Moderne »a psychotechnology of the collectives«46 und »coordinates for individual and collective experience«47 an die Hand geben. Eine derartige Rückbindung der Ethik an die Empirie und die Psychologie nimmt einige Jahre später auch Moritz Schlick in seinen Fragen der Ethik
43
44 45 46
47
Nicole Katja Streitler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck, Wien 1999 (= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde, Bd. 7), S. 41–55. Alfred Polgar: Das Wiener Feuilleton, in: ders.: Literatur. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984 (= Kleine Schriften, Bd. IV), S. 200–205, hier S. 200. Vgl. Anm. 17. Patrizia C. McBride: The void of ethics. Robert Musil and the experience of modernity. Evanston 2006 (= Avant-garde & modernism studies), S. 165 u. 166. Musil, zitiert bei McBride: The void of ethics (s. Anm. 45), S. 166. Vgl. auch KA/Transkriptionen/Mappe II/8/233/II R Fr 26 7 u. 9. Musil spricht dort von der »Psychotechnik der Kollektive«. McBride: The void of ethics (s. Anm. 45), S. 166.
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(1930) vor, wenn er die Ethik als »rein psychologische Angelegenheit« und als »empirische Wissenschaft von den Gesetzen des Seelenlebens« bezeichnet.48 Dass durch dieses kritische Programm für Musil auch der gesellschaftliche Wert von Literatur, ihre Wirkung, gesichert scheint, macht es für ihn so reizvoll. Bei dem skizzierten Bild von der Auswertung der Literatur durch die Kritik, das er symptomatischerweise in eine Metapher verpackt, handelt es sich indes zweifellos um eine Idealvorstellung. Ob Musil – und mit ihm die anderen »Etho-Ästheten« – dieses Programm in den eigenen Kritiken zu realisieren imstande sind, gilt es im Folgenden zu untersuchen.
2. Ethik und Kritik – Praxis Wenn Musil gleich im Eröffnungssatz seiner Theaterkritik zu Ibsens Baumeister Solness vom 28. November 1923 schreibt: »Der Zauber dieses Stückes war – vor 25 Jahren!«49 , so scheint damit bereits alles gesagt zu sein. Das, was Ibsen mit seinem Stück vermittle, nämlich das »Recht starker, freier Menschen«, würden die »Mädeln« heute schon in den »Schwarzwald-Schulen«50 lernen. Und deshalb lautet Musils Fazit: »Die große Probe auf die Ideenbeständigkeit – die etwa Goethes Stella heute noch lebendig sein läßt, obgleich die Zeit der Empfindsamkeit, der sie entsprang, längst tot ist – hat Ibsens Stück nicht bestanden.«51 Mit dem Begriff der »Ideenbeständigkeit« meint Musil nichts anderes als die ethische Bedeutsamkeit des Stückes für die Zeitgenossen. Und die sieht er im Fall des Solness nicht mehr gegeben. Was aber für Musil bleibt, ist der »Theaterpfiffikus Ibsen, der Beobachter des vertrackten Lebens, der große Meister des unerbittlichen Beieinanders von Glück und Unglück, Größe und Schwäche im Leben.«52 Alfred Kerr hatte den Solness schon 1915 anlässlich seiner Inszenierung am Berliner Lessing-Theater besprochen. An Ibsens Drama hat er nichts auszusetzen, er sieht darin sogar »elf Dramen«, nicht nur eines, und in Ibsen den »hohen Genius aus dem Eisschrank«.53 An Albert Bassermann aber, der den Solness 1915 in Berlin spielte – also acht Jahre bevor er ihn in Wien gab –, kritisiert er einiges:
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Moritz Schlick: Fragen der Ethik. Hg. u. eingeleitet v. Rainer Hegselmann. Frankfurt a. M. 1984, S. 47–201, hier S. 73. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Bassermann. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Bassermann. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Bassermann. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Bassermann. Alfred Kerr: Baumeister Solness, in: ders.: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Hg. v. Hugo Fetting. Berlin (Ost) 1982, S. 121–126, hier S. 124.
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[I]ch habe das schaurige Gefühl, daß es lebensecht, voll stärkster Täuschungskraft und doch nur mit Gebärde, Wort, mit gespenstig seelenloser Beseelung dahinzieht. Das ist ein Toter, der jemand eine Maske weggenommen hat. Ein Puppenbold. Ein Automat . . . der sich mit ungeheurem Fleiße täglich selber aufzieht: um als ein Mensch zu gelten. Das alles, was er spricht, ist ja nicht wahr! Weg mit der Komödie. Zurück ins Grab. Du rührst mich nicht.54
Was der Dichter in den Augen Kerrs leistet – und er steht hier sichtlich noch unter dem Einfluss einer Zeit, als Otto Brahm und er Ibsen in Deutschland salonfähig machten –, gelingt dem Schauspieler nicht. Ihm fehle gewissermaßen die ethische Durchdringung der Figur, er spiele sie nur ›herunter‹, um es kolloquial zu sagen, und könne damit den Zuschauer nicht wirklich ergreifen. Musil sieht das acht Jahre später anders: Bassermann verzichte darauf, »das Alpenvereinswunder des Baumeisters zu gestalten«, er stelle »einen Menschen dar, einfach einen Menschen der bürgerlichen Mitte. Zwischen Heiterkeit und Beklemmung, Kraft und Hemmung, Gesundheit und Einbildung, Güte und Größe. Er stellt ihn prachtvoll hin, aus einem Guß, ohne Risse; manchmal (vielleicht) ein wenig gerissen.«55 Auch Kerrs Haltung zu Ibsen wird sich in den folgenden Jahren ändern, deutlich in einer Besprechung der Gespenster im Berliner Staatstheater vom 3. April 1928, wo für ihn, wie für Musil, das Kriterium der Aktualität nicht erfüllt ist: Sterblich ist Ibsens Baugrund. Die Gattinnen der Alvings brauchen sich heute nicht erst durchzukämpfen. Nicht erst Selbstverständliches »trotzig« zu erringen . . . Sterblich ist, auf diesem Baugrund, Ibsens Bauart: dies langsam sich Entwickelnde. Die schleichende Genauigkeit. Wir haben keine Muße dafür.56
Was die Gattinnen der Alvings noch trotzig erringen mussten, lernen die Mädeln heute schon in den Schwarzwald-Schulen, könnte man mit Musil sagen. Und ähnlich wie dieser folgert auch Kerr, dass der »Theaterpfiffikus Ibsen«, trotz der inhaltlichen Unzeitgemäßheit seines Stückes, bleibt, wenn er schreibt: [H]ier steht im Technischen ein Kerl, vereinzelter Gipfel im Weltdrama, welcher ungefähr wie Johann Sebastian Bach in der Weltmusik fabelhafteste Verknüpfungen, tiefinnen spät merkbare Knotungen, Beziehungen, Unterfäden wunderhaltig aufweist.57
Und Kerr folgert: »Ja, wir kommen von Bach los: die Musik niemals. Wir kommen von Ibsen los: das Drama niemals.«58 Was bleibt, ist die technische Meisterschaft, die Ideen erweisen sich jedoch als veraltet, weshalb Kerr auch 54 55 56 57 58
Kerr: Baumeister Solness (s. Anm. 53), S. 125. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Bassermann. Alfred Kerr: Gespenster, in: ders.: Mit Schleuder und Harfe (s. Anm. 53), S. 410–413, hier S. 412. Kerr: Gespenster (s. Anm. 56), S. 412. Kerr: Gespenster (s. Anm. 56), S. 412.
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einmal, in betont ästhetisierender Manier, ausruft: »Alter Henrik!«, und an anderer Stelle spricht er sogar vom »Totenfest für den Johann Henrik Bach«,59 womit freilich niemand anderer als Ibsen gemeint ist. Alfred Polgar kommentiert in seinen Kritiken eine ganze Ibsen-Aufführungsserie im Berlin des Jahres 1908, wieder mit Albert Bassermann in den männlichen Hauptrollen, und notiert zur Gespenster-Inszenierung: »Ibsen hält gern der Moral Moralpredigten und ruft die Ordnung zur Ordnung. Hier aber, in den ›Gespenstern‹, hat sein Grimm eine finstere Ruhe, eine asketische Spruchkargheit, die durchaus groß wirken.«60 Es ist die ethische Seite der Dichtung, die das Interesse des Kritikers weckt: die Moralpredigten und die Ordnungsrufe. Doch sieht er Ibsens Stärke in den Gespenstern gerade nicht in solchen plakativen Gesten, sondern in einer düsteren, geheimnisvoll stillen Atmosphäre, in der solche allzu lauten sittlichen Bekehrungsgesten nur den schaurigen Hintergrund abgeben: »Gesetz und Pflicht, hochaufgerichtete Totenkreuze, blicken drohend, lebensverneinend herüber«.61 Freilich klingt in diesen Worten auch eine Kritik an einer solchen »Obrigkeitsmoral«62 durch, dennoch scheint für Polgar an Ibsen zu diesem Zeitpunkt noch kein Weg vorbeizuführen. Bemerkenswert ist, was er am Volksfeind, wo bekanntlich ein Guter gegen ein Kollektiv von Schlechten kämpft, über das Theaterpublikum vermerkt: »Theaterpublikum empfindet, so erstaunlich das ist, durchaus amoralisch-ästhetisch. Wenn es nur von der Mathematik eines Dramas befriedigt wird, läßt es sich von der Psychologie des Dramas ruhig beleidigen«.63 Anders, so darf man folgern, der Kritiker: Er empfindet vor allem ethisch, und wenn die Moral eines Stückes ihn beleidigt, kann auch seine Ästhetik ihn nicht wirklich befriedigen. Am Beispiel einiger expressionistischer Autoren führen Kritiker wie Kerr oder Musil vor, wie ein Mangel an Geist gewissermaßen einen ethischen Mangel darstellt, denn was vom ideellen Standpunkt nicht überzeugt, kann auch in ›lebenspraktischer Hinsicht‹ nicht fruchtbar gemacht werden. Alfred Kerr bespricht Georg Kaisers Gas bereits am 27. Februar 1919 anlässlich seiner Erstaufführung an der Berliner Volksbühne. Die Verdikte beginnen schon im Eröffnungssatz, wieder in betont ästhetisierender Manier, wenn der Autor als »Dramenkaninchen« bezeichnet wird, »dessen Würfe häufig Blüffungen sind; manchmal Versuche, mehrstens Trickversuche«.64 Er bewege sich damit im »Geheg der Außenflächlichkeit«,65 was man getrost als Oberflächlich59 60 61 62 63 64 65
Kerr: Gespenster (s. Anm. 56), S. 413. Alfred Polgar: Gespenster, in: ders.: Theater II (s. Anm. 25), S. 78–80, hier S. 79. Polgar: Gespenster (s. Anm. 60), S. 79. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Wiener Theater. Alfred Polgar: Ein Volksfeind, in: ders.: Theater II (s. Anm. 25), S. 82–85, hier S. 82. Alfred Kerr: Kaiser: Gas, in: ders.: Mit Schleuder und Harfe (s. Anm. 53), S. 150–153, hier S. 150. Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 150.
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keit lesen kann. Was dabei herauskomme, sei etwa: »der ›Volksfeind‹ für den Zirkus«, »eine sehr veredelte Rummeldramatik« und »Vereinfältigung«.66 Kaisers Verdienst bestehe »in der Verpflanzung expressionistischer Lyrik auf die Rampe«,67 allerdings werde ein »großmassiger Aufwand für ein gewisses Wenig an Gedanken«68 betrieben. Das Fazit fällt dementsprechend vernichtend aus: Kaiser läßt kalt bis ans Herz hinan. Er gibt Nervenwirkungen. Nicht mal technisch überraschende Geistigkeit. Sondern Gebumms; eine Explosion, zwei Revolver, aufgefahrenes Maschinengewehr. Chorwirkungen ohne viel Inhalt. [. . .] Ja, der Verfasser ist reich an Einfällen, doch seine Einfälle sind nicht reich.69
Die »Inhaltsarmut«,70 die Kerr kritisiert, sei ein Mangel an Geist, ein Mangel an Idee, wie ihn auch Musil als zentrales Manko der Kaiser’schen Dramatik ansieht. Die Idee ist ersetzt durch »Einfälle«,71 »Ideen für ein Stück«, die Musil der wirklichen »Idee«72 entgegensetzt. Er kommt so in seiner Besprechung von Kaisers Gas vom 26. März 1924 zu dem Schluss: [D]ie Gedrängtheit ist die lang schon zu Formeln gewordener Worte, es findet sich nicht ein Gedanke in diesem Stück, der nicht aus der geistigen Konkursmasse unserer Literatur stammte. [. . .] Kaiser ist heute vielleicht der erste Dramatiker in Europa, Exponent der Zeit, dramatischer Journalist, Genie der Oberfläche, Stilführer, was man will, nur eines ist er nicht, wofür man ihn hält: der Dramatiker des Geistes.73
Das »Genie der Oberfläche« erinnert auffallend an Kerrs »Außenflächlichkeit«. Kaisers Dramatik sei »ein buntes Baun mit fertigen Geisteswürfelchen«, »eine große Allegorie der Zeitgedanken«.74 Wenn man weiß, welche Bedeutung dem Konzept der »Idee« innerhalb von Musils literarischem und kritischem Programm zukommt, wird klar, dass es sich bei dieser Kritik letztlich auch um eine Form der ethischen Kritik handelt, denn ein Mangel an Geist, an Idee ist für Musil letztlich ein Problem der Ethik, verführt dieser Mangel doch das Publikum zu einer geistigen Amoral, die sich mit einer gewissen Konventionalität des Denkens und der Moral begnügt und eben keine »lockende[n] Vorbilder« entwirft, »wie man Mensch sein kann«, geschweige denn, den »inneren Menschen erfinde[t]«.75 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 150. Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 152. Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 152. Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 153. Kerr: Gas (s. Anm. 64), S. 152. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Wiener Nachträge. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/»Spiegelmensch« von Franz Werfel. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Stücke aus der Zeit. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Stücke aus der Zeit. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Skizze der Erkenntnis des Dichters/167.
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In Musil und Kerr vergleichbarer Weise äußert sich auch Polgar zu Kaiser in einer kurzen Erwähnung seines Oktobertags im Rahmen einer Sammelbesprechung, erschienen am 13. Oktober 1928 im Tage-Buch. Die Figuren in dem »heißtuenden, frostigen Stück« seien wie »auf Draht gezogen«, sie redeten »wenn auch kein Papier, so doch Pergament«.76 Die Künstlichkeit der Kaiser’schen Dramatik ist für Polgar zudem antiquiert. Damit ist nicht nur das Kriterium der Aktualität nicht erfüllt, sondern auch das der menschlichen Bedeutung, die mit einer betonten Künstlichkeit nicht zu haben ist. Abschließend sei noch ein Blick auf Efraim Frisch und Moritz Heimann geworfen. In seiner Rezension des ersten Bandes des Mann ohne Eigenschaften spricht Efraim Frisch von der »geistig-seelischen Bilanz der Zeit«,77 die Musils Roman liefere, und legt damit den Schwerpunkt auf die beiden für Musils Hauptwerk so zentralen Kategorien »Geist« und »Seele«, die in seinem Verständnis auch und vor allem ethische Kategorien sind. Frisch spricht hier auch von den »lichten, unvergleichlichen Analysen«78 des Autors und von der »echten Aktualität«79 seines Romans. Dass Geist auch für ihn eine moralische Kategorie ist, zeigt sich in folgender Passage: »Die Strenge des Denkens bleibt der Wirklichkeit nichts schuldig, gibt vielmehr dem Werk den Stil des großen Sittenromans, die Klarheit eines Montaigneschen Essays.«80 Dass Musils Werk auch und vor allem ein »Sittenroman« ist, in dem Ethik und Reflexion sich zu einem untrennbaren Dritten vereinigen, vermag wohl niemand wirklich zu bestreiten. Frisch nimmt damit bereits eine gattungstypologische Einordnung des Mann ohne Eigenschaften vor, die die Literaturwissenschaft erst in den letzten Jahren verstärkt aufgegriffen hat.81 Auch wenn Frisch vom »mystischen Feuer« spricht, mit dem die »disziplinierte Geisteskraft« und der »überlegene Verstand«, die bei Musil »am Werk« seien, »geschmiedet und gestählt«82 würden, bringt er den Roman in Zusammenhang mit ethischen Aspekten. Bei Musil fühle man, »aus welchen Tiefen das gesunkene Humane erst wieder heraufgeholt werden müsste, um wieder Tat zu wirken«,83 schreibt der Kritiker weiters 76 77 78 79 80 81
82 83
Alfred Polgar: Summarischer Bericht – Aus einem Brief, in: ders.: Theater II (s. Anm. 25), S. 240–245, hier S. 241. Efraim Frisch: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Zum Verständnis des Geistigen (s. Anm. 38), S. 126–130, hier S. 126. Frisch: Der MoE (s. Anm. 77), S. 127. Frisch: Der MoE (s. Anm. 77), S. 129. Frisch: Der MoE (s. Anm. 77), S. 129. Symptomatisch dafür ist das Interesse für ethische Aspekte im Mann ohne Eigenschaften in den Arbeiten von Werner Ego: Abschied von der Moral. Eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils. Freiburg i. Br. 1992 (= Studien zur theologischen Ethik, Bd. 40), Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen (s. Anm. 21) , Patrizia C. McBride: The void of ethics (s. Anm. 45) u. Mathias Mayer: Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik (s. Anm. 20) sowie ders.: Der Epilog als Signatur (s. Anm. 20). Frisch: Der MoE (s. Anm. 77), S. 129. Frisch: Der MoE (s. Anm. 77), S. 129.
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und legt den Akzent damit neuerlich auf den ethischen Gehalt des Romans. In seiner Rezension des zweiten Bandes des Mann ohne Eigenschaften interessiert Frisch vor allem die »moralisch[e] Kultur«84 des Romans: Der Weg Ulrichs, der in mancherlei Kurven zur Höhe führt, steht unter der doppelten Kontrolle eines in straffster, wissenschaftlicher Disziplin erzogenen Geistes, einer kühnen Schau- und äußerst verfeinerten Empfindungsfähigkeit, die allen dunklen Gewalten aus dem Bereich der Seele erschlossen ist, aber kraftvoll genug, um ihnen unbefangen zu begegnen.85
Frisch weist damit neuerlich auf das Zusammenspiel von »Geist«, »Seele« und »Gefühl« in Musils Roman, auch und vor allem in seiner Darstellung, hin und bestätigt dem Autor den Rang eines »Dichters«.86 Die »Begegnung mit der Schwester« werde für Ulrich zu »einem moralischen Abenteuer von größter Bedeutung und höchster Spannung«.87 Das Zusammenleben der beiden Geschwister bezeichnet Frisch auch als eine »geistige und moralische Schwebelage von äußerster Gefährdung«.88 Musils Werk schreibt er aber die Fähigkeit zu, »menschliches Denken und Fühlen mit dem größten Wirkungsgrad wieder aktiv zu machen« und somit »ein neues Humanes zu begründen«.89 Es gehöre »viel Mut dazu«, die »Frage nach der menschlichen Aktivität als moralische Frage zu stellen, sie neu zu stellen, wie Musil es tu[e]«.90 Sein Roman gebe dem aufmerksamen Leser ein leichtes schwingendes Gefühl, als lerne er mühelos eine neue Sprache verstehen, aus der sich ihm allmählich das vertraute und doch so widerspruchsvolle Bild des Menschen und der Welt zu einer neuen Ordnung zusammenschließen will.91
»[N]eue Sprache«, »neue Ordnung«: Musil erfüllt damit in Frischs Augen seinen eigenen dichterischen Anspruch: »neue Exemplare der Gattung Mensch [zu] registrieren« (Tb I, S. 451). Fasst man Frischs Kriterien zusammen, so könnte man sagen, dass er Musils Roman nach den Begriffen »Verstand«, »Gefühl«, »Ethik« und »Humanität« beurteilt. Dass dies Begriffe sind, die Musils Werk wesentlich prägen, zeigt, dass Frischs Kritik, wie Broch dies gefordert hatte, ›induktiv‹ verfährt.92 Allen diesen Kriterien, die, wie dargelegt wurde, ethisch zu verstehen sind, scheint Musils Roman vorbildlich zu genügen. 84 85 86 87 88 89 90 91 92
Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 95. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 131. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 131. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 132. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 132. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 133. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 133. Frisch: Moralische Kristallbildung (s. Anm. 38), S. 133. Vgl. Broch: Der Kunstkritiker (s. Anm. 30), S. 40.
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Es sei nun noch kurz auf Moritz Heimanns kritisches Werk fokussiert. Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt empfindet er nicht als »tot«, auch wenn ihm deutlich der Stempel »von 1893«93 anhafte. Seine Figuren hätten nämlich jene Form von »Einmaligkeit«,94 die sie über landläufige dichterische Figuren erhebe, »etwas Platonisches«, eine »Identität von Urbild und Person«.95 Damit setzt Heimann das Kriterium der Aktualität zugunsten einer Vorstellung von Überzeitlichkeit zurück. Die Großartigkeit Hauptmanns sieht er aber gerade darin, dass er in der Darstellung des Sterbens der jungen Hannele über den »Sprach- und Vorstellungskreis eines armen Dorfmädchens«96 hinausgehe. Darin deute sich nicht »Inkonsequenz« an, sondern ein »weise angewandtes Mittel«, um eine »jenseitige Welt aufstrahlen zu lassen«, die damit objektiv »vorhanden«97 sei. Während gemäß psychologischer Wahrscheinlichkeit die Wahrnehmung des Menschen im Zustand des Sterbens allmählich nachlassen müsste, lässt sie bei Hannele nicht nach, sondern »blüht und glüht immer entzückungsvoller dem letzten Augenblick zu«.98 Damit habe Hauptmann aber eine genuine Antwort auf die existenzielle und ethische Frage »Wie stirbt ein Mensch?« gegeben, eine dichterische Antwort: »Die Seele ist wirklich in den wirklichen Himmel gefahren«.99 In seinem Essay Ein Dichter – ein Seher. Gerhart Hauptmann zu Ehren bringt Heimann Hauptmanns dichterisches Verfahren auf den Punkt, wenn er schreibt: Amoralität ist nur gegenüber der ganzen Welt erlaubt; aber hingegen ist der einzelnen Lebenserscheinung ohne moralische Wertung nicht Herr zu werden. Wagt dennoch ein Dichter diese eines epikurischen Gottes würdige Vermessenheit, so muß das Kunstwerk entweder innerlich unvollendet bleiben, oder es berauscht, betrügt sich künstlich von seinem Partikulären ins Totale hinüber. Hauptmann ist etwas von einem epikurischen Gott, sogar sich selbst gegenüber; und vielleicht ist das besondere Soziale an seinem Drama, das Gewebte, das Komplexe, im allerletzten ein Mittel, dem Moralischen zu entgehen.100
Auch »dem Moralischen zu entgehen«, ist eine Form der Moralität, selbst wenn sie sich in diesem Fall ex negativo definiert. Dass Heimann hier erneut den Schwerpunkt seiner kritischen Beurteilung auf Fragen der Moral oder Amoral legt, scheint symptomatisch. Obwohl die Betrachtung der Kritiken Heimanns notgedrungen kurz ausfällt, kann man doch anhand der beiden Texte zu Hauptmann feststellen, dass auch bei ihm ethische Begriffe wie »Mo93
Moritz Heimann: »Hanneles Himmelfahrt«, in: ders.: Kritische Schriften. Ausgewählt, eingeleitet u. erläutert v. Helmut Prang. Zürich, Stuttgart 1969, S. 48–51, hier S. 48. 94 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 48. 95 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 49. 96 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 49. 97 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 49; Hervorhebung im Original. 98 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 50. 99 Heimann: »Hanneles Himmelfahrt« (s. Anm. 93), S. 50. 100 Moritz Heimann: Ein Dichter – ein Seher. Gerhart Hauptmann zu Ehren, in: ders.: Kritische Schriften (s. Anm. 93), S. 33–47, hier S. 45; Hervorhebung im Original.
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ral« und »Seele« eine ganz zentrale Rolle spielen, sodass sich sein kritisches Schreiben ähnlich wie dasjenige Frischs immer wieder zu einer »Philosophie des à propos«101 kondensiert. Dass Heimann mit dieser Form von Kritik nicht alleine dastand, haben die Ausführungen zu den anderen Kritikern gezeigt. Kaum einer von ihnen kommt ohne den Begriff des Ethischen aus, ja ethische Begriffe stellen bei den meisten von ihnen ganz zentrale Kriterien der Arbeit dar. Das begriffliche Ringen um die lebenspraktische Bedeutung eines Textes ist dabei natürlich immer auch eine Suche nach seinen ästhetischen Merkmalen, sind doch Ethik und Ästhetik bei den »Etho-Ästheten«102 untrennbar miteinander verbunden.
3. Ethik und/oder Ästhetik Die notgedrungen sehr materialimmanente Untersuchung des vorhergehenden Abschnitts soll nun um eine diskursgeschichtliche Betrachtung ergänzt werden, die den beschriebenen kritikgeschichtlichen Diskurs der ethischen Kritik in einem größeren Ganzen verortet. Ansatzweise wurden schon Bezüge zur zeitgenössischen Philosophie hergestellt. Wittgenstein und Schlick dienten bisher als Kronzeugen eines nachnietzscheanischen philosophischen Diskurses, der Ethik im Zeichen der Empirie und der Sprachkritik neu zu definieren suchte. Mit seinem Vortrag über Ethik hat Wittgenstein die Ergebnisse des Tractatus noch einmal dezidiert auf die Ethik angewandt. Dass er dabei zu dem Schluss kommt, dass die Fragen und Begriffe der Ethik letztlich die Grenzen der Sprache überschreiten und dass, wer von Ethik spricht, notwendigerweise aus logischen Gesichtspunkten »die Sprache« »mißbrauch[t]«103 und »unsinnig[e] Ausdrücke«104 verwendet, scheint innerhalb seines philosophischen Systems durchaus konsequent. Wenn er überdies behauptet, dass in der »ethischen und religiösen Sprache« ständig »Gleichnisse«105 verwendet werden, so besteht damit ein unmittelbarer Bezug zu Musils ethischer – i. e. gefühls- und wahrnehmungsexperimenteller – Poetik, die ja in einer exzessiven Weise mit Gleichnissen arbeitet.106 Mit einer Wendung, die von Musil stammen könnte, schreibt Wittgenstein im Vortrag über Ethik: »Die Wahrheit ist, daß die wissenschaftliche Betrachtungsweise einer Tatsache nicht die gleiche ist, in der man sie als Wunder ansieht.«107 Und er beteuert, dass, wer 101 Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 91. 102 KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Dramatische Fragmente/Tempora Maier und ihre Zeitgenossen/3. 103 Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 15. 104 Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 18. 105 Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 16. 106 Vgl. Armen Avanessian: Phänomenologie ironischen Geistes. Ethik, Poetik und Politik der Moderne. München 2010, S. 201–213. 107 Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 17.
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über Ethik sprechen will, notwendigerweise »über die sinnvolle Sprache« »hinauszugelangen«108 versucht. Dieses »Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs« sei aber »völlig und absolut aussichtslos«. Und Wittgenstein schließt seinen Vortrag mit den Worten: Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt. Doch es ist ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für mein Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.109
Damit scheint für Wittgenstein das Ringen um die Ethik vom philosophischen Standpunkt, vor allem vom Standpunkt einer logisch-empirischen Philosophie, obsolet. Anders Moritz Schlick, der in seinen Fragen der Ethik ganz klar formuliert, dass die Ethik eine Wissenschaft sei, dass sie gewissermaßen eine Teildisziplin der Psychologie darstelle und damit empirisch nachprüfbare Ergebnisse hervorbringen könne.110 Die Frage nach der Ethik, dies zeigen die beiden Beispiele Wittgenstein und Schlick, musste unter den Auspizien einer modernen, empirisch verfahrenden Philosophie neu gestellt werden. Dass die Antworten der beiden Philosophen so konträr ausfallen, indem Wittgenstein die Ethik gewissermaßen aus der Philosophie verbannt, während Schlick sie über die Hintertür der Psychologie wieder hereinholt, scheint symptomatisch für eine Zeit, in der nach Nietzsche und nach Freud der Subjektbegriff und die Möglichkeiten einer gesellschaftlich verbindlichen Moral äußerst fraglich geworden waren. Die ethische Kritik ist damit in einem Kontext zu sehen, der die Möglichkeiten des Menschseins in der Welt der Moderne neu verhandelt. Damit ist aber ein unmittelbarer Konnex gegeben zu einer philosophischen Richtung, die mit Max Scheler einsetzt und mit Helmuth Plessner und Arnold Gehlen ihre bedeutendsten Adepten und Fortführer gefunden hat, die der philosophischen Anthropologie. Vor allem Plessners Abhandlung Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), die als »Einleitung in die philosophische Anthropologie« gedacht war, ringt um eine solche Definition des Menschen, um seine Stellung in der Welt und gegenüber den anderen Organismen. Mit dem Begriff der »Positionalität«, vor allem mit jenem der »exzentrischen Positionalität«, begreift Plessner den Menschen in seiner Abgehobenheit gegenüber seiner Umgebung, die ihm zur »Umwelt« wird.111 In seiner »Ästhesiologie des Geistes« mit dem Titel Die Einheit der Sinne (1923) fragt er nach dem »Sinn 108 109 110 111
Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 18; Hervorhebung im Original. Wittgenstein: Vortrag über Ethik (s. Anm. 1), S. 19. Vgl. Schlick: Fragen der Ethik (s. Anm. 48), S. 53, 68 u. 73 f. Vgl. Ernst Wolfgang Orth: Das Wahre, das Gute, das Schöne – als Medienereignis, in: PeterUlrich Merz-Benz, Ursula Renz (Hg): Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie. Würzburg 2004, S. 19–32, hier insbes. S. 28.
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des Sinnlichen« und der »Sinnlichkeit des Sinnes«, was unmittelbar das Problem der kritischen Urteilskraft und der (Selbst-)Reflexivität des Menschen berührt. Schon am Titel des Werks Plessners wird deutlich, dass etwa der Begriff »Geist« im philosophischen Kontext der Zeit ein durchaus gängiger Begriff war. Vergleicht man damit etwa, welchen Stellenwert er in den Besprechungen der im vorhergehenden Kapitel untersuchten Kritiker hat, so wird deutlich, dass ihr Werk unmittelbar in einem philosophisch-geistesgeschichtlichen Kontext zu verorten ist. Über Scheler, den Musil schon in Berlin 1913 kennen gelernt hatte,112 schreibt er in seinen späten Notizen zu einer Autobiographie im Tagebuch: Wichtig: daß ich mich wohl immer mit Ethik befassen wollte, aber keinen Zugang wußte, der mir gepaßt hätte. Mit anderen Worten, daß ich zu wenig studiert hatte! Denn Scheler hat den Zugang gefunden!113
Auch im Neukantianismus eines Hermann Cohen, Paul Natorp, Heinrich Rickert und Ernst Cassirer, die an Kants Kritik der Urteilskraft (1790) anschließen, spielen ethische Aspekte eine ganz zentrale Rolle.114 Genannt seien hier vor allem Hermann Cohens Ethik des reinen Willens (1904) und Heinrich Rickerts Vom System der Werte (1913). In derselben Nummer der Zeitschrift Logos, in der die Abhandlung Rickerts erschienen ist, findet sich auch ein Beitrag von Georg Simmel mit dem Titel Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, in dem die Verbindung von Psychologie und Ethik schon angedacht ist, die Moritz Schlick in seinen Fragen der Ethik 1930 vornehmen wird.115 Bezüge Musils vor allem zu Cassirer sind nachgewiesen.116 Die Kulturphilosophie Cassirers, unter dem Titel Philosophie der symbolischen Formen zwischen 1923 und 1929 in drei Bänden erschienen, versteht Kultur als »symbolische Form« und entwickelt damit eine frühe Form der Medientheorie, die die Frage nach Ethik oder Ästhetik in einen größeren Kontext stellt. Ethik und Ästhetik sind für Cassirer nicht unbedingt miteinander verbunden, sondern bilden nebeneinander existierende, gleichberechtigte symbolische Formen, Ausdrucksformen des menschlichen Geistes. In seinem System der symbolischen Formen führt Cassirer neben Mythos, Sprache, Religion, Erkenntnis, Technik, Kunst, Recht und Geschichte immer wieder auch die Ethik 112 Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Tagebuchhefte 1899–1926/7: Journal (1913–1914)/6. 113 KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Tagebuchhefte 1928–1942/33: Autobiographie (1937–1942)/19–20. 114 Vgl. dazu insbes. Peter-Ulrich Merz-Benz, Ursula Renz: Einleitung. Ethik oder Ästhetik? Kulturphilosophie zwischen System und Diagnose, in: dies. (Hg.): Ethik oder Ästhetik? (s. Anm. 111), S. 7–18. 115 Vgl. Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, in: Logos IV (1913), S. 117–160, hier S. 125. 116 Vgl. insbes. KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Tagebuchhefte 1928–1942/30: Schwarzes Heft steif (1929–1942)/35, wo Musil unter dem Datum »Oktober 1932« seine Lektüre der Philosophie der symbolischen Formen vermerkt.
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an. An einer Systematisierung ethischer Probleme oder Normen ist ihm allerdings nicht gelegen.117 Die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik bildet eines der umstrittensten Terrains literaturwissenschaftlicher Diskussion. Sie ist unmittelbar mit der Frage nach der Stellung von Kunst innerhalb der Gesellschaft bzw. mit ihrer Selbstauffassung verbunden. Während in der autonomen klassisch-romantischen Kunstidee eine ethische Funktionalisierung von Kunst eher die Ausnahme bildet, wird für eine Reihe von Autoren und Kritikern des frühen 20. Jahrhunderts »Literatur als Kunst« zum »Medium der Erkenntnis und Anerkenntnis des ›Lebens‹«, wobei Letzteres entweder »geistig-ideell« oder »biologisch-materiell« gedeutet wird.118 Als Beispiele für diese Position werden von Heydebrand Autoren wie Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel, Frank Wedekind, aber auch Kritiker wie Moritz Heimann und Alfred Kerr angeführt. Diese Reihe ist um die in den vorhergehenden Abschnitten beleuchteten anderen Kritiker, also um Franz Blei, Efraim Frisch, Robert Musil und Alfred Polgar, zu ergänzen. Die »Sittlichkeit« ihrer Ästhetik bestehe darin, »sich den Forderungen und Notwendigkeiten des ›Lebens‹ zu fügen«,119 oder, wie es bei Moritz Schlick heißt: Was als die letzten Normen oder die höchsten Werte gilt, muß der menschlichen Natur und dem Leben als Tatsache entnommen werden. Daher kann ein Resultat der Ethik nie mit dem Leben im Widerspruch stehen, kann nicht die im Leben zugrunde liegenden Werte für schlecht oder falsch erklären, seine Normen können nicht zu den vom Leben letztlich anerkannten fordernd oder befehlend in einen wirklichen Gegensatz treten.120
Das Leben erzeugt seine eigene Ethik, nicht die Ethik (die dann eine Moral wäre) das Leben. Von daher auch die große Bedeutung, die dem Begriff des »Lebens« in den Kritiken der »Etho-Ästheten« zukommt. Wie der vorhergehende Abschnitt gezeigt hat, gehen jedoch Kritiker wie Musil und Frisch wesentlich über die von Heydebrand, aber auch von Schlick konzipierte Sittlichkeit oder Ethik hinaus, indem sie in der Literatur und der Kritik ethisch innovativ sein und neue Lebenspraxen erproben bzw. aus der Literatur herauspräparieren wollen.121 Dass damit nicht nur die Literatur, sondern auch 117 Vgl. Orth: Das Wahre, das Gute, das Schöne (s. Anm. 111), S. 26–29. 118 Renate von Heydebrand: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur, in: Walter Haug, Wilfried Barner (Hg.): Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Tübingen 1986 (= Akten des VII . Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985; Kontroversen, alte und neue, Bd. 8), S. 3–11, hier S. 9; Hervorhebungen im Original. 119 Heydebrand: Ethische Legitimation (s. Anm. 118), S. 9. 120 Schlick: Fragen der Ethik (s. Anm. 48), S. 67. 121 Dass etwa Musil im Menschen unter dem Signum des »Theorems der menschlichen Gestaltlosigkeit« eine (auch ethisch) ungemein biegsame und anpassungsfähige Masse gesehen hat, darauf hat Klaus Amann jüngst deutlich hingewiesen. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper,
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die Kritik eine gesellschaftliche Legitimation erfährt, die sie aus dem Reich der reinen Ästhetik herausführt, war ein wesentliches Kennzeichen schon der engagierten Durchsetzung Ibsens durch Alfred Kerr und Otto Brahm Ende des 19. Jahrhunderts. In den kritischen Arbeiten der »Etho-Ästheten« scheint dieses Engagement weniger politisch und dafür zugleich (lebens-)philosophischer und lebenspraktischer. Dass eine solche ethische Verpflichtung der Literatur und der Kritik eine Funktionalisierung, eine Zweckgerichtetheit bedeutet, der formal-ästhetische Kriterien untergeordnet werden, leugnen die hier diskutierten Kritiker, bestehen sie doch allesamt auf einer untrennbaren Amalgamierung von Ethik und Ästhetik, oder, um es mit Musil zu sagen: Moral ist das Abstraktum des Handelns, Kunst ein Morallaboratorium, an einzelnen Fällen werden hier neue Analysen u. Zusammenfassungen probiert. Sie liefert keine seelischen Kleider, sondern jene Untersuchungen, auf Grund deren für spätere Generationen solche gemacht werden. (GW II, S. 1351)
Wenn Kunst ein »Morallaboratorium« ist, sind Ästhetik und Ethik untrennbar verbunden. Ein Tagebuch-Eintrag Musils lautet: »Ich habe von Jugend an das Ästhetische als Ethik betrachtet«.122 Wittgenstein hatte bereits im Tractatus einen solchen Bezug hergestellt: »Ethik und Ästhetik sind Eins«, heißt es dort.123 Die Kunstkritik aber, die einer solchen ethisch-ästhetischen Literatur gegenüberstehen muss, hat für Musil und für die »Etho-Ästheten« generell wertsetzend zu sein und ist damit per se ethisch konzipiert. Im Tagebuch notiert er dazu bereits 1918/1919: Die Streitfrage, ob die Ästhetik Werte setzen kann oder nur deskriptiv sein soll, liegt für uns in der Ferne. Kritik soll Werte setzen und Wertvolles von Wertlosem unterscheiden lehren. Dazu existiert sie. (Tb I, S. 446 f.)
Dass unter dem Begriff »Wert« ethischer Wert zu verstehen ist, dürfte inzwischen hinreichend geklärt worden sein. Eine solche Kritik verfährt ethischinduktiv, wie es Broch gefordert hatte, ja bisweilen sogar präskriptiv, und konkurriert dadurch mit der Methode der induktiven Philosophie, die die genannten Philosophen von Wittgenstein über Schlick bis zu Plessner verbindet. Parallel zu den Philosophen ihrer Zeit versuchen die hier diskutierten Kritiker, literarische Lebenspraktiken zu beschreiben, neue Lebensentwürfe zu formulieren und daraus eine induktive Ethik des Alltagslebens zu entwiKarl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 237–254, hier insbes. S. 239. 122 KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Tagebuchhefte 1928–1942/30: Schwarzes Heft steif (1929–1942)/94. 123 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 2003, S. 108 (Satz 6.421). Vgl. Robert Stockhammer: Wahr-Falsch-Spiele und andere Sprachspiele. Übertragbarkeit des Wissens bei Musil und Wittgenstein, in: Beil, Gamper, Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft (s. Anm. 121), S. 255–286, hier S. 256. Stockhammer vermutet, dass Musil diese Stelle aus dem Tractatus kannte.
Etho-Ästheten
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ckeln, eine »Philosophie des à propos«124 , wie es bei Mattenklott geheißen hatte. Als Praktiker der Philosophie oder Ethik usurpieren sie einen genuinen Platz innerhalb des kulturellen Feldes, der zwischen Philosophie und Literatur zu verorten ist und zwischen beiden und der Gesellschaft zu vermitteln sucht. Dass die ethischen Kritiker immer wieder die Ethik über den Kunstcharakter von Literatur stellen, erscheint ihnen nicht als Problem, sondern als Notwendigkeit, denn nur eine im ethischen Sinne überzeugende Kunst kann für sie auch ästhetisch überzeugen. »Kunstgesetz[e]« (Tb I, S. 451), »konventionell[e] Wertmaß[e]« (GW II, S. 1332) sind ihnen nichts mehr oder jedenfalls nichts, über das es sich zu diskutieren lohnt. Vielmehr gilt es in der Kunst, Lebenspraktiken neu zu verhandeln und weiterzuentwickeln. Das Bild des Autors und seine Stellung in der Gesellschaft werden von dieser Grundannahme deutlich affiziert. Die weiter oben zitierte Stelle Franz Bleis über das Wesen des Dichters, über sein ethisches »Tun«, durch das er »seine erlebte und erlittene Umwelt zum Ausdruck bringt«,125 erscheint sprachlich auf einem Humus gewachsen, der mit Plessner (»Umwelt«) und Cassirer (»Ausdruck«) gedüngt war. Dass die literarischen Kunstwerke der Ethiker Musil und Broch heute, und beinahe möchte man sagen: trotz ihrer ethischen Gesinnung, einen solch eminenten Rang innerhalb des Kanons einnehmen – und zwar nicht so sehr als ethische ›Ereignisse‹, sondern als Sprachkunstwerke –, verdanken sie nicht zuletzt einer Akzentverschiebung in der Literaturbetrachtung, die den autonomen Wert von Literatur wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat. Neuere, kulturwissenschaftlich orientierte Untersuchungen richten jedoch den Fokus wieder verstärkt auf die gesellschaftsgeschichtlichen126 und medienästhetischen127 Aspekte von Literatur. In diesem Kontext wird auch die ethische Dimension des Mann ohne Eigenschaften in den letzten Jahren neu diskutiert128 und in Musils großem Romanwerk vermehrt jenes »Morallaboratorium« (GW II, S. 1351) gesehen, in dem der Autor jahrelang vor sich hin werkelte und das sich seinem Romanmonument und nicht zuletzt auch seinem kritischen Werk eingeschrieben hat.
124 Mattenklott: Literarische Kritik (s. Anm. 35), S. 91. 125 Blei: Marginalien zur Literatur (s. Anm. 40), S. 99. 126 Exemplarisch dafür sei Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a.: Böhlau 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20) genannt. 127 Vgl. die erwähnte Arbeit von Armen Avanessian (s. Anm. 106) oder auch den von Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner herausgegebenen Band (s. Anm. 121). 128 Vgl. dazu etwa die erwähnten Arbeiten von Werner Ego (s. Anm. 81), Patrizia C. McBride (s. Anm. 45), Sabine A. Döring (s. Anm. 21) und Mathias Mayer (s. Anm. 20).
Christian van der Steeg
50 Jahre Karl Kraus Robert Musils Differenzierung Dichtung/Satire Abstract: A specific characteristic of German culture during the 1920s was not only the popularity of satire but also its establishment as a high-quality art form. This article reconstructs the career of satire through an analysis of Robert Musil’s review of Karl Kraus’s Traumstück, which was performed on the occasion of Kraus’s 50th birthday. In particular, it shows how Musil’s own writing participated in this discourse.
»Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.«1
1. Zu Beginn des Traumstücks von Karl Kraus hadert ein Dichter, zu nächtlicher Stunde an seinem Schreibtisch sitzend, mit seiner Zeit: Liebe, Natur und Sprache empfindet er als geschändet, den Geist vom Stoff vernichtet. Nach einer Weile fällt der Dichter in tiefen Schlaf und träumt von einer phantastischen Landschaft mit einem Schmetterling. Die Idylle ist von kurzer Dauer. Vom Anblick des Dichters erschreckt – dessen Gesicht von den Übeln der Zeit gezeichnet ist –, flieht das Tier; und der Dichter, der sich dessen Leben sowie dem Leben im Allgemeinen »verhaftet« fühlt, wird als Folge eines Wortspiels, das der Zerstörung der Idylle zusätzlich Konsequenz verleiht, von einem Polizisten »verhaftet«.2 Spracharbeit dieser Art bildet eine wesentliche Komponente des Traumstücks. Denn Wortspiele sind, wie man an dieser Stelle belehrt wird, als Kombination von Witz und Sprache ein Fluchtmittel aus der Zeit in die Freiheit. Sie steigern freilich hinterher das Stück zum Albtraum, indem zunächst Psychoanale ihr Unwesen treiben und schließlich eine Zeitung erscheint. Ihr tritt, als Höhepunkt der nächtlichen Vision, die allegorische Gestalt des Traums entgegen und fordert den Dichter zu neuen Werken gegen Zeitung und Zeit auf. Die Talente, die der Traum bei dieser Gelegenheit 1
2
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Bd. 4.1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a. M. 1991, S. 108. Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 11: Dramen. Literatur. Traumstück. Wolkenkuckucksheim. Traumtheater. Die Unüberwindlichen. Frankfurt a. M. 1989, S. 95.
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dem Dichter in Erinnerung ruft – Übertreibung, Umkehrung von Groß und Klein, Spracharbeit und Trotz –,3 sind insbesondere satirische Verfahren sowie ein Merkmal satirischer Disposition. Dem Dichter wird auf diese Weise im Morgengrauen der Beruf des Satirikers ans Herz gelegt. Bevor der Dichter an seinem Schreibtisch Idyllisches und Phantastisches träumt, imaginierte er deswegen – im Halbschlaf näher an der Wirklichkeit – eine Reihe gespenstischer Figuren, wie sie ähnlich in den Letzten Tagen der Menschheit und der Weltkrieg-Fackel vorkommen.4 Kraus hat Traumstück zu Weihnachten 1922 geschrieben und es ein Jahr später als Buchausgabe gedruckt. Das Dramolett enthält zahlreiche autobiografische Anspielungen: auf den Park von Janowitz, auf die frühe Liebe zur Schauspielerin Annie Kalmar, auf Kraus’ jahrelangen Kampf gegen die Presse, auf seine nächtliche Arbeitsweise. Formal spiegelt das Dramolett die Affinität von Dichtung und Satire, die es inhaltlich zum Ausdruck bringt. Dem Zuschauer wird eine Rollen-Revue geboten, deren Figuren anstelle von Dialogen lyrische Texte vortragen, die in unterschiedlichem Grad satirisch gefärbt sind; die Bandbreite reicht von der pathetischen Klage des Dichters zu Beginn, Natur- und Liebesgedicht über die kunstvolle Verspottung der Psychoanalyse bis zur satirischen Rede eines toten Soldaten ohne Kopf, die für den Völkischen Beobachter 1928 Anlass war, unter Androhung von Gewalt die Aufführung des Dramoletts in München zu verhindern.5 Das Stück durchläuft derart im Modus lyrischen Sprechens unterschiedliche Mischverhältnisse von autonomer Kunst und zeitkritischer Satire. Es setzt gewissermaßen Friedrich Schillers berühmte Definition der Satire als Gegenüberstellung von »Wirklichkeit als Mangel« und »Ideal als der höchsten Realität« in Szene, eine von Kraus während des Weltkriegs in der Fackel abgedruckte These des Klassikers beweisend, Satiriker vom Schlag Juvenals und Jonathan Swifts wären theoretisch in der Lage gewesen, Idyllen zu dichten.6 Das Medium dieser Durchmischung ist dem Titel entsprechend der Traum. Auch der einer sozialistischen Utopie, die der erwachende Dichter – wiederum näher an der Wirklichkeit – am Ende des Dramoletts in seiner Phantasie aufleben lässt. 3 4 5
6
Kraus: Schriften. Bd. 11 (s. Anm. 2), S. 103 f. Kraus: Schriften. Bd. 11 (s. Anm. 2), S. 91–94. Kraus: Schriften. Bd. 11 (s. Anm. 2), S. 91 f. Zu den Schwierigkeiten mit den Nationalsozialisten siehe Karl Kraus: Die Fackel (Juni 1928), Nr. 781–786, S. 59; ders.: Die Fackel (Februar 1929), Nr. 800–805, S. 50 u. 73 f. Zitiert nach dem Reprint bei Zweitausendeins. Vgl. Kraus: Die Fackel (November 1916), Nr. 443/444, S. 13. Vgl. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen · Theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. München, Wien 2004, S. 722 f. Allgemein zum Verhältnis von Satire und Dichtung im Werk von Kraus siehe zunächst Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Berlin 1987, S. 14–64; Chris´ tian Wagenknecht: Die ästhetische Wendung der Fackel, in: Stefan H. Kaszynski, Sigurd Paul ´ Scheichl (Hg.): Karl Kraus – Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. München 1989 (= Sonderband der Kraus-Hefte), S. 103–115.
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Uraufgeführt beziehungsweise gespielt wurde Traumstück in Berlin im Rahmen der Veranstaltung zum 25-jährigen Bestehen der Fackel und in Wien anlässlich von Kraus’ 50. Geburtstag am 29. April 1924. Ebenso interessant wie die inhaltliche und die formale Beschaffenheit des Dramoletts sind die pragmatischen Umstände der Wiener Erstaufführung. Nach dem Ende des Stücks wurde applaudiert und Kraus zeigte sich mehrfach dem Publikum. Vor Traumstück spielte man Kraus’ neustes dramatisches Werk Traumtheater. Berthold Viertel, ein alter Freund und Bewunderer von Kraus und mit Robert Musil durch die Aufführung des Vinzenz bekannt, führte Regie und eröffnete den Abend mit einer Rede; wie in einem Brief Musils an Alfred Kerr zu entnehmen ist, las Viertel den Vinzenz übrigens als »Zeitsatyre«, während Musil insistierte, bloß »Zeitulk« geschrieben zu haben (Br I, S. 326). Viertels Rede bestand aus einer kurzen Einführung in Traumstück – die nächtliche Ausgangssituation wurde hervorgehoben, das Spiel mit Traum und Wachen skizziert, der in Kraus’ Werk topische Schmetterling und die soziale Hoffnung vom Ende des Dramoletts vorweggenommen. Zudem kam das im Stück verhandelte Verhältnis von Dichtung und Satire implizit zur Sprache: Zweimal wurde Kraus im Verlauf der Rede als »Satiriker« angesprochen und auf seinen beziehungsweise dessen Ärger als Schreibanlass verwiesen; allein vorgestellt wurde Kraus dem Publikum zunächst mit höheren Weihen – als »Künstler«, dem das spezifische Milieu Wiens zu seiner »Gegenkunst« verholfen hatte.7 Musil hat in einer kurzen Rezension für die Deutsche Allgemeine Zeitung ein Konzentrat der offiziellen Geburtstagsfeierlichkeiten überliefert.8 Angesichts der beschränkten Platzmöglichkeiten ist bedeutsam, was und wie Musil selektiert hat. Zunächst wird auf die Rede Viertels hingewiesen, die zustimmend als taktvoll und flammend beschrieben wird, wobei Musil, in Klammern umgehend relativierend, die Angemessenheit der Rede in ihrem großen Erfolg beim Publikum begründet. Danach thematisiert Musil explizit das Verhältnis von Kraus und dessen Anhängerschaft. Musil umschreibt es mittels einer ägyptischen Metaphorik als archaischen, unreflektierten Starkult der Massen; Kraus wird mit einem toten Pharao verglichen, der sich, von eigener Hand balsamiert, im Königsgrab einer aus den Schädeln seiner Anhänger gebauten Pyramide beigesetzt habe. Anschließend widmet Musil die Hälfte seiner Rezension der Differenzierung von Dichtung und Satire, wie sie Traumstück auf vielfältige Weise verhandelt und die Rede Viertels strukturiert. Über Kraus’ Sprache schreibt Musil in seiner Rezension: 7
8
Berthold Viertel: Karl Kraus. Zum fünfzigsten Geburtstag. Rede, gesprochen bei der Festaufführung von Traumtheater und Traumstück am 29. April 1924 in der Neuen Wiener Bühne. Wien 1924, S. 4 f. u. 8. Allgemein zu Musil als Rezensent siehe Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12).
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Seine mehr mit Beziehungs- als Bedeutungsfülle geladene Sprache deckt vollkommen ihr Gebiet der satirischen Prosa, für das sie geschaffen wurde, verliert ihre persönliche Ausdruckskraft aber in der dichterischen Prosa und im Vers. (GW II, S. 1660; meine Hervorhebungen)
Musil bringt damit bezüglich der inhaltlich und formal eingenommenen dichterischen Pose des Dramoletts und dem durch Viertels Rede vorgegebenen Rahmen des Abends Skepsis zum Ausdruck. Während Traumstück und Viertel Kraus als Künstler inszenieren, taxiert Musil ihn eher als satirischen Autor. Als solchen lobt Musil an ihm die unbiegsame Moral, den Willen, den Mut, den Fanatismus, die scharfe Witterung für das Unreinliche sowie die Fähigkeit, die Zeit als satirische Halbfertigware der Zeitung zu entnehmen und zu vollenden; man begegnet sogar dem Polizisten aus Traumstück im Lob der »unnachahmliche[n] Art« von Kraus’ »Polizeigriff[ ]«. Alle diese Qualitäten büßen jedoch für Musil in Kraus’ Dichtung an Wert ein; weil dort der Gegendruck der Zeiterscheinungen weniger stark sei. »[A]lle diese Eigenschaften«, schließt Musil seine Rezension, »die in seiner [i. e. Kraus’] Publizistik zum Gebilde werden, wirken in seiner Dichtung um viele Grade schwächer.« (GW II, S. 1660; meine Hervorhebung) Musil ist mit dieser Stellungnahme kein Einzelfall. Sie ist, wie gezeigt werden soll, Teil eines Diskurses einer Ästhetik der Satire zwischen 1918 und 1933, dessen Bedingungen die Produktion und Rezeption von Musils Werk mitbestimmen.9
2. Kraus hat sich in der Fackel vom Juni desselben Jahres die Mühe gemacht, die Stimmen der Wiener Theaterkritik zu seiner Geburtstagsfeier zu versammeln. Dokumentationen dieser Art hatten in der Fackel Tradition. Sie wollten durch den Abdruck auswärtiger Kritiken dem bis zum Jubiläum drakonisch verhängten Totschweigen des Satirikers durch die Wiener Journalistik entgegenwirken; vielleicht waren sie auch seiner angeblichen Eitelkeit geschuldet. Die von Kraus vorgenommene Zusammenstellung entlarvt generell die Objektivität der Rezensenten, die, was den Anklang beim Publikum betrifft, stark divergierende Angaben machen – das Spektrum reicht vom beifallsfreudigen Auditorium bis zum ungeheuren Jubel – und die sich, trotz der Beteuerung, genau nachgezählt zu haben, uneins sind, ob Kraus nun dreißig oder fünfzig Mal auf der Bühne erschienen oder ob die Veranstaltung eine geschlossene Gesellschaft der Kraus-Gemeinde oder eine Aufführung für die Presse gewesen sei. Die Dokumentation wirft zudem einen kritischen 9
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Vorstudie zu einem Forschungsprojekt, welches das Verhältnis von Satire und Dichtung in den 20er Jahren untersucht. Die Werke Robert Musils, Karl Kraus’, Siegfried Kracauers sowie die deutschsprachige Rezeption von Jaroslav Hašeks Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk setzen dabei die Akzente.
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Blick auf die Meinungsvielfalt bezüglich der Gattungszuschreibungen. Die Extremposition nimmt in dieser Hinsicht pikanterweise die Kronen-Zeitung ein, die als Beleg den Fackel-Abschnitt eröffnet. Kraus wird hier nicht nur direkt als »großer Mensch und Dichter« angeredet, der Erfolg des Abends als »Triumph, wie ihn wohl noch kein Dichter in einem Wiener Theatersaal erlebt hat«, bezeichnet und Traumtheater eine »Traumphantasie von Goethescher Größe« genannt, sondern es wird ihm auch zum Schluss – nachdem in Bezug auf Traumstück festgehalten worden war, dass hier Kraus’ geniale Gestaltungskraft und ätzende Satire zu unerreichbarer Wirkung gekommen seien – als »geniale[m] Geist« für den Abend gedankt. Diese Pressestimme war selbstredend Kraus zu euphorisch, doch unterscheidet sie sich, was die grundsätzliche Neigung, Kraus als Dichter einzuordnen, angeht, nicht von der Arbeiter-Zeitung, die Kraus mit Zustimmung als letzte Besprechung anführt, und einer breit wiedergegebenen, feinsinnigen Rezension von Alfred Polgar, der die Dramolette als »Extrakt-Dichtung« und »Gedankendichtungen« lobt und auf ihre sprachliche Durchdringung aufmerksam macht.10 Wie Musil urteilen nicht alle in diese Richtung. Sieht man von den eher seltenen neutralen Positionen ab, welche die Gattungszugehörigkeit nicht strategisch mit Wert verbinden, so sind es gerade die giftigeren Stimmen – naturgemäß verstärkt Kraus hier seine Abwehr –, die in ihm weniger den Dichter als den Satiriker sehen. Zum Beispiel das christlich-soziale Weltblatt, das den »Wiener Satiriker[ ]« in abschätziger Weise mit Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung in Verbindung bringt, die Dramolette stellenweise als raffiniert, in der gesuchten – künstlerischen – so darf man verdeutlichen – Aufmachung unerquicklich empfindet und dem es ein Dorn im Auge ist, dass Kraus »seinen ätzenden Spott nicht unterdrückt, so poetisch die Sache sich mitunter auch ansieht«. Auch der Abend erkennt in Kraus wesentlich den »Zeitkritiker«, der in jenen Passagen allenfalls noch zum Dichter wird, wo er in seinem heiligen Zorn gegen Krieg und Verrohung des Menschengeschlechts wettert, der aber die im strengen Sinn poetischen Passagen von Traumtheater mit »journalistischem Witz« ruiniert.11 Ähnliche Bewertungen wie anlässlich der Wiener Aufführungen findet man in den Rezensionen der Veranstaltung zum 25-jährigen Bestehen der Fackel, die einen Monat zuvor mit beinah identischem Programm in Berlin stattgefunden hatte. Kraus beleuchtete sie kritisch in derselben FackelNummer wie die Wiener Geburtstagsfeier. Einer einzigen begeisterten und wenigen neutralen steht hier eine Vielzahl von Stimmen gegenüber, welche die Dramolette als epigonal, undramatisch und nicht dichterisch taxieren, und noch mehr Äußerungen – wie etwa jene Alfred Döblins –, welche die fehlende dichterische beziehungsweise dramatische Leistung in Verbindung mit dem 10 11
Kraus: Die Fackel (Juni 1924), Nr. 649–656, S. 130–133. Kraus: Die Fackel (Juni 1924), Nr. 649–656, S. 143 u. 134.
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satirischen Beruf des Autors bringen. Insbesondere fällt der Berliner Theaterkritiker Herbert Ihering auf, der mit fehlerhafter Namensschreibung urteilt: »[d]er grosse Prosaist und Satiriker Krauß bleibt bestehen. Der Dramatiker existiert nicht«, und der von Viertels Truppe meint, dass sie auf dem Hauptgebiet versage, aber immerhin auf »Nebengebieten« – womit die Kraus’schen Stücke gemeint sind – etwas geleistet habe. Kraus, der in diesem Zusammenhang seine Dramolette mit Nachdruck als Sprachkunst ausweist, kontert diesen Ausschluss aus dem Zentrum der Dramatik am Ende seines Textes aggressiv.12 Auch seine sarkastische Bemerkung zu den zitierten Auszügen des Abends im Kontext der Wiener Presseschau – hier solle die »Spreu vom Weizen der besseren Literatur [ge]sondert« werden – zeigt, dass Kraus für solche hierarchisierenden Gattungszuschreibungen durchaus sensibel war.13 Für ihn war Satire die eigentliche Kunst der Zeit.14 Es kam Kraus daher vielleicht nicht ungelegen, dass Musils Rezension nicht in einem Wiener Organ publiziert worden und somit nicht zwingend in die Presseschau aufzunehmen war. Musils Rezension zeichnet sich – neben ihrer rhetorischen Qualität – dadurch aus, dass sie zwar ebenfalls eine Differenzierung zwischen Dichtung und Satire vornimmt, doch zugleich darum zu wissen scheint, dass diese Unterscheidung porös ist. Dichtung und Satire sind, wie die zuvor zitierte Passage nahelegt, weniger klar getrennte Gattungen als vielmehr Modi des Sprechens. Formulierungen wie ›mehr . . . als‹, ›geladen‹, ›verliert‹ oder um ›Grade schwächer‹ deuten darauf hin, dass diese Modi mit unterschiedlicher Intensität gesprochen werden, sich im individuellen Sprechen überlappen können; so wandelt sich offensichtlich ohne den Gegendruck der Zeiterscheinungen die Qualität, nicht aber die Quantität der textimmanenten Moral; auch bleiben die ethisch-satirischen Verfahren, wenngleich es nicht gelingt, sie zum Gebilde zu organisieren, Elemente der Dichtung. Wollte man Texte hinsichtlich des Kriteriums Dichtung/Satire taxonomisch bestimmen, wäre mithin die Ermittlung des Mischverhältnisses von Beziehungs- und Bedeutungsfülle, von – wie man interpretieren kann – 12 13 14
Kraus: Die Fackel (Juni 1924), Nr. 649–656, S. 44–50. Kraus: Die Fackel (Juni 1924), Nr. 649–656, S. 134. Siehe z. B. Kraus: Die Fackel (Mai 1912), Nr. 349/350, S. 23. Döblin unterscheidet übrigens ethische, sprachliche und dramatische Leistung von Kraus. Er konstatiert dabei einen Widerstand zwischen dem Medium der Bühne bzw. der Gattung des Dramas und der stärker an den Autor gebundenen ethischen – also satirischen – Ausdrucksweise, in der auch er die primäre Qualität von Kraus sieht: »Kraus ist Ethiker (dies in erster Linie), dann Sprachkünstler. Da fehlt das dritte – man sieht es und er sieht es sicher auch –, die dramatische Gestaltungskraft, Bildkraft, Lust am Formen. Was er sagt, durch Figuren, Figuranten sagen läßt, macht nachdenklich, greift an, erschüttert, im einzelnen, zwei Minuten. Aber das mußte sich auf dreißig Minuten, auf zwei und drei mal dreißig ausdehnen. Aber dehnt sich nicht aus, weil Kraus ipse, nur wenig maskiert, spricht, und Reden sind kein Dialog, und ein Dialog kein Drama. Kraus will nicht einmal; aber, Pardon, wir wollen, und die Bühne will.« (Alfred Döblin: Kleine Schriften II . Hg. v. Anthony Riley. Olten, Freiburg i. Br. 1990, S. 382) Ausgerechnet diese eindrückliche Passage hat Kraus nicht wörtlich zitiert. Vgl. Kraus: Die Fackel (Juni 1924), Nr. 649–656, S. 40 f.
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intertextuellen respektive referentiellen Bezügen und Gehalt entscheidend. Ein komplexes Bild der Rezension aus der griechischen Mythologie vermittelt den Sachverhalt nochmals anders: Der Satiriker hat die Leier des Dichters im Busen – nur ist sie im Fall von Kraus »mit Achillessehnen bespannt« (GW II, S. 1660). Die Allegorie warnt davor, dass Helden verwundbar sind. Sie schließt freilich die Symbiose von Dichter und Satiriker keineswegs aus.
3. Das Verhältnis von Musil und Kraus war unpersönlich distanziert. Was Kraus anbelangt, so erwähnt er Musil kein einziges Mal namentlich in seinen veröffentlichten Schriften – es bleibt bei einem verklausulierten Seitenhieb anlässlich einer Nestroy-Aufführung – und las wohl auch keines von dessen Büchern; Die Verwirrungen des Zöglings Törleß empfahl er Berthe Marie Denk ungesehen.15 Was Musil anbelangt, so las dieser im Januar 1930 mit Sicherheit Kraus’ Letzte Tage der Menschheit – seine Frau amüsierte sich währenddessen mit einer anderen Weltkriegssatire, Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, einem Buch, das Musil kurz darauf selber zur Hand nahm (vgl. Tb I, S. 695 f.) – und notierte hinsichtlich Kraus’ vorwiegend Kritisches in seine Tagebücher, Briefe und Fragmente; die Rezension ist einer von zwei öffentlichen Belegen.16 Dass sich auch Verbindungen über die von Musil redigierte Tiroler Soldaten-Zeitung, über Kerr, über ein Jean PaulPlagiat Georg Kulkas sowie über die von Soma Morgenstern kolportierte Konjunktiv-Geschichte herstellen lassen, sei hier nur am Rand vermerkt.17 Untersucht man zum Zweck der Verortung von Musils Rezension diese unveröffentlichten Aussagen, so lassen sich vier grobe Bereiche feststellen, welche Musils Gedanken in Bezug auf Kraus jeweils umkreisen. Erstens 15
16 17
Stéphane Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus, in: Kevin Mulligan, Armin Westerhoff (Hg.): Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Paderborn 2009, S. 225–238, hier S. 234–236. Zu Musil und Kraus siehe ebenfalls Stéphane Gödicke: Musil et Kraus, in: Austriaca 25 (2000), H. 50, S. 135–163; Helmut Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus, in: ders.: Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachreflexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch. Münster 1983, S. 246–256; Gunther Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik: Jünger – Kraus – Musil, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 43–64; Roman Rocek: Musil – Wildgans – Kraus, in: Musil-Forum 19/20 (1993/1994), S. 215–239; Pavel Trost: Zu Musil und Karl Kraus, in: Musil-Forum 17/18 (1991/1992), S. 241–244; Heinz Müller-Dietz: Diktat, Diktatur und Geist. Anmerkungen zu Anmerkungen Robert Musils über Karl Kraus, in: Musil-Forum 10 (1984), S. 171–180. Den zweiten öffentlichen Beleg siehe in GW II, S. 1030. Siehe Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 562 f.; GW II, S. 1406; Br I, S. 203; Soma Morgenstern: Kritiken, Berichte, Tagebücher. Hg. v. Ingolf Schulte. Lüneburg 2001 (= Werke in Einzelbänden), S. 558.
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zwei Bemerkungen, welche Kraus als politisch und satirisch Agierenden erkennen lassen, wie seine allererste Nennung im Zusammenhang mit Miklós Horthys Einmarsch in Budapest, dessen Rede Musil exzerpierte und mit der Frage: »Wo wird Karl Kraus bleiben?« versah, sowie einer weiteren Erwähnung, welche die eigene politische Gleichgültigkeit im Kontrast zu Kraus’ durchgreifender Konsequenz festhält (Tb I, S. 540 u. 924). Zweitens solche Aussagen, welche die massenaffine, ideologische Fan-Kultur um Kraus betreffen; die bekannteste davon vergleicht Kraus mit Hitler (vgl. GW II, S. 846 u. 1406; Tb I, S. 634, 845 u. 896). Drittens solche Aussagen, welche Kraus und sein Umfeld als Stoff für schriftstellerische Projekte reservieren, etwa für ein Buch, das erfolgreiche Schriftsteller besprechen sollte, um – ohne die Autoren gering zu schätzen – die Verdummung der Zeit zu diagnostizieren; oder für einen satirischen Roman mit dem Arbeitstitel Der Stern Ed, der eine theoretisch-kritische Abrechnung mit der Literatur enthalten sollte, wobei nebst Kraus Thomas Mann, Stefan George sowie Friedrich Nietzsche behandelt worden wären (vgl. Tb I, S. 472, 633 u. 679).18 Viertens solche Aussagen, die Kraus nicht nur als Element der Dichtung in Betracht ziehen, sondern ihn selber als »Dichter« bestimmen, indem er in den Tagebüchern unter diesem Beruf in der Gesellschaft von George und Rainer Maria Rilke erwähnt wird (vgl. Tb I, S. 873 u. 883). Die Aussagen zeigen, dass die Rezension Überlegungen festhält, die nicht ausschließlich aus dem Theaterabend ableitbar, sondern Momentaufnahme der längeren Beschäftigung mit Kraus sind. Die in der Rezension verhandelte Differenzierung zwischen Dichtung und Satire spielt dabei insofern eine Rolle, als den Bemerkungen zu entnehmen ist, dass Musil, was die Kategorisierungen von Kraus angeht, keiner eindeutigen Linie folgte. Ebenfalls bedeutsam ist, dass Musil in Bezug auf die satirische Agitation von Kraus sogar sein eigenes Tun und Denken kritisch hinterfragte. Vor allem aber zeigen die dem von der Rezension assoziierten ägyptischen Totenkult verwandten Aussagen, dass Musil den Satiriker als wichtigen Akteur des Literaturbetriebs im Fokus hatte.
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Mit der Idee, Kraus in poetische Texte zu übertragen, war Musil nicht allein. Siehe die zahlreichen Hinweise in: Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Hg. v. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2 2008, S. 430. Zum Beispiel in Hugo Bettauers Roman Der Kampf um Wien reagiert die Hauptfigur im Kontext einer Vorlesung von Kraus enthusiastisch auf dessen Œuvre. Vgl. Hugo Bettauer: Der Kampf um Wien. Ein Roman vom Tage. Wien 2012, S. 83 f. Bettauer, Journalist, Romancier und ehemaliger Schulkamerad von Kraus, publizierte zu dessen 50. Geburtstag in der Wiener Zeitung Der Tag in Form einer kleinen Novelle einen biographischen Rückblick des Jubilars. Vgl. Hugo Bettauer: Das Geburtstaggeschenk, in: Der Tag, 27. 4. 1924 (Rubrik: Novelle der Woche). Musil, der sich nach der Ermordung Bettauers für das Ansehen des Verstorbenen einsetzte, verbuchte ihn in seinem Tagebuch entsprechend unter dem Begriff »Krausianer« (Tb I, S. 634). Zu Kraus und Bettauer siehe Murray G. Hall: Karl Kraus und Hugo Bettauer, in: Kraus-Heft 8 (1978), S. 11–16.
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Sein Interesse an Kraus ist nicht nur deswegen über die Biographien hinaus durch dessen Position sowie durch die Position der Satire innerhalb des literarischen Feldes der 20er Jahre zu erklären. Als Folge seines Engagements während des Weltkriegs sowie der Publikation der Letzten Tage der Menschheit war Kraus zu einer zentralen Größe des deutschsprachigen Literaturbetriebs geworden; Kraus war Star und Reizfigur der Szene, inspirierte Autoren wie Brecht oder gab zur Abgrenzung Anlass.19 Satire war in den 20er Jahren äußerst populär.20 Ihr agitatorisches Element sowie ihr Wirklichkeitsbezug entsprachen der allgemeinen Tendenzhaftigkeit der zeitgenössischen Literatur und der neusachlichen Schreibweise; die Krisen des Erzählens und des Romans verliehen zudem kleinen Formen Auftrieb. Des Weiteren war die Satire das ideale Mittel der Aufarbeitung des Weltkriegs sowie der Bearbeitung von dessen Nachwehen. Damit übte eine aufgrund ihrer Stoff-Intensität und ihrer Wirklichkeitsnähe bisher von Kanon und philosophischer Ästhetik als minderwertige und nicht-künstlerisch taxierte Gattung – noch das dreibändige System der Ästhetik von Johannes Volkelt, 1925 respektive 1927 zum zweiten Mal aufgelegt, sieht in der Satire »ein Herausfallen aus dem ReinKünstlerischen«21 – Druck auf die klassische Gattungstrias Epik, Drama, Lyrik aus. Der 50. Geburtstag von Kraus ist ein symbolischer Meilenstein in der Findung des ästhetisch-theoretischen Selbstbewusstseins der Satire. An ihm lieferten sich, als Folge der markanten Präsenz von Kraus innerhalb des literarischen Feldes, die Rezensenten über den Jubilar als Triangulationspunkt hinweg Gattungsgefechte, um die Satire entweder zu adeln oder nach wie vor aus der Kunst auszuschließen. Die in der Fackel zusammengestellte und kritisch kommentierte Presseschau ist zudem selber als Satire auf die in Anschlag gebrachten ästhetischen Kategorien lesbar. Sie hat derart die Funktion einer Paraästhetik inne, sich in einen Diskurs einreihend, der vor dem Krieg einsetzte und nach Kriegsende von Viertel und Leopold Liegler erstmals in Buchform artikuliert wurde, wobei Viertel für die Veredelung der Satire plä19 20
21
Zu Brecht und Kraus siehe Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus (s. Anm. 6), S. 252–303. Vgl. z. B. Kerrs Diagnose von 1931 im Manuskript für eine Radiorede: »Ganz Deutschland ist eine Fabrik für Zeitsatire. Mit der Entwicklung der Presse spriesst Zeitsatire empor wie Gras – wie etwas Ungenanntes, allgemeines, nicht mehr wie ein paar seltene benannte Pflanzen. Das kommt daher, daß wir heut mehr Gegenstände für die Satire haben, als Satiriker vor 100 Jahren. Die Themen wimmeln heut. Natürlich die traurige Erscheinung des Weltkriegs mit seinen schaurigen Folgen. Da gibt’s was zu dichten: weil es so viel zu wünschen gibt. Denn Satire ist ja nur der besondere Ausdruck für Wünsche.« (Alfred Kerr: Quer durch die Zeitsatire (16. 5. 1931), zit. nach: Hermann Haarmann, unter Mitarbeit v. Andrea Klein: »Pleite glotzt euch an. Restlos«. Satire in der Publizistik der Weimarer Republik. Ein Handbuch. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 208–213, hier S. 208 f.) Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Bd. 2: Die ästhetischen Grundgestalten. München 2 1925, S. 477. Zur ästhetischen Verurteilung der Satire im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts siehe Georgina Baum: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Zur Kritik ihres apologetischen Charakters. Berlin 1959, bes. S. 65–76.
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diert und Liegler einen Umbau der Gattungssysteme fordert, und der mit Arbeiten von Walter Benjamin und Georg Lukács anfangs der 30er Jahre seinen Abschluss fand, indem beide Denker die Satire nicht nur in das Reich der Kunst aufnehmen, sondern dieses von der Satire aus organisieren beziehungsweise es mittels der Satire unterhöhlen.22 Musils Rezension ist Einsatz im Rahmen dieser Kämpfe. Die Präsenz der Satire innerhalb des literarischen Feldes der 20er Jahre wurde auch von ihm registriert. In einer für sein eigenes Schaffen bedeutsamen Besprechung der Aufführung von Romain Rollands Drama Knock ou le Triomphe de la médecine am Wiener Volkstheater in demselben Jahr, in dem Kraus’ Jubiläum stattfand, hielt er fest, dass diese Art des Witzes in einer Zeit, welche die ungeheuerlichsten Energieausbrüche mit einem beispiellosen ideologischen Durcheinander begleite, nicht nur in Frankreich und Russland, sondern auch in Deutschland die Logik der Bühne durchbrochen habe. Musil konstatiert eine spezifische »Art der Satire«, die im Unterschied zum von ihm mehrfach gelesenen satirischen Roman Vanity Fair von William M. Thackeray keinen festen Punkt mehr kenne, von dem aus sich die Satire auf ihren Gegenstand richte. Stattdessen werde die Satire »zum atmosphärischen Medium, in dem sich alle Vorgänge lächerlich verknüpfen« (GW II, S. 1646).23 Wie Musil am Schluss seiner Rezension zugibt, ist diese Art der Satire vielleicht weniger die von Rollands Drama, als dass sie ein Phänomen von allgemeiner Wichtigkeit sei. Es ist offenkundig, dass Musil hierbei auch in eigener Sache spricht.24
4. Am 25. Januar 1930 las Musil in der Volkshochschule am Ludo-HartmannPlatz aus dem Manuskript der Einleitung des Mann ohne Eigenschaften vier 22
23
24
Siehe Berthold Viertel: Karl Kraus. Ein Charakter und seine Zeit. Dresden 1921, bes. S. 64; Leopold Liegler: Karl Kraus und sein Werk. Wien 1920, bes. S. 90 u. 325; Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1: Aufsätze, Essays, Vorträge (s. Anm. 1), S. 334–367; Georg Lukács: Zur Frage der Satire, in: Bernhard Fabian (Hg.): Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim, New York 1975, S. 425–499. Dass die Diskussion vor den Krieg zurückreicht, lässt sich z. B. bei Walter Serner nachlesen. 1911 hielt er in einem Aufsatz ein »Einschachtelungsbedürfnis« des Phänomens Kraus fest: Die einen würden ihn »Satiriker, die anderen Kulturkritiker, jene einen Philosophen, die einen Publizisten heißen [. . .]. Karl Kraus ist ein Künstler.« (Walter Serner: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Über Denkmäler, Weiber und Laternen. Frühe Schriften. Hg. v. Thomas Milch. München 1981, S. 82) Musil plante ebenfalls 1924 ein Buch mit dem Titel Symptomentheater, wobei die in der Besprechung von Rollands Drama verhandelte Problematik der Satire respektive des Humors eine Rolle spielen sollte. Ebenso wäre die missverständliche Einordnung des Vinzenz in die satirische Tradition Carl Sternheims, Georg Kaisers und Frank Wedekinds besprochen worden (vgl. Br I, S. 348–351). Vgl. Streitler: Musil als Kritiker (s. Anm. 8), S. 169.
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Kapitel vor: das allererste, das Bonadea- sowie die Offizier-Ingenieur-Mathematiker-Kapitel. Wie Musil in seinem Tagebuch als ungutes Vorzeichen festhält, saß ihm während der Hinfahrt zur Volkshochschule in der Straßenbahn eine Frau gegenüber, welche eine Ausgabe seiner Novelle Grigia in der Hand hielt. Musil las, wie man ihm freundlich bescheinigte, gut; auch selber war er überrascht von seinen Fähigkeiten als Vorleser. Das Publikum ging, wie er nüchtern anmerkt, ganz gut mit. Allein nicht von Beginn weg; der Anfang der Lesung verpuffte nämlich, so konstatiert Musil, weil er verabsäumt hatte, die Zuhörer »auf die Mischung von Ironie u[nd] Ernst vorzubereiten«. Der Tagebuch-Eintrag fundiert das mit einem genauen Blick des Autors ins Publikum. Abgesehen von einem jungen, jüdischen Intellektuellen machte Musil kleinbürgerliche Matronen und »einige junge Männer mit Vorstadtgesicht und Überlegenheit einer Weltanschauung« aus. Ihr Beifall, so Musil, sei ohne Ovationen gewesen, aber lebhaft; er könne sich denken, wie anders das bei Werfel wäre, und könne es sogar begreifen. So nett es sei, diesen Leuten alle Dichter vorzusetzen, so wirke es doch in der Richtung, muss Musil einsehen, »das recht runde Erzählen recht bekannter Dinge zu fördern.« (Tb I, S. 696 f.) Dieser Abend hatte seine Folge in einer selbstkritischen Notiz, die sich Musil als Hinweis für die zeitgleich von ihm vorgenommenen, letzten Korrekturen am Manuskript des Mann ohne Eigenschaften machte. Musil notierte: Denke daran, daß die Zuhörer im Volksbildungshaus die Satire gar nicht gemerkt haben bzw. um 180° verkehrt verstanden haben. Denke an die entgegengesetzte Satire von Flaubert bis Bernanos! [. . .] Satire auf die Gegner der Mathem[atik]. Schlechte Mathe[matiker] sagen den Zusammenbruch voraus [. . .].25
Die Notiz beweist einmal mehr die Bedeutung der pragmatischen Komponente für die satirische Kommunikation; ohne gemeinsamen Wissenshorizont, ohne stillschweigende Übereinkunft über den satirischen Charakter der jeweiligen Sprechhandlung gelingt keine Satire.26 Im Fall von Musil lässt sich für das Scheitern der satirischen Kommunikation als literaturhistorische Ursache sein Autorenprofil angeben, das, wie exemplarisch die Tramlektüre der Hörerin und Musils Rekurs auf das krisenfeste Erzählen Franz Werfels zeigen, anfangs der 30er Jahre keines des Satirikers, sondern eines des Dichters war. Abgesehen von der Posse Vinzenz waren in den 20er Jahren nur Texte Musils in Buchform auf dem Markt, die wie die in der ersten Hälfte des Jahrzehnts erschienenen Frauen-Novellen deutlich ins Fach der ernsten Kunst gehören. Viele kürzere Texte mit satirischem Anstrich, die Musil 1936 im Nachlaß zu Lebzeiten unter dem Etikett »kleine[ ] Satiren« (GW II, 25 26
KA/Transkriptionen/Mappe I/2/2. Zur pragmatischen Komponente satirischer Kommunikation siehe Wolfgang Weiss: Probleme der Satireforschung und das heutige Verständnis der Satire, in: ders. (Hg.): Die englische Satire. Darmstadt 1982 (= Wege der Forschung, Bd. 562), S. 1–16, hier S. 14–16.
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S. 474) zusammenfasste, waren hingegen unübersichtlich verstreut in Zeitschriften erschienen. Was das Publikum zudem kaum wissen konnte, war, in welchem Ausmaß sich Musil nicht erst seit dem Krieg mit Satire beschäftigte. Allem voran war es die Niederschrift des Mann ohne Eigenschaften, die Musil ab 1921 in Beschlag nahm; eventuell unter dem Einfluss von Kraus – ein Jahr zuvor hielt Musil nämlich in seinem Tagebuch fest, seine Absicht sei es, »Denksysteme zu karrikieren« und, wofür Kraus berühmt und berüchtigt war, »[e]inen Menschen ganz aus Zitaten zusammen[zu]setzen«.27 Zusätzlich existieren beinah fertiggestellte beziehungsweise weit gediehene, nicht publizierte satireaffine Texte wie die »liebevolle [. . .] Satyre« auf den Pan von 1911/12, die Musil unter Umständen in der Schublade ließ, weil Kraus zeitgleich dieselbe Zeitschrift zu attackieren begann; Entwürfe zum bereits erwähnten Roman Der Stern Ed; eine nach dem Krieg gemachte Skizze zu einem satirischen Drama; sowie zahlreiche theoretische Überlegungen zu satirischen Schreibtechniken.28 Musil ist damit der Fall eines herausragenden Akteurs des literarischen Feldes zwischen 1918 und 1933, anhand dessen Schreiben sich die Zuwendung der Dichtung zur Satire beobachten lässt. Die obige Notiz zeigt, wie hier ein Autor an seinem Text schliff, um dessen satirische Sprechweise zu skulpturieren. Das mag nicht nur daran gelegen haben, dass hier eine von autonomer Kunst trainierte Feder umgelernt hatte. Denn darüber hinaus widersprach das satirische Element, wie Musil bei der Lektüre von Georges Bernanos’ Die Sonne des Satans feststellte, dem im Mann ohne Eigenschaften verhandelten ›anderen Zustand‹ (vgl. Tb I, S. 698). Musil musste sich deshalb gelegentlich ins Bewusstsein rufen, den Stoff des Romans als Satire deutlicher zu gestalten; machte sich andersherum Gedanken darüber, ob eine Passage nicht besser ohne satirischen Gestus auszuführen sei.29 Dass Musil schließlich die mangelnde Zeitanbindung des Romans Sorgen bereitete, kann ebenso im Zusammenhang mit der spezifischen Referentialität der Satire gesehen werden 27
28
29
Siehe Tb I, S. 356; Tb II, S. 1068. Die nicht unwahrscheinliche Vermutung haben geäußert Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49), S. 214; Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus (s. Anm. 15), S. 254–256. Zur Pan-Satire siehe Tb I, S. 234; Tb II, S. 143; GW II, S. 748–750. Ein Überblick über die satirischen Projekte findet sich bei Christoph Hönig: Die Dialektik von Ironie und Utopie und ihre Entwicklung in Robert Musils Reflexionen. Ein Beitrag zur Deutung des Romans Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin 1970, S. 119–315. Für den Mann ohne Eigenschaften als satirischen Roman siehe Helmut Arntzen: Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im Mann ohne Eigenschaften. Bonn 1983 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 9). So notierte Musil beispielsweise in Bezug auf Clarisse an verschiedenen Stellen: »Cl. s. Ideen satirisch behandeln, u[nd] das Traurige schimmert nur so durch?« (KA/Transkriptionen/Mappe I/5/104) bzw. rot umrahmt: »? Cls Ideen satirisch behandeln, u[nd] das Traurige schimmert nur so durch« (KA/Transkriptionen/Mappe I/5/80) sowie: »Cls Ideen satirisch, u[nd] das Traurige nur so durch!« (KA/Transkriptionen/Mappe I/5/131)
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(vgl. MoE, S. 1817). In der Tat changieren im Roman lächerliche und ernste Passagen; nicht immer ganz freiwillig sind sie eher satirisch oder eher dichterisch ›geladen‹. Aus Musils Rezension von Kraus’ 50. Geburtstag scheint auch die eigene Schreiberfahrung zu sprechen. Auf den falschen Weg wie die Zuhörer in Musils Lesung gelangten indes nicht alle. Die zeitgenössischen Rezensenten haben den Roman sehr wohl als Satire auf die Donau-Monarchie und die eigene Zeit erkannt.30 Einer von ihnen war der bereits erwähnte Lukács. 1933 schrieb er einen längeren, nicht publizierten Aufsatz, übertitelt Grand Hotel ›Abgrund‹, der das ideologische Verhalten der Intelligenz zur Zeit der Vertiefung der Krise des Kapitalismus sowie des Vorstoßes des Faschismus untersucht und dazu im zweiten Teil eine überaus lesenswerte Interpretation der beiden unlängst beziehungsweise frisch erschienenen Bände des Mann ohne Eigenschaften vornimmt. Lukács, der in den 20er Jahren in Wien lebte, sich mit Kraus auseinandersetzte und mit Musil persönlich bekannt war,31 arbeitet sowohl eine positive als auch eine negative Seite des Romans heraus. Missglückt erscheint ihm die Figur Ulrichs, dessen selbstgefällige, radikal-ironische Kritik gegenüber allem und jedem, anstatt zu verändern, bloß das moralische Gewissen des Intellektuellen beruhigt. Geglückt ist seiner Ansicht nach der Roman als Satire auf die bürgerlich-kapitalistische Vor- und Nachkriegsgesellschaft.32 Lukács’ Lektüre ist umso bemerkenswerter vor dem Hintergrund seiner 1932 formulierten, für die Epoche wichtigen Satire-Theorie. In ihr unternimmt es Lukács, wie angedeutet, die in die Randgebiete verbannte Satire ins Zentrum der Kunst zu verschieben. Die Aufwertung gelingt Lukács dadurch, dass er die Satire nicht als Gattung definiert, sondern als »schöpferische Methode«, deren Bereich sich »von der Glosse und den Agitationsverschen [. . .] bis zum großen Roman und zur großen Komödie« ausdehnt.33 Diese Methode wiederum zeichnet sich, verkürzt dargestellt, dadurch aus, dass sie von einer bestimmten weltan30 31
32
33
Siehe KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen, z. B. die Besprechungen von Ernst Fischer, Bernhard Guillemin sowie Karl Blanck. Zu Lukács und Musil siehe Morgenstern: Kritiken, Berichte, Tagebücher (s. Anm. 17), S. 552; zu Lukács und Kraus Georg Lukács: Briefwechsel 1902–1917. Hg. v. Éva Karádi u. Éva Fekete. Stuttgart 1982, S. 253, sowie Lukács’ Rezension der Letzten Tage der Menschheit in Georg Lukács: Eine Kampfschrift gegen den Krieg der Bourgeoisie, in: Manfred Brauneck (Hg.): Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918–1933. München 1973, S. 187–191. Georg Lukács: Totentanz der Weltanschauungen, in: Ilona T. Erdélyi (Hg.): Literatur und Literaturgeschichte in Österreich. Budapest 1979 (= Sondernummer der Zeitschrift Helikon), S. 297–307. – Eine ähnliche Kritik übte Benjamin am Protagonisten von Hermann Kestens satirischem Roman Ein ausschweifender Mensch (1929) sowie an der ironischen Attitüde linksorientierter bürgerlicher Publizisten wie Erich Kästner, Walter Mehring und Kurt Tucholsky im Rahmen einer Rezension von Erich Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft (1930). Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1991, S. 171–174 u. 279–283. Lukács: Zur Frage der Satire (s. Anm. 22), S. 449.
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schaulichen Warte aus – Lukács analysiert hier zunächst ideologisch neutral – eine Gesellschaft entlarvt, indem sie eine in deren Wirklichkeit verborgene, aber »besonders charakteristische Möglichkeit«34 drastisch und unvermittelt sinnlich vergegenwärtigt. Weil der Satiriker seine Figuren, Szenen und Handlungsabläufe nicht rein aus einem erzählerischen Kosmos gestaltet, sondern aus seiner Weltanschauung heraus modellieren muss, verlangt die Satire nach Lukács sogar mehr Phantasie als die Produktion nicht-satirischer Kunstwerke.35 Die Differenzierung Dichtung/Satire wird mithin auf der Ebene der Theorieproduktion ähnlich aufgeweicht wie in Musils Rezension auf der Ebene der Literaturkritik oder auf der Ebene der Kunstwerke in Traumstück oder, was die Durchmischung der Sprachmodi angeht, im Mann ohne Eigenschaften. Dabei spannte der Diskurs, der derart einen Vorläufer des heute verbreiteten Konzepts der Satire als ›philosophischer Gattung‹ beziehungsweise als Schreibweise formulierte,36 die Satire zwischen Wirklichkeit und Phantasie, um einerseits für eine Dichtung einzutreten, die unmittelbar gesellschaftsrelevant war, sowie um andererseits mit der Phantasie das dichterische Element der Satire hervorzuheben. In Traumstück sieht man einen Dichter auf der Bühne, der im Traum – dem Organ der Phantasie – Natur-, Liebeslyrik, Groteske, Utopie und Satire durchlebt. Musils Mann ohne Eigenschaften liegt eine verwandte Bandbreite zugrunde. Es heißt zu Beginn von den Menschen mit Möglichkeitssinn: Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler. (MoE, S. 16)
Die Varianten des Möglichkeitsmenschen reichen also von der träumerischen Persönlichkeit mit starkem Hang zur Phantasie über den ins utopische Futur tendierenden Charakter bis zum Nörgler, zum Satiriker. Der letzte Beruf ist somit neben den anderen in das Psychogramm des Protagonisten Ulrich eingeschrieben, des zentralen Möglichkeitsmenschen des Romans, der wie Hašeks Schwejk und Siegfried Kracauers Ginster im Rahmen der Fiktion die Funktion übernimmt, die anderen Figuren und die Geschehnisse satirisch in Szene zu setzen;37 verwachsen mit der grundlegenden Kategorie ist er gera34 35 36
37
Lukács: Zur Frage der Satire (s. Anm. 22), S. 434; Hervorhebung im Original. Lukács: Zur Frage der Satire (s. Anm. 22), S. 438 f. Siehe die paradigmatische Definition bei Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 275–377, hier S. 276 f. Vgl. den Hinweis auf eine entsprechende Funktionsweise Ulrichs bei Irmgard Honnef-Becker: »Ulrich lächelte«. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. 1991 (= Trierer Studien zur Literatur, Bd. 20), S. 114. Zur Kon-
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dezu prädestiniert zum Experten der Satire.38 Lukács hat aus der Sicht des Klassenideologen an Ulrich kritisiert, dass seine ironische Lebenshaltung gar nichts gelten lässt. Mit Musil kann man ihm entgegenhalten, dass Ulrich die für die 20er Jahre typische Art der Satire praktiziert, die weniger Kritik denn Atmosphäre ist: Ulrich betreibt die satirische Aggression zum Selbstzweck – seine Satire verlässt damit, gemäß der Logik der Epoche, die Peripherie der Kunst und wird zur Dichtung veredelt. Das hindert den Roman nachgerade nicht daran, die Akteure des Literatursystems abzuräumen. Es kann als Umsetzung der Projektidee einer Satire auf den Literaturbetrieb und als eine Satire auf die offiziellen Geburtstagsfestlichkeiten für große Autoren gelesen werden, wenn sich der Erzähler in Diotimas Salon über die Dichter folgendermaßen auslässt – die ägyptische Metaphorik schwingt leise mit: Sie genießen große Verehrung, die sich an ihrem fünfzigsten bis hundertsten Geburtstag äußert [. . .]. Aber diese Verehrung ist nicht ganz reell; auf ihrem Grunde gähnt die allgemein bekannte Überzeugung, daß eigentlich doch kein einziger sie verdient, und es läßt sich schwer unterscheiden, ob sich der Mund aus Begeisterung oder zum Gähnen öffnet. Es hat etwas von Totenverehrung an sich, wenn heute ein Mann genial genannt wird [. . .]. (MoE, S. 298 f.)
38
stellation Ulrich-Schwejk-Ginster siehe die Hinweise bei Inka Mülder: Siegfried Kracauer. Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933. Stuttgart 1985, S. 141; Helmut Brandt: Der Held ist kein Held. Siegfried Kracauers Roman Ginster, in: Gerhard R. Kaiser (Hg.): Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur. Heidelberg 1998 (= Jenaer germanistische Forschungen. N. F., Bd. 1), S. 199–230, hier S. 211 f.; Peter von Matt: Der Narr im Hinterland, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane von gestern – heute gelesen. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1989, S. 132–139, hier S. 136 u. 139. Die Kategorie der Möglichkeit war zu Lebzeiten Musils bei Schriftstellern und Philosophen aktuell. Siehe Michael Jakob: »Möglichkeitssinn« und die Philosophie der Möglichkeit, in: Gudrun Brokoph-Mauch (Hg.): Robert Musil. Essayismus und Ironie. Tübingen 1992, S. 13– 24, hier S. 13. Sowohl bei Musil als auch bei Lukács lassen sich Verbindungen zwischen der Kategorie der Möglichkeit und der Lektüre von Meister Eckharts Schriften herstellen. Siehe Niklaus Largier: Mystik als Medium. Robert Musils »Möglichkeitssinn« im Kontext, in: Alexandra Kleihues, Barbara Naumann, Edgar Pankow (Hg.): Intermedien. Zur kulturellen und artistischen Übertragung. Zürich 2010 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 14), S. 401–411. Überaus beachtenswert im Zusammenhang mit der Satire sind die Bezüge zu Leibniz’ Theorie der besten aller möglichen Welten und zu Voltaires satirischer Reaktion in Candide. Zu Voltaire und Leibniz als Kontexte des Möglichkeitssinns siehe Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 205 f. Die zeitgenössische Buchkritik verglich den Mann ohne Eigenschaften mehrfach mit Voltaires Roman. Siehe KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen/Bernhard Guillemin, Max Hochdorf. Lukács entwickelte seine Bestimmung der Satire als charakteristischer Möglichkeit argumentativ anhand des Phänomens der Köpenickiade. Siehe Lukács: Zur Frage der Satire (s. Anm. 22), S. 434. Bezeichnenderweise schließt Carl Zuckmayers satirisch gefärbtes Drama Der Hauptmann von Köpenick von 1930 mit dem von Wilhelm Voigt gesprochenen Wort – Voigt sieht sich dabei im Spiegel zum ersten Mal in Uniform: »Unmöglich!!« Siehe Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. Frankfurt a. M. 2011, S. 150. Auch für Kraus ist die Kategorie der Möglichkeit eine grundlegende Kategorie der Satire. Siehe z. B. das Vorwort zu den Unüberwindlichen in Kraus: Schriften. Bd. 11 (s. Anm. 2), S. 225.
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Die »Exterritorialität der Frau in der Männerwelt« Robert Musils Briefe Susannens Abstract: The article discusses Robert Musil’s Brief Susannens and Unsere Männer which were both published in Roland in 1925 and are hence situated as the short prose texts between narration and reflection. Taking into account the fragment »Dort, wo du nicht bist«, this article employs text-extrinsic information on the production and publication process and analyses text-intrinsic strategies of fictionalisation. The essay argues that the texts not only deal with imagination and the justification of adultery but with fashion and politics as well. Moreover, they use a female mask to offer both erotic and poetic possibilities through perspectival reversion.
1. Brief Susannens oder Die »Poesie der Einäugigkeit« REGINE : Gar keinen Mann anschaun oder jeden ist das gleiche. Man kann sich ihnen ans Herz werfen, bloß weil man verrückt wird vom Fremdsein [. . .]. (GW II, S. 380) ALPHA : [. . .] Ich habe die Welt nicht gemacht. Ich hätte sie auch wirklich besser gemacht, wenn ich gefragt worden wäre; das ist kein Kunststück. Und diese von diesen Männern gemachte Welt soll ich ernst nehmen? Das wollen sie ja von mir; ich soll die Welt respektieren! Da würde ich ja eher Sufragette [!] werden! (GW II, S. 442)
1925 erscheint in der Nr. 3 des Roland vom 15. Januar eine kleine »Plauderei in Flirtgrenzen« (Br I, S. 370): ein kurzer, etwas mehr als drei Seiten bzw. nicht ganz sieben Spalten umfassender Text (GW II, S. 634–637), der von der Forschung bislang kaum berücksichtigt worden ist. Die titelgebende fiktive Susanne, offenbar eine Österreicherin, schreibt in der Ich-Form an eine namenlose Berliner Freundin. Der Monolog Susannes ist durch die Briefform dialogisch gerahmt. Es handelt sich dabei allerdings weder um einen sprachkritisch1 motivierten Brief einer Schwester jenes Lord Chandos, der gegenüber Francis Bacon sprachgewaltig seinen Sprachverlust beklagt, noch
1
Vgl. Gunther Martens: Robert Musils Kurzgeschichten: »an den Rand geschrieben«?, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 56 (2009), H. 2, S. 246–257, hier S. 254.
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um eine Schwester Shakespeares2 in zeitgenössischem Spangenschuh und Bubikopf-Frisur der Neuen Frau der 1920er Jahre. Im Hinblick auf Umfang, Inhalt und Anspruch liegt eine Kleine Form vor, die gattungstypologisch zwischen Erzählung und Glosse, Literatur und Alltagskommunikation,3 Narration und Reflexion (»Plauderei«, Br I, S. 369) anzusiedeln ist. Eine eindeutige Zuordnung der drei Briefe Susannens, die im Folgenden betrachtet werden, zur Erzählung oder zur Groteske ist nicht möglich. Eine Zuordnung zur Kleinen Prosa4 erscheint aus folgenden Gründen sinnvoll: 1. Die moderne Form der Kleinen Prosa sprengt in Verbindung von reflexiven und narrativen Vertextungsstrategien die tradierte Gattungsnomenklatur.5 2. Eine strikte Unterscheidung zwischen fiktionaler Narration einerseits und nicht-fiktionaler, reflexiver Glosse andererseits ist bei den Briefen Susannens wegen der Fiktivierung der gesamten Kommunikationssituation nicht möglich. 3. Bei den Prosaskizzen handelt es sich sowohl um »Reflexionsprosa«6 als auch um eine »Minimalform[ ]«7 bzw. eine »Minimalisierung des Erzählens«.8 Diese ist nicht nur Prätext sondern auch ironischer Metatext des großen Romans. 2 3
4 5
6 7 8
Vgl. Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein [engl.: A room of one’s own, 1929]. Übers. v. Renate Gerhardt. Frankfurt a. M. 1981, S. 54–56. Vgl. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne, in: dies. (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen 2007, S. IX – XXVII, hier S. XVII . Adolf Frisé hat den Text unter »Verstreute kleine Prosa/Erzählungen« (GW II) rubriziert. Vgl. Dirk Göttsche: ›Geschichten, die keine sind‹. Minimalisierung und Funktionalisierung des Erzählens in der Kleinen Prosa um 1900, in: Manfred Engel, Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die kleine Prosa der Moderne/Kafka and Short Modernist Prose. Würzburg 2010 (= Oxford Kafka studies, Bd. 1), S. 17–33, hier S. 18: »[E]ine Katalogisierung moderner Kurzprosa nach trennscharfen Gattungsbegriffen mit klar definierten Merkmalkomplexen [ist] unmöglich.« Vgl. ders.: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 17: »Damit werden tradierte Gattungsgrenzen gezielt unterlaufen und etablierte Genremuster in frei verfügbare Schreibweisen transformiert.« Althaus, Bunzel, Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (s. Anm. 3), S. IX, beschreiben die Kurzprosa als »Abfallprodukt des triadischen Gattungsmodells«. Dieses nimmt gleichsam einen ›exterritorialen‹ Standort innerhalb der Gattungssystematik ein. Vgl. Moritz Baßler: Kurzprosa im 20. Jahrhundert – Kontinuitäten außerhalb einer Gattungstradition, in: Althaus, Bunzel, Göttsche (Hg.): Kleine Prosa (s. Anm. 3), S. 186–196, hier S. 189: »Als Gattung des modernen Texturexperiments steht moderne Kurzprosa quasi von Anfang an außerhalb des traditionellen Gattungskanons und macht darin, so die These, ein generelles Problem moderner Literatur sichtbar.« Althaus, Bunzel, Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (s. Anm. 3), S. XV, sowie Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (s. Anm. 5), S. 20. Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (s. Anm. 5), S. 41. Göttsche: ›Geschichten, die keine sind‹ (s. Anm. 5), S. 13.
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Abb. 1: Titelbild der Nr. 1 des Roland vom 1. Januar 1925.
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4. Vergleichen wir die Briefe Susannens mit anderen kleineren Beiträgen, die Musil in den 1920er Jahren als Vorabdrucke zu seinem Roman in Zeitschriften veröffentlicht hat, so lässt sich für die Briefe Susannens das Prinzip der ›Umkehrung‹ feststellen, während für Leona9 das Prinzip der perspektivischen und für Mary alias Tante Jane10 das Prinzip der (zeitlichen) ›Verschiebung‹ konstitutiv ist. 5. Nach Gustav Frank und Stefan Scherer trägt die Kleine Prosa der Moderne »einen deutlichen ›gender‹-Index«: Es handele sich um eine dezidierte Form von »Männerliteratur«, um »die maskuline Form der Bewährung, ja der aggressiven Behauptung« gegenüber den zeitgenössischen »als feminin stigmatisierte[n] Handlungs- und Schreibmustern«.11 Musil inszeniert dagegen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in seiner Reiseskizze eine ephemere, weibliche Perspektive auf die ›große Welt‹ der Männer/Welt der ›großen Männer‹ und nimmt damit in der kleinen ›koketten‹ Prosaform eine ironische Umkehrung der Geschlechterverhältnisse vor. Textexterner wie textinterner Anlass des ersten Briefs Susannens ist eine Reise mit der Eisenbahn. Ein offensichtlich jüngerer Mann sitzt der fiktiven Briefschreiberin Susanne im Zugabteil gegenüber. Entworfen wird die Möglichkeit einer erotischen Beziehung, konkret eines Ehebruchs, der jedoch – anders als im Fall Claudines in Die Vollendung der Liebe (1911) – nicht vollzogen wird. Auch hier trägt der Fremde einen Pelz,12 aber anders als bei Claudine – und dies ist die Pointe des kurzen Textes – ist der Gatte diesmal nicht teetrinkend zu Hause geblieben (vgl. GW II, S. 156), sondern sitzt während dieses ›Ehebruchs in Gedanken‹ neben seiner Gemahlin im Waggon. Beide befinden sich im sogenannten ›besten‹ Alter: Er ist bereits in die »majestätischen Jahre« gekommen und daher etwas »bequem« geworden (GW II, S. 634). Und auch sie, also Susanne, scheint sich in jenem »gefährlichen Alter der Frau«13 zu befinden, in dem »eine Frau noch schön genug ist, alte Freunde festzuhalten, aber nicht mehr schön genug, neue zu gewinnen.«14 9
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Robert Musil: Leona (Aus der Vorarbeit zu einem Roman), in: Literaria-Almach 1 (1921), S. 66–72, sowie ders.: Die beiden Geliebten (Bild aus einem Roman), in: Prager Presse, 9. 5. 1923, S. 2–3, sowie ders.: Ein herausgerissenes Blatt, in: Prager Presse, 15. 8. 1926, S. 3–4. Robert Musil: Die Entdeckung der Familie, in: Berliner Tageblatt, 11. 4. 1926 [Morgenausgabe]. Gustav Frank, Stefan Scherer: »Stoffe, sehr verschiedener Art . . . im Spiel . . . in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen«. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne, in: Althaus, Bunzel, Göttsche (Hg.): Kleine Prosa (s. Anm. 3), S. 253–279, hier S. 262 u. 258. Vgl. Die Vollendung der Liebe (1911) (GW II, S. 169) sowie den Brief Susannens (GW II, S. 635). Vgl. Karin Michaëlis: Das gefährliche Alter. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe einer vierzigjährigen Frau. [1910] Übers. v. Mathilde Mann. Nachw. v. Manuela Reichart. Frankfurt a. M. 2005. Sofia Lazarsfeld: Wie die Frau den Mann erlebt. Fremde Bekenntnisse und eigene Betrachtungen. Leipzig, Wien 1931, S. 314. Lazarsfeld zitiert hier aus Anatole Frances Die Insel der
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Susanne beschreibt ihren »[n]icht mehr ganz jung[en]« Körper (GW II, S. 635) der Empfängerin des Briefes »sachlich« (GW II, S. 635), das heißt, sie zieht sich in einer Art antizipiertem männlichem ›Doppelblick‹ vor den Augen der Leserinnen und Leser des Roland aus. Wir sehen sie gleichsam nackt vor einem imaginären »Spiegel« (GW II, S. 635) stehend, eben nicht nur rein »sachlich«, sondern zugleich auch aus der Perspektive ihres Gatten, der sie mit liebenden Augen ansieht wie ein bereits »ausgelesenes Buch« (GW II, S. 636): »Ich weiß natürlich genau, wie ich aussehe« (GW II, S. 635), so beginnt die extern über zwei Banden projizierte Selbstbeschreibung, welche offenbar die zeitgenössische »Schule der Frauen«,15 die Schönheitstipps der illustrierten Magazine für die Dame von Welt, bereits durchlaufen hat:16 Die Haare sind »aufgehellt[ ]«. Die »brünette Haut« beginnt »an der Stelle, wo der Hals der Brust aufsitzt, bräunlich zu werden« und trägt den »blonden Puder« nicht mehr (GW II, S. 635). Kinn und Hals, vormals noch »energisch« und »gerade«, sind bereits von »ein[em] leichte[n] Vorhang von Fett [. . .] wie ein weiches, angeschmiegtes Tuch« verhangen, unter welchem »der Körper nur noch in schwächster und wie alle Unbestimmtheit erregender Andeutung zu fühlen ist« (GW II, S. 635). Die Hüften haben »im Verhältnis zu [ihrer] Größe schon die äußerste noch schöne Breite erreicht«, die »Spindelform der Schenkel« hat sich mittlerweile »hochgewickelt« und »in den zarten Einschnitt zwischen Brust und Bauch« könnte sie, also Susanne, »aufrecht stehend« keinen »Seidenfaden« mehr legen, »ohne daß er herunterfiele.« (GW II, S. 635) In der absteigenden Linie des Körpers bzw. in der geradezu kubistisch dezentrierten Körpercollage scheint allenfalls »die blonde Nase« aufzubegehren, die in der Kolorierung mit den aufgehellten Haaren korrespondiert: Diese »schwuppt« sich »mit allem Reiz der Umkehrung [. . .] in die Luft« (GW II, S. 635; Hervorhebung B. N.) und wird von Susanne respektive Musil immerhin nicht als ›Stupsnäschen‹ bezeichnet. Der entkleidete alternde Frauenkörper wird im Modus des Konjunktivs mit einem »Akrobaten auf dem Turmseil in der tiefsten, schwankendsten Mitte« (GW II, S. 635) verglichen. Dagegen steht der körperlich anwesende Gatte bereits jenseits des Abgrundes im Bereich des »Ruhigere[n] und Befestigte[n]« (GW II, S. 635), ohne den sich im Abteil auftuenden »Abgrund« (GW II, S. 637) – zwischen seiner Gattin und dem fremden Reisenden auf der einen Seite und sich, dem diminutiv verkleinerten »Manni« (von Manfred bzw. althochdeutsch ›Mann‹), auf der anderen Seite – überhaupt zu bemerken.
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Pinguine (1908). Die verheiratete Seele Diotima wird in Der Mann ohne Eigenschaften (1930) die nymphomanische Bonadea, ihre ehebrecherische Schwester im Geiste, unter Zuhilfenahme dieses ehehygienisch-sexualwissenschaftlichen Ratgebers beraten. Vgl. Hannelore Schlaffer: Mode, Schule der Frauen. Frankfurt a. M. 2007. Vgl. Eva Klingenstein: Die Frau mit Eigenschaften. Literatur und Geschlecht in der Wiener Frauenpresse um 1900. Köln u. a. 1997 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe, Bd. 8).
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Abb. 2: Titelbild der Nr. 3 des Roland vom 15. Januar 1925.
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Während er, also Manni, seine Frau »[v]on Zeit zu Zeit« aufmerksam fragt, »ob er [ihr] ein anderes Buch reichen dürfe oder etwas Konfekt oder ein Fläschchen mit irgendwas« (GW II, S. 637), kommuniziert der Körper seiner Frau direkt mit dem »Fremden« (GW II, S. 636) und lässt diesen von den (weiblichen Körper-)Teilen auf das Ganze schließen: »Ich öffnete oder schloß den Pelz und den seidenen Schal, zeigte Teile, stützte den Arm auf oder ließ ihn in den Schoß weisen« (GW II, S. 636). Ob das »kleine[ ] Reiseerlebnis«, das Susanne ihrer Berliner Freundin erzählt, tatsächlich »fast ausschließlich aus ihren Assoziationen« besteht,17 wie Arntzen behauptet, sei dahingestellt. Jedenfalls führt der offene Horizont der hermeneutischen Körperakte – »während wir beide den endgültigen Sinn nicht voraus wußten« (GW II, S. 637) – hier nicht zu einem ›Verschmelzen‹ bzw. zu einer ›Vereinigung‹18 der Körper. Der performative Akt der »Koketterie« (Br I, S. 370) ersetzt vielmehr den Akt der Geschlechter und macht eine doppelte Inversion möglich: nämlich den Blick der reisenden Frau auf den ihr gegenübersitzenden Mann, welcher jenen kurzen Moment des Transitorischen, Flüchtigen, Zufälligen (»le transitoire, le fugitif, le contingent«), den Charles Baudelaire in seinem Gedicht À une passante eingefangen hat,19 zur prosaischen Dauer einer »nicht zu langen Eisenbahnfahrt[ ]« (GW II, S. 635) ausdehnt. »[A]uch in der Liebe ist weniger mehr« (GW II, S. 634) – so könnte die Überschrift zu dieser »kleine[n] Reiseskizze« (Br I, S. 370) lauten. Denn in diesem narrativen Metatext zum Ehebruch macht nicht die Liebe blind, vielmehr wird die Erregung20 der Frau erst möglich durch eine »Minusvariante« (GW II, S. 634)21 männlicher Physiognomie: Ein Auge des Fremden, der Su17 18 19
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Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer Der Mann ohne Eigenschaften. München 1980, S. 256; Hervorhebung B. N. Vgl. Musils Novellenband Vereinigungen (1911). Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne, in: ders.: Œuvres complètes. Bd. II . Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris 1976 (= Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 7), S. 683–724, hier S. 695; vgl. Birgit Nübel: Die vergänglichen Kleiderschichten oder Mode als »Dauerzustand« der Moderne, in: Sabine Schneider, Heinz Brüggemann (Hg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. München 2010, S. 161–185. Vgl. GW II, S. 634: »Für die Vernunft ist’s ein Defekt, aber er regt auf.« ›Minusvariante‹ bezeichnet in der Biologie eine in Bezug auf den Mittelwert bestehende Abweichung eines Individuums in Bezug auf das genetische Material. Vgl. auch das Gespräch zwischen Ulrich und Agathe: »›Gott im Himmel,‹ gab nun Ulrich zur Antwort, der wieder ausschritt ›in jedem Minus steckt ein Plus. Vielleicht habe ich so etwas gesagt, aber man braucht das doch nicht allzu wörtlich zu nehmen.‹ / ›In allem Minus ein Plus?‹ / ›In allem Schlechten etwas Gutes. Oder wenigstens in vielem Schlechtem. Gewöhnlich steckt in einer menschlichen Minusvariante eine nicht erkannte Plusvariante: das habe ich wahrscheinlich sagen wollen. [. . .]‹« (MoE, S. 735), sowie das Kap. 29 »Professor Hagauer greift zur Feder«: »[. . .] und schließlich fiel Hagauer aus diesem Gegensatz zwischen Gewissen und Ritterlichkeit ein Ausweg ein, da sich die an seiner Frau zu beachtenden Ausfallserscheinungen in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung ja auch als sozialer Schwachsinn bezeichnen ließen! In dieser Auffassung beendete er seinen Brief in bewegten Worten. Mit dem propheti-
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sanne gegenübersitzt, ist von einer schwarzen Binde bedeckt. Anders als beim 1926 im Berliner Tagblatt veröffentlichten Text Triëdere!22 handelt es sich bei dem mitreisenden Fremden allerdings nicht um einen – möglicherweise versehrten – Kriegsveteranen, der seine mit einem Binokel »›bewaffnete[n]‹« Augen (GW II, S. 634)23 dazu verwendet, Passantinnen optisch aus der Distanz – per Isolation und Großaufnahme – in ihre körperlichen Einzelteile zu zerlegen. Anders als jene »monokeltragenden Bekannten« (GW II, S. 634) Susannes mit Augen, die »blenden[ ], blitzen[ ], spießen[ ],« die aber selbst »nicht gespießt werden dürfen[ ]« (GW II, S. 635), wird die schwarze Augenbinde des Fremden zu einer Projektionsfläche weiblichen Begehrens. Diese ermöglicht den reziproken Blick der Frau und somit eine »Umkehrung« (GW II, S. 635) der Blickrichtung und des Begehrens. Dabei erfährt auch die Kultursymbolik von männlicher Eiche und sich daran rankendem weiblichem Efeu eine ironisch bedingte metaphorische Umkehrung: »Wenn es wahr ist, daß auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, so muß, nach der ›Schneidigkeit‹ des Keils« – der hier mit dem ›gesunden‹ Auge (wie dem imaginierten Phallus) gleichzusetzen ist – »zu urteilen, unsere Frauenphantasie heute wirklich prima deutsche Eiche sein.« (GW II, S. 635) Während also »[d]as gesunde Auge« des »Unbekannten« »halb im Schatten seines herabhängenden Pelzes« liegt (GW II, S. 635) und »unsichtbar aus dem Dschungel des Pelzwerks« auf die Frau »zielt[ ]« (GW II, S. 635), spielt »das schwarze Auge« auf ihrem Körper Klavier (»Chopin«) (GW II, S. 634):24 Der Fremde wird mit seinem nicht sehenden Auge identifiziert, die Frau fühlt das auf ihn projizierte Begehren gleichsam auf ihrer eigenen Haut: »Bald war er da, bald war er dort« (GW II, S. 636). Das schwarze »abenteuerliche Auge« (GW II, S. 634), das Auge, das nichts sieht, sieht das Ganze, sieht die Möglichkeiten der Frau: »Auch am Mann ist das Wichtigste, daß er uns in erhöhtem Maß möglich sein läßt, solang’ er uns nicht satt hat.« (GW II, S. 636) Dieser erotische Möglichkeitssinn wird von Susanne in zwei Richtungen weitergespielt: zum einen in ein
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schen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen schilderte er Agathe die asoziale, des Gemeinschaftsinns entbehrende und gefährdete Anlage ihrer Natur als eine ›Minusvariante‹, die nie und nirgends den Problemen des Lebens tatkräftig und neuschaffend entgegentrete, wie es ›heutige Zeit‹ von ›ihren Menschen‹ verlange, sondern ›durch eine Glasscheibe von der Wirklichkeit getrennt‹ in gewählter Selbstvereinsamung verharre, dauernd am Rande der pathologischen Gefahr.« (MoE, S. 952 f.) Vgl. hierzu auch: »Ich glaube, man nennt das eine sexuelle Minusvariante [. . .].« (KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Kritische Fragmente/Der Ruf der Wildgänse) Robert Musil: Triëdere!, in: Berliner Tagblatt, 15. 10. 1926 (GW II, S. 578–581); vgl. auch die Fassung Triëdere im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, S. 518–522). Vgl. GW II, S. 519: »mit unbewaffnetem Auge«. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Register/Personen: »Paderewski war ein gefeierter Pianist zu Musils Jugendzeit, gastierte am 18. 11. 1901 im großen Festsaal des Deutschen Hauses in Brünn. Seine Interpretation Chopins hinterließ in Musil einen bleibenden Eindruck (Tagebucheintragung vom 12. 3. 1902).«
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geradezu ›männlich‹ geschliffenes naturgeschichtliches bzw. sexualwissenschaftliches Aperçu. Dieses mutet wie ein unmarkiertes Blei-Zitat an: »Die Natur verschwendet Millionen Keime, damit einer sein Ziel erreicht! Also ist die Monogamie eine geminderte Form der Unzucht wider die Natur.« (GW II, S. 636) Zum anderen entwickelt Susanne in ihrem Brief an die Freundin eine »Poesie der Einäugigkeit« (GW II, S. 634),25 welche als »Poetik des Feuilletons«26 das kleine Reiseerlebnis zu einer erotischen Fiktion der Geschlechter werden lässt: Die »Minusvariante« (GW II, S. 634) (zumindest temporären) monokularen männlichen Sehens ermöglicht ein weibliches Begehren, das die Blickrichtung zwischen den Geschlechtern umkehrt.
1.1 Roland. Illustriertes Wochen-Magazin Robert Musil hatte Franz Blei bereits am 12. September 1924 für »[d]ie Einladung, zu schreiben« (Br I, S. 356) gedankt. Es handelt sich, wie Musil richtig vermutet, um die Zeitschrift Der Roland von Berlin (1903–1920), die seit 1921 unter dem Titel Roland fortgeführt wurde.27 Blei hatte mit der Nr. 1 vom 1. Januar 1925 die Herausgabe von 30 Heften des Roland mit dem neuen Untertitel Illustriertes Wochen-Magazin übernommen.28 Der Blei’sche Roland enthielt auf ursprünglich geplanten achtunddreißig Seiten neben der farbigen Abbildung eines weiblichen Porträts (z. B. von Emil Orlík29 in der Nr. 1) auf dem Frontcover auf der inneren Titelseite ein Schwarz-Weiß-Photo von ›der Rieß‹,30 die als bekannte Gesellschaftsphotographin der Weimarer Republik u. a. in der Vogue, der Berliner Illustrirten Zeitung, der Dame, dem Querschnitt und dem Uhu veröffentlichte. Die ersten drei Ausgaben zeigen Aufnahmen der Tänzerin Maria Leeser, der Bildhauerin Angelica Archipenko und der Sängerin Maria Schrecker. Direkt über der ›Roland-Künstlerin der Woche‹ auf der ersten Seite sind – wie schon in der von Blei herausgegebenen Zeitschrift Der lose Vogel (Leipzig 25
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Marie-Louise Roth: Musiliana. Brief Susannens und Zweiter Brief Susannens [1963], in: dies.: Gedanken und Dichtung. Essays zu Robert Musil. Saarbrücken 1987, S. 191–204, hier S. 195, hat den Brief Susannens als »symbolische Verdichtung der Musilschen Ästhetik« bestimmt: »[E]s ist die Poetik der ›Einäugigkeit‹ im Gegensatz zu der Poetik des ›Monokels‹ [. . .].« Sibylle Schönborn: ». . .wie ein Tropfen ins Meer«. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens: das Feuilleton als ›kleine Form‹, in: Althaus, Bunzel, Göttsche (Hg.): Kleine Prosa (s. Anm. 3), S. 197–211, hier S. 201. Vgl. Thomas Dietzel, Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertorium. Bd. 4. München u. a. 1988, S. 1037. Vgl. Hartmut Walravens: Schriftenverzeichnis Franz Blei, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 64 (2009), S. 53–180, hier S. 121; einzelne Beiträge Bleis finden sich bereits im 22. Jg. des Roland 1924 in den Nrn. 39, 40, 48, der letzte Beitrag Bleis ist für die Nr. 39 des 23. Jahrgang des Roland verzeichnet. Vgl. Walravens: Schriftenverzeichnis Franz Blei (s. Anm. 28), S. 120–124. Der Maler, Graphiker, Photograph und Kunsthandwerker Emil Orlík (1870–1932) war Professor an der Berliner Kunsthochschule. Frieda Riess (1890–1955).
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1912/13) – die Namen der Beiträger als ›Autorenkollektiv‹, ohne Zuordnung zu den einzelnen Artikeln, aufgeführt.31 In einem Brief vom 8. Oktober 1924 an Carl Schmitt, den Blei als Beiträger für das »Wochenblatt« Roland zu gewinnen sucht,32 fordert er »keine ›Mitarbeiter‹ der Gelegenheit« und »[k]eine Ephemeriden«: Achtunddreissig zweispaltige Querseiten in der Woche, von denen auf acht Seiten ein Roman fortgesetzt werden soll und zwei Seiten dem Finanzreferenten gehören. Also 28 Seiten für Sie [i. e. Carl Schmitt], Gütersloh, Musil, DR Mittenzwey, einen Dr. Eisner, für [Hugo] Ball (wo wohnt er?). Stofflich gibts keine Begrenzung. Formal die der Güte, der Präcision, der Deutlichkeit und des Esprit. Wenn es ginge, würden die Hefte nur von den Genannten zu schreiben sein. [. . .] Gedruckt wird ungelesen was die Genannten schreiben. Kann man auf die Nennung der Verfassernamen verzichten, wie seinerzeit im Losen Vogel, um so besser. Ich habe viel für diese Aufhebung der ›Namen‹, die in der Wirkung immer falsch mitspielen.33
Zu den Autoren des Roland werden schließlich u. a. Albert Paris Gütersloh, Annette Kolb, Rainer Maria Rilke34 und Robert Walser gehören.35 Inhaltlich spiegelt die Zeitschrift Roland das Berliner Kulturleben der 1920er Jahre: Sie enthält neben kleineren literarischen und essayistischen Texten zu Kultur, Politik und Zeitgeschehen und Berichten über das mondäne Gesellschaftsleben 31
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In der Nr. 3 des Roland vom 15. 1. 1925 werden neben F[ranz] Blei und R[obert] Musil die heute kaum mehr bekannten Autoren H. von Boots, Pierre Mac Orlan (1882–1970), M. Schittenhelm und B. Wolff genannt, sowie Raymond Radiguet (1903–1923), dessen 1923 erschienener ›Skandalerfolg‹ Le Diable au corps im Roland in deutscher Übersetzung als Fortsetzungsroman vorab gedruckt und in späteren Heften von Texten Sacher-Masochs abgelöst wird. Vgl. Musils Brief an Franz Blei vom 8./9. 12. 1924: »Ich will diese Briefe aber nicht als Musil, sondern als Rychtarschow zeichnen, weil ich so lange schon nichts Richtiges mehr geschrieben habe, dadurch streife ich Hemmungen ab, die mich sonst verhindern.« (Br I, S. 370); sowie den Brief vom 4. 2. 1925: »daß mein Name vorläufig durch ein Pseudonym ersetzt wird; damit diene ich Ihnen voll und füllend, aber brauche meinen Namen nicht unter dem Preis zu verkaufen.« (Br I, S. 378) Vgl. dagegen Angela Reinthal: Kommentar, in: Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann hg. v. Angela Reinthal. Heidelberg 1995, S. 150, die anders als Frisé (vgl. Br II, S. 210) nicht davon ausgeht, dass es sich um den Roland handelt. In einem Brief an Carl Schmitt vom 5. 12. 1925, in: Blei: Briefe an Carl Schmitt (s. Anm. 32), S. 65, bietet Blei diesem an, sich »hübsch auszanken zu lassen über meine vielen Nachlässigkeiten. Wozu ich aber den mir so vorgeworfenen Roland nicht rechne, denn das war ja eine blöde Kompromisgeburt [!], die ich vertraglich gebunden nicht früher abtreiben konnte.« Blei: Brief an Carl Schmitt, 8. 10. 1924 (s. Anm. 32), S. 62 f.; vgl. ders.: Brief an Carl Schmitt, 28. 11. 1924: »Ich will die Verfassernamen nicht unter die Beiträge setzen, sondern in eine Bemerkung am Schluss des jeweiligen Heftes: hierin haben veröffentlicht . . . folgen die Namen. Das ist Ersatz für die in Deutschland beliebte Rätselecke.« (S. 64) Mit einem Beitrag über die Puppenmacherin, Kostümbildnerin und Zeichnerin Lotte Pritzel (1887–1952). Dessen Flammenzeichen erscheinen in der Nr. 14 vom 1. 4. 1925; vgl. hierzu Anne Gabrisch: Robert Walser und Franz Blei – Oder: vom Elend des literarischen Betriebs (Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft, Berlin 1999), in: http://robertwalser.ch/fileadmin/ redaktion/dokumente/jahrestagungen/vortraege/gabrisch99.pdf, 7. 3. 2013 (Zugriff am 12. 3. 2014), S. 7.
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Abb. 3: Werbung von Carl Zeiss (Jena) für Zeiss Punktal-Gläser in der Nr. 3 des Roland vom 15. Januar 1925, S. 43.
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skizzenhafte Zeichnungen (von Duschek, Klossowski, Orlík), Karikaturen (aus der Magdeburger Zeitung), Pressephotos Prominenter und Szenenbilder aktueller Inszenierungen, ein Neues Bestiarium und die Stunden mit Blei, Börsenberichte und Alius’ Briefkasten in Fortsetzung mit Leseranfragen zum Aktienmarkt sowie – vor allem auf den ersten und letzten Seiten – jede Menge Werbung: für Allratoren (i. e. Detektorempfänger bzw. »Telegraphone«, das sind Vorläufer des Radios),36 Rasierklingen-Schleifmaschinen (für »Selbstrasierer«), Autos (Zweisitzer von Opel), Makler, Belletristik, Kosmetik (Haarpflegemittel), Mode (Pelze, Regenmäntel), Genussmittel (MM-Sekt, Weinbrand, Hirsch-Liköre, Massari-, Mercedes- und »August der Starke«-Zigaretten, Eisspeisen, Sarotti-Schokolade-Pralinen) und Medizin (außer Rheumatismus-, Gicht-, Husten- und Migräne-Tabletten auch Mittel gegen »Nervensschmerzen«, »Hämorrhoiden-Salbe« sowie Schlafmittel mit »milde[n] radiumartigen Strahlen«). Und unter dem Motto »Korpulenz ist unschön!« werden »Charm-Tee und Charm-Tabletten« angepriesen. Nur wenige Seiten nach Susannes Hymne auf die poetische Einäugigkeit finden wir in der Nr. 3 des Roland vom 15. Januar 1925 eine Reklamespalte von Zeiss (Jena), die »Punktal-Gläser für Brillen und Klemmer« bewirbt. Diese versprechen die »volle Bewegungsfreiheit der Augen beim Umherblicken«: »Wie angenehm empfinden fehlsichtige Augen den Wechsel, wenn sie von der Fessel gewöhnlicher Augengläser befreit durch Zeiss’
Vgl. aus dem Firmenprospekt von 1924: »Allrator-Detektor-Empfänger für Wellenlängen von 300–650 m ist ein ganz vorzügliches Empfangsgerät, welches auch bei nicht zu großer Entfernung vom Sender mit einer Zimmerantenne einen guten Empfang gewährleistet und mit einer Hochantenne auch bei größeren Entfernungen die beste Empfangsmöglichkeit bietet. Der Apparat besitzt eine eingebaute Empfangsspule und einen Abstimm-Kondensator, dessen Einstellung durch Betätigung eines vorn am Apparat befindlichen Schiebers erreicht wird [. . .].« Zum Verstärker heißt es weiter: »Dieser Apparat soll in Verbindung mit dem Allrator-Empfänger die Möglichkeit schaffen, eine sehr große Anzahl von Hörern anzuschalten, oder evtl. einen Lautsprecher zu betreiben. Der Verstärker ist in dem gleichen Gehäuse untergebracht wie der Allrator-Empfänger und besitzt oben eine Fassung zur Aufnahme der Verstärkerröhre, davor die Heizregulierung für dieselbe [. . .].«
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Punktalgläser blicken.«37 – ›Punktale‹ Scharfsichtigkeit wäre allerdings – wie auch die ›spießende‹ Prosa des Monokels – im Falle Susannes zweifelsohne eine in erotischer Hinsicht negativ gewertete »Minusvariante« (GW II, S. 634).
1.2 Korrespondenzen und Umkehrungen Musil findet – in seinem Brief an Blei vom 12. September 1924 – »[d]ie Idee der Zeitschrift« zunächst »sehr gut«: [B]loß ist zu fürchten, daß die Artung des deutschen Schriftstellers (und ich fürchte sogar, daß ich da nicht einmal mich ausnehmen kann) das Unternehmen durch Beharrungskraft in die nicht erwünschte schöngeistige Brillenblickrichtung ziehen wird, außer es gelingt Ihnen, was allerdings nur Ihnen gelingen kann, neue und einigermaßen mondäne Mitarbeiter zu entdecken. (Br I, S. 357)38
Zwei Monate später bietet sich Musil Blei nochmals ebenso nachdrücklich wie zögerlich an: Ich will natürlich furchtbar gerne für die Zeitschrift schreiben und auch Geld verdienen – ist es wahr, daß es der Roland ist? – aber im Augenblick, es ist der erste Augenblick der Überlegung, weiß ich noch nicht was. Ich denke, über alles, und was mir einfällt – die Art haben Sie mir ja angegeben – Aber ich liege innen noch nicht in der Linie. (Br I, S. 365 f.)
Am 8. Dezember 1924 entschuldigt Musil sich bei Blei, wegen einer Augenverletzung sei ihm immer noch nichts eingefallen,39 er sei eben erst aus Brünn – wo er den väterlichen Nachlass gesichtet hatte40 – zurückgekommen: »noch immer einäugig, und bin ratlos, wie ich Ihrem Schrei nach Unterstützung folgen soll. In der Vorratskammer hängt nicht Speck, noch Schwarte. Und der Kopf gibt nichts her« (Br I, S. 369; Hervorhebung B. N.). Doch schon am nächsten Tag ist in dem bereits zitierten Brief an Blei in geradezu enthusiastischem Tonfall zu lesen: Sie sind in der Tat die einzige Kraft der Welt, die mich fast unter allen Umständen zum arbeiten bringt. Mir ist noch gestern, als ich diesen Brief, als zu trostlos, stehn ließ, etwas eingefallen, das ich notierte, eine kleine Reiseskizze mit dem Kennwort Koketterie; über Nacht ist dann ein Plan daraus geworden. Er ist keineswegs originell und heißt ›Brief Susannens‹, indem ich die Sache umdrehte und von der Frau aus ansah. (Br I, S. 369 f.; Hervorhebung B. N.) 37 38 39 40
Vgl. Roland 23 (15. 1. 1925), H. 3, S. 43; vgl. Pit Schumacher: Die ZEISS Punktal Story 1912– 2012. Norderstedt 2 2012, S. 74–81. Am 12. 12. 1924 schlägt Musil Oskar Maurus Fontana und Béla Balázs als Mitarbeiter für den »Blei-Roland« vor (Br I, S. 372). Vgl. Br I, S. 369; vgl. auch Musils Brief an Josef Nadler vom 1. 12. 1924 aus Brünn, in dem er angibt, »von einem kleinen Augenübel befangen« zu sein (Br I, S. 367). Musils Vater war am 1. 10. 1924 gestorben; vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1904.
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Das Prinzip der ›Umdrehung‹ bzw. »Umkehrung« (GW II, S. 635), das sich im Brief Susannens in der Physiognomie der Nase, in der metaphorischen Umkehrung der geschlechtsspezifischen Kultursymbolik von Efeu und Eiche,41 des ins Sexuelle gewendeten Sprichworts vom groben Klotz, auf den ein grober Keil gehört,42 wie in der Inversion des Blickverkehrs zwischen den Geschlechtern zeigt, wird als performative Geschlechtsverwandlung (»Verkleidung als Frau«) bestimmt: Den Mangel an Originalität, der in der Wahl der Briefform liegt und in der Verkleidung als Frau müssen Sie in Kauf nehmen, wenn das übrige gut ist; denn es macht mir diese Maskerade persönlichen Spaß, und meine Laune hat ein solches, wenn auch billiges Stimulans nötig, andrerseits ist mir die Exterritorialität der Frau in der Männerwelt ein behaglicher Standpunkt, von dem aus sich über alles in einem Ton reden läßt, wie Sie ihn wünschen. (Br I, S. 370; Hervorhebung B. N.)
Die »Wahl« der ›kleinen‹ und seit dem 18. Jahrhundert weiblich konnotierten »Briefform« und der explizite Verzicht auf literarische wie intellektuelle Originalität (»Mangel an Originalität«) ermöglichen einerseits den von Blei gewünschten ›feuilletonoiden Plauderton‹ und andererseits eine perspektivische Verschiebung, die von Musil als ebenso ›stimulierend‹ wie ›behaglich‹ bestimmt wird. In der »Verkleidung als Frau« und, damit einhergehend, in der ›Verkleinerung‹ als Frau, in der ›weiblichen‹ Verkleinerung, findet also einerseits inhaltlich wie formal bzw. stilistisch eine »Umkehrung« (GW II, S. 635) der Gender-Relationen statt.43 Zugleich werden die weibliche Perspektive wie die kleine (›weibliche‹ Brief-)Form und die von dieser fokussierten Inhalte in der Korrespondenz von genre mineur44 und weiblichem Geschlecht als Erotisierung und Verniedlichung goutiert. Das philosophische wie gesellschafts- und genderkritische Potenzial der »Exterritorialität der Frau in der Männerwelt« wird somit trotz der unbestreitbaren Experimentalität45 41
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Vgl. GW II, S. 635 (Brief Susannens), sowie die männliche Verweigerung in KA/Lesetexte/ Bd. 18 Vorkriegs- und Kriegskorrespondenz 1895–1918/1907/Robert Musil an Anna [4]: »Es gibt wertvolle, spielerische, ewig knabenhafte Menschen, – bewegt wie Wiesen im Winde – viel zu bewegt und weich, liebe Anna, um der feste Stamm zu sein, an dem sich – in dem bewährten Drehorgelbilde – der Efeu zarter Weiblichkeit hinanranken kann.« Sowie die Umkehrung der kulturellen Symbolik des Geschlechterverhältnisses in Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten aus Nachlaß zu Lebzeiten (1936): »Aber die Zeiten sind in ewigem Fluß. Es soll nicht von weiblichen Bureauvorstehern gesprochen werden, um die sich der männliche Untergebne rankt wie der bescheidene Efeu um die starke Eiche [. . .].« (GW II, S. 542) Vgl. GW II, S. 635: »daß auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört«. Vgl. dagegen Roth: Musiliana (s. Anm. 25), S. 197: »Musils Auffassung von einer auf Polarität beruhenden Grundeinheit wird an den beiden Personen dieses Briefes sichtbar. Sie ist der Schlüssel zu Musils ganzem Werk.« Vgl. Hildegard Kernmayer: Genre mineur oder Programm der literarischen Moderne? Zur Ästhetik des Wiener Feuilletons, in: Klaus Amann, Hubert Lengauer, Karl Wagner (Hg.): Literarisches Leben in Österreich 1848–1890. Wien u. a. 2000 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 1), S. 394–413. Vgl. Göttsche: ›Geschichten, die keine sind‹ (s. Anm. 5), S. 20, sowie ders.: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (s. Anm. 5), S. 20: »Seit dem Prosagedicht und den Prosaskizzen der
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dieser weiblichen »Maskerade« zumindest in metafiktionaler Hinsicht verspielt – und somit das »Spannungsfeld von ästhetischer Subversion und [. . .] Vermarktung«46 gewahrt. Hinter dem schwarzen Oval der Augenbinde, das auf Susannes Körper Chopin spielt, steht der textexterne Autor Musil: Robert der Einäugige. Der durch ein »kleine[s] Augenübel« (Br I, S. 367) gehandicapte Musil projiziert – gleichsam rückwirkend von einer Eisenbahnfahrt von Brünn nach Wien um den 7. Dezember 1924 – sein erotisches Potenzial auf eine (fiktive) Mitreisende:47 eben jene Susanne, die in ihrem Brief an eine ungenannte Freundin die Poesie des Ehebruchs wie der Einäugigkeit gleichermaßen besingt und aus deren Augen er, also Musil, sich selbst begehrlich anschaut.
1.3 Das Geschlecht der Gepäckstücke oder Die angebrannte Möglichkeit Am Schluss der kleinen erotischen Reiseskizze kippt die »Poesie der Einäugigkeit« und mit ihr die Metaphorik des Weges, des Unfesten und Möglichen – eingerahmt von zwei metanarrativen Wendungen48 – in eine Metaphorik des Ziels und der kulturellen Symbolik der Geschlechter um: Die Frau wird zu einem der mitgeführten Gepäckstücke, zu einem »Köfferchen«, welches der Gatte in der »Nervosität der Ankunft [. . .] auf- und zuklappte, einlegte, herausnahm, umlegte usw.« (GW II, S. 637) Dem »Auge des Fremden« (GW II, S. 637) wird somit die Intimität ihrer Dessous, die feine Wäsche ihres Unbewussten,49 »in der naivsten und taktlosesten Weise« ›eröffnet‹. Das »Auge des Fremden« aber »flog« mittlerweile selbst »in der sorgenvollsten Weise zwischen den eigenen Gepäckstücken seines Herrn hin und her« (GW II, S. 637),50 wie es noch kurz zuvor auf den Körperteilen Susannes hin- und
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frühen Moderne bewährt sich die kleine Prosa in der von ihr gestalteten und reflektierten Dynamisierung der Erfahrungsmuster, Wissensbestände und Denkmodelle als Experimentalform der Moderne«; vgl. Baßler: Kurzprosa im 20. Jahrhundert (s. Anm. 5), S. 189. Althaus, Bunzel, Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (s. Anm. 3), S. XXV . Die Metaphorik von Keil und Klotz entpuppt sich somit auf den zweiten Blick als männliche Wunschvorstellung. Vgl. GW II, S. 637: »[. . .] und nun kommt das, weswegen ich dir heute überhaupt schreibe.« – »Und das ist nun eigentlich wirklich ein sonderbarer Schluß.« Vgl. MoE, S. 10: »Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden.« (Hervorhebung B. N.) Vgl. zur biblischen Susanna im Bade: »[Da] regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und ihre Augen gingen in die Irre« (Dan 13, 8–9, Einheitsübersetzung: http://www.die-bibel.de/online-bibeln/einheitsuebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/27/130001/139999/ch/061ceb8b94f895e5781e67089b339fb3/ [Zugriff am 20. 4. 2013]).
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hergeglitten war.51 Von der Gleichsetzung der Geschlechtsteile mit dem Anorganischen der Gepäckstücke gleitet nunmehr auch die Rede über in den Bereich des Animalischen, wenn das phallische Auge wie ein Hund zwischen den Gepäckstücken hin und her läuft, während sich die Dame mit ihren »kleinen goldenen Taschenspiegelchen, Puderquästchen«52 der »Katzentoilette« hingibt (GW II, S. 637). Der Text kulminiert in einer sprichwörtlichen Umkehrung von Wunsch/Möglichkeit und Wirklichkeit,53 bis er schließlich in einem kriegerischen Gemeinplatz – dem ›Cliffhanger‹ für die Brieffortsetzung – ausläuft: »[I]ch habe die Pfanne mit der Taube auf dem Herd anbrennen lassen, weil Spatzen auf den Dächern sitzen«, so kommentiert Susanne das Ende ihrer erotischen (Bahn-)Reise in das Mögliche:54 »ja nicht einmal deshalb, sondern wegen eines allgemeinen Spatzen, der in seiner Allgemeinheit nur eine Fiktion ist.« (GW II, S. 637)
2. Unsere Männer – Zweiter Brief Susannens Der Zweite Brief Susannens,55 der unter dem Titel Unsere Männer drei Wochen später in der 6. Nummer des Roland vom 5. Februar 1925 erschienen ist, hat – so Arntzens Kommentar – den »Gegensatz des Allgemeinen und des Besonderen als Ehestreit« zum Thema.56 Musil hatte Blei den »ersten Brief Susannens« am 12. Dezember 1924 mit einem Kommentar zugeschickt, der auf eine voluminöse Fortsetzungs- und Popularisierungsstrategie hindeutet: Diesmal ist er [i. e. der erste Brief Susannens] noch feuilletonoid, aber die Fortsetzung könnte, ohne an Leichtigkeit einzubüßen[,] seriöser sein oder auch zwischen Plaudern und ernster Ironie wechseln, wenn Ihnen die Idee überhaupt gefällt; Material habe ich, da ich meine ganze Essayistik und auch Teile des Romans in diese Form bringen kann. (Br I, S. 371)
Die ›kleine‹ Prosa wird zum Metatext des ›großen‹ Romans.57 Musil, der mondäne Autor für mondäne Leser, glaubte vom ›behaglichen‹ Standpunkt der 51 52
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Vgl. GW II, S. 636: »Bald war er da, bald war er dort [. . .].« Es handelt sich hier um eine – wiederum verniedlichende – Referenz auf Franz Blei: Die Puderquaste. Ein Damen-Brevier. Aus den Papieren des Prinzen Hippolyt. München, Berlin 1909. Der »Fremde« gegenüber wird als »der Konkrete, der Wirkliche« (GW II, S. 637) bezeichnet. Vgl. GW II, S. 636: »Auch am Mann ist das Wichtigste, daß er uns in erhöhtem Maß möglich sein läßt [. . .].« Vgl. Robert Musil: Unsere Männer, in: Roland 23 (5. 2. 1925), H. 6, sowie unter dem Titel Zweiter Brief Susannens, in: Prager Presse, 8. 2. 1925 [Morgenausgabe], S. 4–5; der Text war laut Adolf Frisé »offen sign[iert]« (Br II, S. 218). Arntzen: Musil-Kommentar (s. Anm. 17), S. 256. Vgl. Schönborn: ». . .wie ein Tropfen ins Meer« (s. Anm. 26), S. 205: »Das Feuilleton generiert so Erinnerungsräume, die der Geschichte des ›grand récit‹ als Kommentar, Widerspruch oder Randbemerkung beigegeben sind. Damit nähert es sich der Kultur nicht von ihrem Zentrum, sondern von ihren Rändern, der Peripherie, aus.«
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›exterritorialen Frau‹ jenen von Blei gewünschten ›feuilletonoiden‹ (Plauder-) Ton treffen zu können, den wir nur aus Bleis Brief an Carl Schmitt erschließen können. Dort wurde »keine Erotik um ihrer selbst willen, als Erholungsstätte«, also »keine erotischen Freiheiten der Freigelassenen«, sondern »nur de[r] beste[ ] Witz, die gute Ironie des Indifferenten« verlangt.58 Den Zweiten Brief Susannens sendet Musil Blei als Beilage zu einem Brief vom 7. Januar 1925: »Diesmal habe ich mich wirklich geschunden, wieder einäugig, um fertig zu werden«, und unterzeichnet »[i]n Eile und Augenmüdigkeit / Ihr / Musil.« (Br I, S. 375) Nicht nur »textgenetisch«,59 sondern auch inhaltlich schließt der Zweite Brief Susannens an den ersten Brief Susannens an. Am Schluss des ersten Briefes assoziierte Susanne ausgehend von der (einäugigen) Taube in der Pfanne, die sie auf dem Herd (respektive im Zugwaggon) habe »anbrennen lassen«, das »Spiel mit der Rüstungsindustrie bei den Männern« (GW II, S. 637). Dabei ist eine deutliche auto-intertextuelle Referenz zu der Musil zuzuschreibenden dezidiert pazifistischen Glosse Kriegsdämmerung (GW II, S. 674–677)60 in der Nr. 1 des Roland sowie zum banken- und rüstungsindustriekritischen Zivilisations-Text (GW II, S. 677 f.) im Heft vom 11. März 1925 festzustellen. Der Zweite Brief Susannens nimmt die Diskussion des fünften Gebots »Du sollst nicht töten« (GW II, S. 677) aus Kriegsdämmerung wieder auf. Allerdings wird diesmal die pazifistische Argumentation in die kapriziöse Klugheit einer »amouröse[n] Frau[ ]« (GW II, S. 640)61 verkehrt, die dem »charaktervolle[n]« (Ehe-)Mann Manni erklärt, warum ein Mann den »›Räuber seiner Ehre‹ [. . .] töten dürfe, wenn er ihn in flagranti erwische.« (GW II, S. 638) Im ersten Brief Susannens ging es um die Inszenierung eines imaginären Ehebruchs, eine körperliche Koketterie der Blicke und Gesten, bezogen auf den einäugigen Reisebegleiter wie im kommunikativen Verhältnis zur Berliner Freundin. Im Zweiten Brief Susannens geht es um das erkenntnistheoretische Verhältnis von (allgemeinem) Gesetz und einzelnen – individuellen wie situativen – Tatsachen bzw. besonderen »Umstände[n]« (GW II, S. 639) 58 59 60
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Franz Blei an Carl Schmitt, 8. 10. 1924, in: Blei: Briefe an Carl Schmitt (s. Anm. 32), S. 63. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentar/Bd. 11 Publizistik/Kleine Erzählungen/Zweiter Brief Susannens/Textgenese und Kommentar. [Anonym]: Kriegsdämmerung, in: Roland 23 (1. 1. 1925), H. 1, S. 25–28. In Kriegsdämmerung ist anlässlich der Pensionierung sechzig ungarischer Generäle in klarer militärkritischer Diktion zu lesen: »Aber auch zu irgend einer Verteidigung des Landes gegen einen feindlichen Einfall sind diese [österreichisch-ungarischen] Armeen zu schwach. Ihr Dasein würde nur jeden Einfall militärisch immer rechtfertigen. Schaffte Österreich seine Armee ab, wäre es vor dem Einfall eines Einfalls feindlicher Truppen sicherer als wenn es dagegen eine Wehr parat hält.« (GW II, S. 674) Mit diesem Ein- bzw. ›Zufall‹, dem zum »Spiel mit der Rüstungsindustrie bei den Männern« »gelegentlich« hinzustoßenden und gar nicht »im Bestimmten geplanten Krieg« (GW II, S. 637), bricht der erste Brief Susannens ab. Vgl. Franz Blei: Von amoureusen Frauen. Berlin 1906.
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im Allgemeinen sowie um die Rechtfertigung des Ehebruchs im Besonderen. Dabei handelt es sich weniger um einen konkreten »Ehestreit«62 zwischen Manni und Susanne als um eine inner- und außereheliche Verhandlung binärer Geschlechterkonzepte: Während Manni innerhalb des Textes in einmontierten Sprechblasen (»Manni sagt«, GW II, S. 638; »sagte Manni«, GW II, S. 639)63 in der ›kleinen Form‹ das ›männliche‹ Prinzip vertritt und für »Autorität«, »Herrschaft«, »Verantwortung für das Allgemeine«, Charakter, Gesetz und Moral sowie das Entweder-oder steht, verteidigt Susanne das Prinzip des Vielleicht, des Zufalls, der besonderen Umstände, der Ausnahme von der Regel.64 Im Folgenden spricht der textexterne Autor Musil durch sein textinternes weibliches Sprachrohr65 Susanne in einem ebenso heiteren wie despektierlichen Tonfall über »heillose« männliche »Ideen« (GW II, S. 638), den »große[n] Männerkrieg« (GW II, S. 640) und Kriegsgewinnler, wie über Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Diese Ausführungen münden schließlich in das Verhältnis zwischen allgemeinem Gesetz und besonderem Einzelfall am Beispiel zweier novellistisch eingebauter Ehebruch- und Untreuegeschichten, die zugleich als Herrschafts- und Eigentumsdelikte thematisiert werden. Der eine Fall kommt uns – vom Verhältnis Ulrich-Rachel-Diotima aus Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) auf die Briefe Susannens zurückblickend – schon bekannt vor: »Wenn ich meine Kammerzofe dabei erwische, daß sie sich von meinem Freund hat küssen lassen, ist mein Mann wütend und weiß nicht, ob er sofort die Zofe entlassen oder meinem Freund das Haus verbieten soll« (GW II, S. 638). Im zweiten fiktionsintern ›realen‹ Fall,
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Arntzen: Musil-Kommentar (s. Anm. 17), S. 256. Vgl. GW II, S. 638: »›Untergrabung der Autorität‹«, »›taktloser Außerachtlassung der Herrschaft‹«, »›Ihr Frauen kennt keine Verantwortung für das Allgemeine‹«, »›Du sollst nicht töten‹«, »›Räuber seiner Ehre‹«, »›Edelverbrecher aus Leidenschaft und Ehre‹« etc.; die Interjektionen Mannis antizipieren jelineksche Sprach- und Genderkritik, wenn auch hier noch konventionell in doppelte Anführungszeichen gesetzt. Vgl. GW II, S. 639: »Es ist bei den Männern immer so. Sie können wundervoll beweisen, daß etwas Eigentum oder daß es Diebstahl ist, daß einer ein Spion oder daß er ein Held, daß ein andrer ein Kraftmensch oder daß er ein Rohling ist: wenn es sich aber um das entweder entweder oder oder handelt, dann schwindeln sie wie die Frauen. Sie setzen die Welt aus lauter allgemeinen Regeln zusammen und müssen nachträglich lauter Ausnahmen zulassen, damit die Sache stimmt.« Dabei geht die Briefeschreiberin Susanne in einer verfahrenstechnischen Mischung von Gemeinplätzen und dekonstruktiver Praxis vor, wenn sie festhält: »meine Liebe, es ist eine schwierige Welt, die der Männer, in der jede Behauptung mehrfach durchstrichen, aber keine ausgelöscht ist.« Vgl. Birgit Nübel: Essayistische Textfigurationen in Über Robert Musil’s Bücher (1913) oder das essayistische Ich als Parlograph des Autors, in: dies.: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 196–202.
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der in den ›unheiligen Gesprächen‹66 der Eheleute zur Sprache kommt, geht es um »einen netten jungen Menschen«, der in eine »sogenannte Skandalaffaire verwickelt gewesen war, das heißt, er war mit einer etwas albernen Frau und ihrem Geld verreist, hatte das Geld mit Einwilligung der Frau ›arbeiten‹, die Frau aber dann ohne ihre Einwilligung ›sitzen‹ lassen« (GW II, S. 638 f.). Der Zweite Brief Susannens, der statt der ›Rechtfertigung‹ ehelicher Untreue in Die Vollendung der Liebe die »vollendete Rechtfertigung der sogenannten Untreue« (GW II, S. 640) enthält, entfernt sich laut Kommentar der Klagenfurter Ausgabe vom ersten Brief, der einen Ehebruch in Gedanken inszeniert, durch »eine stärker argumentierende Note«, was u. a. »durch die Zitierung des Alten Testaments (Zehn Gebote) und Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft § 7 (Kategorischer Imperativ) zum Ausdruck« komme.67 Nun hatte aber schon Susannens erster Brief an ihre offenbar gebildetere Berliner Freundin68 vor Halbbildung geradezu gestrotzt. Außer mit Figuren der nordischen Mythologie (Odin und [!] Wotan) werden wir mit Komponistennamen (Wagner, Chopin und Beethoven), erotisch einschlägigen Bibelstellen (Joseph und Potiphar), Personen und Begriffen aus der Geschichte (Napoleon), Philosophie (Nietzsche), Medizin (»Minusvariante«, GW II, S. 634) und Naturgeschichte (»Monogamie«, GW II, S. 636) reichlich bedacht: Die ›weibliche‹ Halbbildung auf der inhaltlichen Ebene bestimmt strukturell zugleich die »potenzierte[ ] Intertextualität Kleiner Prosa in der Moderne«.69 »[M]ißbraucht« bzw. instrumentalisiert Susanne ihre Freundin, um »aufrichtig« – das heißt aus weiblicher Perspektive – »über Moral« zu »spreche[n]« (GW II, S. 640),70 so wird ein Nietzsche-Zitat (»Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was gut ist.«)71 aus Der Fall Wagner (1888)72 im ersten Brief Susannens umfunktionalisiert zu einem »wunderbare[n] Satz für
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Die »Gespräche über Liebe« (vgl. den Kapitelentwurf 49 »Gespräche über Liebe« zu Der Mann ohne Eigenschaften; MoE, S. 1219 f.) des Ehepaars Susanne und Manni sind weniger heilig als vielmehr profan. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Kleine Erzählprosa/ Zweiter Brief Susannens/Textgenese und Kommentar; vgl. GW II, S. 639: »›Handle stets so,‹ sagte Manni, ›daß dein persönliches Handeln allgemeines Gesetz sein könnte . . .‹« Vgl. GW II, S. 634: »Du hast mehr gelernt als ich [. . .].« Althaus, Bunzel, Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (s. Anm. 3), S. XXIV . Vgl. GW II, S. 640: »Manchmal habe ich große Lust, Manni darüber einen Vortrag zu halten, aber ich spreche nicht gern mit ihm zu aufrichtig über Moral. Du mußt deshalb verzeihen, wenn ich diesen Brief an dich dazu mißbraucht habe.« In Susannes Version vgl. GW II, S. 637: »›Alles Gute macht mich fruchtbar, das ist die einzige Form der Dankbarkeit, die ich kenne‹ [. . .].« Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Bd. 2. München 71973, S. 901–938, hier S. 906. Vgl. das wörtliche Exzerpt des Nietzsche-Zitats von Musil in KA/Transkriptionen/Heft 4/74.
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Frauen, die keine Kinder haben wollen.« (GW II, S. 637)73 Ein Emerson-Zitat74 gerinnt lebenspragmatisch zu einer »vollendete[n] Rechtfertigung der sogenannten Untreue« (GW II, S. 640). Diese angewandte Philosophie einer keineswegs ›verzweifelten‹, sondern überaus lebensklug und sinnlich veranlagten Ehefrau, welche ›das Gute‹ nicht nur als moralische Größe, sondern auch als sexuelles Maß zu deuten weiß, verweist zugleich auf das essayistische, zwischen heiterer »Plauderei« (Br I, S. 370) und »ernster Ironie« (Br I, S. 371) liegende Vertextungsprinzip dieser Kleinen Prosa.
3. Dritter Brief Susannens Ein dritter Brief Susannens ist nicht mehr in Bleis Roland erschienen. Dank der Klagenfurter Musil-Ausgabe liegt uns jedoch eine edierte Entwurfsfassung mit der Überschrift »Dort, wo Du nicht bist« vor,75 die dem Romanprojekt »Die Zwillingsschwester« zuzuordnen ist.76 Das Thema des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem, Gesetz und Ausnahme wird hier wieder aufgenommen: Es handelt sich um ein Plädoyer für die Erfahrung, für die Tatsachen, für die historischen Fakten wie für das weltgeschichtlich Ephemere, und es geht auch hier um ein essayistisches bzw. ›weibliches‹ Prinzip, das von den Rändern her denkt.77 73
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Vgl. hier den Kommentar in KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Kleine Erzählprosa/Zweiter Brief Susannens, der eine »Affinität zwischen Susanne und der Figur der Clarisse« konstatiert. Vgl. GW II, S. 640: »Da erhebt sich schon auf der anderen Seite ein anderer und zieht einen Kreis um den Kreis, den wir eben erst als die Grenze der Schöpfung gepriesen haben! – Diese Bemerkung ist nicht von mir, aber sie enthält eine vollendete Rechtfertigung der sogenannten Untreue.« Vgl. Ralph Waldo Emerson: Kraft, in: ders.: Seid fröhlich und weise. Eine Auswahl aus seinen Essays mit Einführung v. Wilhelm Mießner. Jena, Leipzig 1905, S. 14–24, hier S. 23: »Da erhebt sich schon auf der anderen Seite ein anderer und zieht einen Kreis um den Kreis, den wir eben erst als die Grenze der Schöpfung gepriesen haben!« KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Nachgelassene Glossen/Der Zug der Zeit (1918–1930)/Dritter Brief Susannens. Die nachfolgenden Zitate folgen – sofern nicht anders ausgewiesen – der KA . Vgl. KA/Werkkommentare/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Nachgelassene Glossen/Der Zug der Zeit (1918–1930)/Übersicht/Dritter Brief Susannens; die ersten beiden Briefe Susannens wurden von Frisé (GW II) unter »Verstreute Kleine Prosa – Erzählungen« eingeordnet, die KA folgt dieser Zuordnung in Bezug auf die beiden veröffentlichten Texte, rubriziert den zu Lebzeiten Musils unveröffentlichten dritten Brief allerdings unter »Nachgelassene Glossen«. Vgl. Musil zu Alfred Polgars An den Rand geschrieben (1926) in: ders.: Interview mit Alfred Polgar (1926), in: GW II, S. 1154–1160, hier S. 1159: Polgar »schreibt darin der Seele des zeitgenössischen Menschen [. . .] kleine, unpathetische Bemerkungen an den Rand; wenn man zur Mitte hinblickt, wo sie sein müßte, ist alles durchstrichen und es bleibt dort nichts, aber in der Randkorrektur, den Fußnoten, dem Dolchstoß praktischer Betrachtung in den Rücken der poetischen, in dieser sich immer tiefer zerspaltenden Heterodoxie der Vorbehalte, scheinbar also in einer unheilbaren Auflösung, zeigen sich mit einemmal ihre Linien; denn auch das
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Am Anfang des Brieffragments steht ein »Motto«, das dem von Franz Schubert vertonten Gedicht Georg Philipp Schmidts Des Fremdlings Abendlied entnommen ist. Die bekannten Schlussverse sind lautmalerisch transkribiert: »Mit Geihsterhauch töhhhnt es zurühhck: Dohrt, wo Du nichhcht bist, üst dos Glühck«.78 Das Thema »Unsittlichkeit« bzw. Moral wird diesmal nicht als imaginäre Möglichkeit (Stichwort: ›Ehebruch in Gedanken‹) wie im ersten Brief Susannens oder als Rechtfertigung des Ehebruchs wie in Unsere Männer, dem Zweiten Brief Susannens, verhandelt, sondern anhand der ›großen‹ Themen Politik und Geschichte. Diese werden wiederum in ›feuilletonoider‹ Verkleinerung ins ›Weibliche‹ gewendet, das heißt, aus der Perspektive der Mode betrachtet. Unmittelbarer Anlass scheint die Rede des »gewesenen österreichischen Bundeskanzler[s] und gebliebenen Professor[s] der Moraltheologie«,79 Ignaz Seipel, zu sein.80 Seipel nimmt im unvollendeten dritten Brief Susannens die Funktion im staatspolitisch ›Großen‹ ein, welche der auch dieses Mal in den fiktiven Dialog der beiden Frauen eingebundene Manni im ehelich ›Kleinen‹ besetzt. Wollte Susanne schon mit dem ihr anvertrauten Ehemann »nicht gern [. . .] zu aufrichtig über Moral« sprechen (GW II, S. 640; Hervorhebung B. N.), liege es ihr ebenso fern, so Susanne an ihre Berliner Freundin, mit einem »Professor der Moraltheologie [. . .] über Fragen der Unsittlichkeit [zu] diskutieren«.81 Hatte Susanne in ihrem zweiten Brief die staatserhaltenden moralisch-sittlichen Phrasen ihres Ehemanns dekonstruiert, so gestattet sie sich im fragmentarischen dritten Brief die »kleine Frivolität«,82 den Staatsmann stellvertretend für alle Staatsmänner zu entkleiden und dem nackten Mann eine riesige Staatsdame gegenüberzustellen oder genauer ins Bett zu legen:83 weil nach Abzug des Staats vom Staatsmann nur der Mann übrig bleibt, und das ist bei meist älteren Herrn etwas wenig, zumal sie an den Staatsakt gewöhnt sind,
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Leben hat heute keinen Text, sondern nur Zusätze, Einschränkungen, Durchführungsbestimmungen und jeden Tag neue Novellierungen [. . .].« KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens; vgl. Georg Philipp Schmidt: Des Fremdlings Abendlied, in: ders.: Gedichte. Altona 1847, S. 76: »Ich wandle still, bin wenig froh, / Und immer fragt der Seufzer, wo? / Im Geisterhauch tönt’s mir zurück: / Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück«. Vertont von Franz Schubert unter dem Titel Der Wanderer (D 493, op. 4/1). Vgl. Theodor Fontane: L’Adultera. Novelle. Hg. v. Frederick Betz. Stuttgart 1983, S. 91; hier ist das romantische Motiv in den Ehebruch-Kontext transformiert: »›Da, wo du nicht bist, ist das Glück.‹ / ›Da, wo du nicht bist‹, wiederholte Melanie.« KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. Der Prälat, Theologe und Politiker Ignaz Seipel (1876–1932) war von 1909 bis 1917 Professor für Moraltheologie in Salzburg. Im Dezember 1924 trat er zum ersten Mal von seinem Amt als österreichischer Bundeskanzler zurück, 1926 bis 1929 folgten eine weitere Amtszeit sowie ein weiterer Rücktritt. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. Vgl. Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten (GW II, S. 539 f.).
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der vor dem Akt mit einer gewöhnlichen Frau alle Stimulantien einer Riesendame voraus hat.84
Aus dieser »Umkehrung« (GW II, S. 635), in der Susanne nun nicht mehr sich selbst, sondern den Professor der Moraltheologie und österreichischen Staatsmann vor den Augen ihrer Berliner Freundin und der Leserinnen und Leser des Roland auszieht, »defiliert« im fiktiven Briefwechsel zweier Damen eine ganze Galerie ›großer Männer‹, bedeutender Wissenschaftler und »historische[r] Figur[en]« gleichsam »in Unterhosen« vorbei:85 neben »[u]nser[em] Freund Horthy«,86 der »Grosse[ ] Fritz«, der Mathematiker Henry Poincaré sowie der »Trottel [. . .] Mussolini«.87 Dabei wird in der anzüglichen Redeweise Susannes die Differenz zwischen der »schlechte[n] Poesie« der ›großen‹ Männer, ihrer körperlichen Nacktheit einerseits und der politisch-sozialen Wirklichkeit andererseits, ausgestellt:88 »Indem sie reden, wird wirklich aus einem Professor ein Timur.«89 Nicht gewisse erotische Vorlieben, sondern die Differenz zwischen poetischer Rede und körperlicher Nacktheit wird von Susanne dabei als »Perversion« bestimmt: »Denn: Indem sie [i. e. die Männer] reden [. . .] verfallen sie völlig einer Perversion.«90 Im Folgenden wird das »Theorem der Gestaltlosigkeit«91 an den beiden Bereichen der weiblichen Mode und der männlichen Ideale konkretisiert: »Der Mensch ist eine plastische Masse.«92 Wie in Musils Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) werden auch hier die Konzepte »Rasse«, »Nation« und »Staat« als diskursive Konstrukte bestimmt.93 Das Ideal wird zum Gegenteil des Möglichkeitsprinzips: Es ist nicht Potenzial des Wirkli84 85
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KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. Vgl. Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1968, S. 131: »Ich befragte Kafka über Franz Blei. / ›Das ist eine alte, langjährige gute Bekanntschaft von Max Brod‹, sagte er lächelnd. ›Blei ist riesig gescheit und witzig. Es ist immer so lustig, wenn wir mit ihm zusammenkommen. Die Weltliteratur defiliert in Unterhosen an unserem Tisch vorbei.‹« Miklós Horthy (1868–1957), österreichisch-ungarischer und ungarischer Offizier, dann Politiker und von 1920 bis 1944 als Reichsverweser Staatsoberhaupt in Ungarn, scheint wie jener ›nette‹ Hochstapler und Ehebrecher aus dem zweiten Brief im Haus der Eheleute Susanne und Manni verkehrt zu haben: »ein sehr netter Kerl; ein bißchen beschränkt, wirst Du sagen, aber das wirkte doch äußerst natürlich [. . .].« (KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens) KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens; Benito Amilcare Andrea Mussolini (1883–1945) war von 1922 bis 1945 Diktator des Königreichs Italien und der Italienischen Sozialrepublik (1943–1945). Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Nachdem er [i. e. Horthy] so gesprochen hatte, ließ er zu, daß tausende Menschen aufgehängt, totgeprügelt und vernichtet wurden.« KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. Vgl. Der deutsche Mensch als Symptom (1923) (GW II, S. 1353–1400, bes. S. 1368–1375). Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Der Mensch ist nicht fertig, er ist nicht fest.« – »[. . .] daß unsre Seele eine halbfeste blasige Wolke ist, die in keiner Form ihre Ruhe findet, und die Formen braucht, um irgendetwas darzustellen.« Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Das ist es eben: die Wirklichkeit macht [ihnen, den Männern] erst Freude, wenn sie durch etwas ergänzt wird, was nicht Wirklichkeit ist.«
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chen, sondern eine Idealisierung des Bestehenden. Die Männer, die im fragmentarischen dritten Brief Susannens die im Essayfragment »Das Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit« für den Typus des »Tatsachenmenschen« stehen (GW II, S. 1389), versuchten – so Susannes anthropologische Verallgemeinerung – das irrationale bzw. »unlogische Bedürfnis«, das ›Loch des Seienden‹94 zu stopfen bzw. durch etwas zu ersetzen, »das nicht ist.«95 »Statt nun die historischen Fakten zu benutzen[,] um Modelle von Möglichkeiten zu baun«, wendeten sie, ›die Männer‹, eine rückwärtsgewandte, »[r]egressive Methode« an.96 Denn »die Männer«, die es »für eine ihrer wichtigsten Aufgaben ansehn, Geschichte zu machen«, machten diese »regressiv«,97 also »[i]mmer hinter den Tatsachen drein.«98 Das Prinzip der Geschichte wird dabei – ähnlich wie in der zweistimmigen Digression von Ulrich und dem Erzähler in Der Mann ohne Eigenschaften – durch Susanne vom Prinzip der fehlenden Mitte, eines fehlenden Zentrums her abgeleitet: »Genau so entsteht Geschichte – – von der Peripherie her, von den Zufällen, Mischungen usw.« Der ›unbewusste‹ arnheimsche Essayismus der Weltgeschichte, den Ulrich im 62. Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften (»Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus«) zu einem bewussten menschlichen Essayismus weiterentwickelt, wird somit bereits in der exterritorialen Perspektive Susannes dekonstruiert und von den Rändern respektive der Mode aus gedacht. Im Umkehrschluss zu Susannes Bonmot (»Denn die Männer haben anstelle unseres ewigen Faschings die Welt- und Kunstgeschichte«99 ) ließe sich ebenso gut behaupten: Die Frauen haben anstelle der Welt- und Kunstgeschichte den ewigen Fasching der Mode. Ist laut Susanne »Nacktheit ein Kostüm für besondere Fälle«, so bestimmt die weibliche Maskerade100 das Prinzip der Karnevalisierung des Alltags wie der Weltgeschichte. Der »ewige Fasching« der Frau zielt auf die modische Performanz 94
Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Weil das Seiende ein Loch hat.« Vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. (Freiburger Vorlesung WS 1929/30). Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2004, S. 210: »Das Dasein hängt nur noch zwischen dem im Ganzen sich versagenden Seienden. Die Leere ist nicht ein Loch zwischen Ausgefülltem, sondern betrifft das ganze Seiende und ist gleichwohl nicht das Nichts.« 95 Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »[. . .] daß der Mann als Ursache von dem, was er ist oder tut, immer etwas setzt, was es nicht gibt.« 96 KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/43 Ü 73 2; bei diesem – in der KA nicht unter den Lesetexten wiedergegebenen – Abschnitt handelt es sich um einen Entwurf zur Arnheim-Figur in Der Mann ohne Eigenschaften. 97 Vgl. auch in KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens die Kritik am Geschichtsbild Burckhardt’scher Provenienz: »der gotische Mensch«, »der antike Mensch« etc. 98 Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Die Tatsachen sind das, was fait accompli schafft, das Ganze über den Haufen wirft.« 99 KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. 100 Vgl. Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M. 1994, unter Bezugnahme auf Joan Rivieres Womanliness as a Maskerade (1929).
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für den Mann – in diesem Falle Manni101 – wie auf die Performativität einer »Verkleidung als Frau« (Br I, S. 370). Das weibliche »Modeprinzip« wechsele dabei nur zwischen »eine[r] ganz kleine[n] Anzahl geometrischer Möglichkeiten«, »ohne den Gesamtkreis eigentlich je zu durchbrechen«.102 Während das ›weibliche Prinzip‹ in der Weltgeschichte eines der Abwesenheit, der Marginalität ist,103 wird das »Modeprinzip« männlicher Mode – in aphoristischer Verkürzung des zeitgenössischen Modediskurses und in »Umkehrung« (GW II, S. 635) des weiblichen Modeprinzips – als »ein Maximum der Variation bei einem Minimum der Veränderung bezeichne[t].«104 Der fragmentarische Text endet ebenso offen wie vieldeutig mit den Stichworten: »Mode. Herrenmode. Anstelle unsres ewigen Faschings ihr ganzes Leben.«105 Ihre Philosophie der Herrenmode in gendertheoretischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht ist Susanne uns leider schuldig geblieben. Ihr dritter Brief wird im Roland nicht mehr erscheinen. Gründe hierfür mögen einerseits Musils Honorarforderungen,106 andererseits Bleis Zerwürfnis mit den Verlegern gewesen sein. Denn bereits am 21. Januar, also genau eine Woche nach dem Erscheinen des ersten Briefs Susannens, heißt es in einem Brief an Blei: Was also meine Beiträge [für den Roland] betrifft, so richte ich mich auf den Abbruch Ihrer Beziehungen [zur Roland-G.m.b.H.] ein. Ich bitte Sie, zu bewirken, daß mir der zweite Brief Susannens möglichst bald bezahlt werde, und schreibe einen dritten nur noch, wenn Sie es ausdrücklich verlangen, was ich nach Ihren Andeutungen nicht erwarte. (Br I, S. 376)
In einem weiteren Brief an Blei lobt Musil die Aufmachung des Roland: Mit den Bildern bin ich nicht so uneinverstanden wie Sie. Ich liebe nämlich illustrierte Zeitschriften. Als drastische Archive. Man sieht da Bewegungen, Ausdrücke, die besser sind als eine seitenlange Sittenschilderung. Nur liest sie das Publikum nicht richtig, sieht, was sie intendieren, nicht was sie sind. Mit dem Bildermaterial, das bei Ullstein einläuft, und einigen Unterschriften ließe sich da wohl etwas sehr 101 Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Manni erlaubt sich darüber zu lachen, aber Manni ist ein Esel und hat keine Ahnung, wieviel Lust und Verzweiflung es mir bereitet, wenn ich ihm gefalle.« 102 Vgl. KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens: »Bald rutschen die Haare nach hinten, und der Busen wurde platt an die Brust gedrückt, bald steigt, bald sinkt das Ensemble, bald sind wir oben breit und unten schmal, bald unten breit und oben schmal usw.« 103 Bis auf wenige Ausnahmen, ich verweise hier auf die Margaret-Thatcher-Verfilmung mit Meryl Streep (The Iron Lady, F/GB 2011), den ja weder Susanne und Manni noch Ulrich und Agathe im Kino gesehen haben können; vgl. Walter Fanta, Bernadette Sonnenbichler: Ulrich und Agathe im Kino. Update: Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Wien 2005. 104 KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. 105 KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens. 106 Es ist davon auszugehen, dass Blei Musil, wie auch Carl Schmitt, ein zwar nicht näher bestimmtes, jedoch großzügiges Honorar in Aussicht gestellt hat; vgl. Franz Blei an Carl Schmitt, 8. 10. 1923, in: Blei: Briefe an Carl Schmitt (s. Anm. 32): »Und auch das: die Arbeiten werden immer gut honoriert.«
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Amusantes [!] machen. Selbst mit dem richtigen Nebeneinander Ihrer Theater- oder Tanzschönheiten und entgegengesetzten Lebensaspekten. (Br I, S. 377)107
Noch in einem Brief vom 26. Mai 1925 bietet Musil, der »eine Woche bei der Tennismeisterschaft von Österreich als Zuschauer zugebracht« hat (Br I, S. 383), Blei für den Roland neue Beiträge an: »Wenn es meine Katastropheneile in der Romanarbeit erlaubt, möchte ich über das Tennisspielen einige Worte für den Roland schreiben, denn ich habe sehr angeregt darüber nachgedacht.« (Br I, S. 384) Doch weder Randglossen zu Tennisplätzen noch Der Praterpreis werden im Roland veröffentlicht.108 Sie bleiben – wie der dritte Brief Susannens – Fragmente. Im selben Brief verwendet Musil gegenüber Blei das Selbstbildnis eines »kleinen Mädchen[s]«, das »den Kopf einzieh[t] und rot [wird], wenn man sie kitzelt«. Die Unangemessenheit des Vergleichs wird zwar umgehend als »lächerlich inkommensurabel« reflektiert, allerdings überraschenderweise nicht in Bezug auf den Gender-, sondern vielmehr allein auf den Alters-Aspekt. Denn Musil nimmt nun selbst gegenüber seinem Berliner ›Brieffreund‹ gleichsam die ›exterritoriale‹ Position Susannes ein, wenn er sich als »Frau meines Alters« (Br I, S. 383) bezeichnet und sich gegenüber dem ›Womanizer‹ Blei in die Position des Weibchens begibt,109 genauer einer 45-Jährigen, die sich von den Worten ihres Freundes wie ein »kleine[s] Mädchen« kitzeln lässt. Die bislang in der Musil-Forschung allenfalls am Rande beachtete Kleine Prosa der feuilletonistischen Briefe Susannens gewähren Einblicke zum einen in das Œuvre Robert Musils und die interauktoriale110 Zusammenarbeit des österreichischen Autorenpaars Blei/Musil im Hinblick auf den (bislang kaum erforschten) Roland und zum anderen in das literarische Leben Österreichs sowie den Beitrag österreichischer Literaten am literarischen und kulturellen Leben Berlins. Die fragmentarische Reihe von drei Briefen Susannens – vom ersten Brief Susannens über Unsere Männer bis hin zur Nachlassskizze »Dort, wo Du nicht bist« – ist als ›kleine Literatur‹ eines ›großen Autors‹ nicht nur in Bezug auf ihre Inhalte (Ehebruch, Mode etc.) gegendert, sondern auch hinsichtlich ihrer fiktiven weiblichen Sprecherposition, welche die ›große‹ Welt der Männer, des Krieges wie der Politik, der ›allgemeinen‹ Prinzipien wie 107 Für den Text empfiehlt Musil allerdings »mehr Bettauer, Olden, Perutz, Bermann«,also mehr gut laufende journalistische Autoren, »einzudoublieren«: »So daß Blei und seinesgleichen bequem in der Kutsche sitzen könnten, statt auch das Geholper markieren zu müssen, ohne das man dem Wagen nicht glaubt, daß er fährt. Allerdings müßten für diese Autoren die Honorare höher sein.« (Br I, S. 377) 108 Vgl. GW II, S. 795–799 u. 1777 f.; Als Papa Tennis lernte (GW II, S. 685–691) wird im April 1931 in der Ullstein-Zeitschrift Der Querschnitt erscheinen. 109 Vgl. Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten (GW II, S. 540), sowie Nübel: Robert Musil und Heinrich von Kleist oder die Grazie unendlicher Reflexion, in: Anne Fleig, Christian Moser, Helmut Schneider (Hg.): Schreiben nach Kleist. Freiburg i. Br. 2014, S. 95–116. 110 Vgl. Ina Schabert: Interauktorialität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 679–701.
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der ›männlichen‹ Rede, aus der exterritorialen Perspektive weiblicher »Maskerade« karnevalisiert, ›konstruktiv ironisch‹111 marginalisiert. Die narrative »Verkleidung als Frau« (Br I, S. 370), wobei der textexterne Autor Musil zwischen den textinternen Positionen Susannes und des einäugigen »Fremden«112 changiert, ist Ausdruck eines Wandels der Gender-Relationen der 1920er Jahre und somit auch Ausdruck einer ›Krise der Männlichkeit‹, die hier in der ›kleinen (weiblichen) Form‹ spielerisch verhandelt wird.
111 Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VIII/3/36: »Diese Art Ironie, die konstruktive Ironie, ist im heutigen Deutschland ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht.« 112 KA/[. . .]/Dritter Brief Susannens.
Anne Fleig
Rasende Schnecke Robert Musil, Der Querschnitt und das kulturelle Leben seiner Zeit Abstract: Musil published his two essays on sports in the Weimar Republic avantgarde magazine Der Querschnitt. Founded by gallery owner Alfred Flechtheim in the early 1920s, the journal not only was famous for its unique composition of arts and sports but also became a progressive and provocative magazine of modern life style. My article gives a summary of the magazine’s main topics and its exceptional layout and focuses on the aesthetics of New Objectivity raised in several articles by main editor Hermann von Wedderkop. My analysis aims to demonstrate Musil’s ambivalent position towards sports and the magazine’s attitude on urban modernism.
Robert Musil hat sich nicht nur mit dem literarischen Leben, sondern auch mit dem kulturellen Leben seiner Zeit kritisch auseinandergesetzt. Insbesondere in seinen beiden Essays zum Sport – Als Papa Tennis lernte (1931) und Kunst und Moral des Crawlens (1932) – werden die Widersprüche der modernen Lebenswelt analysiert, die sich in der Herausbildung des WettkampfSports zeigen. Für die Publikation seiner Sport-Essays fand Musil ein ideales Forum: Denn diese erschienen in Der Querschnitt1 – jenem von dem Galeristen Alfred Flechtheim begründeten Avantgarde-Magazin der Weimarer Republik, das wie wahrscheinlich kein anderes die Modernität des kulturellen Lebens dieser Jahre ausstellte.2 In den Sport-Essays reflektiert Musil den Wandel des kulturellen Lebens seit der Jahrhundertwende, den die »illustrierte Zeitschrift[ ]« (Br I, S. 377) Der Querschnitt ausschnitthaft zur Anschauung brachte. Sie fragen nach den 1
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Vgl. Robert Musil: Als Papa Tennis lernte, in: Der Querschnitt 11 (1931), H. 4, S. 247–252 (= GW II, S. 685–691); ders.: Kunst und Moral des Crawlens, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 413–416 (= GW II, S. 694–698). Außerdem erschien Musils Essay Der bedrohte Ödipus in: Der Querschnitt 11 (1931), H. 10, S. 685 f., der die Popularisierung der Psychoanalyse karikiert und den er später leicht überarbeitet in seinen Nachlaß zu Lebzeiten (1936) aufnahm. Vgl. Musil GW II, S. 528–533. Im Nachlass findet sich darüber hinaus das Fragment eines PraterTextes (abgelegt in Mappe IV/3 zusammen mit dem Manuskript von Als Papa Tennis lernte), der möglicherweise ebenfalls für den Querschnitt vorgesehen war. Vgl. KA/Kommentare/ Nachgelassene Glossen/Unzeitgemäßes von 1929–1932. Dem Beitrag liegt die Auswertung sämtlicher Jahrgänge des Querschnitt zugrunde, der seit Kurzem durch das Projekt »Illustrierte Magazine der Klassischen Moderne« der Universität Erfurt und der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden auch digital verfügbar ist.
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Spannungen zwischen persönlichem Erleben und medialer Vermittlung, individueller Bewegung und wissenschaftlichen Trainingstechniken, Sportler und Massenpublikum. Die moderne Kultur kann in diesem Zusammenhang als Zuschauerkultur charakterisiert werden, für die das Neue Sehen und neue Formen der Bewegung eine entscheidende Rolle spielen, wie neben Kino, Jazz und Revue nicht zuletzt der Sport verdeutlicht. Vor allem die Darstellung des Sports wurde zum Markenzeichen des Querschnitt, der zunächst als Mitteilungsblatt der Galerie Flechtheim startete. In der bewussten Engführung von Kunst und Sport fungierte das Magazin nicht nur als Schaufenster der kulturellen Moderne, es trug auch selbst zur Erneuerung der Kultur bei. Seine avantgardistische visuelle Gestaltung unterstrich die Herausbildung der modernen Zuschauerkultur, die die zeitgenössische Sportbegeisterung begründete und hervorbrachte. Gleichzeitig trug die programmatische Verbindung von Kunst und moderner Populärkultur dazu bei, die Grenze zwischen Hochkultur und Massenkultur zu verwischen.3 Die Sportbegeisterung der zwanziger Jahre machte sich vor allem in zwei gesellschaftlichen Bereichen bemerkbar. Zum einen zeigte sie sich in der Institutionalisierung des Zuschauersports und der Inszenierung sportlicher Großereignisse; zum anderen bestimmte sie den Entwurf eines zukünftigen Neuen Menschen, der die Sport- und Körperkulturbewegung mit der Avantgarde verband.4 In diesem Klima wurden Sportler zu Prominenten im gesellschaftlichen Leben. So lud Flechtheim den Boxer Max Schmeling zu den berühmten Festen seiner Galerie ein und vermittelte ihn als Modell an den Maler George Grosz. Der Übergang zwischen Sport, Kunst und Kommerz war fließend, der immer professioneller betriebene Sport wurde zu einem festen Teil der entstehenden Massenkultur. Die Verbindung von Kunst und Unterhaltung war für Flechtheim eines der zentralen Argumente für die zeitgemäße Ästhetik des Sports: »Denn das Publikum des Sportpalastes rekrutiert sich nicht allein aus Bierkutschern und Chauffeuren; – die ganze gute berlinische Gesellschaft ist da, Prinzen und Prinzessinnen, Maler und Bildhauer, Literatur und Haute Banque und alle an diesem Abend beschäftigungslosen Schauspieler.«5 Künstler und Schriftsteller sahen sich durch den Publikumserfolg dazu herausgefordert, das Sportgeschehen zu kommentieren, und trugen so ihrerseits zur Aufwertung des Sports als Teil der kulturellen Moderne bei.6 3
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Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Kai Marcel Sicks: »Der Querschnitt« oder die Kunst des Sporttreibens, in: ders., Michael Cowan (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933. Bielefeld 2005, S. 33–47, hier S. 34. Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York 2008 (= Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte, Bd. 51). Alfred Flechtheim: Gladiatoren, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 1, S. 48 f., hier S. 48. Vgl. dazu auch Anne Fleig: Sport, Moderne, Modernisierung. Anmerkungen zu einem paradoxen Verhältnis, in: Simon Huber, Behrang Samsami, Ines Schubert, Walter Delabar (Hrsg.):
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Im Schnittpunkt dieser beiden Entwicklungen – Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports auf der einen, Rationalisierung auf der anderen Seite – stand der Körper des Sportlers, der als Sinnbild der naturwissenschaftlich-technischen Moderne galt. Er bildet nicht nur das Zentrum von Flechtheims Interesse am Sport, ihm gilt auch Musils Interesse, das in seinem Essay Kunst und Moral des Crawlens auf die Frage »Kunst oder Wissenschaft« zugespitzt wird (GW II, S. 694). Bezeichnenderweise folgt auf Musils Essay über das Kraulen im Querschnitt ein Beitrag des Kraulschwimmers und frühen Filmstars Johnny Weißmüller mit der Überschrift: Mein Körper.7 Musil greift mit seinen beiden Essays in den zeitgenössischen Sportdiskurs ein, so dass der Querschnitt zum Rahmen wird, der die Texte integriert, von dem sich Musil aber gerade mit Blick auf die von ihm heftig kritisierte Zuschauerkultur auch absetzt. Die Publikation der Essays im Querschnitt macht diese durchaus widersprüchliche und zugleich kritische Positionierung Musils in besonderer Weise kenntlich. Wie ich im Folgenden in einem Überblick über Themen, Gestaltung und Programm des Querschnitt zeigen möchte, kommt das Magazin Musils kritischer Haltung zur modernen Lebenswelt einerseits entgegen: Die spannungsreiche Anordnung der Beiträge und Abbildungen setzt auf Kontrast, der die Widersprüche der kulturellen Moderne vorführt und damit Distanz und Reflexion ermöglicht. Auf der anderen Seite scheint die neusachliche Programmatik der Tatsachenorientierung, die der langjährige Herausgeber Hermann von Wedderkop propagierte, diese Spannung ähnlich wie die unreflektierte Sportbegeisterung geradezu aufzulösen.8 Vor diesem Hintergrund kann nicht nur Musils Haltung zum Sport, sondern auch die zum Magazin Der Querschnitt insgesamt als ambivalent eingeschätzt werden.
1. Der Querschnitt – Themen und Gestaltung Die von Alfred Flechtheim initiierte Zeitschrift hatte in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Sport eine Schlüsselstellung inne. Der Querschnitt nahm nicht nur als erste Zeitschrift den Sport als Teil einer neuen Kultur wirklich ernst. Er nobilitierte den Sport sogar, indem er unter ästhe-
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Das riskante Projekt. Die Moderne und ihre Bewältigung. Bielefeld 2011 (= Moderne-Studien, Bd. 8), S. 53–65. Vgl. Johnny Weißmüller: Mein Körper, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 417–419. Musils Haltung und Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit sind in der Musil-Forschung umstritten. Vgl. Sabina Becker: Von der »Trunksucht am Tatsächlichen«. Robert Musil und die neusachliche Moderne, in: Musil-Forum 29 (2005/2006), S. 140–160; Norbert Christian Wolf: Zwischen Diesseitsglauben und Weltabgewandtheit – Musil und die Berliner literarischen Strömungen, in: Annette Daigger, Peter Henniger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern u. a. 2008 (= Musiliana, Bd. 14), S. 185–230, bes. S. 195–207.
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tischen Gesichtspunkten enge Korrespondenzen zwischen Kunst und Sport herstellte. Mit diesem avantgardistischen Programm setzte Der Querschnitt neue Maßstäbe für die Wahrnehmung und Reflexion des Sports, die mit der täglichen Sportberichterstattung nicht zu vergleichen waren. Ein eigener Sportjournalismus war zu diesem Zeitpunkt erst im Entstehen begriffen, Rundfunk und Film spielten in diesem Zusammenhang noch keine Rolle. Auch die verschiedenen Formen der Berichterstattung bildeten sich seit der Jahrhundertwende erst heraus. Die Redaktion des Querschnitt beschritt also weitgehend unbekanntes Terrain, als sie begann, Berichte, Glossen und Essays über den Sport zu veröffentlichen. In Als Papa Tennis lernte konstatiert Musil vermutlich zutreffend, dass »alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen.« (GW II, S. 691) Das Magazin ging auf die Initiative des Düsseldorfer Galeristen Alfred Flechtheim zurück, der sein Geschäft nach dem Ersten Weltkrieg neu aufbauen musste.9 Es bestand zunächst nur aus einzelnen Heften, die die Kataloge der Galerie durch Mitteilungen aus der aktuellen Kunstszene ergänzen sollten. Flechtheim engagierte sich vor allem für die neueste französische Malerei und zeitgenössische, junge deutsche Künstlerinnen und Künstler. Doch ließen Flechtheims breit gestreute Interessen, insbesondere seine Liebe zum Boxsport, und seine vielfältigen, internationalen Kontakte die Mitteilungen bald zu einer zeitschriftenähnlichen Publikation anwachsen. Ende 1920 entschloss sich Flechtheim daher, seine Mitteilungen tatsächlich als Zeitschrift herauszugeben.10 Unter dem Titel Der Querschnitt. Marginalien der Galerie Flechtheim erschienen 1921 die ersten sechs Nummern. Sie richteten sich an Freunde und Interessenten aus dem Umkreis der Galerie. Mit dem Umzug der Galerie wechselte auch Der Querschnitt nach Berlin,11 wo er sein eigentliches, großstädtisch geprägtes Betätigungsfeld fand. 1922 erschien der zweite Querschnitt-Jahrgang bereits mit der Berliner Galerie-Adresse Lützowufer 18. Das Magazin sorgte rasch für Furore, war aber ökonomisch kein Erfolg und konnte es auch nicht sein. Anspruch und finanzielles Risiko waren eng 9
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Vgl. Ottfried Dascher: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst«. Alfred Flechtheim – Sammler, Kunsthändler, Verleger. Wädenswil 2011 (= Quellenstudien zur Kunst, Bd. 6), S. 109 f. u. S. 121 f. Vgl. Christian Ferber: Rückblick auf einen Siegeszug, in: Der Querschnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte 1924–1933. Zusammengestellt u. hg. v. Christian Ferber. Frankfurt a. M., Berlin 1981, S. 9–15, hier S. 9. Der Querschnitt entstand aber auch aus Protest gegen das rheinländische Luxussteuergesetz. Wie andere Galeristen im Rheinland verzichtete Flechtheim auf Ausstellungsprogramm und Kataloge und gab stattdessen den Querschnitt heraus. Vgl. Der Querschnitt. Marginalien der Galerie Flechtheim (1921), H. 1, S. 12. Schon im Berlin der Vorkriegszeit hatten sich mit Paul Cassirer und Herwarth Walden Galeristen als Verleger betätigt. Vgl. Dascher: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst« (s. Anm. 9), S. 143.
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verbunden. Das Magazin fungierte vor allem als ein in die kulturelle Öffentlichkeit verlagertes Schaufenster der Galerie und der vielfältigen Interessen seiner Herausgeber. Seit 1924 war der Schriftsteller Hermann von Wedderkop für die Zeitschrift verantwortlich; Flechtheim hatte ihn 1907 in Paris kennengelernt.12 Unter seiner Ägide kamen vier Hefte im mittlerweile gegründeten Querschnitt-Verlag heraus, dann übernahm Ullstein die Zeitschrift. Der Querschnitt erschien bis 1933 im Propyläen-Verlag, einer Tochterfirma des Ullstein-Konzerns.13 Nach verschiedenen Versuchen, das Magazin in Berlin fortzuführen, wurde es 1936 verboten. Hermann von Wedderkop begründete schnell den legendären Ruf des Magazins, der ihn schon 1924 vom »Siegeszug des Querschnitt« sprechen ließ.14 Die Zeitschrift wurde sein Hauptbetätigungsfeld und die Jahre 1924 bis 1929 können als ihre Glanzzeit gelten. Während die Auflage der ersten Hefte unter 1000 Stück lag, stieg sie in den besten Jahren auf etwa 20 000 Exemplare.15 Der Querschnitt war damit eine der bestverkauften Zeitschriften der Weimarer Republik, der Weltbühne und der Neuen Rundschau vergleichbar.16 Dennoch erreichte Der Querschnitt nie ein großes Publikum. Von Wedderkops gestalterische und programmatische Klarheit hat den Querschnitt lange geprägt. Geist und Zielsetzung des Magazins reflektierte der Herausgeber in einleitenden Beiträgen, die wichtige Positionsbestimmungen in der Auseinandersetzung um die Neue Sachlichkeit liefern.17 Der Name der Zeitschrift war Programm,18 ein bewusst gesetzter Schnitt quer durch die verschiedenen Zeitströmungen und Tendenzen, der insbesondere im Bildmaterial Ausdruck fand. Der Querschnitt war ein Magazin der Gegenwart, das »Leben in die dehnende Gleichförmigkeit« bringen und »lebendigen 12
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Vgl. Christine Schulze: Der Querschnitt (1921–1936), in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitschriften des 17.–20. Jahrhunderts. Pullach b. München 1973, S. 379–391, hier S. 383. Christian Ferber gibt 1909 als Jahr des Kennenlernens in Paris an. Vgl. Ferber: Rückblick auf einen Siegeszug (s. Anm. 10), S. 10. Vgl. Dascher: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst« (s. Anm. 9), S. 168. Vgl. Hermann von Wedderkop: Der Siegeszug des »Querschnitt«, in: Der Querschnitt 4 (1924), H. 2, S. 90–92. Vgl. Bettina Deininger, Ulrike Felger: »Der Stoff liegt auf der Straße« – Der Querschnitt, in: Patrik Rössler (Hg.): Moderne Illustrierte – Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkonzepte im 20. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek vom 17. Juni bis 1. August 1998. Stuttgart 1998, S. 26–37, hier S. 30; vgl. Ferber: Rückblick auf einen Siegeszug (s. Anm. 10), S. 9. Vgl. Sicks: »Der Querschnitt« (s. Anm. 3), S. 33. Mehrere programmatische Texte von Wedderkops finden sich in dem von Sabina Becker herausgegebenen Quellenband: Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente. Köln u. a. 2000. Er geht auf Ottomar Starke, Freund Flechtheims, Graphiker, Bühnenbildner und Autor, zurück, der unter den weniger häufigen Buchstaben des Alphabets suchte und den Titel erfand. Vgl. Dascher: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst« (s. Anm. 9), S. 146.
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Blödsinn« gegen den grassierenden Stumpfsinn setzen wollte.19 Die Herausgeber präsentierten sich als »fanatische Anhänger des Schlagworts«, die die »geistigen Strömungen und Leidenschaften der Zeit«20 vorbehaltlos auf den Prüfstand stellten. Die Begeisterung der Zeitschrift für Tempo und Bewegung hat Musil persiflierend aufgegriffen und vom Querschnitt als »Rasende Schnecke« gesprochen (vgl. Br I, S. 506). ›Querdenker‹ wie Franz Blei oder Carl Sternheim gehörten zu seinen ersten Autoren. Hinzu kamen neben vielen anderen Walter Benjamin, Gottfried Benn, Alfred Döblin, George Grosz, Kurt Pinthus, Alfred Polgar, Ernst Rowohlt, zu Beginn der dreißiger Jahre eben auch Robert Musil.21 Autorinnen wie Marieluise Fleißer, Mascha Kaleko oder Gertrude Stein waren ebenfalls im Querschnitt vertreten. Gleichzeitig kamen neben den Schriftstellerinnen und Schriftstellern auch die Sportler selbst zu Wort wie der Boxer Hans Breitensträter oder die Rennfahrerin Clärenore Stinnes. Durch diese Mischung entstand eine Vielstimmigkeit, die der kosmopolitischen Ausrichtung und Gestaltung der Zeitschrift entsprach. So folgten nicht nur Beiträge von Schriftstellern und Sportlern aufeinander, sondern neben Porträtaufnahmen von Schriftstellern oder Künstlern standen Photographien von Sportlern und rückten beispielsweise Ausdruck und Körperhaltung in ein spannungsreiches Verhältnis. Die Themen der Zeitschrift waren durch das großstädtische Leben geprägt und kosmopolitisch ausgerichtet;22 sie reichten von den neuen, aus Amerika importierten Tänzen wie Shimmy oder Charleston über Jazzmusik, Revue, Theater, Film bis hin zur internationalen Avantgarde der bildenden Kunst, die Flechtheim in Deutschland vertrat. Ergänzt wurden diese Beiträge zur kulturellen Moderne um Reiseberichte, Eindrücke aus dem Berliner Zoo, populärwissenschaftliche Artikel über medizinische Errungenschaften, das Für und Wider der Rohkost, das Leben der Kassenärzte oder die High Society. Neben der Kunst bildete der Sport das wichtigste Thema des Querschnitt, vor allem der Boxsport. In diesem Zusammenhang konnte die männliche Figur des Boxers zur Ikone der internationalen Avantgarde avancieren, die das Magazin auf vielfache Weise ausstellte.23
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Hermann von Wedderkop: Standpunkt, in: Der Querschnitt 3 (1923), H. 2/3, S. 1–6, hier S. 2 f. Von Wedderkop: Standpunkt (s. Anm. 19), S. 3. Musil war durch Franz Blei mit dem Querschnitt verbunden; darüber hinaus war er mit Victor Wittner persönlich bekannt, der 1929 Chefredakteur des Querschnitt wurde. Vgl. zum globalen Kosmopolitismus des Magazins den Aufsatz von Susanne Ledanff: »This big village which is called the world«. Metropolises and ›Globalization‹ in the Twenties in the Jourmal Der Querschnitt, in: KulturPoetik 4 (2004), S. 82–103. Vgl. Karin Rase: Kunst und Sport. Der Boxsport als Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Frankfurt a. M. u. a. 2003 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 28: Kunstgeschichte, Bd. 396); Erik N. Jensen: Body by Weimar. Athletes, Gender, and German Modernity. Oxford u. a. 2010.
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Abb. 1: Titelblatt des Querschnitt 12 (1932), H. 6.
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Abb. 2: Inhaltsverzeichnis des Querschnitt 12 (1932), H. 6.
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Der Querschnitt brachte insgesamt drei dem Sport gewidmete Themenhefte heraus, die 1926 anlässlich der Düsseldorfer Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen Gesolei (1926, H. 5), 1928 anlässlich der Olympischen Spiele in Amsterdam (1928, H. 8) sowie 1932 anlässlich der Olympischen Spiele in Los Angeles (1932, H. 6) erschienen. Das letzte dieser Hefte publizierte unter der Überschrift »Fug und Unfug des Sports« beispielsweise Beiträge über den sittlichen Wert des Sports, den Sport und die Tiere und den beleidigten Baseballgott, die neben Musil von Autoren wie Tibor Déry und Alfred Polgar stammten und um Beiträge verschiedener Sportler wurden. Diese Texte reflektierten die Entwicklung des Sportdiskurses und warfen zugleich Schlaglichter auf die Blüten, die dieser trieb. So erörterte der Boxer Hans Breitensträter die große Frage: »Soll ein Sportsmann heiraten?« Die Antwort lieferte ein bissiger Artikel von Janice Taylor, die sich sarkastisch über die Eigenliebe der »Herren Athleten« ausließ und im Gegensatz zu Breitensträter vom Heiraten abriet. Dagegen folgte Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens der schon erwähnte Artikel von Johnny Weißmüller – dem fünffachen Olympiasieger und nachmaligen Tarzan-Helden – mit dem Titel Mein Körper, der in mehrfacher Hinsicht auf Musil bezogen ist: Weißmüller entwickelte die Crawl-Technik, die auch Musil erlernte, und siegte mit ihr bei den Olympiaden 1924 und 1928, bevor er zum Helden des Dschungels wurde.24 Sein Text beschreibt sowohl die schlangenartige Form seines Körpers als auch die Technik der Schwimmbewegung und reflektiert ähnlich wie Musil mit seiner Crawl-Gleichung die Kräfteverhältnisse im Wasser. Schließlich betont er seine Konzentration auf die Bewegung und auf sich selbst, um eine »vollkommene Form«25 zeigen zu können. Weißmüllers Artikel wirkt im Vergleich mit Musils raffinierter Inszenierung eines Briefwechsels über das Kraulen schlicht, kann in der Sache aber durchaus als Verstärkung des Musil’schen Essays gelesen werden. Denn auch Kunst und Moral des Crawlens zielt auf Konzentration und die vollkommene Form der Bewegung, in der Technik und Ästhetik zusammenfallen. Die Zusammenstellung des gesamten Heftes, aber auch speziell der Texte Musils und Weißmüllers zeigt, dass das Kontrastprogramm des Querschnitt hier nicht nur umgesetzt, sondern auch anspielungsreich und ironisch reflektiert wird. Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit dem medial aufgeblasenen Sportdiskurs, den Musil in seinen Essays, aber auch in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften scharf kritisiert hat. Das Kompositionsprinzip des Querschnitt dürfte daher seinen eigenen Vorstellungen von 24
25
Weißmüllers Laufbahn ist damit das prominenteste der frühen Beispiele für den Aufstieg vom Sportler zum Leinwandstar. Vgl. dazu Sabine Horst: Vom Champion zum Filmstar. Johnny Weissmuller, in: Hans Sarkowicz (Hg.): Höher, schneller, weiter. Eine Geschichte des Sports. Frankfurt a. M. 1999, S. 292–305. Weißmüller: Mein Körper (s. Anm. 7), S. 419.
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Abb. 3: Alle aus: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6.
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der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Sports durchaus entsprochen haben. Wie nicht zuletzt die Sport-Hefte zeigen, hob sich Der Querschnitt auch durch seinen Kosmopolitismus deutlich von anderen deutschsprachigen Zeitschriften der 1920er Jahre ab. Entscheidend für die Gestaltung und das Erscheinungsbild des Querschnitt war sein Bildprogramm, das ebenfalls auf starken Kontrast setzte. Vollkommen zu Recht stellte von Wedderkop schon 1924 fest: »Spezialität des ›Querschnitt‹ ist sein reiches Abbildungsmaterial. Neben regelmäßigen Illustrationen aus dem Gebiete der alten und neuen Kunst bringen wir ein reiches aktuelles Material, das die Zeit und ihren augenblicklichen Gehalt schlagend illustriert. Die letzten Nummern brachten jedes Mal an hundert und mehr Illustrationen.«26 Eine beeindruckende Vielzahl an Grafiken auf den Textseiten wurde durch acht Bildblöcke à vier Hochglanzseiten ergänzt, die die unterschiedlichsten Photographien enthielten.27 Entscheidend für die Ausstrahlung des Querschnitt war die Anordnung dieser Photographien, die in der Regel zu markanten Gegensatzpaaren gruppiert waren, die den Untertitel der Zeitschrift aufgriffen und ironisch in Szene setzten. Diese Bildpaare führten zu erstaunlichen, mitunter auch komischen Einsichten in Bewegungsabläufe und Posen. So zeigten die Photographien beispielsweise ähnliche Bewegungsformen, wohingegen sich der Kontrast in der Anordnung durch die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Einzelnem und Masse ergab. Ein anderes Anordnungsprinzip bestand darin, Photographien mit ähnlichen Themen auszuwählen, deren Auffassung sich aber vollkommen voneinander unterschied. Hinzu traten Bildüber- bzw. -unterschriften, die die kontrastive Ironie der Darstellung noch unterstrichen. Nicht zuletzt ergänzte die Bildauswahl teilweise kongenial die verschiedenen Artikel, die ihrerseits häufig einem Kontrastprogramm folgten, so dass sich die Hefte zu einem verblüffenden Ganzen rundeten. Insgesamt korrespondierten Themenwahl und die visuelle Gestaltung der Zeitschrift, die nicht nur die Durchdringung von Kunst, Sport und Wissenschaft thematisierten und vorführten, sondern durch die spannungsreiche Inszenierung zugleich Abstand und Reflexion ermöglichten, wie es Musils essayistischer Position entsprach.
2. Neue Sachlichkeit Wie die Auseinandersetzung mit Themen und Gestaltung des Querschnitt deutlich gemacht hat, wurde die moderne Lebenswelt weniger als Erzählung, 26 27
Von Wedderkop: Der Siegeszug (s. Anm. 14), S. 91 (Hervorhebung im Original). Vgl. Deininger, Felger: »Der Stoff liegt auf der Straße« (s. Anm. 15), S. 33.
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Abb. 4: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, [unpag.].
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sondern vielmehr als Revue, als Bilderfolge in Szene gesetzt. Diese Inszenierung zielte einerseits auf die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, andererseits aber auch auf deren Reflexion. Für den Herausgeber des Magazins war die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung vor allem an die konkrete Wahrnehmung von Tatsachen gebunden. Sie kontrastierte damit jene intellektuelle ›Geistigkeit‹, die von Wedderkop zufolge der Zeit nur mehr hilflos gegenüber stand und nichts als »Gerede« hervorgebracht hatte: Aus dem Gerede, das nunmehr länger als ein Jahrzehnt angedauert hat, wünschen wir endlich wieder zu den Tatsachen zurückzukommen. Wir werden uns daher, soweit es sich für uns um wissenschaftlich feststellbare Dinge handelt, an die Gelehrten halten, die nach den alten Methoden der Sachlichkeit und Exaktheit verfahren. Wir möchten statt Ansichten Wissen und Tatsachen, indem wir auf die Sensation des heute üblichen spekulativen Gelehrtentums mit Vergnügen verzichten. [. . .] Imagination schätzen wir bei Künstlern, aber wir stehen auf dem Standpunkt, daß sich der deutsche Geist, ohne sich dessen immer bewußt zu sein, von den Tatsachen des heutigen Lebens weit entfernt hat, daß er, der sich an Exotismus berauscht, ohne jemals die deutschen oder die europäischen Grenzen verlassen zu haben, zweckdienlich handelt, wenn er sich zunächst einmal mit den Dingen selbst bekannt macht.28
Dieses Programm der Tatsachenberichterstattung kann als Kern der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit gelten.29 Die Tatsachenorientierung implizierte Neutralität, die der proklamierten wissenschaftlichen Verfahrensweise korrespondierte. Gleichzeitig waren die Begriffe Tatsache, Sachlichkeit und Exaktheit nicht nur symptomatisch für den literarischen bzw. ästhetischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit, sondern auch gesamtgesellschaftlich relevant.30 Sie leisteten – wie am Beispiel Sport besonders sinnfällig wird – eine Vermittlung zwischen Künsten, Wissenschaft und Massenkultur. Schon 1926 glaubte von Wedderkop Wandlungen des Geschmacks feststellen zu können, für die ein verändertes Verhältnis von Kunst und Publikum ausschlaggebend war. Denn die im eben zitierten Textausschnitt proklamierte Hinwendung zu den Dingen verlangte nach einer visuell geprägten Ästhetik, die das technische Wissen der Zeit einbezog. Im 7. Heft des Querschnitt 1926 schrieb von Wedderkop dazu: Die Elemente der neuen Aesthetik sind dieselben wie beim Sport, bei Technik, Zeitung, Kino. Damit ist die Kunst von der Götter- und Ausnahmestellung herabgestiegen, sie hat sich nunmehr mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.31
28 29 30 31
Von Wedderkop: Der Siegeszug (s. Anm. 14), S. 91 (Hervorhebung im Original). Vgl. Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920– 1933). Köln u. a. 2000, S. 205. Vgl. Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 1 (Anm. 29), S. 206. Hermann von Wedderkop: Wandlungen des Geschmacks, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 7, S. 497–502, hier S. 497.
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Die Betonung der visuellen Elemente der neuen Ästhetik, insbesondere die Aufwertung des Kinos, ging mit einer deutlichen Kritik an der deutschsprachigen Literatur einher. Dieser sei es nicht gelungen, einen adäquaten Ausdruck für die Entwicklungen der Gegenwart zu finden.32 In diesem Zusammenhang ist von Wedderkops Kritik am »Gerede« zu verstehen, eine Kritik an Belanglosigkeiten und hohlen Phrasen, die auch Musil teilte. In den Mittelpunkt des Magazins rückten zunehmend die Errungenschaften der urbanen, modernen Kultur wie Jazz, Kino, Revuetheater und eben Sport, die für ihre Verkörperung von Tatsachen gefeiert wurden. Von Wedderkop verlangte vor allem Beweglichkeit, um der vielgestaltigen Wirklichkeit angemessen begegnen zu können. In einem Beitrag zum Roman verlangte er, sich auf sie zu »trainieren«, d. h. ihre verschiedenen Erscheinungsformen gezielt einzuüben.33 Schon die Theateravantgarde des frühen 20. Jahrhunderts hatte den Trainings-Begriff aufgegriffen, um das Ziel einer systematischen, präzisen Körperarbeit zu formulieren. Nach dem Ersten Weltkrieg griff George Grosz auf den Begriff ›Training‹ zurück, um den eigenen Arbeitsprozess zu charakterisieren. In seinem Text Zu meinen neuen Bildern (1920), der sich auf eine Reihe von Arbeiten zu Beginn der 20er Jahre bezieht, die gesichtslose Gliederpuppen in Gestalt von Sportlern oder Ingenieuren zeigen,34 heißt es: »Meine Arbeiten sind als Trainings-Arbeiten zu erkennen – ein systematisches Arbeiten am Ball – ohne Ausblick ins Ewige!«35 Wie hier bei Grosz deutlich wird, ist der Ausdruck ›Training‹ sowohl auf wissenschaftliche Genauigkeit als auch auf den Bereich der modernen Industriearbeit bezogen. Dass Kunst nur mehr ein Ergebnis von Training ist, bedeutet für den bürgerlichen Kunstbetrieb zweifellos eine Provokation; bezogen auf die Arbeitswelt wirkt der Begriff freilich affirmativ.36 Diese Problematik machte der Querschnitt durchaus anschaulich, indem die durch Trainingstechniken hervorgebrachten Körper raffiniert in Szene 32
33 34
35 36
Vgl. Hermann von Wedderkop: En avant, die Literaten!, in: Der Querschnitt 7 (1927), H. 4, S. 247–251; ders.: Inhalt und Technik des Romans, in: Der Querschnitt 7 (1927), H. 6, S. 423– 429. Vgl. von Wedderkop: Inhalt und Technik des Romans (s. Anm. 32), S. 423. Die Gliederpuppen gehen auf Grosz’ Auseinandersetzung mit der Pittura metafisica von Carlo Carrà und Giorgio de Chirico zurück. Vgl. dazu Roland März: Republikanische Automaten. George Grosz und die Pittura Metafisica, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.): George Grosz. Berlin – New York. Katalog zur Ausstellung in Berlin, Neue Nationalgalerie, 21. Dezember 1994 – 17. April 1995, Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 6. Mai – 30. Juli 1995. Berlin 1994, S. 146–156. George Grosz: Zu meinen neuen Bildern, in: Das Kunstblatt 5 (1921), S. 11–16, hier S. 14 (Hervorhebung im Original). Vgl. zum Zusammenhang von Training, Technik und Arbeitswissenschaft auch Wolfgang Paterno: Duell im Moderne-Labor. Re(a)gieren im Ring: Der Boxer als Repräsentationstypus in der Zeit der Weimarer Republik, in: Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.): Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur-und Kulturanalyse. Bielefeld 2011 (= Edition Kulturwissenschaft), S. 119–134.
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gesetzt wurden. Hier stellt sich die Frage, ob die visuelle Gestaltung des Querschnitt nicht selbst in Spannung zu ihrem, vor allem auf die Literatur und das Theater bezogenen Programm der neusachlichen Tatsachenorientierung stand. Das spannungsreiche Bildprogramm eröffnete einen Raum der Reflexion, der die literarische Neue Sachlichkeit bereits hinter sich ließ.
3. Fazit: Musil und Der Querschnitt Mit dem Querschnitt publizierte Musil seine Sport-Essays in dem für den Sportdiskurs zentralen Magazin der 20er Jahre. Die Debatte über die zeitgenössische Entwicklung des Sports schlug sich im Querschnitt unmittelbar nieder, wurde dort aber auch nicht zuletzt durch Musil selbst ironisiert und reflektiert. Zwei Entwicklungslinien lassen sich benennen, die auch für die beiden Essays Als Papa Tennis lernte sowie Kunst und Moral des Crawlens bedeutend sind: Zum einen ging es um die Sportausübung, vor allem ihren Nutzen für Gesundheit, Hygiene, Erholung und Gemeinschaftssinn. In diesem Zusammenhang spielten auch die Gefahren des Sports durch Übertreibung und Rekordstreben eine Rolle. Zum anderen ging es um den Zuschauersport und sein Verhältnis zur zeitgenössischen Kultur, zu Theater, Kino, Literatur und Sprache. Die hier ausgestellte Sportbegeisterung war Teil der Debatte um die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit, die sich durch Aktualität, Wirklichkeitsbezug und Exaktheit auszeichnet. Zum Austragungsort der kulturellen Moderne wurde der rationalisierte Körper im Sport, der nicht nur ein neues Lebensgefühl verkörperte, sondern auch Kunst und Leben verbinden sollte. Wie andere zeitgenössische Künstler hat sich auch Musil mit dem Begriff des ›Trainings‹ auseinandergesetzt und damit die Übung gedanklicher und körperlicher Präzision bezeichnet.37 Insofern kann er an die hier skizzierte Programmatik der Neuen Sachlichkeit anknüpfen. Die wichtigsten Bezugspunkte liegen in der Verbindung von wissenschaftlicher Exaktheit und der Ablehnung jeder sentimentalen Übertreibung zugunsten der von von Wedderkop proklamierten Lebendigkeit des Denkens, das sich den Tatsachen stellt und als Training beschrieben werden kann. Anders aber als von Wedderkops literarisches Programm der Tatsachenberichterstattung zielt Musil auf eine Vermittlung von Denken und Bewegung, damit Lebendigkeit und Unmittelbarkeit nicht lediglich zu einer einseitigen Beschwörung der Tatsachen führen.38 Sein Trainingsbegriff verfolgt eine weitergehende Konzeption von Bewegung, die neusachliche Wahrnehmung und Reflexion verbindet,39 37 38 39
Musil schreibt beispielsweise über sich, dass sein Verstand »das wissenschaftliche Training« genossen hat (Tb I, S. 527). Vgl. auch Wolf: Zwischen Diesseitsglauben und Weltabgewandtheit (s. Anm. 8), S. 202. Vgl. dagegen Becker: Von der »Trunksucht am Tatsächlichen« (s. Anm. 8), S. 154, die Musil aufgrund der Reflexivität seiner Texte von experimentellen Konzepten abgrenzt.
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wie es auch das Bildprogramm des Querschnitt ermöglicht. Damit geht Musil über Positionen der literarischen Neuen Sachlichkeit deutlich hinaus. Seine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Tatsachen zielt ästhetisch auf die Möglichkeit, diese Wirklichkeit zu überschreiten.
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»Musil [. . .] ist hierzulande so gut wie unbekannt.« Musil und die Schweizer Literaturszene der 1930er Jahre Abstract: The essay studies Musil’s relation to Swiss writers and the literary scene in Switzerland in the 1930s. He had known Swiss writers (Carl Seelig, Max Picard, and later Otto Wirz) before he first came to Switzerland in 1935. In 1935 he gave lectures in Basle and Zurich. When he finally lived in Swiss exile from 1938 until his death in 1942, he had little contact to Swiss writers and he thought that he was not properly esteemed as a writer in the Swiss literary scene.
»So sehr Musil sicher zu den stärksten Talenten unserer Zeit gehört und zweifellos als Schriftsteller allerersten Ranges gewertet werden muss, so ist er hierzulande so gut wie unbekannt«, schreibt der Zürcher Pfarrer Robert Lejeune an seinen Kollegen Adolf Keller am 20. Mai 1940 (Br I, S. 1194).1 Ganz ähnlich sieht es Musil selbst, der in einem Brief an den Vorsteher des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins, Felix Moeschlin, schreibt: »aber das Unglück will, daß ich mich gerade hierzulande nicht auf eine genügende Bekanntheit verlassen kann, zumal da ja die Regierungsbehörden nicht immer die Zeit haben, sich mit Dichtung zu befassen.« (Br I, S. 1076 f.) Noch bitterer tönt ein Eintrag in Heft 33: Es scheint eine für mein Leben typische Situation zu sein: Ich befinde mich in Genf u. kein Mensch kennt mich, zu keiner die Kunst berührenden Veranstaltung werde ich eingeladen, Prof. Bohn.[enblust], der kleine Papst, schneidet mich. Und ähnlich in der ganzen Schweiz.2
Musil, an die Wiener Kaffeehauskultur gewöhnt, fehlte in der Schweiz offensichtlich der gesellige Umgang mit anderen Schriftstellern und Künstlern, und er fühlte sich in seinem Wert unterschätzt. In der Tat war man sich in der Schweiz 1939 kaum bewusst, dass sich einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hier aufhielt, aber ob man andernorts Musils Bedeu1
2
Adolf Keller war Leiter des »Schweizerischen kirchlichen Hilfswerks für evangelische Flüchtlinge«, welches auch Musil unterstützte; siehe Robert Lejeune: Robert Musils Schweizer Jahre, in: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010 (= En face, Bd. 2), S. 411–424, hier S. 414. KA/Transkriptionen/Heft 33/85. Die Bewertung Bohnenblusts ist insofern etwas ungerecht, als sich dieser anlässlich von Musils geplanter Lesereise von 1936/1937 für Musil eingesetzt und sich auch anlässlich der Lesung in Genf 1939 um Musil gekümmert hatte; siehe Musils Brief an Bohnenblust vom 9. 1. 1939 (Br I, S. 914).
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tung so viel besser erkannte, ist eine Frage. Gegenüber Johannes von Allesch beklagte sich Musil jedenfalls schon 1931, dass man den Mann ohne Eigenschaften für den bedeutendsten europäischen Roman halte, »daß ich aber danach zumindest unter den deutschen Dichtern bisher unterschätzt worden sei, davon spricht kein Mensch, so als ob das eine ganz andere Sache wäre.« (Br I, S. 504) Dass die Literaturszene der deutschen Schweiz der 30er und 40er Jahre, die von einem eher rückwärtsgewandten Literaturverständnis bestimmt war, einen Autor wie Musil nicht mit offenen Armen empfing, erstaunt nicht. Innovativen Autoren aus der Schweiz wie Robert Walser oder Otto Wirz ging es nicht anders. Musils Kontakte beschränkten sich von einigen Ausnahmen abgesehen größtenteils auf die in der Schweiz lebenden bzw. dahin emigrierten deutschen und österreichischen Schriftsteller. Dokumente, die über Musils Beziehung zur schweizerischen Literaturszene und von dieser zu ihm Auskunft geben könnten, sind nur spärlich vorhanden. Untersucht werden sollen im Folgenden Musils frühe Kontakte zu Schweizer Schriftstellern, seine Lesungen in der Schweiz sowie die Versuche, ihn in der Schweiz bekannter zu machen.
1. Erster Kontakt mit Schweizer Schriftstellern: Max Picard, Carl Seelig, Otto Wirz Der früheste Kontakt mit einem Schweizer Schriftsteller dürfte derjenige mit Max Picard (1888–1965) gewesen sein, der Musil aufforderte, Carl Seelig für seine geplante Reihe »Die zwölf Bücher« einen Text einzusenden, wie aus einem Brief von Robert Musil an Carl Seelig vom 24. Dezember 1922 hervorgeht (vgl. Br I, Anhang). Picards berühmtes Buch Der letzte Mensch, eine Untergangsvision, die unter anderem auch Rilke außerordentlich beeindruckt hatte, war 1921 in dem von Seelig mitfinanzierten E. P. Tal-Verlag erschienen und ist wahrscheinlich auch Musil nicht entgangen.3 Jedenfalls hat Picard 1923 Musil gebeten, eine Rezension des Romans zu schreiben, wie Martha ihrer Tochter Annina schreibt.4 Wie die Bekanntschaft mit Picard, der früher in Deutschland gelebt hatte, aber bereits 1918 in die Schweiz zurückgekehrt war, zustande kam, ist nicht bekannt. Da Picard in der Neuen Rundschau publizierte, könnte die Bekanntschaft über diese Zeitschrift gelaufen sein, jedenfalls hat Musil Picard persönlich gekannt, wie aus dem Brief vom 31. Dezember 1922 an Seelig hervorgeht (vgl. Br I, Anhang). Musil nahm mit ihm Kontakt auf, weil er wegen der Inflation in Deutschland Verdienstmög3
4
Zum Verlag siehe Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. II : Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien u. a. 1985 (= Literatur und Leben. N. F., Bd. 28/II), S. 415–436. »Picard hat Robert gebeten eine Besprechung des letzten Menschen zu schreiben?!« (Br I, S. 290; Brief v. 7. 4. 1923)
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lichkeiten in der Presse außerhalb Deutschlands suchte. Picard verwies ihn offenbar wegen eines Missverständnisses an Seelig, dem Musil am 24. Dezember 1922 eine »Skizze« zusandte.5 Im Brief vom 31. Dezember 1922 klärt er das Missverständnis auf: Die Anfrage meines Briefs bezog sich zufolge einer wohl mißverstandenen Information auf Schweizer Zeitschriften und Zeitungen. Die Situation, von der Sie sich vielleicht ein anderes Bild gemacht haben, ist ja die, daß ich durchaus nicht Mangel an Verlagsmöglichkeiten leide, sondern daß die deutschen Verhältnisse es nicht mehr gestatten, davon zu leben. Die Nothilfe, für deutsche Zeitungen zu schreiben, reicht gleichfalls nicht aus, da sie selbst bei den höchsten Honoraren kaum das Schreibmaterial kompensiert. Es bleibt einem Dichter also fast nur die Möglichkeit, für ausländische Zeitungen zu arbeiten; aber da deren Verbindungen meist nur dem journalistischen Interesse folgen, und ein nobile officium, die untergehende deutsche Dichtung von ihnen nicht erkannt wird, ist diese Möglichkeit nur mit Hilfe von künstlerischen Verbündeten im andren Land zu verwirklichen. Falls sie überhaupt zu verwirklichen ist. Dies waren die Gründe, die mich zu Picard führten, den ich nicht nur als Dichter schätze, sondern auch als liebenswerten Menschen kennen gelernt hatte. (Br I, Anhang)
Eine gewisse Beziehung zu Picard bestand offenbar weiterhin. Martha Musil bietet Arne Laurin am 5. Januar 1924 Briefe von Picard für seine Autographensammlung an (vgl. Br I, S. 334). Hingegen gibt es keinen Hinweis, dass Musil während seines Schweizer Exils den Kontakt zu Picard, der unterdessen im Tessin lebte, gesucht hätte. Ganz im Gegenteil zum Kontakt mit Carl Seelig (1894–1962), der 1923 zunächst fortgeführt und 1939 wieder belebt wurde. Seelig, der später vor allem als Vormund und Nachlassverwalter Robert Walsers berühmt wurde, war ein außerordentlich rühriger, literarischer Unternehmer.6 Er war Teilhaber am Wiener E. P. Tal-Verlag, in dem die Reihe »Die zwölf Bücher« erscheinen sollte. Musil hat Seelig bzw. Tal am 24. Dezember 1922 eine Novelle und ein burleskes Theaterstück angeboten, bei Letzterem handelt es sich zweifelsfrei um Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer, bei der Novelle handelt es sich gemäß Corino um Tonka.7 Später ist in den Briefen von Novellen die Rede, ob es sich dabei um Tonka und Grigia oder um Tonka und Die Portugiesin handelt, kann nicht gesagt werden.8 Der Druck kam nicht zu5
6 7 8
Bei der »Skizze« dürfte es sich um einen der Texte, die später im Nachlaß zu Lebzeiten erschienen, handeln. Da Seelig den Text, wie aus Musils Brief vom 2. 6. 1923 (Br I, S. 304) hervorgeht, nicht unterbringen konnte, weil er schon in einer Zeitung gedruckt worden war, und wenn der Text wirklich Ende 1922, wie Musil schreibt, noch nicht erschienen war, dürfte es sich am ehesten um Schafe anders gesehen handeln, der im Prager Tagblatt am 23. 3. 1923 abgedruckt wurde. Zu Seelig siehe Ulrich Weinzierl: Carl Seelig. Schriftsteller. Wien 1982. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 708. Die Zeitschrift Der neue Roman, in der Tonka abgedruckt ist, erschien allerdings mit dem Copyright 1922. Martha Musil schreibt am 7. 4. 1923 an ihre Tochter Annina: »(Seelig will nicht 1000 Frcs für die Novellen geben; also ist es nichts damit.)« (Br I, S. 289)
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stande, weil Seelig das von Musil geforderte Honorar nicht bezahlen wollte und auch auf Musils leicht reduzierte Honorarforderung nicht einging.9 Offensichtlich wurde die Beziehung zu Carl Seelig nicht weiter gepflegt, und dieser verlor Musil auch aus den Augen, sonst hätte er nicht 1933 in einer Rezension des zweiten Bandes des Mann ohne Eigenschaften im Berner Tagblatt Musil als einen Verstorbenen, den er mit Kafka vergleicht, behandeln können und schreiben können, es handle sich um einen »Nachlaßroman« des »vor wenigen Jahren verstorbenen Kärntner[s]«, was in der Folge zu einer Berichtigung führte.10 Etwas nonchalant mutet auch Seeligs Bemerkung an: »Den ersten Band, der allein über tausend Seiten enthält, kennen wir nicht«. Warum Seelig sich bemüßigt fühlte, trotz dieser Unkenntnis den zweiten Band anzuzeigen, den er immerhin für ein »außerordentliches Werk« hält, entzieht sich unserer Kenntnis: Außerordentlich durch den blendenden Stil der bei aller Musikalität nie verschwommen wirkt; außerordentlich durch die welterfahrene Skepsis und Ironie, die in schmerzlicher Trauer jedes Erlebnis umdüstern, und außerordentlich durch das erschütternde Bemühen um Reinheit und Klarheit in allen geistigen Bezirken.11
Trotz der positiven Wertungen ist man bei der Lektüre der Rezension geneigt, Rudolf Jakob Humm recht zu geben, welcher etwas boshaft schreibt: »Carl Seelig, wer weiß es in Zürich nicht, hatte ein ganz eigenes Genie: mit unwahrscheinlicher Treffsicherheit zu jeder literarischen Erscheinung, Buch oder Autor, jeweils das Unzutreffende zu sagen.«12 Humm bemerkt aber dann anerkennend: »Seine Größe war die des Herzens. Er war der Herbergsvater aller Not leidenden Literaten. Unzähligen hat er geholfen.«13 Hermann Hesse habe größten Respekt vor ihm gezeigt, er und Ninon Hesse seien mit ihm über Emigrantenfragen verbunden gewesen, »und wenn ich auch darüber Genaueres nicht weiß, so kann ich doch aus dem, was ich später über seine Hilfsbereitschaft erfuhr und beobachtete, auf die Tätigkeit schließen, die er in den Dreißigerjahren entfaltet haben muss.«14 In der Tat hat auch Musil von Seeligs Hilfsbereitschaft profitiert. 1936 kam es wieder zu einem direkten Kontakt zwischen Musil und Seelig im Zusammenhang mit Seeligs Rezension des Nachlaß zu Lebzeiten in der Basler National-Zeitung.15 Es ist Seelig, der mit Musil Kontakt aufgenommen hat, wahrscheinlich hat er ihm die Rezension geschickt. In Musils Brief vom 3. Ja9 10 11 12 13 14 15
Siehe die Briefe an Seelig: Br I, S. 293 (Brief v. 4. 5. 1923) u. 304 (Brief v. 2. 6. 1923). Berner Tagblatt, 28. 6. 1933; Richtigstellung: 12. 7. 1933. Berner Tagblatt, 28. 6. 1933; wörtlich dieselbe Wertung auch im Luzerner Tagblatt vom 23. 9. 1933. Rudolf Jakob Humm: Bei uns im Rabenhaus. Literaten, Leute und Literatur im Zürich der Dreißigerjahre. Neu hg. v. Martin Dreyfuss. Frauenfeld 2002, S. 92. Humm: Rabenhaus (s. Anm. 12), S. 93. Humm: Rabenhaus (s. Anm. 12), S. 98. National-Zeitung, 22. 12. 1935.
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nuar 1936 an Seelig erfährt man, dass Musil und Seelig sich bei der Lesung in Zürich im November 1935 nicht gesprochen haben, Seelig aber anwesend war (vgl. Br I, S. 697).16 Eine persönliche Begegnung in der Schweiz fand offensichtlich erst nach Musils Emigration statt. Seelig hat Musil in der Pension Fortuna besucht und auch Fotos gemacht.17 Im Sommer 1939 wurden mehrere Briefe zwischen Musil und Seelig gewechselt, weil Seelig sich offenbar beim Verlag Goverts darum bemühte, Interesse für Musil zu wecken.18 Als Musil sich weigerte, ein Exposé zum Roman und den geplanten Aphorismen zu liefern, war Seelig offenbar beleidigt. Musil versuchte, ihn zu besänftigen. Doch Seelig scheint in der Sache Goverts nichts mehr unternommen zu haben. Im Oktober 1940 kontaktierte er dann Musil wieder, weil Broch sich offenbar an ihn gewandt hatte, um gewissen Emigranten in der Schweiz zur Ausreise nach Amerika zu verhelfen. Da Musil dort keine Verdienstmöglichkeiten sah, lehnte er ab (vgl. Br I, S. 1235). Im März 1942 gibt es nochmals einen von Seelig ausgegangenen Kontakt (vgl. Br I, S. 1411). Musil hat also genau wie viele andere Emigranten und Schweizer Schriftsteller von Seeligs unermüdlichem Einsatz für Schriftsteller profitiert, auch wenn dies im Falle Musils zu keinem Ergebnis geführt hat. Eine Bekanntschaft mit einem Schweizer Schriftsteller, die ebenfalls noch aus der Berliner Zeit datiert, ist jene mit Otto Wirz.19 1923 hatte Wirz seinen ersten Roman Gewalten eines Toren publiziert. Anfang 1933 hat er Musil ein Buch zukommen lassen. Dabei handelte es sich wohl um den Roman Prophet Müller-zwo, der 1933 erschienen ist. Musil schreibt Wirz, dass er das Buch etwas habe liegen lassen, dass er es noch nicht zu Ende gelesen habe, aber trotzdem antworten wolle: Denn ich hatte schon vor dem Lesen große Freude an Ihrer Sendung: Es dürfte einige Jahre her sein, daß ich von Ihrem Verlag einen Prospekt oder eine Werbeschrift erhielt, wo Ihr Werk geschildert wurde, und ich hatte damals sogleich den Eindruck, daß wir einander in vielem sehr nahestehen müssen. Daß Sie mir das nun auch durch Ihre freundliche Widmung bestätigen, freut mich ganz ungemein, und nachdem ich Ihr Buch immerhin schon zum größeren Teil gelesen habe, erwidere ich Ihren Gruß mit Herzlichkeit und Hochachtung! (Br I, S. 565)
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Zu Seeligs Anwesenheit bei der Lesung in Zürich siehe unten seine Berichte. Diese sind abgebildet in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 1), S. 392. Am 13. 7. 1939 lädt Musil Seelig ein, ihn in Genf zu besuchen (Br I, S. 1027). Im Brief vom 22. 7. dankt er für Fotos, die ihm Seelig geschickt hat (Br I, S. 1035). Vgl. die Briefe vom 13. 7. 1939 (Br I, S. 1027 f.), 6. 8. 1939 (Br I, S. 1046), 15. 8. 1939 (Br I, S. 1051 f.) u. 18. 8. 1939 (Br I, S. 1059 f.). Otto Wirz (1877–1946) war ein Außenseiter unter den Schweizer Schriftstellern seiner Zeit und ist heute nur noch Insidern bekannt. Siehe Carl Seelig: Otto Wirz 1877–1946. Ein Rebell unter den deutschschweizerischen Erzählern. Basel 1959; Sabina Streiter: Otto Wirz, in: Helvetische Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der deutschen Schweiz seit 1800. Bearbeitet v. Zürcher Seminar für Literaturkritik mit Werner Weber. Zürich 1981, S. 302–307.
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Er fragt Wirz, welches seiner Bücher er ihm schicken könne. Wirz hätte gerne den Mann ohne Eigenschaften und wird ein begeisterter Leser des Buches. Am 24. Juni 1933 schreibt er an Musil: »Ihr Buch ist f. mich eines der mächtigsten Leseerlebnisse geworden. Ich habe mich viele Wochen damit abgegeben.« (Br I, S. 574)20 Wirz war wie Musil Ingenieur, aber das allein kann nicht die Gemeinsamkeit sein, die Musil in Wirz’ Werken sieht. Erhellend sind dafür eher einige Stellen aus Prophet Müller-zwo, wo sich tatsächlich frappante Ähnlichkeiten mit Musils Denken ergeben. Prophet Müller-zwo handelt von einem etwa vierzigjährigen Mann namens August Müller, der eine Nervenkrise erleidet und in eine Klinik eingeliefert wird, wo er sich in die Krankenschwester verliebt. Schon dies dürfte Musil, wenn man an Moosbrugger und Clarisse denkt, interessiert haben. August Müller erzählt seine Geschichte selbst in der dritten Person, er erzählt sie auf der Oberfläche sprunghaft, inkohärent und spielt immer wieder auf den roten Faden der Erzählung an, der verloren geht, ein Aspekt, der Musil ebenfalls interessiert haben dürfte. Müller entwirft drei Typen von Menschen. Der erste hat offensichtliche Ähnlichkeiten mit Musils Wirklichkeitsmenschen. So heißt es von ihm: »Unser Mann richtet sein Betragen immer ein auf das Gelingen eines in jeder Beziehung allerbesten Nutzens für sich selbst. Er will seinen Vorteil entdecken, dabei für sich selber bleiben, was er ist.«21 Der zweite Mann will etwas Neues entdecken und dabei »sich selbst verwandeln«. Der Mann des dritten Typus gleicht dem zweiten insofern, als seine »Leidenschaft [. . .] ausschließlich auf Zunahme an innerer Bewegtheit für seine Sache gerichtet« ist. Im Unterschied aber zum Mann des zweiten Typus interessiert er sich nicht für irgendetwas: »Der Gegenstand des Mannes nach Sorte III [. . .] ist stets der gleiche: er ist das Ganze der Welt, innen und außen; alles auf einmal; das rigorose Klaftern in Zeit und Raum; das Unermeßliche; das Unausdenkbare, Gott selbst.«22 Der Mann des Typus III gleicht ganz offensichtlich dem Mann ohne Eigenschaften, dem es ja auch nicht um irgendeinen Nutzen, sondern darum geht, den »Geheimmechanismus« zu erkennen (MoE, S. 27). Etwas später heißt es: »Eine wahre Ekstase von absoluter Maßlosigkeit, das ist die Sache des Mannes von Sorte III .« Zugleich, und hier meint man wirklich, Musil zu hören: »Wie denn die wahre Ekstase der tiefste Ausdruck von Nüchternheit ist.«23 Wenn diese Ekstase als »Flüchtigkeitsrausch« beschrieben wird, der es erlaubt, »alles, das Vergangene, das Gegenwärtige, viel Zukünftiges nach den tiefsten Antrieben und Gründen in seinem Empfinden lebendig zu um20 21 22 23
Nach Auskunft von Klaus Amann ist das Widmungsexemplar des Mann ohne Eigenschaften vor etwa zwei Jahren im Antiquariatshandel aufgetaucht. Otto Wirz: Prophet Müller-zwo. Roman. Mit einem Nachwort v. Fritz Schaub. Zürich 1983 (= Frühling der Gegenwart, Bd. 26), S. 90 (Erstauflage: Stuttgart 1933). Wirz: Prophet Müller-zwo (s. Anm. 21), S. 93. Wirz: Prophet Müller-zwo (s. Anm. 21), S. 94.
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schließen«,24 so erinnert dies natürlich an Musils Beschreibung des anderen Zustands. Auch der Zusammenhang dieser Ekstase mit dem künstlerischen Schaffen, mit dem Schöpferischen wird von August Müller angesprochen. Musil sah in dem Verfasser des Romans vielleicht insofern eine verwandte Seele, als es Wirz offensichtlich auch um so etwas wie das eigentliche Leben ging, indem er die Verrücktheit von August Müller als Vorstufe für den Zustand des »Flüchtigkeitsrausches« sieht, in dem das Ich mit der Welt in Verbindung steht. Zudem dürfte Musil auch Wirz’ ironischer Stil an seine eigene Schreibweise erinnert haben. So verwundert es denn auch nicht, dass Musil und Otto Wirz in der Schweiz offensichtlich wieder Kontakt miteinander hatten, vielleicht wurde dieser auch durch den gemeinsamen Bekannten Carl Seelig wieder hergestellt. Wirz versuchte sich für Musil einzusetzen, indem er am 4. April 1939 beim Politischen Departement in Bern anfragte, ob man keine Verwendung für Musil habe (vgl. Br I, S. 970). Gedacht war an eine ähnliche Tätigkeit, wie sie Musil im Ersten Weltkrieg ausgeübt hatte, das heißt im Klartext, wie Corino schreibt, eine Tätigkeit im Bereich der psychologischen Kriegsführung.25 Wirz hat auch den jungen Lyriker Hans W. Schwerin mit Musil zusammengebracht.26 In einem Brief an Klaus Pinkus nennt Musil Otto Wirz »de[n] unschweizerischeste[n] Romancier« (Br I, S. 1337), was zutreffend sein dürfte, wie noch zu zeigen sein wird, wenn es darum geht, zu fragen, welche Art Literatur in der Schweiz geschätzt wurde. Otto Wirz jedenfalls ist vollständig aus dem literarischen Bewusstsein der heutigen Schweiz gefallen.
2. Ein Schweizer Verlag: Der Humanitas-Verlag Musils weitere Beziehung zur Schweiz entstand anlässlich des Publikationsvorhabens des Nachlaß zu Lebzeiten. Den Kontakt zum Verlag in Zürich stellte Ernst Polak her, der in Wien für den Verlag arbeitete. Der Humanitas-Verlag war 1934 von Simon Menzel und seiner Frau Sophie gegründet worden, war also noch ganz neu, als Musil hier seinen Nachlaß zu Lebzeiten publizierte. Viele Autoren, die hier erschienen, waren u. a. Kommunisten, sehr viele waren Juden, die meisten Pazifisten und alle Antifaschisten, viele standen in Deutschland auf der Liste verbotener Bücher. Die Schweizer waren unter den vom Humanitas-Verlag verlegten Autorinnen und Autoren in der Minderzahl. Häufig wurden auch Übersetzungen publiziert. Zu den heute noch einigermaßen bekannten Autoren, die beim Humanitas-Verlag erschienen, kann man Friedrich Torberg, Alfred Polgar, der zu Musils Kaffeehausfreunden gehörte, Robert Neumann, Ernst Weiss und Ernst Glaeser 24 25 26
Wirz: Prophet Müller-zwo (s. Anm. 21), S. 94. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1338. Schwerin ist mit Klaus Pinkus verwandt, siehe dazu den Brief an Pinkus vom 12. 9. 1941 (Br I, S. 1336).
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(Der letzte Zivilist, 1935) zählen.27 Von fremdsprachigen Autoren finden sich Romain Rolland, die berühmten Früchte des Zorns von John Steinbeck, Hugh Walpoles Leben ohne Licht oder Daphne du Mauriers Ich möchte noch einmal jung sein. Musils Nachlaß zu Lebzeiten, der zu den ersten Publikationen des jungen Verlags gehörte, Musil befand sich also durchaus in illustrer Gesellschaft, auch wenn er sich über den Verlag beklagte. Übrigens schreibt Martha 1940 an Annina: »Kennst Du Bücher von John Steinbeck? Ich habe Mice and men und The grapes of wrath gelesen. (Deutsch.)« (Br I, S. 1146) Das sind die zwei Bücher, die beim Humanitas-Verlag herausgekommen sind. Vielleicht ein kleiner Hinweis darauf, dass der Verleger noch Beziehungen zu Musil unterhielt, auch wenn diese nicht mehr dokumentiert sind. Ein weiterer Hinweis ist der Roman Ellen und Ott, der 1937 unter dem Pseudonym Konrad Illi erschien, unter dem sich Harry Goldschmidt verbirgt, ein Musil-Verehrer aus der Schweiz, auf den gleich zurückzukommen ist. Musil hat dessen Manuskript über Polak an den Humanitas-Verlag vermittelt.28
3. Lesereise 1935 Der junge Harry Goldschmidt (1910–1986),29 Musikkritiker bei der Basler National-Zeitung, organisierte Ende 1935 Lesungen Musils in Zürich und Basel, indem er seine persönlichen Beziehungen zu Aline Valangin und Ruth Witzinger, der Mitaktionärin der National-Zeitung und Nichte Rudolf Schwabes, des Vorsitzenden des Basler PEN-Clubs, spielen ließ. So dürfte Musil zum ersten Mal in die Schweiz gekommen sein. Am 16. November 1935 hat er in Zürich im Kramhof, einem der Musikalien- und Musikinstrumentenfirma Hug gehörenden Gebäude, unweit der Bahnhofstraße, gelesen. Die Lesung wurde von der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt und vom Abdruck des Fliegenpapiers begleitet.30 An der Lesung nahmen u. a. Thomas 27 28
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Glaeser lebte vorübergehend in der Schweiz, ging aber wieder nach Deutschland zurück. Die National-Zeitung druckte 1935 im Feuilleton den Roman Der letzte Zivilist ab. Siehe den Brief vom 17. 12. 1935: »Mit Dr. Polak muß ich Sie leider um Geduld bitten. Als ich ihm das Manuskript übergab, hat er drei Wochen Frist bis zum Beginn erbeten, und ich mußte einwilligen, weil er eine dringende Arbeit zu beenden hat, und es zweckwidrig gewesen wäre, ihn zu nötigen. Jetzt muß er bald so weit sein, und ich werde es ihm dieser Tage in Erinnerung rufen. Ob ich Ihnen noch den Humanitas-Verlag empfehlen kann, ist mir allerdings nach eigenen Erfahrungen ein wenig zweifelhaft geworden.« (Br I, S. 689) Siehe auch den Brief vom 8. 1. 1936 an Goldschmidt: »Dr. Polak beginnt heute mit der Lektüre.« (Br I, S. 700) Harry Goldschmidt wurde später Marxist und machte in der DDR Karriere als Musikwissenschaftler. Er hatte von Bruno Fürst in Florenz gehört, dass es Musil nicht gut ging und daraufhin die Lesereise organisiert. Siehe seinen Bericht in Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 1), S. 337–339. Neue Zürcher Zeitung, 15. 11. 1935 (Nr. 1989), siehe Anhang. Zugleich druckte die Neue Zürcher Zeitung am 17. 11. 1935 Das Fliegenpapier ab und weist nochmals auf die Lesung hin, was aber zu spät gewesen sein dürfte, da diese ja am 16. 11. stattfand. Musil scheint von diesen
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Mann, Ninon Hesse, der Verleger Emil Oprecht, Ida Herz31 und wahrscheinlich auch der Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum (1894–1984) sowie seine Frau Aline teil, denn in deren Haus saß man nachher zusammen.32 Aline Valangin, wie sie sich nannte, oder eben mit bürgerlichem Namen Aline Rosenbaum-Ducommun (1889–1986), führte in Zürich einen Salon. Als Pianistin und Psychoanalytikerin ausgebildet, schrieb sie selbst Gedichte, Novellen und Romane. Sie bot Emigranten Unterschlupf, so dass Rudolf Jakob Humm den Rosenbaum’schen Salon »eine richtige Voliere für durchziehendes fremdes oder einheimisches geistbegabtes Volk« nennen kann.33 Humm erwähnt unter anderem die Emigranten Ernst Toller, Ignazio Silone, Jakob Wassermann, Fritz Wotruba sowie die Schweizer Bildhauer Karl Geiser und Hermann Haller, die im Haus Valangin/Rosenbaum verkehrten.34 Da Aline Rosenbaum 1937 mit dem Komponisten Wladimir Vogel nach Brüssel zog, hat Musil sie 1938 wohl nicht mehr getroffen. Er dürfte dies bedauert haben, denn er scheint ihre Gesellschaft sehr geschätzt zu haben. Die Rosenbaums hätten ihm, schreibt er in einem Dankesbrief, durch ihre Gastfreundschaft das zweifelhafte Unternehmen des öffentlichen Auftretens in fremden Verhältnissen zu einem großen Vergnügen gestaltet [. . .]. Ich hasse eigentlich aus tiefster Bequemlichkeit meines Herzens solche Geschäftigkeitsreisen, wo jeder Tag einen Fahrplan hat; aber diese siebenunddreißig Stunden in Zürich erscheinen mir wie ein langer und ungestörter Aufenthalt, welches Wunder von Ihrer beider Liebenswürdigkeit und der Natürlichkeit herrührt, mit der Sie mich aufgenommen haben, und von der nachhaltigen Freude, die es mir bereitet hat, Ihre Gesellschaft zu teilen. (Br I, S. 675)
Aus dem von Carl Seelig verfassten Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung erfahren wir, dass Musil zwei ungedruckte Kapitel »Tugut und Tunichtgut« und »Agathe findet Ulrichs Tagebuch« gelesen habe, »und, als nach Schluß der Vorlesung alle Zuhörer eigensinnig-verliebt sitzen blieben, jene bezaubernde Partie, in der Agathe auf dem Grab eines Dichters Selbstmord begehen will und dabei zu einer Herrenbekanntschaft kommt.«35
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Hinweisen keine Kenntnis gehabt zu haben, denn er fragt am 24. 11. 1935 Goldschmidt, ob die Neue Zürcher Zeitung immer noch schweige (Br I, S. 674), obwohl am 22. 11. 1935 (Nr. 2034) ein Bericht über die Lesung von Carl Seelig erschienen war (siehe Anhang). Die Angaben stammen aus Thomas Manns Tagebuch, siehe Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1209; Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 1), S. 339. Die Buchhändlerin Ida Herz, die enge Beziehungen zu Thomas Mann hatte, war 1935 in die Schweiz emigriert. Es ist anzunehmen, dass noch andere Leute dabei waren, die Thomas Mann nicht kannte oder die er nicht der Erwähnung für wert befunden hat. Thomas Mann notiert: »Nachher Soiree im Atelier des Rechtsanwalts Rosenbaum mit Musil.« (Tagebücher, zit. nach: Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1209) Humm: Rabenhaus (s. Anm. 12), S. 111. Humm: Rabenhaus (s. Anm. 12), S. 111 f. Neue Zürcher Zeitung, 22. 11. 1935 (Nr. 2034), siehe Anhang. Seelig hat einen weiteren, mir nicht zur Verfügung stehenden Bericht in der Zürcher Post vom 19. 11. 1935 verfasst; siehe Weinzierl: Carl Seelig (s. Anm. 6), S. 171, Anm. 15. In einer Rezension des Nachlaß zu Lebzeiten in den Luzerner Nachrichten vom 21. 12. 1935 erinnert Seelig an diese Lesung: »Kürzlich las Ro-
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In Basel hat Musil zweimal gelesen, am 17. November 1935 vor den Mitgliedern des PEN-Clubs im Hotel Drei König/Les Trois Rois; es ist anzunehmen, dass neben Harry Goldschmidt u. a. Otto Kleiber, der FeuilletonRedaktor der National-Zeitung,36 die schon erwähnte Ruth Witzinger, der junge Musil-Verehrer Karl Baedecker und wahrscheinlich auch das Ehepaar Müller-Widmann37 anwesend waren. Am 18. November 1935 las er vor den Studenten der Universität Basel. Die National-Zeitung brachte einen kurzen Bericht über die Lesung, aus dem man erfährt, was Musil gelesen hat. Vor den Mitgliedern des PEN-Clubs hat er zwei Kapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften gelesen, die von der Begegnung Agathes mit Lindner handeln, am nächsten Tag vor den Studenten das Kapitel 100 »General Stumm von Bordwehr dringt in die Staatsbibliothek ein«. Der Berichterstatter, Dr. Eugen Gürster, merkt an, dass Musil »als Vorleser ein guter Interpret seiner dichterischen Absichten« sei. Abschließend schreibt er: »Robert Musils Romanwerk, das durch eine Szenenfolge aus dem alten Österreich hindurch die ganze komplexe geistige Situation unserer Zeit spürbar werden lässt, stellt einen Romantypus dar, den die deutsche Literatur in dieser Art bisher nicht kannte.«38 Offenbar war auch hier das Publikum nicht sehr zahlreich, denn Musil schreibt in einem Brief an Harry Goldschmidt, dass in Bezug auf die »Quantität der Teilnahme« »nicht alles nach Wunsch« gegangen sei (Br I, S. 674). Um dies richtig zu beurteilen, muss man sich klar machen, dass die Besprechungen des Mann ohne Eigenschaften in Schweizer Zeitungen schon einige Jahre zurücklagen und so Musils Name in der schweizerischen Öffentlichkeit wohl kaum ein Begriff war. Dazu kommt, dass weder Zürich noch Basel eine mit Wien oder Berlin vergleichbare Bevölkerung aufwiesen. Zürich hatte 1935 etwas über 350 000 Einwohner, Basel wohl knapp 150 000 Einwohner, Wien und Berlin waren Millionenstädte. Die Anzahl der Studenten, die ebenfalls ein potentielles Publikum darstellten, war ebenfalls entsprechend bescheiden. Wenn man da die Zuhörer prozentual umrechnet, sind die 15 oder 20, die an den Lesungen teilnahmen, gegen die 350 in Wien,39 von denen Musil an Nellie
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bert Musil in Zürich vor. Es war wohl der gehaltvollste und geistreichste Autorenabend, den wir je erlebt haben; in jener seltsam-schönen Stunde, an der außer Thomas Mann nur wenige Hörer teilnahmen, vereinigte sich das menschliche und künstlerische Bild des österreichischen Erzählers, der den zweibändigen Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ geschrieben hat, zu einer beglückend-innigen Einheit.« Seelig hat den Text wörtlich wiederholt in der Rubrik »Büchertisch« in einer von ihm mit »T. Z.« abgekürzten, nicht identifizierten Zeitung vom 26. 2. 1936. Ich danke Lucas Marco Gisi, Robert Walser-Archiv, Bern, für die Kopien von Seeligs Artikeln. Siehe den Brief vom 10. 11. 1935 an diesen (Br I, S. 668). Das Ehepaar Müller-Widmann führte in Basel einen Salon. Diese lässt Musil im Brief an Goldschmidt vom 29. 9. 1936 (Br I, S. 733) grüßen, also muss er sie kennen gelernt haben. E. Gürster in: National-Zeitung, 20. 11. 1935 (Nr. 538), siehe Anhang. Siehe den Brief vom 9. 1. 1939 an Nellie Kreis (Br I, S. 914).
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Kreis berichtet, zwar wenig, aber nicht so wenig, wie es für den Großstädter Musil ausgesehen haben mag.
4. Geplante Reise 1936/1937 1936 plante Goldschmidt eine zweite Schweizer Lesereise für Musil, wobei offensichtlich auch Ruth Witzinger bei der Planung eine bedeutende Rolle spielte.40 Musil sollte in Luzern lesen, wo der Forstinspektor Franz Xaver Burri eine »Gesellschaft Gleichgesinnter« gegründet hatte, in Genf wahrscheinlich vor der von Prof. Gottfried Bohnenblust gegründeten »Genfer Gesellschaft für deutsche Kunst und Literatur« und in St. Gallen vor der »Museumsgesellschaft«. Burri hat Musil am 10. September 1936 zu einer Lesung in Luzern eingeladen. Da das Honorar, 100 Schweizer Franken, in Musils Augen nicht sehr hoch war, wartete er weitere Einladungen ab.41 Die Einladung von Bohnenblust und von St. Gallen trafen ein,42 aber Musil war noch nicht zufrieden mit dem Honorar und hoffte, noch im Rundfunk auftreten zu können, um sein Honorar zu verbessern43 – und offenbar auch, um Zürich und Basel besuchen zu können. Auch bemühte er sich noch um eine Einladung vor der Berner Studentenschaft, die er ebenfalls erhielt (vgl. Br I, S. 744). Ferner wollte er vor dem Hottinger Lesezirkel lesen, wofür er als Vermittler den Kunsthistoriker Curt Glaser, der bereits 1933 in die Schweiz emigriert war, einspannte, was aber erfolglos blieb (vgl. Br I, S. 740). Musil hat schließlich die Reise aus gesundheitlichen Gründen abgesagt.44 40
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In einem Brief vom November 1936 bedankt sich Musil bei Ruth Witzinger, weil er erfahren habe, dass sie bei den Einladungen nach Genf, Luzern und St. Gallen mitgewirkt habe (Br I, S. 739 f.). Zugleich geht aus dem Brief hervor, dass Goldschmidt bezüglich Honorar bei Musil offensichtlich zu hohe Erwartungen geweckt hatte: »[D]er Dichter Goldschm.[idt] hatte in seinem Vorbericht an mich nicht mit der Phantasie gespart, so daß die Wirklichkeit ungefähr auf der Hälfte hinter seinen Angaben zurückgeblieben ist und die Reise, unter den Bedingungen, die ich zuletzt doch angenommen habe, kaum die Ausgaben deckt, die mit ihr verbunden sein werden.« (Br I, S. 739 f.) Vgl. die Briefe vom 19. 9. 1936 an Franz Xaver Burri (Br I, S. 730), vom 29. 9. 1936 an Gottfried Bohnenblust (Br I, S. 731 f.) und vom 29. 9. 1936 an Harry Goldschmidt (Br I, S. 733). Einladung von St. Gallen durch Wilhelm Hartmann, Präsident der Museumsgesellschaft (Br I, S. 738). Vgl. den Brief an Bohnenblust vom 2. 11. 1936: »Ich werde nun auch die übrigen Einladungen endgültig annehmen und hoffe, allerdings noch ohne Grund, daß ich sie durch einen Sender oder eine andre Stadt ergänzen könne, um das ökonomische Gleichgewicht der Reise zu sichern.« (Br I, S. 739) – »Also bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich um einen oder mehrere Sender zu bemühen, die mir auch wenn sie nicht in Bern sehr wohl ermöglichen sollten, diese beiden Städte [i. e. Basel und Zürich] zu besuchen, ohne dort in Person öffentlich aufzutreten. Halten Sie das für möglich und können Sie mir sagen, an wen ich mich zu wenden hätte?« (KA/Transkriptionen/Weitere Mappen/Briefkonzepte I/57, Text durchgestrichen; vgl. Brief an Ruth Witzinger v. 2. 11. 1936; Br I, S. 740) Vgl. den Brief an Harry Goldschmidt vom 31. 1. 1937: »Leider habe ich die Schweizer Reise wegen eines Unwohlseins vorläufig absagen müssen.« (Br I, S. 761)
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Nach Januar 1937 finden sich keine Briefe an Goldschmidt mehr im Nachlass. Ob der Kontakt nach dem verunglückten Projekt der Lesereise und dem missglückten Versuch, in der Schweiz eine Ablage des Wiener Musil-Fonds zu gründen, abgebrochen ist, oder ob Goldschmidt einfach das Interesse verlor, wie er es Frisé gegenüber andeutete, lässt sich nicht sagen.45 Nach Kriegsausbruch war Goldschmidt sicher wie die meisten Schweizer seines Alters häufig im Militärdienst. Goldschmidt hat zur Unterstützung von Musil offenbar eine Art Schwester-Gesellschaft des Wiener Robert Musil-Fonds gründen wollen.46 Wir erfahren davon nur indirekt aus den Briefen, dass dieses Projekt gescheitert ist.47 Gegenüber Ruth Witzinger meint er, dass es Goldschmidt vielleicht auch nicht so klug angefangen hätte.
5. Weitere Lesungen in der Schweiz Nach Musils Emigration in die Schweiz fanden weitere Versuche statt, ihn in der Schweiz bekannt zu machen. Am 18. Januar 1939 hat Musil in Genf gelesen, es war eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung für das »Comité internationale pour les réfugiés politiques«, das auch Musil unterstützte.48 Für einmal äußert sich Musil positiv und spricht Jenö Lanyi gegenüber von einer »recht hübsch verlaufende[n] Vorlesung.« (Br I, S. 926) Die beiden weiteren Lesungen in der Schweiz sollten offensichtlich dazu dienen, Musil bekannter zu machen und Gönner zu finden. Dass dies nicht gelang, mag der Grund gewesen sein, warum Musil mit seinem Schweizer Publikum nicht zufrieden war. Am 22. Februar 1939 hat er vor dem Zürcher Lyceums Club, einem Verein gebildeter Damen, meistens Akademikerinnen, die sich der Pflege der Kultur verschrieben haben, gelesen. Musil nennt sie die »Eulen Zürichs«.49 Im Nachlass sind Notizen zur Einführung überliefert, in der Musil vor allem betont, dass er kein ganz unbekannter Autor sei und nun schon dreiviertel 45 46 47
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Musils Besuch 1935 in der Schweiz. Harry Goldschmidt an Adolf Frisé, in: Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil (s. Anm. 1), S. 337–339. Zum Wiener Robert Musil-Fonds siehe Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1159 ff. Vgl. den Brief an Harry Goldschmidt vom 19. 6. 1936: »Das Scheitern der eigentlichen Schweizer Musil-Aktion ist nichts als ein nicht eingetretenes Wunder; ich betrachte das also als beendet. Vielleicht war es zu groß geplant. Dr. Fürst meint, daß aber die Unmöglichkeit einer Tochter- oder Schwestergesellschaft kein Argument gegen den Versuch bildet, den schwachen Mitgliederstand der Ur-Gesellschaft durch Einzelwerbung zu vergrößern.« (Br I, S. 720) Vgl. auch den Brief an Ruth Witzinger vom 7. 11. 1936: »Vollends daraus, daß der Schweizer Zweig der Musil-Gesellschaft nicht ausgeschlagen hat, mache ich ihm nicht den leisesten Vorwurf; es gibt zu wenig Dichter, als daß die Menschen das richtige Verhalten zu ihnen kennen sollten.« (Br I, S. 743) Siehe Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1328 ff. Gegenüber Jenö Lanyi (Br I, S. 926) und gegenüber Nellie Kreis (Br I, S. 936).
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Jahre in der Schweiz lebe.50 Organisiert hat die Lesung die Kunsthistorikerin Doris Gäumann-Wild, mit der Musils schon vor der Lesung bekannt war und mit der und ihrem Mann, Professor an der ETH Zürich, sie auch privat verkehrten.51 Über den Inhalt der Lesung sind wir wiederum durch eine Ankündigung Carl Seeligs in der Neuen Zürcher Zeitung sowie einen Bericht der Veranstalterin Doris Gäumann-Wild im selben Blatt informiert.52 Musil las aus dem Ersten und Dritten Buch des Mann ohne Eigenschaften sowie Das Fliegenpapier und Denkmale aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Einen Misston gab es wegen der Formulierung auf einem Einladungsschreiben, welches betonte, dass Musil »Arier« sei.53 Es wurden weitere Versuche unternommen, Musil in der Schweiz bekannt zu machen. Durch Vermittlung des Bildhauers Fritz Wotruba sollte Musil in der »Literarischen Vereinigung Winterthur« lesen. Am 2. Oktober 1939 fragte Rudolf Hunziker, der Sekretär der »Literarischen Vereinigung Winterthur«, bei Musil an, ob er bereit wäre, einen Vortragsabend zu bestreiten. Hunziker schrieb: »Ob Sie aus Ihren (gedruckten und ungedruckten) Werken vorlesen oder über irgendein frei gestelltes Thema sprechen wollen, bleibt Ihnen überlassen.« Die Anfrage schließt mit dem sicher freundlich gemeinten Satz: »Ich persönl.[ich] würde mich g[an]z bes[onders] freuen, wenn [wir] ein[en] Wiener Schriftsteller unserem Publ[ikum] vorstellen dürften. Denn ich hatte mit dem alten Wien viele schöne Bezieh[un]g[en], war selbst oft dort & bin stolz auf m.[eine] Wiener Freunde.« (Br I, S. 1090) In einem Brief an den Bildhauer Wotruba schreibt Musil: »Auch dazu habe ich freundlich genickt, daß mir Prof. H. schrieb, er habe viel Interesse für österreichische Dichter (das aber unter Diskretion), während ich für eine solche Einreihung eigentlich eher das Interesse des Stiers für das rote Tuch habe.« (Br I, S. 1108) Vor Musil haben in Winterthur schon Rilke (1919), Thomas Mann (1920), Hermann Hesse (1922), Heinrich Mann (1931) und Alfred Döblin (1932) gelesen. Musil befand sich also in guter Gesellschaft. Die Lesung, die am 29. Januar stattfand, war offensichtlich schlecht besucht, 50 51 52 53
KA/Transkriptionen/Weitere Mappen/Briefkonzepte II/1 u. II/9. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um Briefkonzepte, sondern um Konzepte für die Einführung der Lesung. Siehe den Brief an Lanyi (Br I, S. 926). Gegenüber Lanyi nennt Musil nur den Vornamen, ev. aus Zensurgründen, jedenfalls siezt er Doris Gäumann-Wild in den an sie gerichteten Briefen. Ankündigung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. 2. 1939 (Nr. 325); Bericht unter dem Kürzel D. W. am 27. 2. 1939 (Nr. 364), siehe Anhang. »Aus der Zürcher Chronik!: der Lyceum-Klub hat zu meiner Vorlesung eine hektographierte Einleitung verschickt, worin – scheinbar in ›werbender‹ Absicht – zu lesen war, daß ich meinen Wohnsitz zwar verlegt hätte, aber trotzdem ›Arier‹ sei, oder daß ich ihn verlegt hätte, obzwar ich es sei. Gestern habe ich von einem guten Bekannten, der deshalb nicht in die Vorlesung gekommen ist, obwohl er mich nicht eine Sekunde lang der Mitwisserschaft verdächtigt hat, diese odiose Geschichte erfahren. Das Stilprodukt habe ich bis jetzt nicht sehen können und weiß nicht, ob der Fehler bei den Empfängern liegt oder ob die Absender nicht Herren ihres Stils gewesen sind, denn die böse Wirkung haben sie bestimmt nicht gewollt. Eine paradoxe Welt, die auf dem Kopf steht, weil sie keinen hat!« (Br I, S. 947)
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Hunziker spricht gegenüber einem Freund von 20 Personen (Br I, S. 1143), Lejeune von 15, darunter der Germanist Lothar Kempter und der Lyriker Konrad Bänninger.54 Immerhin merkt Hunziker an, dass die Vorlesung »ausgezeichnet« gewesen sei. Dies schreibt auch Martha an ihre Tochter Annina am 30. Januar 1940: Gestern war die Vorlesung in Winterthur, Robert hat so gut gelesen wie kaum je; u. die Zuhörer waren sehr begeistert. – Aber es waren sehr wenige; es ist zu ärgerlich, daß man ihn hier kaum kennt. Und gerade die Leute, auf die es ankommt u. auf die Wotrubas solche Hoffnungen setzten, waren nicht dort; teils unwohl, teils verreist – es waren dumme Zufälle! (Br I, S. 1145)
Musil hat offenbar Hunziker Vorwürfe gemacht, für die Lesung sei nicht genug Werbung gemacht worden, worauf dieser ihm Zeitungsausschnitte zukommen ließ, für die sich Musil am 1. Februar 1940 bedankt, indem er betont, es spreche aus ihnen »eine sorgfältige Vorbereitung«. Trotzdem hat Musil den Eindruck, dass er in Winterthur schlecht betreut worden sei und dass Hunziker sich nicht für ihn interessiere, wie er an Wotruba schreibt: Ich habe keinen faden Nachgeschmack von der Winterthurer Unternehmung, aber daß sie mißglückt ist, steht außer Zweifel; ich sehe es auch an dem Nachfrost, von dem der fröhliche Professor Hunziker befallen worden zu sein scheint, der nichts mehr hat hören lassen, obwohl ich ihm noch dazu – von so vielen Jahren gerührt – zu seinem 70sten Geburtstag gratuliert habe. Da sich die Menschen selten nach ihrem wirklichen Eindruck benehmen, sondern nach dem, den sie glauben haben zu müssen, geht auch daraus Mangel an der Vorbereitung hervor, die Keller’s übernommene Aufgabe war; und da nicht nur er selbst bei der Vorlesung gefehlt hat, sondern auch das volle Dutzend derer, die er hätte interessieren sollen, nehme ich an, daß ich an ihm keinen Posaunisten von starkem Herzen habe. (Br I, S. 1149 f.)
Heinz Keller, Konservator am Museum in Winterthur, hatte den Kontakt zur Literarischen Gesellschaft hergestellt, war aber sonst in die Organisation nicht involviert (vgl. Br II, S. 629), insofern sind Musils Vorwürfe nicht berechtigt. Dass auch der Versuch, die reichen Industriellen Reinhart für Musil zu gewinnen (vgl. Br II, S. 629), scheiterte, trug sicher auch nicht zu einer positiven Bewertung der Winterthurer Lesung bei.55 Dass sich Hunziker nach der Lesung nicht mehr für Musil interessierte, erstaunt nicht, denn der 1870 geborene Rudolf Hunziker, Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Deutsch in Winterthur, war einer der Herausgeber der Werke von Jeremias Gotthelf und in seinem literarischen Geschmack wie damals weit verbreitet wohl eher am 19. Jahrhundert orientiert, so dass er wenig Sinn für das innovative Romanwerk Musils gehabt haben dürfte.
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Siehe die Zitate aus Kempters ›Tagebuch‹ (Br II, S. 625). Siehe auch den Bericht von Lejeune: Robert Musils Schweizer Jahre (s. Anm. 1), S. 415.
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6. Musil in der Schweiz: Problem Schriftsteller-Verein Musil hielt sich in der Schweiz mit einer Aufenthaltsbewilligung auf, die regelmäßig erneuert werden musste. Er war also weder ein Emigrant noch ein politischer Flüchtling, auch wenn er sich selbstverständlich aus politischen Gründen in der Schweiz aufhielt.56 Bei jeder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung musste er beweisen, dass er zu den hervorragenden Schriftstellern gehörte, deren Aufenthalt in der Schweiz dieser zum Ruhme gereichen würde. Die Situation war insofern schwierig, als es den ausländischen Schriftstellern im Prinzip nicht erlaubt war, in der Schweiz zu arbeiten. Schon 1933 hatte der Schweizerische Schriftsteller-Verein eine Empfehlung verabschiedet, wie mit Emigranten umzugehen sei, nämlich dass »literarisch und geistig hervorragenden« sowie »aus politischen Gründen in Deutschland verfolgten« Schriftstellern Asyl und Arbeitsmöglichkeit in der Schweiz geboten werden solle. »Die Frage, ob ein Gesuchsteller zu den hervorragenden Schriftstellern zu zählen sei, soll von einer aus Fachleuten bestehenden Kommission beurteilt werden.« »Allen übrigen ausländischen Schriftstellern und Journalisten, insbesondere also den kleinen Zeilenschreibern und den unbedeutenden Gelegenheitsautoren, ist das Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu verweigern.«57 Bevor eine Aufenthaltsbewilligung genehmigt wurde, holten die Kantone, die dafür zuständig waren, jeweils beim Schweizerischen Schriftsteller-Verein ein Art Gutachten ein.58 Der Schriftsteller-Verein hatte dadurch eine Monopolstellung, und Musil tat wohl gut daran, sich im September 1939 mit dessen Präsidenten Felix Moeschlin in Verbindung zu setzen; gleichzeitig versuchte Lejeune bei Hermann Hesse und auch bei andern Empfehlungsschreiben für Musil zu organisieren (vgl. Br I, S. 1080). Musils Charakterisierung seiner Position in der Schweizerischen Literaturlandschaft gegenüber Moeschlin dürfte durchaus zutreffend sein. Er schreibt, nachdem er dargelegt hat, dass er den Nachweis über genügend Geld zu verfügen, nicht erbringen könne: [I]ch müßte die Behörde zu der Anschauung bewegen, daß die Schweiz, indem sie mir Aufenthalt gewährt, etwas tut, was ihr von Nutzen ist, wenn auch nur als geistiger oder moralischer Gewinn oder als Manifestation ihrer großen Überlieferung. Nach dem Ruf, den ich mitbringe, erscheint das nicht als ausgeschlossen; aber das Unglück will, daß ich mich gerade hierzulande nicht auf eine genügende Bekanntheit verlassen kann, zumal da ja die Regierungsbehörden nicht immer die Zeit haben, sich mit Dichtung zu befassen. (Br I, S. 1076 f.) 56 57
58
Siehe seine Ausführungen im Brief an Felix Moeschlin (Br I, S. 1076). Charles Linsmayer: Felix Moeschlin, der SVV und die Flüchtlinge, in: http://linsmayer.ch/ autoren/M/MoeschlinFelix.html (Zugriff am 3. 1. 2014). Der Artikel erschien im Sommer 1997 im Kleinen Bund. Moeschlin sei eine gewisse Zivilisations- und Intellektuellenfeindlichkeit eigen, schreibt Linsmayer. Zur Monopolstellung des SSV siehe Ulrich Niederer: Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Kulturpolitik und individuelle Förderung. Jakob Bührer als Beispiel. Tübingen 1994, S. 140.
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Felix Moeschlin (1882–1969) hat zahlreiche, heute niemandem mehr bekannte Romane verfasst und war von 1924 bis 1942 Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins. Wie Untersuchungen zeigen, entschied der Vorstand des Schriftsteller-Vereins ziemlich eigenmächtig darüber, wie ein Schriftsteller einzustufen sei. Auf jeden Fall war die Aufenthaltsbewilligung mit einem Berufsverbot verbunden, wie es auch für Musil galt:59 Es wurde ihm ausdrücklich verboten, ohne vorherige Genehmigung der Fremdenpolizei für schweizerische Zeitungen oder Zeitschriften zu arbeiten. Es war vor allem das Problem der Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung, welche Musil mit den Koryphäen des schweizerischen Kulturlebens in Kontakt treten ließ, so mit Eduard Korrodi (1885–1955), der von 1914 bis 1950 Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung war – Musil hatte ihn anlässlich seiner ersten Schweizer Lesereise 1935 aufgesucht (vgl. Br I, S. 670) –, mit dem Mäzen und Büchersammler Martin Bodmer (1899–1971), von dem sich Musil einiges erhoffte, weil er auch Herausgeber der Zeitschrift Corona war, oder mit Robert Fäsi (1883–1972), selbst Schriftsteller und seit 1922 Professor für Literatur an der Universität Zürich.60 Es war damals klar, dass ein Germanist in der Schweiz sich mit Schweizer Literatur befasst, und so haben sowohl Korrodi wie Fäsi ihre wissenschaftlichen Arbeiten über Schweizer Autoren geschrieben. Eduard Korrodi, der zwar in frühen Jahren eine Politik der Abkehr vom Seldwyler Geist propagierte, kritisierte zunehmend Autoren, die ihm zu links waren und die formal neue Wege beschritten, wie etwa Albin Zollinger. Allerdings hat er Max Frisch entdeckt und von ihm Texte gedruckt, wobei zu sagen ist, dass die frühen Texte von Max Frisch sowohl literarisch wie ideologisch harmlos sind. 1936 hat Korrodi mit einem polemischen Artikel zur Exilliteratur mit dem Titel Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel den Widerstand Thomas Manns hervorgerufen, der zum ersten Mal deutlich Stellung gegen die Literatur des faschistischen Deutschlands bezog und in der Folge mit seiner ganzen Familie ausgebürgert wurde.61 Dies alles zeigt, dass Korrodi von Anfang an wenig Sinn hatte für Musils Roman, der weder realistische Erzählkonventionen noch gewisse bürgerliche Erwartungen bediente. Und Musil schätzt die Situation sicher richtig ein, wenn er schreibt:
59 60 61
Die Musil betreffende Bestimmung druckt Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1842, Anm. 99, ab. Im Brief an Lejeune vom 14. 9. 1939 legt Musil die Strategie zur Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung dar, in welche auch Fäsi einbezogen werden sollte. Vgl. Br I, S. 1073–1075. Siehe Helen Münch-Küng: Der Literaturkritiker Eduard Korrodi. Bern u. a. 1989 (= Zürcher germanistische Studien, Bd. 18), S. 128. Der Artikel ist abgedruckt in: Eduard Korrodi: Ausgewählte Feuilletons. Hg. v. Helen Münch-Küng. Bern u. a. 1995 (= Schweizer Texte. N. F., Bd. 4), S. 192–193. Der Brief Thomas Manns an Eduard Korrodi wurde am 3. 2. 1936 in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt. Ausführlich dazu: Rolf-Bernhard Essig: Der offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg 2000 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 267), S. 251.
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Es ist in der Schweiz leider so, ob ich nun Faesi oder Korrodi oder Bodmer sage, also schon ganz die beiseite lasse, von denen nichts anderes zu erwarten wäre. Man ist solide im Urteil und hält den Toten die Treue, ob sie nun Keller, Meyer, Rilke oder Hofmannsthal heißen; auch ich fühle mich einigermaßen sicher, daß man einst meinen Schweizer Aufenthalt wohlgefällig buchen wird, aber erst auf seinen Tod warten zu müssen, um leben zu dürfen, ist doch ein rechtes ontologisches Kunststück! (Br I, S. 1083)
Der Millionär Martin Bodmer, der in seinem Haus Schriftsteller wie Rudolf Borchardt oder Rudolf Alexander Schröder beherbergte, hatte offensichtlich von Musil keine Ahnung. Dies wird auch durch die Tatsache belegt, dass der Mann ohne Eigenschaften in der von Bodmer als Bibliothek der Weltliteratur angelegten »Bibliotheca Bodmeriana« (heute Coligny bei Genf) erst in den 60er Jahren angeschafft worden ist, wie Corino mitteilt.62 Musil hat mit seinem Scharfsinn die Situation richtig eingeschätzt, wenn er über Bodmer an Lejeune schreibt: Überhaupt Martin Bodmer! er könnte mir in manchem helfen, ohne sich wehzutun, da er eine Zeitschrift und einen Verlag hat, und ich ihm wenigstens teilweise eine Gegenleistung bieten könnte, da ich verlegerisch frei bin! Aber ich glaube, daß ich ihm – der Valéry lieben soll – zu wenig »liege«, und daß er weniger von mir gehört hat, als möglich wäre und seinen Ehrgeiz packen könnte. (Br I, S. 1078)
1940 spricht er gegenüber Lejeune von »Bodmers anscheinend lebhafter Ablehnung meiner Person« (Br I, S. 1238). Dass Bodmer Valéry lieben soll, heißt wohl so viel, dass er symbolistische Dichtung liebt und nicht die Art von moderner Dichtung, die Musil verwirklichen wollte und die ihm ja von den Kritikern gerade auch in der Schweiz immer wieder attestiert wurde. Die von Martin Bodmer zusammen mit Herbert Steiner herausgegebene Zweimonatsschrift Corona publizierte Autoren, die, wie es Reinhard Wittmann formuliert, über »ein hohes Formbewusstsein« verfügten und in einer europäischen Kulturtradition verwurzelt waren, die bis in die Antike zurückreichte: »Die Corona bot ihren Lesern etwas sehr Rares, Orchideenhaftes: eine bildungsbürgerlich-ästhetizistische Spielart der ›Konservativen Revolution‹.«63 Man wollte »das Abstrakte, das allzu Theoretische« vermeiden, der Essay wurde gar als »Unform« bezeichnet.64 Dass Musil in diesen Kontext von Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Rudolf Alexander Schröder nicht hineinpasste, ist offensichtlich. Dass er jedoch 1942 immer noch hoffte, in der Corona publizieren zu können, zeigt, dass er die Realität 62
63 64
Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1834, Anm. 28. Immerhin scheint Bodmer dann den Wert des Mann ohne Eigenschaften erkannt zu haben, wenn er notiert: »Ein Zeit- und Bildungsroman sondergleichen. (Der Zauberberg verblasst zusehends daneben!) Womit nicht auch gesagt ist, er sei besonders sympathisch und erquicklich.« (Zit. nach ebd.) Reinhard Wittmann: Wissen für die Zukunft. 150 Jahre Oldenburg Verlag. München 2008, S. 206. Corino: Robert Musil (s. Anm. 7), S. 1313.
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trotz seiner zutreffenden Äußerungen in seinen Briefen offensichtlich nicht richtig einschätzte.65 Und wie wenig bekannt Musil in der Schweiz war, zeigt seine Feststellung, dass man in der Schweiz den Mann ohne Eigenschaften nicht kaufen könne: »Von den öffentlichen Bibliotheken besitzt nur eine einzige ein Buch von mir. Auch das gehört zu meinem Entzücken am Leben.« (Br I, S. 1386)66 1942 wurden wieder Anstrengungen unternommen, Musil in der Schweiz bekannter zu machen und eine Gesellschaft zu seiner Unterstützung zu gründen. Die Anregung kam von Klaus Pinkus über den Dramaturgen Kurt Hirschfeld, wiederum scheint auch Seelig daran beteiligt gewesen zu sein.67 Um Freunde zu gewinnen, die Musil unterstützen könnten, wurde an einen Vortrag über Musil gedacht, wobei auch der damals noch junge Privatdozent Emil Staiger angefragt werden sollte (vgl. Br I, S. 1406). Musil hat nicht gewusst, »daß ich von ihm Anerkennung erfahre, und bin ihm sehr verbunden dafür.« (Br I, S. 1408) Musil hofft, dass auch Carl J. Burckhardt für dieses Unternehmen gewonnen werden könnte und bringt noch den Literaturwissenschaftler Walter Muschg ins Spiel, dessen Rektoratsrede, in Wirklichkeit handelt es sich um Muschgs Antrittsvorlesung an der Universität Basel, über »Josef Nadlers deutsche Literaturgeschichte«, in der Muschg die Herleitung der Dichtung aus dem Stammescharakter als einseitig kritisierte, ihm gefallen hat (Br I, S. 1408).68 Über Carl J. Burckhardt, von Beruf habilitierter Historiker und Diplomat, schreibt Martha an ihre Tochter, er schätze den Mann ohne Eigenschaften (vgl. Br I, S. 1160) und er habe »viel Verehrung für Robert« (Br I, S. 1140). Burckhardt versuchte sich in der Folge vor allem für Musils Aufenthaltsbewilligung einzusetzen. Die Überlegungen Musils zeigen, dass er durchaus am Geistesleben der Schweiz teilgenommen hat. So geht aus einem Brief an Lejeune vom 14. September 1939 hervor, dass Musil Die Weltwoche las und etwas hielt von den Artikeln von Karl von Schumacher, einem der beiden Gründer der Wochenzeitung (vgl. Br I, S. 1078).69 In einer boshaften Bemerkung in einem seiner Hefte erkennt man, dass er auch wusste, wer Ludwig Hohl ist, der von 1937 bis zu seinem Lebensende in Genf lebte. 1939 waren im Oprecht-Verlag in Zürich Hohls Aphorismen Nuancen und Details erschienen, was Musil, der 65 66 67 68 69
In einem wahrscheinlich an Otto Wirz gerichteten Brief vom 22. 1. 1942 erwägt er für die Publikation seiner Aphorismen die Corona (Br I, S. 1390). Allerdings konnte sich dann Klaus Pinkus über die Buchhandlung Oprecht doch ein Exemplar des Mann ohne Eigenschaften beschaffen (Br I, S. 1404). Siehe den Brief an Kurt Hirschfeld vom 1. 3. 1942 (Br I, S. 1405). Zu Muschg siehe Karl Pestalozzi: Walter Muschg (1898–1965), in: Christoph König u. a. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Berlin, New York 2000, S. 199–210. 1933 hatten Manuel Gasser und Karl von Schumacher die Weltwoche nach dem Vorbild französischer Wochenzeitungen gegründet. Sie verstand sich als antikommunistisch, trat jedoch nach anfänglichen Sympathien für Hitler und Mussolini schließlich auch gegen den Nationalsozialismus ein und bot zahlreichen deutschen Autoren Asyl.
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ja in dieser Zeit auch an einer Aphorismen-Sammlung schrieb, mitbekommen haben dürfte: »Schweizer Aphoristiker: Jetzt weiß ich wenigstens, was ein Hohl=Kopf ist!«70 Zusammenfassend kann man feststellen, dass alle Anstrengungen Musils, in der Schweiz bekannt zu werden, gescheitert sind, nicht zuletzt deshalb, weil das Umfeld nicht günstig war. Zu sehr war man im literarischen Bereich auf schweizerische Autoren, auf eine doch letztlich noch am Realismus des 19. Jahrhunderts orientierte Literatur fixiert, die noch immer die Schweiz, oft die ländliche Schweiz zum Gegenstand hatte, wie gerade einer der repräsentativsten Romane jener Zeit, der 1938 herausgekommene Schweizerspiegel von Meinrad Inglin zeigt. Wenn Musil Otto Wirz den unschweizerischsten Romancier genannt hat, so hat er auch darin recht, dass in Wirz’ Romanen die Schweiz praktisch keine Rolle spielt, in Prophet Müller-zwo überhaupt keine, und dass Wirz nicht in der Tradition des Realismus schreibt. In diesem Kontext darf man nicht vergessen, dass ein anderer Autor, der nicht diesem Bild entsprach, nämlich Robert Walser, trotz Seeligs unermüdlicher Propaganda, trotz Neuausgaben, auch kein Publikum fand.71 Musil schreibt am 3. Dezember 1941 an seine Gönnerin Susanne Langnese: »Unsere Lage in der Schweiz ist ja wirklich schwierig. Ja, ich möchte sagen, schändlich schwierig; wenn ich bedenke, daß ich doch eigentlich reichlich bekannt bin für das, was ich bin, und nur hier fast niemand davon weiß oder wissen will.« (Br I, S. 1369) Diese Einschätzung ist keineswegs Musils Pessimismus geschuldet, sondern wird auch von Robert Lejeunes Äußerung, die am Anfang dieser Untersuchung zitiert wurde, gestützt. Lejeune schreibt diese Situation den Schwierigkeiten zu, mit denen sich der Leser des Mann ohne Eigenschaften konfrontiert sieht: »Ich kann mir dies nur daraus erklären, daß die Lektüre gerade dieses Werkes eine recht anstrengende Arbeit ist, die an den Leser große Anforderungen stellt, der durchschnittliche ›Romanleser‹ ist aber zu solcher geistiger Anstrengung wohl selten bereit.« (Br I, S. 1194) Musil wurde in der Schweiz nicht gelesen, in den Bibliotheken fand sich der Mann ohne Eigenschaften nicht und war nach der Beschlagnahmung des Verlags offenbar auch nicht mehr zu bekommen. Der Mann ohne Eigenschaften vertrat eine Poetik, die in keiner Weise an das in der Schweiz herrschende Literaturverständnis anschließbar war. Es ist also kein Wunder, dass Musil in der besten aller Welten, wie er die Schweiz einmal ironisch nennt, jene nachhaltige Unterstützung, wie er sie gebraucht hätte, nicht fand. Zum Schluss soll Musil nochmals das Wort bekommen, 1941 notiert er: 70 71
KA/Transkriptionen/Heft 30/124. 1937 haben sich immerhin, anlässlich des Erscheinens der von Carl Seelig herausgegebenen Sammlung von Prosastücken unter dem Titel Große kleine Welt, noch eine Reihe von bedeutenden Kritikern und Autorenkollegen geäußert, wie Stefan Zweig, Alfred Polgar, Heinz Politzer, Albert Steffen sowie die beiden zu jener Zeit bedeutendsten Schweizer Literaturkritiker Max Rychner und Eduard Korrodi.
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Schweizer, Durchschnitt: Höflich nur, wenn Nutzen dabei: [. . .] Die Schweizer wissen, was sich gehört; sie werden nie neue Liebenswürdigkeiten erfinden, aber die üblichen verkaufen sie als ordentliche Kaufleute. Auch in den höheren und höchsten Schichten ist man bloß dann bemüht, und nicht vergeßlich, wenn es einem zum Vorteil gereichen soll. Denke an Bohnenblust . . . und selbst Burckhardt. [. . .] Selbstsicherheit von Kleinstädtern.72
Das war vielleicht das Problem: Der Großstädter Musil ist in jeder Beziehung auf die Kleinstädter getroffen, und das konnte nicht gut gehen.
Anhang: Zeitungsberichte über Musils Lesungen I. Neue Zürcher Zeitung, 15. November 1935 (Nr. 1989) Robert Musil, der bekannte österreichische Dichter spricht am Samstagabend, den 16. November um 8 ¼ im Kramhofsaal über »Der Dichter unserer [sic!] Zeit« und liest aus seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (3. Band). Musil ist durch seinen ersten Roman »Die Verwirrung [sic!] des Zöglings Törleß«, der sich durch eine tiefe Psychologie und exakte Kenntnis des jugendlichen Menschen auszeichnete, und durch seinen neuen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« einer der interessantesten Vertreter des subtilen psychologischen Romans geworden. (Mitg.)
II. Basler Nachrichten, 19. November 1935 (2. Beilage zu Nr. 318) Robert Musil in Basel Wie oft sind wir enttäuscht, wenn wir einen Dichter, dessen Werk in unserem Leben bedeutend steht, persönlich sehen und hören. Ein so anspruchsvolles Werk wie das Robert Musils legt derartige Befürchtungen besonders nahe. Es bietet eine Genugtuung eigener Art, nach zweimaliger Begegnung sagen zu dürfen, daß durch sie Verständnis und Bedeutung des Werkes um kein Geringes gewonnen haben. Robert Musil, dessen Ruf als eines Dichters großen Formats und weitspannenden Gestaltungsvermögens sich vornehmlich durch seinen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« begründet, las am Samstag im Pen-Club und am Montag in der Studentenschaft vor sehr verschiedenem, jedesmal mit wachsender innerer Anteilnahme seinem Vortrag folgenden Publikum. Wer die 1600 bisher publizierten Seiten des »Mannes ohne Eigenschaften« in ihrer eindringlichen Eigenart im inneren Ohr hat, der konnte durch die 72
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mündliche Selbstinterpretation endgültige und klärende Akzente gesetzt bekommen. Das Frappante an Musil ist seine immer wieder fesselnde Synthese aus wirklich sauber vollzogener gedanklicher Abstraktion, die jedem philosophischen Kriterium standhält und dem Gedanken das Ausweichen in gefühlsmäßige Unpräzision nicht gestattet, und einer sinnlichen und gemüthaften Wachheit für jede Kleinigkeit des äußeren und seelischen Daseins. Ihre Höhe findet diese Synthese in einem gütigen Humor und in einem ebenso gütigen wie unerbittlichen Begleiten der Gestalten in die tragischen Abgründe des Lebens. Humor ohne Güte bleibt in der Satire, bestenfalls in gerne ihre Ueberlegenheit zur Schau tragender Ironie stecken. Kenntnis der tragischen Komponenten des Daseins, verbunden mit logisch und psychologisch geschultem Denken und der Beherrschung reichen Bildungsgutes, ergibt leicht jenes vor keiner Tiefe zurückschreckende Raisonnement, vor dem kein existenzieller Einsatz standhält, dem jede Gläubigkeit und jede schlichte, aber verbindliche Begegnung mit Wirklichkeiten des Lebens als Selbsttäuschung verdächtig wird, die dem Enttäuschten aber keinerlei Wahrheit mehr bieten kann. Durch manche Erscheinung der heutigen Literatur mißtrauisch, vermutet man dann besonders diese beiden Komponenten der bloßen Destruktion, wenn diese als geschichtliche Tatsache (Auflösung des alten Oesterreich) und als persönliche Gefahr (– ohne Eigenschaften!) geradezu das Thema seines ausgedehnten Werkes werden. So sehr man nach der Lektüre schon vermutet hat, daß der Autor selber das ganze immense Unternehmen zur Ueberwindung dieser Gefahr und zur Aufdeckung der Wahrheit im Antlitz seiner wahrhaft entdeckten Wirklichkeit begann und weiterführt, hört man im Ton seiner Selbstinterpretation mit einer gewissen Beglückung, diese Vermutung bestätigend, die Nuancen der Güte und der innersten Teilnahme, die Humor und tragisches Verständnis ausmachen. Musil las an jedem der beiden Abende je eine humoristische und eine in tiefem Ernst verfaßte Episode aus seinem Roman vor (eine aus dem noch nicht veröffentlichten dritten Teil, der uns somit angezeigt wurde und uns mit größter Spannung warten läßt). Die Bedeutung der kleinen und großen Dinge der äußeren Welt in beiderlei Beleuchtung, die verschieden getönte Sprache, die eigentümliche Verlagerung des stimmlichen Akzentes ließen die Meisterschaft der dichterischen Formgebung deutlich werden. Daß der Ernst auch seelischer Situationen ohne Sentimentalität geschrieben, trotz gelegentlich eigentlichem Pathos ohne schmieriges Appellieren an vorschnelle gefühlshafte Sympathien gelesen wird, daß in der komischsten Schilderung menschlicher Situationen und Eigenschaften die Gestalten nie nur lächerlich sind und die Stimme keinen gefährlichen Akzent bloßen Spottes bekommt, ist die beste und endgültige Widerlegung aller vielleicht noch restierenden Befürchtungen, in dem nihilistischen Thema des Romans bekenne sich einer zur Endgültig-
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keit der Destruktion, die er als Faktum auffindet. Eben durch die Gestaltung des Vorganges, dem er selber überlegen ist, überwindet der Dichter die bloße Tatsächlichkeit. Die kleinen Stücke aus dem gerade beim Humanitas-Verlag Zürich erscheinenden Büchlein »Nachlaß zu Lebzeiten« bestätigen den Eindruck, dessen Exemplifizierung hier genügen muß. sk
III. National-Zeitung, 20. November 1935 (Nr. 538) Robert Musil liest vor Es war ein guter Gedanke, den österreichischen Dichter Robert Musil nach Basel einzuladen, der als Vorleser ein guter Interpret seiner dichterischen Absichten ist. Musil sprach am Sonntag im Pen-Club und am Montag vor der Studentenschaft. An beiden Abenden las der Dichter aus seinem grossen Romanwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« vor, von dem bis heute zwei Bände vorliegen; gegenwärtig arbeitet Musil an der Vollendung des dritten. Von dem geistigen Mikrokosmos dieses Werkes einen wirklichen Begriff zu geben, hätte die Möglichkeit einer Vorlesung notwendigerweise überschritten; Musil musste sich darauf beschränken, sozusagen vom Episodischen her die geistige Atmosphäre seines Romanes spürbar zu machen, in der ein souverän durchgehaltener Tonfall der Ironie als ein Kunstmittel erscheint, um auch noch gegenüber der andringenden Empfindungswärme Distanz zu halten, die der Dichter seinen Gestalten entgegenzubringen bereit ist. Am Sonntag las Musil zwei Kapitel, die von der Begegnung Agathes, der Schwester des ›Mannes ohne Eigenschaften‹ mit einem gewissen Lindner handeln, der ihr in einer scheinbar ausweglosen Situation vom Zufall als Nothelfer in den Weg geschoben worden ist. Auch diese beiden Kapitel, in denen Agathe, die Selbstmord begehen will, eine ›Herrenbekanntschaft‹ macht und ausbaut, geben eine Vorstellung von dem geistigen Klima, von der Zone, in der sich Musilsche Gestalten zu begegnen pflegen, – in der Zone des modernen Menschen nämlich, in der eine so ›unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten‹ herrscht, dass jede Begegnung zum Missverständnis, zu einem metaphysischen Missverständnis werden muss. ›Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.‹ Es ist wie ein Zeichen für die Weite von Musils geistiger Welt, dass man die Ironie, die souveräne Skepsis, mit der er etwa dem Typus des robusten Ethikers Lindner gegenübersteht, nicht ohne weiteres und nicht sofort gewahr wird. ›Soll unsere höhere Natur sich ausleben, so muss man die niedere Entsagung lernen‹, verkündet der bis ins Mark positive Lindner; zwar verhindert schon ein Gedankenhauch, –
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die Erwägung nämlich, warum es denn einfacher sein solle, für andere zu sorgen als für sich, dass Lindners kompakte Wahrheit bei Agathe Wurzel schlägt, aber sie wirkt bei ihr trotzdem: (und die Darstellung solcher am Logischen und am Gefühlsmässigen vorbeistreifenden Wirkungsmöglichkeiten zwischen Menschen ist vor Musil kaum je so präzis versucht worden) ›die einzelnen Worte, so energisch angepackt, bewegten sich beunruhigend vor ihr, als wäre ihre Bedeutung mehr in der Luft zu sehen denn zu hören.‹ Tiefer noch in das Wesen von Musils Romanwerk führt jenes von dem Dichter am Montag gelesene Kapitel ein, das von General Stumm handelt, der in die Wiener Staatsbibliothek eindringt, um den wirklich bedeutendsten Gedanken seiner Gegenwart zu finden. In diesem nur scheinbar episodischen Kapitel wird mit dem Mittel einer seltenen Spezies von Humor, eines in den kühlen Bezirken der Logik purzelbaumschlagenden tragischen Humors, an das Thema des ganzen Werks gerührt: die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, – der Mensch als scheinbarer Mittelpunkt des Weltalls, der Leerlauf des Denkens und der Gefühle und das ›Prinzip des unzureichenden Grundes‹ (›in unserem wirklichen, ich meine damit, unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was keinen rechten Grund hat‹). Der General Stumm, um das ›richtige Buch‹ zu finden, den schönsten Gedanken der Welt, – er ist ganz einfach der natürliche Mensch, der an das seit Jahrhunderten angehäufte Wissen der Welt sozusagen mit unerlaubter Naivität die Frage stellt, vor der nicht nur die Wiener Staatsbibliothek, nicht nur das Wissen, sondern auch das Denken mit all seinen Strukturformen kapitulieren muss. Das Thema von einer hintersten und letzten Zelle des Lebens, des Fühlens und Denkens, zu der eine Türe führen müsse, die wir vielleicht irgendwo einmal im Traume gesehen haben, webt an der Wurzel aller Gestalten dieses bis in die letzte Episode hinein bedeutenden Buches: des Generals Stumm, der ein Buch der Bücher imaginiert, das es doch geben müsse, – des Grafen Leinsdorff [sic!], der zu seiner Parallelaktion die rettende Idee sucht, und endlich des Helden des Buches Ulrich, der nur darum ›ein Mann ohne Eigenschaften ist, weil Eigenschaften ohne Mann nicht leben können.‹ Robert Musils Romanwerk, der [sic!] durch eine Szenenfolge aus dem alten Oesterreich hindurch die ganze komplexe geistige Situation unserer Zeit spürbar werden lässt, stellt einen Romantypus dar, den die deutsche Literatur in dieser Art bisher noch nicht kannte. Dem Pen-Club Basel und der Studentenschaft gebührt Dank, dass sie die persönliche Bekanntschaft mit diesem bedeutenden österreichischen Dichter vermittelt haben. Dr. E. Gst. [i. e. Eugen Gürster]
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IV. Neue Zürcher Zeitung, 22. November 1935 (Nr. 2034), Rubrik: Kleine Chronik Vorlesung Robert Musil. C. S. [i. e. Carl Seelig] Geist elektrisierte die anderthalb Stunden, während denen Robert Musil am Lesetisch saß. Sie zeigten in vollen Lichtbündeln, daß sein Werk nicht nur ein dichterisches, sondern auch ein denkerisches ist. Ueberall schimmert das Gold epigrammatischer Weisheit durch. Der Ausspruch, der am Samstagabend im »Kramhof« fiel: »Wir suchen im Leben das Feste, wie ein ins Wasser gefallenes Landtier das Trockene« ist für diesen Zeitkritiker typisch. Er kann nicht schreiben, ohne den Boden des Verstandes unter sich zu fühlen. Er, der den über tausend Seiten schweren Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« verfaßte, zeigte sich während der Vorlesung als ein Mann von vielen Eigenschaften: geistreich und doch gemüthaft, sanft-ironisch und verschleiert-traurig, ein Stilist von angespannter Elastizität und zugleich von weicher, österreichischer Lockerung. Klar vorgetragen vernahm man die zwei ungedruckten Kapitel »Tugut und Tunichtgut« und »Agathe findet Ulrichs Tagebuch« aus dem erwähnten Riesenwerk und, als nach Schluß der Vorlesung alle Zuhörer eigensinnig-verliebt sitzen blieben, jene bezaubernde Partie, in der Agathe auf dem Grab eines Dichters Selbstmord begehen will und dabei zu einer Herrenbekanntschaft kommt. Dazwischen rankten sich zwei kleine Prosastücke aus dem nächstens flüggen Band »Nachlaß zu Lebzeiten«, bittersüße Einblicke in eine Welt, die für Robert Musil voll Schmerz, Heiterkeit und gespenstischer Dämonie ist. Trotz ihrer Kürze empfand man diese sinnlich-schönen Mosaiken nicht als Splitter eines größeren Werkes, sondern als selbständige Edelprodukte.
V. Neue Zürcher Zeitung, 21. Februar 1939 (Nr. 325), Rubrik: Lokales Literarische Vorlesung. C. S. Am Mittwoch, den 22. Februar wird um 20 Uhr 15 der vor einigen Monaten von Wien nach Zürich umgesiedelte Dichter Robert Musil im Haus des Lyzeumklubs (Rämistraße 26) aus gedruckten und ungedruckten Werken vorlesen. Der Autor des über tausend Seiten schweren Romans »Der Mann ohne Eigenschaften« wird sich den Literaturfreunden als Dichter von vielen guten Eigenschaften zeigen: geistreich und doch gemüthaft, skeptisch-ironisch und verschleiert-traurig, als Stilist von überlegener Wortzucht und melodiösem österreichischem Tonfall. Aus einem ursprünglich tschechischen Bauerngeschlecht stammend, das viele verdienstreiche Beamte und Gelehrte hervorgebracht hat, darunter den berühmten Orientalisten Alois Musil, entschloß sich Robert Musil zuerst zur Karriere eines Ingenieurs. Er legte die Staatsprüfungen in Maschinenbau ab, doktorierte in Philosophie und war bis 1923 Beamter im österreichischen Außenministerium. Sein 1906 publizierter Erstlingsroman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« gehört
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zu den frühesten und kühnsten Versuchen, die Freud’schen Theorien dichterisch zu verwerten. Vor einem Jahrzehnt begann jener Roman zu erscheinen, der Musils Name den Liebhabern exquisiter Prosa tief einprägte »Der Mann ohne Eigenschaften«, dessen dritter Band im Herbst dieses Jahres herauskommen wird. Durch seine subtile Analyse seelischer Vorgänge, sowie durch seine umfassende Blickweite ist er zum kritischen Porträt des Österreichers der Vorkriegszeit geworden.
VI. National-Zeitung, 25./26. Februar 1939 (Nr. 95), Rubrik: Literarische Notizen Robert Musil liest. Der seit einigen Monaten in Zürich lebende Dichter Robert Musil wurde vom Lyceumclub Zürich eingeladen, aus seinen eigenen Werken vorzulesen. Vor einem erfreulich großen Auditorium macht der klar und sachlich vortragende Gast zunächst mit drei Kapiteln aus dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« bekannt, von dem vorläufig 1700 Seiten erschienen sind. Mit Geist und sublimem Humor, voll geruhsamer Nachdenklichkeit, führte Musil in das epische Riesengewächs ein, das vom Standpunkt des abgeklärten Betrachters aus die Inkonsequenz und Unvollkommenheit des Lebens aufdeckt und zugleich ein ironisch-zärtliches Porträt der absterbenden Donaumonarchie, sowie ihrer kränkelnden Gesellschaftsschichten bietet. Man lernte den Autor neuerdings als charakterfesten Demokraten kennen. Sodann las Musil einen ungedruckten Abschnitt aus dem zweiten Teilband des »Mann ohne Eigenschaften« vor, der – ungefähr 350 Seiten stark – noch diesen Herbst bei Bermann-Fischer erscheinen wird. Man hörte das amüsant moralisierende Gespräch zwischen einem Vater und Sohn über den Luxus, formal so sicher, klug und mit kleinen Finessen gestaltet, wie man es von diesem selbstkritischen Autor gewöhnt ist. C. S. [i. e. Carl Seelig]
VII. Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 1939 (Nr. 364), Rubrik: Kleine Chronik Vorlesung Musil. D. W. Die Vorlesung von Robert Musil im Lyzeumklub steht in schöner Erinnerung. Der Autor trug einige Kapitel aus dem ersten und dem noch ungedruckten dritten Band des »Mann ohne Eigenschaften« vor und zwei Stücke aus dem »Nachlaß zu Lebzeiten«, nämlich das bekannte immer wieder packende »Fliegenpapier« und den witzigen Essay über Denkmäler. Man fühlte sich in einer Atmosphäre, die an einen Kammermusikabend erinnern mochte, war sie doch voll intimen Reizes, voller Geist und spritziger Ironie. Aber in jenem Geist und dem stolzen Spott paart sich als seltene Vereinigung tiefe Menschlichkeit, eine Weltweite und eine umfassende Kenntnis.
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Der Kunstfreund hörte mit Entzücken zu; jeder Satz ist gesammelt in seiner Prägung. Die Phantasie der Anschauung kam so recht zum Ausdruck, wie Musil den alltäglich für Vater und Sohn gedeckten Mittagstisch schilderte.
Gregor Streim
»ob Exilant oder nicht«? Robert Musils ambivalentes Verhältnis zur literarischen Emigration Abstract: After 1933, Robert Musil attempted to extract himself as long as possible from tendencies of politicization within the literary field. Until Austria’s annexation by the German Reich in 1938, and even afterwards, he avoided to show his solidarity with literary emigrants and even disliked being connected with them. This article traces the reasons for Musil’s reserved attitude towards emigration and particularly highlights the conditions which politicized the literary marketplace in the Austrian »corporative state« (»Ständestaat«).
Die Literatur zwischen 1933 und 1945 wird von der Literaturgeschichtsschreibung bis heute nach einem probaten Schematismus klassifiziert: auf der einen Seite die Exilliteratur und auf der anderen Seite die ›nicht-emigrierte‹ Literatur. Wie jede Klassifikation hat auch diese ihre Unschärfe und blinden Flecken. Zum einen, weil das Kriterium der Emigration nicht so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Zum anderen orientiert sich das skizzierte Schema vor allem an ›reichsdeutschen‹ Autoren und blendet die deutschsprachige Literatur in der Schweiz und in Österreich tendenziell aus, für die sich die Frage von Emigration oder Nicht-Emigration nicht bzw. bis 1938 nicht in gleicher Dringlichkeit stellte. Autoren wie Hermann Hesse, Ödön von Horváth oder auch Robert Musil lassen sich offensichtlich unter keiner der genannten Kategorien subsummieren. Allerdings waren auch sie von der nationalsozialistischen Literaturpolitik betroffen. Denn diese zwang nicht nur einzelne Personen zur Emigration, sondern sie führte zu einer Politisierung und Spaltung des gesamten literarischen Feldes. Auch deutschsprachige Autoren außerhalb des Deutschen Reiches gerieten dadurch unter Druck, sich politisch zu positionieren. Und das betraf auch und gerade die Haltung zur literarischen Emigration. Robert Musil hat sich dem mit der Politisierung des literarischen Feldes einhergehenden Bekenntnis- und Zuordnungszwang bekanntlich so lange wie möglich zu entziehen versucht. Sorgfältig darauf bedacht, jede Äußerung und Handlung zu vermeiden, die als politische Parteinahme hätte ausgelegt werden können, bewahrte er bis 1938 eine Äquidistanz sowohl gegenüber dem klerikal-konservativen Kulturbetrieb im Ständestaat als auch gegenüber
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den publizistischen und organisatorischen Unternehmungen der literarischen Emigration. Er selbst hat dieses Verhalten mit seinem auktorialen Rollenverständnis begründet, das er mit dem Begriff der ›Exterritorialität‹ umschrieb: »Exterritorialität des geistigen Menschen, ist der richtige Term in dieser Blut-, Boden-, Rasse-[,] Masse-, Führer- und Heimatzeit«, notiert er 1938 im Tagebuch (Tb I, S. 905). Die Verteidigung der Autonomie des Geistes gegen die Indienstnahme durch die Politik durchzieht Musils sämtliche Äußerungen aus dieser Zeit, insbesondere den Entwurf zu dem geplanten Essay Bedenken eines Langsamen aus dem Jahr 1933 und seine beiden Reden von 1934 und 1935, Der Dichter in dieser Zeit und die Rede auf dem Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur.1 Im Folgenden sollen weniger Musils auktoriales Selbstverständnis und die Konzeption des Verhältnisses von Politik und Kultur diskutiert werden, mit der er seine politische Abstinenz theoretisch untermauerte.2 Vielmehr wird der kultur- und diskurspolitische Kontext in den Blick genommen, in dem er in den 30er Jahren agierte. Es geht, anders gesagt, um eine literatursoziologische Vermessung von Musils ›Exterritorialität‹. Dabei wird sich zeigen, dass seine ambivalente Haltung gegenüber der literarischen Emigration zwischen 1933 und 1938 nicht allein theoretischen Überlegungen entsprang, sondern auch durch die Zwänge des politisierten literarischen Marktes und daraus resultierende pragmatische Erwägungen bestimmt war. Dazu ist es nötig, zunächst kurz auf die Mechanismen der literaturpolitischen Regulierung im NS-Staat und ihre Auswirkungen auf das deutschsprachige Ausland einzugehen. Musil, der die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin miterlebt hatte, reflektierte deren möglichen Einfluss auf seine eigene Situation bereits in einem Brief vom Juni 1933. Dort heißt es: Als Einzelner bin ich bisher von den Ereignissen verschont geblieben; aber ob Exilant oder nicht, wenn die Verhältnisse so bleiben, wie sie jetzt noch sind, wird es keine Möglichkeit geben, dass ich mich im neuen Deutschland am Leben erhalte. Es ist mir schon im alten schwer genug gefallen, denn trotz allen Kulturgetues war Deutschland immer richtungslos und ganz merkantil. (Br I, S. 574)
Die Bemerkung ist hellsichtig, wenn man bedenkt, dass der Autor fünf Jahre später tatsächlich jede Publikations- und Verdienstmöglichkeit im Deutschen Reich – inklusive der ›Ostmark‹ – verlor und seine Werke auf den Index 1
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Vgl. dazu Klaus Amann: Bedenken eines Langsamen – Robert Musil und das Jahr 1933, in: Annette Daigger, Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern u. a. 2008 (= Musiliana, Bd. 14), S. 339–359. Vgl. dazu v. a. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 7–166; Norbert Christian Wolf: Geist und Macht. Musil als Intellektueller auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2006), S. 383–436.
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des ›unerwünschten Schrifttums‹ gesetzt wurden.3 Allerdings, und in diesem Licht erscheint die Bemerkung eher verharmlosend, machte es nach 1933 doch einen großen Unterschied, ob man Exilant war oder nicht. Denn Exilanten – sofern sie öffentlich als solche auftraten und wahrgenommen wurden – war der Zugang zum deutschen Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsmarkt versperrt. Die nationalsozialistische Kulturpolitik verlangte allen Künstlern und Schriftstellern ein Loyalitätsbekenntnis zum neuen Staat ab und schloss konsequent diejenigen aus der ›deutschen Kultur‹ aus, die dieses Bekenntnis verweigerten oder den kulturellen Alleinvertretungsanspruch des NS-Staates bestritten – so wie die Vertreter der literarischen Emigration, die mit dem Anspruch auftraten, die ›wahre‹, die humanistisch geprägte deutsche Kultur zu repräsentieren. In dieser Konstellation wurde die Frage, wo man publizierte, notwendigerweise zu einer politischen Entscheidung. Und das galt auch für die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs lebenden Schriftsteller, die zwar nicht zum Eintritt in die Reichsschrifttumskammer verpflichtet waren, aber doch vom deutschen Buchmarkt abhingen. Das zeigte sich erstmals deutlich bei der bekannten Affäre um die von Klaus Mann gegründete Exilzeitschrift Die Sammlung. Auf der Liste der künftigen Mitarbeiter, mit der 1933 in einem Prospekt für die Zeitschrift geworben wurde, standen auch die Namen einiger Autoren, die keine Emigranten waren bzw. nicht als solche galten. Neben Thomas Mann, René Schickele und Stefan Zweig gehörte auch Robert Musil dazu.4 Kurz darauf (am 10. Oktober 1933) erschien dann im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine offizielle ›Warnung vor literarischen Emigrantenzeitschriften‹. Sie enthielt den Hinweis, dass diejenigen, die Bücher von Schriftstellern kauften, »die draußen im Ausland Deutschland aufs schmählichste beschmutzen«, sich »des geistigen Landesverrats schuldig« machten.5 Das gleiche galt für Verleger und Buchhändler, die solche Bücher druckten und vertrieben.6 Diese unverhüllte Drohung führte bekanntlich dazu, dass die genannten Autoren ihre Mitarbeit an der Sammlung auf Drängen ihrer deutschen Verleger wider3
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Die Titel von Musils Büchern finden sich auf einer in den Akten zur Liquidation des BermannFischer Verlags Anfang 1939 erhaltenen Liste von Werken, die als unerwünscht vom Vertrieb in Deutschland ausgeschlossen wurden. Vgl. Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. 1: Geschichte des österreichischen Verlagslebens. Wien u. a. 1985 (= Literatur und Leben. N. F., Bd. 28/1), S. 98. Vgl. Uwe Naumann (Hg.): »Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß«. Klaus Mann (1906–1949). Bilder und Dokumente. Reinbek b. Hamburg 2001, S. 154. Literarische Emigrantenzeitschriften. Mitteilung der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, in: Klaus Schröter (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891– 1955. Frankfurt a. M. 2 2000, S. 206–208, hier S. 206 f. Vgl. Literarische Emigrantenzeitschriften (s. Anm. 5): »Es müßte für jeden deutschen Verleger eine Selbstverständlichkeit sein, daß er keine Bücher verlegt von Autoren, die sich zur Mitarbeit an den charakterisierten Zeitschriften bekennen. Es müßte für den deutschen Buchhändler eine Selbstverständlichkeit sein, daß er keine Bücher verbreitet von Autoren, die im Ausland geistige Kriegshetze gegen Deutschland betreiben.«
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riefen. Auch Musil schrieb Klaus Mann nach der Intervention seines Verlegers Ernst Rowohlt, er sehe sich »leider zu dem Verlangen gezwungen, aus der Liste Ihrer Mitarbeiter gestrichen zu werden« (Br I, S. 585). Der Vorfall illustriert, dass die Zuordnung oder Nicht-Zuordnung zur Emigration entscheidend von der Wahl des Publikationsortes und Publikationsorgans abhängig war. Die Mitarbeit an einer Emigrantenzeitschrift – und genauso an einem Emigrantenverlag – wurde als politische Stellungnahme gewertet und von Seite des nationalsozialistischen Deutschland zum Kriterium für den Ausschluss aus der ›deutschen Literatur‹ gemacht. Umgekehrt wirkte aber auch die Rücknahme der Mitarbeit an der Zeitschrift als politisches Signal. Diese Erfahrung musste Thomas Mann machen, den seine politische Zurückhaltung zunehmend in Konflikt mit den Emigranten brachte. Erst Eduard Korrodis polemischer und antisemitisch gefärbter Zeitungsartikel über die Emigrationsliteratur, die angeblich »nicht einen Dichter«, sondern ausschließlich die (›jüdische‹) »Romanindustrie« umfasse, bewog Mann 1936 bekanntlich dazu, sich öffentlich zur Emigration zu bekennen – was dann seine Ausbürgerung zur Folge hatte.7 Ähnlich erging es dem Österreicher Stefan Zweig. Aus Rücksicht auf seinen deutschen Verlag, den Insel-Verlag, vermied Zweig zunächst jeden öffentlichen Kontakt mit der Emigration und überhaupt jede Äußerung im Ausland. Erst als der Verleger Anton Kippenberg von sich aus zögerte, Zweigs Erasmus-Buch in Deutschland herauszubringen, wechselte er den Verlag.8 Allerdings ging er nicht, wie ihm sein Freund Joseph Roth geraten hatte, zu Querido oder Allert de Lange in Amsterdam – also zu einem Emigrantenverlag –, sondern zu Herbert Reichner in Wien. Nur dadurch war es ihm möglich, seine Bücher auch nach seiner Emigration aus dem Ständestaat zunächst weiter in Deutschland zu vertreiben – bis 1936 dann sein gesamtes Werk auf den Index gesetzt wurde. Der Seitenblick auf Thomas Mann und Stefan Zweig ist aufschlussreich, weil er zeigt, dass sich die Konfliktlage reichsdeutscher und österreichischer Autoren ähnelte. Er ist aber auch deshalb erhellend, weil die beiden Autoren – obwohl von Musil wenig geschätzt – ein ähnliches Rollenverständnis hatten wie er selbst. Auch sie sahen sich als Repräsentanten einer unpolitischen Literatur und versuchten eine relative geistige Autonomie durch strikte politische Neutralität zu behaupten. Anders als Musil konnten Mann und Zweig diese Strategie jedoch nicht lange durchhalten, was nicht zuletzt an ihrer größeren Prominenz gelegen haben dürfte. (Umgekehrt könnte man sagen: Nur wegen 7
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Eduard Korrodi: Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel, in: Neue Zürcher Zeitung, 26. 1. 1936. Hier zit. nach: Schröter (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit (s. Anm. 5), S. 266 f., hier S. 267. Vgl. Heinz Sarkowski, Wolfgang Jeske: Der Insel Verlag 1899–1999. Die Geschichte des Verlags. Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 315 f.; Susanne Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent. Die Beziehungen zu seinen deutschsprachigen Verlegern (1901–1942). Frankfurt a. M. 1998 (= Archiv für Geschichte des Buchwesens. Studien, Bd. 1), S. 239 f.
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seiner relativ geringen öffentlichen Beachtung konnte ein ›Intellektualist‹ wie Musil im NS-Staat so lange unbehelligt bleiben.) Sowohl Thomas Mann als auch Stefan Zweig machten jedenfalls schon bald die Erfahrung, dass die Neutralität eines bekannten Schriftstellers in einer Zeit umfassender Politisierung selbst als politisches Zeichen gedeutet und das Schweigen als Parteinahme aufgefasst wurde – und wohl auch aufgefasst werden musste, wenn man bedenkt, dass ihre Absage an die Sammlung von der ›Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums‹ offiziell bekannt gemacht, also propagandistisch verwertet wurde.9 Das heißt, im Fall von Thomas Mann und Stefan Zweig wurde die auktoriale Reputation durch die zunächst behauptete ›geistige Exterritorialität‹ – entgegen der eigenen Intention – nicht bewahrt, sondern gefährdet. Und dies umso mehr, als beide Autoren sich dem Verdacht aussetzten, dass ihre Zurückhaltung durch ein materielles Interesse, nämlich den Erhalt des Zugangs zum deutschen Buchmarkt motiviert sei. Joseph Roth, der zwar jede parteipolitische Zuordnung ablehnte, sich aber eindeutig auf die Seite der literarischen Emigration gestellt hatte, hat seinen Freund Zweig übrigens genau davor gewarnt und ihn deshalb schon Ende 1933 zum Wechsel zu einem Exilverlag aufgefordert: »Sie sind in Gefahr, den moralischen Kredit der Welt zu verlieren und im Dritten Reich nichts zu gewinnen.«10 Damit ist in groben Zügen das literaturpolitische Kräftefeld umrissen, in dem Musil in den 30er Jahren agierte. Seine öffentlichen Äußerungen und sein Verhalten gegenüber der Emigration sind durchgängig von der Ambivalenz bestimmt, sich einerseits den Zugang zum deutschen Buchmarkt zu erhalten und andererseits den Eindruck zu vermeiden, seine politische Abstinenz sei Zeichen einer Anpassung oder gar einer Billigung der neuen Verhältnisse. Das zeigt sich bereits an seiner Kommentierung der Sammlungs-Affäre. In dem wichtigen Brief an seinen Mäzen Klaus Pinkus vom 21. Oktober 1933 erklärte er, er habe »trotz innere[r] Vorbehalte zu dieser Zeitschrift« an ihr mitarbeiten wollen, »um endlich einmal wenigstens durch etwas ein Lebenszeichen der Nichtgleichgeschaltetheit zu geben« (Br I, S. 587). Offensichtlich empfand Musil also durchaus die Notwendigkeit einer öffentlichen Distanzierung vom NS-Staat. Dass er dann doch davon Abstand nahm, begründete 9
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In der Mitteilung werden die Rückzugserklärungen von Thomas Mann, René Schickele und Alfred Döblin zitiert und am Ende folgendermaßen kommentiert: »Aus diesen Erklärungen geht hervor, daß die genannten Autoren über den Charakter der Zeitschrift getäuscht worden sind und jede Gemeinschaft mit ihr ablehnen. Darüber hinaus haben sie mehrfach öffentlich erklärt, daß sie sich jeder politischen Äußerung im Auslande enthalten werden. Da die Voraussetzungen, die zu einer solchen berechtigt scharfen Stellungnahme seitens der Reichsstelle führten, sich als hinfällig erwiesen, können wir den Vorwurf des geistigen Landesverrats nicht mehr aufrechterhalten.« (Erklärung der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 18. 10. 1933) Joseph Roth an Stefan Zweig, 7. 11. 1933, in: Joseph Roth, Stefan Zweig: »Jede Freundschaft mit mir ist verderblich.« Briefwechsel 1927–1938. Hg. v. Madeleine Rietra u. Rainer Joachim Siegel. Mit einem Nachwort v. Heinz Lunzer. Göttingen 2011, S. 127.
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er zum einen mit der deutschen Boykottdrohung, zum anderen aber auch mit der Schwäche der Emigration. Der Hauptgrund seines Rückzugs sei gewesen, schreibt er, daß ich nicht den Mut hatte, unabsehbare Ungewißheiten auf mich zu nehmen, für eine Sache, die schon keinen repräsentativen Wert mehr in dem Augenblick hatte, wo sie von wichtigen Leuten verlassen war. [. . .] Die literarische Opposition ist [. . .] schlecht organisiert und dadurch im vorhinein entmutigt und demoralisiert worden, sie bietet keine Möglichkeit zu wirken, sie bietet keine zu leben [. . .], sie wird von zweifelhaften Leuten geführt, und die Stimme der Vernunft drängt dahin, daß man sich für ein solches Gefecht nicht totschlagen läßt. (Br I, S. 589)
Diese Begründung ist typisch für Musils forciert ›sachliche‹ Betrachtung der politischen Dinge.11 Sie lässt erkennen, dass er eine oppositionelle Positionierung für sich nicht prinzipiell ausschloss, diese jedoch in Relation zu dem persönlichen Nutzen oder Schaden, der sich daraus ergeben konnte, betrachtete. Dafür spricht auch der Fortgang des Briefes, in dem es vornehmlich um Finanzielles geht. Nämlich zum einen um die Transferierung einer von Pinkus bereitgestellten Geldsumme über einen Dritten, »was im Fall einer gegen mich losgebrochenen Hetze natürlich kaum zu tun wäre« (Br I, S. 589). Und zum anderen um die Verbesserung des Verhältnisses zu seinem deutschen Verleger Rowohlt, dem er in der Sammlungs-Angelegenheit entgegengekommen war. Tatsächlich warb dieser kurz darauf noch einmal im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel mit einer Anzeige für die ersten beiden Bände von Musils Roman, die deutliche Zugeständnisse an den Diskurs der ›nationalen Revolution‹ machte: Es handle sich um »eins der männlichsten, [. . .] geistigsten, [. . .] gewalttätigsten, revolutionärsten Bücher, die je geschrieben worden sind«, und eine »große Kritik des Geistes der Demokratie«.12 Eine offene Werbung für das Buch war im NS-Staate offenbar nur für den Preis einer missverständlichen politischen Interpretation möglich, da der Autor nationalsozialistischen Kritikern als ›Intellektualist‹ verdächtig war.13 Dass Musil durchaus die Gefahr sah, durch den Verbleib bei einem deutschen Verlag seinen ›moralischen Kredit‹ zu verspielen, belegt sein Brief an Thomas Mann vom 26. September 1934: 11
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Musil hat seine Haltung im Tagebuchheft 34 Anfang 1938 für sich selbst als »Sachlichkeit als Teilnahmelosigkeit« bestimmt (Tb I, S. 903). Vgl. dazu Amann: Bedenken eines Langsamen (s. Anm. 1), bes. S. 341 f. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 12. 10. 1933. Vgl. dazu auch Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1912. Der gleiche Anzeigentext findet sich noch einmal in der Ausgabe des Börsenblatts vom 29. 10. 1933. Das macht etwa die polemische Reaktion im SS-Blatt Das schwarze Korps auf die lobende Rezension des Mann ohne Eigenschaften, die Adolf Frisé 1935 in der Tat publiziert hatte, deutlich. Musils Roman wurde im Schwarzen Korps als »überintellektuelle[r] Wälzer« bezeichnet (zit. nach: Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 424).
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Ich habe ursprünglich wegen meiner sehr prekären Lage auf jeden anderen Protest als den des Schweigens und der Abstinenz verzichten müssen, aber mit der Zeit und angesichts der Entwicklung innen und außen bin ich auch zu der Auffassung gekommen, die Sie, wenn ich nicht irre, einmal ähnlich ausgesprochen haben, daß man mehr nütze, wenn man sich nicht radikal absondere. (Br I, S. 623 f.)
Der Wunsch, sich nicht vollkommen abzusondern und doch einmal ein Zeichen der ›Nichtgleichgeschaltetheit‹ zu geben, dürfte Musil wohl auch dazu bewogen haben, im Juni 1935 am ›Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur‹ in Paris teilzunehmen. Gerade bei dieser einzigen Veranstaltung der Opposition, an der Musil sich beteiligte, trat sein ambivalentes Verhältnis zur Emigration jedoch besonders klar zutage. Genau betrachtet, war sein Auftritt selbst ein ambivalentes Zeichen. Denn einerseits kam bereits die Teilnahme einer politischen Stellungnahme gleich. Schließlich handelte es sich bei dem Kongress um die größte gemeinsame Kundgebung antifaschistischer Intellektueller nach 1933 mit einem klar politisch-propagandistischen Charakter.14 Zugleich bildete er den Höhepunkt der Formierung der deutschen ›literarischen Emigration‹, die sich hier im Zeichen des Volksfrontgedankens als politisch-moralische Einheit präsentierte – bevor sie bald darauf unter dem Eindruck des stalinistischen Terrors in verschiedene Lager und einzelne Personen zerfiel. Unter den deutschsprachigen Autoren war Musil neben dem Tschechen Max Brod der einzige Nicht-Exilant, der am Kongress teilnahm. Sein Auftritt hätte so gesehen als Solidarisierung eines in Österreich lebenden Schriftstellers mit dem Exil wirken können. Andererseits tat er aber alles, um den Eindruck einer Zuordnung zur literarischen Emigration zu verhindern. Die politische Signalwirkung, die von seinem Auftritt hätte ausgehen können, wurde von ihm dadurch konterkariert, dass er in seiner Rede auf jede politische Aussage verzichtete – ja mehr noch, dass er seine prinzipiellen Zweifel an einem politischen Auftrag des Schriftstellers artikulierte: Das Argument, dass die Politik »jeden für sich anfordere, weil sie etwas sei, das jeden angehe«, könne er nicht verstehen, erklärte er.15 Zwar berührte sich Musils Idee vom Primat des Geistes durchaus mit der elitären und individualistischen Position linksbürgerlicher Emigranten wie Heinrich Mann. Im Unterschied zu diesen lehnte er eine Einmischung des Geistes in die Politik – Heinrich Manns Idee einer ›intellektuellen Politik‹ – aber grundsätzlich ab.16 Zudem bestritt er die enge Verknüpfung von Kultur und Demokratie, die zu den optimistischen Axiomen der linksbürgerlichen Intelligenz gehörte. 14
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Die Redebeiträge sind gesammelt in: Paris 1935. Erster Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Einleitung und Anhang v. Wolfgang Klein. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Berlin 1982. Robert Musil: Rede auf dem ›Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur‹ in Paris, in: Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (s. Anm. 2), S. 271–275, hier S. 271. Vgl. dazu Wolf: Geist und Macht (s. Anm. 2), S. 430 ff.
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Wie Klaus Amann, Michael Rohrwasser und Norbert Christian Wolf in ihren differenzierten Studien gezeigt haben, kann man Musil nicht den Vorwurf der Feigheit oder der Blindheit gegenüber den wahren Problemen der Zeit machen, wie es einige kommunistische Exilanten damals taten.17 Seine in Paris vorgetragenen Ausführungen zur politischen und historischen Indifferenz der Kultur decken sich mit seinen sonstigen Äußerungen und mit seinem Verständnis von der Rolle des Schriftstellers als distanzierter Beobachter.18 Seine Rede lässt sich so gesehen als Konsequenz und Explikation seiner Konzeption der ›geistigen Exterritorialität‹ lesen. Der zufolge schließt die Überzeitlichkeit und Internationalität des Geistes jede nationale oder politische Zuordnung der Literatur notwendig aus. Gleichwohl bleibt es verwunderlich, dass ein so scharfsichtiger Beobachter wie Musil, der die Einwirkung politischer Kräfte auf die Äußerungen anderer Autoren genau zu analysieren verstand, seine eigene Rolle bei der Veranstaltung und die Wirkung seines Auftritts so wenig zu reflektieren vermochte. Schließlich war es für alle anderen Beteiligten klar ersichtlich, dass der Kongress kein Forum theoretischer Grundsatzdebatten war, sondern eine politische Demonstration. In einem Brief an Bernard Guillemin schrieb Musil nachher, er habe seine »Gastgeber enttäuschen [. . .] müssen«, weil er die Einladung zu dem Kongress angenommen habe, ohne sich »der daraus resultierenden Erwartungen bewußt zu sein« (Br I, S. 655). Ob Musil tatsächlich aus politischer Naivität handelte oder sich vielleicht auch »naiver gestellt hat, als er tatsächlich gewesen ist«, wie Norbert Christian Wolf vermutet,19 auf jeden Fall musste seine Absage an die Politik im Rahmen einer politischen Kundgebung nicht nur auf die kommunistischen Teilnehmer irritierend wirken.20 Zumal er dabei jeden Anschein einer Solida17
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Vgl. Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (s. Anm. 2), S. 98–120; Michael Rohrwasser: Robert Musil auf dem Pariser Schriftstellerkongress (1935), in: Marek Zybura (Hg.): Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des »kurzen Jahrhunderts« 1914–1991. Dresden 2002 (= Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur, Bd. 9), S. 227–240; Wolf: Geist und Macht (s. Anm. 2). Vgl. Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (s. Anm. 2), S. 130. Vgl. Wolf: Geist und Macht (s. Anm. 2), S. 408. Der demonstrativ unpolitische Charakter von Musils Rede lässt sich m. E. auch nicht damit erklären, dass er versucht habe, sich dem Zwang zu einem politischen Bekenntnis zum Kommunismus bzw. zur Sowjetunion zu entziehen. Dass es einen solchen Zwang nicht gegeben hat, belegen die Reden bekannter linksbürgerlicher Autoren wie Romain Rolland, Aldous Huxley, Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger, die zwar eine politisch-moralische Verantwortung des Schriftstellers einforderten, die Unterwerfung der Literatur unter die Politik bzw. unter eine politische Partei aber ablehnten. Heinrich Mann etwa, der Kopf der organisierten literarischen Emigration, artikulierte in seiner Rede ein zutiefst bürgerliches Verständnis der ›Freiheit des Denkens‹, wobei er sich auf die Tradition der europäischen Aufklärung und die Werte der ›westlichen Zivilisation‹ berief. Statt einer parteipolitischen Funktionalisierung der Literatur verfocht er die geistesaristokratische Idee des Intellektuellen als Führer, also den Primat des Geistes gegenüber der Politik. Tatsächlich repräsentierten die Beiträge des Kongresses – der Volksfrontideologie entsprechend – ein breites, vom bürgerlichen bis ins kommunistische Lager reichendes Spektrum von Meinungen, dessen gemeinsamer Nenner der Protest gegen die
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rität mit der Emigration sorgfältig vermied. Die Begriffe Exil und Emigration tauchen in seiner Rede gar nicht auf. Ebenso wenig reflektiert er seine eigene eigentümliche Sonderstellung im politisch-literarischen Kräftefeld jener Zeit. Tatsächlich war seine Behauptung auktorialer Autonomie bzw. seine Artikulation der ›geistigen Exterritorialität‹ ja entscheidend von äußeren Faktoren, nämlich von seiner besonderen Positionierung innerhalb des politisierten kulturellen Systems determiniert: Nur weil Musil österreichischer Staatsbürger war und zugleich auf eine Solidarisierung mit der Emigration verzichtete, konnte er auf dem Pariser Kongress auftreten, ohne vom NS-Staat automatisch aus der ›deutschen Literatur‹ ausgeschlossen zu werden und den Zugang zum deutschen Markt zu verlieren. Er selbst blendet die politisch-territoriale Spaltung des literarischen Systems und die Einschränkungen und Zwänge, die sich daraus für sein eigenes Handeln, Sprechen und Schreiben ergeben, in seinen theoretischen Überlegungen allerdings weitgehend aus bzw. behandelt diese als ein sekundäres, den Kern seiner Autorschaft nicht berührendes Phänomen. Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass Musils Verhalten gegenüber der Emigration weniger von grundsätzlich-theoretischen als von pragmatischen Erwägungen bestimmt war. Dabei orientierte er sich an dem vorrangigen, um nicht zu sagen: einzigen, Ziel der Sicherung seiner schriftstellerischen Existenz bzw. der Vollendung des Mann ohne Eigenschaften. Seine brieflichen Äußerungen aus dieser Zeit zeugen von einer aus heutiger Sicht erstaunlichen Indifferenz gegenüber der Frage, in welchem literarischen oder politischen System er schreiben sollte. Entscheidend war für ihn, dass die Arbeit selbst gesichert war. So schloss er den Wechsel zu einem Emigrationsverlag – und damit den Wechsel des literarischen Systems – für sich nicht prinzipiell aus. Als sein Mäzen Klaus Pinkus 1934 einen Verlagswechsel von Rowohlt zu Querido oder de Lange vermitteln wollte, lehnte er das aus pragmatischen Gründen, aber auch aufgrund persönlicher Ressentiments ab.21 An Pinkus schrieb er, dass die emigrierten Lektoren, insbesondere Fritz Landshoff, wohl »nicht sehr viel Wert« auf seine Mitarbeit legen würden (Br I, S. 620). Etwas
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Aufhebung der Meinungsfreiheit in Nazi-Deutschland war. Ein solcher Protest hätte auch ohne das Bekenntnis zu einer bestimmten Partei oder einer politischen Ideologie formuliert werden können. Wie neuere Forschungen zeigen, kann der Kongress auch nicht als eine von Moskau initiierte Propagandaveranstaltung verstanden werden. Die Initiative ging vielmehr von einzelnen Autoren – zunächst von Henri Barbusse und dann von Johannes R. Becher und dem ›Schutzverband deutscher Schriftsteller‹ aus –, während die sowjetische Seite lange Bedenken gegenüber einer solchen Kundgebung hatte. Vgl. Wolfgang Klein: Als der Apparat nicht funktionierte. Geschichte der Vorbereitung des Pariser Schriftstellerkongresses 1935, in: Wolfgang Asholt, Rüdiger Reinecke, Erhard Schütz, Hendrik Weber (Hg.): Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders zum 60. Geburtstag. Bielefeld 2004, S. 17–57; Wolf: Geist und Macht (s. Anm. 2), S. 391 f. Auch der Nachlaß zu Lebzeiten erschien 1936 nicht in einem Exilverlag, sondern im neutralen Ausland, nämlich im Zürcher Humanitas-Verlag. Zu den Reaktionen darauf vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1217–1219.
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anders begründete er seine Absage an Querido gegenüber Thomas Mann, der sich dort ebenfalls für ihn eingesetzt hatte: Ich glaube übrigens, daß auch die schwierige Stellung, die man den sogenannten »Emigrantenverlagen« in Deutschland bereitet hat und an der ich wohl teilnehmen müßte, nur durch eine sehr verläßliche Harmonie aufgewogen werden kann. (Br I, S. 623)
Dem Bedürfnis, ein Zeichen der ›Nichtgleichgeschaltetheit‹ zu geben, stand die Angst entgegen, in die kulturpolitischen und publizistischen Auseinandersetzungen der Zeit verwickelt zu werden und dadurch die eigene Arbeitsfähigkeit zu verlieren. Aus diesem Grund vermied Musil jede Handlung, die seinen Namen öffentlich in Zusammenhang mit der Emigration bringen konnte, selbst wenn es sich um eher konservative bürgerliche Autoren und Organisationen handelte. So lehnte er 1936 Thomas Manns Bitte, einen Aufruf zur Unterstützung emigrierter Schriftsteller zu unterzeichnen, mit der Bemerkung ab, es sei ihm »im Moment völlig unmöglich, den Aufruf zu unterschreiben«, er wolle aber mit Mann bei dessen nächstem WienBesuch darüber und über die Möglichkeit sprechen, »daß ich aus der mir aufgezwungenen Zurückhaltung heraustrete« (Br I, S. 757 f.).22 Und ebenso wies er 1937 die ihm angetragene Mitgliedschaft im europäischen Senat der (mit der ›American Guild for German Cultural Freedom‹ verbundenen) ›Deutschen Akademie‹ im Exil zurück.23 Dieser Rückzug stand im Zusammenhang mit den von Musil zu dieser Zeit geführten Verlagsverhandlungen mit Gottfried Bermann Fischer, bei dem er den letzten Teil seines Romans zu veröffentlichen hoffte, nachdem Rowohlt dazu offenbar nicht mehr in der Lage war.24 Bermann hatte sich 1936 Wien als Sitz des Bermann-Fischer Verlags gewählt, um seine Bücher von da aus weiter auch im Deutschen Reich vertreiben zu können.25 Dies war jedoch nur möglich, wenn die betreffenden Autoren dort keinen politischen Anstoß erregten – etwa durch die Mitarbeit in einer Exilorganisation. Es war wohl vor allem die Hoffnung auf diese Publikationsmöglichkeit, die Musils Absage an die ›Deutsche Akademie‹ motivierte, 22
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Nach seiner Ausreise aus Österreich bemühte Musil sich dann selbst bei Thomas Mann um eine Unterstützung durch die ›American Guild for Cultural Freedom‹. Thomas Mann setzte sich daraufhin für ihn ein, zunächst erfolglos, da der Guild zu diesem Zeitpunkt das Geld fehlte. Im März 1939 gewährte diese ihm aber auf Antrag von Hubertus Prinz zu Löwenstein tatsächlich ein sechsmonatiges Stipendium. Im September 1940 wurde Thomas Mann dann auf eine dringende Bitte Musils hin nochmals bei der Guild vorstellig. Vgl. auch den Kommentar in Tb II, S. 754 f.; Deutsche Intellektuelle im Exil. Ihre Akademie und die »American Guild for German Cultural Freedom«. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 330–334. Musil wurde am 15. 1. 1937 auf Vorschlag Richard A. Bermanns in den Senat der ›Deutschen Akademie‹ in New York gewählt, und sein Name findet sich im April 1937 in der Liste der Mitglieder des ›European Council‹. Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1238. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1238–1244. Zur Verlagsgründung in Wien und zur Verlagspolitik vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte. Bd. 1 (s. Anm. 3), S. 327–336.
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und nicht seine grundsätzliche Skepsis gegenüber Exilorganisationen.26 Die für sein Schreiben notwendige ›verläßliche Harmonie‹ glaubte er Mitte der 30er Jahre noch eher im Ständestaat als im Exil zu finden,27 wofür er Zugeständnisse – wie den Eintritt in die ›Vaterländische Front‹ im Jahr 1936 – zu machen bereit war.28 Wie wichtig die Sicherung der eigenen Arbeitsfähigkeit und damit die Verlagsfrage für Musil war, wird auch daran erkennbar, dass er seine strategische Neutralität selbst nach dem ›Anschluss‹ kurze Zeit weiter aufrechterhielt. So wartete er noch Mitte 1938 mit einer Ausreise, da weiterhin unklar war, welcher Verlag sich bereitfinden würde, den geplanten zweiten Teil des zweiten Bandes des Mann ohne Eigenschaften herauszubringen.29 Während andere, wie Gottfried Bermann und Thomas Mann, klar erkannten, dass eine literarische Existenz Musils im NS-Staat ausgeschlossen und eine Emigration für ihn unumgänglich sein würde,30 zögerte er selbst diese mit Blick auf die unge26
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Richard A. Bermann äußerte sich über Musils Ablehnung in einem Brief an Hubertus Prinz zu Löwenstein vom 20. 5. 1937 verständnisvoll und legte dabei zugleich die Gründe von Musils Verhalten offen: »Was den großen Schriftsteller betrifft, über den wir korrespondieren: unsere Organisation ist dazu da, die Produktion deutscher Bücher zu fördern, nicht ihr zu schaden. Als ich in New York den Namen des Mannes nannte, wusste ich nicht, was er unterdessen, ungefähr, Thomas Mann gesagt hat: dass er jetzt – vielleicht – einen Verleger für sein Lebenswerk finden kann, aber nicht, wenn er in Deutschland direkt verfemt und verboten würde. Es ist ja traurig, dass wir solche Rücksichten üben müssen, aber schaffen wir zuerst selber Verlagsmöglichkeiten für gute Bücher, ehe wir den armen, bedrängten Autoren Vorwürfe machen!« (Zit. nach: Deutsche Intellektuelle im Exil [s. Anm. 22], S. 329 f.) Zwar gab es im autoritären Ständestaat-Regime keine systematischen ›Säuberungen‹ der Literatur, wie in Nazi-Deutschland, dennoch war der kulturelle Sektor dort schon vor dem ›Anschluss‹ von repressiven und dirigistischen Maßnahmen betroffen, die die Meinungsfreiheit massiv einschränkten und das kommunikative System grundlegend veränderten. Vgl. dazu Klaus Amann, Albert Berger (Hg.): Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse – Institutionelle Voraussetzungen – Fallstudien. Wien u. a. 1985; Klaus Amann: Mark und Gesinnung. Über einige Besonderheiten des literarischen Lebens in Österreich zwischen 1933 und 1938, in: ders.: Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918. Wien 1992, S. 74–93. Dafür spricht auch sein Schreiben an den österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg vom 21. 11. 1936, in dem er unter Hinweis auf sein dichterisches Verdienst und seine ausschließliche Beschäftigung mit geistigen Dingen um die Gewährung einer staatlichen Rente bat. Musil begründete seine – erfolglos bleibende – Bitte u. a. damit, dass er sich, so lange er schreibe, stets nur um die hohe Aufgabe des Geistes und nicht »um die üblichen Nebenrücksichten auf Mode, gute Gelegenheit, Marktlage, Kameraderie und ähnliches« gekümmert habe, was ihm »eine gewisse Isolierung« eingetragen habe (Br I, S. 747). Zu Musils verzögerter Ausreise und den Verlagsverhandlungen im Sommer 1938 vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1282–1299. Thomas Mann unterstützte Bermann Fischer in dessen Bemühungen, Musil zur Emigration zu bewegen. Am 28. 7. 1938 schrieb er an den Verleger hellsichtig über den ›Fall Musil‹: »Gewiß ist es schwer, die Verantwortung für seine Emigration zu übernehmen, aber schließlich kommt etwas Anderes für ihn ja gar nicht in Betracht. Im Reich werden seine Bücher nicht publiziert werden, alle Veröffentlichungsmöglichkeiten, die für ihn bestehen, liegen außerhalb; die wohlhabenden Freunde und Gönner, die etwa bis jetzt in Wien ihn unterstützt haben, sind dazu nicht mehr in der Lage. Er mag draußen wenig Chancen haben, innerhalb der Reichsgrenzen
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klärte Verlagsfrage noch hinaus.31 Gottfried Bermann, der unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch aus Wien geflohen war und seinen Verlag in Stockholm neu zu gründen versuchte, forderte Musil im Juli direkt zur Emigration auf, da das angestrebte Vertragsverhältnis nur geklärt werden könne, wenn er das Land verlassen habe.32 Am 15. August 1938 reiste er dann tatsächlich nach Italien und in die Schweiz, ohne seine Wohnung in Wien zunächst aufzugeben.33 Als sich die Verhandlungen mit dem Bermann-Fischer Verlag aber hinzogen und der (in Deutschland gebliebene) Verleger Eugen Claassen, der Musil schon im Oktober 1937 in Wien besuchte hatte,34 ihm im September 1938 erneut den Vorschlag machte, sein Werk im Hamburger Goverts-Verlag herauszubringen, erklärte er sich diesem gegenüber prinzipiell dazu bereit, ins Deutsche Reich zurückzukehren bzw. seinen noch bestehenden Wohnsitz weiter beizubehalten, und stellte Claassen – wohl in taktischer Rücksicht auf dessen Verlagssitz – sogar eine mögliche Übersiedlung in die Hamburger Gegend in Aussicht.35 Er verknüpfte dies mit der Bemerkung: »Das bedeutet natürlich auch eine geistige Entscheidung, auf die ich mich, in der Stille allerhand Eindrücke verarbeitend, vorbereitet habe.« (Br I, S. 860) Musil dürfte damit der einzige deutschsprachige Autor sein, der damals gleichzeitig mit einem reichsdeutschen und einem Exilverlag verhandelte und die Wahl seines Wohnorts scheinbar vom Ausgang dieser Verhandlungen abhängig machte.36 Auch wenn man ausschließen kann, dass Musil tatsächlich ins nationalsozialistische Deutschland übergesiedelt wäre, muss ihm eine Publikation seines Romans im Deutschen Reich zu diesem Zeitpunkt noch prinzipiell möglich
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aber scheint er mir jedenfalls verloren.« (Zit. nach: Gottfried Bermann Fischer: Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1971, S. 153 f.) Vgl. auch Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1295. So fragte Musil noch am 11. 7. 1938 bei der C. H. Beckschen Verlagsbuchhandlung in München an, ob sie ihn als Autor aufnehmen würde, falls er sein Vertragsverhältnis mit dem nach Stockholm emigrierten Bermann-Fischer Verlag lösen müsse (vgl. Br I, S. 828). Vgl. Br I, S. 830. Am 18. 7. teilte Bermann ihm dann mit, dass er den Mann ohne Eigenschaften wohl nicht herausbringen könne, da ihm Deutschland als Absatzmarkt dafür verloren gegangen sei (vgl. Br I, S. 831). Zur Liquidierung des Bermann-Fischer Verlags in Wien nach dem ›Anschluss‹ vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte. Bd. 1 (s. Anm. 3), S. 417–422. Musil galt daher zu diesem Zeitpunkt offiziell nicht als Emigrant. Für seine Reise in die Schweiz hatte er gesundheitliche Gründe angegeben. Vgl. Musils Brief an Theodor Hahn v. 28. 10. 1938 in Br I, S. 866, und seinen Brief an Nellie Kreis v. 9. 12. 1938 in Tb II, S. 752. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1288–1293. »Ich kann also sagen, daß Ihre Andeutung, ich möchte meinen Wohnsitz in Deutschland behalten (ich habe ihn noch in Wien, möchte aber dort nicht bleiben), jetzt auf urbaren Boden gefallen ist, und es spräche viel dafür, daß ich ihn in die Gegend von Hamburg verlege.« (Br I, S. 860 [etwa 24./25. 10. 1938]) Der Hinweis auf einen möglichen Umzug in dem Brief an Claassen kann als taktisches Argument gewertet werden, mit dem dieser zur Publikation des Romans und zur Zahlung eines Vorschusses bewegt werden sollte. Eine tatsächliche Übersiedlung dürfte für ihn auch in Hinblick auf seine jüdische Ehefrau nicht vorstellbar gewesen sein. Vgl. dazu Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1315 f.
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und wünschenswert erschienen sein. Dabei dürfte auch der Gedanke eine Rolle gespielt haben, dass ein Verlag in Deutschland, wie der Goverts-Verlag, besser geeignet sei, ihm seinen »Platz in der Nationalliteratur« zu sichern (so im Brief an Eugen Claassen; Br I, S. 862), als ein Exilverlag. Erst mit der Indizierung seines Romans Ende 1938 zerschlug sich diese Option für ihn endgültig.37 Damit soll nun nicht behauptet werden, dass Musils stets gewahrte Distanz gegenüber der literarischen Emigration ausschließlich strategische und pragmatische Gründe hatte. Sie gründete auch in seiner persönlichen Abneigung gegenüber prominenten Exilschriftstellern und seiner ideologischen Ablehnung des Literaturbegriffs, den diese in seinen Augen repräsentierten. Und damit kommt wiederum sein auktoriales Selbstverständnis ins Spiel. Wie eng theoretische, persönliche und pragmatische Gründe in Musils kritischer Haltung gegenüber der Emigration miteinander verflochten sind, wird an einer Tagebuchnotiz von Anfang 1938 deutlich, in der er die bekannten Exilanten Emil Ludwig, Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger als »Auswurf der Demokratie« und »Nutznießer der Emigration« bezeichnet, die »Weltlieblinge« geworden seien, »während sich gute Schriftsteller kaum vor dem Untergang bewahren« könnten (Tb I, S. 903). Zu Musils notorischer Verachtung für den Typus des Unterhaltungs- und Erfolgsschriftstellers tritt hier sein schon früher geäußertes Bedenken, ob er selbst auf diesem Markt eine Chance haben würde. Im Exil könne man nur leben, »wenn man, journalistisch flink, viel und billig schreiben kann«, schrieb er schon am 21. Oktober 1933 an Klaus Pinkus (Br I, S. 589). An anderer Stelle beklagt er sich darüber, dass sich in England und den USA kaum jemand für sein Werk interessiere.38 37
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Vgl. Musils Brief an Victor Zuckerkandl v. 5. 11. 1938 in Br I, S. 870–872. Musil erfuhr von dem – in den NS-Akten nicht dokumentierten und für ihn immer ein Gerücht bleibenden – Verbot des Mann ohne Eigenschaften durch den Kommissar des inzwischen zwangsverwalteten Bermann-Fischer Verlags in Wien, Theodor Hahn. Vgl. Tb II, S. 752. Offensichtlich erklärte Musil sich selbst das Verbot mit seinem persönlichen Konflikt mit dem kommissarischen Leiter des Bermann-Fischer Verlags in Wien und hoffte, es noch rückgängig machen zu können. In seinem Brief an Viktor Zuckerkandl v. 28. 10. 1938 fragte Musil diesen jedenfalls, ob er nicht »etwas zur Aufhebung des Verbots unternehmen« wolle (Tb II, S. 752). Bis zu diesem Zeitpunkt scheint Musil noch mit dem Gedanken einer vorübergehenden Rückkehr nach Deutschland bzw. in die ›Ostmark‹ gespielt zu haben. In einem Brief an Oskar Maurus Fontana v. 29. 10. 1938 schrieb er: »Wir haben daran gedacht, wenn auch nur für kürzere Zeit, nach Wien zurückzukehren, aber da man jetzt, wie ich eben höre, den Mann o. E. verboten hat, mag ich es nicht gerade tun.« (Br I, S. 869) Corino weist darauf hin, dass Musil sich in Wien wohl schon die Unterlagen für den Eintritt in die Reichsschrifttumskammer besorgt hatte, der die unumgängliche Bedingung für die Veröffentlichung im Goverts-Verlag gewesen wäre, und dass Claassens Partner Henry Goverts noch in Zürich mit Musil über eine mögliche Publikation gesprochen hat. Mit dem Verbot des Romans im Reichsgebiet wurde die Zusammenarbeit jedoch hinfällig. Im NS-Staat wurde Musils Name von nun an auf der ›Liste der deutschfeindlichen Autoren‹ geführt. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 12), S. 1314 f. Vgl. Musils Brief an Rudolf Olden v. 25. 5. 1939 in Br I, S. 993; Tb I, S. 972 (Heft 32).
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Und in einem Brief an Barbara Church aus dem Jahr 1940 bemerkt er polemisch: Manchmal bin ich etwas ärgerlich, wenn ich sehe, wie leicht mittelmäßige u schlechte Autoren den Klimawechsel haben vollziehen können. Das deutsche Gott-strafe-England! hat sich verspätet, verallgemeinert, und [. . .] fürchterliche Werkzeuge in Emil Ludwig, Stefan Zweig und anderen geschaffen! (Tb II, S. 675)
Wenn man die Zitate nebeneinander hält, wird deutlich, dass Musil seine literarische Abneigung gegen die emigrierten ›Großschriftsteller‹ – die eine in seinen Augen minderwertige, weil marktkonforme Literatur produzierten – mit der Kritik an deren demokratischer Gesinnung verknüpfte, die ihnen in seinen Augen erst den Erfolg im westlichen Ausland ermöglichte. Er unterstellte also eine natürliche Affinität von demokratischer Kultur und bürgerlichen Erfolgsschriftstellern und machte dabei dem Exil den gleichen Vorwurf, den er schon dem liberalen Kulturbetrieb der Weimarer Republik gemacht hatte, nämlich den der geistigen ›Flachheit‹ (vgl. Tb I, S. 973). Seine Distanz zu den Emigranten spiegelt so gesehen auch eine geistesaristokratische Skepsis gegenüber der modernen Kulturindustrie wider. Denn ganz offensichtlich ging er davon aus, dass auf dem Literaturmarkt des westlichen Auslands für Autoren seines Schlages – sprich: für einen Repräsentanten des unpolitischen und überzeitlichen Geistes – keine Aussichten bestanden. Musils Vorbehalte gegenüber der Emigration betrafen also nicht allein die politische Indienstnahme der Schriftsteller im linken bzw. kommunistischen Lager. Sie bezogen sich auch auf die Rolle der bürgerlichen Exilanten in England und Amerika, die sich seiner Meinung nach ebenfalls zur politischen Repräsentation, in diesem Fall der der westlichen Demokratie, vereinnahmen ließen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine kritische Bemerkung über Thomas Mann im Tagebuch vom März 1938. Sie ist eingebettet in einen Kommentar zu dem feierlichen Staatsbegräbnis, mit dem das faschistische Italien den verstorbenen Gabriele d’Annunzio geehrt hatte: Nach dem Tod d’Annunzios wurde in ganz Italien auf Halbmast gehißt, Mussolini reist mit Stab an die Bahre usw. Unheimliche Ehrung auf Kommando. Ich möchte sagen: Er war soweit ein guter Patriot, als er ein guter Dichter war. Man kehrt es aber um: er war ein guter Dichter, weil er ein guter Patriot war. Tut es der Faszismus allein? Mit Th. M. geschähe unter geänderten Umständen das gleiche! (Tb I, S. 927 f.)
Hätte Musil von den Ehrungen gewusst, die Thomas Mann 1949 in der Frankfurter Paulskirche und im Weimarer Nationaltheater erhalten sollte, hätte er sich in seinem Urteil zweifellos bestätigt gesehen. Angesichts seiner Idiosynkrasie gegen jede kulturpolitische Repräsentanz des Schriftstellers und seiner Ressentiments gegenüber dem Typus des bürgerlich-demokratischen Erfolgsschriftstellers ist es nicht verwunderlich, dass Musil sich auch nach seiner faktischen Emigration weiterhin politisch
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und literarisch isoliert fühlte und seine ›Exterritorialität‹ unter den veränderten Umständen neu zu definieren versuchte. Dies wird vor allem an seinem Briefwechsel mit Hubertus Prinz zu Löwenstein und der ›American Guild for German Cultural Freedom‹ deutlich. Da die pragmatischen Gründe, die eine öffentliche Kooperation mit Emigranten-Organisationen zuvor verhindert hatten, mit der Indizierung seines Werks in Nazi-Deutschland weggefallen waren, stimmte Musil im April 1939 der Aufnahme in den Europäischen Rat der ›American Guild‹ zu. Hubertus Prinz zu Löwenstein hatte die Zusage des Stipendiums zuvor mit der Anfrage verbunden, ob »die Schwierigkeiten«, die der Nennung von Musils Namen »als Mitglied unseres Europäischen Rates bisher im Wege standen, gegenstandslos geworden« seien.39 Musil schrieb ihm daraufhin aus Zürich, dass er nun »gerne in den ›Europäischen Rat‹« eintrete, was man als seine erste öffentliche Zuordnung zur Emigration werten kann.40 Aufschlussreich ist dann die Art und Weise, in der Musil sich Prinz Löwenstein gegenüber selbst vorstellt, indem er dessen Aufforderung nachkommt, sich über seine »Pläne und Probleme« zu äußern: Es ist mir umso wohltuender, davon sprechen zu können, als ich zwar Deutschland, wo man mir allerhand Angebote gemacht hat, und darunter auch anständige, im August freiwillig den Rücken gewandt, seither aber viele Erfahrungen gemacht habe, die mich entmutigen könnten, wenn man ihnen das gestatten dürfte. Ich habe heute weder einen richtigen Verleger noch eine ausreichende Unterstützung, ich gehöre weder einer politischen Machtgruppe noch einer legitimierten Opfergruppe an, ich bin nicht Journalist, und bin sogar in der Dichtung ein wenig ein Spatzenschreck, um den sich gern Stille breitmacht. (Br I, S. 975)
An dieser Briefstelle wird die Reformulierung von Musils Exterritorialität nach seiner Ausreise besonders deutlich. Einerseits präsentiert er sich in diesem Schreiben indirekt selbst als Emigrant, indem er die Freiwilligkeit seiner Ausreise betont und – mit dem Hinweis auf von ihm angeblich ausgeschlagene attraktive Verlagsangebote im Deutschen Reich – andeutet, dass diese Ausreise nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus ideellen Gründen erfolgt sei.41 Andererseits hält er an seinen bisherigen Ressentiments gegenüber Exil39 40 41
Brief an Musil v. 30. 3. 1939; zit. nach: Deutsche Intellektuelle im Exil (s. Anm. 22), S. 330. Vgl. den Brief Musils an Hubertus Prinz zu Löwenstein v. 18. 4. 1939 in Br I, S. 973–976, hier S. 974; auch in: Deutsche Intellektuelle im Exil (s. Anm. 22), S. 331. Eine ganz ähnliche Argumentationsstrategie verwendet Musil in einem nach dem 12. 8. 1938 geschriebenen Brief an den emigrierten Gottfried Bermann, von dem er verlangt, sich stärker für ihn einzusetzen. Auch in diesem Schreiben stilisiert er sich als Emigranten, der sich aus ideellen Gründen dazu entschlossen habe, nicht in einem reichsdeutschen, sondern in einem Exilverlag zu publizieren: »Ich bringe Ihnen keinen ganz kleinen Prestigezuwachs ein, und ich tue das freiwillig, und sowohl um der Freiheit des Geistes willen als auch in Anerkennung Ihrer Person als Verleger. Zu sagen, ich hätte keine andre Wahl, ist nur moralisch richtig; materiell u wirklich wäre es mir auch anders möglich gewesen, da intra muros von mehreren Seiten recht lebhaftes Interesse an mir genommen worden ist« (Br I, S. 838).
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schriftstellern und Exilverlagen fest, wenn er seine Bitte um Unterstützung42 mit einer indirekten, aber deutlichen Kritik an der literarischen Emigration verbindet, die ihn aus politisch-literarischen Gründen ausgrenze.43 So wurde das Gefühl der Isolierung innerhalb des Kulturbetriebs, das sich in stets wiederkehrenden Vorwürfen gegen Verleger und erfolgreiche Kollegen entlud, bei ihm durch die Emigration nicht aufgehoben, sondern eher noch verstärkt, was er im Tagebuch selbstkritisch analysiert: »innere Opposition gegen die Freunde u. Feinde, Wunsch, weder da noch dort zu sein, u. doch Klage darüber, daß man mich da u. dort abstößt« (Tb I, S. 972). Zugleich erkennt er in der Nicht-Zugehörigkeit desjenigen, »der sich selbst nirgends ganz hin, nirgends ganz fortgehören fühlt« (Tb I, S. 973), aber auch ein Element intellektueller Stärke bzw. den Grundzug der eigenen Autorschaft. Dies sollte auch Thema eines Aufsatzes sein, den er dann nicht mehr geschrieben hat: So muß also auch der Aufsatz über den Dichter gemacht werden. Nicht Beschwerde, daß mir Unrecht geschieht, sondern Beschreibung u Begründung des Looses [sic] eines zweiseitig Emigrierenden udgl. [. . .] nicht die Stellung des Dichters zur Politik, sondern die doppelte Exilierung des von mir zu schildernden Typus gibt den Ton an. (Tb I, S. 973)
An dieser Stelle nimmt Musil die Bezeichnungen ›Emigrant‹ und ›Exilant‹ erstmals privat für sich selbst in Anspruch, wertet sie aber um. Die Formulierung vom ›zweiseitig Emigrierenden‹ bzw. der ›doppelten Exilierung‹ impliziert, dass er sich schon zuvor, in Österreich bzw. im Literaturbetrieb des Deutschen Reiches und Österreichs, aufgrund seiner isolierten Stellung in einer Art Emigration befunden habe, zu der nach seiner Ausreise dann die Isolierung im Feld der Exilliteratur hinzugekommen sei. Während Musil sich in den Schreiben an die Vertreter der deutschen Exilliteratur Hubertus Prinz zu Löwenstein und Gottfried Bermann Fischer indirekt als politischen Emigranten präsentiert, werden die Bezeichnungen ›Exil‹ und ›Emigration‹ von ihm in dieser privaten Aufzeichnung eher im Sinne von ›innerer Emigration‹ verwendet. Sie werden zu Metaphern für die Existenz des ›Dichters‹ in einem kommerziellen und politisierten kulturellen System.
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Musil erhoffte sich von Löwenstein offensichtlich auch die Vermittlung von Publikationsmöglichkeiten in englischen und amerikanischen Zeitschriften. Die Begründung seiner Bitte um Unterstützung ähnelt dabei auffällig der in dem Schreiben an den österreichischen Kanzler Schuschnigg Ende 1936. Vgl. Anm. 28.
Massimo Salgaro
Musils Modell-Leser Abstract: My paper focuses on the reader-response theory developed in the essayistic writings and diaries of the Austrian author Robert Musil. Using concepts from Applied Psychology (the German term: »Psychotechnik«) and Gestalt Psychology, Musil employed specific linguistic techniques in order to influence his readers. This interest is also very evident in his essay about Applied Psychology, entitled Psychotechnik und ihre Anwendung im Bundesheere and in his review of Wege zur Kunstbetrachtung by Johannes von Allesch. Aiming in his literary texts to renew the perceptual concepts of his readers, Musil used the chapter titles in his novel The Man without Qualities in an unconventional manner.
Der Modell-Leser ist für Umberto Eco derjenige Leser eines literarischen Textes, »der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat, und sich in seiner Interpretation fortzubewegen, wie jener seine Züge bei der Hervorbringung des Werkes gesetzt hat«1 – also ein Leser, der über alle Kompetenzen verfügt, um einen Text auf optimale Weise zu verarbeiten. Diese Instanz hat kein empirisches Substrat, sie wird vom und im Text geschaffen und ist in jeder literarischen Kommunikation enthalten, weil jeder Schriftsteller implizit die Reaktionen seiner Leser miteinkalkuliert. Man kann ganz allgemein sagen, dass Musil zeitlebens über seine Leser und somit über den Effekt der literarischen Texte, vor allem seiner Texte, reflektiert hat. Die literarische Lektüre ist für Musil ein komplexes Verfahren, das psychologische (kognitive), künstlerische und soziale Aspekte einbezieht. Die Vorstellung seiner realen Leser hat sich außerdem im Laufe der Jahre verändert, weil er mit der Publikation des Törleß seine Karriere mit einem Erstlingserfolg begonnen hatte, später aber viele Niederlagen erdulden musste. Seine Misserfolge führten ihn zu einer Ernüchterung und zu einer Revision seiner Rezeptionstheorie: In seiner Reflexion ging es dann nicht mehr um einen Masseneffekt, sondern um die Reaktion einzelner Leser; Musil setzte sich auch regelmäßig mit »Großschriftstellern« wie Thomas Mann auseinander, die ihm einerseits sein eigenes ›Scheitern‹ vor Augen führten, andererseits mögliche Strategien zum Erfolg suggerierten. Die Modell-Leser der Werke des literarischen Kanons können nie eindimensional oder gar naiv 1
Umberto Eco: Lector in facula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Wien, München 1987, S. 67; im italienischen Original: U. E.: Lector in fabula. Milano 1979, S. 55.
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sein und am wenigsten können es die von Musils Texten sein, die bekanntlich hohe und komplexe Anforderungen an ihre Leser stellen. Deshalb werde ich hier nicht versuchen, die Komplexität von Musils Rezeptionsästhetik in ihrer Breite darzustellen,2 sondern mich darauf beschränken, über dessen spezifische theoretische Prämissen zu reflektieren und einige Textstrategien zu beschreiben, die der Mitarbeit des Modell-Lesers bedürfen. Der Begriff des Modell-Lesers, der nicht mit einem Idealleser oder mit dem empirischen Leser verwechselt werden darf, ist für eine solche Analyse besonders zweckmäßig, weil er sowohl den Autor wie auch den Leser als eine Textstrategie auffasst. Um die Polarität zwischen Autor und Leser in Musils Rezeptionsästhetik besser zu veranschaulichen, werde ich meinen Beitrag in folgende zwei Teile teilen: 1. Musils Wirkungsästhetik, 2. Musils Rezeptionsästhetik.3
1. Musils Wirkungsästhetik Die Überzeugung, auf den Leser rezeptionssteuernd einwirken zu können, wird bei Musil durch die Methode der Psychotechnik gefestigt, mit der er 1908, nach seinem Studium in Berlin, in Kontakt tritt. Dieses Interesse zeigt sich am deutlichsten im Vortrag Psychotechnik und ihre Anwendung im Bundesheere, den er am 10. März 1922 im Wiener Bundesministerium für Heereswesen hält. Die Psychotechnik wurde vor und während des Ersten Weltkrieges entwickelt. Sie sollte im Krieg dazu dienen, durch die Anwendung rationaler Verfahren und Methoden die »Waffe Mensch« zu optimieren. Nach dem Krieg findet sie insbesondere außerhalb des akademischen Bereichs Anwendung, vor allem bei der Personalauswahl, bei der die »Eignung« zu einem ihrer Kernbegriffe und zu einem der Leitbegriffe der gesamten Epoche wird. In dieser Phase fasst sie den Menschen als Potential psychophysischer Leistungen im Dienste der Betriebsführung, d. h. des Taylorismus, auf.4 Vom optimistischen und positivistischen Ansatz der Psychotechnik übernimmt Musil die Idee, auf seine Leser einwirken und durch seine Texte deren Gedanken und Gefühlswelt verändern zu können. Er glaubt, dass man durch die Sprache auf die Vorstellungen Einfluss ausüben kann. Die Psychotechnik 2
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Das war das Forschungsvorhaben meines Buches: Robert Musil teorico della ricezione. Contiene il saggio inedito La psicotecnica e la sua possibilità di applicazione nell’esercito. Bern u. a. 2012 (= Musiliana, Bd. 16). Ich berufe mich mit dieser Terminologie auf Wolfgang Iser, für den die »Wirkungsästhetik« auf den Effekt, den der Autor ausüben möchte, fokussiert, während die »Rezeptionsästhetik« die Reaktionen der Leser analysiert. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 1976, S. IV . Zum Begriff des Taylorismus vgl. Hans Wupper-Tewes: Rationalisierung als Normalisierung. Betriebswissenschaft und betriebliche Leitungspolitik in der Weimarer Republik. Münster 1995.
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spielt in der Werbung, im Sport5 und in der Arbeitswelt eine Rolle und wird, wie Christoph Hoffmann gezeigt hat, auch an mehreren Stellen im Roman Der Mann ohne Eigenschaften thematisiert.6 Ulrich erkennt z. B., dass der psychotechnische Begriff der Eignung und der alte Begriff der Eigenschaft als Moment der Individuation sich in einem Spannungsverhältnis befinden: Wen soll das tausendjährige Gerede, was gut und böse sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine Konstanten sind, sondern Funktionswerte, so daß die Güte der Werke von den geschichtlichen Umständen abhängt und die Güte der Menschen von dem psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaften auswertet! (MoE, S. 37)
Als Mann, der »alle von seiner Zeit begünstigten Fähigkeiten und Eigenschaften« in sich trägt, ohne eine Möglichkeit ihrer Anwendung zu finden, nimmt Ulrich sich »Urlaub vom Leben«, um »eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen« (MoE, S. 47). In einer psychotechnischen Perspektive könnte Ulrich als ein Arbeitsloser gedacht werden, der sich einem Eignungstest unterzieht, weil es Ziel der Psychotechnik ist, die persönlichen Eigenschaften in funktionale zu verwandeln, um für den Arbeiter eine adäquate soziale Funktion zu finden.7 Die Psychotechnik ist, wie schon erwähnt, eine auf praktische Ziele ausgerichtete Disziplin. Sie will dem Politiker, dem Geschäftsmann und dem Forscher Instrumente liefern, um auf ihr Publikum die gewünschten Effekte zu erzeugen. Hugo Münsterberg, ihr Hauptvertreter, den Musil in seinem oben erwähnten Referat als Quelle erwähnt, meint zum Beispiel, dass auch die Künstler diese Effekte hervorrufen wollen: Der Geschäftsmann will auf die Phantasie seiner Kunden wirken, damit der Trieb zum Einkauf in ihnen wach wird. Der Fabrikant sucht seine Arbeiter so zu behandeln, daß in ihrem Bewußtsein der Wille zur größtmöglichen Anstrengung lebendig wird. Der Politiker will die Seelen der Masse beeinflussen, damit sie bereit werden, auf seine Pläne einzugehen. Der Naturforscher will die seelischen Bedingungen der Beobachtung so gestalten, daß die größtmögliche Erkenntnis der Naturdinge gewonnen werden kann. Der Künstler versucht, auf die Seele des Hörers oder des Zuschauers zu wirken, damit gewisse ästhetische Gefühle in ihnen ausgelöst werden. Kurz, in den mannigfaltigsten Gebieten zeigt sich, daß gewisse Endziele ganz oder teilweise durch psychische Vorgänge erreicht werden können, und es ist die Aufgabe
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Siehe dazu die exzellente Studie von Anna Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York 2008 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 51). Vgl. Christoph Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils. 1899–1942. München 1997 (= Musil-Studien, Bd. 26), S. 230– 285. Vgl. Curt Piorkowski: Die psychologische Methode der wirtschaftlichen Berufseignung. 2., vermehrte u. bis zum gegenwärtigen Stand fortgeführte Auflage. Leipzig 1919 (= Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Bd. 11), S. 8.
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der Psychotechnik, darzulegen, welche geistige Prozesse dabei in Frage kommen und welche Einflüsse notwendig sind, um das gewünschte Endergebnis zu erreichen.8
Interessant ist in diesem Passus von Münsterberg der Verweis auf den Künstler, der versucht, »auf die Seele des Hörers oder des Zuschauers zu wirken«. Die Wirkung der Kunst, die schon in der antiken Rhetorik theoretisiert wird, taucht hier in einem völlig neuen, positivistischen Kontext auf. Außerdem ist die Psychotechnik für eine Massengesellschaft gedacht, in der die Kommunikationsmittel und die Medien eine herausragende Rolle spielen. In seinem Vortrag Psychotechnik und ihre Anwendung im Bundesheere stellt Musil dar, wie die Methoden der Psychotechnik für das Heer brauchbar gemacht werden können. Dies käme z. B. für die Personalauswahl, die Ausbildung und das Erlernen von militärischen Aktivitäten in Frage, aber auch für die Abfassung von Vorschriften, wie der folgende Passus beweist, in dem Musil selbst einen Bezug zur Arbeit des Schriftstellers herstellt: Hiermit wäre die nicht unwichtige Frage berührt, in welcher Weise Vorschriften praktisch abzufassen sind, wobei vom Inhalt zunächst abgesehen sei. Schließlich soll doch durch jede von ihnen möglichst rasch und möglichst unvergeßlich und möglichst anwendungsbereit etwas eingeprägt werden. Man ist im Kriege dieser Frage z. B. bei den Merkblättern nahegetreten und schließlich vermag sie jeder Schriftsteller in irgend einer Weise zu lösen; es liegen aber doch auch weniger subjektive Erfahrungen auf diesem Gebiet vor, die man bei psychotechnischen Untersuchungen des Reklamewesens gemacht hat, ferner könnte vieles aus dem Gebiet des Lernens, der Aufmerksamkeit usw., herangezogen werden, kurz es handelt sich um eine ganz aussichtsreiche Aufgabe.9
Musil stellt hier eine Analogie zwischen unterschiedlichen Typen von Texten – militärische Vorschriften, literarische Texte, Reklametexte – her, indem er ihre Gemeinsamkeit auf ihren Effekt reduziert, »möglichst unvergeßlich und möglichst anwendungsbereit« zu sein. Aus dieser Perspektive können auch Schriftsteller in den »psychotechnischen Untersuchungen des Reklamewesens« nützliche Hinweise finden. Die militärischen Vorschriften sollen wie die Literatur auf die Vorstellungskraft des Lesers einwirken, um einen Eindruck zu hinterlassen. Laut Musil werden diese Techniken sowohl von der Reklame als auch vom Theaterbetrieb ausgenützt: Die Psychotechnik der Reklame hat zwei Eigenschaften hervorgehoben, welche jede geschickte Anpreisung haben soll: sie muß nicht nur auffallen, sondern sie bedient sich auch des Gefühls der Bekanntheit; ein aufdringliches Plakat ärgert den Vorübergehenden wochenlang, aber es umgibt den Gegenstand des Ärgers plötzlich mit einem Gefühl warmer Vertrautheit, wenn man ihm zufällig im Laden als Wirklichkeit 8 9
Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig 1914, S. 6 f. Robert Musil: Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere, in: ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 177–200, hier S. 196.
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begegnet. Beide Züge finden wir in unserem Theaterbetrieb wieder; das möglichst Sensationelle ebenso wie das möglichst Vertraute, das ist Banale. (GW 8, S. 1118)
Die Psychotechnik der Werbung studiert also hauptsächlich, wie man die Vorstellung des Menschen beeinflussen kann. Münsterberg behauptet selbstsicher: »Auf ein Seelenleben Einfluß ausüben, heißt zunächst, sein assoziatives Vorstellungsmaterial [zu] bestimmen.«10 Er bezieht sich dabei vor allem auf die Werbung, aber auch ein »philosophisches Buch« kann diese Mechanismen verändern.11 Musil denkt auf ähnliche Weise, dass die Begriffe unserer Innenwelt eine Gestalt geben. Er denkt, dass die Sprache Einfluss hat auf unsere Erfahrungswelt und dass diese durch die Sprache verändert werden kann, was wiederum auf die Sprache zurückwirkt. Auch unsere Sinne sind intellektuell, weil ihre Aktivität seit jeher von den Begriffen geprägt ist, wie Musil im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik ausführt: [E]rst recht gilt ähnliches von wirklich seelischen Erlebnissen, von denen man durchwegs behaupten kann, daß die Gestalt, welche sie in verschiedenen Menschen annehmen, die der Vorstellungen ist, die sich diese vorher von ihnen gemacht haben. Dies geht so weit, daß ohne präformierte stabile Vorstellungen, und das sind Begriffe, eigentlich nur ein Chaos bleibt, und da anderseits die Begriffe wieder von der Erfahrung abhängen, entsteht ein Zustand des gegenseitigen Sichformens wie zwischen Flüssigkeit und elastischem Gefäß, ein Gleichgewicht ohne festen Widerhalt, für das wir noch keine rechte Beschreibung gefunden haben, so daß es im Grunde so unheimlich ist wie die Decke eines Sumpfes. (GW 8, S. 1146)
Es handelt sich um Aspekte des Theorems der »menschlichen Gestaltlosigkeit«, das Musil im essayistischen Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) formuliert hat.12 Charakteristisch für seine Poetik ist, wie wir auch im Folgenden sehen werden, dass psychotechnisches und gestaltpsychologisches Wissen in Dialog gebracht werden. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Aufgabe Musil der psychotechnisch geschulten Kunst vorschreibt: Der Effekt des Kunstwerks soll darauf zielen, den Menschen von der Formelhaftigkeit seines Denkens und Handelns zu befreien, indem er auf sein »Assoziationsmaterial« einwirkt (GW 8, S. 1146). Diese Befreiung kann nur momentan sein, weil sie von der steten Tendenz zur Formelbildung beschränkt wird, die aus dem Abnormen wieder eine Norm macht (vgl. GW 8, S. 1140). Die Bilder, die, wie wir im letzten Zitat gesehen haben, dem Innenleben eine feste Form verleihen, sollen zu Gleichnissen werden, welche die höchste Beweglichkeit der Sprache ausdrücken. Musil möchte 10 11 12
Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik (s. Anm. 8), S. 181. Münsterberg glaubt, dass bestimmte Bücher die psychischen Reaktionsbahnen der Leser verändern können. Vgl. Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik (s. Anm. 8), S. 185. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Musil und in seiner Zeit. Zürich 2010 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 237–255.
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den Lesern seiner Texte eine konstante Erneuerung, eine stets neue Abstimmung zwischen Gedanken und Gefühl, Subjekt und Umwelt ermöglichen. Sein Instrument dazu ist die Sprache, denn er glaubt, durch neue Formulierungen neue Erfahrungspotentiale zu erwecken. Um seine anspruchsvolle Aufgabe als Autor zu erfüllen, braucht Musil die Aufmerksamkeit und die Mitarbeit seiner Leser. Dazu wendet er verschiedene Techniken an; die Aufteilung in kurze Kapitel ist für ihn ein psychotechnisches Mittel zur besseren/leichteren Konsumierbarkeit: Zur Technik: Etwas das ältere Romanschreiber gut konnten, haben wir heute fast ganz verlernt: Spannen! Wir fesseln nur unsere Hörer. Das heißt wir suchen geistreich zu schreiben und langweilige Stellen zu vermeiden. Wir ziehen auf allen Wegen den Hörer mit. Spannen heißt aber den Hörer das Kommende erwarten machen. Ihn mitdenken lassen, ihn auf dem gezeigten Wege allein gehen lassen. Ein gewisses Gefühl der Behaglichkeit, mit dabei zu sein. Der humoristische Roman lebt von diesem Gefühle. Man deutet eine kommende Situation an u. der Gedanke entsteht: was wird dann unser guter X. jetzt wieder machen? Es erfordert viel Kleinmalerei in den Typen. Aber so antiquiert es aussieht, so ist es doch ein Stück künstlerischer Wirkung im Gegensatz zu den Wirkungen des Philosophen und Essayisten. (Tb I, S. 99 f.)
Musil macht sich mehrmals Notizen zur »Erzählungstechnik«13 und deren Wirksamkeit, welche ein Hauptanliegen der Psychotechnik ist. Auch die hohe Anzahl von Metaphern, die er in seinen literarischen Texten verwendet, zielt auf die »Entautomatisierung« der Assoziationswelt des Lesers, der durch die neuen sprachlichen Assoziationen Freiräume für seine Innenwelt schafft. Sein Leser muss ständig auf der Hut sein und an der Konkretisierung dieses komplexen literarischen Gebildes mitwirken. Für seine psychotechnische Schreibweise sucht Musil Modelle. Was ihn von anderen Autoren unterscheidet, ist die Fokussierung auf den Effekt seiner Lektüre und auf die Techniken, die dafür notwendig sind, diesen Effekt zu erreichen. In einem Artikel zu Ehren von Alfred Kerr versucht er dessen Singularität und innovativen Stil zu würdigen und Kerrs Schreibtechnik unter psychotechnischer Perspektive zu beschreiben: Sie [die Erfindung der römischen Ziffer] bedeutet ein Taylor-System mit kurzen, wirksam ausgenützten Arbeitszeiten und Sitzpausen. Die Aufmerksamkeit wird erleichtert und erregt. Die vom Leser geforderte Leistung wird in Teilleistungen zerlegt, und jeder Teil in sich so rationalisiert, daß man den Griff erwischt, wenn man die Hand bloß ausstreckt. Es wird zwischen den Absätzen Druckfläche geopfert, aber der verschmälerte Raum ist von einer gesteigerten Aufnahmefähigkeit. Man prüfe diese Schreibtechnik auf ihre Ökonomie und man wird leicht sehen, daß 13
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/142 ff. Vgl. Hoffmann: »Der Dichter am Apparat« (s. Anm. 6), S. 242–244; Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 112–124.
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das scheinbar Launenhafte zugleich unübertrefflich vernünftig ist. Und natürlich ist diese äußere Anordnung, von der ich spreche, nur das sinnfälligste physiognomische Kennzeichen eines Stils, der auch alle anderen Elemente des Ausdrucks durchdringt. (GW 8, S. 1180 f.)
Musil interessiert sich für die »Handgriffe«, die dem Leser von Kerrs Texten die Lektüre erleichtern. Wie schon im Vortrag Psychotechnik und ihre Anwendung im Bundesheere wird auch hier eine Analogie zwischen Körperarbeit und Schreibtechnik im Zeichen der Psychotechnik gebildet. Musil findet auch andere Modelle, um die Ökonomie seines Schreibens zu verbessern, z. B. Emil Ludwig, dessen Schreibstil ihn interessiert, weil er »komplizierte Situationen auf einfachere zurückführt, was psychotechnisch möglich ist. Und er geht immer gerade auf das los, was er haben oder loswerden will.« (Tb I, S. 714) Wir könnten noch mehrere solcher Verweise auf die Psychotechnik in den Schriften Musils finden. Ich möchte am Beispiel der Kapitelüberschriften des Mann ohne Eigenschaften illustrieren, wie Musil Verfahren der Psychotechnik anwendet, um den Leser zu lenken. Diese Titel spielen sicher eine maßgebliche Rolle in der Poetik Musils. Sie stehen vor dem Text und sie stehen für den Text, d. h. sie können das Kapitel als Ganzes bezeichnen. Sie haben also eine stellvertretende, darstellende Funktion und sind somit die perfekte Metapher für die Sprache. Wie die Sprache beeinflussen sie den Leser, weil sie in ihm ein Vorurteil bilden. Bekanntlich ist für Musil die Sprache eine Hohlform, in der die Erfahrungen komprimiert werden und sich dabei so verwandeln, dass sie die Gestalt der Vorstellungen annehmen, die wir uns vorher gemacht hatten (vgl. GW 8, S. 1146). Auch die Titel erzeugen eine Art innerer Erwartung – d. h. ein Vorurteil –, indem sie dem Leser Informationen vermitteln über das, was folgt. In den vollendeten Teilen des Mann ohne Eigenschaften gibt es insgesamt 161 Kapitelüberschriften. Man könnte sie auf vielerlei Weise einteilen. Die banalste wäre nach dem Kriterium der Länge. Manche Titel bestehen, wie die von Kapitel 5 »Ulrich« und Kapitel 14 »Jugendfreunde«, nur aus einem Wort; andere erstrecken sich über mehrere Zeilen wie der von Kapitel 43 »Erste Begegnung Ulrichs mit dem großen Mann. In der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges, aber Diotima stellt die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt«. Diese Kapitelüberschriften mit Untertitel haben einen altmodischen Charakter; sie erinnern an die langen Überschriften barocker Romane. In einem modernen Roman scheinen sie, laut Dietrich Rolle, den Lesern, die solche Titel nicht gewohnt sind, eine besondere Leistung abzuverlangen.14
14
Dietrich Rolle: Titel und Überschrift. Zur Funktion eines literarischen Elements, in: Gutenberg-Jahrbuch (1986), S. 281–294, hier S. 285.
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Eine andere mögliche Einteilung wäre die Unterscheidung zwischen denen, die eine narrative Funktion haben, d. h. die Handlung fortsetzen, und den essayistischen Titeln, welche die Konzepte der Poetik Musils aufrufen: Ein Beispiel für die erste Funktion ist die Überschrift von Kapitel 21 »Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf«, ein Beispiel für die zweite ist diejenige von Kapitel 35 »Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes«. Beginnen wir mit der essayistischen Funktion. Die Vertreter der Titrologie, die Experten für Titel unter den Literaturwissenschaftlern, sind sich einig, dass die Hauptfunktion der Überschriften in der Orientierung des Lesers liegt.15 Der Titel orientiert die Einstellung zum Text, schafft Erwartungen im Leser.16 Im Folgenden werden einige Kapitelüberschriften aus Musils Mann ohne Eigenschaften angeführt, die explizit die wichtigsten thematischen Konzepte nennen: I/4 I/62 I/83 II/10
Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? Weiterer Verlauf des Ausflugs auf die Schwedenschanze. Die Moral des nächsten Schritts
Eine andere wichtige Aufgabe der Kapitelüberschriften besteht darin, einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Teilen eines Romans herzustellen. Das ist eine besonders wichtige Funktion in einem Roman, der aus mehr als 1000 Seiten besteht. Diese links, wie man sie heute nennen würde, können Figuren des Romans oder Themen betreffen. Wir können z. B. eine Reihe von Kapitelüberschriften identifizieren, die sich auf das Thema ›Mann ohne Eigenschaften‹ beziehen;17 aber auch dem Komplex ›Moosbrugger‹ ist eine Serie gewidmet: I/18 I/53 I/59 I/87 I/110 II/19
Moosbrugger Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis Moosbrugger denkt nach Moosbrugger tanzt Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung Vorwärts zu Moosbrugger
Indem der Name einer Figur mehrere Male in den Titeln vorkommt, entsteht eine Beziehung zwischen diesen Kapiteln, die ein Ganzes bilden.
15
16
17
Vgl. die Funktionen der Kapitelüberschriften in Charles Grivel: Production de l’intérêt romanesque. Paris, The Hague 1973 (= Approaches to semiotics), S. 169 f. Siehe auch Gérard Genette: Seuils. Paris 1987, S. 73–76. Vgl. Georg Buder: Titel und Text. Information und Wirkung des italienischen Novellentitels (G. Verga, L. Pirandello, A. Moravia) vor und während der Textlektüre. Rheinfelden 1982, S. 189 u. 305; Rolle: Titel und Überschrift (s. Anm. 14), S. 282. Es sind die Kapitelüberschriften 2, 3, 13, 17, 39, 40.
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Andere solche Serien sind: I/9 I/10 I/11
Erster von drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften Der wichtigste Versuch
I/35 I/36
Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes Dank des genannten Prinzips besteht die Parallelaktion greifbar, ehe man weiß, was sie ist
I/67 I/69
Diotima und Ulrich Diotima und Ulrich. Fortsetzung
I/95 I/96
Der Großschriftsteller, Rückansicht Der Großschriftsteller, Vorderansicht
II/11 Heilige Gespräche. Beginn II/12 Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang II/34 II/35 II/36 II/38
Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Graf Leinsdorf und der Inn Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Regierungsrat Meseritscher Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Wobei man Bekannte trifft Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt
Wie man unschwer feststellen kann, setzte Musil diese Serienbildung gezielt ein, indem er Wörter wie »Beginn« und »Fortgang« oder Ordnungszahlen verwendete. Der Umstand, dass diese Serien sich thematisch und in der Art ihrer Formulierung unterscheiden, macht die Intention dieser Reihenbildung noch evidenter. In manchen Titeln dieser Serien finden sich formale/rhetorische Mittel wie Anaphern und Wortwiederholungen, die die Parallelismen dieser Überschriften unterstreichen. Wie man aus den zitierten Kapitelüberschriften entnehmen kann, wird oft der Anfang der Überschrift wiederholt, etwa »Heilige Gespräche«, »Ein großes Ereignis«. Die seriell angelegten Kapitelüberschriften formen ein Netz von Verweisen innerhalb des Textes, das die Linearität der Kapitel überlagert. Da, wie wir sehen werden, diese Verweise mehrdeutig sind, besitzt dieses Netz eine gewisse Autonomie und Konsistenz gegenüber dem Text, weil es nicht dessen Linearität widerspiegelt, sondern neue »Gestalten« in den Text projiziert. Diese Struktur kann für den Leser des Mann ohne Eigenschaften labyrinthisch sein, weil der Text damit neue Untereinheiten und Querverweise produziert. Was passiert, wenn ein solches Netz den Modell-Leser nicht orientiert, sondern absichtlich verwirrt? Wenn z. B. in der Kapitelüberschrift 23 »Erste Einmischung eines großen Mannes« eine Serie angekündigt wird, die nicht fortgeführt wird? Da eine zweite Einmischung zumindest in den Überschriften ausbleibt, wird mit den Erwartungen des Modell-Lesers gespielt. Was geschieht, wenn innerhalb einer Serie widersprüchliche Elemente vorkommen? Dies trifft auf die von den Kapiteln II/ 34–38 gebildete Serie zu: Die Tatsache, dass – wie Kapitelüberschrift II/34 ausführt – »ein großes Ereignis [. . .] im Entstehen [ist]. Graf Leinsdorf und
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der Inn«, wird von der Ironie des Kapitels II/38 »Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt« relativiert. Auch die semantische Dimension des Kapitels I/89 »Man muß mit seiner Zeit gehen« wird konterkariert durch die beiden Kapitelüberschriften I/99 »[. . .] und dem Unfug, den man neue Zeit nennt« und II/16 »Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit«, die »die modernen Zeiten« in ein düsteres Licht stellen. Die Informationen, die dem Modell-Leser durch diese Art von Titel geliefert werden, haben die Funktion, seine Erwartungen systematisch zu enttäuschen. Dadurch wird der Modell-Leser des Mann ohne Eigenschaften misstrauisch und vorsichtig. Andere Formen der Desorientierung betreffen die Natur des Titels selbst. Der Titel gibt dem Leser meist die Möglichkeit, sich im Handlungsstrang nach vorne zu projizieren. Er hat laut Leo Hoek eine »fonction anticipatrice«.18 Was aber, wenn das, was der Titel ankündigt, im Text nicht vorkommt? Dieser Typ von Titeln, der seine Funktion nicht erfüllt, ist charakteristisch für den Mann ohne Eigenschaften. Er impliziert einen Modell-Leser, der ständig hin und her blättert und dem Kapiteltitel nicht traut. Wie wenig Musil die Orientierung des Modell-Lesers am Herzen liegt, zeigt schon die Überschrift des ersten Teils: »Eine Art Einleitung«. Aber auch die Rede vom »Mann ohne Eigenschaften« ist enttäuschend: Entgegen den Erwartungen informiert sie weder über Ort und Zeit der Handlung, noch über die sozialen, professionellen oder körperlichen Eigenschaften der Hauptfigur.19 Es ist sogar eine contradictio in adiecto, weil rein logisch ein »Mann ohne Eigenschaften« gar nicht möglich ist. Auch der bestimmte Artikel im Romantitel bedeutet ein Problem für den Leser, weil er Spannung erzeugt hinsichtlich der Zuschreibung dieses Mannes »ohne Eigenschaften«. Der Leser muss bis zum 5. Kapitel warten, um zu erfahren, dass Ulrich der »Mann ohne Eigenschaften« ist. Und er muss noch bis zum Kapitel I/39 warten, um zu erfahren, dass die Formel Mann ohne Eigenschaften eigentlich als »Eigenschaften ohne Mann« zu verstehen ist. Diese Strategie der Informationsverzögerung steigert das Interesse. Dies gilt z. B. auch für die Kapitelüberschrift I/57 »Großer Aufschwung. Diotima macht sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen«, welche auf I/27 »Wesen und Inhalt einer großen Idee« verweist. Es handelt sich hier um eine Art von »Intertitularität«,20 unter der man den Verweis eines Titels auf einen anderen Titel des gleichen Werks oder auf einen Titel eines anderen literarischen Textes versteht. Es bereitet dem Leser sicher Schwierigkeiten, 30 Kapitel später sich noch an den ersten Titel zu erinnern. Der aufmerksame Leser wird also nach hinten blättern müssen, um den zi18 19
20
Leo Hoek: La marque du titre. Dispositifs sémiotiques d’une pratique textuelle. La Haye 1982, S. 276. Zur Entstehungsgeschichte des Romantitels vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49), S. 305. Hoek: La marque du titre (s. Anm. 18), S. 184.
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tierten Textteil noch einmal zu lesen und in seiner Erinnerung wachzurufen. So kann Albrecht Kümmel als eine der Aufgaben des von ihm analysierten »MoE-Programms« das Nach-vorne-und-hinten-Blättern bezeichnen.21 Für Kümmel haben diese impliziten Lektüreanweisungen Auswirkungen auf den Gemütszustand des Lesers des Mann ohne Eigenschaften: Ich behaupte, die direkt übertragene Nervosität und hektische Atemlosigkeit des Textes stellen eines der zentralen Lektürehindernisse dar. Der Text verlangt eigentlich Kettenraucher als Idealleser: die Finger gelb, der Atem kurz, die Bewegungen fahrig, die Augen unruhig umherschweifend, mit jedem Lungenzug die Aufgeregtheit unterdrückend.22
Aber es gibt noch andere Kapitelüberschriften, die m. E. ihre Funktion nicht erfüllen. Das beste Beispiel ist wohl das erste überhaupt: »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«. Dies ist eine Überschrift, die das Gegenteil dessen verkündet, was sie als Titel eigentlich leisten sollte. Mehr noch, es ist ein Titel, der die ihm konventioneller Weise zugeschriebene Funktion gezielt konterkariert, indem er den Leser völlig im Stich lässt, weil er ihm die erwartbare Information programmatisch vorenthält. Eine ähnliche Wirkung haben die Kapitelüberschriften I/28 »Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« und I/68 »Eine Abschweifung: Müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen?«, die auf mehr oder weniger ironische Weise die Lektüre bzw. ihre Hindernisse thematisieren und die Bedeutung der von ihnen eingeführten Kapitel relativieren. Ständig wird das (Vor-)Wissen des Lesers in Frage gestellt und damit das Einschleifen formelhafter Verkürzungen erschwert bzw. irritiert. Ein Merkmal der Titel des Mann ohne Eigenschaften, das hervorsticht, ist ihr Humor; ihre Absicht ist sicher auch, den essayistischen Erzählerdiskurs aufzulockern, indem sie den Leser zum Lachen bringen. Einige Kapitelüberschriften sind meines Erachtens besonders lustig, wie an vier wohlbekannten Beispielen veranschaulicht werden kann: I/3 I/7 I/13
Auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein I/25 Leiden einer verheirateten Seele
Der Humor dieser Titel besteht in ihrer Verknüpfung von entgegengesetzten Ebenen oder Elementen und in der Vorstellung von unmöglichen oder unwahrscheinlichen Begebenheiten. Beispielsweise wird der Vater »mit Eigenschaften« mit dem Sohn »ohne Eigenschaften« in Verbindung gebracht oder 21 22
Albrecht Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001 (= Musil-Studien, Bd. 29), S. 324. Kümmel: Das MoE-Programm (s. Anm. 21), S. 290.
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das anthropomorphe Bewusstsein eines »geniales Rennpferdes« beschrieben. Dieser Humor ähnelt dann der von Bachtin beschriebenen Technik des »Karnevalesken«: I/99
Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt I/114 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest
Das Spiel mit den semantischen Ebenen erreicht seine Klimax in paradoxalen Titeln wie z. B. »Die vergessene, überaus wichtige Geschichte mit der Gattin eines Majors« (I/32), »Ein heißer Strahl und erkaltete Wände« (I/34), »Mondstrahlen bei Tage« (Nachlass II/46). Diese Technik wird auch in chiastischen Figuren deutlich wie »Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann«. Sie sind eine Herausforderung für die Kombinationsfähigkeit des Lesers. Durch die in den Titeln enthaltenen Metaphern, Oxymora, contradictiones in adiecto usw. werden ständig fremde Elemente miteinander in Verbindung gebracht. Sie vermengen Konkretes und Abstraktes, Rhetorisches und wörtlichen Sinn, Eigentliches und Uneigentliches. Der Leser wird kontinuierlich gezwungen, die Beschränktheit seines Wissens zu erkennen, weil seine von der Sprache geformten Erwartungshaltungen enttäuscht werden. Eine andere Funktion der Kapitelüberschriften ist sicher eine suggestive, wie schon die Psychotechnik der Werbung erkannt hat. Arnold Rothe nennt in seiner Studie zu den literarischen Titeln 20 Reizwörter, die für Werbeagenten, besonders attraktiv sind: z. B. »Tod, Liebe, Spiel, Geheimnis, Mord«.23 Diese Reizwörter finden wir in mehreren Überschriften des Mann ohne Eigenschaften; sie beziehen sich auf den Kriminellen Moosbrugger, auf die Geliebte Leona oder auf den verliebten Soliman.24 Andere Titel zielen auf die Appellfunktion literarischer Texte wie z. B. die Überschrift von Kap. I/31 »Wem gibst du recht?« oder sie stehen im Imperativ der zweiten Person Singular wie z. B. »So töte ihn doch!« (I/118) Man kann die Kapitelüberschriften als Teil des psychotechnischen Substrats interpretieren, auf das sich der Algorithmus des »MoE-Programms« stützt: Sie leiten der ermüdenden Aufmerksamkeit neue Interessensbrennpunkte zu. In der Art der psychotechnischen Kunstpause lenken sie die Aufmerksamkeit auf andere Dinge als die gerade besprochenen und geben diesen dadurch Zeit, ›sich unbewußt weiterzudenken‹. Sie engagieren sich in den Semiosespielen des Textes, indem sie den Leser anreizen, Kapitel nach ihrer Vorgabe zu interpretieren. Dann schaffen sie 23 24
Arnold Rothe: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt a. M. 1986, S. 90. Ich beziehe mich u. a. auf die Kapitelüberschriften I/7 und I/79.
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Zusammenhänge zwischen den Kapiteln, lässige Überleitungen, die lange Kausalverknüpfungen vermeiden helfen.25
Die Kapitelüberschriften sind somit als Instruktionen zu verstehen, welche die Lektüre erleichtern oder erschweren können. Eine hemmende Wirkung auf den Leser entsteht etwa dann, wenn die Überschrift nicht in das Thema eines Kapitels einführt oder wenn sie ein Thema ankündigt, das dann nicht ausgeführt wird. Das ist der Fall beim siebten Kapitel »In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu«. Im Text finden wir fast ausschließlich abstrakte Reflexionen der Hauptfigur, erst im letzten Satz erfahren wir das Entscheidende: »Zwei Wochen später war Bonadea schon seit vierzehn Tage seine Geliebte.« (MoE, S. 30) Auch die Überschrift von Kap. I/82 »Clarisse verlangt ein Ulrich-Jahr« ist für den Leser frustrierend, weil im Text von einem »Nietzsche-Jahr«, »Buddha-Jahr« und einem »österreichischen Jahr« die Rede ist, der Verweis auf »ein Ulrich-Jahr« aber nur ganz nebensächlich erfolgt. Schließlich ist sogar das Ende des Kapitels enttäuschend, weil der Dialog zwischen Ulrich und Clarisse handlungsbedingt unvermittelt abbricht: »In diesem Augenblick wurden sie durch die Rückkehr Walters unangenehm unterbrochen« (MoE, S. 357). Der Modell-Leser des Mann ohne Eigenschaften wird häufig auf eine falsche Spur gebracht: Ein Titel wie »Jugendfreunde« leitet ein Kapitel ein, in dem es nicht um eine Freundschaft, sondern eher um eine Feindschaft, nämlich um das komplizierte Verhältnis zwischen Walter und Ulrich geht. Dieses Spiel mit den Erwartungen wird besonders deutlich, wenn die Titel aus Sprichwörtern oder Zitaten bestehen. Ein Beispiel dafür sind Überschriften wie »Liebe deinen nächsten wie dich selbst« (Nachlass/48) oder »Liebe macht blind« (II/48). In den Kapiteln wird der Sinn dieser Sprichwörter umgestülpt, es werden neue potentielle Bedeutungen freigegeben. Diese Art von Titel verlangt die Mitarbeit des Lesers, weil der Text nicht an die Überschrift anschließt. Die Überschriften sind also Teil des psychotechnischen Apparats des Mann ohne Eigenschaften. Sie stellen ständig das Wissen sowie das Vorverständnis des Lesers in Frage, indem sie die Begriffe und die sprachlichen Strukturen, auf die es sich stützt, dekontextualisieren und zu neuen Verbindungen zwingen.
2. Musils Rezeptionsästhetik Die Rezeption der Psychotechnik erfolgt parallel zu jener der Gestaltpsychologie und wird durch diese relativiert. Christoph Hoffmann und Silvia Bonacchi haben unabhängig voneinander hinsichtlich der Rezeption von Psychotechnik, Experimentalpsychologie und Gestaltpsychologie durch Robert Musil Pionierarbeit geleistet. Musil wird aber in ihren Studien einseitig dar25
Kümmel: Das MoE-Programm (s. Anm. 21), S. 332.
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gestellt: entweder als Psychotechniker oder als Gestaltpsychologe.26 Seine Ansätze zu einer Theorie des Lesers beruhen jedoch auf einer Kombination dieser psychologischen Schulen. Während er durch die Psychotechnik vor allem auf den Effekt fokussiert, den er als Autor ausüben möchte, liefert ihm die Gestaltpsychologie das Wissen, um die Reaktionen seiner Leser nachzuvollziehen. Musils Theorie des Lesers beinhaltet eine Wirkungsästhetik ebenso wie eine Rezeptionsästhetik, weil sie über beide Pole der literarischen Kommunikation, also sowohl über den Autor als auch über den Leser, reflektiert. Folglich ist die Psychotechnik für eine Rezeptionstheorie zu einseitig: Sie behandelt den Leser nur als Adressat eines Effekts und berücksichtigt nur bedingt seine Subjektivität und seine individuellen Reaktionen und Emotionen. Musil hingegen will die potentiellen Elemente des Menschen ausloten, die lebendigen Gedanken, er will »Bahnungen« schaffen zu neuen Erlebnissen, ein Gleichgewicht zwischen Innenwelt und Außenwelt fördern.27 In der Tagebuchaufzeichnung »Satyre auf Zustände, die kommen werden« (Tb I, S. 553)28 beleuchtet Musil die Gefahren einer auf Psychotechnik und Eugenetik gestützten Gesellschaft. Die Psychotechnik gehört zum Bereich des Ratioïden, weil sie es mit messbaren, klar beschreibbaren Handlungen zu tun hat. Ihr Widerpart ist das »Nicht-Ratioïde«, das »Heimatgebiet des Dichters« (GW 8, S. 1029). In einer langen Auseinandersetzung mit Münsterbergs Grundzügen der Psychotechnik in den Tagebüchern erkennt Musil, dass diese beiden Bereiche eigentlich zwei Perspektiven auf dasselbe Objekt sind. Münsterberg unterscheidet zwischen einer Kausal-, Bewusstseins-, erklärenden Psychologie und einer Intentions-, Geistes-, verstehenden humanistischen Psychologie.29 Die letztere fällt für ihn im strengen Sinne nicht in 26
27
28 29
Diese reziproke Ignoranz ist auch leicht erklärbar: Hoffmanns Werk ist 1997, Bonacchis Studie 1998 veröffentlicht worden. Vgl. Hoffmann: »Der Dichter am Apparat« (s. Anm. 6); Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. 1998 (= Musiliana, Bd. 4). Hoffmann erkennt, dass »Musils Werk schon mehrfach ausführlich auf seine Beziehung zur Gestalttheorie gelesen worden ist« (S. 141), aber er scheint eher daran interessiert, dessen Gang zur Experimentalpsychologie zu beschreiben. Seines Erachtens ist Musils Genauigkeit im Schnittpunkt instrumenteller Vermessung und psychotechnischer Rationalisierung entstanden. In Anmerkungen zum Apperceptor behauptet Musil: »Die Erhaltung dieses Wertgefühls ist eine vitale Frage der Persönlichkeit, extrasubjectiv entspricht ihm die bestehende Anpassung zwischen Individuum und Welt.« (Tb II, 928) In Tb I, S. 564, beschreibt Musil ausführlich die Kontrollmechanismen und Unterdrückungsmaßnahmen eines »Psychotechnischen Staatsinstituts«. Vgl. Tb I, S. 521: »Hugo Münsterberg, Grundzüge d. Psychotechnik, Barth 1914 [. . .] sagt auch, meine Unterscheidung von kausaler und dichterischer (Motivations)Psychologie kennzeichnet zwei verschiedene Psychologien. Er gebraucht die Ausdrücke: / Kausal-, Bewußtseins-, erklärende Psychologie / Intentions- (Auch Absichts-), Geistes-, Sinn-, verstehende humanistische Psychologie. Auch teleologische / Die erste objektiviert das Erlebnis, es wird als Bewußtseinsinhalt betrachtet, aus Elementen kombiniert. Im zweiten Fall werden innere Beziehungen verstanden, innere Absichten und Absichtenzusammenhänge erfaßt. Als Ausdruck von Sinn u. Absicht verstehen. / Den Gegenstand haben nach ihm beide Psychologien voll-
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den Bereich der Psychologie. Für die kausale Psychologie sind die Menschen Objekte, auf die man Einfluss ausüben will, für die Motivationspsychologie ist der Andere ein Alter Ego, mit dem man in einer ebenbürtigen Beziehung steht. Ich zitiere diesen langen Passus, weil er für die Unterscheidung grundlegend ist: Der Mitmensch ist für uns nicht nur psychisches Objekt, als welcher er durchaus dem Kausalzusammenhang angehört, sondern er kann für uns außerdem als Subjekt in Frage kommen, als ein Selbst. Als Objekt ist er ein Bewußtseinsinhalt, als Subjekt ist er stellungnehmender wollender Geist. Als Objekt muß er beschrieben und erklärt werden, als Subjekt kann er nur verstanden, miterlebt, gewürdigt werden. [. . .] Erst wenn wir den anderen nicht als ein Selbst auffassen, sondern als ein Glied einer Kette von Naturvorgängen, als ein Mittel, das wir benützen oder beeinflussen, dann erst gehen wir zu der künstlichen kausalpsychologischen Betrachtung über, gleichviel, ob in der vollentwickelten wissenschaftlichen Form oder in der abgekürzten naiven. Der Lehrer kann den Schüler, der Richter den Verbrecher als ein Willenssubjekt auffassen, das er zu verstehen und zu würdigen sucht oder als ein psychisches Objekt, das er zu erklären und kausal zu behandeln sucht. [. . .] Im wirklichen Leben durchdringen sich beide Auffassungen; die eine ist nicht besser als die andre, sie hat nur ganz verschiedene Ziele: welche Ziele in der einzelnen Lebenssituation geboten sind, ob wir mitfühlen und mitwollen oder ob wir erklären und berechnen wollen, kann nur das Leben selbst entscheiden.30
Während die Psychotechnik zwischen physischen und psychischen Aktivitäten unterscheidet, um sie zu beeinflussen,31 versucht die Gestaltpsychologie, die Aktivitäten als ein Ganzes zu verstehen. Die erstere entzieht sich der ethischen Dimension, weil sie die Ansprüche und das Wollen der Subjekte ignoriert.32 Die intentionale oder dichterische Psychologie sowie die Gestaltpsychologie sind hingegen an den Menschen als Subjekte interessiert. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis von Musils Modell-Leser maßgeblich. Der Autor steht nämlich in einem »kausalen« Verhältnis zum Leser (Tb I, S. 521), wenn er auf ihn einen Effekt ausüben will, er steht aber in einem »motivierten« Verhältnis, wenn es darum geht, die (mögliche) Wirkung dieses Effekts zu beschreiben. Die subjektive Rezeption eines literarischen Textes entzieht sich den Vorgaben des Autors und des Tex-
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kommen gemeinsam. Ob die zweite Psychologie zu nennen ist, bezeichnet er als fraglich, aber sie sei wichtig.« Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik (s. Anm. 8), S. 38 f. So versteht es auch Curt Piorkowski: Die psychologische Methode der wirtschaftlichen Berufseignung (s. Anm. 7), S. 40, der in Musils Vortrag zitiert wird: »Schon Münsterberg hat diese zweifache Möglichkeit gesehen [. . .], dass man einmal den Geistesprozess, den die berufliche Tätigkeit erheischt, als ein unzerlegbares Ganzes auffasst und experimentelle Bedingungen herstellt, unter denen sich dieses komplizierte seelische Geschehen in abstufbarer Weise betätigen kann und das andere Mal die seelische Arbeit in ihre Komponenten zerlegt und dann jede Elementarfunktion in isolierter Form prüft«. Vgl. Musils Unterteilung der Psychologie in Tb I, S. 522.
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tes, weil sie in einem stets neuen Rahmen erfolgt. Wenn man die literarische Lektüre aus der Perspektive des Autors betrachtet, ist es eine Wirkungsästhetik, vom Leser her gesehen ist es eine Rezeptionsästhetik. Wie ich schon erwähnt habe, sind die Studien über den Einfluss der Psychotechnik und Gestaltpsychologie bei Musil in diesem Punkt zu einseitig. An der kausalistischen, objektivistischen Perspektive krankt auch das facettenreiche Buch von Albrecht Kümmel, weil er die Interaktion zwischen dem Text Musils und dem Leser wie eine »Begegnung zweier Maschinen« konzipiert, deren Programm im Leser abläuft.33 Wirkungs- und Rezeptionsästhetik müssen hingegen ständig integriert werden. Der wichtigste Bezugspunkt für Musils Rezeptionsästhetik ist die Studie Wege zur Kunstbetrachtung von Johannes von Allesch – ein Buch über die gestaltpsychologische Ästhetik, das Musil rezensiert hat. In Wege zur Kunstbetrachtung (1921) wird das Kunstwerk als eine Gestalt beschrieben. Das Kunstwerk wird von einem psychologischen Standpunkt aus analysiert, aus der Perspektive seines Rezipienten. Für Allesch besteht das Bild weder aus der Erscheinung noch aus der Farbe, sondern bildet sich erst in unserem Bewusstsein.34 Allesch unterscheidet zwischen dem »Inhalt« und dem »Gehalt« des Kunstwerks. Der Gehalt ist ein weiterer Begriff, denn er entsteht aus der Zusammenfassung aller expressiven Komponenten des Werks und bildet sich erst im Bewusstsein des Rezipienten von Kunstwerken (GW 9, S. 1518); erst im Gehalt drückt sich die künstlerische Vitalität aus. In der ästhetischen Kommunikation bildet sich somit ein »Erfüllungsverhältnis«35 zwischen einem Kunstwerk und seinem Betrachter oder zwischen Text und Leser. Der Sinn des Werks ist nicht eindeutig, weil die Haltung des Betrachters oder des Lesers ausschlaggebend ist, damit die innere Darstellung des Werks (die Intention) richtig verstanden wird. Die Gestalt des Werks wird auch in Verbindung zur Gefühlswelt und Begriffswelt des Lesers gesetzt. Deshalb kann der Effekt des Werks nie ganz kontrolliert werden. Es kann sich bei einer Lektüre höchstens um eine Annäherung handeln; Musil spricht in seiner Rezension von Alleschs Werk von »optimalem Mißverstehen« (GW 9, S. 1520) zwischen 33
34 35
Vgl. Kümmel: Das MoE-Programm (s. Anm. 21), S. 111: »Ein Roman als Schaltplan/Programm. Eine solche Lektüre kann nur dann Erfolg versprechen, wenn Lektüre selbst Programmierung/ Schaltung heißt, wenn Lesen zu einem durchaus technischen Vorgang wird, einer Begegnung zweier Maschinen. Der Leser muß also selbst Maschine sein, ein Leierkasten, eine Spieluhr, deren Programmwalze der Text ist, den er nicht rezipiert, wahrnimmt also und danach ein Verstehensspiel, einer Suche nach Sinn und Bedeutung unterwirft, sondern abgreift, abtastet um ihn dann – laufen zu lassen« (S. 110). Kümmel behauptet: »Musil fordert ein Rezeptionsprogramm, ein Lektüretraining« (S. 239). Kein Wunder, dass er am Ende seiner Studie zugestehen muss »Das MoE-Programm läuft. Es läuft aber nicht infolge des Musilschen Textes. Und: es ändert nichts.« (S. 430) Wir müssen nämlich in Bezug auf die literarische Lektüre immer die Doppelperspektive von Wirkungs- und Rezeptionsästhetik vor Augen haben. Johannes von Allesch: Wege zur Kunstbetrachtung. Dresden 1921, S. 35. Allesch: Wege zur Kunstbetrachtung (s. Anm. 34), S. 49.
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der Intention des Kunstwerks und der Lektüre des Rezipienten. Der Sinn eines Gedichts ist für Musil vage und unbeschreiblich, weil der weite Rahmen des Gehalts und die inneren Anklänge des Lesers mitschwingen. Jede Lektüre ist also innerhalb eines gewissen Kontextes zu verstehen (GW 8, S. 1150). Der Effekt einer Handlung, auf den die Psychotechnik zielt, muss im Rahmen der spezifischen Wirkung dieses Effekts auf einen Menschen beobachtet werden. Das glaubt auch Kurt Lewin, den Musil rezipiert und der sich polemisch gegen die statistischen Messverfahren der Psychotechnik wendet: Äußere Bewegungen, Leistungen, Verhaltungsweisen, und ebenso bestimmte Erlebnisse, die als isolierte Ereignisse betrachtet fast identisch sind, können psychologisch etwas völlig verschiedenes bedeuten, wenn sie als Teile verschiedenartiger Gesamtprozesse auftreten, wenn sie in verschiedene Geschehensabläufe eingebettet sind.36
Im Laufe der Jahre wird Musils Rezeptionsästhetik sowohl durch die Perspektive der Psychotechnik als auch durch die der Gestaltpsychologie genährt. Die Psychotechnik interessiert sich für die kausale, teleologische Beziehung zwischen Autor und Leser, sie zielt auf den Effekt ab. In Musils Rezeptionsästhetik wird hingegen der Leser ein »erweiterter Autor«, wie schon Novalis ihn definiert hat. An einem anderen Romantiker, Friedrich Schlegel, bemerkt Musil Folgendes: Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen [sic!] Kalkül, . . . um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schr. konstruiert und schafft sich einen Leser wie er sein soll . . . Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilologie oder Sympoesie.37
Musil erkennt, dass der Leser eine bestimmende Funktion für die Bedeutung des Textes hat. Er ist nicht nur der Exeget des Textes, der Dechiffrierer eines Kodes, weil der Text ohne Leser tot ist. Die Beziehung des Lesers zu den Gestalten eines Buches ist der Art, wie wir Mitmenschen wahrnehmen, ähnlich. Wenn ich Raskolnikow lese, ergreifen mich Raskolnikow und Dostojewski; wenn ich die Aufzeichnungen des Malte Lauridzs [sic] Brigge lese, ergreift mich nur Rilke; wenn ich Hannele sehe, ergreift mich nur Hannele; wenn ich Mdme. Bovari lese, ergreift mich Mme. Bovari und ein unkonkretes Drittes; wenn ich die Kleine Stadt lese, ergreift mich nur dieses Dritte. Was an einem Buch ergreift, hat mit der Bekanntschaft mit einem Menschen manches gemeinsam und zuweilen einiges nicht. Ich kann über die Gestalten eines Buchs nachdenken, wie über Menschen, die ich kennen gelernt habe ohne mich noch in ihnen auszukennen. Ebenso über den Dichter. Was das Dritte ist, bleibt vorläufig noch ungelöst. Es ist eins aber wichtig und so ganz einfach: Die Gestalten des Buchs leben nicht und der Dichter lebt nicht. (Tb I, S. 447) 36 37
Kurt Lewin: Gesetz und Experiment in der Psychologie. Berlin-Schlachtensee 1927, S. 382. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/4.
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Eine wissenschaftliche/psychotechnische Ästhetik erweist sich als nicht durchführbar, weil die Beziehungen zwischen Text und Leser zu viele Variable aufweisen. Außerdem wird hier nicht nur die intellektuelle Dimension des Lesers angesprochen, sondern auch seine Emotionen, seine Ergriffenheit. In der oben zitierten Tagebuchaufzeichnung spricht er von einem »unkonkreten Dritten«, das sich zwischen Text und Leser auftut. Musil scheint hier seine psychotechnische Perspektive aufzugeben – zugunsten eines Dialogs zwischen Autor und Leser, der einer Kommunikation zwischen Freunden ähnelt. Im Nachlass von Musil finden wir eine große Menge von Aufzeichnungen, in denen er sich in den Leser projiziert, um eine dialogische Situation aufzubauen. Es entsteht eine Beziehung inter pares, bei der die Leser nicht durch eine Technik unterjocht werden soll, wie die folgenden Beispiele zeigen: Solcher Widerspruch erscheint dem Leser natürlich38 U. liebt Ag. Will nicht Inzest (was ihm der Leser nicht verübeln wird)39 Der Leser will nur erfahren wie Anm. 12 weitergeht40 Für die Leser muß herausgearbeitet werden [. . .]41 Dem Leser erklären42 Was U. zuletzt sagt ist (auch für den Leser, ja selbst für U.) nur halb verständlich43 Das Bedürfnis des vernünftigen Lesers, neben dem der Erzählung, so gut wie möglich berücksichtigt werden44 Vergiß nicht, daß der Leser auch schon wissen möchte was geschehen kann.45 Ich möchte, daß jetzt etwas geschieht (der Leser auch)46
Obgleich diese Reflexionen über den Leser nicht in die endgültigen Versionen der Texte Eingang gefunden haben, beweisen sie, dass Musil stets an die Adressaten seiner Texte dachte. Die endgültige Absage an eine rein psychotechnisch fundierte Ästhetik erfolgt in dem Moment, wo der Autor vom »Führer« zum »Freund« und »Gesinnungsgenossen« wird (GW 8, S. 1339). Die literarische Kommunikation darf dabei weder als rein subjektiv noch rein objektiv gedacht werden, weder auf den Autor noch auf den Leser beschränkt. Nur so kann, laut Musil, Literatur wirksam sein: Der Leser sucht nicht den Führer, sondern den Gesinnungsgenossen, er ist selbst Autor einer Weltanschauung und anonymen Ästhetik und sieht – gestützt auf den Irrtum, daß alles Kunsturteil ja doch bloß subjectiv sei – in dem andern nur eine Art 38 39 40 41 42 43 44 45 46
KA/Transkriptionen/Mappe II/3/125: Die meisten dieser Textstellen sind Selbstkommentare zum Mann ohne Eigenschaften der 30er Jahre. KA/Transkriptionen/Mappe II/5/62. KA/Transkriptionen/Mappe II/5/97. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/175. KA/Transkriptionen/Mappe II/8/186. KA/Transkriptionen/Mappe II/9/21. KA/Transkriptionen/Mappe V/1/2. KA/Transkriptionen/Mappe V/3/144. KA/Transkriptionen/Mappe V/3/196.
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executives Organ, einen Auslagenarrangeur seines Innern – Die Folge davon ist die außerordentliche Einflußlosigkeit dieser Literatur auf das Ganze u. ihre Herabsetzung zu einer leeren Selbstbestätigung der Autoren. (GW 8, S. 1339 f.)
Parallel zu dieser Miteinbeziehung des Lesers liegt die Aufmerksamkeit seiner emotionalen Sphäre. Deshalb betont Musil: [D]ie Hauptwirkung eines Romans soll auf das Gefühl gehen. Gedanken dürfen nicht um ihrer selbst willen darin stehen. Sie können darin, was eine besondere Schwierigkeit ist, auch nicht so ausgeführt werden, wie es ein Denker täte; sie sind »Teile« einer Gestalt. Und wenn dieses Buch gelingt, wird es Gestalt sein, und die Einwände, daß er einer Abhandlung ähnele u. dgl. werden dann unverständig sein. Der Gedankenreichtum ist ein Teil des Reichtums des Gefühls. (MoE, S. 1942)
Der Autor kann auf der Ebene des Gefühls nichts vorschreiben, sondern höchstens Modelle geben. Ich kann hier aus Platzgründen nur einige nennen, die wir in Musils Werken finden: Inversionserlebnisse, die Gestik im Mann ohne Eigenschaften,47 das »Leben wie Lesen« (vgl. MoE, S. 563), das motivierte Leben, die Rezeption des Empathiediskurses seiner Zeit in seiner Poetik.48 Wie ich gezeigt habe, sind in Musils essayistischen und literarischen Schriften wirkungs- und rezeptionsästhetische Reflexionen zum literarischen Leser enthalten. Oft sind sie auf seine eigenen Leser bezogen, auf seine Erfolge und Misserfolge als Autor. Dass Musil ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist, beweist, dass seine Texte im Publikum der Hochliteratur einen dauernden und reichen Effekt ausgeübt haben und ausüben. In seiner Rezeptions- und Wirkungsästhetik ist es ihm somit gelungen, seinen Erfolg als elitären Autor und seinen Misserfolg als »Großschriftsteller« zu beschreiben.
47 48
Vgl. Salgaro: Robert Musil teorico della ricezione (s. Anm. 2), Kapitel IV . Siehe seine Rezeption von Theodor Lipps Schiften in KA/Transkriptionen/Mappe VII/13/4.
Rosmarie Zeller
Nachruf auf Marie-Louise Roth (1926–2014) Am 25. Mai 2014 ist Marie-Louise Roth in Straßburg gestorben. Sie wurde am 1. August 1926 als Marie-Louise Zimmermann als einzige Tochter eines Lehrerehepaars im Elsass geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihre glückliche Jugend wurde jäh abgebrochen, als sie mit ihren Eltern 1942 in ein SS-Umsiedlungslager in Schelklingen (Baden-Württemberg) verbracht wurde, wo sie bis 1945 verblieb. Nach ihrer Pensionierung hat sie über diese Erlebnisse geschrieben (Denk’ ich an Schelklingen. . . Erinnerungen einer Elsässerin an die Zeit im SS-Umsiedlungslager Schelklingen (1942–1945), 2001). Trotz dieser schlechten Erfahrungen mit den Deutschen hat sie nach dem Krieg an der Universität Straßburg ein Studium der Germanistik aufgenommen. Nach dem Abschluss ihrer Studien war sie zunächst als Gymnasiallehrerin im Elsass tätig. 1956 kehrte sie an die Universität zurück, indem sie eine Assistentenstelle an der französischen Abteilung der Universität des Saarlandes in Saarbrücken annahm. Dieser Universität ist sie bis zu ihrer Emeritierung 1992 treu geblieben. Ab 1976 war sie ordentliche Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der französischen Abteilung. Unter ihrer Leitung entstanden zahlreiche Dissertationen zum Werk Robert Musils. Kurz nach Erscheinen der von Adolf Frisé betreuten Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften (1952) ist sie auf Musil, dem sie den größten Teil ihres Forscherlebens widmete, aufmerksam geworden. 1970 gründete sie die »Arbeitsstelle für Robert-Musil-Forschung« an der Universität des Saarlandes, die heute Bestandteil der »Arbeitsstelle für österreichische Literatur und Kultur – Robert-Musil-Forschung« (AfÖLK) ist. Diese wurde, da sie Musils Nachlass in Kopie sowie eine umfangreiche Bibliothek mit Literatur über Musil und seine Zeitgenossen besaß, zu einem Anziehungspunkt für Forschende aus der ganzen Welt, die in Saarbrücken freundliche Aufnahme fanden, nicht zuletzt dank Marie-Louise Roths Großzügigkeit. 1974 gründete sie in Wien unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundeskanzlers und Musil-Lesers der ersten Stunde, Bruno Kreisky, die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG), deren Präsidentin sie von 1974–2001 war. Bei ihrem Rücktritt wurde sie zur Ehrenpräsidentin ernannt. Während ihrer Präsidentschaft organisierte sie zusammen mit der langjährigen Geschäftsführerin Annette Daigger zahlreiche Kolloquien im In- und Ausland. Mit ihrem 1972 erschienenen Werk Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters gehört sie zu den Musil-Forschern der ersten
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Rosmarie Zeller
Stunde. 1980 erschien ihre an der Universität Straßburg entstandene Thèse d’état zum Nachlass zu Lebzeiten in einer gekürzten Fassung in zwei Teilen unter dem Titel: Robert Musil. Les oeuvres-préposthumes mit einer kritischen Edition der oft in mehreren Fassungen überlieferten Texte des Nachlass zu Lebzeiten. In ihren Nachforschungen zu dieser Arbeit hat sie zahlreiche bis dahin unbekannte Abdrucke in Zeitungen gefunden. Gleichzeitig hat sie auch unbekannte Theaterkritiken gefunden, die sie bereits 1965 unter dem Titel Robert Musil: Theater. Kritisches und Theoretisches publizierte. Nach ihrer Emeritierung wandte sie sich Martha Musil zu, welcher sie eine zusammen mit Annette Daigger und Martine von Walter entstandene Briefausgabe (Martha Musil: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet, 1997) sowie eine Biographie (Un destin de femme – Martha Musil. L’amante, l’épouse, la soeur, 2007) widmete. Sie hat auch zahlreiche Kontakte unterhalten zu Personen, die Musil noch gekannt haben, insbesondere zu Robert und Susa Lejeune sowie zu Valérie Petter-Zeis. Von diesen Kontakten zeugen die zahlreichen Briefe, die sich in ihrem 2012 der Arbeitsstelle für österreichische Literatur vermachten Nachlass befinden (siehe das Verzeichnis in diesem Band). Neben ihrer beruflichen Karriere zog Marie-Louise Roth zusammen mit ihrem Mann Ernest drei Kinder auf, damit wurde sie zu einer Zeit, als Akademikerinnen mit Kindern noch kaum Karriere machen konnten, auch zu einem Vorbild für viele ihrer Schülerinnen. Als langjährige Präsidentin der IRMG und als leidenschaftliche RobertMusil-Forscherin wird Marie-Louise Roth den Mitgliedern der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft in guter Erinnerung bleiben.
Karl Corino
Nochmals zu: Törleß-Auflage hochgejubelt? Von Widersprüchen und Dunkelziffern In meiner Miszelle im Musil-Forum 32 habe ich festgestellt, dass Rowohlt die Auflage des Törleß mit ›11. bis 15. Tausend‹ zu hoch angibt, dass es ›9. bis 13. Tausend‹ heißen müsste.1 Nun erweist sich die Lage als noch komplizierter: Im Besitz des Münchner Musil-Kenners und -Sammlers Markus Weiss sind zwei Prospekte des Rowohlt-Verlags, in denen nach Erscheinen des Mann ohne Eigenschaften das gesamte Werk beworben wird (im einen wird sogar das 6. bis 10. Tausend des Mann ohne Eigenschaften angekündigt, woraus dann allerdings nur das 6. und 7. Tausend wurde). Mit Weiss könnte man nun fragen, ob nicht das in diesen Prospekten annoncierte 6. bis 10. Tausend des Törleß die wahre Auflage verrät. Dies würde freilich auch bedeuten, dass der Wiener Verlag 1906/1907 nur 2000 Exemplare von Musils Erstling druckte und dass die Ankündigungen des 3., 4. und 5. Tausends vom Februar und April 1907 nur Reklametricks des dem Bankrott nahen Verlags gewesen wären! Solange nicht Exemplare des 3. bis 5. Tausends aus dem Wiener Verlag auftauchen, ist diese Frage nicht zu entscheiden. Jedenfalls ergäben 2000 Exemplare aus dem Wiener Verlag und 3000 von Georg Müller genau die Auflage, die Rowohlt bei seiner neuen Ausgabe des Jahres 1930 mit Recht vom 6. bis 10. Tausend sprechen ließe. Der Widerspruch zum Impressum des Buches selbst (11. bis 15. Tausend) ist ärgerlich und wäre eventuell eine ähnliche Hochstapelei wie beim Wiener Verlag. Wie schleppend der Verkauf der Müller’schen Ausgabe seit 1911 (ab 1914 bei S. Fischer) verlief, muss Rowohlt klar gewesen sein, weil er 1925 noch Exemplare des 2. Tausends übernahm und aufbinden ließ. (Markus Weiss besitzt ein solches Exemplar.) War es gelungen, bis 1930 das 3. Tausend komplett abzusetzen? Im Prospekt von 1931 zeigte sich der Verlag jedenfalls vom literarischen Wert des Romans und vom Rang seines Autors als eines »großen verheimlichten Dichter[s]« überzeugt. Das Urteil Stefan Großmanns im Tagebuch spreche eine Wahrheit aus, obwohl Robert Musil gleich mit seinem ersten Buch einen Erfolg gehabt hat, der ihm nicht nur in Deutschland größte Beachtung eintrug, sondern seinen Namen auch weithin im Ausland bekannt machte. Es war das der Roman Die 1
Vgl. Karl Corino: Törleß hochgejubelt?, in: Musil-Forum 32 (2011/2012), S. 220.
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Karl Corino
Verwirrungen des Zöglings Törleß. Dieses Buch schildert in einer bis heute neu gebliebenen Art der Sprache und Betrachtung Vorgänge in einem Konvikt und ist nicht nur künstlerisch der vorbildliche und unübertroffene Jugendroman geworden, sondern auch eine der wichtigsten Quellen zeitgenössischer Erziehungsformen. Groß waren, der damaligen Zeit entsprechend, die moralischen Widerstände, die es bei seinem Erscheinen fand, und da nach wenigen Wochen der Verlag, der es herausgegeben hatte, zu bestehen aufhörte, konnte sich der Erfolg nicht in die Masse des Lesepublikums auswirken. Dieses Buch hat aber niemals seine Aktualität eingebüßt und ist niemals vergessen worden und ist heute von neuem bestimmt, in weite Kreise zu dringen.
Gestützt auf solche Argumentation, an der Musil wahrscheinlich mitgewirkt hatte, wagte Rowohlt eine 5000er-Auflage. Davon waren im Juli 1938, als Bermann Fischers Bestände von den Nazis bilanziert wurden – er hatte den Törleß mit dem übrigen Werk im Juni 1937 von Rowohlt übernommen – noch 2509 Exemplare vorhanden. Vorausgesetzt, der schwindsüchtige Wiener Verlag hätte 1907 das 3. bis 5. Tausend tatsächlich nur fingiert, dann hätte der Gesamtverkauf von Musils Erstling zu seinen Lebzeiten demnach maximal 7500 Exemplare betragen. Die Freiexemplare für die Kritik und den Autor in unbekannter Höhe müssten noch abgezogen werden . . .
Annette Daigger, Isabelle Dalaudière
Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung an die Universität des Saarlandes Ein Bericht 2012 schenkte Frau Prof. Dr. Marie-Louise Roth unter dem Titel Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung ihre Privatbibliothek mit Werken von und über Musil sowie ihr Privatarchiv mit Briefen von und an Robert und Martha Musil der »Arbeitsstelle für österreichische Literatur und Kultur – Robert Musil-Forschung« (AfÖLK) an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Marie-Louise Roths Interesse an Robert Musil geht auf das Jahr 1953 zurück, wo sie als junge Wissenschaftlerin auf den Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der 1952 durch Adolf Frisé neu herausgebracht worden war, stieß. Seit dieser Zeit stand Musil im Zentrum ihrer Forschung. Nach und nach legte sie eine umfangreiche Sammlung an, die die verschiedenen Aspekte des Dichters und seines Werkes dokumentierte. 1970 gründete MarieLouise Roth die »Arbeitsstelle für Robert-Musil-Forschung« an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, die sie bis zu ihrer Emeritierung 1991 leitete. 1974 gründete sie mit der Unterstützung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Internationale Robert-Musil-Gesellschaft, deren Präsidentin sie bis 2001 war. Marie-Louise Roth verstarb am 25. Mai 2014. Im Folgenden sind die Bestände der Ernest- und Marie-Louise-RothSchenkung kategorisiert und angeführt:
1. Briefe 1.1 Briefe von/an Robert Musil – Brief Robert Musils an Gottfried Bermann Fischer vom 7. 6. 1938, Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen ohne Unterschrift (Reinschrift gedruckt in Br I, S. 823) – Brief des Morgarten-Verlags, Zürich, an Robert Musil vom 20. 10. 1938 mit der Ablehnung eines Publikationsprojekts: Die Direktion habe entschieden, »auf Ihr Angebot nicht einzugehen, und zwar, weil sie die zur guten Realisierung Ihres Planes notwendigen Summen unter den
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Annette Daigger, Isabelle Dalaudière
heutigen Umständen dem Morgarten-Verlag nicht bewilligen möchte, anderseits aber ohne weiteres einsieht, dass Ihre Forderungen für einen Autor Ihres Ranges keineswegs übersetzt sind.« Brief von Gottfried Bermann Fischer an Robert Musils vom 6. 12. 1939 aus Stockholm, mit der Nachricht einer Überweisung von 250 Schweizer Franken (vgl. KA/Lesetexte/Bd. 20 Schweizer Korrespondenz 1939– 1942/Bermann Fischer Verlag an Robert Musil, 6. 12. 1939) 2 Briefe von Hans Lothar, dem Mitarbeiter des englischen Verlags Martin Secker & Warburg Ltd, London, an Robert Musil vom 26. 3. 1940 und 22. 4. 1940. Es geht um eine eventuelle Zusammenarbeit. Musil hatte am 27. 3. 1940 an Lothar geschrieben (vgl. Br I, S. 1167 f.) Brief von Erwin Hexner an Robert Musil vom 29. 3. 1941 aus Chapel Hill.1 In diesem Brief antwortet Hexner u. a. auf die Frage Musils, ob er nach Amerika kommen solle (vgl. dazu den Brief Musils an Hexner in Br I, S. 1265–1267): »Ich habe das Gefühl, dass Sie – wenn technisch möglich – herkommen sollten. [. . .] Erstens ist es ein Sicherheitsventil, zweitens werden Sie eine ›neue Welt‹ erleben. [. . .] Wenn Sie die grosse Standardisierung von Geist und Material hier erfahren werden, und dass das aufs-gleiche-Niveau-bringen gleichzeitig socialen Segen und spirituellen Fluch nach sich ziehen kann: dann werden Sie zugeben, dass es notwendig war Amerika zu sehn.« Kopien der Briefe Robert Musils an Otto Pächt (1935–1939) 4 Briefe von Hans W. Schwerin an Robert Musil (1940–1941; 1972 der Arbeitsstelle geschenkt); Abdruck der Briefe in Br I, S. 1169 f., 1188, 1326– 1328 u. 1342 f.
1.2 Briefe von/an Martha Musil I: Privatkorrespondenz – 63 Kopien von Briefen Martha Musils an Pfarrer Robert Lejeune (29. 4. 1942 bis 21. 5. 1949) – 4 Briefkonzepte Martha Musils an Robert Lejeune (1947–1949) – 2 Briefe Robert Lejeunes an Martha Musil (1944, 1948)2 – 2 Briefe von Jacques Legrand, Montpellier (1946–1947), im Zusammenhang mit einem offenbar nicht zustande gekommenen Dissertationsprojekt über Musil – 2 Briefe von Nani Maier, Wien (1949), im Zusammenhang mit einem Dissertationsprojekt
1 2
In der Schenkung befinden sich auch Briefe Hexners an Martha Musil, siehe Abschnitt 1.2. Zu der Korrespondenz von Marie-Louise Roth mit Robert und Susa Lejeune und zum Inhalt der Akte Robert Lejeune siehe die Abschnitte 1.4 u. 2.2.1.
Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung
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– 4 Briefe von Karl Riskamm (1948–1949), im Zusammenhang mit einem Dissertationsprojekt – 8 Briefe von Johannes von Allesch an Martha Musil (1947–1949) – 7 Briefkonzepte Martha Musils an Johannes von Allesch – 3 Briefe von Harald Baruschke an Martha Musil (1948–1949) – 2 Briefe Erwin Hexners an Martha Musil (6. 9. 1947–1. 8. 1949) – 4 Briefe amerikanischer Verleger an Erwin Hexner (1946) – 1 Brief von Fritz Wotruba an Martha Musil (12. 11. 1944) – 3 Briefe von Gaetano Marcovaldi an Martha Musil (1947–1949) – 8 Briefe von Thilde Ziegler-Rosenthal an Martha Musil (1947–1949) – 5 Briefe von Barbara Church an Martha Musil (1945–1947) – 1 Brief von Walter Behrendsohn an Martha Musil (12. 07. 1957) – 1 Briefkonzept Martha Musils an Walter Behrendsohn – 6 Briefe von Hilde Biäsch an Martha Musil (1947–1949) – 2 Briefkonzepte Martha Musils an Hilde Biäsch – 1 Brief von Christine Caroll – 4 Briefe von Martha Hekimy an Martha Musil (1947–1949) – 1 Briefkonzept Martha Musils an Martha Hekimy – 4 Briefe von Ernst Kaiser an Martha Musil (1949) – 5 Briefkonzepte Martha Musils an Ernst Kaiser (1949) – 2 Briefe von Joseph Kalmer an Martha Musil (1946) – 1 Briefkonzept Martha Musils an Joseph Kalmer (23. 03.47) – 4 Briefe von Susanne Langnese an Martha Musil (1947–1949) – 1 Brief von Soma Morgenstern an Martha Musil (17. 2. 1948) – 2 Briefe von Karl Otten an Martha Musil (1947) – 1 Briefkonzept Martha Musils an Karl Otten (1947) – 1 Brief von Otto Pächt an Martha Musil (20. 1. 1949) – 1 Brief von Carlo Pietzner an Martha Musil (4. 9. 1947) – 6 Briefe von Willi Reich an Martha Musil (1946–1949) – 3 Briefkonzepte Martha Musils an Willi Reich (1946) – 1 Brief von Nellie Seidl, Mitarbeiterin des Comité International pour le placement des Intellectuels Réfugiés, an Martha Musil (02. 04. 1947) – 1 Brief von Victor Wittner an Martha Musil (11. 05. 1949) – 1 Brief von Heinrich Würgler an Martha Musil (26. 10. 1946) – 1 Briefkonzept Martha Musils an Hans Lothar (29. 11. 1946) – 4 Briefe von Franz Zeis an Martha Musil (1948–1949) – 3 Briefkonzepte Martha Musils an Franz Zeis (1948–1949)
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Annette Daigger, Isabelle Dalaudière
1.3 Briefe von/an Martha Musil II : Korrespondenz mit Verlagen und Verlegern – 9 Briefe und Telegramme von Ernst Rowohlt an Martha Musil (1948– 1949) – 12 Briefkonzepte Martha Musils an Ernst Rowohlt (1948–1949) – 1 Brief von Gottfried Bermann Fischer an Martha Musil (1946) – 2 Briefe des Bermann-Fischer Verlags an Martha Musil (1948) – 3 Briefkonzepte Martha Musils an Gottfried Bermann Fischer (eines von 1946) – 18 Briefe des Pegasus-Verlags an Martha Musil (1944–1949) – 5 Briefkonzepte Martha Musils an den Pegasus-Verlag (1944–1948) – 11 Briefe von Henry Goverts (1945–1948) und Eugen Claassen (1948) an Martha Musil – 5 Briefkonzepte Martha Musils an Henry Goverts und Eugen Claassen (1948) – 1 Brief des Luckmann-Verlags an Martha Musil (17. 06. 1949) – 2 Briefe des Kosmos-Verlags an Martha Musil (1949) – 3 Briefe des Gallus-Verlags an Martha Musil (1947) – 2 Briefkonzepte Martha Musils an den Gallus-Verlag (1947) – 2 Briefe des Weismann-Verlags an Martha Musil (15. 3. 1949–9. 5. 1949) – 4 Briefe von Max Krell, Lektor bei Ullstein, an Martha Musil (1946–1947) – Weitere Briefe an Verleger in der Schweiz, in Frankreich und Schweden im Zusammenhang mit Martha Musils Bemühen, das Werk ihres Mannes zu veröffentlichen
1.4 Briefe von/an Marie-Louise Roth – – – – – – – – – – –
60 Briefe vom/an den Rowohlt-Verlag (1954–1978) 14 Briefe von Karl Baedecker an Marie-Louise Roth (1968–1982) 21 Briefe von Otto Pächt an Marie-Louise Roth (1976–1984) 25 Briefe von Hans Schwerin an Marie-Louise Roth (1972–1984) – Schwerin lernte Musil in Genf kennen, bevor er nach Amerika auswanderte; er schildert in diesen Briefen, wie er Robert Musil kennenlernte 33 Briefe von Valerie Zeis an Marie-Louise Roth (1958–1961) Briefe an Valerie Zeis von Karl Dinklage (2) und Otto Rosenthal (1) (1959– 1961) 10 Briefe von Otto Rosenthal an Marie-Louise Roth (1959–1975) 1 Brief von Otto Rosenthal an Valerie Zeis (23. 7. 1958) 1 Brief von Otto Rosenthal an Gustav Donath (3. 9. 1959) 84 Briefe von Gaetano Marcovaldi an Marie-Louise Roth (1966–1977) 8 Briefe von Edgar Rosenthal an Marie-Louise Roth (1980–1998)
Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung
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– 6 Briefe von Georg Scherg (1917–2002) an Marie-Louise Roth (1992– 1993) – 7 Postkarten und 4 Briefe von Hugo Huppert (1902–1982) an MarieLouise Roth (1958–1978) – 3 Briefe von Marie-Louise Roth an Robert Lejeune (1969–1970) – 7 Briefe von Susa Lejeune an Marie-Louise Roth (1972–1980)
1.5 Sonstige Briefe – Brief von Franz Blei an einen unbekannten Leser der Zeitschrift Der Lose Vogel vom 14. 8. 1912 – 3 Briefe von Franz Blei an den Amtsrichter Krug vom 20. 9. 1912 und 24. 3. 1913 sowie einen undatierten Brief (Umschlag trägt das Datum 19. 5. 1913) – Typoskript der Kritik von Franz Blei über Musils Törleß, undatiert, handschriftliche Unterschrift – 3 Originalbriefe Otto Pächts an seinen Freund Julius Overhoff (1935), die Wiener Musil-Gesellschaft betreffend
2. Dokumente 2.1 Erstdrucke von Texten Musils – Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch), in: Der Friede. Bd. 2 (Nr. 48 /49), 23. 12. 1918, S. 543 (mit handschriftlichen Korrekturen Musils) – Tonka, in: Der neue Roman (1922), H. 9 – Monkey Island, Tangle-Foot, The Mouse in The Fodara Vedla, in: Broom (Mai 1922), H. 2 (erste Übersetzungen von Texten Musils ins Englische) – Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere, in: Militärwissenschaftliche und technische Mitteilungen (1922), H. 6 – 2 Exemplare der Erstausgabe von Die Portugiesin. Berlin: Ernst Rowohlt 1923 (Handpressendruck der Officina Serpentis Berlin Steglitz in 200 Exemplaren) – Die Amsel, in: Die neue Rundschau 39 (1928), H. 1, S. 36–59 (mit handschriftlichen Korrekturen Musils)
2.2 Verschiedene Dokumente im Zusammenhang mit Musils Biographie – Erinnerungen Edgar Rosenthals an seine Großmutter Martha Musil – Wissenschaftlicher Aufsatz von Otto Rosenthal (Induction of cytochrome P-450 by long-term infusion of phenobarbirtal, 1977)
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Annette Daigger, Isabelle Dalaudière
– Würdigung von Otto Rosenthal durch Marie-Louise Roth (erschienen unter dem Titel Hommage à Otto Rosenthal, in: Musil-Forum 6 (1980), H. 2) – Werbeprospekt von Rowohlt für die 1. Auflage von Der Mann ohne Eigenschaften – Bronzener Abzug der Todesmaske Musils – Fahnen zu Aus einem Rapial – Otto Ernst Hesse: Robert Musil, in: Die schöne Literatur (3. 3. 1923), H. 5 – Karl Blank: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Weltstimmen (1931), H. 10 2.2.1 Akte Robert Lejeune – Kopien von Briefen an Lejeune von Musil-Forschern aus den 1960er und 1970er Jahren (u. a. von Ernst Kaiser, Karl Dinklage, Elisabeth Albertsen) – Kopien des Briefwechsels Lejeunes mit Mäzenen (1939–1942) – Zeitungsausschnitte zu Musils Tod und Dokumentation über Lejeune – Artikel über Robert Lejeune von Marie-Louise Roth in der Neuen deutschen Biographie 1985 – Biographische Daten, Zeitungsartikel zum Tod Lejeunes – Aufsatz von Marie-Louise Roth über Susa Lejeune nach deren Tod (erschienen unter dem Titel In memoriam Suzanne Lejeune, in: Musil-Forum 11/12 (1985/1986)) – 4 Publikationen von Robert Lejeune über Georges Rouault, Robert Musil, Leonhard Ragaz und eine theologische Abhandlung – 1 Band mit Ansprachen bei Lejeunes Begräbnis 2.2.2 Akte Valerie Zeis – Notizen, Entwürfe, Konzepte, Aufzeichnungen, Auflistungen, Bilder, Ausstellungskataloge, Postausweiskarte (»carte d’identité«) aus dem Jahr 1922 2.2.3 Akte Gaetano Marcovaldi – Notizheft von Gaetano Marcovaldi, das die Überschrift trägt: »Übersicht der Zeichen im Inspizierbuch von R. Musil Mann o. Eig., 1. Auflage 1930, I. Band. Von Gaetano Marcovaldi zusammengestellt« – Zwei Publikationen Marcovaldis (Le letture storiche nel corso superiore degli istituti tecnici, 1932; Dall’Eneide a Virgilio, 1932) und eine Abhandlung von Eduard Schwartz (Fünf Vorträge über den griechischen Roman, 1896)
Ernest- und Marie-Louise-Roth-Schenkung
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– Briefe an und von Gaetano Marcovaldi nach dem Tod seiner Mutter (September bis Oktober 1949): 1 Brief an Lena Gedin aus Stockholm, 2 Briefe von Lena Gedin, 1 Brief vom Pegasus-Verlag
3. Bibliothek Die Bibliothek umfasst ca. 1000 Titel. Sie enthält die zu Lebzeiten Musils erschienenen Werke sowie die von Adolf Frisé herausgegebenen Bände der Werke, Tagebücher und Briefe Musils, ferner Übersetzungen seiner Werke ins Französische, Englische, Italienische. Vollständige Jahrgänge der Zeitschriften, in denen Musil publizierte: Die literarische Welt (1926–1932), Der Querschnitt (1929–1931), Summa (1917–1918), Hyperion (1907–1910), Genius (1917–1920), Die weißen Blätter (1913–1914), Der neue Roman (1922), Die Sammlung (1933–1934), Ganymed (1920–1922). Darüber hinaus Werke von Musils Zeitgenossen wie Franz Blei, Franz Theodor Csokor, Oskar Maurus Fontana, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Alfred Kerr, Ludwig Klages, Alfred Polgar, Walther Rathenau, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Stefan Zweig. Ferner enthält die Bibliothek auch Monographien, die zu Lebzeiten Musils erschienen sind, sowie Sekundärliteratur zu Musil seit den 50er Jahren.
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Bernhard Böschenstein: Die Sprengkraft der Miniatur. Zur Kurzprosa Robert Walsers, Kafkas, Musils, mit einer antithetischen Eröffnung zu Thomas Mann. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2013 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 91). 234 S. € 38,–. Unter dem Titel Die Sprengkraft der Miniatur legt Bernhard Böschenstein eine Sammlung von bereits publizierten Aufsätzen zu Thomas Mann, Robert Walser, Franz Kafka und Robert Musil vor, die er als Einführung in die Prosa der Moderne verstanden wissen will. Dass jeweils die Form des Erstdrucks der Aufsätze, die zwischen 1973 und 2009 erschienen sind, beibehalten wurde, macht die Sammlung außerdem zu einem Dokument von forschungsgeschichtlichem Interesse. Böschenstein war von 1964 bis 1998 Inhaber des germanistischen Lehrstuhls an der Universität Genf, die letzten vier Jahre bis zu seiner Emeritierung bekleidete er dort auch den Lehrstuhl für Komparatistik. Mit einer Arbeit zu Hölderlins Rheinhymne hatte Böschenstein bei Emil Staiger promoviert, mit Hans Staub und Peter Szondi übersetzte er Paul Valéry, mit Jean Bollack unter anderem Charles Baudelaire, er veröffentlichte Arbeiten zum George-Kreis, zu Paul Celan und übernahm Gastprofessuren in Princeton und Heidelberg. Das sind nur ein paar Eckdaten dieser beeindruckenden wissenschaftlichen Biographie, die jetzt noch einmal am Beispiel auch teils weniger bekannter Arbeiten des Schweizer Literaturwissenschaftlers nachvollzogen werden kann. Den Auftakt des Bandes bilden zwei Aufsätze zu Thomas Mann, in denen Böschenstein vor allem die Nietzsche-Bezüge in Tod in Venedig und im Doktor Faustus herausarbeitet, sowie ein Aufsatz zur Winckelmann-Rezeption bei Hölderlin, Jean Paul und Goethe, bei Rilke, George und wieder Thomas Mann. In diesem ersten Kapitel, das im Untertitel der Sammlung als »antithetische Eröffnung« ausgewiesen ist, stellt Böschenstein seinen Kanon vor, darauf folgt – »[d]er Kontrast zur reflektierten Lässigkeit Robert Walsers ist gewollt« (S. 7) – ein Walser-Kapitel. Das größte Verdienst von Böschensteins Walser-Arbeiten, einem Aufsatz zu dessen Dichterporträts, einer Lektüre der von Walser »geliebten« Jean-Paul-Erzählung Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal, einem Aufsatz zu Walsers früher Prosa und schließlich einer Arbeit zu den Mikrogrammen, liegt darin, dass Böschen-
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stein Lektürespuren in den Texten des »Griechenlandfreunds« Walser an Orte zurückverfolgt, die in der Walser-Forschung wenig frequentiert werden. Das Kafka-Kapitel besteht aus einem Vergleich zwischen Kafkas Betrachtung und Walsers Berliner Prosa sowie einer Lektüre der Elf Söhne. Den Abschluss der Sammlung bildet das Musil-Kapitel mit einem Aufsatz zu dessen Rede zur Rilke-Feier, einem Vergleich »extremer« Landschaften bei Mann und Musil, einem Aufsatz über den Nachlaß zu Lebzeiten und zuletzt einem Aufsatz über Tagebuchaufzeichnungen des »spätesten« Musil. Die Souveränität von Böschensteins Argumentation, das ist durch alle Aufsätze in diesem Band dokumentiert, beruht auf seiner umfassenden und detaillierten Kenntnis der Antike und der deutschsprachigen Literatur der beiden Jahrhundertwenden. Die Frage nach der Bedeutung von Nietzsches Umwertungsphilosophie für Musil oder auch für Walsers literarisches Programm, der Dieter Borchmeyer schon in seiner Studie Dienst und Herrschaft (1980) nachgegangen war (allerdings ohne anschlussfähige Thesen formulieren zu können), markiert einen weiteren, zentralen Bezugspunkt in Böschensteins Koordinatensystem. Mit Blick auf neuere und aktuelle Tendenzen in der Forschung zur Literatur der klassischen Moderne fällt auf, dass sich Böschenstein für die Produktions- und Distributionsbedingungen der Literatur im frühen 20. Jahrhundert allerdings kaum interessiert. Beispielsweise unter dem Schlagwort von Walsers »feuilletonistischer Schreibweise« wurde diese Dimension zuletzt viel stärker berücksichtigt, auch für die Kafka- und Musil-Forschung gilt, dass Überlegungen besonders zu formalen Aspekten der Texte immer auch medienhistorisch kontextualisiert werden, die Konjunktur der kleinen Form erklärt sich nicht als stilistische Präferenz einer Autorengeneration. Böschensteins Konzeption der Sammlung, die Auswahl und nachträgliche Anordnung der Aufsätze hat hohe Plausibilität; zwar sind manche inhaltliche Korrespondenzen eher auf Böschensteins eigenes Antike-Interesse zurückzuführen, aber es gibt tatsächlich zahlreiche signifikante Koinzidenzen, biographische Parallelen oder Oppositionen, thematische sowie ästhetische Berührungspunkte, durch welche diese vier Autoren miteinander verbunden sind. So bildet beispielsweise der Walser-Kafka-Vergleich, der schon von Kurt Tucholsky, Max Brod und eben Musil ins Feld geführt wurde, den Ausgangspunkt des Aufsatzes über Kafkas Betrachtung. Böschensteins Vorbemerkung, wonach die »Komposition« des Bandes einer »beabsichtigten Gesetzmäßigkeit« (S. 7) folgt, bleibt trotzdem schematisch: Angestrebt wird also eine durch ihre zuerst schroff entgegengesetzten, danach verwandten Nachbarschaften literaturgeschichtlich aussagekräftige Textfolge, deren eine Gemeinsamkeit die Kurzprosa, mit ihrer Bevorzugung essayistischer Prägnanz, deren anderen Grundzug die Neigung zu komparatistisch erweiterten Relationen ausmacht. [. . .] Man kann diese Aufsätze als Einführung in eine von großer poetischer Kraft und Konzentration zeugende Sammlung geglückter Beispiele der deutschspra-
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chigen, in Prosa vermittelten Moderne lesen. Ihre Fragmenthaftigkeit, ihre Bevorzugung skizzenhafter Innovation ist selber ein Kennzeichen der hier anzuzeigenden Gattung der Miniatur, deren Sprengkraft dieser Band gewidmet ist. (S. 7 f.)
Die etwas unpräzis formulierte These von der »Sprengkraft der Miniatur« wird an keiner Stelle im Band systematisch entwickelt; dabei hat sie in Musils Mann ohne Eigenschaften, in Walsers Bleistiftgebiet und in Kafkas Romanfragmenten durchaus gewisse Evidenz. Während Böschenstein den Akzent auf den Essayismus und die Fragmenthaftigkeit dieser literarischen Lebensprojekte legt, scheint aktuell wieder die Dialektik zwischen kleiner und großer Form ins Zentrum des literaturwissenschaftlichen Interesses zu rücken (vgl. bspw. die Gesamtanalysen des Mann ohne Eigenschaften von Inka Mülder-Bach und Norbert Christian Wolf). Böschenstein gelingen viele spannende Einzelbeobachtungen, es dürfte sich auch aus komparatistischer Perspektive als lohnend erweisen, die These von der explosiven Ausdehnung der Miniatur, der extensiven Selbstüberschreitung der kleinen Form weiterzuentwickeln. Paul Keckeis Ulrich Boss: Männlichkeit als Eigenschaft. Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 134). 251 S. € 99,95. Dass sich mit der Arbeit des Berner Germanisten Ulrich Boss nach über einem halben Jahrhundert weitgehender Ausblendung der Kategorie Geschlecht in der Musil-Forschung innerhalb kurzer Zeit nunmehr drei Monographien1 dem Thema stellen, zeugt von der Dringlichkeit des Forschungsbedarfs. Ob bereits die Tatsache, dass es sich bei den genannten Autoren sämtlich um Männer handelt, die alle schwerpunktmäßig zum Mann ohne Eigenschaften arbeiten, als weiterer Beleg für die These von Boss gelten kann, Musils Roman sei in der Rezeption nicht ganz zufällig als ›männlich‹ beschrieben worden? In jedem Fall wird die weitere Forschung die divergenten, wenn nicht widersprüchlichen Ergebnisse der drei Studien beurteilen und verorten müssen: Spricht Pohl recht allgemein von einer Ambivalenz der Geschlechterkonzeptionen und Kappeler zugespitzt von einer ›situierenden Ironie‹, so geht Boss letztlich von einer Reproduktion von Geschlechterbildern bei Musil aus. Vielleicht sind diese Widersprüche aber auch Ausdruck einer grund1
Neben Boss Peter C. Pohl: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln u. a. 2011 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe, Bd. 61) und Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 2012 (= Musil-Studien, Bd. 39).
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legenden Spannung zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion, Analyse und Synthese im Mann ohne Eigenschaften selbst. Die jeweiligen Lesarten überspitzten dann die im Roman selbst angelegten Pole in ›hysterischer‹ (dissoziierender) oder ›paranoischer‹ (assoziierender) Weise.2 Boss geht von zwei Beobachtungen aus: Erstens bezeichnet die zeitgenössische Rezeption – darunter namhafte Autoren wie Alfred Döblin, Alfred Kerr und Ludwig Marcuse – Musils Schriften notorisch als ›männlich‹. Damit ist ein zentrales Explanandum für eine geschlechtertheoretische MusilForschung benannt. Zweitens wird in der sozialgeschichtlichen Forschung eine Krise der bürgerlichen, nationalen und männlichen Identität konstatiert, der nach verbreiteter Auffassung im Mann ohne Eigenschaften ein performativer Identitätsbegriff entgegengesetzt werde. Eine zentrale Frage der Studie ist nun, ob die Geschlechterdarstellung im Mann ohne Eigenschaften einen solchen tatsächlich konsequent umsetzt. Sie wird bereits zu Beginn verneint. Wie Pohl und Kappeler zieht Boss dazu in den folgenden Analysen auch nichtliterarische Texte heran. Die angesprochene Männlichkeitskrise wird im zweiten Kapitel nach einem Exkurs zu Männlichkeitskrisen im Novellenzyklus Drei Frauen zunächst anhand des Unfalls im ersten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften diskutiert, dessen im Roman geschilderte Beobachtung bereits geschlechterstereotype Codierungen aufweist. Über die bisherige Forschung hinaus geht dann der weitere Teil des Kapitels, der im Anschluss an Walter Erharts Studie Familienmänner Männlichkeit und Erzählform aufeinander bezieht. Dabei wird konstatiert, dass im Mann ohne Eigenschaften familiäre Männlichkeiten und die mit ihr verbundenen Formen der Ehe und der biologischen Reproduktion sowohl sozial als auch narrativ scheitern. Dieses Scheitern manifestiert sich in einer Darstellung körperlicher Mängel von Figuren, die laut Boss im Anschluss an Ernst Kretschmers Konstitutionslehre charakterologisch aufgeladen werden. Eine derartige Depotenzierung betreffe die meisten männlichen Romanfiguren, nicht aber Ulrich, dessen sportliche wie geistige Überlegenheit ihn im Kontrast als »idealtypisches Männlichkeitsmodell« (S. 72) ausweise. Das dritte Kapitel verfolgt die These, der Mann ohne Eigenschaften sei durch eine Reihe von »Anspielungen« (S. 80) auf die von Musil rezipierte Theorie des Mutterrechts von Johann Jakob Bachofen gekennzeichnet.3 Dies wird besonders anhand der Figur Bonadeas gezeigt, die als Exponentin einer von Bachofen als ›hetärisch‹ bezeichneten, vor der Einführung der Institution 2 3
So Albert Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001 (= Musil-Studien, Bd. 29), bes. S. 289. Vgl. dazu bereits Ulrich Boss: ›Mutterrecht‹ im Mann ohne Eigenschaften, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 73–92.
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der Ehe angesiedelten Epoche interpretiert wird. Daneben würden Clarisse und Diotima mit Bachofen’schen Kategorien als kriegerische Amazone bzw. ›gynaikokratische‹ Matriarchin dargestellt. Diese Figurationen bleiben jedoch, wie Boss einräumt, »mehrdeutig und inkohärent« (S. 98). Sie werden zudem mit der These eines ›vaterrechtlichen Umschwungs‹ im 2. Teil des Mann ohne Eigenschaften kontrastiert, der allerdings durch die Agathe/Ulrich-Episoden wieder in Frage gestellt würde. Nach der Krise der Familien- wird im vierten Kapitel die der Berufsmänner in Staatsverwaltung und Wissenschaft verhandelt, und zwar anhand eines in der Forschung bislang wenig beachteten gemeinsamen Merkmals: des Bartes. Dieser erscheint dabei keineswegs als Kennzeichen von Maskulinität, sondern wird als »denunziatorische Chiffre für anachronistische Identitäten« (S. 128 f.) interpretiert. Diese These wird auch am Beispiel der anachronistischen Männlichkeit der Vertreter pädagogischen Wissens, Hagauer und Lindner, in einleuchtender Weise exemplifiziert. Ulrich allerdings ist vom »Katalog an Bärten und Bärtchen« (S. 127) ausgenommen und wird deshalb erneut als positive Kontrastfigur verstanden. Nicht ganz deutlich wird hingegen, warum als zentrale ›Wissenschaft‹ die Psychoanalyse diskutiert wird, auch wenn sich Sigmund Freuds Studien über Hysterie gewiss in der Darstellung der Clarisse wiederfinden lassen.4 Über diese Beobachtung zur Figurencharakterisierung hinaus wäre es hier produktiv, auch performative Aspekte wie die Gesprächssituation Clarisses mit anderen Figuren (etwa Ulrich und Walter) in die Deutung zu integrieren. Die Frage des Antisemitismus im Mann ohne Eigenschaften wird zunächst im fünften Kapitel anhand eines weiteren Körperdetails – Arnheims ›phönikischem‹ Schädel – diskutiert.5 Boss stellt diese Zuschreibung in den Kontext antiker und zeitgenössischer Stereotype über die Phönizier sowie eines Wissens der vergleichenden Anthropometrie. In Anknüpfung an die dort angenommene Verwandtschaft von Phöniziern und Juden wird die These vertreten, Arnheim werde im Mann ohne Eigenschaften nicht frei von antisemitischen Rezeptionsangeboten als Jude dargestellt. Damit werde weniger das preußische Judentum eines Walter Rathenau konnotiert, dessen Vorbildcharakter für die Figur Arnheims von Boss eher gering veranschlagt wird, sondern antisemitische Figuren aus dem Phönizierdiskurs und teils auch orientalistische Stereotypen. Die weiteren dafür herangezogenen Belege (etwa Geschäftsbeziehungen Arnheims in die USA) wirken jedoch bisweilen, als ginge der Autor dem diesbezüglichen Rezeptionsangebot des Romans, das – wie Boss selbst einräumt – im Gegensatz zu expliziten Stellungnahmen der 4
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Vgl. z. B. auch Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 218), S. 218 f. Vgl. auch Ulrich Boss: Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹. Arnheims phönikischer Schädel im Kontext antisemitischer Rassendiskurse, in: Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 64–83.
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Erzählinstanz steht, in quasi ›paranoischer‹ Lesart auf den Leim. Zumindest wäre die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissen, Fokalisierung und Rezeption in der weiteren Forschung zur Frage der Figurencharakterisierung zu vertiefen. Gebrochen werden antisemitische Zuschreibungen dem sechsten Kapitel zufolge am Beispiel des jüdischen Börsendisponenten Leo Fischel. Diese These wird mittels eines intersektionalen Ansatzes vertieft, der die konfliktuöse Ehe Fischels in einer Überkreuzung der Herrschaftsverhältnisse von race, class und gender begründet sieht und damit auch die These einer Depotenzierung der Familienmänner im Mann ohne Eigenschaften in überzeugender Weise erweitert. In einem Spannungsverhältnis stünden class, race und gender demnach im Falle von Hans Sepp: Dessen Rassismus, der Boss auch als Ausdruck von Klassendifferenzen erscheint, wird im Roman eindeutig kritisiert, was sich mit einer Depotenzierung der Männlichkeit Sepps verbindet. Dagegen ginge die erfolgreiche Börsenspekulation Fischels in den Nachlasskapiteln mit einer Revirilisierung (und, so to say, einer ›Rejudaisierung‹) einher, ohne dass sich dabei die »Sympathieregie des Erzählers« zuungunsten Fischels wende (S. 194). Als neuer Ansatz in der Forschung kann die bereits 2012 in einem Aufsatz in der Zeitschrift KulturPoetik6 unternommene Verortung der Figur des Dieners Soliman gelten: Dessen ethnisierende Körperzeichnung wird im siebten Kapitel im Rückgriff auf den Musil bekannten – allerdings erst 1936 gezeigten – Film The Green Pastures als Ausdruck des Musters eines schwarzen ›coon servant‹ interpretiert. Solimans Liebesbeziehung zu Diotimas jüdischer Dienerin Rachel wird wiederum intersektional im Spannungsfeld von race und gender kontextualisiert. Ob die Erwähnung einer daraus resultierenden Schwangerschaft Rachels im Roman bereits auf das rassistische Stereotyp einer sexuellen Überlegenheit von Schwarzen hindeutet, mag hingegen kontrovers diskutiert werden. Innerhalb der Musil-Forschung eher konventionell erscheint dagegen die im achten und letzten Kapitel unternommene Diskussion der Geschwisterbeziehung im Rekurs auf die ethnologische Theorie Lucien Lévy-Bruhls sowie mystische und mythologische Narrative. Agathes gutes Gedächtnis verweist demzufolge auf Lévy-Bruhls Kategorie einer ›mentalité primitive‹, wobei die damit verknüpfte »Zurücknahme der Geschlechterdifferenz« (S. 219) uneindeutig bleibt. Ob allerdings Ulrich so weit von einer solchen Zurücknahme entfernt ist, dass er – wie bereits im zweiten und vierten Kapitel der Studie – als maskulinistischer »Wegbereiter einer besseren, fortschrittlichen Zukunft« (S. 228) verstanden werden kann, erscheint vor dem Hintergrund von dessen 6
Ulrich Boss: Solimans ›ungeschicktes Theater‹. Zum Stereotyp des ›Coons‹ in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: KulturPoetik 12 (2012), H. 1, S. 58–71.
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geschlechtlichen Desidentifizierungen insbesondere im 2. Teil des Mann ohne Eigenschaften zumindest als fraglich. Es wäre zu diskutieren, ob Ulrich im Romanverlauf nur ein einziges Männlichkeitsmodell zugeschrieben werden kann und ob die Darstellung körperlicher Mängel tatsächlich alle anderen Männerfiguren betrifft. So wird Graf Leinsdorf von Boss in diesem Zusammenhang möglicherweise aus gutem Grund nicht als Beispiel herangezogen. Noch grundlegender zu problematisieren ist, ob der Roman tatsächlich eine so eindeutige Lektüre von Körperzeichen nahelegt, wie Boss annimmt, oder ob körpersemiotische Interpretationen etwa vom Typ Kretschmers im Roman perspektiviert oder sogar kritisiert werden. Insgesamt wird in der Zusammenschau der im Einzelnen gewinnbringenden und häufig originellen Beobachtungen und Thesen ein Problem der Arbeit sichtbar: Die Boss selbst zufolge »relativ eigenständigen Lektüren« (S. 27) sind teilweise so wenig verbunden, dass übergreifende Thesen durch die LeserInnen selbst erschlossen werden müssen. Zwar umfassen einige Themenstränge mehrere Kapitel – so die intersektionalen Analysen zu Männlichkeit und Antisemitismus oder zur Krise der Männlichkeit –, es wird aber beispielsweise nicht immer deutlich expliziert, wie sich die im Titel der Arbeit genannten Kategorien der ›Männlichkeit‹ und der ›Geschlechterkonstellationen‹ zueinander verhalten. In welcher Relation stehen etwa die Forschungsergebnisse zur ›Krise der Männlichkeit‹ zu den Thesen über die Hysterie oder den ›anderen Zustand‹, die weitgehend anhand von Frauenfiguren diskutiert werden, ohne dass männliche Dissoziierungen oder Desintegrationen (wie bei Walter, Ulrich oder Moosbrugger) in den Blick kommen? Und in welchem Verhältnis stehen Deutungen von Figuren zur poetologischen Analyse der Männlichkeitskrise? Da der Arbeit ein Fazit fehlt, bleibt es eine Aufgabe der Forschung, die ertragreichen konkreten Analysen zur Ausgangshypothese einer Reproduktion von Männlichkeit im Mann ohne Eigenschaften explizit ins Verhältnis zu setzen und sie mit anderen Forschungsergebnissen, die von einer Kritik oder Ambivalenz von Geschlechterkategorien im Mann ohne Eigenschaften ausgehen, zu vergleichen. Es muss abschließend betont werden, dass Boss Studie exzellent geschrieben ist, wobei es ihr gelingt, einen narrativen und essayistischen Stil mit philologischer Genauigkeit zu verbinden. Damit wird sie einer entscheidenden Seite des Musil’schen Schreibens gerecht. Zugleich bietet sie durchaus Material für weitere Untersuchungen über das Verhältnis des Narrativen zu Musils Form ›unerzählerischer‹ Reflexivität. Florian Kappeler
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Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München: Wilhelm Fink 2013. 456 S. € 59,–. »Das Interesse für die ›primitive Kultur‹ wächst in die Allgemeinheit hinein«, formulierte der deutsche Ethnologe Leo Frobenius bereits 1921. Und in der Tat beschränkte sich die Diskussion der sogenannten Primitiven zu Beginn der 1920er Jahre längst nicht mehr auf den Bereich der Ethnologie, in der der Primitive schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Schlüsselbegriff für Modelle kultureller Differenz und Entwicklung avanciert war. Als »Spiegel« der Kultur der Moderne (E. Schüttpelz) wurde die Figur des Primitiven zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur zentralen Referenz kunst- und kulturtheoretischer Diskussionen sowie der literarischen und künstlerischen Produktion, insbesondere der europäischen Avantgarden. Derzeit ist ein neues Interesse für die primitive Kultur zu beobachten. Literatur- und kulturtheoretische Studien wie Erhard Schüttpelz’ Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960) (2005), Sven Werkmeisters Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900 (2010), aber auch bspw. Hartmut Böhmes Studie Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne (2006) interpretieren den Diskurs des Primitiven als Selbstreflexion der europäischen Moderne. Dabei lässt sich jene spezifisch moderne Faszination für das Primitive, die Diskussion von anderen Formen des Denkens und der Kultur, auch als eine bisher zu wenig beachtete, andere Geschichte eben jener europäischen Moderne lesen, die womöglich weit weniger rationalistisch und europäisch gewesen ist, als ihre eigene Geschichtsschreibung es suggerieren mag. Die nun vorliegende Habilitationsschrift von Nicola Gess knüpft an diese Diskussion an und stellt dabei die Beziehungen von drei spezifischen Diskursformationen der Moderne ins Zentrum: »Ethnologie, Entwicklungspsychologie und psychologische wie medizinische Psychopathologie teilen im frühen 20. Jahrhundert das Primitive als Paradigma, mit dem sie das Denken und Verhalten dreier Anderer der modernen Gesellschaft, der sogenannten ›Naturvölker‹, der Kinder und der Geisteskranken, erklären wollen und damit zugleich ihre Disziplinen begründen.« (S. 11) Die Arbeit stellt dementsprechend drei diesen »Figuren des primitiven Denkens« (S. 5) gewidmete Abschnitte an den Anfang und fokussiert dann in einem zweiten Schritt mit der Diskussion um den Ursprung der Kunst und der primitivistischen Sprachund Metapherntheorie um 1900 zwei Fragen, die die genannten Diskursfelder querschnittsartig verbinden. Der dritte Teil, der gut die Hälfte der Arbeit einnimmt, ist Literaturanalysen zur Figur des Primitiven bei Robert Müller, Robert Musil, Gottfried Benn und Walter Benjamin gewidmet.
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Gemeinsam ist den drei humanwissenschaftlichen Diskursformationen von Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychopathologie die Referenz auf das Primitive als strukturbildendes Element der eigenen Disziplin, das deren Grundlagen und Ordnung prägt. Naturvölker, Kinder und Wahnsinnige nehmen dabei den Ort des Anderen des europäischen, gesunden Erwachsenen der Moderne ein und fungieren somit als Gegenbild zur kulturellen, historischen und geistigen Situation, aus der diese Texte verfasst sind. Ein besonderes Interesse gilt hierbei dem »primitiven Denken«, dessen Strukturen und Verfahren nicht der Logik des europäischen, erwachsenen, gesunden Geistes folgen, sondern mit Figuren der Partizipation, der Magie, des Animismus und Fetischismus nach eigenen Regeln arbeiten: »Wahlweise wird dieses Denken als magisches (bei Piaget, bei Preuß, bei Kretschmer), als mythisches (bei Cassirer, bei Wundt), als prälogisches oder mystisches (bei Lévy-Bruhl) bezeichnet.« (S. 15) Gess zeichnet die disziplinenüberschreitenden Gemeinsamkeiten des primitivistischen Diskurses nach, deren Grundlage die Analogie zwischen Phylo- und Ontogenese ist, wie sie prominent bereits 1866 bei Ernst Haeckel formuliert wurde: »Das organische Individuum [. . .] wiederholt die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.« (Haeckel in Gess, S. 74) Der Primitive der Ethnologie, der als »Survival« und Weiterbestehen eines vorhistorischen Zeitalters und damit als phylogenetischer Ursprung des Europäers der Gegenwart interpretiert wird, findet damit im Kontext der Entwicklungspsychologie seine direkte Analogie im Kind, dessen ontogenetischer Entwicklungsstand die gleichen Formen magisch-partizipativen Denkens zeigt. Der Wahnsinn des Geisteskranken wird in einer Fortsetzung dieser Analogie in Psychopathologie und Psychoanalyse dann als »Regression in die Phylogenese« (S. 116) beschrieben. Der Wahnsinnige fällt zurück in einen Geisteszustand, der die gleichen Strukturen eines anderen Denkens zeigt wie das Denken der Naturvölker und der Kinder. Bekannt ist Sigmund Freuds These von der Übereinstimmung im Seelenleben der Neurotiker und der »Wilden«, die er 1913 in Totem und Tabu formulierte (S. 117). Ausgehend von einer detaillierten Beschreibung dieser verzweigten und vernetzten Debatten um 1900 fokussiert die Literaturwissenschaftlerin Gess die ästhetischen und kunsttheoretischen Referenzen und Implikationen dieses Diskurses: »In vielen der humanwissenschaftlichen Texte wird [. . .] vom Denken des indigenen, kindlichen oder geisteskranken Primitiven ein direkter Bezug zum Vorgang des künstlerischen Schaffens hergestellt« (S. 139). Als »typische Diskursfigur der Moderne« (S. 139) beschreibt Gess die Verortung des Ursprungs der Kunst im Primitiven. Das künstlerische Schaffen wird dabei mit spezifischen Verhaltensweisen und Verfahren des archaischenprimitiven Denkens in Verbindung gesetzt. So findet der englische Entwick-
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lungspsychologe James Sully 1895 die Parallele zwischen kindlichem Spiel und Kunstschaffen in der »Umsetzung der Phantasietätigkeit in sichtbare Form« (Sully in Gess, S. 141). Wilhelm Worringer erklärt den Ursprung der Kunst 1911 mit einem in der primitiven Psyche begründeten »Urkunsttrieb«, der durch Abstraktion der Verworrenheit des primitiven Weltbildes eine erste Formung gibt (S. 157). Den Ursprung der Literatur sucht man zu Beginn des 20. Jahrhunderts in primitiven Affekt- und Gefühlslauten, mythischen Gesängen oder einer frühen lyrisch-metaphernhaften Sprache. So unterschiedlich die Ausformulierungen der These des primitiven Kunstursprungs auch ausfallen, gemeinsam ist ihnen eine neue Konfiguration des Künstlers: »Die Kreativität des Künstlers wird nicht mehr an sein Talent, sondern an das primitive Denken und damit an ein Vermögen verwiesen, dessen Existenz, Herkunft und Funktionsweise nicht mysteriös bleiben, sondern von den Humanwissenschaften [. . .] vermeintlich bereits wissenschaftlich erforscht wurden.« (S. 165) Beeinflusst der primitivistische Diskurs der Wissenschaften vom Menschen in diesem Sinne direkt die Kunstdiskussion seiner Zeit, so erhält er noch in einem anderen Feld besondere Relevanz für die Literatur(-wissenschaft), nämlich im Kontext der Sprachtheorie. Gess referiert Positionen von Friedrich Nietzsche, Friedrich Theodor Vischer, Ernst Cassirer und anderen Protagonisten der Sprach- und Metapherntheorie um 1900, die das metaphorisch, nicht-begrifflich organisierte Denken, das man bei den Primitiven zu beobachten glaubt, an den historischen Anfang jeglichen sprachlich-symbolischen Weltzugangs stellen. Die poetische Sprache der Literatur erhält damit einen anthropologisch begründeten, besonderen Rang: Eine solche Poetik lässt sich als Poetik des Wissens in dem Sinne beschreiben, dass der poetischen Sprache hier das Privileg zugesprochen wird, ein nicht begrifflich, sondern auf dem Weg der Metapher gewonnenes, im emphatischen Sinne ›anderes‹ und ›eigentliches‹ Wissen von der Welt zu vermitteln. Literatur ist dann nicht nur als Rezipientin und Inspiration der Humanwissenschaften zu lesen, sondern auch als Alternative zu deren Produktion von Wissen. (S. 190)
Wie der primitivistische Diskurs im Feld der Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts seine Wirkung entfaltet, zeigt Gess in den vier literaturwissenschaftlichen Einzelanalysen zu Müller, Musil, Benn und Benjamin. Gemeinsam ist diesen Untersuchungen auf der einen Seite die Suche nach Spuren konkreter Referenzen auf die Diskussionen in Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychopathologie in literarischen und theoretischen Texten der genannten Autoren, auf der anderen Seite die Frage nach den poetologischen Konsequenzen dieser Bezugnahmen für die Literatur selbst. Die Literatur der »Mikroepoche der Moderne«, so konstatiert Gess, gelangt »über die Adaption von Merkmalen, die im Diskurs über das primitive Denken als zentral für (primitive) Kunst und Sprache angesehen werden, zu formalen In-
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novationen, etwa assoziativ strukturierten Narrationen bis hin zu einem ins Lyrische tendierenden Zerfall der Prosa, wörtlich genommenen Metaphern oder aneinander partizipierenden Figuren und unklaren Figurenabgrenzungen.« (S. 427) So zeigt Gess am Beispiel Musils nicht nur, wie dieser sich direkt mit den ethnologischen und psychologischen Debatten seiner Zeit auseinandersetzte, wie er die Forschungen Lucien Lévy-Bruhls, Ernst Kretschmers, Erich Jaenschs und anderer Humanwissenschaftler zur Figur des Primitiven rezipierte und in die eigene theoretische Reflexion einband, sondern auch, wie das primitivistische Denken sich in im engeren Sinne literarische Strategien und Verfahrensweisen umsetzt: »Musils Theorie primitiver Sprache konzentriert sich [. . .] zum einen auf eine Anschaulichkeit, vor allem im Sinne einer affektlogischen Bildlichkeit von Sprache, sowohl auf der Ebene des Einzelwortes wie des Satzes, zum anderen auf die performative Kraft von Sprache, in der die Darstellung mit der Herstellung zusammenfällt.« (S. 221) Im Zentrum steht bei Gess die Analyse des Mann ohne Eigenschaften als einer literarischen »Expedition ins Primitive« (S. 227). Indem sie insbesondere die Gestaltung und Ausformung der Figur Clarisses von den ersten Entwürfen Musils bis in den Roman nachvollzieht, kann Gess überzeugend zeigen, wie hier verschiedene Denkfiguren des primitivistischen Diskurses zusammenfließen. Als manischschizophrene Person verkörpert Clarisse nicht nur eine primitive Figur im Sinne der Psychopathologie. Affektgesteuertes Denken, eine Affinität zu primitiven Sprachformen wie der Bilder- und Gebärdensprache, dem Akustischen, dem Tanz und der Trance, die Clarisse charakterisieren, finden ihr direktes Vorbild in ethnologisch-psychologischen Theorien des primitiven Geisteszustandes, die Musil rezipierte. Spannend wird der Befund Gess’ dadurch, dass sie nicht auf der Figurenoder Inhaltsebene des Romans stehenbleibt, sondern nach der primitiven Dimension des Romans selbst fragt: Inwiefern ließ sich »Musil in seinem Schreiben durch Clarisses Primitivismus beeinflussen«? (S. 269) Von den ethnologischen und psychologischen Beschreibungen der Primitiven unterscheidet sich Musils Darstellung der Clarisse schon dadurch, dass hier häufig keine objektiv-deskriptive Position, sondern die Innenperspektive eingenommen wird. Die Sprache und das Schreiben des Romans selbst nehmen Züge an, »die im Roman und seinen Kontexten als primitiv codiert werden: Es verfährt parataktisch, elliptisch und ist vor allem geprägt durch Metaphern und Gleichnisse« (S. 275). Ein solches primitivistisches Erzählen, wie es die Clarisse-Passagen zeigen, ist jedoch nicht die einzige und letzte Stimme des Textes, sie wird »konterkariert durch die reflexiven Passagen des Romans« (S. 278). Eben hierin sieht Gess die spezifische primitivistische Dimension in Musils Denken und Schreiben. Nicht um eine einfache Regression ins Primitive geht es Musil, sondern um die Suche nach einer »Formsprache für nichtratioide Aussagen. Sie ist das genuin moderne Ziel gegenwärtiger Literatur,
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welches diese von der Dichtung der vermeintlichen ›Naturvölker‹ unterscheidet. Diese Sprachform aber kann nicht identisch sein mit dem NichtRatioiden selbst, sondern muss in aller Sensibilität zugleich dessen Reflexion leisten.« (S. 279) Ganz in diesem Sinne kann Gess zusammenfassend verschiedene Formen des Primitivismus in der modernen Literatur unterscheiden: Neben affirmativ-regressiven Tendenzen finden sich fasziniert-kritische Bezugnahmen. Dabei bietet nicht nur die Mimesis an primitiven Schreibformen, sondern auch deren kritische Reflexion Impulse für »innovative Verfahren, wie etwa bei Musil den essayistischen Sprachstil [. . .] oder bei Benjamin die Prinzipien von Destruktion und bricolage« (S. 427). Auf die zentrale Frage einer historischen Einordnung und Bewertung des Primitivismus der Moderne kommt Gess erst auf den letzten Seiten ihres Buches zu sprechen, nämlich »ob die Poetik des Primitivismus eine kritische Reflexion der regressiven Tendenzen, mit denen sie ohne Zweifel liebäugelt, leistet, ob sie eine Erneuerung der literarischen Formgebung und künstlerischen Prinzipien ermöglicht, und ob sie in diesem Sinne als ästhetisch erfolgreiches Projekt bewertet werden kann.« (S. 423) Die Autorin enthält sich einer abschließenden Positionierung und hebt ihre »neutrale Erzählerposition« (S. 423) hervor. Es geht ihr lediglich »um die Aufarbeitung eines historischen Diskurses und seiner Relevanz für die Kunst- und Sprachtheorien sowie vor allem für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts« (S. 423). Hierin liegt die Stärke, aber vielleicht auch die Schwäche des vorliegenden Bandes. Zwar betont die Autorin gelegentlich die Relevanz der primitivistischen Fragestellungen »mit Blick auf gegenwärtige Debatten« (S. 191), führt diese aber nicht weiter aus. Die Aufarbeitung des historischen Diskurses scheint in erster Linie historiographisch motiviert. In der strukturierenden und analytischen Beschreibung des umfangreichen historischen Quellenmaterials liegt der Wert der Studie. Gewünscht hätte sich der Leser dennoch eine Antwort auf die von der Autorin selbst gestellte Frage nach der historischen und aktuellen Relevanz der primitivistischen Denkfiguren. Dies gilt umso mehr, als die in den letzten Jahren zum Thema vorgelegten Studien eben hierzu Stellung beziehen. Schüttpelz interpretiert den Primitivismus als Erlebnis »fremder Fremderfahrung«, das als Spiegel des Eigenen Eingang und Wirkung in der europäischen Kultur gefunden hat. Böhme zeigt am Beispiel des Fetischismus die inneren Widersprüche einer sich selbst für rational haltenden Moderne. Beide untermauern mit dem Verweis auf primitivistische Denkfiguren in der Moderne gewissermaßen Bruno Latours Diktum: »Wir sind nie modern gewesen.« Werkmeister wiederum interpretiert den Primitivismus im Zusammenhang medienhistorischer Umbrüche um 1900 als Prätext einer Theorie analoger Medien- und Zeichentechniken, der auch und gerade in heutigen, von (post-) strukturalistischen Positionen geprägten Debatten neue Perspektiven bieten kann.
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Zu diesen Positionen bezieht die Autorin kaum Stellung. Gess markiert lediglich die Differenz zwischen einem regressiven, adaptiven Primitivismus und einem Primitivismus, der »immer auch kritische Reflexion des primitiven Denkens und seines Diskurses« (S. 428) impliziert. Letzterem gilt ihr besonderes Interesse und historische Würdigung. Einer unreflektierten Faszination des Primitivismus unterliegt die Autorin mithin nicht. Das theoretische Potential des primitivistischen Diskurses und seiner Denkfiguren, seine Reflexion und Infragestellung des europäischen Selbstverständnisses, die auch in gegenwärtigen Debatten der Literatur- und Kulturwissenschaften neue Impulse setzen könnten, werden damit aber nicht in ihrer vollen Dimension in den Blick genommen. Gess’ Aufarbeitung und detaillierte Analyse des umfangreichen Materials aus unterschiedlichen Diskursfeldern wird jedoch zweifellos eine wichtige Rolle auch für zukünftige Diskussionsbeiträge spielen. Sven Werkmeister
Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2013 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 143). 305 S. € 99,95. Der Band versammelt Beiträge aus zwei Veranstaltungen – einem Panel auf dem Freiburger Germanistentag zum Literarischen Primitivismus und eine gleichnamige Tagung an der Freien Universität Berlin –, die im Herbst 2010 den Versuch unternommen haben, den aus der Kunstgeschichte etablierten Begriff des Primitivismus sowie seine wissensgeschichtliche Situierung zu problematisieren, um in theoretischer Hinsicht wie interpretatorischer Praxis die Chancen und Grenzen eines ausgeweiteten und derart für die Literaturwissenschaft anschlussfähigen Primitivismus-Begriffs auszuloten. In der Bildenden Kunst wird mit Primitivismus ein Projektionsverfahren erfasst, in dem die Grenzen zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremden‹ sowie Ordnungsvorstellungen neu verhandelt werden: ›Eigenes‹, die normative Ordnung potentiell Störendes, wird in einen Raum des kulturell ›Fremden‹ projiziert und von dort als Verfremdetes wieder angeeignet, um die Grenzen der eigenen kulturellen und ästhetischen Ordnung zu erweitern. In einer weiteren Bedeutung von ›primitiver‹ Kunst ist innereuropäische, sich mit ›primitiven‹ Kulturen befassende Kunst in dieses Projektionsverfahren eingeschlossen. Ausgehend von dieser Erweiterung, mit der insbesondere auch die europäische Volkskunst sowie die Kunst von Kindern und Geisteskranken in den Blick genommen wird, schließt der Band an erste Forschungsbeiträge zur Frage eines Literarischen Primitivismus an, die das spezifische Beobachtungsvermögen der Literatur ins Zentrum stellen. Literarischer Primitivismus
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meint dann: Zum einen Partizipation der Literatur am Diskurs des ›primitiven‹ Denkens in Form der Inszenierung und der übergeordneten Reflexion dieses Denkens; zum anderen die Erfassung des Primitiven als u. a. von der Ethnologie, Entwicklungspsychologie und medizinischer wie psychologischer Pathologie bestimmtem Paradigma, als von den Bedürfnissen, Affekten und Vorstellungen der Wissenschaftler geprägtes Poem und als wirkmächtige Denkfigur deshalb, weil das ›primitive Denken‹ von den Wissenschaftlern entweder als magisch, prälogisch oder mystisch qualifiziert wurde. Von den drei leitenden Diskursfiguren des ›primitiven Denkens‹ – dem ›Naturvolk‹, dem Kind und dem Wahnsinnigen – konzentriert sich der Band auf die erste, um in einer breit angelegten interdisziplinären Perspektive dessen Relevanz für die Konzeptionalisierung eines Literarischen Primitivismus zu untersuchen. Die Gliederung des von renommierten Forschern getragenen Bandes in drei Teile verdeutlicht das systematische Anliegen: einer breiten theoretischen Reflexion des Phänomens Primitivismus unter der Rubrik ›Theorie(n) des Primitivismus‹ folgt zunächst eine im Umfang deutlich geringere historische Vertiefung unter der Rubrik ›Geschichte des Primitivismus‹ und dann wiederum eine größere Zahl an Studien zu einzelnen literarischen Texten unter der Rubrik ›Primitivismus in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts‹. Der Theorieteil wird mit dem Beitrag von Erhard Schüttpelz eröffnet, der bereits in seiner großen Studie Die Moderne im Spiegel des Primitiven die Frage nach einem genuin Literarischen Primitivismus gestellt hatte und hier zunächst Definitionsmöglichkeiten vorstellt, die er drei Forschungstraditionen zuordnet: jene von Arthur Lovejoy und George Boas initiierte, die ideengeschichtlich zwischen einem chronologischen und einem kulturellen Primitivismus differenziere; jene im 20. Jahrhundert entstandene kunsthistorische, sich nach wie vor an künstlerischen und kuratorischen Praktiken orientierende und derart diskurshistorische Verallgemeinerungen ausschließende; schließlich jene der anthropologischen Historisierung des Primitivismus, mithin jene der im internationalen Kontext unter dem Namen ›Anthropology‹ firmierenden Ethnologie, deren Vorteil nach Schüttpelz darin besteht, dass sie, ablesbar etwa an Studien von Johannes Fabian, Fritz Kramer oder Claude Lévi-Strauss, eine »Symmetrisierung und damit Anthropologisierung des ›Primitivismus‹, auch des vergangenen wissenschaftlichen Primitivismus« (S. 19), leisten und derart nicht nur Texte, sondern »die gesamte koloniale Welt mit ihren verschiedenen Gegenspielern und Seitenwechseln, Handlungsweisen und Rechtfertigungen« (S. 20) in ihre Analysen integrieren könne. Schüttpelz unternimmt diese Sichtung der drei dominanten Forschungsrichtungen, damit er ausgehend davon zunächst den Begriff des ›Primitiven‹ in der »Epoche der realpolitischen Eskalation des europäischen Imperialismus einerseits, und der wissenschaftlichen und populären Durchsetzung evolutionistischer Zeitordnungen andererseits« verankern kann, um dann
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den modernen Primitivismus als »Bumerangeffekt der Kategorie des Primitiven« (S. 21) bzw. als »Bumerangeffekt der eigenen Exklusivität« (S. 22) zu bestimmen, der aufgrund seiner »evolutionistischen Zeitbarrieren« dafür sorgt, dass sich »Angehörige der Moderne aus einer allochronen, aber potentiell universalen Überlieferung ausgeschlossen« fühlen und diesen Ausschluss nicht mehr nur als Heimsuchung des fremden Anderen empfinden, sondern »im Gegenzug die Affirmation dieser Überlieferung für sie zu einer Gestaltungsaufgabe, künstlerisch, wissenschaftlich oder philosophisch« (S. 23), wird. Nimmt man diese Zusammenhänge ernst, so sollte – und dies ist Schüttpelz’ Vorschlag – als Kriterium für eine Definition von modernen PrimitivistInnen Folgendes gelten: dass sie nachweislich »ein Projekt entwickelt oder durchgeführt haben, in dem der Exklusivitätsanspruch der eigenen Genealogie durch den Rekurs auf eine universalere – und zwar eine allochrone, sprich: ›primitive‹ – Ökumene der Menschheit konterkariert oder supplementiert wurde« (S. 24). Abschließend gibt Schüttpelz vier erläuternde und als Warnung gedachte Hinweise: erstens zeige die prinzipielle Möglichkeit, durch den Bezug auf eine fremde und allochrone Ökumene den eigenen Universalitätsanspruch zu steigern, nicht nur die Unzulänglichkeit einer ideengeschichtlichen oder imagologischen Charakterisierung, sondern auch die Grenze einer diskurshistorischen Reduktion; zweitens müsse sich die Literaturwissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit dem Literarischen Primitivismus der Moderne endlich vom Primat der ästhetischen Autonomie lösen; drittens müsse der moderne Primitivismus im Horizont der Entstehung der neuzeitlichen Kulturwissenschaften »aus den wissenschaftlichen Praktiken des Antiquarianismus« sowie im Horizont der Entstehung der modernen Literaturwissenschaft aus der im 19. Jahrhundert so genannten »Folk-Lore« (S. 25) begriffen werden; und schließlich müssen viertens die »mit Notwendigkeit erzeugten Umkehrungen und Kippfiguren«, welche das »widersprüchliche Verhältnis von eigener Exklusivität und allochroner Universalisierung« zeige, als literarische Erbschaft der ›Persischen Briefe‹ des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Mit dem Verhältnis des Primitivismus zur Abstraktion befassen sich die beiden Beiträge von Sven Werkmeister und Claudia Öhlschläger. Werkmeister macht auf den medienhistorischen Kontext des Primitivismus aufmerksam: Der Primitive verweise »auf die Herausforderung der europäischen Kultur durch die neuen analogen Schriften und Aufzeichnungstechniken um 1900« (S. 30). Er erläutert dies erstens mit Bezug auf Wundts Theorie der Ausdrucksbewegungen, die als Grundlage von Wundts völkerpsychologischer Sprachtheorie das »Entstehen der Sprache aus unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen« (S. 32) begreift und die Figur des Primitiven entwicklungshistorisch am Übergang vom Laut zur Sprache situiert, weil in der primitiven Sprache nicht Abstraktionsvorgänge im Sinne des technisch-analogen Zeichens leitend sind, sondern die Zeichenbildung als psychophysisches Phä-
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nomen an körperliche Prozesse rückgebunden ist; zweitens am Beispiel von Lévy-Bruhls Konzept der Kollektivvorstellungen, in dem die Beschreibung des primitiven Gedächtnisses der verstandesmäßigen Merkmalabstraktion des europäisch-logischen Denkens mit seinem »Modell symbolischer, zeichen- und begriffsbildender Schrift« (S. 39) so entgegengesetzt wird, dass sie »die Funktionsweise analoger Speichermedien« formuliert; und schließlich drittens mit Bezug auf Diedrich Westermanns Begriff des Lautbildes, die dieser am Beispiel der afrikanischen Ewe-Sprache entwickelt hatte. Werkmeister historisiert diese primitivistische Zeichentheorie, denn – so sein Befund – mit »dem Fokus auf die Differenzialität von Zeichen in immer bereits symbolisch codierten Ordnungen« (S. 45), d. h. mit dem »Reinigungsprozess europäischer Linguistik und Semiologie«, der »alle psychophysischen Reste des Zeichenbegriffs systematisch tilgt« (S. 47), wird sie obsolet. Es sind diese »Übersetzungen und Kontinuitäten zwischen jenem nicht-sprachlichen Fremden und der eigenen europäisch-symbolischen Ordnung«, die Werkmeisters »Theorie einer inversiven Ethnologie« herausarbeitet: indem sie, so der in Abgrenzung zum Poststrukturalismus formulierte Anspruch, »die mediale (und kulturelle) Differenz zwischen Eigenem und Fremdem« gerade nicht »durch den Verweis auf die Unhintergehbarkeit der Schrift« (S. 49) einebnet, kann sie den »Diskurs des Primitivismus als eine Medientheorie der Kultur beschreiben« (S. 55). Öhlschläger befasst sich mit der Abstraktionstheorie des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer, die dieser 1907 in seiner Dissertation Abstraktion und Einfühlung vorgelegt hat und die – wie Öhlschläger bereits in ihrer größeren Studie mit dem Titel Abstraktionsdrang gezeigt hat – von enormer Bedeutung für die literarische Moderne ist. Worringers Dissertation, so Öhlschläger, verorte die Abstraktion insofern in den Kontext der kunstgeschichtlichen Genese des Primitivismus, als sie völkerpsychologisch argumentiere und in ihrer »Entwicklungsgeschichte der Kunst die Abstraktion als eine Art Urform künstlerischen Wollens« charakterisiere, die aus einer durch Faszination und Schrecken gleichermaßen bestimmten geistigen Raumscheu der ›primitiven‹ Menschen hervorgegangen sei (S. 62). Dabei erläutert Öhlschläger die »These einer Entkoppelung der Abstraktion von ihren materiellen Trägern zugunsten einer psychischen Innenschau geistiger Weltenthobenheit« (S. 71), indem sie zeigt, wie Worringer am Faszinationsdiskurs der Moderne partizipiert, der – so die These – von den psychologischen und ethnologischen Primitivismusdebatten um 1900 nicht zu trennen sei. Der Beitrag von Iris Därmann setzt die in den vorangegangenen Beiträgen geleistete Problematisierung von Primitivismus und Abstraktion in anderer, die (post)strukturalistische Literaturtheorie fokussierender Perspektive fort. Er unternimmt eine kritische Analyse der Bildtheorien des 20. Jahrhunderts, indem er die eurozentrische Perspektive im Hinblick auf die in diesem Kontext zu beobachtenden Aneignungs- und Transformationsprozesse von
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Primitivität herausstellt: Was für die Wegbereiter der modernen Kunst als Versuch der »Evokation einer Erfahrung von primitiver Magizität« (S. 80) anzusehen ist, werde, vermittelt über Lucien Lévy-Bruhls Studien zum prälogischen Denken, in den Bildtheorien etwa Maurice Merleau-Pontys, Jacques Lacans, Roland Barthes’ oder Jacques Derridas als magische Kraft des Bildes selbst bestimmt. In den französischen Bildtheorien, für die Merleau-Pontys Konzept des magischen Sehens als »Inversion zwischen Sehendem und Sichtbarem« (S. 86) konstitutiv ist, geschehe dies – so der kritische Einwand Därmanns – unter »Wegfall aller magischen Implikationen und Bezüge auf Darstellungsmodalitäten außereuropäischer Kunst« (S. 88). In vergleichbarer Weise zeigt der Beitrag der Historikerin Doris Kaufmann, der »nach der Bedeutung der Denkfigur Primitivismus in der Zeit der Entstehung einer transdisziplinären, historisch orientierten Kulturwissenschaft in Deutschland von der Jahrhundertwende bis in die 1930er-Jahre« (S. 94) fragt, in welch hohem Maße die Auseinandersetzung mit dem ›Primitiven‹ in erster Linie der eigenen disziplinären Selbstverständigung dient. Nach Kaufmann wird der Primitivismusdiskurs zwischen 1900 und 1930 insbesondere von zwei miteinander verknüpften Problemstellungen strukturiert – erstens der zentralen »Frage nach der Genese, der Existenz und den Wirkungsweisen ›anderer‹ Denk- und Bewusstseinsformen« (S. 96) sowie zweitens der nach den Bedingungen und Möglichkeiten ihres Verstehen. Sowohl der kunstwissenschaftlich-prähistorisch-völkerpsychologische Primitivismusdiskurs der Vorkriegszeit als auch der psychiatrische der 1920er Jahre erweise sich dabei als »von einem grundlegenden methodischen Krisenbewusstsein und einer methodischen Selbstreflexion« (S. 118) geprägt, die ihre methodischen Fluchtpunkte in der »Phänomenologie und Ganzheitserkenntnis« (S. 119) gehabt hätten. Marcus Hahns den theoretischen Teil abschließender Beitrag, der das Verhältnis von Primitivismus und Literaturtheorie analysiert, geht von der Prämisse aus, dass die Möglichkeit der Rede vom ›Literarischen Primitivismus‹ eine Antwort auf zwei literaturtheoretische Fragen voraussetze: »Zum einen auf die Frage nach der Übertragbarkeit des kunsthistorischen Begriffs des ›Primitivismus‹ auf die Literatur; zum anderen auf die Frage nach der kulturellen Funktion dieses Begriffs für diejenigen Gesellschaften, die ihn entwickelt haben« (S. 125). Hierfür setzt Hahn die Forderung von Schüttpelz um, die literarische Erbschaft der ›Persischen Briefe‹ des 18. Jahrhunderts ernst zu nehmen: Hahn fasst sie als »integrale[n] Bestandteil der Geschichte europäischer Fremdwahrnehmung« sowie als »literarisches Spiel« mit den in der abendländischen Kultur verfügbaren »Reaktionsformen auf Fremdes« (S. 128). Anschlussfähig für die Literatur sei zum einen jenes im wissenschaftlichen Primitivismus beobachtbare Motiv der ›verkehrten Welt‹ und zum anderen die Suche nach den Spuren, »welche die Figur des primitiven Philosophen in der literarischen Moderne hinterlassen hat« (S. 131). Im Hinblick auf
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die Frage, welche Konsequenzen sich für die Literaturtheorie ergeben, widmet sich Hahn ausführlich Bruno Latours Theorie der Moderne, wie dieser sie in Wir sind nie modern gewesen dargelegt hat. Latours »Charakterisierung der Moderne als Doppelbewegung der Erzeugung und Reinigung von Hybriden« müsse deshalb auf die Literatur bezogen werden, weil die literarischen Texte selbst – wie Hahn am Beispiel Musils zeigt – mit ihrem »poetische[n] Verfahren der Montage von Wissenschaftstexten« diese Doppelbewegung vollzögen: Dabei ließen sich diese als »Praktiken der Vermischung beschreiben«, »die parallellaufende Wissenschaftskritik und die dezidierte Autonomiebehauptung der Literatur« dagegen »als Reinigungsarbeiten« (S. 135). Im zweiten Teil ›Geschichte des Primitivismus‹ stehen Mythostheorien und mythische Denkfiguren um 1800 (Gisi) sowie die Anthropologie und Evolutionstheorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Frank) zur Debatte. Während der Beitrag von Gisi den Primitivismus um 1900 zu demjenigen der Aufklärungszeit in Bezug setzt, um zu erläutern, dass es sich »bei der Denkfigur ›Primitivismus‹ zunächst um eine wissenschaftliche Methode des Wissenserwerbs handele, gegenüber der die inhaltliche ›Füllung‹ zum Wissensinhalt nachgelagert« (S. 143) sei, stellt der Beitrag von Frank Edward Tylors Konzept der ›primitiven Kultur‹ sowie den hierfür zentralen Begriff des ›survival‹ (›Überlebsel‹) vor. Er zeigt, inwiefern dieser auch in Darwins Denken sowie generell in den Degenerationskonzepten des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt und in welchen Varianten das »Fremdbild des ›Primitiven‹« im Verlaufe des 19. Jahrhunderts »nach und nach internalisiert« wurde, »bis europäische Wissenschaftler und Literaten schließlich [. . .] auch in den heimatlichen Städten und sogar in der eigenen Triebnatur« (S. 186) meinten, Spuren früherer Entwicklungsstadien entdecken zu können. Der dritte und letzte Teil ›Primitivismus in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts‹ schließlich wird mit einem Beitrag Sabine Schneiders zum Primitivismus in Hugo von Hofmannsthals Elektra eröffnet. Ausgehend von dem Befund, dass die aktuelle Präsenzästhetik »in ihrer Abgrenzung gegen die Dominanz des Symbolischen und Semiotischen in frappierender Weise an die phänomenologischen wie auch die lebensphilosophischen sprachkritischen Konzepte der frühen Moderne um 1900« (S. 191) und damit auch an Hofmannsthals zeichenutopische »Poetik der Präsenz« (S. 194) erinnerten, liest Schneider dessen Drama im Horizont der ethnologischen Metapherntheorie der Jahrhundertwende, welche im Anschluss an Tylor und Nietzsche das analogische Denken als »ein primitives survival in der Moderne« (S. 197) begreift. Hofmannsthals »primitivistische Bearbeitung der sophokleischen Tragödie« – so die These – betreibe auf der Basis des analogischen Denkens der Ähnlichkeit eine wilde Semiose, welche »unter dem Vorzeichen visionärer Grenzüberschreitung« (S. 199) kritisch die Konsequenzen der eigenen Präsenzpoetik hinterfrage.
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Die folgenden Beiträge widmen sich in unterschiedlicher Perspektive dem Verhältnis von Avantgardismus und Primitivismus sowie narratologischen und darstellungsästhetischen Überlegungen zu einem ›Literarischen Primitivismus‹. So stellt zunächst Alexander Honolds Analyse von Döblins Zukunftsroman Berge Meere und Giganten das primitivistische Paradigma in den Kontext von Gattungsüberlegungen: Es sei ein »neuartiges Textgenre«, das der Roman in seinem Rückgriff auf alteuropäische Wurzeln und seinem Ausgreifen ins globale Zeitalter entwerfe – ein »Geo-Narrativ«, welches »Primitivismus als Avantgarde-Formel« (S. 212) auffasse: D. h. die konträren Komplexe »Industrialismus und Exotismus« (214) werden einem ästhetischen Verfahren wechselseitiger Verfremdung unterzogen, und die »paradoxe Kulturoption einer Regression nach vorn« (S. 215) sowie die omnipräsente Verflechtung von Krieg und Erdgeschichte werden zur Grundlage, auf der Döblin über die ästhetische Aneignung des von Alexander von Humboldt hervorgebrachten »diagrammatischen Darstellungsverfahrens von IsoLinien« (S. 228) in globaler Dimension »Raum erzählt und erzählen lässt« (S. 218). Mit dem Erzählen des Primitivismus in ästhetischer wie ethischer Hinsicht befasst sich Elisabeth Heynes Beitrag. Aus erzähltheoretischer Perspektive betrachtet sie die unterschiedlichen Stimmen des Primitiven in Elias Canettis Masse und Macht und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es dem Erzähler nicht gelinge, den »Eindruck des Eurozentrismus« (S. 248) zu bekämpfen, da er im Gegensatz zu seiner Erzählprogrammatik nicht die ›primitiven‹ Völker beschreibe, sondern vielmehr »ihre Spiegelungen in der literarischen, ethnografischen und imaginären Produktion Europas« (S. 249). Susanne Klengel widmet sich am Beispiel des brasilianischen Autors Mário de Andrade und seinem 1927 begonnenen Buchprojekt O turista aprendiz (dt. etwa: Lehrling in Sachen Tourismus) verbreiteten Denkfiguren und Selbstbeschreibungen avantgardistischer Künstlerschaft: Konkret geht sie dabei der Frage nach, wie sich die Vorstellung des avantgardistischen Künstlers als »(neuer) Primitiver« zu derjenigen von der Erlernbarkeit der primitivistischen Haltung verhält (S. 254). An Andrades Text arbeitet sie die ironischen Brechungen der primitivistischen Haltung heraus. Deren selbstreflexive Tendenz – so die These – stehe in Verbindung mit einer Bewegung von der Poesie und Literatur zur Ethnologie bzw. mit einem Autorschaftsentwurf als Ethnologe und Sammler von Worten, Klängen, Gerüchen, Empfindungen und Bildern. Damit bedeute Andrades »Lehrzeit in Sachen Tourismus, die auch eine Lehrzeit in Sachen Primitivismus« gewesen sei, »im Grunde, zu lernen wie man den avantgardistischen Primitivismus verlernt« (S. 266). Anhand einer breit angelegten Zusammenschau literarischer und bildkünstlerischer Beispiele erschließt der Slavist Aage A. Hansen-Löve unterschiedliche Spielarten des Neoprimitivismus in der russischen Avantgarde. Nachdem er zunächst dem »›destruktiven‹ Modell einer negativen Verfrem-
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dungs-Ästhetik von Avantgarde I« (S. 276) sowie dem »auf das Archaische wie das Archetypische orientierten Positivmodell eines Neoprimitivismus (Avantgarde II/1)« ein »konstruktivistisches, auf das Utopische und eine vorweggenommene Zukunft fixiertes Modell« der »Avantgarde (Avantgarde II/ 2)« (S. 277) sowie ein im »Zeichen der Dekonstruktion« stehendes Modell (Avantgarde III ) entgegensetzt (S. 279), wird ihm diese typologische Differenzierung zur Grundlage für den Bogen, den er »vom Pol des Archaik-Kults Anfang des 20. Jahrhunderts zu Beginn der Avantgarde bis zu einer brachialen Primitivität, wie sie das brutale Ende der Avantgarde an der Schwelle zu den stalinistischen 1930-Jahren auszeichnen sollte« (S. 305 f.), spannt. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag Burkhard Meyer-Sickendieks. Am Beispiel von Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts sowie Hans Henny Jahnns Tragödie Medea verfolgt Meyer-Sickendiek das Anliegen, »die konstitutive Nähe von sozialer Verwerfung und ästhetischer Subversion der Verwerfung für eine Ästhetik des Primitivismus fruchtbar zu machen« (S. 320). In methodischer Hinsicht greift er hierfür auf die von Homi K. Bhabha analysierten Diskriminierungsstrategien des postkolonialen Diskurses sowie auf die von Julia Kristeva und Judith Butler ausgearbeitete Theorie der ›abjection‹ zurück, um darzulegen, wie dasjenige, was Rosenbergs rassistische Blutmystik als »zur kreatürlichen Sphäre des Abjekten bzw. Verwerflichen« gehörend ausgrenze, von Jahnns radikaler Tragödiensprache »affirmativ und sicher sympathetisch besetzt« (S. 327) werde. Im performativen Gestus »einer zitierten, d. h. subversiv verfahrenden Diskriminierung« (S. 330), welche die »Ekelschranken« des diskriminierenden Diskurses überwinde, werde dieses »Darstellungsprinzip des ästhetischen Primitivismus« konstitutiv für den »Phantasiemodus einer modernen Ästhetik des Hässlichen« (S. 331). Im Unterschied zum Primitivismus der Bildenden Kunst setzt der im vorliegenden Sammelband anvisierte Literarische Primitivismus auf das spezifische Beobachtungs- sowie Darstellungsvermögen der Literatur und somit auch auf genuin literarische Verfahren der Wissensgenerierung. Nimmt man dies ernst, so könnte man damit auch die Erwartung verbinden, der Sammelband zeige die Vielfalt und Komplexität poetischer Verfahren der Aneignung, der Reflexion und Transformation primitivistischer Denkfiguren und Konzepte auf. Auch wenn diese Erwartung nur teilweise erfüllt wird, da einige der Beiträge eher mit der Bestimmung der Differenz zwischen literarischem und kunsthistorischem Primitivismus-Begriff oder mit einer systematischen und/oder historischen Verhältnisbestimmung von Primitivismus und Avantgarde befasst sind, so macht der Sammelband doch die Leistungsfähigkeit eines für die Literaturwissenschaft anschlussfähigen Primitivismus-Begriffs deutlich, gibt viele fruchtbare Hinweise für eine weitere Auseinandersetzung und zeigt so, dass der Literarische Primitivismus als wissenspoetisch fundiertes Analysekonzept nicht nur der Forschung zur literarischen Moderne,
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sondern generell einer als Kulturwissenschaft verstandenen Literaturwissenschaft wichtige Impulse zu geben vermag. Barbara Thums Harald Gschwandtner: Ekstatisches Erleben. Neomystische Konstellationen bei Robert Musil. München: Wilhelm Fink 2013 (= Musil-Studien, Bd. 40). 194 S. € 24,90. »Tu felix Austria!« möchte man – als deutscher Rezensent – rufen angesichts der Tatsache, dass die hier anzuzeigende Monographie ursprünglich eine von Norbert Christian Wolf betreute studentische Abschlussarbeit gewesen ist. Ihr Autor, Harald Gschwandtner, ist freilich auch ›vorbelastet‹, arbeitet er doch schon seit geraumer Zeit in der Redaktion dieser Zeitschrift und ist somit allen jüngeren Beiträgern des Musil-Forums mindestens als Adressat von Fragen zur Manuskriptgestaltung bekannt. Ich selbst gehöre nicht zum engeren Kreis der Musil-Forschung. Deshalb möchte ich kurz erläutern, weshalb das Musil-Forum ausgerechnet mich mit dieser Rezension beauftragt hat. Der Grund dürfte der Ausdruck »neomystisch« im Untertitel der Arbeit Gschwandtners sein, den ich in meiner 1997 erschienenen Dissertation zur Gottlosen Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende eingeführt habe.7 Zuvor schon hatte Martina Wagner-Egelhaaf in ihrer Monographie zur Mystik der Moderne darauf hingewiesen, dass mystische Denkformen auch und gerade in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts greifbar sind und ihre Ästhetik prägen – etwa in Musils Mann ohne Eigenschaften.8 Meine eigene Arbeit hat sich hingegen ausschließlich mit Texten aus dem engeren Zeitraum der Jahre um 1900 befasst – darunter Musils Törleß9 –, in denen die mystischen Traditionen nicht nur des Abendlands aufgegriffen und für die ›gottlose‹ Moderne adaptiert worden sind, was wiederum der Ausdruck »Neomystik« bezeichnen soll. Zwei grundlegende Befunde haben sich dabei ergeben. Erstens: Auffallend viele und sehr unterschiedliche Texte und Autoren des Fin de siècle thematisieren, nutzen oder gestalten diese Neomystik. Zweitens: Das auch außerhalb literarischer Texte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert breit nachweisbare Interesse an solcher Neomystik ist erklärbar aus spezifisch modernen Problemszenarien, als deren Kern ich ein Bedürfnis nach Gewissheit (im Verhältnis vom Subjekt zur Welt) und nach Selbstvergewisserung (im Verhältnis des Subjekts zu sich selbst) ansehe. Dafür stellt die (Neo-)Mystik eine 7 8 9
Vgl. Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn u. a. 1997, S. 25–27. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, insbes. S. 108–147. Vgl. Spörl: Gottlose Mystik (s. Anm. 7), S. 280–309.
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Lösung in Aussicht – freilich eine nicht ganz unproblematische, was auch Robert Musil erkannt hat. Dass Musil und sein Werk (zumindest in großen Teilen) einem solchen Konzept von Mystik-und-Moderne zuzuordnen sind bzw. dieses Werk einen wichtigen und sehr spezifischen Beitrag zur Neomystik darstellt, liegt auf der Hand und ist natürlich auch vor den hier genannten Arbeiten von WagnerEgelhaaf, mir und Harald Gschwandtner schon erkannt worden. Der Anspruch und die Leistung der knapp 200 Seiten umfassenden Monographie Gschwandtners liegen deshalb darin, dies erstmals systematisch und umfassend zu tun. »Systematisch« meint dabei zweierlei: Die Arbeit nimmt ihren Ausgang (im Teil II »Annäherungen«) von den Prägungen der Neomystik im ›Diskursfeld‹ der Moderne zum einen und Musils Stellung zu und in diesem zum anderen. Und sie untersucht verschiedene begriffliche »Konstellationen« (so der Titel des Teils III, der den Hauptteil der Arbeit bildet), in denen Musil in seinen Texten die Mystik verortet, um so einen systematischen Zugriff auf das Werk zu ermöglichen. Und auch »umfassend« bezieht sich zum einen darauf, dass Musils Werk in seiner Gesamtheit betrachtet wird (wenngleich bestimmte Texte stärker fokussiert werden als andere), und zum anderen darauf, dass die vorhandene Forschungsliteratur zum Thema in großer Intensität und Breite genutzt wird. Gschwandtner greift – insbesondere im Kapitel II . 1 »›Neomystik‹« – als Ausgangspunkt auf meine (und andere) Überlegungen und Beobachtungen zur modernen Mystik zurück. Und so betont er nicht nur im Titel des Buches das »Erleben«, sondern auch in der Einleitung und mit Blick auf Musil, dass Neomystik vor allem als »Erlebnisqualität« (S. 8) an die traditionelle Mystik anschließt, freilich ohne damit auch ihren Bezug auf eine göttliche Transzendenz mit zu übernehmen.10 Mystisch oder neomystisch ist also ein bestimmtes »Verhalten[ ] zur Welt« (S. 8), das deshalb anderem Verhalten zur Welt gegenübergestellt werden kann und nur eine ›Möglichkeit‹ unter mehreren darstellt – in den Worten Musils: ›der andere Zustand‹ (vgl. S. 28 f.). Tatsächlich untersucht Gschwandtner somit vor allem die in ganz unterschiedlichen Texten Musils realisierten Reflexionen über diese unterschiedlichen Verhaltensweisen zur Welt, die dem modernen Menschen möglich sind. Dabei bestätigt sich immer wieder, was Gschwandtner schon in der Einleitung hervorhebt, dass nämlich »Musils Perspektivierungen des mystischen Paradigmas stets von zwei gegenläufigen Tendenzen geprägt sind« (S. 8). Solche gegenläufigen Tendenzen sind ›das Ratioïde‹ und das ›Nicht-Ratioïde‹, ein von wissenschaftlicher Distanz, Objektivität und Genauigkeit geprägtes 10
Gschwandtner formuliert diesen Umstand so: Musils »›Neomystik‹ zeichnet sich [. . .] insbesondere dadurch aus, dass er das Ausdrucksreservoir, die Bildlichkeit und die narrativen Strategien mystischen Sprechens [. . .] in seine Poetik integriert, damit jedoch nicht den theologischen Überbau dieses religiös codierten Erlebnismusters mit übernimmt« (S. 33).
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Weltverhältnis im Gegensatz zu einem von Einfühlung und Innerlichkeit geprägten, ein dauerhaft stabiles im Gegensatz zu einem momenthaften und sich unkontrollierbar bahnbrechenden, das Heilige und das Profane, Tradition und Moderne und dergleichen mehr. Musils Ulrich im Mann ohne Eigenschaften formuliert es so: »Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!« (MoE, S. 751)11 Diese Perspektivierungen erklären somit das systematische Ordnungsmuster für die hier präsentierten Untersuchungen nach »Konstellationen«: In den sieben Kapiteln des Hauptteils wird Mystik mit »Religion«, »Krieg«, »Ordnung« (zwei Mal), »Sprache«, »Technik und Mathematik« und »Glück« korreliert, um so die je etwas unterschiedlichen Tendenzen und Perspektiven Musils auf diese Konstellationen in den Blick zu nehmen. In diesen verschiedene und ganz unterschiedlich geartete Texte Musils perspektivisch untersuchenden Kapiteln wird auch deutlich, dass es nicht nur der Roman-Figur Ulrich, sondern auch ihrem Autor darum geht, reflektierend-essayistisch oder mit den Mitteln und Strategien literarischen Erzählens die unterschiedlichen Perspektiven umfassend auszuloten: Zum einen wird herausgestellt, was unmöglich (ein neomystisches Glückserleben auf Dauer etwa12 ) oder kaum wünschenswert ist (z. B. eine unkontrollierbare, massenhafte Euphorie, etwa beim Eintritt Österreichs in den Ersten Weltkrieg13 ). Zum anderen wird erkundet, welche Synthesen aus den gegenläufigen Tendenzen Musil dem modernen Menschen anbieten kann, auch wenn dies dem eigenen Erfolg als Schriftsteller abträglich ist.14 Kurz, es geht, wie Gschwandtner zeigen kann, Musil nicht nur um Literatur, sondern mit und in der Literatur auch um »die Frage nach Glück und ›rechtem Leben‹« (S. 174), gerade in der ihre Bedrohlichkeit immer deutlicher zeigenden Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.15 In der »Schlussbemerkung«, aus der eben schon zitiert worden ist, findet sich ein weiterer Befund, den die Ausführungen Gschwandtners insgesamt stützen: »Durch das gesamte Werk ziehen sich Absetzbewegungen von je11 12
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Gschwandtner zitiert diese Passage im oben referierten Zusammenhang natürlich auch (vgl. S. 33). Dies ist einer der zentralen von Gschwandtner herausgearbeiteten Punkte im Kapitel III . 7 »Mystik | Glück«, in dem u. a. gezeigt wird, dass – bei Musil bzw. in seinen Texten – Glückserleben (im Sinne Nietzsches) und neomystisches Erlebnis strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, nicht zuletzt die, dass beide nur momenthaft möglich und kaum aktiv herbeizuführen sind (vgl. S. 157–170). Die Kriegseuphorie im Spannungsfeld zwischen kollektivem Glück und ins Unheil führender Massenhysterie bzw. Musils komplexe Reflexionen zu diesem Thema sind der Gegenstand der Untersuchungen des Kapitels III . 2 »Mystik | Krieg« (vgl. S. 65–83). Für Letzteres als von Musil bewusst in Kauf Genommenes argumentiert Gschwandtner in einem exkursartigen Abschnitt anlässlich der Publikationsgeschichte des Nachlaß zu Lebzeiten im Rahmen des Kapitels III . 4 »Mystik | Sprache« (vgl. S. 107–114). Das eben Zitierte bildet sicherlich nicht zufällig den Abschluss der Arbeit.
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nen populärphilosophischen bis esoterischen Diskursen« (S. 173) der Zeit. Gemeint sind hier Langbehn, Maeterlinck, Klages und die vielen anderen ›Weltanschaungsautoren‹ der Jahrhundertwende bzw. des frühen 20. Jahrhunderts, denen Musil recht deutlich schlichten und gerade deshalb inakzeptablen Irrationalismus zuschreibt und deren Positionen er entsprechend kritisch und satirisch – etwa über Romanfiguren (wie Beineberg im Törleß oder Meingast im Mann ohne Eigenschaften) – seziert und verwirft. Solche »Schleudermystik zu billigstem Preis« (MoE, S. 1088) stellt nach Gschwandtner eine Bedrohung für Musils eigenes Projekt dar, das er deshalb immer wieder von diesem anderen, ihn Umgebenden abzugrenzen trachtet (vgl. S. 86). Und diese Abgrenzungsbestrebungen zeichnet er deshalb mehrfach in der Arbeit nach – textnah und damit wie Musil eher in Varianten des Mystik-Konzepts denkend (etwa ›taghelle‹ = akzeptable vs. ›Schleuder‹- = abzulehnende ›Mystik‹). Eine systematische Unterscheidung zwischen Mystik und Esoterik (und Okkultismus), wie sie ex post in der jüngeren Literaturwissenschaft zu Analysezwecken entwickelt worden ist,16 hätte hier wohl helfen können, Musils Abgrenzungen noch präziser zu erfassen. Gschwandtners Zugriff auf Musils Texte, ihre Bezüge und Kontexte ist ein diskursanalytischer in einem unspezifischen Sinne; jedenfalls modelliert er alles Textuelle vorrangig als Diskursives – etwa als »Diskursfeld« (S. 12), »Diskurspanorama« (S. 41) oder als »Diskursfragment« (S. 42). Das ist methodisch nicht sonderlich avanciert, dem Untersuchungsgegenstand aber durchaus angemessen. Denn Musils Werk ist in einem gewissen Sinne zweifellos diskursiv zu nennen, gerade dann, wenn man seine Essays, Fragmente, Rezensionen usw. ebenso untersucht wie seine Erzähltexte im engeren Sinne. Vor allem sind es aber natürlich die ›gegenläufigen Tendenzen‹ der ›Konstellationen‹, die diesen Diskursbegriff rechtfertigen, weil hier am einzelnen Text bzw. der einzelnen Textpassage immer das Exemplarische gesucht wird. Freilich benennt die Arbeit stets recht klar die Texte, um die es jeweils geht, und skizziert meist auch ihre jeweiligen Ko- und Kontexte. Kurz: Mit diesem diskursiven Zugriff wird der systematische Anspruch der Arbeit gestützt, freilich um den Preis, dass geschlossene Einzeltextinterpretationen nicht oder nur in einzelnen Bruchteilen in der Arbeit zu finden sind. Das wird besonders deutlich am Beispiel der Novelle Die Amsel aus dem Nachlaß, die – neben dem Mann ohne Eigenschaften – wohl als einziger Text Musils in fast allen Kapiteln des III . Teils eine Rolle spielt. So wird etwa im Kapitel zur Konstellation »Mystik | Religion« der Text der Amsel als Beleg für die These angeführt, dass Musil oft religiöses Vokabular säkularisiert (vgl. S. 55). Im Zusammenhang mit der Konstellation »Mystik | 16
Vgl. insbes. Bettina Gruber: Mystik, Esoterik, Okkultismus: Überlegungen zu einer Begriffsdiskussion, in: Moritz Baßler, Hildegard Châtellier (Hg.): Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900/Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Strasbourg 1998, S. 27–39.
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Krieg« wird anhand der ›Fliegerpfeil-Episode‹ der Novelle Musils »Annäherung von gesteigertem Erleben und Todesgefahr« (S. 77) verdeutlicht. Unter der Perspektive der Konstellation »Mystik | Technik und Mathematik« wird die ganze Novelle als komplexe Antwort auf die Frage gedeutet, wie »sich das moderne Subjekt angesichts des Zugriffs statistischer Diskurse [. . .] als unabhängige – und vor allem unabhängig erlebende – Instanz behaupten kann« (S. 145). Und schließlich wird das unvermittelte Erscheinen und Gehört-Werden der titelgebenden Amsel im Kapitel »Mystik | Ordnung II« als Beleg für den für Musil so bedeutenden Gegensatz von Mystik und Ordnung spendender Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit betont (vgl. S. 116). Einzelne Analyse- und Deutungsmomente Gschwandtners zu einzelnen Texten oder Textpassagen Musils wird man, so ist zu vermuten, in der Musil-Forschung noch kritisch zu prüfen haben. Mir zum Beispiel scheinen die exkursartigen Ausführungen zu Hofmannsthals Chandos-Brief im einschlägigen Kapitel »Mystik | Sprache« (vgl. S. 98–101) nur bedingt haltbar zu sein, während andere Leser wohl bei anderen Texten andere Deutungsperspektiven vorziehen dürften. Das spricht aber m. E. eher für als gegen diese Arbeit, der somit nicht nur im engeren Kreis der Musil-Forschung möglichst viele interessierte Leser zu wünschen sind. Dies umso mehr, als der Text Gschwandtners trotz seiner ebenso in- wie extensiven Nutzung von Zitaten noch gut lesbar und auch als Buch sehr gefällig gestaltet ist. Uwe Spörl Sławomir Le´sniak: Die Entwicklung des Essays. Literarische Transformationen der mathematischen Funktionalität bei Rudolf Kassner, Walter Benjamin, Robert Musil und Vilém Flusser. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 145 S. € 24,–. In Anbetracht der Tatsache, dass dem Essay trotz des gerade in den letzten Jahren wieder etwas gesteigerten Interesses17 nach wie vor verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit vonseiten der Philologie zuteilwird, mutet ein Vorhaben wie das von Sławomir Le´sniak angekündigte auf den ersten Blick nicht uninteressant an – zumal der Essay (traditionell als zwischen geistreicher Reflexion und wissenschaftlicher Abhandlung oszillierendes Genre gewertet, das rhetorische Finesse mit logischer Argumentation geschickt zu kombinieren vermag) geradezu prädestiniert für die im Titel angedeutete Untersuchung 17
Vgl. z. B. Simon Jander: Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn. Heidelberg 2008 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 257); Georg Stanitzek: Essay – BRD . Berlin 2011; Peter V. Zima: Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne. Würzburg 2012. Darüber hinaus sei noch eine im Mai 2013 in Kiel veranstaltete Tagung zum Essay der Moderne erwähnt (http://www.essayistik-moderne.de/page46.htm).
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mathematisch-logischer Strukturen zu sein scheint. Ein zweiter Blick indes lässt leichte Skepsis aufkommen, ist doch die Formulierung »mathematische Funktionalität« nicht unbedingt dazu angetan, den Leser über den tatsächlichen Untersuchungsgegenstand aufzuklären. Selbst die Konsultierung des Duden bringt wenig Licht in die terminologische Dunkelheit: Unter dem Lemma »Funktionalität« werden zwar zwei Bedeutungen angeführt, nämlich einerseits die »funktionale Beschaffenheit« und andererseits die »Funktion« im technischen Bereich bzw. der EDV (»von einem Gerät, einem Programm, einem Computer o. Ä. zu leistende Aufgabe, zu lieferndes Resultat«) – was allerdings die Verwendung des Terminus bei Le´sniak keineswegs erhellt, denn dass tatsächlich eines der beiden Sememe gemeint sein soll, erscheint ob der offenkundigen Sinnlosigkeit höchst zweifelhaft. Leider bestätigt die Lektüre diesen ersten Eindruck: Le´sniaks Studie krankt in erster Linie an der Terminologie, die infolge der Vermischung mathematischer Begrifflichkeiten mit Anleihen bei Frege, Cassirer, Russell und Wittgenstein gleichermaßen abstrakt und komplex wie unscharf gerät. Ein einführendes Kapitel (S. 29–35) zielt zwar darauf ab, einen »logisch-mathematische[n] Begriffsrahmen dar[zu]stell[en], der eine analytisch-kategoriale Grundlage« (S. 29) der in den folgenden vier Kapiteln durchgeführten Beispielanalysen liefern soll. Nichtsdestoweniger erweist sich gerade diese – angeblich – explizierende Einleitung als symptomatisch für die Schwächen des Buches im Allgemeinen: Sowohl sprachlich als auch inhaltlich kann von Benutzerfreundlichkeit keine Rede sein, denn dass der Sinn von Sätzen wie den folgenden dem durchschnittlichen Literaturwissenschaftler erschließbar ist, darf bezweifelt werden: Die Zahl fungiert hier als eine Relation von Relationen, die jeweils dem Moment des Umtauschs der Relation (also des Übergangs) zugrunde liegt, in dem die positive Relationsrichtung (+1) und die negative Relationsrichtung (-1) in einem formalen Umkehrverhältnis eine metalogische (Über-)Einheit darstellen. Diese entspricht hier der ästhetisch-semantischen Instrumentierung der Zahl im Essay bei Kassner, Benjamin, Musil und Flusser auf je unterschiedliche Art und Weise. Sie bildet jeweils ein funktionales Beziehungsregulativ im Korrelationsverhältnis vom Identischen und Nichtidentischen, vom Besonderen und Allgemeinen [. . .]. [. . .] Es sind demnach zwei logisch-mathematische Grundoperationen zu statuieren, die der Zahlfunktion zugrunde liegen: die der präzisierenden Eingrenzung [. . .] und die der isolierenden Abgrenzung [. . .]. (S. 30)
Abstrakte Terminologie und unnötig komplizierte (bisweilen arg verworrene) Ausdrucksweise vermögen die Mängel nicht einmal notdürftig zu camouflieren. Auffällig ist einerseits die bereits erwähnte Tendenz zur Entlehnung von Begriffen aus anderen Disziplinen, insbesondere der Logik und der Mathematik (»Relation«, »Zahl«, »Funktion«, »Grundoperation« usf.), und andererseits die Häufung solcher lexikalischer Einheiten, die nachgerade zu Wortfeldern zusammengeschlossen sind (»Funktion«, »funktional«, »Zahl-
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funktion« bzw. »Relation«, »Beziehung«, »Verhältnis«) – oder zumindest zu sein scheinen, denn eine genauere Untersuchung fördert das eigentliche terminologische Problem der Studie zutage: Bei einem Großteil dieser Ausdrücke handelt es sich um solche, die sich je nach Verwendungszusammenhang in ihrer Semantik unterscheiden – nämlich verfügen sie zum einen über einen genau definierten fachsprachlichen Bedeutungsinhalt und zum andern über einen mehr oder weniger polyvalenten alltagssprachlichen. Nun bereitet es gemeinhin auf Grund des Kontextes keinerlei Schwierigkeiten, die jeweils realisierten Sememe zu bestimmen. In diesem Fall hingegen gestaltet sich die Festlegung durchwegs problematisch, da der Autor erstens auf gerade bei Verwendung solch abstrakter Begriffe unbedingt notwendige Definitionen verzichtet und zweitens auch in relativ kurzen Passagen (für die die zitierte exemplarisch ist) allem Anschein nach bei mehrfacher Verwendung gleicher oder zumindest dem Wortfeld nach verwandter Ausdrücke nicht immer dasselbe unter den jeweiligen Termini versteht – oder, anders formuliert, zwischen alltags- und fachsprachlichem Gebrauch wechselt (die »Relation« etwa ist zwar auf alltagssprachlicher, nicht jedoch mathematischer Ebene mit dem »Verhältnis« oder der »Beziehung« verwandt respektive synonym). Hinzu kommt, dass oftmals der Kontext einen fachsprachlichen Gebrauch suggeriert, was aber – nimmt man die entsprechende Bedeutung ernst – zu absolut sinnlosen Sätzen führt. Aus welchem der beiden Bedeutungsfelder sich der Autor aktuell bedient, ist nicht selten zumindest fragwürdig, ja es liegt oftmals die Vermutung nahe, dass weder das eine noch das andere, sondern vielmehr eine spezifische (und zwar autorspezifische) Konnotation gemeint ist – die dem Leser freilich nicht erschließbar ist: Die übernommenen Fachtermini scheinen mit willkürlich gewählten Bedeutungsinhalten gefüllt zu sein. Angesichts dieses Verzichts auf präzise Erläuterungen verwundert es umso mehr, dass Le´sniak in den einzelnen Beispielanalysen bisweilen nachgerade im Wortlaut die Ausführungen des Theoriekapitels (S. 29–35) resümiert (oder vielmehr reproduziert, vgl. z. B. S. 40 f., 64 u. 69 oder die Fußnote auf S. 90) – zumal in Anbetracht der Kürze der Studie, die inklusive der (vor allem was die aktuelle Essayforschung anbelangt) relativ dürftigen Bibliographie lediglich 145 Seiten umfasst. Erwecken nicht nur die beständigen Rekurrenzen auf das einführende Konzept den Eindruck einer eher schludrigen Zusammenstellung, so bestätigt eine kurze Recherche diese Vermutung, deren Resultat darüber hinaus symptomatisch ist für die begriffliche Unschärfe: Eine Überprüfung, ob die bei Le´sniak mehrfach exakt in dieser Kombination gebrauchte, an die Terminologie der Mathematik angelehnte Wendung »transitive Differenzierung« auch in anderen Kontexten und bei anderen Autoren Verwendung findet, zeigt nicht nur, dass es sich dabei offenbar um eine vom Autor geprägte und ansonsten ungebräuchliche Formulierung handelt, deren Erfassung Leserinnen und Lesern nicht unbedingt leicht gemacht wird.
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Die Kapitel über Benjamin und Musil sind überdies mit bereits veröffentlichten Aufsätzen Le´sniaks18 weitgehend ident, was der Verfasser aber offenbar keiner Erwähnung für wert befindet. Zusammenfassend: Prinzipiell ist dem Vorschlag des Autors, nämlich von der zunehmenden Verquickung der Geisteshaltung des Essayismus und dem Genre Essay abzusehen und sich wieder verstärkt der Gattung an sich zu widmen (S. 9 f.), zuzustimmen. Auch erscheint der Ansatz, eine Entwicklungslinie mathematisch-logischen Denkens bzw. die ästhetische Transformation solcher Inhalte im literarischen Text zu untersuchen, durchaus sinnvoll – insbesondere im Essay: Einer der markantesten und am häufigsten von der Forschung vorgenommenen Charakterisierungsansätze verläuft über die Mittlerstellung des Essays zwischen Wissenschaft und Kunst. Gerade im Fall des frühen 20. Jahrhunderts kann eine solche Zugangsweise durchaus fruchtbar sein, wenn erstens um 1900 im Gefolge der von Nietzsche initiierten Modifikationen die Gattung Essay floriert, zweitens auch die naturwissenschaftliche Essayistik zunehmend an Breitenwirksamkeit gewinnt und drittens vermehrt naturwissenschaftliche Denkweisen Eingang in die Arbeit von Literaten finden – wobei den gravierenden Umwälzungen im Bereich der modernen Physik ein nicht zu unterschätzender Einfluss zukommen dürfte. Nichtsdestoweniger hat es sowohl ob der offenkundigen Defizite in Hinblick auf die Benutzerfreundlichkeit als auch der nachlässigen Zusammenstellung hier wenig Sinn, die behandelten Aspekte im Detail zu besprechen: Zum einen hätte es unbedingt der Verwendung einer weniger exzentrischen, verschiedene Begriffsfelder vermengenden und dadurch notgedrungen unscharfen Terminologie bedurft; und zum andern hätte das Buch zur Vermeidung von Redundanzen besser redigiert (und lektoriert) werden müssen – wobei gerade dieses Manko insofern verwundert, als die Studie in dem angeblich renommierten Wissenschaftsverlag Königshausen & Neumann erschienen ist. Magdalena Maria Bachmann Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München: Carl Hanser 2013. 544 S. € 34,90. Der Münchner Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach ist mit dieser Studie ein Volltreffer geglückt. Nicht nur, was die ansprechende Aufmachung des Bandes, sein Erscheinen in einem attraktiven Publikumsverlag und die 18
Sławomir Le´sniak: Walter Benjamin und die Zahl. Anmerkungen zum Verhältnis von mathematisch-logischer Denkform und essayistischer Schreibweise bei Walter Benjamin, in: Convivium (2011), S. 301–320; ders.: Robert Musil und die Zahl. Anmerkungen zum Verhältnis von funktionaler Denkweise und stilistisch-semantischen Disparitäten bei Robert Musil, in: German Life & Letters 65 (2012), H. 1, S. 36–58.
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enorme publizistische Resonanz der Veröffentlichung betrifft – obwohl auch diese Umstände staunens- und bewundernswert genug sind. Denn es ist ja keineswegs so, dass die Beschäftigung mit Robert Musil und seinem Hauptwerk im kulturellen Bewusstsein und erst recht im literarischen Betrieb eine wirklich engagiert betriebene oder gar populäre Angelegenheit geworden wäre. Wenn also große Zeitungen und Radiosender, auf den Impuls der Veröffentlichung dieses Buches hin, auch an Musils Mann ohne Eigenschaften ihr neu entfachtes Interesse bekunden, so ist damit für die Gewinnung derzeitigen und künftigen Lesepublikums doch schon einiges erreicht. Die ungewöhnlich starke und ganz überwiegend positive Resonanz hat indes nicht nur mit der geschickten, wirkungsvollen Präsentation zu tun, in der Mülder-Bachs Monographie als publizistisches Ereignis hervortrat. Einnehmend sind auch die thematische Breite, stilistische Freiheit und intellektuelle Souveränität, mit der die Autorin an ihren Gegenstand herangeht. Kaum je in den vergangenen Jahren erlebte man eine so frische, freie und unbefangene Art, Musil zu lesen. Mit leichter Hand verknüpft die Studie geistesgeschichtliche und kulturhistorische Hintergründe mit mikrostrukturellen Betrachtungen zur Funktionsweise einzelner Metaphern und grammatischer Konstruktionen. Weiträumige Themen- und Motivgeflechte werden entwickelt, etwa zur Textgenealogie, zum Fluchtpunkt des Ersten Weltkriegs, zum kakanischen Verfassungsmodell, zur Rechtsgeschichte, Psychologie, Medienästhetik und vielen anderen Diskursfeldern. Naturgemäß ist nichts davon der Musil-Forschung gänzlich neu, doch werden hier mit einem jederzeit sachlich bestens orientierten, beherzten Zugriff Konstellationen und Zusammenhänge hergestellt, die es ermöglichen, mit sukzessive fortschreitender Lektüre zu erstaunlichen Einsichten, am Ende sogar zu einer neuen Form der Übersicht und Gesamteinschätzung des Romans zu gelangen. Die Studie erreicht viel, weil sie sich wenig vorzunehmen scheint, keine von außen herangetragenen Beweisziele zu verfolgen trachtet. Eine Monographie, die kein thematisches, kein geschichtliches oder theoretisches Erkenntnisziel in ihrem Titel trägt, sondern schlichtweg auf den Autor- und Werknamen ihres literarischen Gegenstandes verweist, das hat es in der Geschichte der Musil-Forschung so noch nicht gegeben. Darin liegt nicht Bescheidenheit, sondern der selbstbewusste Anspruch, einen Beitrag systematischer Art zum Verständnis und zur Lektüre des Romans zu leisten. Würde man Mülder-Bachs Monographie ein methodisch-theoretisches »Credo« abverlangen, wie dies von den zahlreichen, zum Mann ohne Eigenschaften vorgelegten akademischen Qualifikationsschriften jeweils vorgetragen wird, so bestünde es wohl in dem Vorschlag, den Mann ohne Eigenschaften als literarisches Artefakt ernst zu nehmen, ihn in seinem intellektuellen wie literarischen KunstCharakter nachzuzeichnen, und dies Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel.
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Mülder-Bach beginnt also, wie so viele (oder sogar eigentlich alle) Exegesen des Mann ohne Eigenschaften, mit einer nochmaligen Lektüre des berühmten »ersten Kapitels« mit seinem atmosphärischen Eingangsgemälde, seiner abstrakten Skizzierung des Wiener Straßenverkehrs und dem hieraus in querschlagender Bewegung entspringenden Unfall. Das Von-vorne-Beginnen ist in der von ihr vorgetragenen Lektüre allerdings nicht Ausdruck des Selbstverständlichen, sondern einer fundamentalen, für die Romankonstruktion konstitutiven Aporie. Denn ebenso, wie alles Folgende entgegen der Beteuerung des Erzählers genau diesen Anfang als Startpunkt benötigt und aus ihm »hervorgeht«, setzt ein adäquates Verständnis des Eingangskapitels umgekehrt nichts weniger als die gesamte folgende Romanwelt und Handlungsentwicklung voraus. Denn um etwa in dem am Boden liegenden namenlosen Opfer, zumindest der Möglichkeit nach, auch Ulrich, den Titelhelden zu sehen, müsste der Zielpunkt des Geschehens, die katastrophische Engführung der Linien im August 1914 und der vermutliche Kriegseinsatz des Protagonisten, in die Eingangsszenerie schon mit eingeblendet werden können. Und auch für weitere Umstände, die das Eröffnungskapitel macht, wie etwa die mittels einer Sofortkorrektur wieder entfernte Einführung des Figurenpaares Arnheim und Ermelinda Tuzzi, gilt, dass der Text durch diese ungedeckten, unterdeterminierten Vorgriffe mit seinem eigenen prozessualen Charakter arbeitet. Dem Romananfang ist eine vehement vorwärtsdrängende, mitreißende Sogkraft eigen; doch was hier ›drängt‹ und strömt, zieht weiter, in die Lücken, Leerstellen und Abgründe des nicht mehr fixierbaren Textendes hinein, so dass gerade der Exposition trotz ihrer (im Hinblick auf das Romanpersonal und das gesellschaftliche Spielfeld) eher statuarischen Funktion zugleich eine unheimliche Fließdynamik innewohnt. Es ist deshalb nur folgerichtig, weiterhin ebenfalls der Sukzession des Textes und des Erzählduktus nachzugehen, und genau dies tut Mülder-Bach. Wie der Erzählgang, folgt auch sie den inexistenten Passanten auf ihrem Weg aus dem Zentrum heraus, zu Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften. Eins gibt das andere; mit Ulrich treten erst sein Vater, dann Leona und Bonadea in den Blick, schließlich die Jugendfreunde Clarisse und Walter, der Frauenmörder Moosbrugger sowie die bürokratischen und laizistischen Funktionäre der Parallelaktion. Indem Mülder-Bach dieses Rekonstruktionsverfahren minutiös durch den gesamten Einleitungsteil hindurch fortsetzt, kann sie im bunten Wechsel der Figuren- und Handlungselemente die durchgängigen Strukturrhythmen sichtbar machen, eine unablässige Folge von Verknüpfungen und Verzweigungen, von eintretenden Abspaltungen und wiedererlangten Verbindungslinien. Unter den Detailergebnissen können insbesondere die Ausführungen zum intertextuellen Formengedächtnis dieses Romans hohe Originalität be-
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anspruchen; sie stützen die Grundthese vom Kunstwerk-Charakter des Romans. Ulrichs resignativen Entschluss, die Einrichtung seines Haushalts ganz dem Zufall, nämlich dem Genie seiner Lieferanten, zu überlassen, liest Mülder-Bach als klare selbstreferentielle Aussage zur Bauweise dieses Romans. Denn seit Blanckenburgs Versuch über den Roman, dem deutschsprachigen Gründungsdokument dieser in die Modernität führenden Gattung (auf das auch Mülder-Bachs Untertitel anspielt), kann der Roman als ein ›Werk‹ betrachtet werden, welches andere Texte materialiter in sich aufnimmt und verarbeitet. Ob, wie Mülder-Bach suggeriert, ausdrückliche Textanleihen Musils bei dieser und anderen Quellen wirklich schlüssig nachzuweisen sind, spielt dabei eher eine nachrangige Rolle. Entscheidender ist die hier konsequent umgesetzte Auffassung, dass es zwischen Musils Handlungselementen und seiner Gedankenprosa textanalytisch keinerlei Unterschied zu machen gibt. Wie Mülder-Bach nämlich in zahlreichen und vielfältigen Einzelbeobachtungen zeigen kann, bergen diejenigen Passagen, welche den Handlungsgang narrativ vorantreiben oder zur Deskription der Figuren beitragen, zugleich folgenreiche Denkmodelle und Ordnungsschemata im Hinblick auf die konstruktive Dimension des Romans. Umgekehrt ist wiederum kaum ein gedanklicher Exkurs in dem Text anzutreffen, der nicht seinerseits von den gleichen Ambivalenzen getragen wäre, die auch das Seelenleben der Figuren durchziehen. Daran erweist sich, dass es Mülder-Bach nicht so sehr mit der Lesart des »essayistischen« Romans hält, sondern in ihren Analysen die alles durchwirkende Textualität des Romans und seiner geschichtlichen, sozialen wie auch innerpsychischen Schauplätze hervorhebt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Einschätzung der dichterischen Haltung, die Musil im Roman zur Geltung bringt. Statt als einen in Ironie oder gar Sarkasmus eingesponnenen Skeptiker und Kulturpessimisten zeigt Mülder-Bach uns den Autor des Mann ohne Eigenschaften als einen beharrlichen Anhänger der Poiesis, des Kreativpotentials der Sprache selbst, die mit ihren Metaphern, Gleichnissen und syntaktischen Perioden wie keine andere kulturelle Errungenschaft in der Lage ist, hochkomplexe Interaktionsformen auszuprägen – und auszuhalten. Im Geflecht dieses Textes, dies lässt sich in der Tat nur durch eine geduldige, sorgsame Nachzeichnung seiner narrativen Sukzession und seiner inneren Verfahrenslogik erweisen, wie sie hier auf unnachahmliche Weise geleistet werden – in diesem Geflecht, so arbeitet Mülder-Bach in den übergreifenden Struktur-Überlegungen des dritten, mittleren Hauptkapitels ihrer Studie heraus, herrscht ein alles durchwaltender Grundrhythmus des Bindens und Lösens. Nicht erst die spätmittelalterliche Alchimistenzunft hatte sich an die Zauberformel des Lösens und Bindens (solve et coagula) gehalten, die übrigens zwei bis drei Jahrzehnte nach Musils epischem Großprojekt in der lyrischen Sprachverdichtung Paul Celans wieder zu neuer Produktivität gelangt. Unter Philologen wohlbekannt ist, dass bereits Aristoteles darin die Grundoperationen poetischer Verfertigungskunst gesehen und
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das bipolare Miteinander von Verstrickung und Lösung (vgl. hierzu Juliane Vogels instruktiven Aufsatz19 ) als die jedes Drama, jede epische Handlung fundierenden »Bauformen des Erzählens« bestimmt hatte. Nur eine Analytik von solch umgreifender, elementarer Allgemeinheit ist imstande, die Vielsträngigkeit des Romangebildes Der Mann ohne Eigenschaften zugleich in ihrer konstruktiven Systematik wie auch in ihrer detail-pointierten Gewitztheit mit hinreichendem Problembewusstsein nachzuzeichnen, wie es in diesem Buch für weite Strecken des Romans geleistet wird. Musils Zweifel an der Wohleingerichtetheit der Schöpfung, auch dies tritt mit Mülder-Bachs Lektüren deutlich hervor, entsprangen nicht der Laune eines Salonphilosophen, sie sind geschichtlich fundiert durch den Schock massenhaft zu Tage tretender Gewalteuphorie und in der Folge dann durch Millionen von Kriegstoten, die im amputierten Habsburgerstaat überdies auf für das politische Selbstbewusstsein höchst empfindliche Weise den Phantomschmerz vergangener Größe wachhielten. Obwohl der Schriftsteller also allen Grund hatte, im finalen Zusammenbruch des Krieges und in der gesellschaftlichen Dissoziation die treffendste aller Summen-Formeln seines Sozialpanoramas anzusetzen, bleibt diese »Spekulation à la baisse« im Roman auf der Ebene seiner literarischen Faktur nicht unwidersprochen. Wenn es so etwas wie eine Zündschnur gibt, anhand derer sich Mülder-Bachs subtile und gelehrte Lektüre mit der politisch-ideologischen Sprengkraft dieses spät- und postimperialen Panoptikums anlegt, so ist diese Zündschnur in ihrer bestechenden Analyse der unscheinbaren Kopula »und« mitsamt ihrer multifunktionalen Verwendungsarten in Musils Roman zu sehen. An einem eingefügten »und« geht bekanntlich nach Musils KakanienAnalyse der Habsburger Doppelstaat zugrunde, und an einem ebensolchen »und« zerbricht auch die fast lebenslange Freundschaft zwischen Ulrichs Vater und seinem juristischen Berufskollegen. Dass aus Ulrich, dem Protagonisten des ersten Romanteils, im zweiten Teil die Hälfte von Ulrich und Agathe wird, verwandelt dieses Paar in das einer idealisierten Geschwisterliebe zutreibende Sternbild der Ungetrennten und Nichtvereinten – worin nichts anderes zu sehen ist als eine grammatisch-logistische Arbeitsplatzbeschreibung jener trennend-verbindenden Konjunktion, die den Roman und seine Welt im Auseinandertreiben zusammenhält. Das Wörtchen »und«, so Mülder-Bachs Zuspitzung ihrer einschlägigen Befunde, stellt das erzählerische Gelenk- und Verbindungsstück par excellence vor, denn es sorgt schließlich dafür, dass, wie auch immer die Zeitzeichen stehen, es im und mit dem Erzählgang doch zumindest noch weitergeht. Wenn in der zum Krieg drängenden und dräuenden fragmentarischen Finalpartie der zu neuem Selbstbewusstsein erstarkte General von Bordwehr die rückfragenden Bedenken Ulrichs abwie19
Juliane Vogel: Verstrickungskünste. Lösungskünste. Zur Geschichte des dramatischen Knotens, in: Poetica 40 (2008), H. 3/4, S. 269–288.
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gelt mit einem barschen »Gar kein ›und‹!«, so müssen demzufolge just an dieser Stelle sämtliche Alarmglocken schellen, äußert sich hier doch, zumindest für den strukturlogisch instruierten Blick, das Menetekel Kakaniens mit der ahnungsvollen Schreckensvision, dass es womöglich eben bald nicht mehr mit einem simplen »und« einfach so weiter gehen werde wie ehedem. Dem Roman war damit, so die mit Mülder-Bachs Studie aufs Neue sich festigende Einsicht, eine faktisch-historische Grenze gesetzt, die als intrinsisches Ende zu erreichen dem Schreibprozess Musils wiederum unmöglich war, nicht zuletzt aufgrund seiner vitalen Vorliebe für das ewige juxtaponierende »und«. In Musils Werk ist die Verfassung der Welt nur entlang der Verfasstheit eines literarischen Artefaktes zugänglich. Die moderne Lebenswelt in ihrer multidiskursiven Gesamtheit zu erfassen, sie nachschöpferisch neu zu erzeugen durch einen Roman, oder besser: durch den Roman – in diesem enzyklopädischen Zugriff korrespondiert Musils Werk durchaus mit anderen prozessual ausgerichteten Erzählwerken der klassischen Moderne. Doch anders als etwa James Joyce, Marcel Proust oder Franz Kafka hat Musil, auch nach nun gut fünfzig Jahren der elaborierten Forschung zum Roman, mit dem Mann ohne Eigenschaften keine kulturell verankerte, literarisch wirkmächtige Rezeption gefunden. Sollte sich dies ändern, dann wohl am ehesten durch Bücher wie das hier besprochene. Alexander Honold
Beate Sommerfeld: Zwischen Augenblicksnotat und Lebensbilanz. Die Tagebuchaufzeichnungen Hugo von Hofmannsthals, Robert Musils und Franz Kafkas. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013 (= Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur, Bd. 5). 356 S. € 59,95. Für diese sorgsam recherchierte, große Belesenheit zeigende und in bewundernswerter Ausdauer eng am Gegenstand entlang geschriebene Studie ist alles vorentschieden mit der gattungsspezifisch ausgerichteten Konfiguration des zugrunde gelegten Textkorpus. Was der Titel unter Umgehung der härteren Gattungsbezeichnung »Tagebuch« weicher als »Tagebuchaufzeichnungen« apostrophieren möchte, erweist sich nämlich als intrikater, wenig gesicherter Gegenstand. Zu Hugo von Hofmannsthal heißt es, dass die entsprechende Forschung sich nicht darüber einig scheine, ob Hofmannsthal überhaupt »Tagebuch« geschrieben habe (S. 34); zu Robert Musil muss referiert werden: »Wegen dieses heterogenen Charakters, besonders aber aufgrund der Tendenz zur Fiktionalisierung wird in der Forschung die Zugehörigkeit zur Gattung des Tagebuchs in Zweifel gezogen« (S. 108); und im Abschnitt zu Franz Kafka liest man: »Wie im Falle der bereits untersuchten Textformationen ist auch das Kafka’sche Textkorpus durch Heterogenität ge-
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kennzeichnet. In den Quartheften durchkreuzen sich diarische Notizen und literarische Vorarbeiten.« (S. 213) Der unausweichlichen Frage also, »ob das beharrliche Subsumieren des heterogenen Textkorpus unter der Gattungsbezeichnung ›Tagebuch‹ das Erkenntnisinteresse nicht in eine wenn nicht gar falsche, zumindest jedoch unergiebige Richtung lenkt«, begegnet die Studie durch die offensive Absicht, »die Differenzen zur Gattung als produktive Kategorien« zu denken und »die Heterogenität des untersuchten Korpus« nicht ›einzuebnen‹, sondern ›weiterzudenken‹ (S. 313). Von daher eröffnet Sommerfelds Studie einen Raum literarischen Schreibens, der die Krisen der Zeit um 1900 in einer gattungshermeneutisch geleiteten Konfiguration von geopoetischen und chronotopischen Szenarien aufsucht. Sie machen die historisch akute Zeiterfahrung als Bewährungsprobe herkömmlich funktionierender literarischer Narrative kenntlich und legen in der Fokussierung auf die offene Gattungshermeneutik des »Tagebuchs« nahe, dass dem einzelnen Schreiber alles Gewicht einer ihrer Tragfähigkeit verlustig gegangenen zeitgenössischen Unzeitgemäßheit übertragen ist. Die drei zentralen Kapitel der Studie sind denn auch – nahe bis ans Verdienstvolle am aktuellen Stand der Sekundärliteratur – entlanggeschrieben an den poetischen und poetologischen Auseinandersetzungen, die die Werke und Schriften des Wiener Autors Hofmannsthal, des in Klagenfurt geborenen Robert Musil und des in Prag lebenden Franz Kafka bewegen. Konkret machen sie sichtbar, wie die Probleme von »Zeit und Erzählung« in Gattungsbrüche diffundieren (Essay, Aphorismen, Lektürelisten, Traumerzählung etc.), wie sie immer wieder durch mediale Übersetzung (Theater, Kinematographie, Photographie etc.) für die Literatur zurückgewonnen werden wollen, auch, wie sie – im Licht der »Tagebuch-Idee« (Gérard Genette) – die Selbstbezüglichkeit der Schreibenden brechen. »Selbstreflexion«, »Experiment«, »Erprobung«, »Wirklichkeitsaneignung«, »Entwurf« und »Möglichkeit« sind die zentralen Vokabeln, mit denen die Überforderungen der einzelnen Schreibprojekte abgefangen und nachvollzogen werden, etwa wenn es beispielsweise von Musils (autobiographischer und nur mehr schriftlich im Gleichklang mit sich selbst befindlicher) Figur des »Monsieur le vivisecteur« heißt: Während die Metaphorisierung des Tagebuchführens als ›Vivisektion‹ traditionell auf vergrübelte Selbstanalyse verweist, werden hier programmatisch für die Tagebuchhefte Konstellationen der Selbst- und Außenwahrnehmung installiert und dabei Zonen und Modi von Wirklichkeitserfahrung abgesteckt. Die Skizze entspricht damit Musils Verständnis des Essays als einer Annäherung von vielen Seiten und visiert zugleich die Verbindung von Subjektivem und Objektivem an, wie sie im Essay möglich wird. (S. 139 f.)
Die Mühen der Ebenen (und die Verfasserin hat wahrlich keine gescheut) sind auch deshalb so groß, weil eine positive, zwischen Gattung und Chronotopie enggeführte Geschichte der Literatur um 1900 weitgehend aussteht. In diesem Desiderat verlängert sich der von der ästhetisierenden Rede von der
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(Sprach-)Krise geworfene Schatten jenes »Habsburgischen Mythos«, an dem sich schon die Autoren von damals in zuweilen verzweifelter Weise abgearbeitet haben. Ist es eine Provokation in diese Richtung, wenn die Verfasserin ihre Studie mit dem aus der KKA zitierten Satz beschließt: »Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt, es ist nie wieder gutzumachen.«? Arno Dusini
Josef Strutz: Vulkanische Menschen. Eine Einführung in Leben und Werk des österreichischen Romanciers Robert Musil & Zwei Kapitel aus dem Schlussteil des Mannes ohne Eigenschaften. Klagenfurt, Wien: kitab 2013. 162 S. € 16,–. Eine Einführung in das Werk eines vielseitigen, komplexen und anspruchsvollen Autors wie Robert Musil darf als ein wagemutiges Kunststück angesehen werden. Der Verfasser kann es eigentlich keinem Kenner recht machen, dem etwas fehlen, der etwas falsch gewichtet oder unzulänglich dargestellt finden wird. Eine Einführung ist aber in erster Linie, und das ist ihr oberster Legitimationsgrund, auf Leserfang aus. Ein Kriterium der Beurteilung wird es daher sein, ob es gelingt, bei einer »breiten Leserschaft«, nicht in erster Linie einem Fachpublikum, eine Faszination für Werk und Autor zu erwecken, natürlich unter sachgerechter Darstellung der wichtigsten Fakten. Der Musil-Kenner Josef Strutz hat sich als Artist auf dem Drahtseil der Aufgabe gestellt. Der Rezensent kann sich vorstellen, dass bei einer Leserin und einem Leser ein Interesse, vielleicht sogar ein Verlangen erweckt wird, Musil zu lesen, nachdem er Strutz gelesen hat. Das ist als Kompliment gemeint. Einschränkend ist nur hinzuzufügen, dass insbesondere der Mann ohne Eigenschaften kaum je ein wirklich breites Publikum gewinnen wird. Daran wird die allerbeste Empfehlung nichts ändern, sind doch nicht einmal zahlreiche Germanistikstudierende bereit oder imstande, das Werk über ein-, zweihundert Seiten hinaus zu lesen. Ich spreche aus Erfahrung. Auf der ersten Seite (S. 7) wäre besser von einem 1000-Seiten-Roman die Rede gewesen als von einem »2000-Seiten-Epos«. Für ein Laienpublikum sollten zunächst die beiden zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher genügen. Für den Forscher ist der Mann ohne Eigenschaften inzwischen dank der digitalen Klagenfurter Ausgabe ein mehr als 2000-Seiten-Roman. Dagegen ist der Hinweis auf die Tagebuch-Auswahl von Karl Markus Michel von 1963 (für ca. 5 € gebraucht zu kaufen) für Anfänger zu begrüßen – anstelle der 2-bändigen von Frisé, die natürlich für die Forschung unentbehrlich ist. Wichtig und richtig ist auch der Hinweis gleich zu Anfang auf die beiden biographischen Großwerke von Karl Corino; denn wer sich begeistern lässt, wird früher oder später darauf zugreifen.
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Der gebildete, aber nicht durch Zwänge des Wissenschaftsdiskurses eingeschränkte Verfasser fügt auf geschickte Weise Werk und Leben Musils zusammen, ohne in den Fehler zu verfallen, das Werk durch das Leben erklären zu wollen. Erlebnisse des Lebens machen verständlich, warum es bestimmte Themen und Motive gibt; die geistige Form ist daraus nicht ableitbar, die – wie der Verfasser richtig bemerkt – um die Erkenntnis innerer Motivationen von »erfundenen Menschen« ringt. Das wird sehr schön im Kapitel über die schwierigen Texte der Vereinigungen deutlich, eine glänzende ›motivierende‹ Darstellung. So macht auch gleich zu Anfang der Hinweis auf die »verlorene Schwester« (Musils vier Jahre vor ihm geborene Schwester starb nach knapp einem Jahr) plausibel, warum das Geschwister-Thema im späteren Werk eine so große Rolle spielt – mehr aber auch nicht. Das gilt ähnlich für das ValerieErlebnis in Filzmoos, für die »Gattin des Majors«, und die »dunkle Seite« der »Tonka«, Herma Dietz. Bereits auf den ersten 20 Seiten entfaltet Strutz geschickt ein beeindruckendes Panorama der wichtigsten Lebensdaten und der dazu gehörigen Werke (Der Mann ohne Eigenschaften, Tonka, Die Portugiesin, Kurzprosa, Die Schwärmer), die naturgemäß nur kurz beleuchtet werden können, aber Interesse wecken. Er beschreibt auf nur einer Seite ganz sachgerecht den Törleß (was in meinen Augen ein Kunststück ist) und vergisst auch nicht die psychologisch-physikalischen Experimente (den Variationskreisel) zu erwähnen, die an den Naturwissenschaftler Musil erinnern. Die nahezu intime Vertrautheit mit dem Autor erlaubt es dem Verfasser, durchaus originell vorzugehen und nicht etwa Faktum an Faktum zu reihen, indem er zum Beispiel im 1. Kapitel von einem relativ unbekannten Text aus der Brünner SonntagsZeitung vom 5. November 1899 ausgeht (der Text ist zur Gänze zitiert), In der Dämmerung geheißen, der die »Schwester« einführt, die im Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften eine dominierende Rolle spielen wird. Auch wird so ein erster durchaus faszinierender Eindruck in die Prosakunst Musils vermittelt. Dem Musil-Philologen bestätigt sich, was auch eine zukünftige Aufgabe der Forschung bleibt: dass Musil aus Exzerpten, Ideenblättern, Mappen, die er seit frühen Jahren ansammelt, heraus arbeitet, auf die er immer wieder zugreift, so dass sich bestimmte Themen und Motive wiederkehrend und ständig verändert entwickeln und verbreiten, aber doch ihre Grundfigur seit den allerersten Anfängen erkennbar bleibt. Das gilt insbesondere für den Komplex ›(Geschwister-)Liebe, anderer Zustand‹. Unter ständigen Vor- und Rückgriffen, die aufgrund des genannten Schreibverfahrens Musils gerechtfertigt sind, geht der Verfasser, wie könnte es anders sein, im Großen und Ganzen chronologisch vor. Musils Kriegserfahrungen im Ersten Weltkrieg werden wiederum im Zusammenhang mit einem längeren Text (in der Urfassung Begräbnis in A., im Nachlaß zu Lebzeiten als Slowenisches Dorfbegräbnis veröffentlicht) dargestellt. Auch dies ist eine eindrucksvolle Prosaskizze, die Appetit auf mehr macht. Hierbei kommt auch
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die (Eigen-)Liebe des Verfassers zum Slowenischen zum Ausdruck, die für meinen Geschmack mit dem Abdruck von Noten und Text des auf dem Dorfbegräbnis gesungenen Marienliedes in einer Einführung übertrieben wird. Ansonsten aber sind Stil und Eigenart der Einführung eine recht erfrischende und wohltuende Alternative zu den zunehmend normierten, daher wenig originellen oder von kurzfristigen ›Moden‹ geprägten Wissenschaftsdiskursen. Man vermeint auch etwas von der Liebe zum alten Kakanien zu spüren, wie sie auch für Musil gilt: »Von seinem Kakanien konnte Robert Musil niemals vollständig Abschied nehmen.« Unter dem Titel »Vulkanische Menschen« und »Wien der zwanziger Jahre« wird in den Mann ohne Eigenschaften eingeführt. Dem Verfasser gelingt das Kunststück, indem er in mehreren Kapiteln die lebens- und werkgeschichtliche Historie des Werks entwickelt. Die Kriegserlebnisse des Ersten Weltkrieges und die Folgen nach 1918 werden von Musil in unterschiedlichen Essays reflektiert, deren geistiger Wandel deutlich herausgestellt wird: kurz gesagt von Affirmation des Krieges (Europäertum, Krieg, Deutschtum) zu einer sachlichen Analyse (Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, Das hilflose Europa), die Musil zur Erkenntnis des überaus wichtigen »Theorems der menschlichen Gestaltlosigkeit« verhilft. Zurecht werden diese Essays Vorarbeiten zum Roman genannt. Ebenso finden sich in Prosaskizzen Grenzerfahrungen des Krieges, Einbrüche in die bürgerliche Lebensform (Die Amsel, Der Fliegerpfeil von Tenna u. a.) als Vorstufen zur »mystischen Form«, die im Mann ohne Eigenschaften weiter entwickelt wird. Ein weiteres zentrales gedankliches Thema, sozusagen das Forschungsprojekt des Mann ohne Eigenschaften, Verstand in Bereiche des Gefühls zu bringen, findet Erwähnung mit dem bekannten Zitat: »Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele« (GW II, S. 1092). Es kann nicht genug beachtet werden, dass die 1920er Jahre eine Epoche hochgradig affektgeladener Konflikte waren. Das andere große Thema – Kontingenz, Möglichkeitssinn, Eigenschaftslosigkeit – bleibt demgegenüber etwas unterbelichtet. Dafür wird der Personenbestand des Romans eingehend vorgestellt, was für eine Einführung wichtig ist. Mit der Grobgliederung und der Gesamtcharakteristik des Mann ohne Eigenschaften im Zitat von Milan Kundera wird insgesamt einer von vielen möglichen Wegen in den Roman hinein gebahnt. Dem langen Entstehungszeitraum des unabgeschlossenen Romans wird dadurch Rechnung getragen, dass den späteren Arbeitsphasen Berlin (1931– 1933), Wien (1933–1939) und Genf (1939–1942) eigene Kapitel gewidmet werden. So wird in Berlin der Einfluss der NS-Ideologie auf den Romantext deutlich: Völkisch-nationalistische Kräfte zeigen sich in den Diskursen um die Figur des Hans Sepp. Ferner wird die Reaktion Musils auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten dargestellt. Zurück in Wien, dann im Genfer Exil arbeitet Musil weiter am Roman. Dazu wird der Nachlass
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skizziert, insbesondere die Pläne für einen möglichen Schluss. Hier hätte ich mir gewünscht, dass etwas näher auf die Verdienste und Grenzen der Ausgabe von Adolf Frisé eingegangen worden wäre mit dem Hinweis, dass jetzt mit der Klagenfurter Ausgabe das aufbereitete und kommentierte gesamte Nachlassmaterial vorliegt. Besonders eingegangen und kommentiert werden zwei Kapitel aus dem Nachlass mit angehängtem Abdruck der beiden faszinierenden Musil-Texte, der Reise ins Paradies und der Beschreibung einer kakanischen Stadt. Ich kann das nur begrüßen. Sie dienen am allerbesten als Einführung in Musils Stil und Eigenart und in die Intensität, mit der Stimmungen erzeugt und geistig durchdrungen werden. Wer bei der Lektüre dieser Passagen nicht fasziniert ist, dem dürfte Musil nichts zu sagen haben. Der Entwurf-Charakter und die Stellung im Roman werden im 9. Kapitel erläutert. So bekommt man auch einen Eindruck in die Arbeitsmethode Musils. Das 11. Kapitel hebt ein einzelnes, wenngleich gewichtiges Werk der Musil-Forschung hervor, was ich durchaus für gerechtfertigt halte. Eindrucksvolle wissenschaftliche Leistungen in Form ›großer‹ Monographien finden selten eine über enge Kreise hinausgehende Anerkennung. Das Werk von Norbert Christian Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, stellt auch in meinen Augen einen Meilenstein und in gewisser Weise auch eine Summe der bisherigen Musil-Forschung dar. Zwar kann man über Stil und Form, wie das Kapitel verfasst ist, streiten. Sich einmal mehr über Reich-Ranickis MusilVerdikte zu ereifern, nimmt den Medienpapst zu wichtig und zu ernst. Es handelt sich, um zu resümieren, um eine empfehlenswerte Einführung, die auch für das akademische Publikum geeignet ist, der allerdings die letzte Sorgfalt fehlt. Zum einen wurde (vom Autor? vom Verlag?) vergessen, ein Abkürzungsverzeichnis beizufügen. Mein Versuch, schon die erste Sigle (HE) aufzuschlüsseln, stellte sich als zeitraubende Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen des zudem unübersichtlichen Literaturverzeichnisses dar. Zum anderen bleibt der Anhang von »Musils Studien zur Reise ins Paradies: Das Meer« ohne weiteren Kommentar unverständlich. Dass das »Meer« eines der wichtigsten und konstantesten Leitmotive des »anderes Zustands« ist, kann erst nach Auswertung des gesamten Nachlasses in der Klagenfurter Ausgabe im Einzelnen nachgewiesen werden. (Hierzu gibt es in Kürze eine bei mir angefertigte Doktorarbeit.) Es fehlt ein philologischer Kommentar, der aber in eine Einführung nicht hinein gehört. Also: Was soll der Abdruck? Ein aufmerksames Lektorat hätte hier eingreifen müssen. Ebenso wäre eine kurze, übersichtliche Chronik für einen Anfänger sehr hilfreich. Es bleibt aber das Fazit: Wer nicht ganz unempfindlich für Dichtung und Denken ist, wird Lust und Appetit auf mehr verspüren, auf das Primäre, das Original. Das ist das, was eine Einführung leisten sollte. Hans-Georg Pott
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Florence Vatan: Robert Musil. Le »virtuose de la distance«. Paris: Belin 2013 (= Voix allemandes). 271 S. € 17,25. Die Monographie über Robert Musil ist in einer Serie erschienen, in der schon Bücher über Schnitzler, Thomas Mann, Döblin, Goethe, Schiller, Celan usw. publiziert wurden, und welche eine Einführung in den Autor geben und sich an ein studentisches oder auch sonst literarisch interessiertes Publikum wenden. Florence Vatan, die durch ihre Untersuchung Robert Musil et la question anthropologique (2000) in der Musil-Forschung hervorgetreten ist und an der University of Wisconsin (Madison) unterrichtet, hat sich dazu entschlossen, Musils Werk unter dem Gesichtspunkt der Distanz vorzustellen. Das Buch gliedert sich in 14 Kapitel, die einen mehr oder weniger chronologischen Durchgang durch Musils Werk geben, dem Mann ohne Eigenschaften werden ungefähr drei Viertel des Buches gewidmet. Wie es solchen Einführungen entspricht, wird die Sekundärliteratur nur sparsam zitiert, und es findet keine kritische Auseinandersetzung mit der Forschung statt, welche notwendigerweise nur in ihren Hauptlinien berücksichtigt werden kann. Der Text ist eher essayistisch geschrieben und liest sich leicht und angenehm. Distanz sei, so Vatan, für Musil sowohl in seinem persönlichen Leben wie auch im Schreiben eine grundlegende Maxime, Distanz zeige sich in seinem essayistischen multiperspektivischen Schreiben, in seinen Überlegungen zu Gewalt und Macht, in seinen Überlegungen zur Funktion des Schriftstellers und zur Wirkung der Literatur, deshalb habe sie Distanz als roten Faden durch Musils Werk gewählt. Sie behandelt zunächst Die Verwirrungen des Zöglings Törleß vor allem unter dem Gesichtspunkt der Krise des Ichs. In einem »Femmes« betitelten Kapitel behandelt sie die Vollendung der Liebe und Tonka, deren Gemeinsamkeit sie in der Untreue und Eifersucht sieht. Für Tonka geht sie auch ausführlich auf biographische Details ein und referiert Corinos Ansicht, dass sich Musil in dem Text von der Schuld am Tod von Herma Dietz reinwaschen wollte. Grigia und Die Portugiesin werden unter dem Aspekt des Krieges behandelt, wobei Vatan betont, dass der Krieg zwar omnipräsent sei, dass Musil aber eher die Kulissen des Krieges erforsche (S. 62). Sie postuliert, dass Musil in der Portugiesin die Freude am Risiko und den Eifer der Frontsoldaten umgesetzt habe, während er in Grigia sein Erlebnis als Frontsoldat zugrundelege, den Verlust der Angst vor dem Tod. Durch diesen Versuch, die Erzählungen unter dem Oberthema Krieg abzuhandeln, gerät das grundsätzliche, allen drei Novellen gemeinsame Problem von Drei Frauen, nämlich die durch die Begegnung mit dem Fremden ausgelöste Identitätskrise des Mannes, nicht in den Blick. Auf 160 Seiten den Mann ohne Eigenschaften vorzustellen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Vatan sehr geschickt meistert. Es gelingt ihr, sehr
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viele wichtige Aspekte des Romans anzusprechen und sowohl poetologische wie philosophische Kontexte einzubeziehen. Unter dem Titel »Cacanie« gibt sie einen Überblick zur Entstehung des Werks und zu seinen verschiedenen Phasen sowie zum Konzept Kakanien, wobei sie zurecht vor einer zu engen Lektüre, welche Kakanien mit dem Habsburgermythos gleichsetzt, warnt. Sie behandelt das Konzept der Eigenschaftslosigkeit und des Möglichkeitssinns, weist in diesem Zusammenhang auf die Nähe zu Nietzsches Konzeption des Ichs hin. Auf den Nietzsche-Kontext geht sie auch im Zusammenhang mit der Behandlung der Figur Clarisse ein. Sie stellt vor, welche Formen, Varianten und Funktionen dem anderen Zustand zukommen. Sie behandelt das Konzept der Kontingenz und kann in diesem Zusammenhang auch auf die Weigerung Musils, eine Geschichte zu erzählen, und seine Erzählweise generell eingehen, wobei sie auch immer wieder auf literarische Muster wie Bildungsroman, höfischer Roman usw., die Musil umspielt und parodiert, hinweist. Sie betont das literarische Experiment, welches der Roman darstellt. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem motivierten Leben. In den letzten Kapiteln, welche der Dummheit und Ironie und den politischen Stellungnahmen bzw. der Weigerung zur Stellungnahme Musils und seinen Reflexionen zur Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft gewidmet sind, geht sie zunehmend auch auf Musils Essay ein, die in den anderen Kapiteln ebenfalls punktuell herangezogen werden. Schließlich widmet sie sich auch noch der Frage der Vollendbarkeit bzw. Unvollendbarkeit des Romans. Das Buch stellt Musils Werk auf eine sehr lesbare Weise vor, macht einen geschickten Gebrauch von biographischen Elementen und theoretischen Äußerungen Musils für die Interpretation des Werkes. Das Kriterium der Distanz gerät zeitweise aus dem Blick, es ist vielleicht doch zu wenig allgemein, um alle Aspekte des Werks erfassen zu können. Vatan betont im letzten Kapitel, dass die Distanz Musil erlaubt habe, ideologischen Versuchungen nicht zu erliegen, Vorurteile und Pseudoevidenz mit Ironie zu entlarven, dass die Distanz aber auch Distanz zum Publikum bedeutete, welches diese Texte nicht so einfach konsumieren konnte und kann. Unzählige kluge und zutreffende Bemerkungen zeugen von einem tiefen Verständnis des Werkes, das einem breiteren Publikum auf interessante Weise näher gebracht wird. Man könnte sich sogar eine Übersetzung des Buches wünschen, wenn die französischen Verleger nicht so unverschämt wären, für wissenschaftliche Bücher die Abgeltung von Rechten zu verlangen. Rosmarie Zeller
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David Wachter: Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn. Freiburg i. Br. u. a.: Rombach 2013 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 194). David Wachter leistet mit seiner äußerst lesenswerten Publikation Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn, die 2012 an der Universität Bern als Dissertation angenommen wurde, einen weiteren Beitrag zur »Kontingenzkultur« der klassischen Moderne. Er nimmt essayistische Texte Robert Musils, Siegfried Kracauers und Gottfried Benns in den Blick, die auf die signifikanten Veränderungen lebensweltlicher Handlungsund Erfahrungsräume, aber auch auf den Verlust normativer Wertorientierungen in dieser von Krisenbewusstsein und Krisensemantiken beherrschten Zeit reagieren. Alle drei Autoren befanden sich auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen der Zeit und setzten in durchaus strukturanaloger Weise dem Kontingenz- und Krisenbewusstsein des frühen 20. Jahrhunderts utopische Denkmuster und Handlungsentwürfe entgegen. Die Arbeit eröffnet unter dieser Voraussetzung einen neuen erkenntnistheoretischen Horizont: Sie bereichert mit dieser thematischen Fokussierung sowohl die inzwischen vorliegende Forschung zur Essayistik20 als auch die zum Kontingenz- und Krisenbewusstsein der Moderne.21 Wachters Erkenntnisinteresse geht dahin zu zeigen, dass ästhetische Konfigurationen einer als krisenhaft wahrgenommenen Zeit bei Musil, Kracauer und Benn in einen zeitdiagnostischen und gesellschaftskritischen Zukunftshorizont eingespannt werden, der heterogener kaum sein könnte: Musil, Kracauer und Benn bedienen sich anthropologischer, ethnologischer, (geschichts)philosophischer, religiöser, psychologischer und naturwissenschaftlicher Begründungszusammenhänge, die ihrerseits Spannungsmomente und Widersprüche aufweisen. Bezüglich der Autorauswahl weist Wachter auf die nicht unerheblichen Differenzen zwischen Musils, Kracauers und Benns Essayistik hin, die sich insbesondere aus ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Programmatik ergeben. Allen drei Autoren ist jedoch die Auseinandersetzung mit Sozialtechniken, ästhetisch-kulturellen Strömungen und Intellektuellendiskursen der 1920er Jahre gemeinsam. Die Essays dieser Autoren, so Wachter, changieren zwischen Literatur und Publizistik, sie sind mit kulturtheoretischen Analysen durchzogen und von einer Offenheit geprägt, die von einem Denken im 20 21
Insbesondere zu Musil vgl. Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006. Vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen zum Kontingenzproblem von Michael Makropoulos sowie den einschlägigen Band von Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007 (= Ordnungssysteme, Bd. 22), aber auch Moritz Föllmer, Rüdiger Graf (Hg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a. M., New York 2005.
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Übergang zeugt. Dementsprechend ist es das Anliegen der Arbeit, eine in der Forschung bislang übersehene Autoren- und Themenkonstellation zu untersuchen, die den besonderen Beitrag essayistischer Texte für eine ästhetische Reflexion zeitgenössischer Krisenszenarien und Bewältigungsutopien sichtbar macht. Wachter wählt weniger einen systematischen als einen autorbezogenen Zugang; die drei Hauptkapitel der Arbeit zu Musil, Kracauer und Benn könnten auch als Einzeluntersuchungen mit durchaus eigenständigem Charakter verstanden werden. Im ersten Hauptkapitel »Exaktheit im Akt der Schöpfung – Robert Musils Organisationspoetik« geht Wachter der Frage nach, inwiefern Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften Beschreibungsmodelle moderner Kontingenzerfahrung und Szenarien möglicher Krisenbewältigung entwirft, die bezüglich ihrer Programmatik mit einigen seiner Essays korrespondieren. Er verweist auf Musils Diagnose der ›Gestaltlosigkeit‹, die als Beschreibungsmodell für die gesellschaftliche Wirklichkeit am Vorabend des Ersten Weltkrieges ins Spiel gebracht wird. Wachter kommt zu dem Ergebnis, dass Musils Destabilisierung der Vorstellung von einem autonom handelnden Subjekt einhergeht mit Abstraktionsverfahren und einem Verlust erzählerischer Ordnung zugunsten einer Oberflächengestaltung von Einzelelementen: Das produktive Potenzial solcher Art von Ordnungserosion wird zu Recht in Musils Erkundung von Möglichkeitshorizonten gesehen, in der Explikation von Denk- und Handlungsalternativen, die eine ethische Dimension eröffnet. Gleichzeitig führe Musils Roman aber in einen Zustand der äußeren Bewegungslosigkeit zurück, den der Autor in seinen Essays Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) und Das hilflose Europa (1922) als »Bedürfnis nach metaphysischem Krach« markiert und als Vorbedingungen des Ersten Weltkrieges identifiziert. Wachter kommt hier zu dem Ergebnis, dass das dystopische Ende von Musils Roman auch in die utopischen Energien Eingang finde und das Veränderungspotenzial dementiere. Auch die nachgelassenen Fragmente bestätigten den Eindruck gegenläufiger Tendenzen, eine Ununterscheidbarkeit von Dystopie und Utopie, von Ekstase und Ordnung als einer anderen Form »ekstatisch-konstruktiver Konfiguration«. Das anschließende Kapitel »Sternbilder an einem fremden Himmel – Siegfried Kracauers Spurenmontage« untersucht das Verhältnis zwischen Krisenbewusstsein und utopischen Denkfiguren bei Kracauer, dies vor allem im Hinblick auf seine Essays und literarischen Miniaturen der 1920er und frühen 1930er Jahre, wie beispielsweise Zwei Flächen (1926) oder Straße ohne Erinnerung (1932). Dabei stellt sich Wachter die Frage, welche Gegenwartsbilder in den Texten generiert werden und ob an ihnen gewisse Zukunftsszenarien ablesbar sind. In einer textnahen Analyse arbeitet der Verfasser dann heraus, dass sich im Blick des Flaneurs, dem in Kracauers Werk eine besondere Bedeutung zukommt, die Stadt nicht nur zum Ort einer charakteristischen
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Schwellenwahrnehmung verdichtet, sondern sie gleichzeitig auch zu einer Topographie der Krise avanciert, die jeden offenen Zukunftshorizont dementiere. Kracauers dystopische Raumbilder koexistieren mit exterritorialen Raumbildern, die ihrerseits melancholische Züge aufweisen und in ihrer Beschaffenheit als Szenarien der »Schwelle« utopische Motive zitieren. Diese Motive lassen sich aber nur verstreut finden, weshalb sie eine innere Spannung der Miniaturen konturieren. Im letzten Kapitel »Bis an die Grenzen der Immaterialität – Gottfried Benns Abstraktionsrausch« widmet sich Wachter den utopischen Tendenzen in Benns Werk, die seinen bekannten pessimistischen Zerstörungsszenarien gegenüberstehen. So experimentiert Benn in der intensivsten Phase seines essayistischen Schreibens mit Ideen einer ästhetischen Krisenbewältigung und entdeckt die Zukunft als einen Erwartungshorizont, der den Menschen zu erneuern vermag. In der Analyse wird deutlich, dass die in diesem Sinne verfassten Essays, wie beispielsweise Zur Problematik des Dichterischen (1930) oder Nach dem Nihilismus (1932), als äußerst prekär zu beurteilen sind, da sie sich dem Nationalsozialismus nicht nur opportunistisch annähern, sondern diesen spekulativ überhöhen. Wachter stellt heraus, dass Benns essayistisches Nachdenken über Krise und Utopie in einem politisch fragwürdigen Extrem mündet und er um 1933 am Rande eines moralischen Abgrundes schreibt. Mit zunehmender Enttäuschung über den NS-Staat distanziert sich Benn schließlich von seinen frühen Essays und die utopische Triebkraft, die seine Texte durchzog, geht schlagartig zurück. Der neu entfachte Geschichtspessimismus prägt dann auch die 1936 entstandene Erzählung Weinhaus Wolf , die von einer resignativen, beinahe apathischen sprachlichen Kälte bestimmt wird. In einem abschließenden, systematisch sehr gut angelegten Vergleich, der die Programmatik, Epistemologie und Poetik der verhandelten Autoren noch einmal unter den Gesichtspunkten »Krisenbewusstsein«, »Überbietung«, »Unterbietung« und »Essayistische Texturen« gegeneinander abwägt, gelangt Wachter zu der Einsicht, dass die analysierten Texte Musils, Kracauers und Benns bis in die Motivstruktur hinein von einer Spannung zwischen Erkenntnisutopie und Erkenntnisskepsis, von Utopie und Dystopie, von wissenschaftlich-rationaler und messianisch-mystischer Haltung geprägt sind. Alle drei Autoren folgen dabei keinem stringenten Projekt der Krisenbewältigung; vielmehr oszilliere ihre Programmatik, was sich auch im Zuschnitt der jeweiligen poetischen Form zeige: Perspektivisch gebundene Denkentwürfe werden gleichermaßen gesetzt wie zurückgenommen. Es kristallisiert sich demnach bei allen drei Autoren eine Ambiguität zwischen performativem Denkexperiment und ordnender bis aggressiver Krisenbewältigung heraus, die für die Zeit der klassischen Moderne als symptomatisch verstanden werden darf. Claudia Öhlschläger, Valentina Lehmann
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Florentine Biere: Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (= Philologie der Kultur, Bd. 6). 427 S. € 49,80. Florentine Biere legt mit ihrem Buch Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900, einer Zürcher Dissertation von 2010, eine engagierte neue Verteidigung der Gattung Novelle vor. Das ›deutsche Haustier‹ (Theodor Mundt) zeigt, wenn die Formulierung gestattet ist, hier allerdings die Zähne. Es geht Biere um das »Potential der Novelle als Anti-Gattung, als Ort eines erneuerbaren, freien Erzählens gegen verfestigte Normen« (S. 21); das ist überraschend angesichts des Schicksals der Gattung im bürgerlichen 19. Jahrhundert, von dessen Zuneigung sich die Novelle – ähnlich wie die Ballade – nicht wirklich erholt hat. Wiederaufnahmen der Gattungsbezeichnung sind in der Literatur nach 1945 rar und stets poetologisch exponiert. Biere liefert keine kohärente Geschichte der modernen Novelle, sondern versucht in einer Reihe von Textinterpretationen zu Johann Wolfgang v. Goethe (Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten), Heinrich v. Kleist (Der Findling, Die Verlobung in St. Domingo), Gottfried Keller (Das Sinngedicht), Hugo v. Hofmannsthal und Robert Musil (Vereinigungen) die These zu erhärten, dass die Novelle nicht als hegemoniale Gattung, sondern – jedenfalls zuzeiten – als Labor für literarische Experimente (und Experimente auf Literatur, d. h. auf Literarizität) fungiert hat. Das Buch gliedert sich deshalb in zwei Abschnitte, in einen Teil, der der Einführung und Konstituierung der Novelle »um 1800«, und einen, der Formexperimenten nach der Etablierung der Novelle als zentraler Gattung des bürgerlichen Literaturkanons gewidmet ist (»um 1900«). Als Folie zur Etablierung der Novelle sieht Biere die Etablierung eines (spät-)aufklärerischen Konzepts des ›guten Erzählens‹ im Sinn der Normen der pragmatischen Erzählung (Werner Hahl hat in Reflexion und Erzählung, 1971, hierzu die maßgebliche Vorarbeit geleistet); dieses Konzept, das anthropologische und ästhetische Dimensionen vereint und das Biere zufolge das Romanmodell des späten 18. Jahrhunderts dominiert, formuliert von Christoph Martin Wieland und Friedrich v. Blanckenburg, beruht auf dem »kausalgenetischen Erzählen der inneren Geschichte« (S. 25). Die Novelle hingegen mobilisiere im Moment ihrer Einführung in das Gattungssystem das »provokante Projekt eines alternativen Erzählens um 1800« (S. 25), und zwar durch Wiederbelebung unzeitgemäßer Formen. Der Roman hat bei Biere das ›gute‹ Erzählen zu vertreten – ein ›monistisches‹ Erzählen, das eine ›innere Geschichte‹ ›kausalgenetisch‹ darstellen will und damit, so muss man weiter folgern, im Bunde mit den normalisierenden und disziplinierenden Mächten der Epoche steht (bei Goethe das »Domestizierungsprogramm der Baronesse« mit ihren »Beherrschungsphantasien«, S. 191). Dem steht ein alternatives, zuzeiten ein ›wildes‹ Erzählen gegenüber, das, nicht blind gegenüber
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den »unterdrückten Problemen der Aufklärung« (S. 25), anderen Stimmen und Kräften weit die Türe öffnet; daher geben sich »die novellistischen Experimente Goethes und Kleists« auch »ein wenig trashig« (S. 270; ebs. S. 214 u. 271), sie nehmen populäre und auch unzeitgemäße, anachronistische, von der Aufklärung eigentlich ›überwundene‹ Diskurse und Erzählmethoden auf. Diese Dichotomie findet sich, so Biere, auch in den Texten selbst. In Goethes Unterhaltungen identifiziert sie mit der Baronesse (an der sich zeige, »wie dominant und präskriptiv ein aufklärerisches Literaturprogramm auftritt, das keine Alternativen zu Zweck und Mitteln eines erzieherischen Erzählens [. . .] kennen will«, S. 87), die das ›gute‹, und dem Abbé, der das ›andere‹ Erzählen vertrete, nicht komplementäre, sondern konträre Positionen; in den Erzählungen unter der Ägide des Alten komme die alte Kontingenz des Barockromans zur Wiederauferstehung, es zeige sich ein Erzählen, das offen sei für Verstörungen, das sich der Einordnung in lebensgeschichtliche Kontinuitätsstiftungen widersetze und das semiotisch nicht domestizierbare Rätseldinge exponiere wie die Schreibtische in den Unterhaltungen. In Kleists Händen werde die Novelle überhaupt zur »Kontingenzgattung par excellence« (S. 215). Im zweiten Teil der Arbeit, zu Keller, Hofmannsthal und Musil, wird in oft sehr dichten Lektüren (wie insbesondere zu Musil) gezeigt, wie nach der Durchsetzung und Kanonisierung der einst experimentellen Form in der Moderne ausgerechnet die Novelle dazu dienen kann, die avanciertesten Poetologien zu erproben. Die Rezeption von Musils Vereinigungen wird dabei auf neuklassizistische (Otto Stoessl) und realistische (Jakob Schaffner) Positionen zentriert, denen gegenüber sich der Neueinsatz dieser Novellistik unter dem »Prinzip der Motivation« klar konturiert (Kap. 6: »›In der Novelle liegt das Problematische des Dichtens‹: Musils Vereinigungen«, S. 349–405). In mehreren verdienstvollen Aufsätzen hat sich die Autorin auch außerhalb der vorliegenden Arbeit zu Musil-Themen geäußert. Florentine Bieres Anderes Erzählen überzeugt insbesondere da, wo sich die Arbeit auf fein differenzierte, gut disponierte, sehr genaue und detaillierte Textlektüren verlassen kann (wenn auch die Darstellung an manchen Stellen vielleicht einige Raffung vertragen hätte, vor allem im Goethe-Teil). Argumentation und Thesenbildung sind immer explizit und klar. Fragen an die Arbeit werden überall dort erlaubt sein, wo selbstauferlegte Systemzwänge im Spiel sind. Ob Bieres Lektüre der Unterhaltungen die einschlägige Forschungsdiskussion überzeugen kann, bleibt abzuwarten. Es ist keine Frage, dass sich in der Kunstliteratur der Goethezeit systematische Komplizierungen von Erzählmodellen und metapoetologische Verhandlungen narrativer Modelle finden lassen. Dass ›der Roman‹ zeitgenössisch schon (oder noch?) so hinreichend auf ein einsinniges Modell festgelegt ist, wie behauptet wird,
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ließe sich bestreiten, und ob die Etablierung der Novelle mit Goethes später Novelle schon so weit abgeschlossen ist, dass der mit den Unterhaltungen eröffnete (meta-)poetologische Raum durch eine ästhetische »Rundung« (S. 194) schon wieder geschlossen wird, bleibt fraglich (man könnte es auch gerade umgekehrt sehen). Das Textkorpus der Arbeit ist durchaus eigenwillig zusammengestellt. Die aufgrund der Generalthese der Arbeit erwartbaren Texte spielen eine überraschend untergeordnete Rolle: in den Unterhaltungen das Märchen, die Novelle wird nur im Vorbeigehen erwähnt; Erzählungen aus dem Problemkreis Märchennovelle/Novellenmärchen von Brentano, Tieck, Arnim, die zudem die These von der Modernität des Ungleichzeitigen hätten stützen können, fehlen; zu Hofmannsthal wird erklärt, als Novellen seien Texte zu verbuchen, die der Augenblicksstruktur verpflichtet seien, aber der ChandosBrief wird weitgehend ausgespart (Kap. 5: »›Exstatische Momente der Erhöhung‹: Hofmannsthals Novellen«, S. 315–348). Methodisch beschränkt sich die Arbeit auf paradigmatische Textlektüren, aus denen eine immanente Geschichte der Gattung abgeleitet wird; sozialgeschichtliche, diskursanalytische oder medienhistorische Argumentationslinien spielen nur in den Lektüren an Ort und Stelle ihre Rollen, insbesondere die Gender-Perspektive. Man fragt sich allerdings, ob das für eine Arbeit zur Neubewertung einer Gattung eine günstige methodische Konstellation ist. Ganz unzweifelhaft ist die Arbeit ein wertvoller Beitrag zur historischen Narratologie; was das Gattungshistorische betrifft, scheint mir die – bei solchen Forschungen ja naheliegende – Problematik der zirkulären Argumentation nicht an allen Stellen sorgsam genug vermieden. »Novellen« sind dann – etwa in den durchaus anders und unterschiedlich klassifizierbaren Erzählungen der Unterhaltungen – eben jene Texte, die die unterstellten textuellen Tugenden des ›wilden‹ und ›anderen‹ Erzählens aufweisen. Wenn es zu Kleist heißt: »Trotz Anklängen an die ›gothic novel‹ verwandelt das Bettelweib das vergangen Wunderbare sich nicht romantisch-psychologisierend an, sondern stellt es als Fremdes, Archaisches, in seiner Gegebenheit Novellistisches hin.« (S. 225), dann fragt sich, ob denn hier und an anderen Stellen nicht überhaupt nicht die Gattung, sondern ein solches »Novellistisches« gemeint ist, das hier eben das vertritt, was sonst dem Roman zugeschrieben wurde, von den Romantikern über die klassische Moderne bis hin zu Michail Bachtins Romantheorie. Die mitunter etwas forcierte Rhetorik der Arbeit ist wohl dem Bestreben geschuldet, eine solche Umwertung vorzunehmen und Novelle und Roman in der Kulturpoetik der Gattungen die Plätze tauschen zu lassen (vgl. Novelle als »Anti-Gattung«, S. 19 u. 21). Sehr plausibel hingegen sind – und das ist auch zu erwarten, weil die ganze These des Buches aus dem Geist der Moderne entwickelt ist – die Abschnitte zu den Autoren »um 1900«, weil hier gezeigt werden kann, in welcher Weise nicht das Bedürfnis nach »Subversion« (S. 67) eine verdächtig
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rasch ›klassisch‹ werdende Form konstituiert, sondern wie sich das Bedürfnis nach »anderem Erzählen« klassischer Formen bedienen kann und sie gleichsam von innen her umstülpt. Werner Michler Arne Höcker: Epistemologie des Extremen. Lustmord in Kriminologie und Literatur um 1900. München: Wilhelm Fink 2012. 222 S. € 25,90. Untersuchungen zum Phänomen des Lustmords erleben in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren eine gewisse Konjunktur – unter anderem hat sich die Wissenschaft dem Phänomen aus einer eher kriminologisch-wissenschaftsgeschichtlichen,22 genderspezifischen,23 diskurstheoretischen24 oder allgemein kulturwissenschaftlichen Perspektive25 genähert. Dies ist damit zu erklären, dass der Lustmord als wissenschaftlich zu erforschendes Phänomen insofern von besonderer Relevanz erscheint, als er sich um 1900 nicht nur zu einem prägenden Element der sich in dieser Zeit als Wissenschaft konstituierenden und sich institutionalisierenden Kriminologie entwickelt, sondern auch, unter anderem angeregt durch den bis heute populären Fall Jack the Ripper, in zahlreichen literarischen und künstlerischen Arbeiten zu einer Art Ikone der Moderne aufsteigt. Beispielhaft zu nennen ist hier auch Robert Musils Werk: Die LustmordSignatur findet hier in Gestalt des Prostituiertenmörders Christian Moosbrugger (der, wie Karl Corino zeigen konnte,26 auf den Fall Christian Voigt rekurriert) Eingang in den Roman Der Mann ohne Eigenschaften, sie hat in jüngerer Zeit auch wieder verstärkt Beachtung in der Musil-Forschung gefunden.27 22
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Vgl. u. a. Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002 (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 176). Vgl. u. a. Maria Tatar: Sexual Murder in Weimar Germany. Princeton 1995. Vgl. u. a. Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln u. a. 2005 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe, Bd. 38). Vgl. u. a. Susanne Komfort-Hein, Susanne Scholz: Lustmord – zu einem kulturellen Phantasma um 1900, in: dies. (Hg.): Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900. Königstein i. Ts. 2007, S. 7–18. Vgl. Karl Corino: Zerstückelt und durchdunkelt. Der Sexualmörder Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften und sein Modell, in: Musil-Forum 10 (1984), S. 105–119. Vgl. u. a. Lilith Jappe: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München 2011 (= Musil-Studien, Bd. 38); Mark Ludwig: Zurechnungsfähigkeiten. Kriminologie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Würzburg 2011 (= Studien zur Kulturpoetik, Bd. 15); Siebenpfeiffer: »Böse Lust« (s. Anm. 24); Stefan Andriopoulos: Unfall und Verbrechen. Konfigurationen zwischen juristischem und literarischem Diskurs um 1900. Pfaffenweiler 1996 (= Hamburger Studien zur Kriminologie, Bd. 21).
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Arne Höckers 2012 erschienene Studie nimmt sich dem Phänomen des Lustmords nun unter einer maßgeblich epistemologischen Perspektivierung an. Sein Interesse gilt der Frage, wie das Phänomen des Lustmords zur Herausbildung kriminologischen Wissens beiträgt. Höcker geht hierbei von der zentralen Idee aus, dem Lustmord komme als populäre und extreme Form von Verbrechen, die textuell sowohl wissenschaftlich wie literarisch verhandelt wird, für die Genese des Wissens vom Verbrecher um 1900 eine besondere Rolle zu. Diese Idee entfaltet Höcker in seiner Analyse einerseits an kriminologischen, andererseits jedoch auch literarischen Texten der Zeit. Hervorzuheben ist hierbei, dass Höcker, wie es mittlerweile Common Sense der Forschung zur Beziehung von Kriminologie und Literatur ist, diese nicht als ein Einbahnstraßenverhältnis betrachtet, sondern als ein Austauschverhältnis, in dessen Zuge die Grenzen von Kunst und Wissenschaft zu verschwimmen beginnen. Höcker befragt in seiner Studie einerseits kriminologische Texte nach ihren literarischen Bedingungen wie auch literarische nach ihren kriminologischen. Diese wechselseitigen Beziehungen bestimmen auch die Strukturierung seiner Arbeit. Im ersten Teil seiner Studie rekonstruiert er noch einmal die Situation der Kriminologie um 1900 und arbeitet in dieser Zeit entstehende Modelle der Vermittlung und Strategien der Narration kriminologischen Wissens heraus. Im zweiten Teil befasst er sich intensiv mit der Fallgeschichte, einem Genre, das in besonderer Weise zur Verbreitung kriminologischen Wissens beiträgt und im Hinblick auf Austauschprozesse von Literatur und Kriminologie von besonderem Interesse ist. Abschließend nimmt Höcker dezidiert literarische Texte in den Blick, in deren Mittelpunkt das Phänomen des Lustmords thematisiert wird. Konkret analysiert werden hier Frank Wedekinds Drama Lulu, Alfred Döblins Roman Der schwarze Vorhang, dessen literarische Fallgeschichte Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord sowie Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Den historischen Ausgangspunkt markieren Cesare Lombrosos Studien zum sogenannten Homo delinquens, dem »geborenen Verbrecher«, der sich, so Lombrosos bereits zeitgenössisch umstrittene These, durch bestimmte, sich unter anderem in der Physiognomie zeigende Eigenschaften auszeichnet. Dies ist insofern sinnvoll und nachvollziehbar, als Lombrosos Arbeit, trotz der mittlerweile im Grunde durchgängigen Ablehnung der Thesen, als Ausgangspunkt einer sich erst um 1900 konstituierenden Kriminologie anerkannt ist. Nicht zuletzt haben Lombrosos Arbeiten zu folgenreichen Veränderungen der Betrachtung von Verbrechen und Verbrechern geführt. Unter anderem geraten im Zuge von Überlegungen zu einer Strafrechtsreform, die insbesondere mit Ideen Franz von Liszts verknüpft sind, Fragen der Gefährlichkeit und der Möglichkeit der Prävention von Verbrechen in den Mittelpunkt – und verdrängen damit den bis dahin im Mittelpunkt des Strafrechts stehenden Vergeltungsgedanken.
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In diese Konstitutionsphase der Kriminologie fällt auch der von Höcker konstatierte »Aufstieg des Lustmörders zum kriminologischen Erfolgsmodell und darüber hinaus zum modernen Antihelden, zur mythischen Figur der Moderne und einer kulturellen Ikone« (S. 55). Diese Entwicklung sieht Höcker im Zusammenhang mehrerer in den 1880er Jahren kulminierender Ereignisse. Unter anderem fällt in diese Zeit das erstmalige Erscheinen von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, welche für die Herausarbeitung der Relevanz der Sexualpathologie für die Kriminologie von enormer Bedeutung ist, sowie die Morde von Jack the Ripper, die massenmedial hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen und später auch in Kunst und Literatur Verarbeitung finden. Anschaulich zeigt Höcker, wie sich in dieser Phase kriminologische und literarische Darstellungsmuster miteinander verknüpfen. Als Beispiel dient hier der bereits von Stefan Andriopoulos in seiner Studie Unfall und Verbrechen herangezogene, zwischen Fallgeschichte und Erzählung changierende Text zum Fall Marie Schneider, der zunächst als Anhang zu Lombrosos Der Verbrecher erscheint, um dann schließlich als empirische Beobachtung in Havelock Ellis The criminal und später nochmals in einem Vortrag Franz von Liszts zur strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit aufzutauchen. Zudem veranschaulicht er – unter anderem bezogen auf den Fall Dippold und die Diskussion von Sadismus um 1900 –, wie in kriminologischen Darstellungen die Figur des Lustmörders Gestalt annimmt und in der Folge genutzt wird, um »die Dringlichkeit kriminologischer Forderungen spektakulär [zu] untermauern.« (S. 55) Die herangezogenen Fälle erscheinen hierbei im Sinne der Argumentation gut gewählt, allerdings vermisst man eine klarer dargelegte Begründung ihrer Auswahl. Dies gilt auch für die später in der Studie vorgestellten literarischen Texte. Im Besonderen wendet sich die Studie dem Genre der Fallgeschichte zu. Mit ihr steht nach Höcker »ein narratives Modell zur Untersuchung, das die szientifischen Bedingungen vorgibt, unter denen sich das kriminologische Wissen vom Verbrecher konstituieren kann.« (S. 73) Im Rückgriff einerseits auf Todorovs Unterscheidung von Fabel und Sujet und die von Jörg Schönert und Joachim Linder entwickelten Ansätze zur Vermittlung von Kriminalität,28 sowie andererseits auf poetologische Überlegungen zur Fallgeschichte, wie sie u. a. von Nicolas Pethes hervorgebracht worden sind,29 fasst Hö28
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Vgl. Joachim Linder: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Häring und W. L. Demme, in: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium. Tübingen 1991 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 27), S. 313–348. Vgl. Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur, in: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 63–92.
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cker Fallgeschichten als eine »Art von Geschichte« auf, »die die Darstellung einer Kranken-, Patienten- oder Verbrechergeschichte mit der Darstellung ihrer Investigation und Diagnose zu verbinden vermag und dabei ein Wissen erzeugt, das sie zugleich beglaubigt und das über den je spezifischen Fall hinausweist.« (S. 81) Am Fall Andreas Bichel, der bereits 1829 in Anselm Feuerbachs Merkwürdigen Verbrechen in aktenmäßiger Darstellung auftaucht und später unter der Signatur des Lustmords unter anderem in Krafft-Ebings Psychopathia sexualis nochmals Karriere macht, zeigt er – ähnlich wie dies auch Siebenpfeiffer darstellt – zum einen sich in dieser Zeit ergebende »Diskursdifferenzen«, zum anderen jedoch auch die »narrativen Bedingungen, unter denen Fallgeschichten im kriminologischen Kontext sowohl Anschaulichkeit erzeugen als auch wissenschaftliche Geltung beanspruchen können.« (S. 107) Am Beispiel des Falls Stefan Kränkel nimmt die Studie nochmals eine Spezifizierung vor und fragt nach dem kriminologischen Umgang mit Geständnissen. In einem letzten Schritt der Arbeit kommen schließlich literarische Texte in den Blick, die das Thema Lustmord in verschiedener Weise aufgreifen. Höcker beschränkt sich hierbei auf zentrale, bereits in der Lustmord-Forschung fest etablierte Texte. Wedekinds Lulu liest Höcker als eine Art Fallgeschichten-Drama: »Fast scheint es, als habe Wedekind in seiner Monstretragödie die Psychopathia sexualis Krafft-Ebings als Ganzes auf die Bühne bringen wollen.« (S. 159) Entsprechend argumentiert Höcker, dass sich das Groteske des Dramas nicht aus seiner künstlerischen Betrachtungsweise der Fälle sondern aus dem Effekt ergebe, »der sich einstellt, wenn sexualpathologische Fallgeschichten ungebrochen in dramatische Handlung überführt werden.« (S. 159) Wiederholt wird in den Analysen beobachtbar, wie die Texte Material aus wissenschaftlichen Abhandlungen aufgreifen, im Gegensatz zu diesen jedoch Momente der Nicht-Erklärbarkeit und Verunsicherung stark machen. So dient nach Höcker auch Döblins Text Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (der Giftmord wird zeitgenössisch als weibliche Lustmord-Variante aufgefasst) demnach gerade nicht der Festschreibung des Falls, sondern vielmehr dazu, das »Moment des Urteilens und Entscheidens mit dem Stachel des Zweifels« (S. 188) zu versehen. Ähnliches gilt auch für den MoosbruggerFall, den Höcker als einen Fall sieht, »in dem sich Text und Verbrechen bis zur Ununterscheidbarkeit überlagern.« (S. 196) Der Fall wird zur Projektionsfläche – und entzieht sich somit der Lesart, nach der Literatur »an einem kulturell-semiotischen Deutungs- und Sinngebungsprozess des Verbrechens« (S. 196) beteiligt sei. Dem Anliegen und der Struktur der Arbeit geschuldet ist, dass die konkret werkbezogenen Analysen vergleichsweise knapp bleiben. Somit – dies mag aus Sicht der Musil-Forschung bedauernswert erscheinen – können auch die Ausführungen zu Musils Mann ohne Eigenschaften nicht die Detailtiefe musilspezifischer Arbeiten erhalten. Dies kann jedoch auch nicht Anspruch
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einer Arbeit sein, die sich eine übergreifende Analyse des Aufstiegs des Interesses am Lustmord zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt hat. Aus Sicht der Musil-Forschung liegt der Wert der Arbeit damit insbesondere in der Möglichkeit, Musils Text in einen werkübergreifenden Kontext einordnen und die Einbindung der eher dunklen Thematik des Lustmords in den Roman besser nachvollziehen zu können. Dieser umfassendere Ansatz macht Höckers Epistemologie des Extremen nicht nur für Musil-Interessierte, sondern für alle, die sich mit Entstehungsprozessen von Wissen in der Moderne um 1900 beschäftigen, zu einer lesenswerten Studie. Mark Ludwig
Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das »Altneuland«Projekt. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2012. 604 S. € 39,95. Clemens Peck verortet in dieser Studie, der seine Dissertation zugrunde liegt, Theodor Herzls Roman Altneuland von 1902 im Spannungsfeld zwischen der Literaturgattung der Utopie und einer programmatischen Intention, Vorlage für die Umsetzung realer politischer und gesellschaftlicher Ziele zu sein. Entsprechend diesem ambitionierten Ziel faltet der Verfasser die Arbeit breit auf: Gattungsgeschichtliche und -spezifische Einordnung der Arbeit steht neben der Kontextualisierung in die spezifische, eng mit dem Wien des Fin de Siècle verbundenen Genese des Zionismus als einer literarisch-politischen Bewegung, die Darstellung der strategischen und juristischen wie auch der sozialreformerischen Vorhaben im Zusammenhang mit dem »Judenstaat« steht neben den Fragen des Raums, die nicht zuletzt durch die Festlegung des Romans auf Palästina als utopischen Raum (begleitet von Wien als vorutopischem und einer imaginären Insel als zeitlosem Raum) von Wichtigkeit sind. Und nicht zuletzt gilt es auch die für Herzl sowohl biografisch wie auch literarisch eminent wichtige Beziehung zum wissenschaftlichen Fortschritt darzulegen, wo Peck faszinierende Übereinstimmungen zwischen der sozialpolitischen Metaphorik Herzls und den bakteriologischen Forschungsansätzen Alexander Marmoreks feststellt und diese auf ihre Umsetzung im Roman hin dechiffriert. Die nicht nur dicke, sondern auch dichte Studie ist demzufolge äußerst ambitioniert angelegt. Dass der literaturhistorische Weg ebenso, zuweilen vielleicht sogar mehr noch als der historische, geeignet ist, die frühen Jahre des Zionismus zu erklären, diesen Nachweis erbringt das Buch in jedem seiner Teile. Die Verbindung von sozialen Utopiemodellen (Cabet, Bellamy, Hertzka) mit den technischen Szenarien Jules Vernes und das Selbstvertrauen, mit literarischen Praktiken Überliterarisches zu schaffen, haben, wie Peck zeigt, Herzl getrieben und angestachelt.
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Die Menge der angesprochenen Fragestellungen ist so groß, dass bei einer Rezension nur ganz ausgewählte Themen zur Sprache gebracht werden können. Eines davon ist Pecks Bemerkung, dass Herzl schon in der Zeit, als dessen Programmschrift Der Judenstaat (1896) erschien, »die paradoxe Wirkung des Amalgams aus aufklärerischem Universalismus und jüdischem Nationalismus durchaus bewußt« gewesen sei (S. 151), was zu einer »Zwitterposition des utopischen Narrativs bei Herzl« geführt habe: »Integration durch Exklusion« (S. 152). Sprich: Die Juden Europas sollten gerade als (potentielle) Bürger eines außerhalb Europas gelegenen souveränen Staates den Antisemitismus, der ihnen Wurzellosigkeit und Unzugehörigkeit vorwarf, überwinden. Faszinierend ist dann, dass sich an einem anderen Thema, nun schon im unmittelbaren Kontext des Romans, dieser Gedanke in bakteriologischem Gewand wiederfindet: Zeigt sich der Bakteriologe Marmorek, dem in Altneuland der Bakteriologe Steineck nachempfunden ist, im Systemstreit der zeitgenössischen Hygiene- und Serumforschung als Verfechter einer Theorie, die »Bewegung, Zirkulation und Abfluß« von Mikroorganismen propagiert, so spiegelt sich darin, wie Peck deutlich macht, »das sozialhygienische Abflußszenario aus Herzls Roman« (S. 475). Solche Verflechtungen und metaphorischen Übereinstimmungen festzumachen, ist eine der großen Stärken Pecks, mit denen er dem Roman eine faszinierende Vielschichtigkeit verleiht. Zugleich entsteht hier, durch die enormen (und enttäuschten) Hoffnungen und Investitionen, die Herzls selbst in Marmoreks Forschungen aus ökonomischer Sicht setzte, eine zusätzliche Dimension des Übergangs von Fiktion und Empirie, die Peck äußerst genau herausarbeitet. Es gelingt Peck, Herzls Roman samt seiner Vorgeschichte mit viel Information zu den Begleitumständen seines Entstehens und seiner Deutung zu unterfüttern, ohne sich im Wust der Details zu verlieren – vielmehr ist die Studie methodisch so einzuordnen, dass sich das Verstehen des Kontextes im Laufe der Lektüre zu einem Gesamtbild verdichtet und eine kohärente Sicht auf den Status des Buches im Gesamtkontext seiner Entstehungszeit eröffnet, wie es keine Studie zuvor auch nur annähernd getan hat. Vor allem auch macht Pecks Studie transparent, in welchem Maße »der Roman [. . .] die Statik der politischen Metaphorik des Judenstaats buchstäblich in Bewegung« bringt (S. 572). Wenn der Verlag auf dem Buchumschlag wirbt, es handle sich hier um »die erste umfassende Darstellung von Theodor Herzls Altneuland«, so ist damit eigentlich nur das Mindeste über dieses Buch gesagt – es kann hinzugefügt werden, dass hier ein Standardwerk über das kulturelle Setting des Frühzionismus insgesamt vorliegt, von dem weitergehende Forschung auszugehen haben wird. Alfred Bodenheimer
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Christine Mondon: Écritures romanesques et philosophie: Hermann Broch, Hermann Hesse, Thomas Mann, Robert Musil. Pessac: Presses Universitaires de Bordeaux 2011. 300 S. € 24,–. Dans cette étude ambitieuse, Christine Mondon se propose d’explorer les rapports multiples et « tendus » entre littérature et philosophie dans l’œuvre de quatre auteurs majeurs de la première moitié du XXème siècle : Hermann Broch, Hermann Hesse, Thomas Mann et Robert Musil. L’enjeu est de taille : il s’agit d’une part d’articuler un problème complexe sans figer sous forme de dichotomie statique les deux notions – à géométrie variable – que sont la « littérature » et la « philosophie ». D’autre part, l’étude porte sur des auteurs dont chacun, isolément, a suscité une abondante littérature. Dans une introduction générale, Christine Mondon retrace le débat entre littérature et philosophie depuis l’Antiquité jusqu’à l’époque moderne en passant par l’époque des Lumières et la période romantique, tout en soulignant la fonction cognitive du roman, capable d’absorber les voix et les genres littéraires les plus divers. Après un état des lieux motivant le choix de ces quatre auteurs ayant composé leurs romans entre 1920 et 1945 et n’ayant jamais été étudiés conjointement, Christine Mondon se donne comme objectif de défendre la « vocation spéculative » (S. 39) de la littérature en explorant les tensions et résistances qui se font jour entre littérature et philosophie, celle-ci faisant souvent l’objet de représentations parodiques et critiques dans l’espace romanesque alors que s’élabore au sein de celui-ci de nouvelles formes de réflexivité. Son analyse, axée sur les thématiques et les caractéristiques formelles des romans, s’intéresse à la « textualité », c’est-à-dire à « ce qui se construit et se déconstruit, se fait et se défait dans le texte » (S. 40), en s’appuyant entre autres sur l’approche herméneutique de Paul Ricœur. L’ouvrage s’organise autour de trois axes principaux : le « roman-essai » représenté par Les Somnambules et L’Homme sans qualités, le « roman polyphonique », faisant coexister des voix complémentaires et contradictoires, à l’œuvre dans La Montagne magique et Le Docteur Faustus, et le « roman totalisant » incarné par Le Jeu des Perles de Verre et La Mort de Virgile. Au sein de cette typologie, chaque ouvrage considéré fait l’objet d’une analyse détaillée où le rapport à la philosophie est envisagé sous trois formes. Tout d’abord, Christine Mondon examine – parfois pour en relativiser l’ampleur – les filiations avec certaines traditions philosophiques cultivées par les auteurs eux-mêmes : Nietzsche, influence décisive pour Broch, Musil et Mann ; Schopenhauer, influence cruciale – mais non exclusive – pour Thomas Mann ; Adorno dont les considérations sur la musique ont laissé leur empreinte sur Le Docteur Faustus, ou Huizinga et son concept de « jeu » dans l’œuvre de Hesse. En second lieu, par delà ces filiations avérées, elle fait également dialoguer ces œuvres avec des approches philosophiques que les auteurs n’avaient pas nécessairement envisagées : le Wittgenstein du Tractatus dans les considérations
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musiliennes sur l’éthique et la mystique et dans la réflexion brochienne sur l’indicible ; la conception de l’utopie chez Bloch et ses échos dans les œuvres de Musil et de Hesse ; la notion de « jeux de langage » du Wittgenstein de la seconde période et la problématique du jeu chez Hesse, ou encore l’épochè husserlienne et l’ontologie heideggerienne pour La Mort de Virgile. En troisième lieu, Christine Mondon soulève la question d’une philosophie spécifique à ces différents romans et celle – corrélative – des formes singulières à travers lesquelles elle s’exprime. En dépit de la disparité de leurs approches, tous les auteurs considérés se font l’écho d’une crise du sens et des valeurs qu’ils mettent en scène dans leurs romans et à laquelle ils tentent de remédier, que ce soit par une démarche essayiste et expérimentale axée sur les « solutions partielles » ou par la quête utopique d’une unité et d’une totalité retrouvées. Cette crise des valeurs s’accompagne d’un intérêt, voire d’une fascination pour l’irrationnel. Elle entraîne également une réflexion sur la manière adéquate de rendre compte de registres d’expériences échappant à l’emprise de la raison. Bien que la figure tutélaire de Goethe et son projet de roman de formation soient à l’horizon de plusieurs de ces romans, le désir de synthèse harmonieuse et l’idéal humaniste d’une formation aboutie gardent un statut problématique. Conscients des risques de dérives irrationalistes et des dangers inhérents à la quête de totalité, ces auteurs créent des œuvres ouvertes et inachevées. L’essayisme expérimental de Musil n’aboutit à aucune synthèse ultime et les débats non résolus entre l’humaniste Settembrini et l’irrationaliste Naphta cèdent la place à la violence de la guerre dans La Montagne magique. De même, la polyphonie discursive du Docteur Faustus met en scène une philosophie paradoxale qui dénonce les forces de l’irrationnel tout en y puisant son inspiration (S. 191). Quant aux romans totalisants de Hesse et de Broch, ils soulignent parallèlement, en dépit de leur impulsion utopique et de leur quête d’un nouveau mythe, le caractère problématique du désir d’exhaustivité et d’absolu. Pour les lecteurs familiers de l’œuvre de Musil, l’ouvrage de Christine Mondon n’apporte pas d’analyses véritablement nouvelles. Nombre de remarques sur la « philosophie expérimentale » de l’essayisme, sur le perspectivisme, l’« alternative romanesque », les liens entre éthique et esthétique, le pouvoir heuristique de l’analogie, l’utopie de l’autre état et le rôle de l’aphorisme et du fragment ont déjà fait l’objet d’études approfondies. Dans son analyse du dialogue de Musil avec la philosophie, Christine Mondon – faute de pouvoir entrer dans les détails compte tenu de l’ampleur de son corpus – n’en aborde que les aspects les plus saillants (Nietzsche, Mach). On notera également quelques approximations quant à l’interprétation de certains passages. Ainsi, contrairement à ce que suggère l’auteur (S. 137), Ulrich fait bien l’expérience de l’autre état. Le désir d’en rendre compte sans renoncer aux instruments de la raison – ce que Musil thématise à travers la notion de « mystique diurne » – ne signifie pas qu’il soit imperméable à cet état qu’il éprouve
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à plusieurs reprises lors de curieuses expériences d’inversion. Christine Mondon met par ailleurs l’accent sur la tension entre essai et narration ainsi que sur l’emprise croissante du théorique, signe d’une « synthèse impossible » (S. 32) entre littérature et philosophie. Dans son analyse, l’essai est réduit – de manière à mon sens discutable – à une existence « parasitaire » en tant que « forme dégénérée du récit » (S. 107). Musil était tout à fait conscient du risque de s’enliser dans la théorie. Toutefois, les chapitres les plus spéculatifs – ceux consacrés notamment à la théorie du sentiment – n’étaient que des ébauches et nullement un état achevé du texte. Par ailleurs, Christine Mondon – en raison probablement de la politique éditoriale parfois trompeuse des brouillons et des chapitres inachevés – semble attribuer un statut plus avancé à des ébauches qui comptent au contraire parmi les plus anciennes du roman. Tel est le cas par exemple des passages consacrés à l’inceste entre Agathe et Ulrich (S. 133). L’intérêt et l’originalité de ce livre – la mise en relation de romans qui n’ont jamais été étudiés ensemble – en constituent également la limite. En dépit de la tentative louable d’examiner de concert ces quatre auteurs et d’un bilan synthétique en conclusion de l’ouvrage, l’effet dominant reste celui d’une juxtaposition. Bien que Christine Mondon mentionne le regard que ces auteurs « ont porté sur leurs œuvres respectives » (S. 27) comme l’une des motivations majeures de la sélection de son corpus, ces dialogues spécifiques restent peu explorés. Par ailleurs, l’usage élastique et multivalent de la notion de philosophie qui désigne tantôt une tradition philosophique particulière, tantôt un mode réflexif et discursif singulier ou encore – de manière plus large – la vision du monde véhiculée par le texte donne parfois à l’analyse des contours indécis. En outre, par delà la reconstitution d’un riche éventail de correspondances philosophiques, Christine Mondon se réclame elle-même d’orientations théoriques diverses, de Deleuze à Derrida, en passant par Macherey et Ricœur. Ce panaché de références crée un sentiment d’accumulation éclectique au détriment de l’argumentation proprement dite. L’ouvrage de Christine Mondon a le mérite de montrer à quel point Hermann Broch, Hermann Hesse, Thomas Mann et Robert Musil étaient animés par un désir de sens et de cohérence auquel la philosophie à elle seule, selon eux, ne pouvait répondre. Leur philosophie littéraire prend ainsi sa source dans une conscience des insuffisances de la discipline philosophique et dans l’exigence d’inventer – à travers une redéfinition de l’écriture romanesque – une forme de pensée adaptée à la complexité de l’époque et capable d’ouvrir de nouveaux horizons. Florence Vatan
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Peter C. Pohl: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe, Bd. 61). 404 S. € 49,90. Die Figurationen von Männlichkeit im Mann ohne Eigenschaften hat die geschlechtertheoretisch informierte Musil-Forschung die längste Zeit nur stiefmütterlich behandelt. In den Lichtkegel ihrer Aufmerksamkeit hat sie in aller Regel nur den eigenschaftslosen männlichen Titelhelden gerückt, nicht aber die restlichen Männerfiguren und schon gar nicht die mann-männlichen Beziehungen, in denen diese Figuren zueinander stehen. Peter C. Pohls Dissertation kommt das Verdienst zu, sich als erste unter gleich mehreren, in kurzem Abstand erschienenen Studien diesem Desiderat zugewandt zu haben. Zwar berücksichtigen auch seine bevorzugt an Foucault, Butler und der (post)strukturalen Psychoanalyse orientierten Lektüren nicht das vollständige männliche Romanpersonal. Pohl interessiert sich primär für Figuren, die ihm besonders symptomatisch für diverse Abschattungen des hegemonialen Geschlechterdiskurses erscheinen. Mit Arnheim, Tuzzi, Walter, Meingast, Hans Sepp, Lindner, Hagauer und last, not least dem Romanprotagonisten geht er aber auf einen beträchtlichen Teil dieses Personals mehr oder weniger ausführlich ein. Dass die ›gender‹-affine Forschung zum Roman auf dem einen Auge lange Zeit blind oder jedenfalls allzu kurzsichtig blieb, mag in Anbetracht des Romantitels umso mehr erstaunen. Diesen Titel stellt Pohl denn auch gleich zur Diskussion. Er nimmt ihn zum Anlass, die Kollektion der kursierenden Begründungen, warum Musil seinen Roman nicht abgeschlossen habe, nicht habe abschließen können, um eine neue Variante zu ergänzen. Seine ebenso originelle wie steile, allzu steile These lautet: »Da Männlichkeit selbst eine historisch änderbare Eigenschaft ist, konnte Musil keinen Mann ohne Eigenschaften schreiben« (S. 10; Hervorhebung P. C. P.). Indem er die Formel der Eigenschaftslosigkeit also kurzerhand beim Wort nimmt, antizipiert Pohl zugleich die Diagnose, die er Musils Verhandlungen von Geschlecht in toto stellt. Er attestiert ihnen eine grundlegende Ambivalenz. Einerseits seien sie vom Wunsch beseelt, Geschlechtergrenzen zu transzendieren und den herrschenden Rollenregulativen zu entkommen. Andererseits zeige sich an ihnen gerade das Beharrungsvermögen dieser Regulative. Zumal die Denkmuster der Synthese, mit denen Ulrich und Agathe auf die modernen Erfahrungen von Anomie und Desintegration reagierten, gründeten auf altbekannten Kulturalisierungen der Geschlechterdifferenz. Bevor Pohl diesen grosso modo überzeugenden Befund näher erläutert, widmet er sich nicht zu knapp der Genealogie der modernen Geschlechtervorstellungen. Er rollt diese Genealogie diskursgeschichtlich auf, um Musils Inventur der sich um die Jahrhundertwende vervielfältigenden Geschlechtermo-
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delle historisch zu perspektivieren. Denn zum »Dokument einer äußerst widersprüchlichen Phase der Geschlechtergeschichte« (S. 36) macht den Mann ohne Eigenschaften zweifellos auch sein breit gefächertes Geschlechterpanorama. So manche der Beobachtungen, die Pohl in diesem über hundertseitigen Überblick macht, bleiben freilich ohne ersichtlichen Bezug zum Roman, so dass sich dieser Teil der Studie ein Stück weit verselbständigt. Gegliedert ist der informationsreiche Querschnitt entlang einer Reihe einschlägiger Namen: Rousseau, Schopenhauer, Nietzsche, Wedekind, KrafftEbing, Hirschfeld, Freud. Darüber hinaus berücksichtigt Pohl eine Fülle weiterer Quellenliteratur, ohne diese immer aus erster Hand zu zitieren. Nur so, durch eine indirekte und in diesem Fall fehlgeleitete Rezeption, ist auch zu erklären, warum er Johann Jakob Bachofens Mutterrechtsbegriff mit Polygamie, mit mangelnder »Keuschheit« in Verbindung bringt (S. 158). Ein Blick in die ›Vorrede und Einleitung‹ von Bachofens viel zitiertem, aber selten gelesenem Hauptwerk hätte genügt, um dieser hin und wieder herumgebotenen Fehldeutung vorzubeugen. Denn in Bachofens Stufenmodell unterscheidet sich die mutterrechtliche »Weltperiode« der Gynaikokratie vom menschheitsgeschichtlichen Urzustand des Hetärismus ja gerade durch die »Zucht und Keuschheit, die sie von dem Jüngling fordert«.30 Insgesamt erlaubt der ausgedehnte Ritt durch die Geschichte moderner Geschlechterideen anschließend aber eine präzise Verortung der Romanfiguren. Pohls theoriegesättigte Analysen entziehen sich zwar hier wie sonst einer einfachen Paraphrase. Versucht man dennoch, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, lassen sie sich am ehesten so zusammenfassen: Auf der Suche nach stabilen Sinnmustern in einer Zeit der Erosion traditioneller Geschlechterrollen eifern Ulrichs und Agathes Kontrastfiguren allesamt bestimmten Geschlechteridealen nach. Dabei werden sie von Musil mit der immer gleichen Entlarvungsstrategie aufs Korn der Satire genommen. Der Romantext deckt regelmäßig die hinter ihrem Idealismus liegenden niederen, oft sexuellen Motive auf und desavouiert solchermaßen eine ganze Palette männlicher und weiblicher Identitätsangebote. Diotima zum Beispiel lässt sich – vor ihrer Konversion zur Sexualwissenschaft – als Zitation des obsolet gewordenen Rousseau’schen Weiblichkeitsideals lesen. Statt die kakanische Elite zu außergewöhnlichen Sublimationsleistungen anzuregen, wird der Diskurs der Salonnière indessen von ihrem eigenen sexuellen Begehren unterwandert. Der Ökonom Arnheim für sein Teil mag die Vereinigung von Ökonomie und Seele predigen, wertet seine Gefühle für die ›schöne Seele‹ der Beamtengattin aber als Kontrollverlust. Seine Reaktion darauf deutet Pohl vor der Folie von Adlers Individualpsychologie als ›männlichen Protest‹. Den preußischen Juden auf dem Fundament 30
Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart 1861, S. XIII .
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dieser schlüssigen Diagnose zu einem Prototyp hegemonialer Männlichkeit zu erheben, mutet dann allerdings forciert an. Pohls figurenpsychologischer Interpretation entgehen die Textsignale, die dem als Sohn in den Roman eingeführten, beinahe fünfzigjährigen »Kronprinzen« diese Männlichkeit gerade absprechen: Dazu gehörte Arnheims Vaterkomplex ebenso wie sein ›weiblicher‹ Eklektizismus oder das Zeugnis, das ihm die Wirtschaftskapitäne in oeconomicis ausstellen: »Sie hielten [. . .] nicht viel von ihm als Kaufmann«; »er gewann schließlich einen ähnlichen Einfluß auf sie, wie ihn eine schöne und schöngeistige Gattin ausübt« (MoE, S. 192 f.). Kaum mehr folgen kann man Pohls literaturpsychologischer Analyse, wenn er den im Wortsinn anrüchigen Ursprung des Arnheim’schen Vermögens als Teil und Ausdruck einer neurotischen Erniedrigungsphantasie begreift, mit welcher der Großindustrielle und -schriftsteller sich einen gleichsam invertierten ›Familienroman‹ erfinde. Nicht nur setzt Pohl hier den »eigentlichen Vater« der Romanfigur kurzerhand mit Emil Rathenau gleich (S. 210). Der Romantext gibt auch keinerlei Hinweise, dass Arnheim diesen Ursprung – ein Müllabfuhrgeschäft – in eigener Instanz herbeiphantasierte. Vielmehr dient das fiktional Anerfundene Musil hier doch einmal mehr zur satirischen Demaskierung seiner Figur. Der »Veredlungsverkehr für Abfälle« (MoE, S. 269) steht in homologer Beziehung zu Arnheims abgegriffenen, aber hochgestochenen Redensarten. Dass der Roman mit dieser Begründung einer jüdischen Aufsteigergeschichte auf eine antisemitische Topik zurückgreift,31 rückt Pohl im Übrigen nicht ins Visier. Diese Lücke kommt nicht ganz von ungefähr. Erstens interessieren ihn Kollusionen von ›gender‹ und ›race‹ selbst dort nicht, wo in einer geschlechteranalytischen Arbeit um sie eigentlich nicht herumzukommen wäre: insbesondere beim Erzählkomplex der Familie Fischel. Zweitens verrät auch Pohls unglückliche Wortwahl im Arnheim-Kapitel seine in diesem Kontext fehlende Sensibilität. Ausgerechnet im Zusammenhang mit einer jüdischen Figur und ihrem realen jüdischen ›Vorbild‹ behauptet er da, dass »die Ergebnisse des uneindeutigen Schacherns [. . .] bei Rathenau wie Arnheim gleichermaßen unangenehm« »waren« (S. 204, Anm. 126). Das Musil’sche Erzählmanöver, Ideologien auf Sexualängste zurückzuführen oder in anderer Form sexuell zu untertiefen und dergestalt zu denunzieren, vermag Pohl auch bei einer Reihe weiterer Figuren nachzuweisen. So unterzieht der Roman Walters reaktionäre Ästhetik einer Dekadenzkritik, die künstlerisches und biologisches Schöpfertum in einer für den hegemonialen Geschlechterdiskurs typischen Manier verknüpft. Clarisses pathologischexaltierter Avantgardismus steht in intrikatem Zusammenhang mit ihrer An31
Werner Sombart beispielshalber mutmaßte in Die Juden und das Wirtschaftsleben, dass man die Juden »auch die Väter der Abfallindustrie« nennen könnte. Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. München, Leipzig 1920, S. 177.
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drogynität und Asexualität. Meingasts ›self-fashioning‹ als Asket und seine Männerbündelei erweisen sich als Symptom einer labilen Geschlechtsidentität und homoerotisch-pädophiler Neigungen. Und Hans Sepps jugendbewegte Schwadronaden dienen dem Studenten mit der unreinen Haut und der umso reineren Seele als Fluchtburg vor seiner angstbesetzten Sexualität. Der Titelheld hingegen nimmt die Identitäten eines Militärs, Ingenieurs und Mathematikers nur vorübergehend an, um sie zu problematisieren und wieder zu verwerfen. Auch in der Abfolge von Ulrichs Frauenbeziehungen macht Pohl eine »Distanzierung von kulturell aufgezwungenen und habitualisierten Verhaltensweisen« aus, die angesichts der virilen Athletik des Protagonisten »desto gehaltvoller« wirke: »Dandy, neusachlicher Connaisseur, erzwungener Verführer, Liebesdienstverweigerer« (S. 266 u. 291). Entscheidend für Pohls Interpretation der Geschwisterkapitel ist aber eine sozusagen konservative Begleiterscheinung dieser Distanzierung: Ulrichs wachsende Sehnsucht nach einem weiblichen Komplement, das in Agathe, einer Art »Sinnbild der Kalokagathia (καλός καί άγαθός)« [sic!] (S. 335), schließlich Gestalt annimmt. Durch diese dualistische Anlage bleibe die Geschwisterbeziehung trotz ihres transgressiven Impetus »geschlechtlich codierten und sexualitätszentrierten Sinngebungsverfahren« (S. 355) und damit einer bürgerlichen Geschlechtersemantik verhaftet. Statt sich – wie beispielsweise Butlers ›cross dressers‹ – an einer subversiven Resignifikation von Geschlecht zu erfreuen, erführen die Geschwister die Vergeblichkeit ihrer Einheitsbemühungen als Verlust. Hierdurch gerate der Roman ins Zeichen der Melancholie und gebe sich ungeachtet seiner postmodernen Tendenzen als Dokument der Moderne zu erkennen. So plausibel diese Schlussfolgerungen im Gesamten ausfallen, böten Pohls Analysen im Detail freilich auch hier wieder Angriffsfläche. Um dafür nur ein Beispiel zu geben: Der Mann ohne Eigenschaften wird zunächst ungedeckt ein »nervöses männliches Wesen« (S. 264; vgl. S. 267) genannt, nur um in einem späteren Kapitel solche Nervosität unvermittelt wieder abgesprochen zu bekommen (vgl. S. 298 u. 323). Dabei wäre im Roman von Ulrichs »vorzüglichen Nerven« eigens die Rede (MoE, S. 27). Dergleichen Inkonsistenzen oder unbelegte Thesen vermögen den Meriten der Untersuchung mitunter etwas Abbruch zu tun. Getrübt werden ihre Verdienste aber auch durch die Form der Darstellung. Die Studie ist leider unnötig schwer zu lesen. Das liegt nicht zuletzt an der manchmal übertrieben verschachtelten Syntax und angestrengt jargonistischen Diktion. Zu hoffen ist, dass es Pohls Lektüren trotz dieser Sperrigkeit gelingen wird, nicht nur die Geschlechterdiskussionen in der Musil-Forschung zu befördern, sondern den Mann ohne Eigenschaften auch dringlicher auf die Agenda der Gender Studies zu setzen. Ulrich Boss
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Sabine Mainberger: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900. Berlin: Kadmos 2010. 381 S. € 26,90. Das ebenso weiträumige wie detailgenaue Buch erhellt mit dem Blick auf die Linie zugleich den sie umgebenden Grund in den wissenschaftlichen, kunsttheoretischen, psychologischen und poetologischen Diskursen um 1900 und bietet gleichermaßen einen vielgestaltigen Hintergrund für die vergleichsweise knapp gehaltenen Ausführungen zu Robert Musil. Das »außerordentlich mächtig[e] Faszinosum« der »dynamische[n] Linie« um 1900, die »geradezu inflationär verbreitet und tendenziell omnipräsent, andererseits aber« – anders als »ihre berühmten Ahnen, die figura serpentina des Cinquecento oder die line of beauty des 18. Jahrhunderts« – nicht mit einer etablierten sprachlichen Bezeichnung zu fassen ist, verlangt demnach nach »Umschreibungen«, deren bewusst unvollständige Auflistung ebenfalls bereits auf den ersten Seiten des Buches angeboten wird. Die Linie erscheint hier »als ›bewegte‹, ›dynamische‹, ›geschwungene Linie‹, fließende, gleitende Kurve, Welle, Serpentine, verschlungenes Lineament, Linienzug oder -schwung, elegante Biegung usw.« (S. 8 f.). Es geht somit gleichermaßen um die ebenfalls unter verschiedenen Namen wie »Art Nouveau-, Jugend-, Sezessions-, coup de fouet-, belgischer oder Velde-Stil« gefasste neue Stilrichtung, die Julius Meier-Graefe bereits 1899 als die »moderne dekorative Bewegung« schlechthin beschrieben hat, wie um »die mit ihr assoziierte typische Kurve« (S. 8). Sein innovatives Potential gewinnt der Diskurs um die Linie dabei aus eben der Präferenz der »Bewegung«, wie sie bereits das mehrdeutige Zitat der Formel Meier-Graefes akzentuiert: Im diffusen Sprachgebrauch der Zeit »manifestiert sich so ein Vorrang des Dynamischen« (S. 9). Das Buch unternimmt nicht weniger als »die Voraussetzungen und Implikationen einer derartigen neuen Selbstverständlichkeit« zu entfalten (ebd.), mithin die »Revision von Grundbegriffen [. . .] in einem komplexen diskursiven Beziehungsfeld« (ebd.) zu rekonstruieren und mit stupender Gelehrsamkeit auf ein wissenshistorisches Fundament zu stellen. Zu diesem Zweck müssen nicht nur die skizzierten Diskursfelder neu vermessen und erhellt werden, sondern eine Fülle in Vergessenheit geratener Texte und Äußerungen in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden, den die Studie mit unbeirrbarer Klarsichtigkeit um den roten Faden der bewegten Linie entwirft und mit äußerster Konzentration als Hintergrund sichtbar machen kann, auch wenn deren materielle Gestalt nur in erstaunlich wenigen Abbildungen buchstäblich vor Augen kommt. Diese Abstraktion vom Augenfälligen ist Mainberger zufolge jedoch schon deshalb unumgänglich, weil sich die dynamische Linie um 1900 erst in einer solchen Transzendenz des Gegenständlichen konstituiert: Ihre »Spezifik« liege nämlich »in etwas, das begrifflich paradox erscheint, denn sie ist eine gestische und gleichwohl nicht handschriftliche, eine somatische ohne indexikalischen Charakter, eine leiblich-psychische und zugleich
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apersonale usw.« und »im Vergleich zum traditionellen ›idealistischen‹ disegno entspiritualisiert, transzendiert aber wie dieser die jeweilige materiale Realisierung« als »Verlauf, Gehen, Bewegung, Geste«, die sie nicht darstellt oder repräsentiert, sondern »ist« (S. 17). Von den insgesamt sechs »Gängen« (S. 11), die zur Darstellung und Herstellung einer solchen diskursiven Verflechtung nötig sind, ist jeder geeignet, zur Re-Lektüre von Texten und Artefakten der Moderne anzuregen, richten sie doch den Focus der Betrachtung der Reihe nach auf die Programmatik von »Linie und Form« anhand der gleichnamigen Krefelder Ausstellung von 1904, auf die Einfühlungslehren der beiden Vischer und anderer und die Reformulierung der Ästhetik zur »physiologischen und psychologischen Tätigkeit des Subjekts« (S. 13; im Anschluss zumal an Jutta Müller-Tamms Arbeiten zur Abstraktion als Einfühlung), und auf das »Prinzip der Gleichwertigkeit von Figur und Grund« (ebd.), auf das noch zurückzukommen sein wird. Die zweite Hälfte dieser Durchgänge – und etwa auch des Buches – gilt dann neuen Konzepten des Sehens als Erkennen in der »Passage vom Auge zur Hand«, wie sie die Bildende Kunst ermöglicht, nun als Akt konzipiert, der »die Linie im Sinn von Gebärde oder Ausdrucksbewegung« als Prozessualität eines tätigen Subjekts hervorbringt (S. 15). In dem Maße, wie die »Linie der Jahrhundertwende Prozeß und Bewegung [ist]«, als »Kurve, Schwung, Energie«, »dynamisieren sich Bilder und Bildliches in allen Gattungen, Techniken und Funktionen« (ebd.), wie sich beispielsweise an bestimmten Choreographien, an der Chronophotographie, aber auch an Figuren des Schreibens bei Valéry oder an den kulturanthropologischen Überlegungen Warburgs zeigen lässt. Den Abschluss bildet eine eingehende Untersuchung der »Theoretisierung der Linie als Gebärde, Akt, Ritual, der Anthropologisierung der Linienästhetik und ihrer Einbettung in Kulturgeschichte« (S. 17) – allein dieser sechste »Gang« böte mithin Materialien für ein eigenes Buch. Wie bereits angedeutet, finden die Überlegungen zu Musil ihren sinnfälligen Platz dort, wo im buchstäblichen und im übertragenen Sinn das Verhältnis von Figur und Grund konzipiert wird, überall dort also, wo »in der künstlerischen Programmatik, der Kunstwissenschaft, der Wahrnehmungspsychologie, der Literatur« ein »besonderes Prinzip, Fläche und Raum aufzufassen«, formuliert und/oder praktiziert wird (S. 13). Dieses lässt sich, mit der gebotenen Allgemeinheit, auffassen als »das Prinzip der Gleichwertigkeit von Figur und Grund oder Körper und Um- bzw. Zwischenraum« (ebd.), und schon die zitierte Aufzählung der beteiligten Disziplinen, Diskurse oder Textsorten verspricht – vor jeder Konkretion – Erhellendes für die entsprechende Musil-Lektüre. Bereits die Einleitung markiert, auf welchen Ebenen der mehr oder weniger buchstäblichen Rede die Realisierung dieses »Prinzips des Einstands von Muster und Grund oder positiver und negativer Form« bei Musil anzutreffen sein wird: nicht nur im naheliegendsten Bereich der Beschreibung visueller Phänomene zur Inszenierung »psychische[r] Alterati-
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on«, sondern auch zur Kennzeichnung einer »vom Unwirklichen, Möglichen, Imaginären gleichsam perforierte[n] Welt«, erzählerisch kommentiert und zugleich identifizierbar als »das poetologische Verfahren, jeweils gleichwertige Komplemente einander entgegenzustellen und einen skeptisch-ironischen Suspensionszustand zu erzeugen« (S. 14). Die gleichfalls sehr knapp ausgefallenen Überlegungen zu Lepsius’ Holzschnitt-Porträt von Stefan George demonstrieren eindrucksvoll, wie eine solche doppelte Perspektive gleichermaßen Herstellungsverfahren, Darstellungsprinzipien, materiale Verfasstheit des linienartigen Gegenstands und sein semantisches Potential sichtbar machen kann. Überaus einleuchtend wird die einer Umrisszeichnung nachgebildete Schnittlinie hier zum eigentlich ästhetischen Eingriff erklärt, da das Bild »exemplifiziert«, was die zeitgenössische Graphik auch programmatisch umsetzt: »die ›Befreiung‹ der Linie von der Funktion der Gegenstandsbezeichnung« durch die Aufhebung der Hierarchisierung von Figur und Grund, die Emanzipation der weißen Fläche und schließlich die von etablierten Verhältnissen des Denotierens unabhängige »Expressivität« der gleichermaßen konturierenden und rahmenden Linie (S. 179). Im »Spiel von Bildnishaftigkeit und formalästhetischer Abstraktion« bringt die Linie als Bewegung und Kraft so nicht nur das »fetischisierte Haupt« des charismatischen Dichters hervor, sondern macht dieses zum »Teil eines Experiments mit den graphischen Möglichkeiten des Japonismus«, solchermaßen Hagiographie und ästhetisches Programm in einem (S. 181). Die Überlegungen zu Musil, die nicht von einem ähnlich prägnanten Beispiel ausgehen können, verlangen nach einem höheren Grad solcher Abstraktion vom Gegenständlichen und Buchstäblichen und halten dennoch virtuos die heikle Balance zwischen rein sprachlich erzeugter Evidenz der Argumentation und exemplifizierender Lektüre. Im Kapitelkontext der »Emanzipation des Grundes« (ab S. 147) stehen sie an zweiter Stelle nach einigen erhellenden kunsthistorischen und -theoretischen Erläuterungen zur Auffassung von Ornament und Grund und zum sogenannten »Teppichparadigma« um 1900. Die »formalistische Kunstwissenschaft« mit ihrem Traum von einer »Grammatik« der visuellen Formen trifft hier auf eine entsprechende »künstlerische Praxis, Psychologie und wissenschaftliche Ästhetik« (S. 152). Vervollständigt wird das Kapitel durch eine – später nochmals aufgenommene – Einführung in Aby Warburgs Konzeption des Zwischenraums und das bereits zitierte George-Beispiel; alle Einzeluntersuchungen sind mithin dem Paradigma der »Großepoche des Optischen« (S. 154) verpflichtet, wobei mit der (abbildungsgestützten) Betrachtung durchbrochener Metalle und visueller Kippfiguren namentlich die haptischen Qualitäten bestimmter Formen und deren raumtheoretische, wahrnehmungspsychologische und epistemologische Implikationen diskutiert werden. Diese Beispiele zur »Gleichwertigkeit von Figur und Grund« (S. 159) und von Figuren der Umkehrung
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bereiten auf die vieldiskutierte Figur der Inversion bei Musil vor, die Sabine Mainberger, im Einklang mit und in Abgrenzung von ähnlichen Befunden der Musil-Forschung, in den Kontext einer, »abstrakt gesprochen, funktionellen Äqualisierung von Gegensätzen« stellt: »Das gleichberechtigte Nebeneinander von komplementären Formen und Vorstellungen und die – rhetorisch in vielfältigen Chiasmen manifeste – Möglichkeit ihrer Vertauschung sind ein Grundzug in Musils Schreiben« (S. 161). Nicht um dessen Rückbindung an kurrente mathematische und naturwissenschaftliche Theoreme oder einzelne Rezeptionsvorgänge geht es der kleinen Musil-Studie im Folgenden, sondern vielmehr um die Betonung, dass in den literarischen Texten Musils dieselben »Probleme der Wahrnehmung und Raumerfahrung« verhandelt werden, die auch die zeitgenössische »bildende Kunst und Kunstwissenschaft ebenso wie Psychologie und Philosophie beschäftigen«, dass dieser Effekt der Wiederkehr sich jedoch nicht einem bloßen »Reflex« verdanke und »mitnichten nur als Ergebnis von Rezeptionen« erklärbar sei, »sondern als etwas, das sein Unternehmen mit anderen Disziplinen und künstlerischen Praktiken teilt«, als »den begrenzten, lokalisierbaren, experimentell produzierbaren Kern einer Erfahrung von Irritationen und Umwertungen, die weit über das wissenschaftlicher Kontrolle Unterstehende hinausgeht« (S. 161). Mit diesen Formulierungen skizziert die Verfasserin somit zugleich ihre eigene Methode der Herstellung diskursiver Geflechte und eröffnet grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Wissensgeschichte – unter spezieller, wenngleich hier etwas sporadischer Berücksichtigung der Funktionen des ›Literarischen‹. Wenig erstaunlich ist zunächst die »motivisch[e] Präsenz der geschwungenen Linie« in frühen Texten Musils, namentlich in den Verwirrungen des Zöglings Törleß, wo nicht nur »dekorative Fin de siècle-Linien« und der aristokratische Mitschüler des Protagonisten als »arabeske[s] Gebilde« eine »Welt [repräsentieren], die der Heranwachsende halb unwillentlich verlassen muß, halb mutwillig aggressiv zerstört« (ebd.). Auch der Generalthese von einer Dynamisierung der Linie und ihrer je eigenen Kraft vermag dieser Text ersichtlich zu genügen, mindestens in der Verwandlung von Fäden und Seilen zu schlangen- und wurmartigen selbsttätigen Wesen. Entscheidend für die weitreichendere Annahme einer entsprechenden Funktionalisierung von Raumkonzepten und Wahrnehmungstheorien zur »elementare[n] Inversion der gewohnten Wahrnehmungsbeziehungen« (S. 160), die im Werk Musils zu finden sei, ist jedoch eine über solche motivischen Auffälligkeiten hinausgehende allgemeine Umwertung: »Die Verstörungen des Adoleszenten treten als ›Störung‹ der traditionellen gegenstandsund raumdefinierenden Linienfunktionen auf« und diese »Suspension der grenzziehenden, distinguierenden, primär Ordnung schaffenden Leistung hat eine sprachliche Formel, sie heißt: ›Und wieder verknüpfte sich das irgendwie mit [. . .].‹« (S. 162) Liegt in diesem Fall ein Rückgriff auf die etablierte Metaphorik des Textilen für Formen des sprachlichen Gewebes womöglich
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näher als eine solche Arbeit an der Konzeptualisierung von Linienführungen, so leuchtet unmittelbar ein, dass auch Musils Überlegungen zum optischen Instrument des Triëder im fast gleichnamigen Text die epochenweit diagnostizierte Umwertung des Zwischenraums betreiben: »Die Betrachtung kehrt sich von einer, die das Geschehen versteht, in eine verfremdende Abstraktion, in der die humanen Akteure versachlicht werden zu Funktionen eines visuellen Musters« (S. 160). Diesen generellen Befund belegt die Studie mit verschiedenen Beispielen aus Musils Erzählungen, die jeweils solche typischen Inversionen mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln ins Werk setzen. Mal ist es eine eigentümlich vom belebten Körper distanzierende, vereinzelnde Beschreibung, die aus den Körperteilen einer Tee einschenkenden Frau geradezu Elemente eines »semiabstrakten kubistischen Gemäldes« (S. 164) generiert, mal tauschen in einer Serie von Metonymien »beseelendes Ich« und anonymes Objekt die Plätze (ebd.). Wenn derart die erzählte Welt der frühen Musil-Texte von ihren Bewohnern einschließlich ihrer selbst »dauerhaft als Vexierbild, Kippfigur, Umstülpung der räumlichen Form« erlebt wird, so soll diese nicht nur optische Inversion als eine »Leitstruktur auch des Musilschen Hauptwerks« auszumachen sein; die Inversion wird »zum generierenden Prinzip eines experimentellen Erzählens« (S. 168). Die erklärtermaßen wenigen Beispiele aus dem Mann ohne Eigenschaften sind allerdings einmal mehr auf die Inversion als Figur des Optischen bezogen, genauer gesagt, auf wiederkehrende Motive der Raumdarstellung, die Elemente der zuvor vorgestellten zeitgenössischen Diskursstränge aufnehmen und variieren. Ob eine späte Notiz außerhalb des Roman-Konvoluts geeignet ist, auch für die überwältigende Restmasse Geltung zu beanspruchen, mag nicht ohne Weiteres zu klären sein, überaus passend im diskutierten Zusammenhang ist es jedoch allemal, wenn Musil mit der Bemerkung, »›Beziehung zu konkav-konvex als uralte Doppelform des Erlebens‹« dem »eng umrissene[n] Feld der optischen Inversion [. . .] hier anthropologische Dimensionen« gibt (S. 170). Solche Evidenz verdankt sich allerdings abermals einer auch benannten Abstraktion vom Gegenständlichen, wenn gleichermaßen das Gleichgewicht von Erzählung und Essay wie die im Roman allgegenwärtigen Parallelaktionen solche »Doppelform« ausmachen sollen. Die »Verzweigung aller Fragen in zwei ›Bäume‹« bei Musil, seine Arbeit an und mit Doppelungen in einer Art prekären Äquilibristik, lässt sich demnach analog zur Wiederkehr des antiken Prinzips der Isothenie, des Gleichgewichts einander entgegengesetzter Argumente begreifen – und mit dieser Schlusswendung des knappen Kapitels zu Musil zeigt sich einmal mehr, wie inspirierend die konsequente Aufwertung des Zwischenraums für eine Lektüre literarischer Texte sein kann, die mit dem Paradigma der Linie virtuos die Grenze zwischen buchstäblicher und metaphorischer Rede neu vermisst und zieht, und deren Verdienst es nicht zuletzt ist, den Grund für vermeintlich bereits bekannte
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Gestalten so plastisch zu machen, dass diese sich im produktivsten Sinn als kunsttheoretische, wissenshistorische und artifizielle Kippfiguren erweisen. Cornelia Ortlieb
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Magdalena Bachmann Universität Innsbruck Institut für Germanistik Innrain 52 A–6020 Innsbruck
Prof. Dr. Arno Dusini Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien
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Prof. Dr. Alfred Bodenheimer Universität Basel Zentrum für Jüdische Studien Leimenstr. 48 CH –4051 Basel
PD Dr. Walter Fanta Robert-Musil-Institut für Literaturforschung Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A–9020 Klagenfurt
[email protected]
Dr. Ulrich Boss Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstr. 49 CH –3000 Bern 9 [email protected]
Dr. Karl Corino Biesingerstr. 8 D–72070 Tübingen [email protected]
Dr. Annette Daigger 1, rue des 4 vents F–67160 Wissembourg [email protected]
[email protected]
Prof. Dr. Anne Fleig Freie Universität Berlin Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Habelschwerdter Allee 45 D–14195 Berlin [email protected]
Harald Gschwandtner M. A. Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Dr. Isabelle Dalaudière Nauwieserstr. 39 D–66111 Saarbrücken
Prof. Dr. Alexander Honold Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel
[email protected]
[email protected]
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Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Dr. Florian Kappeler ETH/Universität Zürich Koordination Doktoratsprogramm »Geschichte des Wissens« Rämistr. 64 CH –8001 Zürich
Prof. Dr. Werner Michler Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
[email protected]
Mag. Paul Keckeis Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Valentina Lehmann M.A. Universität Paderborn Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Warburger Str. 100 D-33098 Paderborn [email protected]
Prof. Dr. Birgit Nübel Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 D–30167 Hannover [email protected]
Prof. Dr. Claudia Öhlschläger Universität Paderborn Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Warburger Str. 100 D–33098 Paderborn [email protected]
Dr. Mark Ludwig Deutsche Sporthochschule Köln Institut für Kommunikationsund Medienforschung Am Sportpark Müngersdorf 6 D–50933 Köln [email protected]
Dr. des. Bernhard Metz Freie Universität Berlin Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Habelschwerdter Allee 45 D–14195 Berlin [email protected]
Prof. Dr. Cornelia Ortlieb Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Schellingstr. 7 D–80799 München [email protected]
Dr. Oliver Pfohlmann Gönnerstr. 20 D–96050 Bamberg [email protected]
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Prof. Dr. Hans-Georg Pott Elsterweg 5 D–40789 Monheim [email protected]
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Prof. Dr. Barbara Thums Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstr. 50 D–72074 Tübingen [email protected]
Dr. Massimo Salgaro Università degli Studi di Verona Dipartimento di Lingue e Letterature straniere Lungadige Porta Vittoria 41 I–37129 Verona
Dr. Christian van der Steeg Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH –8001 Zürich
[email protected]
[email protected]
Dr. Uwe Spörl Universität Bremen Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften Postfach 330 440 D–28334 Bremen
Prof. Dr. Florence Vatan University of Wisconsin-Madison Department of French and Italian 658 Van Hise Hall 1220 Linden Dr USA –Madison, WI 53706 [email protected]
[email protected]
Prof. Dr. Gregor Streim Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Frommannsches Anwesen Fürstengraben 18 D–07737 Jena [email protected]
Dr. Sven Werkmeister Marktplatz 6 D–35390 Gießen [email protected]
Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Dr. Nicole Streitler-Kastberger Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien
Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel
[email protected]
[email protected]
Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]
Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:
Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik
GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]
Bd. I : Bd. II :
Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik
MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :
Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register
Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :
Briefe 1901–1942 Kommentar. Register
KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.
Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:
Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel [email protected] c/o Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A –5020 Salzburg [email protected]
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft c/o Robert-Musil-Institut für Literaturforschung der Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A –9020 Klagenfurt www.musilgesellschaft.at [email protected]
Redaktion dieses Bandes: Harald Gschwandtner, Universität Salzburg
Register Adler, Alfred 346 Adorno, Theodor W. 342 Allesch, Johannes von 26, 60, 62, 135, 219, 260, 275 Amann, Klaus 2–4, 81, 111, 159, 223, 251 Andrade, Mário de 308 Andriopoulos, Stefan 338 Archipenko, Angelica 185 Aristoteles 320 Arnim, Achim von 335 Arntzen, Helmut 183, 191 Aspetsberger, Friedbert 2 Bach, Johann Sebastian 150 Bachofen, Johann Jakob 293 f., 346 Bachtin, Michail 271 Bacon, Francis 177 Baedecker, Karl 227 Bänninger, Konrad 231 Bahr, Hermann 17, 85, 143 Balázs, Béla 140, 144, 188 Ball, Hugo 88, 114, 186 Balzac, Honoré de 22 Barbusse, Henri 252 Bartels, Adolf 143 Barthes, Roland 123, 306 Bassermann, Albert 149–151 Baudelaire, Charles 183, 290 Baum, Peter 95 Becher, Johannes R. 252 Becker, Sabina 206 Beer-Hofmann, Richard 234 Beethoven, Ludwig van 194 Begley, Louis 113 Behrens, Peter 9 Bellamy, Edward 340 Benjamin, Walter 13, 100, 143, 171, 174, 207, 297, 299, 301, 315, 317 Benn, Gottfried 118, 122 f., 207, 297, 299, 330–332 Benton, Morris Fuller 27, 48 Bermann Fischer, Gottfried 25, 31, 43,
54 f., 58 f., 67–69, 242, 253–255, 258 f., 282 Bermann, Richard A. 116, 253 f. Bernanos, George 172 f. Bernhard, Lucian 9 Bettauer, Hugo 169, 200 Bhabha, Homi K. 309 Bie, Oskar 85, 96 Biere, Florentine 333 f. Bilse, Fritz Oswald 22 Blanck, Karl 174 Blanckenburg, Christian Friedrich von 320, 333 Blass, Ernst 90 Blei, Franz 32 f., 37, 40, 61, 85, 87 f., 91, 96, 109, 117, 125, 128, 142 f., 147, 159, 161, 185 f., 188 f., 191 f., 195, 197, 199 f., 207, 289 Bloch, Ernst 343 Boas, George 303 Bodmer, Martin 233 f. Böhme, Hartmut 297, 301 Böschenstein, Bernhard 290–292 Bohnenblust, Gottfried 218, 228, 237 Bollack, Jean 290 Bonacchi, Silvia 272 f. Bondi, Georg 6 Borchardt, Rudolf 114, 234 Borchmeyer, Dieter 291 Boss, Ulrich 2, 292–296 Bourdieu, Pierre 1, 65, 70, 119 Brahm, Otto 87, 94, 143, 150, 160 Brandstetter, Oscar 20, 42, 44 f. Brecht, Bertolt 143, 170 Breitensträter, Hans 207, 210 Brentano, Clemens 335 Broch, Hermann 80, 142, 144, 146, 148, 154, 160 f., 222, 342–344 Brod, Max 88, 93, 95, 98, 197, 250, 291 Brunngraber, Rudolf 67 Burckhardt, Carl J. 235, 237 Burckhardt, Max 17
361
Register
Burri, Franz Xaver 228 Butler, Judith 309, 345, 348 Cabet, Étienne 340 Canetti, Elias 71, 80, 308 Carrà, Carlo 215 Cassirer, Ernst 158, 161, 298 f., 315 Cassirer, Paul 205 Celan, Paul 290, 320, 328 Céline, Louis-Ferdinand 5, 49, 56 Chirico, Giorgio de 215 Chopin, Frédéric 184, 190, 194 Church, Barbara 257 Claassen, Eugen 67–69, 255 f. Clemenceau, Georges 120 Cohen, Hermann 158 Corino, Karl 22, 24 f., 30 f., 33, 42, 53, 62, 65, 69, 100, 102, 107, 121 f., 220, 224, 234, 256, 324, 328, 336 Courts-Mahler, Hedwig 128 Csokor, Franz Theodor 289 D’Annunzio, Gabriele 257 Därmann, Iris 305 f. Däubler, Theodor 15 Daigger, Annette 279 f. Darwin, Charles 307 Dehmel, Richard 94, 159 Deleuze, Gilles 344 Denk, Berthe Marie 168 Derrida, Jacques 306, 344 Déry, Tibor 210 Diederichs, Eugen 11, 18, 20 Dietz, Herma 325, 328 Döblin, Alfred 5, 42 f., 56, 123, 125 f., 128, 143, 166 f., 207, 230, 248, 293, 308, 328, 337, 339 Dostojewski, Fjodor M. 276 Du Maurier, Daphne 225 Duschek, Richard 187 Ebner-Eschenbach, Marie von 107 Eckhart, Meister 176 Eckmann, Otto 9, 18 Eco, Umberto 260 Ehmcke, Fritz Helmuth 9, 16 Ehrenstein, Albert 88 Eibl, Karl 2 Einstein, Carl 95
Eisner, Paul 129 Ellis, Havelock 338 Emerson, Ralph Waldo 18, 195 Erbar, Jakob 9 Erhart, Walter 293 Ewers, Hanns Heinz 128 Fabian, Johannes 303 Fäsi, Robert 233 f. Fanta, Walter 2 Ferber, Christian 206 Feuchtwanger, Lion 251, 256 Feuerbach, Anselm 339 Fischer, Ernst 174 Fischer, Samuel 10 f., 59, 79, 82, 84–97, 99 Flasch, Kurt 114 Flaubert, Gustave 172 Flechtheim, Alfred 202–207 Fleig, Anne 2 Fleißer, Marieluise 137, 207 Flusser, Vilém 315 Fontana, Oskar Maurus 64 f., 95, 188, 256, 289 Fontane, Theodor 44 Foucault, Michel 118, 345 France, Anatole 180 Frank, Bruno 15 Frank, Gustav 180 Frank, Leonhard 94 f. Frege, Gottlob 315 Freud, Sigmund 98, 136, 157, 242, 294, 298, 346 Freund, Fritz 17, 22 Fries, Helmut 101 Frisch, Efraim 142, 144, 147, 153 f., 156, 159 Frisch, Max 233 Frisé, Adolf 2, 16, 19, 40, 67, 131, 178, 186, 191, 195, 229, 249, 279, 283, 289, 324, 327 Fritsch, Georg 32 Frobenius, Leo 297 Fürst, Bruno 225, 229 Gäumann-Wild, Doris 230 Gasser, Manuel 235 Gebek, Leni 100 Gehlen, Arnold 157
362 Geiser, Karl 226 Genette, Gérard 102, 118, 323 George, Stefan 6, 18, 169, 173, 290, 351 Gerschel, Otto 61 Gess, Nicola 297–302 Giertler, Mareike 24 Gisi, Lucas Marco 227, 307 Glaeser, Ernst 51, 224 f. Glaser, Curt 51, 228 Goethe, Johann Wolfgang 62, 94, 149, 166, 290, 328, 333–335, 343 Goldschmidt, Harry 78, 225–229 Goodhue, Bertram 27 f. Gotthelf, Jeremias 231 Goverts, Henry 67, 222, 256 Goyert, Georg 48 Grabbe, Christian Dietrich 166 Grillparzer, Franz 107 Grosz, George 203, 207, 215 Grünberg, Isak 49 Gschwandtner, Harald 2, 5, 145, 310–314 Gürster, Eugen 227 Gütersloh, Albert Paris 109, 186 Guillemin, Bernard 129, 174, 251 Hašek, Jaroslav 165, 168, 175 Haas, Willy 15 Haeckel, Ernst 298 Hahl, Werner 333 Hahn, Marcus 306 f. Hahn, Theodor 256 Hall, Murray G. 17 f., 22, 54 Hall Church, Henry 69 Haller, Hermann 226 Handel-Mazzetti, Enrica von 107 Hansen-Löve, Aage A. 308 Hartmann, Wilhelm 228 Hasenclever, Walter 87 Hauptmann, Gerhart 85, 94 f., 122, 155, 159 Hayasaka, Nanao 17 Hebel, Johann Peter 107 Hegner, Jakob 12, 16 f., 37 f., 40, 42, 48, 54, 56 f. Heimann, Moritz 10, 15, 17, 79, 88, 90 f., 94 f., 99 f., 142, 144, 147, 153, 155 f., 159 Herrmann-Neiße, Max 95 f., 100
Register
Hertzka, Theodor 340 Herz, Ida 226, 340 Herzl, Theodor 17, 340 f. Hesse, Ernst Otto 129 f. Hesse, Hermann 69, 95, 221, 230, 232, 234, 244, 342–344 Hesse, Ninon 221, 226 Hessel, Franz 13, 34 Heydebrand, Renate von 159 Heyne, Elisabeth 308 Hiller, Kurt 88, 90, 94, 100 Hirschfeld, Kurt 235 Hirschfeld, Magnus 346 Hitler, Adolf 64, 77, 169, 235 Höcker, Arne 337–340 Hoek, Leo 269 Hölderlin, Friedrich 290 Hoffmann, Christoph 118, 122 f., 262, 272 f. Hoffmeister, Barbara 91 Hofmannsthal, Hugo von 17, 91, 234, 289, 307, 314, 322 f., 333–335 Hohl, Ludwig 235 Holz, Arno 27 Honold, Alexander 105, 131, 308 Horthy, Miklós 169, 197 Horváth, Ödön von 244 Hoyer, H. Th. 31 Huebner, Friedrich Markus 111 Huizinga, Johan 342 Humboldt, Alexander von 308 Humm, Rudolf Jakob 63, 221, 226 Hunziker, Rudolf 230 f. Huxley, Aldous 251 Ibsen, Henrik 144 f., 149–151, 160 Ihering, Herbert 167 Inglin, Meinrad 236 Innerhofer, Roland 1 Jacob, Heinrich Eduard 15 Jacobs, Monty 94 Jaensch, Erich 300 Jahnn, Hans Henny 5, 48 f., 56, 309 Janthur, Richard 9 Jensen, Johannes B. 94 Joyce, James 5, 49, 56, 322 Jung, Franz 95 f., 99 f. Juvenal 163
363
Register
Kästner, Erich 174 Kafka, Franz 5 f., 88, 92 f., 95, 98 f., 197, 221, 289–292, 322 f. Kahlenberg, Hans von 22 Kaiser, Georg 95, 151–153, 171 Kaleko, Mascha 207 Kalmar, Annie 163 Kant, Immanuel 158, 194 Kappeler, Florian 292 f. Kassner, Rudolf 315 Kastner, Barbara 14 Kaufmann, Doris 306 Keller, Adolf 218, 231 Keller, Gottfried 234, 333 f. Keller, Heinz 231 Kempter, Lothar 231 Kerr, Alfred 22, 90, 94, 96, 125–128, 142–145, 149–153, 159 f., 164, 168, 170, 265 f., 289, 293 Kesser, Armin 13, 58, 280 Kesten, Hermann 174 Kimball, Ingalls 27 Kippenberg, Anton 11, 247 Kisch, Egon Erwin 13, 109 Kittler, Friedrich A. 117 Klages, Ludwig 289, 313 Kleiber, Otto 227 Kleist, Heinrich von 106 f., 333–335 Klengel, Susanne 308 Kleukens, Friedrich Wilhelm 9, 53 Klossowski, Pierre 187 Koberger, Anton 31 Koch, Rudolf 9 König, Heinz 20 Kolb, Alois 9 Kolb, Annette 186 Korrodi, Eduard 233 f., 236, 247 Kracauer, Siegfried 165, 175, 330–332 Krafft-Ebing, Richard von 338 f., 346 Kramer, Fritz 303 Kraus, Karl 96, 162–171, 173 f., 176 Krause, Marcus 117–119 Kreis, Nellie 228 f. Kreisky, Bruno 279, 283 Kretschmer, Ernst 136, 293, 296, 298, 300 Kristeva, Julia 309 Kubin, Alfred 9 Kümmel, Albrecht 270, 275
Kulka, Georg 168 Kundera, Milan 326 Lacan, Jacques 306 Landshoff, Fritz 252 Langbehn, Julius 313 Langen, Albert 11 Langnese, Susanne 236 Lanyi, Jenö 229 f. Lasker-Schüler, Else 96 Latour, Bruno 301, 307 Laurin, Arne 71, 109, 220 Lavedan, Henri 22 Lazarsfeld, Sophie 180 Le´sniak, Sławomir 314–317 Leeser, Maria 185 Leibniz, Gottfried Wilhelm 176 Lejeune, Robert 218, 231–236, 280 Lejeune, Susa 280 Lepsius, Reinhold 351 Lévi-Strauss, Claude 303 Lévy-Bruhl, Lucien 295, 298, 300, 305 f. Lewin, Kurt 276 Lewis, Sinclair 51 Liegler, Leopold 170 f. Linder, Joachim 338 Linsmayer, Charles 232 Lipp, Theodor 278 Liszt, Franz von 337 f. Loewenson, Erwin 90 Löwenstein, Hubertus Prinz zu 253 f., 258 f. Lombroso, Cesare 337 f. Lovejoy, Arthur 303 Lucas, Ernst Herbert 129 Lucius, Wulf von 9, 33 Ludwig, Emil 95, 256 f., 266 Lukács, Georg 171, 174–176 Mac Orlan, Pierre 186 Mach, Ernst 343 Macherey, Pierre 344 Maeterlinck, Maurice 18–20, 51, 94, 313 Mainberger, Sabine 349, 352 Mann, Heinrich 17, 65, 230, 250 f. Mann, Klaus 246 f. Mann, Thomas 5 f., 15, 20, 42–46, 54, 56, 69, 77, 79, 125 f., 129, 169,
364 225–227, 230, 233, 246–249, 253 f., 257, 260, 290, 328, 342, 344 Marcovaldi, Annina 114 f., 117, 119, 219 f., 225, 231 Marcuse, Ludwig 128, 135, 139 f., 293 Marmorek, Alexander 340 f. Mattenklott, Gert 147, 161 Mayer, Paul 61 f. Mehring, Franz 143 Mehring, Walter 174 Meid, Hans 9 Meier-Graefe, Julius 15, 349 Mende, Karl Erich 45 Mendelssohn, Erich von 99 Menzel, Simon 51, 53–55, 57, 74, 224 Menzel, Sophie 51, 224 Merleau-Ponty, Maurice 306 Meseck, Felix 31 Metz, Bernhard 2 Meyer, Conrad Ferdinand 234 Meyer-Sickendiek, Burkhard 309 Michel, Karl Markus 324 Moeschlin, Felix 218, 232 f. Mondon, Christine 342–344 Montaigne, Michel de 153 Morgenstern, Soma 168 Moser, Walter 134 Mülder-Bach, Inka 292, 317–322 Müller, Dominik 1 Müller, Georg 11, 22–25, 121 Müller, Robert 6, 125–128, 138, 297, 299 Müller-Schoenefeld, Wilhelm 18 Müller-Tamm, Jutta 350 Münsterberg, Hugo 262–264, 273 f. Mundt, Theodor 333 Muschg, Walter 235 Musil, Alois 241 Musil, Martha 13, 37, 58, 62, 65–68, 71, 86, 93, 114 f., 117, 119, 219 f., 225, 231, 235, 280, 283 Musil, Robert 1–7, 10 f., 13–20, 22–28, 30–34, 36–40, 42 f., 48–51, 53–107, 109–119, 121–123, 125–132, 134–138, 140, 142–154, 156, 158–162, 164–169, 171–177, 180 f., 184–186, 188–193, 195, 197, 199–202, 204 f., 207, 210, 212, 215–269, 272–283, 289–293, 295–297, 299–301, 307,
Register
310–315, 317 f., 320–334, 336 f., 339 f., 342–347, 349–353 Mussolini, Benito 197, 235, 257 Nadler, Josef 188, 235 Napoleon Bonaparte, Kaiser v. Frankreich 194 Natorp, Paul 158 Nestroy, Johann Nepomuk 168 Neumair, Josef 116 Neumann, Robert 224 Nietzsche, Friedrich 128, 138, 157, 169, 194, 290 f., 299, 307, 312, 317, 329, 342 f., 346 Novalis 276 Nübel, Birgit 2 Öhlschläger, Claudia 1, 304 f. Oesterreich, Traugott Konstantin 27 Olden, Rudolf 200 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von 18 Oprecht, Emil 226 Orlík, Emil 185, 187 Otten, Karl 71 Pabst, Stephan 115 Paderewski, Ignacy Jan 184 Paul, Jean 94, 290 Peck, Clemens 340 f. Perutz, Leo 200 Pestalozzi, Karl 18 f. Pethes, Nicolas 338 Petry, Walther 139 Petter-Zeis, Valérie 280 Pfemfert, Franz 90, 92 f. Pfohlmann, Oliver 2, 102 Piaget, Jean 298 Picard, Max 218–220 Pinkus, Klaus 224, 235, 248 f., 252, 256 Pinthus, Kurt 90, 139 f., 207 Piorkowski, Curt 274 Piper, Reinhard 11 Plessner, Helmuth 19, 157 f., 160 f. Poeschel, Carl Ernst 37 f. Pohl, Peter C. 292 f., 345–348 Poincaré, Henry 197 Polak, Ernst 224 f. Polgar, Alfred 51, 142 f., 145 f., 148, 151,
Register
153, 159, 166, 195, 207, 210, 224, 236, 289 Politzer, Heinz 236 Preetorius, Emil 9, 45 Preuß, Konrad Theodor 298 Proust, Marcel 5, 322 Radiguet, Raymond 186 Rathenau, Emil 347 Rathenau, Walther 96, 289, 294 Rebhuhn, Werner 16 Reich-Ranicki, Marcel 327 Reichner, Herbert 247 Reinhardt, Max 144 Remarque, Erich Maria 43 Renner, Paul 9, 12, 25 Rickert, Heinrich 158 Ricoeur, Paul 342, 344 Riess, Frieda 185 Rilke, Rainer Maria 91, 94, 106, 169, 186, 219, 230, 234, 276, 290 Riviere, Joan 198 Rössing, Karl 9 Rohrwasser, Michael 251 Rolland, Romain 171, 225, 251 Rolle, Dietrich 266 Ronsard, Pierre de 33 Rosegger, Peter 107 Rosenbaum, Wladimir 226 Rosenbaum-Ducommun, Aline [= Valangin, Aline] 225 f. Rosenberg, Alfred 309 Roth, Joseph 247 f., 289 Roth, Marie-Louise 279 f., 283 Rothe, Arnold 271 Rousseau, Jean-Jacques 346 Rowohlt, Ernst 11, 15, 58–66, 69, 71, 74–76, 93, 207, 247, 249, 253 Rubiner, Ludwig 90, 117 Russell, Bertrand 315 Rutra, Arthur Ernst 78 Rychner, Max 236 Sacher-Masoch, Leopold von 186 Salgaro, Massimo 1 Salten, Felix 17, 22 Salter, Georg 43 Schaeffer, Albrecht 15 Schaffner, Jakob 334
365 Schauer, Georg Kurt 48 Schaukal, Richard 17 Schaunig, Regina 113, 121 Scheler, Max 157 f. Scherer, Stefan 180 Scheyer, Moritz 78 Schickele, René 88, 246, 248 Schiller, Friedrich 163, 328 Schlaf, Johannes 18 Schlegel, Friedrich 276 Schlick, Moritz 148, 156–160 Schmale, Wolfgang 130 Schmeling, Max 203 Schmidt, Georg Philipp 196 Schmitt, Carl 33, 186, 192, 199 Schnack, Friedrich 15 Schneider, Sabine 307 Schneidler, F. H. Ernst 9 Schnitzler, Arthur 18, 22, 91, 289, 328 Schönert, Jörg 338 Schopenhauer, Arthur 342, 346 Schrecker, Maria 185 Schröder, Rudolf Alexander 234 Schubert, Franz 196 Schüttpelz, Erhard 297, 301, 303 f., 306 Schulz, Wilhelm 43 Schulze, Käthe 126 Schumacher, Karl von 235 Schumann, Andreas 119 Schuschnigg, Kurt 254, 259 Schwabe, Rudolf 225 Schwerin, Hans W. 224 Schyberg, Frederik 80 Seelig, Carl 67, 218–222, 224, 226 f., 230, 235 f., 241 f. Seipel, Ignaz 196 Serner, Walter 171 Seyerlen, Egmont 93 Shakespeare, William 178 Siebenpfeiffer, Hania 339 Silone, Iganzio 226 Simmel, Georg 158 Slevogt, Max 9 Sombart, Werner 347 Sommerfeld, Beate 323 Sorge, Reinhard Johannes 95, 98 Staiger, Emil 235, 290 Starke, Ottomar 206 Staub, Hans 290
366 Steeg, Christian van der 2 Steffen, Albert 236 Stein, Gertrude 207 Steinbeck, John 51, 225 Steiner, Herbert 234 Steiner-Prag, Hugo 9 Sternheim, Carl 98, 171, 207 Stinnes, Cläronore 207 Stockhammer, Robert 160 Stoessl, Otto 334 Streep, Meryl 199 Streim, Gregor 2 Streitler-Kastberger, Nicole 2 Strutz, Josef 324 f. Stumpf, Carl 90 Suhrkamp, Peter 67 Sully, James 299 Susman, Margarete 96 Swift, Jonathan 163 Szondi, Peter 290 Taylor, Janice 210 Thackeray, William M. 171 Thatcher, Margaret 199 Thurn und Taxis, Marie von 94 Tieck, Ludwig 335 Tieffenbach, Eduard Wilhelm 31 Tiemann, Walter 9, 16, 37 f. Todorov, Tzvetan 338 Toller, Ernst 226 Torberg, Friedrich 51, 224 Tschichold, Jan 11 f. Tucholsky, Kurt 143, 174, 291 Turgenjew, Iwan 107 Tylor, Edward 307 Unger, Erich 90 Urbaner, Roman 105 Valéry, Paul 5, 55, 234, 290, 350 Vatan, Florence 328 f. Verne, Jules 340 Viertel, Berthold 164 f., 167, 170 Vischer, Friedrich Theodor 299 Vogel, Juliane 321 Vogel, Wladimir 226 Voigt, Christian 336 Volkelt, Johannes 170 Voltaire 176
Register
Wachter, David 330–332 Wagner, Richard 194 Wagner, Wilhelm 44 Wagner-Egelhaaf, Martina 310 f. Walden, Herwarth 205 Walpole, Hugh 225 Walser, Karl 45 f. Walser, Robert 5, 94 f., 98 f., 186, 219 f., 236, 290–292 Walter, Martine von 280 Warburg, Aby 350 f. Wassermann, Jakob 15, 226 Wedderkop, Hermann von 202, 204, 206, 212, 214–216 Wedekind, Frank 159, 171, 337, 339, 346 Wehde, Susanne 12 Weiß, Emil Rudolf 9, 15 f., 23 f., 31, 39 f., 46, 51, 55, 57 Weiss, Ernst 51, 224 Weiss, Markus 281 Weiss, Walter 131 Weißmüller, Johnny 204, 210 Werfel, Franz 94, 109, 172, 289 Werkmeister, Sven 297, 301, 304 f. Westermann, Diedrich 118, 305 Wieland, Christoph Martin 333 Wildgans, Anton 78 Willberg, Hans Peter 37 Wirz, Otto 218 f., 222–224, 235 f. Wittgenstein, Ludwig 145, 156 f., 160, 315, 342 f. Wittmann, Reinhard 234 Wittner, Victor 207 Witzinger, Ruth 225, 227–229 Wolf, Norbert Christian 1, 251, 292, 310, 327 Wolf, Rudolf 40 Wolfenstein, Alfred 90, 93–95, 98 Wolff, Kurt 11, 85, 87 f., 90, 93 Wolfskehl, Karl 15 Woolf, Virginia 5 Worringer, Wilhelm 299, 305 Wotruba, Fritz 226, 230 f. Wundt, Wilhelm 298, 304 Zangerl, Alfred 32 Zech, Paul 27, 98 Zeller, Rosmarie 2, 5 f., 105 Ziegler, Richard 34
Register
Zollinger, Albin 233 Zsolnay, Paul 11 Zuckerkandl, Victor 69, 80, 256 Zuckmayer, Carl 176
367 Zweig, Arnold 87 Zweig, Stefan 5, 236, 246–248, 256 f., 289