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German Pages [240] Year 2021
John-Stewart Gordon
Moralische Orientierung
Eine kurze Philosophie des guten Lebens VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495825525
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John-Stewart Gordon Moralische Orientierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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John-Stewart Gordon
Moralische Orientierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
This book is not only a philosophical guide to the good life in times of disorientation, but also a tribute to philosophy and the relevance of philosophical thought to our everyday lives. The ancient philosopher Socrates once said that a life that is not questioned is not worth living. By this he means that one must always critically question one’s own actions and the ethical-moral orientation of one’s life or one’s own way of life. What should I do? How can I live a good life? What actions should I avoid and how can I become a morally better person? What are the foundations of morality? In which state does the best life thrive best? These and similar questions are at the centre of the book. No question is more important than the question of what the good life is and what kind of person we really want to be. What is our purpose in life? We human beings are not moral islands, but we are all dependent on each other. Against the background of the history of philosophy, some positions on the topic of the good life are presented, which can either help people in difficult times or – depending on their needs – give them the opportunity to reorient themselves in order to live a better life. The idea is that the book should provide orientation.
The Author: John-Stewart Gordon was born in Westerland on the island of Sylt (1976) and has lived on the Curonian Spit in Nida in Lithuania since 2016. He studied philosophy and history at the University of Konstanz and received his doctorate in Göttingen. He is currently a professor of philosophy at Vytautas Magnus University in Kaunas and is doing research stays at Oxford University on a regular basis. In his numerous academic publications, which have appeared in leading international journals and book publishing companies, he deals mainly with topics in practical philosophy. The present book Moral Orientation. A Brief Philosophy of the Good Life is his first more popular scientific publication.
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Das vorliegende Buch ist nicht nur ein philosophischer Ratgeber mit Blick auf das gute Leben in Zeiten der Orientierungslosigkeit, sondern eine Hommage an die Philosophie und die Relevanz des philosophischen Denkens für unser alltägliches Leben. Der antike Philosoph Sokrates hat einmal gesagt, dass ein Leben, das nicht hinterfragt wird, nicht lebenswert sei. Damit meint er, dass man seine eigenen Handlungen und die ethisch-moralische Ausrichtung seines Lebens bzw. seiner eigenen Lebensweise stets kritisch hinterfragen muss. Was soll ich tun? Wie kann ich ein gutes Leben führen? Welche Handlungen sollte ich vermeiden und wie werde ich ein moralisch besserer Mensch? Was sind die Grundlagen der Moral? In welchem Staat gedeiht das beste Leben am besten? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt des Buches. Keine Frage ist wichtiger als die Frage danach, was das gute Leben ist und welche Person wir wirklich sein wollen. Was ist unsere Bestimmung im Leben? Wir Menschen sind keine moralischen Inseln, sondern aufeinander angewiesen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Philosophie werden einige Positionen zum Thema des guten Lebens vorgestellt, die den Menschen entweder in schwierigen Zeiten weiterhelfen können oder ihnen – je nach Bedarf – die Gelegenheit geben, sich neu zu orientieren, um ein besseres Leben zu leben. Das Buch, so die Idee, soll also Orientierung geben.
Über den Autor John-Stewart Gordon ist in Westerland auf Sylt geboren (1976) und lebt seit 2016 auf der Kurischen Nehrung in Nida in Litauen. Er hat an der Universität Konstanz Philosophie und Geschichte studiert und wurde in Göttingen promoviert. Derzeit ist er Professor für Philosophie an der Vytautas Magnus Universität in Kaunas und ist regelmäßig im Rahmen von Forschungsaufenthalten an der Universität Oxford. In seinen zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, die in international führenden Zeitschriften und Buchverlagen erschienen sind, behandelt er vor allem Themen aus der Praktischen Philosophie. Das vorliegende Buch Moralische Orientierung. Eine kurze Philosophie des guten Lebens ist seine erste stärker populärwissenschaftliche Publikation.
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Gefördert von der Vytautas Magnus Universität, Kaunas
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverabbildung: © Alexstar/Adobe Stock Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-495-49233-8 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82552-5
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Meiner Frau
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist nicht nur ein anspruchsvoller philosophischer Ratgeber mit Blick auf das gute Leben in Zeiten der Orientierungslosigkeit, sondern eine Hommage an die Philosophie und die Relevanz des philosophischen Denkens für unser alltägliches Leben. Der antike Philosoph Sokrates hat einmal gesagt, dass ein Leben, das nicht hinterfragt wird, nicht lebenswert sei (Platons Apologie). Damit meint er, dass man seine eigenen Handlungen und die ethisch-moralische Ausrichtung seines Lebens bzw. seiner eigenen Lebensweise stets kritisch hinterfragen muss. Was soll ich tun? Wie kann ich ein gutes Leben führen? Welche Handlungen sollte ich vermeiden und wie werde ich ein moralisch besserer Mensch? Was sind die Grundlagen der Moral? In welchem Staat gedeiht das beste Leben am besten? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt des Buches. Keine Frage ist wichtiger als die Frage danach, was das gute Leben ist und welche Person wir wirklich sein wollen. Was ist unsere Bestimmung im Leben? Zur besseren Lesbarkeit habe ich – bis auf einige Ausnahmen – darauf verzichtet, die Quellen im Text anzugeben, so wie es im stärker populärwissenschaftlichen Bereich üblich ist. Die Bibliographie enthält jedoch die wichtigsten Werke. Mein besonderer Dank gilt Kristine Kress, die das gesamte Manuskript sehr genau gelesen und mir viele wertvolle Hinweise gegeben hat, wie ich meine Überlegungen noch stärker populärwissenschaftlich fassen kann, ohne dabei meine akademische Herkunft zu verleugnen. Ebenfalls möchte ich mich ganz herzlich bei Leonie Schöbel bedanken, die mir etliche gute Tipps gegeben hat. Last, not least, danke ich einem sehr guten Freund, dem Theologen JohannChristian Pöder, für wichtige Gespräche mit Blick auf einige Themen des Buches. Philosophieren bedeutet, sich auszutauschen und bereit zu sein, voneinander zu lernen. Der Vytautas Magnus Universität danke ich herzlich für die Übernahme der Druckkosten. 9 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Dem Verlag Karl Alber, insbesondere Herrn Martin Hähnel, danke ich für die Aufnahme des Titels in das Verlagsportfolio. Mein ganz besonderer Dank gilt jedoch meiner geliebten Frau Julia. John-Stewart Gordon Vytautas Magnus Universität (VDU), Oktober 2020
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Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!« . . . . . . . . . . . . . . 1. Das unmoralische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozio-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung . . . . . . . . . . . . 3. Veränderung – aber wie? . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Die Natur der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
16 16 18 51
. . . .
57 57 59 76 80
. .
92
IV. Die Frage nach dem guten Leben . . . . . . . . . . .
94 95 117 143 158
1. 2. 3. 4. 5.
Über die Natur der Moral . . . . . . . . . . . . . . Was soll ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was tun die Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Grundlagen der Ethik? . . . . . . . . Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem guten Leben und der Moral? . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
1. 2. 3. 4.
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben . . . Das Mittelalter und die Frage nach dem guten Leben Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben . Was ist das gute Leben? . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
V.
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch? . . . 169
1. Warum moralisch sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral . . . . . . 171 3. Auf den Punkt gebracht . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
11 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Inhaltsverzeichnis
VI. Quo Vadis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. 2. 3. 4.
Guter Mensch gleich guter Bürger? . . . . . . Das Kollektiv: Kommunismus und Faschismus Das Individuum: Liberale Demokratie . . . . Ende gut, alles gut? . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
197 201 218 226
Endnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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I. Einleitung
Alle Menschen, so sagte bereits der griechische Philosoph Aristoteles, streben von Natur aus nach Glückseligkeit. Ich möchte Sie auf eine philosophische Reise mitnehmen, die Ihnen aufzeigt, welche Möglichkeiten es gibt, wie wir unsere Leben ethisch und moralisch besser gestalten können. Wie kann ich in Zeiten der sozialen und politischen Orientierungslosigkeit ein moralisch anständiger Mensch bleiben und dennoch ein tugendhaftes Leben führen? Was ist die Natur der Moral? Schließen sich Ethik und Moral aus? Kann ein tugendhaftes Leben auch ohne moralische Ansprüche gelingen? Welche Staatsform muss ein Staat haben, damit ich als Individuum ein gutes und glückliches Leben führen kann? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt des Buches, das viele philosophische Aspekte enthält, mit denen ich mich als Philosoph schon seit etlichen Jahren beschäftige. Es gibt natürlich einige sehr bekannte zeitgenössische deutsche Philosophen, die extrem auflagenstarke und sehr erfolgreiche populärwissenschaftliche Bücher geschrieben haben. Dazu zählen Autoren wie zum Beispiel der Germanist Richard D. Precht und die Philosophen Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk, Pascal Mercier (alias Peter Bieri), Wilhelm Vossenkuhl sowie der Astrophysiker und Naturphilosoph Harald Lesch. Doch warum schreiben so wenige Fachkollegen für die breite Öffentlichkeit und verlassen so selten den sogenannten Elfenbeinturm der Philosophie? Gewiss, man hat sich dort gut eingerichtet, man kennt einander und man ist eben unter sich. Ein wenig wie ein elitärer, etwas verstaubter englischer Club. Doch eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie besteht eben auch im Wissenstransfer und in der philosophischen Begegnung. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch auch ein Experiment, miteinander ins philosophische Gespräch zu kommen. Ob dieses Experiment glücken wird, hängt natürlich letztendlich von Ihnen als Leser ab. 13 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Einleitung
In erster Linie ist das Buch an diejenigen gerichtet, die Spaß am Denken und an der Philosophie haben, ohne entsprechende Vorkenntnisse zu besitzen. Darüber hinaus sollten sie ein gesteigertes Interesse daran haben, sich mit Fragen des guten Lebens auseinander zu setzen, da dieses Buch ein philosophischer Ratgeber ist, der sich mit der Frage beschäftigt, worin eigentlich das gute Leben besteht und welche moralischen Ansprüche wir einhalten sollten, um miteinander auszukommen. Wir Menschen sind keine moralischen Inseln, sondern aufeinander angewiesen. Wir leben in einer aufregenden und sich immer schneller entwickelnden Zeit. Wir schätzen die enormen Vorzüge der Industrialisierung, Technisierung und Digitalisierung unserer Lebenswelt und haben mehr oder weniger »gelernt«, mit den Nachteilen wie der Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Einschränkung der Privatsphäre, dem Verlust von Autonomie, Missbrauch von privaten Daten etc. zu leben. In Europa herrscht derzeit die längste Friedensperiode in der Geschichte der Menschheit. Doch der Schein trügt. Weltweit sind wir mit kriegerischen Konflikten, Genoziden, religiös und rassistisch motiviertem Fanatismus, Terrorismus, Sklaverei, organisiertem Verbrechen und dem Aufkommen von Fake News sowie Populismus konfrontiert. Hinzu kommt das alltägliche unmoralische Verhalten vieler Menschen. Diese und ähnliche Phänomene gefährden zunehmend das soziale Miteinander von Menschen und von ganzen Gesellschaften. Das Buch soll den Menschen zum einen als ein moralischer Leitfaden im Zeitalter der Orientierungslosigkeit dienen und zum anderen eine konkrete Hilfestellung geben, wie man ein gutes und moralisches Leben führen kann. Wenn wir versuchen, ein individuell gutes Leben zu führen und uns gleichzeitig darum bemühen, moralisch bessere Menschen zu werden, dann haben wir bereits einen ersten Schritt getan, nicht nur uns, sondern auch unsere soziale Umwelt ein Stück weit positiv zu verändern. Es liegt mir jedoch fern, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Dies ist nicht meine Aufgabe. Allerdings möchte ich Ihnen vor dem Hintergrund der Geschichte der Philosophie einige Schlaglichter zum Thema des guten Lebens vorstellen, die Ihnen entweder in schwierigen Zeiten weiterhelfen können oder 14 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Einleitung
Ihnen – je nach Bedarf – die Gelegenheit geben, sich neu zu orientieren, um ein besseres Leben zu leben. Das Buch, so die Idee, soll Ihnen also Orientierung geben. Sie sind natürlich herzlich dazu eingeladen, sich meine philosophische Position zu eigen zu machen oder eben entsprechend abzuwandeln. Dies ist einer der Vorzüge meines Buches. Selbst wenn Sie mit dem, was dargestellt wird, gar nichts anfangen können, was hoffentlich nicht passiert oder bestimmte Punkte ablehnen, was mit Sicherheit der Fall sein wird, werden Sie dennoch viel für sich selbst aus dem Buch herausziehen können. Allein die aktive Auseinandersetzung mit der hier vorgetragenen Position wird Sie in die Lage versetzen, Ihr Leben bzw. Teile Ihres Lebens neu zu überdenken und vielleicht besser auszurichten. Wenn ich dies mit meinem Buch erreicht habe, habe ich meinen kleinen Beitrag dazu beigesteuert, mit Ihnen ins philosophische Gespräch zu kommen. Gehen wir es an!
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II. Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
1. Das unmoralische Zeitalter Stellen Sie sich vor, dass Sie sich in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon befinden und seelenruhig am Hafen flanieren. Das Problem ist nur, dass Sie nicht heute, sondern am 1. November des Jahres 1755 Spazierengehen. Sie haben keine Chance. An diesem Tag ereignete sich eine der größten Naturkatastrophen in der Moderne in Europa und kostete ca. 100.000 Menschen von ca. 275.000 Einwohnern der Stadt das Leben. Das Erdbeben hatte ganz erhebliche negative politische, wirtschaftliche und kulturelle Folgen für das gesamte Land. Die Katastrophe von Lissabon wurde von vielen Philosophen der Aufklärung wie von Voltaire (1694–1778) und Immanuel Kant (1724–1804) sowie von bedeutenden Schriftstellern wie Gotthold E. Lessing (1729–1781) und Johann W. Goethe (1749– 1832) aufgegriffen und philosophisch bzw. literarisch verarbeitet. Die grundlegende Frage, die sich den Autoren und den damaligen gottesfürchtigen Menschen stellte, war die nach dem sogenannten Theodizeeproblem. Was hat es damit auf sich? Das Theodizeeproblem ist bereits sehr alt und greift die Frage auf, wie es sein kann, dass es so viel Übel in der Welt gibt, wenn man davon ausgeht, dass es einen allgütigen und allmächtigen Gott gibt, der sich um seine Schöpfung und die Geschicke seiner Geschöpfe sorgt. Wie kann man vor diesem Hintergrund noch von der Gerechtigkeit Gottes sprechen, wenn so viele Menschen wie in Lissabon sterben mussten? Gibt es dafür eine überzeugende Rechtfertigung, die Gott insgesamt in seiner Verantwortung freispricht? Oder gab es etwa einen göttlichen Plan für Lissabon, den wir nicht kennen? Eine zufrieden stellende Antwort auf das Theodizeeproblem gibt es bis heute nicht, auch wenn es natürlich viele unterschiedliche Begründungsversuche im Kontext der Philosophie und 16 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das unmoralische Zeitalter
Theologie gegeben hat. Doch waren die Lissabonner denn so moralisch unschuldig? Wenn man um die damalige Geschichte Lissabons im Kontext des internationalen Sklavenhandels weiß, dann weiß man auch, dass Lissabon einer der größten Umschlagplätze für afrikanische Sklaven in Europa war. Hier wurde das Schicksal von etlichen Hunderttausend afrikanischer Menschen besiegelt. Lebenslange Zwangsarbeit, Erniedrigung, Folter und Tod. Was sind da, so könnte Gott entgegnen, 100.000 Lissabonner? Wer moralische Schuld auf sich geladen oder davon profitiert hat, der wird auch, so die göttliche Vorstellung gemäß dem Heiligkeitsgesetz 1, zur Verantwortung gezogen. Nach dem Erdbeben spielte Lissabon für den Sklavenhandel jedenfalls keine bedeutende Rolle mehr. 2 Auch für Theodor W. Adorno (1903–1969) war die Naturkatastrophe von Lissabon ein dramatisches Ereignis. Er glaubte, dass sie die gesamte europäische Kultur und Philosophie – ähnlich wie es beim Holocaust gewesen ist – nachhaltig »transformiert« hat. 3 Adorno war einer der bedeutendsten deutsch-jüdischen Philosophen und Soziologen der Nachkriegszeit und ein öffentlich anerkannter intellektueller Kopf. Durch eine Vielzahl von öffentlichen Vorträgen und Radiobeiträgen half er erfolgreich dabei mit, die deutsche Bevölkerung nach dem Nationalsozialismus wieder moralisch zu erneuern. Dies brachte ihm viel Lob und öffentliche Anerkennung ein. Neben dem berühmten Philosophen Max Horkheimer, der sein Mentor war, war er einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule. Die Frankfurter Schule war eine Gruppe von Wissenschaftlern, die im Rekurs auf Georg W. F. Hegel (1770–1831), Karl Marx (1818– 1883) und Sigmund Freud (1856–1939) die Stärken und Schwächen des Kapitalismus kritisch untersuchten und sich darüber hinaus für sozialistische Ideen in der Gesellschaft stark machten. In vielerlei Hinsicht ist das vorliegende Kapitel auf Grund der Beispiele recht düster. Leider ist dies jedoch für unser Vorhaben, wie wir unsere Leben besser gestalten können, unverzichtbar, da wir zunächst den Status Quo darstellen müssen. Glauben Sie mir, gern würde ich das Buch anders beginnen. Was können wir also fortan tun, damit wir unser Leben in Zeiten der Orientierungs17 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
losigkeit besser gestalten können? Um hierauf eine Antwort zu geben, werde ich im Folgenden zunächst eine knappe aber dennoch gehaltvolle philosophische Kritik mit Blick auf die aktuellen sozial-politischen Herausforderungen anstellen. Klarerweise ist hier keine Vollständigkeit angestrebt, was schlechthin auch nicht möglich wäre. Anstatt dessen werde ich mich in der Darstellung auf einige grundlegende moralische Probleme beschränken, die deutlich machen sollen, was gemeint ist. Eine Beschreibung der allgemeinen Situation ist notwendig, um in einem nächsten Schritt aufzuzeigen, wie wir als Gesellschaft und als Individuum wieder aus dieser schwierigen Lage herauskommen. Was sind also die besonderen sozial-politischen Herausforderungen unserer Zeit und was können wir dagegen tun?
2. Sozial-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung Die ersten beiden Abschnitte haben eine etwas andere Stoßrichtung als die übrigen Teile. Während es bei den ersten beiden Punkten darum geht, philosophische Aufklärungsarbeit zu leisten, kommen in den anderen vier Abschnitten sozial-politische Herausforderungen zur Sprache, die von jedem vernünftigen Menschen als klar unmoralisch angesehen werden (sollten). Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Darstellung der folgenden Punkte nicht vollständig ist, sondern lediglich eine Auswahl einiger wichtiger Schlaglichter darstellt. An dieser Stelle geht es eher darum, die Atmosphäre zu beschreiben, die als Hintergrund für unsere Frage nach dem guten Leben fungiert.
1. Globalisierung Die meisten Menschen haben eine recht ungenaue Vorstellung davon, was Globalisierung eigentlich ist. Andere wiederum meinen, ganz genau zu wissen, was Globalisierung bedeutet und werden nicht müde, ihr Lied vom Ende des Abendlandes zu singen. 18 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Sozial-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung
Hinzu kommt, dass letztere dazu noch den Begriff Pluralismus (die Vorstellung, dass unterschiedliche Interessen und Lebensweisen in einer Gesellschaft friedlich nebeneinander existieren können) aufgreifen, ihn negativ umdeuten und beide Begriffe als Kampfbegriffe in der öffentlichen Diskussion verwenden. Es kommt zu einer Verkehrung der Dinge. Die Bedeutungen der Begriffe werden verkürzt und ihre negative Seite überbetont, wobei die Vorteile nahezu vollständig unerwähnt bleiben. Die Gegner der Globalisierung und des Pluralismus haben gewonnen: Ein verzerrtes und geradezu surreales Bild hat sich tief in den Köpfen der Allgemeinheit festgesetzt und lässt sich nunmehr schwer wieder korrigieren. Dies ist eine echte sozial-politische Herausforderung. Grundsätzlich kann man sagen, dass wir Menschen ohne Globalisierung nicht dort wären, wo wir heute sind. Globalisierung ist ohne jeden Zweifel der Motor menschlicher Entwicklung. In diesem Sinne ist Globalisierung so alt wie die Menschheit selbst. Es ist keine Erfindung der Moderne. Es gibt zumindest drei große zusammenhängende Bereiche, die von der Globalisierung besonders betroffen sind: Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Kultur sowie die Umwelt. Im Folgenden stelle ich die drei Bereiche in knappen Zügen dar und gehe dabei auch auf einige Vor- und Nachteile im Rahmen der Globalisierung und des Pluralismus ein. Es versteht sich von selbst, dass die Bereiche nicht trennscharf sind, sondern sich überlappen und gegenseitig beeinflussen. Die Bedeutung von wirtschaftlichen und politischen Interessen mit Blick auf Globalisierung kommt insbesondere im Kontext der Kolonialisierung von Afrika und Amerika (Nord-, Mittel- und Südamerika) zum Vorschein. Die Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze und ihrer Menschen, die millionenfach versklavt wurden, bilden neben der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der westlichen Zivilisation in der Neuzeit. Dies ist eine unumstößliche Tatsache. Globalisierung – in Form von Kolonialisierung – ist ein zweischneidiges Schwert. Bis in die Neuzeit hinein – und teilweise auch noch bis in die Gegenwart – kommt es zu politischer Unterdrückung, Ausnutzung und Sklaverei. Dies sind ohne Zweifel die großen Schattenseiten der Globalisierung, die wir niemals verges19 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
sen sollten. Die Einen gewinnen und die Anderen verlieren. Doch nicht nur die Kolonialisierung und Inbesitznahme fremder Länder in der Neuzeit gehört zur Geschichte der Globalisierung. Bereits in der Antike können wir folgende Beispiele für Globalisierung finden: Zum einen das makedonische Reich im Zeitalter des Hellenismus unter Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.), das von Griechenland bis Indien reichte. Zum anderen das Römische Reich, das während seiner größten Ausdehnung in den Jahren von 115 bis 117 n. Chr., während der Herrschaft (ab 98 n. Chr.) des Kaisers Trajan (53–117 n. Chr.), alle Länder des Mittelmeers sowie teilweise daran angrenzende Länder und große Teile Englands einschloss. Darüber hinaus gab es aus ganz unterschiedlichen Gründen zahlreiche Völkerwanderungen, die nicht nur in Europa, sondern auch in Eurasien stattgefunden haben. So kam es seit der Antike mehrfach zu einer Vermischung ganzer Volksstämme oder zu ihrer Auslöschung wie bei den nordischen Stämmen der Kimber und Teutonen, die auf Grund von Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen mussten und in kriegerischen Auseinandersetzungen mit Rom um 100 v. Chr. aufgerieben wurden. Die Mär von einer homogenen Bevölkerung hat sich bereits seit einigen 10.000 Jahren überholt, was man übrigens wissenschaftlich jederzeit durch eine Analyse seiner eigenen Gene überprüfen kann. Vermutlich werden Sie erstaunt sein, doch Ihr genetischer Code wird zwischen 5–12 unterschiedliche Ethnien sowie 1–3 % Neandertaler-Gene enthalten. Mit Blick auf die wirtschaftliche Globalisierung kennen wir alle die berühmte Geschichte des italienischen Händlers Marco Polo (1254–1324), der vor allem durch seine Chinareise bekannt geworden ist. Auch die Wikinger (um 800–1050) sind hier zu nennen, die sowohl eifrige Händler waren als auch durch ihre unzähligen Raubzüge und ausgedehnten Seefahrten in die Geschichte eingingen (und dabei Amerika noch vor Columbus entdeckten). Doch das bedeutendste Beispiel der wirtschaftlichen Globalisierung im Mittelalter ist die Deutsche Hanse (12.–17. Jahrhundert), die eine Vereinigung von hauptsächlich norddeutschen Kaufleuten war und deren Mitglieder vor allem in der Ostsee und Nordsee mit großem Erfolg Handel betrieben. In der 20 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Sozial-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung
Folge kam es zu einem enormen Wohlstand der sogenannten Hansestädte, ihrer Bevölkerung und der Händler. Die Deutsche Hanse hatte ebenfalls eine große politische und kulturelle Wirkung in ihrem gesamten Einflussgebiet. Die Grundmotive der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung sind der Handel (wirtschaftliche Vorteile), Macht und Einfluss (politische Vorteile) sowie die unbändige Neugier, fremde Länder zu bereisen, andere Menschen und fremde Kulturen kennenzulernen. Letzteres Motiv spielt vor allem im Kontext der Bereiche Gesellschaft und Kultur eine bedeutende Rolle. Die positiven Seiten der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung bestehen in einem nie dagewesenen globalen Wissenstransfer und in einer beispiellosen Steigerung der Lebensqualität – zumindest in vielen Teilen der Welt. Die wirtschaftlichen Vorzüge, gemeinsam Handel zu treiben, eine gemeinsame Währung zu haben und sich gemeinsamer Standards zu verpflichten (denken Sie an die DIN Normen), sind echte Vorteile, die nicht nur der eigenen Gemeinschaft, sondern auch dem Einzelnen zu Gute kommen. Die Entdeckung und Ausbreitung der universellen Menschenrechte gehört zu den Großleistungen des menschlichen Verstands und ist einer der wesentlichen Vorzüge der politischen Globalisierung. Ob, und wenn ja, inwiefern sich unterschiedliche Kulturen mit der Menschenrechtsdoktrin vereinbaren lassen, ist ein klassisches Thema, das nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik und in den einzelnen Gesellschaften kritisch diskutiert wird. Es gibt unterschiedliche Adaptionen der Menschenrechte, die kultursensitiv sind und auf die unterschiedlichen Kontexte Rücksicht nehmen. Menschenrechte sollten nicht als westlicher Imperialismus – als eine Art Neuauflage des alten Kolonialismus – missverstanden werden, nur weil sie im Westen »entdeckt« worden sind. Wer sich mit dem feinen Unterschied von Genese und Geltung auskennt, der weiß natürlich, dass etwas Geltung haben kann, auch wenn die Genese nicht im eigenen Land erfolgt ist: Das Periodensystem ist bekanntlich eine Auflistung der chemischen Elemente und wurde im Jahr 1869 von zwei Chemikern, dem Russen Dmitri Mendelejew (1834–1907) und etwas später vom Deutschen Lothar Meyer (1830–1895), un21 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
abhängig voneinander entdeckt (Genese). Die Gültigkeit der chemischen Elemente ist jedoch nicht auf Russland und Deutschland begrenzt, sondern gilt eben überall (Geltung). Die gesellschaftliche und kulturelle Globalisierung findet in der Regel zeitverzögert mit Blick auf die wirtschaftliche und politische Globalisierung statt. Die intensiven Kontakte im Rahmen des wirtschaftlichen Austausches, politischer Allianzen und militärischer Auseinandersetzungen führen dazu, dass fremde Ideen, Gedanken und kulturelle Leistungen in die je eigene Kultur übernommen werden, wenn sie insgesamt als vorteilhaft betrachtet werden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In Deutschland benutzen wir arabische Zahlen, lateinische Schriftzeichen und haben das Demokratieverständnis der westlichen Siegermächte übernommen. Letzteres wurde am Anfang natürlich aufoktroyiert, später allerdings, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, begeistert aufgenommen und ausgelebt. Wir genießen nunmehr alle Vorzüge eines liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Systems. Dies ist eine sehr positive Entwicklung. Die kulturelle Globalisierung kann jedoch auch negative Folgen haben, wenn es zum Beispiel darum geht, seine eigene Religion über andere zu stellen und es in der Folge zu einer Ausdehnung der jeweiligen Einflusssphäre kommt. Was ist damit gemeint? Im 7. Jahrhundert fand eine islamische Expansion statt, die unter anderem das Heilige Land (Jerusalem), aber auch Teile von Nordafrika, Südspanien und Italien (Sardinien) betraf. In der Folgezeit kam es zu kleineren Scharmützeln, lokalen Auseinandersetzungen und Zeiten des Status Quo. Einige Jahrhunderte später setzte jedoch die massive Rückeroberung der vormals christlichen Gebiete unter der Federführung des Papsttums ein. Papst Urban II. rief am 27. November 1095 zum ersten Kreuzzug gegen den Islam auf. Es galt das Christentum zu verteidigen und die Heiligen Gebiete wieder zu christianisieren. Mehrere Kreuzzüge wurden zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert organisiert, wobei es allein sieben offizielle Orientkreuzzüge gab, darüber hinaus jedoch noch weitere kleinere Kreuzzüge. Beide Seiten verzeichneten erhebliche Verluste und es wurde nicht immer
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Sozial-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung
ritterlich miteinander umgegangen (vor allem christliche Ritter folgten nicht immer ihrem Ehrenkodex). Ein weiteres Beispiel: Die politische und wirtschaftliche Globalisierung Afrikas – und des amerikanischen Kontinents – wurde oftmals durch die Motive der kulturellen Überlegenheit und der eigenen ethnischen Höherwertigkeit gegenüber der dortigen als primitiv betrachteten Bevölkerung begründet. Dies ist das sogenannte Zeitalter des Kolonialismus, das vom Ende des 15. Jahrhunderts bis teils in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reicht (zahlreiche afrikanische Staaten wurden erst dann in ihre politische Unabhängigkeit entlassen). Auswärtige Länder wurden in Besitz genommen, Teile der Bevölkerung entweder getötet, versklavt oder zu willfährigen Untertanen gemacht. Symptomatisch für unmenschliche Gräueltaten im Zeitalter des Kolonialismus war zum einen die belgische Herrschaft König Leopolds II. im Kongo. Er wütete während seiner uneingeschränkten Herrschaft derart brutal, dass ca. 10 Millionen Kongolesen bis zum Jahre 1908 eines nicht-natürlichen Todes starben, was etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung war. Als dies einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, musste er den Kongo, der zuvor sein Privatbesitz gewesen ist, an den belgischen Staat abgeben. Zum anderen kam es zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, als sich die Volksstämme der Herero und Nama (1904– 1908) gegen ihre deutsche Unterdrückung zur Wehr setzen wollten. Mit Unterstützung des Deutschen Kaisers, Wilhelms II. (1859–1941), der von einem »Platz an der Sonne träumte« und ein eifriger Verfechter des Kolonialismus war, wurden die beiden aufsässigen Volksstämme in der deutschen Kolonie (DeutschSüdwestafrika) nahezu vollständig aufgerieben. Dabei kamen ca. 80.000 Menschen ums Leben. Grundsätzlich kann man sagen, dass beide Ereignisse von den Vereinten Nationen nicht als Völkermord eingestuft werden. Mit Blick auf den Kongo sind sich die Experten uneins, da das Motiv der extremen wirtschaftlichen Ausbeutung nicht zur allgemeinen Definition eines Völkermords passt, wenn es darum geht, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Mit Blick auf die Volksstämme der Herero und Nama erkennt das 23 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
Auswärtige Amt seit 2015 zwar die Gräueltaten nunmehr als Völkermord an, doch Deutschland hat sich als Staat offiziell nicht förmlich bei Namibia dafür entschuldigt, noch deren Reparationsforderungen zugestimmt. 4 Ohne jeden Zweifel ist dies eine schwere politische und moralische Schande. Es gibt jedoch auch eine Vielzahl von positiven Seiten der gesellschaftlichen und kulturellen Globalisierung, die wir allerdings erst im Laufe des 20. Jahrhunderts und der aktuellen Gegenwart als wirklich vorteilhaft und wünschenswert erfahren. Folgende Beispiele sind hier wesentlich: Der gesamte Demokratisierungsund Liberalisierungsprozess innerhalb unserer Gesellschaften ist hier zu nennen (politische Partizipationsrechte, Freiheitsrechte, offene Märkte etc.), die Aufhebung der Rassentrennung in den USA, das Ende des Apartheidssystems in Südafrika, Frauenrechte, Rechte für Menschen mit Behinderung und der Beginn der sexuellen Gleichberechtigung (LGBTQ+). Dies alles sind bedeutende gesellschaftliche Umwälzungen, die man als unbedingt positiv beschreiben muss. Gesellschaftlicher und kultureller Austausch auf Augenhöhe ist das Maß aller Dinge. Das Thema Umwelt und Globalisierung ist nicht nur ungemein bedeutsam, sondern auch für das Überleben des Menschen im höchsten Maße relevant. Es gibt jedoch auch hier positive und negative Aspekte, die man beachten muss. Die globale Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert hat nicht nur für einen enormen technologischen Entwicklungsfortschritt gesorgt, sondern gleichzeitig das Problem der globalen Umweltverschmutzung auf den Plan gerufen. Der Anstieg der globalen, von Menschen verursachten Erwärmung ist gewaltig und wird unsere Lebensweise ohne Zweifel nachhaltig verändern. Die jungen Umweltaktivisten der Fridays for Future-Bewegung sind ein deutliches Kennzeichen dafür, dass wir diese Gefahr endlich ernst nehmen müssen. Die sogenannte Klimajugend sendet einen globalen und unüberhörbaren Weckruf an uns alle, nunmehr unverzüglich tiefgreifende und umfassende Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen. Ein weiterer positiver Aspekt von Globalisierung und Umwelt ist der Tier- und Artenschutz. Es gibt mittlerweile ausgedehnte Naturschutzgebiete in der ganzen Welt und eine 24 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Vielzahl von Tierarten – wie einige Wale, Elefanten und Schimpansen – sind vor dem ungeregelten Abschuss geschützt. Die Koordination und Umsetzung solcher globaler Initiativen sind vor dem Hintergrund einzelstaatlicher Lösungen unmöglich. Es braucht die Kompetenz und Expertise der gesamten Staatengemeinschaft, wenn es um die Organisation und Durchführung von Umweltmaßnahmen im globalen Stil geht. Die obige Darstellung mag bei vielen Menschen durchaus geteilte Gefühle hinterlassen haben, da ich am Anfang betont habe, dass Globalisierung äußerst positiv ist. In der Beschreibung wurden jedoch einige recht beunruhigende Beispiele im Rahmen von Globalisierung angeführt, die der anfänglichen Behauptung zu widersprechen scheinen. Wie passt das zusammen? Der entscheidende Punkt dabei ist, dass wir es heutzutage mit einer aufgeklärten Globalisierung zu tun haben, die die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden sucht. Die Menschen haben sich in den unterschiedlichen Gesellschaften bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hin insgesamt positiv entwickelt. Auch wenn es derzeit noch erhebliche globale Unterschiede gibt, sollten wir anerkennen, dass wir es in den letzten 3.000 Jahren durchaus weit gebracht haben. Grundsätzlich gilt, dass fast nirgendwo mehr jemand wegen einer angeblichen Verhexung oder wegen der »falschen« Religion verbrannt wird; es gibt politische Partizipations- und Freiheitsrechte; es gibt universelle Menschenrechte; man versucht, Konflikte zwischen Staaten auf eine festgelegte Weise zu lösen; und es gibt in der Regel eine unabhängige und unparteiische Rechtsprechung. Dies sind sehr bedeutende menschliche Errungenschaften. Gewiss, die Errungenschaften der Menschen sind nicht in einem linearen Prozess entstanden, sondern sie wurden in der Regel durch viele Auf und Abs – in einem teils sehr mühevollen und blutigen Prozess – erworben. Die Gegner der Globalisierung verkennen jedoch die enormen Vorzüge der Globalisierung für die moderne Gesellschaft und das jeweilige Individuum. Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, wenn wir auf die Globalisierung verzichten würden oder wenn wir den Motor Globalisierung in den Leerlauf schalteten oder, noch schlimmer, wenn wir die Errungenschaften der Globalisierung – 25 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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zumindest in Teilen – zurücknehmen würden. Welche Auswirkungen hätte dies? Worauf müssten wir dann verzichten? Ausländische Waren (Warum sollte man eigentlich Kleidung kaufen, die nicht in Deutschland hergestellt wird?), ausländisches Essen und Getränke (Warum sollte man italienisch, französisch oder chinesisch essen wollen, wenn es doch eine gute deutsche Küche gibt? Und warum sollte man französische oder italienische Weine trinken, wenn es doch ganz ordentliche deutsche Alternativen gibt?), Reisen in entfernte Länder (Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?), Internet (Warum sollte man sich dafür interessieren, was außerhalb unserer Landesgrenzen passiert?) und des Deutschen liebstes Kind »Kaffee« (Warum sollte man eigentlich Kaffee trinken, wenn es doch andere deutsche Alternativen gibt? Übrigens, Tee und heiße Schokolade gibt es dann natürlich auch nicht mehr.). Das Leben, wie wir es kennen, gäbe es dann nicht mehr. Wollen wir wirklich die Zeit zurückdrehen und auf so viele lieb gewonnene Dinge verzichten? Was wäre dann mit dem gesamten Bereich der Wissenschaft, Forschung und Entwicklung? Soll es dann zum Beispiel eine reine Deutsche Physik geben, wie es noch die Nationalsozialisten gefordert hatten? Gewiss, es gibt viele Nachteile der Globalisierung und man kann vieles auf sinnvolle Weise verbessern – zum Beispiel häufiger auf lokale Nahrungsmittel zurückgreifen –, doch das Rad der Geschichte zurückdrehen, wie es oftmals von Rechts gefordert wird, erscheint nicht nur weltfremd, sondern philosophisch dumm zu sein. Viele Menschen fürchten sich davor, ihre eigene Lebensweise, Kultur und Tradition zu verlieren, wenn sie sich dem Pluralismus und der Globalisierung öffnen. Doch dies ist eine irrige Vorstellung. Es hat niemals in der Geschichte der Menschheit so etwas wie eine starre Lebensweise, unveränderliche Kultur und fest zementierte Tradition gegeben. Es gab immer einen Austausch zwischen den Menschen, ihren Kulturen und einander fremden Gesellschaften. Die Frage ist nur, was man in die eigene dynamische kulturelle Entwicklung aufnehmen will. In der Regel, und damit haben die Kritiker durchaus recht, ist dies kein gesteuerter Entscheidungsprozess, sondern geschieht oftmals einfach 26 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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nur zufällig. Doch was man im Allgemeinen feststellen kann, ist, dass nicht alles fraglos übernommen wird, sondern durchaus ein Willensbildungsprozess am Wirken ist. Zum Beispiel: Deutschland ist immer noch ein sozial-liberaler Staat und hat zumindest den Anspruch, sich auch um die Schwächsten in der Gesellschaft zu kümmern. Es gibt ein recht ordentliches Sozialversicherungssystem (zumindest im Vergleich mit vielen anderen Staaten) und jedem wird ärztlich weitergeholfen, auch wenn er nicht unbedingt krankenversichert ist. Denken sie jetzt einmal daran, wie es wäre, wenn wir US-amerikanische Verhältnisse in Deutschland hätten. Globalisierung bedeutet eben nicht alles frag- und gedankenlos zu übernehmen, sondern in vielen Dingen mit Bedacht zu implementieren. Dies gilt sowohl für die Gesellschaft als auch für das individuelle Leben. Menschen waren dem Fremden gegenüber, so die Entwicklungsforschung, schon immer vorsichtig, da diese Strategie insbesondere in früheren Zeiten überlebenswichtig war. In recht ländlichen Gegenden Deutschlands und »auf der Alb« galt dasselbe Prinzip bei vielen Nachbardörfern noch eine lange Zeit. Vorbei sind jedoch die Zeiten, in denen die Bewohner abgelegener Dörfer den gleichen Nachnamen teilen. Und das ist gut so. Und auch heute noch sagen wir zu unseren Kindern, dass sie nicht mit Fremden – also Menschen, die sie nicht kennen – mitgehen sollen. Mit anderen Worten: Man sollte eine aufgeklärte Globalisierung befürworten und nicht alles fraglos übernehmen, was einem angeboten wird. Sie wählen ja auch nicht in einem Restaurant alles blind aus, sondern essen und trinken normalerweise, was ihnen gefällt. Natürlich kann man auch beim Essen und Trinken experimentieren, genauso wie eine Gesellschaft mit unterschiedlichen sozial-politischen Vorstellungen experimentieren kann. Am Ende werden sich jedoch nur diejenigen Dinge gesellschaftlich durchsetzen, die von allen oder zumindest den meisten akzeptiert werden. Der einzelne mag tun, was ihm gefällt, solange er keine Rechte von Dritten verletzt. Und dies, so bleibt zu konstatieren, ist ebenfalls eine Errungenschaft der Globalisierung.
27 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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2. Migration – The Other Während es 2016 noch 3.500 Fälle gab, sank die Zahl 2019 auf 1.700. Was ist damit gemeint? Bei den Fällen geht es um gewaltsame Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte mit Brandsätzen und Sprengfallen sowie teils schwere Körperverletzung von Flüchtlingen einschließlich von Frauen und Kindern. 5 Hinzu kommen für 2018 20.431 und für 2019 22.337 rechtsextremistisch motivierte Straftaten in Deutschland. 6 Dies sind verstörende Zahlen. Die Dunkelziffer der gedemütigten und nur leicht verletzten Personen wird vermutlich deutlich höher liegen. Doch wer sind eigentlich die Opfer? Viele von ihnen stammen aus Nordafrika oder fliehen vor den militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten (zum Beispiel Syrien) und haben ohne jeden Zweifel unsägliches Leid erfahren. Im schlimmsten Fall – und dies trifft durchaus häufiger zu, als man im Allgemeinen annimmt – waren insbesondere Frauen und Kinder bereits von erheblicher Gewalt betroffen, bevor sie in Deutschland in einer vermeintlich sicheren Unterkunft untergebracht werden. Nicht nur in ihren Heimatländern, sondern auch auf der Flucht werden viele von ihnen vergewaltigt und gedemütigt, so dass etliche von ihnen stark traumatisiert in Deutschland ankommen. Wie kann es vor diesem Hintergrund sein, dass ein Teil unserer Mitbürger ihnen zusätzlich körperliche und psychische Gewalt antut? Was geht in solchen Menschen vor? Wie kann man dies vor sich selbst rechtfertigen? Welche »moralischen« Überlegungen können eine Person dazu motivieren, den bereits am Boden liegenden Mitmenschen, der nichts hat, weiter und immer weiter zu demütigen und zu schlagen? Oder ihn in einigen Fällen auch zu töten bzw. seinen Tod billigend in Kauf zu nehmen? Viele Menschen in Europa haben Angst davor, dass ihre Lebensweise, ihre Kultur und ihr hoher Lebensstandard durch die Einwanderung von Menschen gefährdet werden, die nicht nur anders aussehen, eine andere Sprache sprechen, eine fremde Lebensweise und Kultur haben, sondern auch durch andere soziale, moralische und religiöse Werte bestimmt werden. Dies wird nicht als Bereicherung, sondern als unmittelbare Gefahr angesehen. 28 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Diese Xenophobie wird durch die Rechte in Europa weiter genährt. Rechte Verschwörungstheorien und Fake News finden Zustimmung in immer größeren Teilen der Bevölkerung. Der rechte Populismus in Deutschland und Europa stößt immer häufiger auf allgemeine Zustimmung und prägt die Sichtweise eines nicht unerheblichen Teils der Öffentlichkeit. Es wird vor Überfremdung und der Ausnutzung des Sozialstaats gewarnt, vor einer ansteigenden Kriminalitätsrate und es wird sich für einen baldigen Bürgerkrieg in Deutschland gewappnet. Wenn ein solches Klima herrscht und der Rechtsstaat auf einem Auge etwas schwächer sieht, dann ist es nicht mehr weit vom Fackelzug zur Hatz und von der Hatz zum Lager. Wir haben es derzeit, ob wir es wollen oder nicht, mit einer Radikalisierung der Massen zu tun bzw. mit einem Versuch dieser. Diesbezüglich kommt dem bekannten Fall von Oury Jalloh, dem schwarzen Asylbewerber, der sich im Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle selbst in Brand gesteckt haben soll, obgleich seine Hände und Füße gefesselt waren, besondere Bedeutung zu. Vorher, so die forensischen Gutachter einige Jahre später, hat er jedoch – so könnte man sagen – noch »das Kunststück« vollbracht und sich selbst den Schädel eingeschlagen. Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Dieser Vorgang sollte einen aufgeklärten Bürger, der noch ein gesundes Rechtsempfinden hat, durchaus nachdenklich stimmen. Oh tempora, Oh mores! Was für Zeiten, was für Sitten! Kriege, politische Verfolgung, Androhung von Folter gegenüber misswilligen Personen, wirtschaftliche und soziale Missstände sind vermutlich die häufigsten Gründe, warum jemand die Strapazen auf sich nimmt und seine Heimat verlässt. Es geht in der Regel um das nackte Überleben. Es wird in Europa klassifiziert: Kommen die Menschen aus einem anderen Land in Europa oder, wie in den oben genannten Fällen, aus dem nicht-europäischen Ausland? Innerhalb von Europa gilt die Freizügigkeit, außerhalb Europas gelten besondere Bestimmungen mit Blick auf die Einwanderung. Politische und wirtschaftliche Gründe sind hier die bestimmenden Faktoren für einen Asylantrag. Peter Singer, der einer der wirkmächtigsten Philosophen der 29 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Gegenwart ist, hat sich in der zweiten Auflage seiner einflussreichen Einführung Praktische Ethik (1994) ebenfalls in dem Kapitel Die drinnen und die draußen mit dem Flüchtlingsthema auseinandergesetzt. Singer ist der Meinung, dass die Interessen der Flüchtlinge auf Grund ihrer misslichen Lage Vorrang vor den Interessen der Einwohner der Aufnahmeländer haben. Die Absenkung des allgemeinen Lebensstandards in den westlichen Industrienationen, so Singer, ist moralisch gesehen nur ein kleiner Preis, den wir zu zahlen bereit sein sollten, wenn es darum geht, anderen Menschen in Not zu helfen. Dies gilt nach Singer auch dann, wenn man die indirekten Folgen in den Blick nimmt: Das Risiko einer Destabilisierung des Aufnahmelandes oder der Weltordnung oder das eines verpassten Aufschwungs. Nach Singer sollten die reichen Länder mehr tun und sehr viel mehr hilfsbedürftige Flüchtlinge aufnehmen. Ohne Zweifel sind die Kosten für die Versorgung und Unterbringung sowie die Verwaltungs- und Gerichtskosten im Kontext der Aufnahme und Rückführung von Flüchtlingen durchaus nicht niedrig, jedoch auch nicht so hoch, dass wir zum Beispiel befürchten müssen, auf unseren sehr hohen Lebensstandard in Deutschland zu verzichten. Diesbezüglich erinnere ich nur an die Hunderten von Milliarden Euro, die im Zuge der Finanzkrise und derzeit im Rahmen der Coronakrise aufgewendet werden. Bis vor kurzem war der deutsche Staat sogar in der Lage, mehrere Jahre hintereinander einen jährlichen Überschuss von 30–50 Milliarden Euro zu erzielen. Auch wenn diese Zeiten nun auf Grund der Coronakrise vorbei sind, zeigt es dennoch, dass es in der Regel nicht an knappen Kassen, sondern am mangelnden politischen Willen liegt, wenn sich ein finanzstarker Staat entscheidet, entweder nicht zu helfen oder zumindest nicht in einem moralisch angemessenen Rahmen. Dies ist in der Regel eine ethisch-politische und keine wirtschaftliche Entscheidung. Deutschland hat mehr als andere Staaten in Europa dazu beigetragen, das Leid der Menschen in der sogenannten Flüchtlingskrise zu lindern, doch wir müssen uns mit Singer und anderen klugen Köpfen fragen, ob wir in Europa auch genug tun. Darüber hinaus erscheint es unverständlich, warum man nicht in einem viel größeren Maße ver30 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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sucht, die Talente, Fähigkeiten und Fertigkeiten jener Menschen für die Aufnahmestaaten nutzbar zu machen. Anstatt dessen werden die Flüchtlinge häufig in überfüllten Zentren weggesperrt und dürfen nicht arbeiten, so lange ihr Status ungeklärt ist. Es wäre aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen vernünftiger, dafür Sorge zu tragen, dass jene Menschen frühzeitig in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dies ist sowohl für den Staat – es werden Steuern gezahlt – als auch für die Person, die für ihren eigenen Unterhalt aufkommt, doppelt positiv. Hinzu kommt, dass man sich nur in der Begegnung mit anderen besser kennenlernen kann. Der bekannte zeitgenössische US-amerikanische Philosoph Michael Walzer sieht dies anders, gleichwohl er sich für das Recht stark macht, diejenigen, die es geschafft haben und einwandern dürfen, mit einem Recht auf vollständige Einbürgerung zu versehen. Walzer geht jedoch von sehr viel strengeren Regeln für die Einwanderung aus, so dass die Anzahl von Flüchtlingen, die Anspruch auf Asyl haben, deutlich geringer ist. Für alle anderen hilfsbedürftigen Menschen sieht es schlechter aus. Staaten sollten zwar, so Walzer, Menschen in großer Not Schutz gewähren, doch das bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie auch das Recht haben, aufgenommen zu werden. Nur diejenigen, die politisch verfolgt sind und nachweislich nicht mehr in ihrem eigenen Land leben können, ohne Gefahr zu laufen, getötet zu werden, sollten die Möglichkeit haben, dauerhaft aufgenommen zu werden. Allen anderen Menschen wie zum Beispiel den wirtschaftlich Notleidenden kann der Eintritt verwehrt werden. Letztendlich hat, so Walzer, jede politische Gemeinschaft das moralische Recht, anderen den Zugang zum eigenen Staatsgebiet zu verwehren. Als Kommunitarist glaubt Walzer daran, dass dies dem Zweck dient, die eigene Kultur, Lebensweise, Freiheit, Wohlfahrt und Politik für die Gemeinschaft zu bewahren. Die Gemeinschaft, so Walzer, zeichnet sich eben dadurch aus, dass die in ihr lebenden Menschen sich einander verbunden fühlen und die gleiche Vorstellung davon haben, wie man leben sollte. Mit Recht ist Walzers Position von anderen Philosophen scharf kritisiert worden. Die Rede von einer homogenen Wertegemein31 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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schaft, deren Mitglieder einander verbunden fühlen und gleiche Vorstellungen davon haben, was das gute Leben ist, ist stark überzogen. Noch nicht einmal in den kleinen griechischen Stadtstaaten der Antike war dies der Fall, gleichwohl hier der innere Zusammenhalt der Menschen wegen der vielen Krisen und der kleinen Größe der Stadtstaaten vermutlich noch am größten gewesen sein dürfte. Es gab auch in der Antike einen Pluralismus mit Bezug auf das gute Leben. Sparta bildet eine Ausnahme, doch die Menschen der Gegenwart sind keine Spartaner. Die Interessen, Wünsche und Lebensvorstellungen der modernen Menschen, die in einer pluralistischen Welt aufwachsen, sind alles andere als homogen. Selbst die Vorstellung davon, was Freiheit, Gerechtigkeit oder Wohlfahrt etc. ist und wie man diese am besten ausgestalten sollte, ist keineswegs einheitlich. Der überaus bekannte jüdisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas (1905–1995) wurde in Kaunas geboren und hat die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich verbracht. Er hat ein unglaubliches Oeuvre zu ganz unterschiedlichen philosophischen Themen hinterlassen und ist auch einer breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt. Wie kein anderer hat er den Begriff »des Anderen« in der Ethik geprägt. Levinas kehrt die Beziehungsverhältnisse von Ontologie (die Lehre vom Sein) und Ethik um und glaubt, dass die Ethik aller Ontologie vorausgeht. Wir Menschen, so Levinas, haben somit eine besondere Verpflichtung gegenüber unseren Mitmenschen – »dem Anderen«. Das Antlitz »des Anderen« ist demnach der Urgrund der moralischen Verpflichtung. Wenn Menschen also in Not geraten und hilfsbedürftig sind, dann ergeht an uns eine besondere moralische Pflicht, jenen zu helfen. Mit anderen Worten: Wenn eine gefesselte Person in einer Polizeizelle in Flammen aufgeht, Fackelmärsche stattfinden, Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesetzt werden, die körperliche Integrität von Schutzsuchenden gefährdet ist und deutsche Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen, bedroht und umgebracht werden, dann – so scheint es – haben wir es mit einer überaus bedrohlichen gesellschaftlichen Situation zu tun, die die demokratischen Grundwerte der Gemeinschaft untergraben. »Der Andere« wird nicht mehr als ein Mensch oder eine Person betrachtet, sondern 32 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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als rechtloser mythischer Volksfeind, den es zu vertreiben oder zu vernichten gilt. Es lebe die Festung Europa, es lebe die Festung Deutschland. Hoffen wir, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Wir sollten alles daran setzen, uns wieder moralisch zu erneuern und unsere Stärke nicht nur den Schwächsten in unserem Land, sondern allen Hilfsbedürftigen gemäß unseren Kräften auch anderswo zukommen zu lassen. Es liegt viel Weisheit in dem bekannten Ausspruch, dass sich mit großer Macht auch große moralische Verantwortung einstellt.
3. Organisiertes Verbrechen Der französische Philosoph Voltaire (1694–1778) hat in seinem Werk Candide oder die beste aller möglichen Welten (1759) die bekannte Aussage des deutschen Philosophen Gottfried W. Leibniz (1646–1716), dass die Welt, in der wir leben, die beste aller möglichen Welten ist, aufs Korn genommen. Auch wenn Voltaire Leibniz missverstanden hat, ist seine Kritik an ihm in die Geschichte der Philosophie eingegangen. Es gibt zwei Gründe, warum die Kritik wenig überzeugend ist: Zum einen geht Leibniz nicht von der naiven Idee aus, dass die aktuelle Welt die beste aller möglichen Welten ist, sondern dass die Welt das Potential hat, sich zur besten aller möglichen Welten zu entwickeln. Zum anderen weist Leibniz mit Recht auf den Umstand hin, dass das Gute in einem notwendigen Zusammenhang mit dem Übel steht. Mit anderen Worten: Es gibt kein Gutes ohne das Übel und umgekehrt. Man kann das Gute nicht ohne Rekurs auf das Übel beschreiben. Es sind, logisch gesehen, zwei Seiten einer Medaille. Wenn wir uns also fragen, ob die heutige Welt die beste aller möglichen Welten ist, dann müssen wir wohl freimütig einräumen, dass wir noch weit davon entfernt sind. Das organisierte Verbrechen existiert, weil sich der moderne liberale Staat selbst Regeln unterworfen hat, gegenüber allen Menschen fair zu spielen und seine Macht nicht auszunutzen. Gewiss, das heißt natürlich nicht, dass der demokratische Rechtsstaat Verbrechen nicht 33 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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ahndet; eher, dass er nach den Regeln spielt und nur anklagt und verurteilt, wenn eindeutige Beweise vorliegen. Es braucht klare und überzeugende Beweise mit Blick auf Straftaten, die vor Gericht geahndet werden können. Zum Beispiel: Alle wussten, dass Al Capone ein übler Gangsterboss in Chicago war, doch man konnte ihm seine Verbrechen lange Zeit nicht nachweisen. Sein Name ist geradezu mit dem Begriff der organisierten Kriminalität verbunden. Verurteilt wurde er schließlich nicht wegen seiner Drogengeschäfte, Prostitution, Glücksspiel, Schutzgelderpressung oder der Morde, die er in Auftrag gab, sondern weil man ihm lediglich Steuerhinterziehung (Geldwäsche) nachweisen konnte. Welch’ eine Ironie des Schicksals. In einer Diktatur, die keine gemeinsame Sache mit dem organisierten Verbrechen macht, sieht dies anders aus. Warum ist das so? Auf dem Staatsgebiet einer Diktatur, so zumindest der Anspruch, darf nur das stattfinden, was auch mit den Vorgaben der Diktatur übereinstimmt. Andernfalls wird sehr hart und sehr schnell durchgegriffen. Die Diktatur kann selbst die Krone des organisierten Verbrechens sein, doch sie duldet eben keine anderen einflussreichen Kräfte neben sich. Wenn die Gewaltenteilung aufgehoben ist, hat es das organisierte Verbrechen naturgemäß schwerer, wenn es zu Konflikten mit dem Staat kommt. Die Erfolgsgeschichte von Al Capone wäre zum Beispiel im Nationalsozialismus und im Stalinismus nicht möglich gewesen. Ohne Zweifel hätte es eine Bartholomäusnacht gegeben. Mit anderen Worten: Man hätte ihn und seine Gefolgschaft einfach umgebracht. Heißt das nun, dass wir uns gegen das organisierte Verbrechen nur mit den Mitteln einer Diktatur zur Wehr setzen können? Oder ist der liberale Rechtsstaat noch in der Lage, für Ordnung zu sorgen und seine Bürger vor den Übergriffen der organisierten Kriminalität zu schützen? Weltweit leben noch über 50 Mio. Menschen in der Sklaverei, es gibt Drogenhandel, Human Trafficking und Zwangsprostitution, ein Heer von räuberischen Schleuserbanden, Schutzgelderpressung und vieles mehr. Dies bedeutet für die unglücklich Betroffenen nicht nur unsägliches Leid, ein miserables Leben, Folter und Tod, sondern auch, dass die Gemeinschaft – der Staat – sie im 34 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Stich lässt. Sie sind auf sich allein gestellt und ein gutes Leben ist ihnen in den allermeisten Fällen verwehrt. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die davon profitieren und jene unterdrücken. Dies sind die organisierten Verbrecherbanden wie zum Beispiel einige Rockerbanden, die sogenannten Clans in Deutschland oder politische Terrororganisationen wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) etc. Der liberale Rechtsstaat weiß normalerweise, was vorgeht, muss aber nach den demokratischen Regeln spielen. Er kann in der Regel nur dabei zusehen, wie das organisierte Verbrechen handelt, ohne eine rechtliche Handhabe zu haben, aktiv einzugreifen, wenn nicht alles lückenlos bewiesen werden kann. Vor Gericht – und dies ist auch gut so – muss ja alles klar und deutlich beweisbar sein. Gewiss, hin und wieder kommt es zu einem großen Schlag gegen das organisierte Verbrechen, der dann medienwirksam aufbereitet wird, um der Bevölkerung zu zeigen, dass der Staat noch wehrhaft ist und etwas gegen die organisierte Kriminalität tut. Ist dies jedoch ausreichend oder brauchen wir andere Mittel, um der Sache Herr zu werden? Es steht viel auf dem Spiel. Meiner Ansicht nach hat der liberale demokratische Rechtsstaat keine geeigneten Mittel, sich erfolgreich gegen das organisierte Verbrechen dauerhaft durchzusetzen, sondern wird auf Grund seiner selbstgewählten Beschränkung immer im Nachteil sein. Dies ist ein unauflösbares systemimmanentes Problem. Die oberste Priorität eines jeden Staates besteht im Schutz seiner Bürger und ihres Privateigentums vor äußeren und inneren Angriffen, wie schon der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) in seinem politischen Hauptwerk Leviathan (1651) deutlich gemacht hat. Darüber hinaus ist es eine Frage der sozialpolitischen Ausrichtung, auf welche Weise ein Staat eingerichtet werden soll. Will die Gemeinschaft zum Beispiel einen liberalen Sozialstaat, wie ihn unter anderem der US-amerikanische politische Philosoph John Rawls (1921–2002) in seinem weltbekannten Buch Theorie der Gerechtigkeit (1971) beschrieben hat? Oder geht es der Gemeinschaft eher um einen sogenannten Nachtwächterstaat bzw. Minimalstaat, wie ihn Robert Nozick (1938– 2002) als Antwort auf Rawls in seinem ebenfalls bedeutenden 35 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Buch Anarchie, Staat, Utopia (1974) vorstellt? Diese Fragen sind bedeutsam, da die jeweilige Staatsform den sozial-politischen Spielraum der Bürger bestimmt. Zum Beispiel: In einem Minimalstaat gibt es keine oder nur sehr wenige soziale Hilfsprogramme für in Not geratene Bürger. Dies ist jedoch bei einem liberalen Sozialstaat, der in der Regel über viele Hilfsprogramme verfügt, anders. Es gibt also einen klaren sozial-politischen Unterschied zwischen beiden Staatsformen. Doch was ist, wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger und ihr Eigentum zu beschützen? Wenn zum Beispiel ausländische Clans in Berlin »einen auf dicke Hose machen« und mit Zwangsprostitution und Drogenhandel ihr Geld zu Lasten der Bevölkerung verdienen? Wenn Rockerbanden Schutzgeld erpressen und am hellichten Tag Menschen ermorden? Was soll man tun? Nach Hobbes verliert der Staat genau dann jegliche Daseinsberechtigung, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger und ihr Eigentum zu beschützen und die öffentliche Ordnung nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Mit anderen Worten: Der Staat ist zum Scheitern verurteilt, wenn er seine genuinen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Der Ruf nach einer Bartholomäusnacht wird immer lauter und lauter und mit Recht stellt man sich die Frage, warum der Staat nicht härter durchgreift. Die organisierte Kriminalität ist eine der größten sozial-politischen Herausforderungen des modernen Staates und der moderne liberale Rechtsstaat ist auf Grund seiner spezifischen Natur nicht mehr in der Lage, die Freiheit aller Bürger angemessen zu beschützen. Diese Einsicht ist ernüchternd. Die These der sogenannten »wehrhaften Demokratie« ist – auch in den Augen anderer Autoren – ein frommer Wunsch und damit genauso real wie Einhörner. Das Paradoxon der Demokratie ist, dass der demokratische Rechtsstaat unfähig ist, sich im Kampf gegen die Feinde der Demokratie durchzusetzen und wirklich erfolgreich zu sein. Doch welche Alternativen haben wir? Wenn wir nicht wieder das Rad der Geschichte zurückdrehen und eine faschistische Diktatur errichten wollen, dann bleibt uns nur noch der Ausweg, den liberalen demokratischen Rechtsstaat im Namen der Demokratie massiv zu stärken und aufzurüsten. 36 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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4. Radikalisierung der Massen Würden Sie eine Präsidentschaftskandidatin wählen, die einen geheimen Kinderpornoring unterhält? Nein, vermutlich nicht. Während des US-Wahlkampfes in 2016 wurde Hilary Clinton mit dieser Unterstellung, die sich rasend schnell über das Internet verbreitet hatte, diffamiert. Oder: Der Irak hat Massenvernichtungswaffen und das Leben vieler Menschen steht unmittelbar auf dem Spiel. Was folgte, war ein beispielloser Krieg der Staatengemeinschaft gegen den Irak, der von den US-Truppen angeführt wurde. Es starben viele Menschen, das Land stürzte ins Chaos und liegt immer noch politisch wie wirtschaftlich am Boden und ist religiös zerstritten. Solche und ähnliche Falschnachrichten werden als Fake News bezeichnet und haben das Potential, nicht nur die Existenz und Reputation von einzelnen Menschen zu zerstören, sondern ganze Länder zu vernichten. Derzeit gibt es vermutlich keine größere Gefahr für das soziale und friedliche Zusammenleben von Menschen. Das Internet ist ein zweischneidiges Schwert. Es ermöglicht die Vernetzung von Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die ähnliche Interessen haben; es versorgt den User mit einer Vielzahl von nützlichen Informationen und aktuellen Nachrichten; das geballte Wissen der Menschheit ist über das Internet abrufbar; und wir können miteinander kommunizieren, ohne dass es einen zeitlichen Verzug gibt. Dies sind nur einige wenige der wirklich vielen positiven Dinge, die wir dem Internet verdanken. Das Internet kann jedoch auch zum Nachteil und Schaden von Personen, Personengruppen und ganzen Staaten verwendet werden. Fake News und Populismus fluten die sozialen Medien wie Facebook, Twitter und WhatsApp und untergraben damit nicht nur unsere grundlegenden Werte, sondern auch unsere Demokratie und unser Demokratieverständnis. Dies ist eine überaus gefährliche Situation. Wenn die Volksseele kocht, so kann man sagen, gibt es kein Halten mehr. Während des US-Wahlkampfes in 2016 haben wir die dunkle Seite von Fake News und Populismus kennengelernt. Das Ergebnis kennen wir alle. Dabei wurden 37 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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nicht nur gezielte Lügen verbreitet, sondern auch bereits vorhandene Ressentiments zwischen den unterschiedlichen Ethnien in den USA weiter geschürt, um eine explosive und revolutionäre Stimmung zu erzeugen. Für die soziale Eintracht in einer Gemeinschaft gibt es nichts Schlimmeres. Verschwörungstheorien, Fake News und Populismus sind die Hauptwaffen der neuen Rechten im Kampf um die Meinungshoheit. Sie sind bestens im Internet organisiert und vernetzen sich problemlos über Landesgrenzen hinweg. Eine Situation für den liberalen demokratischen Rechtsstaat, die gefährlicher für sein Überleben nicht sein kann. Und auch der aufgeklärte Bürger kommt nicht mehr hinterher, den Wahrheitsgehalt jeder Information zu überprüfen. Die Flut der täglichen Nachrichten macht dies unmöglich. Gewiss, wir haben gelernt, den Wahrheitsgehalt der meisten Nachrichten vor dem Hintergrund unserer Lebenserfahrung richtig einzuschätzen und entsprechend zu klassifizieren. Kommt uns etwas merkwürdig vor, überprüfen wir dies in der Regel und verbreiten eine Nachricht nur, nachdem wir davon überzeugt sind, dass sie richtig ist. Jedenfalls sollte dies der moralische Anspruch sein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es Fake News gibt, die man als Normalbürger nicht mehr ohne weiteres überprüfen kann. Hier sind die herkömmlichen Medien gefragt, auch wenn dies für sie einen erheblichen Mehraufwand bedeutet. Die Medien haben nunmehr die Möglichkeit, unter Beweis zu stellen, dass sie mit Recht die vierte und legitime Macht im Staat sind. Wenn Sie bei Facebook angemeldet sind, dann sollten Sie nicht glauben, dass Ihnen unabhängig von Ihren Interessen und Likes andere Informationen und Nachrichten objektiv präsentiert werden. Als Facebook-User leben Sie in einer sogenannten Bubble. Ein Algorithmus sorgt dafür, dass Ihnen in der Regel nur solche Informationen gezeigt werden, die Ihren Interessen, politischen Einstellungen, Likes und Hobbies etc. entsprechen. Mit anderen Worten: Ihre Informationen und Nachrichten werden vom System auf der Grundlage Ihrer früheren Entscheidungen entsprechend zensiert und gefiltert. Ich nenne dies das Booking.comPrinzip. Wir alle kennen das. Sie wollen zum Beispiel eine Reise 38 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Sozial-politische Herausforderungen und ihre philosophische Perspektivierung
nach Rhodos machen und gucken sich einige Hotels auf booking. com an. Auch Tage später erhalten Sie noch unterschiedliche Angebote und Specials von booking.com, die direkt mit Ihrer ursprünglichen Suchanfrage verbunden sind. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Antiislamismus stehen bei der neuen Rechten im Mittelpunkt ihrer über das Internet orchestrierten Flut von Verschwörungstheorien und Fake News. Es soll Zwietracht und Zweifel in der Bevölkerung gesät werden. Eine starke moralische Gemeinschaft kann man nicht gut bekämpfen. Man muss zunächst den Zusammenhalt der Mitglieder schwächen und kann dann dort ansetzen, wo Zweifel herrscht und unterschiedliche Überzeugungen aufeinander treffen. Das Thema der Flüchtlinge bietet einen solchen Ansatzpunkt. Die neue Rechte wird nicht müde, das Thema für ihre eigenen Interessen auszuschlachten. So werden Flüchtlinge nicht nur zu Unrecht mit einer überhöhten Kriminalitätsrate, sondern aktuell auch noch im Rahmen der Coronakrise in Verbindung gebracht. Oder sie wird von Rechtsextremen in den USA dazu genutzt, um die Gesellschaft zu spalten und kollabieren zu lassen, um einen »weißen Ethno-Staat« zu errichten. 7 Dies ist im hohen Maße unmoralisch und niederträchtig. Gewiss, nicht jeder, der als Flüchtling nach Deutschland kommt, hat eine lupenreine Weste und verhält sich stets anständig und immer ordnungsgemäß. Rechtliche Übertretungen müssen, wie bei jedem deutschen Staatsbürger auch, entsprechend geahndet und gerichtlich entschieden werden. Ein Beispiel: Ein sehr guter Freund von mir, der ebenfalls von Deutschland nach Litauen ausgewandert ist und auch auf der Kurischen Nehrung wohnt, ist genauso wie ich liberal und Flüchtlingen gegenüber aufgeschlossen. Er glaubt jedoch im Gegensatz zu mir – und hier steht er nicht alleine da –, dass sich diejenigen, die sich hilfesuchend an ein anderes Land wenden und dort aufgenommen werden, aus Dankbarkeit besser verhalten müssen als die Einwohner des Aufnahmelandes. Dies ist nicht nur philosophisch gesehen eine absurde Behauptung, sondern geht auch anthropologisch gesehen an der Wirklichkeit der menschlichen Natur vorbei. Das wäre genauso, als wenn sie von einem Men39 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
schen verlangen wollten, von Hamburg nach München zu fliegen, ohne ein Flugzeug zu nehmen. Jeder Mensch hat nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen und macht Fehler. Natürlich kommen nicht nur Engel nach Deutschland. Und natürlich ist es auch richtig, dass man die Gastfreundschaft nicht ausnutzen und keine Verbrechen begehen sollte. Doch ein Verhalten zu verlangen, das über das hinaus geht, was die eigene Bevölkerung zeigt bzw. anthropologisch gesehen zeigen kann, bedeutet, dass man Personen moralisch überfordert. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass nicht Staatsbürger, sondern Individuen Verbrechen begehen. Sollten diese Verbrechen jedoch unsägliches Leid wie zum Beispiel im Fall von Vergewaltigung, Mord oder räuberischer Erpressung über andere bringen, dann steht es natürlich jeder Gemeinschaft frei, die betreffenden Personen – nach der Abgeltung ihrer Strafe – wieder in das Heimatland abzuschieben. Dies gilt auch unabhängig davon, was dieser Person dann in ihrem Heimatland droht. Verschwörungstheorien, Fake News und Populismus hat es schon immer gegeben, doch das Internet hat die Gefahren, die daraus erwachsen, ins Unermessliche potentiert. Menschen werden getötet, Regime fallen. Die Geschwindigkeit, mit der sich jene Falschinformationen im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden ausbreiten, hat eine gänzlich andere Qualität erreicht. Dies ist ein echter »game changer«. In der Regel stimmen liberale Philosophen wie ich dem österreichischen Philosophen Karl Popper (1902–1994) mit Blick auf seine an Platon formulierte Kritik in seinem denkwürdigen Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) zu. Platon glaubt, dass man zum Beispiel Bücher zensieren sollte, um die öffentliche Meinung von »falschen« Gedanken frei zu halten, was Popper entschieden ablehnt. Diesbezüglich könnte man fragen, was eigentlich »falsche« Gedanken sind? Ist alles, was gegen den Staat gerichtet ist, falsch? Und was ist, wenn der Staat eine grausame Diktatur ist? Oder wenn sich jene Gedanken gegen eine bestimmte Religion richten? Hat die Inquisition das Recht, abweichende Gedanken zu unterdrücken und diejenigen zu verfolgen, die anders denken? Dies sind wichtige Fragen, über die man sich in der 40 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Gemeinschaft verständigen muss. Ich denke, dass Poppers Platonkritik nicht dahingehend interpretiert werden sollte, dass sie ebenfalls Fake News einschließt. Die demokratiegefährdende Wirkung von bestimmten Falschnachrichten hat einen anderen Kontext und sollte daher entsprechend hart bestraft werden. Vor dem Hintergrund der weitreichenden negativen Folgen für die Demokratie haben bereits einige Staaten entsprechende Gesetze verabschiedet, um das absichtliche Verbreiten von Fake News unter Strafe zu stellen und der Lage wieder Herr zu werden. Wenn wir diesen Kampf verlieren, verlieren wir nicht nur unsere Lebensweise, sondern opfern unsere fundamentalen Werte wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenwürde, Solidarität und Mitgefühl sowie soziale Eintracht und Menschlichkeit. Am Ende steht die Radikalisierung der Massen und Anarchie.
5. Fanatismus, Extremismus und Terrorismus Es ist unmöglich, die feinen Nuancen zwischen den Begriffen Fanatismus, Extremismus und Terrorismus in diesem knappen Abschnitt klar und deutlich zu beschreiben und darüber hinaus ihre unterschiedlichen Beziehungsverhältnisse darzustellen. Gleichwohl möchte ich an Hand von einigen geläufigen Beispielen versuchen, den jeweiligen Kerngedanken in den Blick zu nehmen. Ich verlasse mich dabei auch auf Ihre Intuition und Erfahrung. Was ist Fanatismus? Denken Sie an die christlichen Kreuzzüge im Mittelalter. Die Päpste wollten die zunehmende Islamisierung stoppen und den Islam wieder aus Europa zurückdrängen, das Heilige Land und Jerusalem zurückerobern und natürlich ihre politische und wirtschaftliche Macht ausdehnen und festigen. Ohne Zweifel kann man sagen, dass diejenigen, die in den Kreuzzügen auf Seiten der christlichen Truppen kämpften, in hohem Maße motiviert waren, da ihnen nicht nur ihre Sünden vergeben wurden, sondern die Möglichkeit bestand, sehr viel Geld zu verdienen (wenn man es dann noch ausgeben konnte). Der Eifer und Ansporn der Menschen war teils so groß, dass ihr religiöser Fanatismus oftmals in unvorstellbaren Gräueltaten endete. Es wurden 41 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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dann nicht nur die Männer in der Schlacht getötet, sondern auch ihre Frauen und Kinder vergewaltigt und abgeschlachtet. Alles im Namen und zur Ehre Gottes. Die Gegner des christlichen Heeres wurden nicht mehr als Menschen angesehen. Man konnte daher alles mit ihnen tun, wenn man die Gelegenheit dazu hatte. Die Rechtfertigung stammt nämlich direkt von Gott: »Deus lo vult!«. Gott will es, so Papst Urban II. auf der Synode von Clermont im Jahr 1095, auf der er zum ersten Kreuzzug der Christenheit aufrief. Gewiss, die Gegenseite – die Araber – waren ebenfalls nicht gerade zimperlich, wenn es darum ging, den Krieg zu gewinnen. Doch es gibt viele Quellen und anerkannte Historiker, die darauf hinweisen, dass die Araber normalerweise Frauen und Kinder verschonten und in der Regel auch die Männer nicht getötet haben, wenn zum Beispiel eine Stadt aufgab. Die religiösen Fanatiker des Mittelalters, die Anhänger der religiösen Terrorgruppen wie zum Beispiel die des sogenannten Islamischen Staats im Irak und in Syrien (IS) und von Al-Quaida glauben, dass sie im alleinigen Besitz der Wahrheit sind und sich alle anderen im Irrtum befinden. Die Ketzer müssen daher zur höheren Ehre Gottes entweder bekehrt oder vernichtet werden. Heutzutage haben wir keinen Zugang mehr zur komplexen Gedankenwelt des christlichen Mittelalters. Wir können uns einfach nicht mehr vorstellen, wie es ist, Menschen zu verbrennen, weil es heißt, dass sie einen bösen Blick haben oder sich die Zeichen einer Hexe bei einer Person feststellen lassen. Wir glauben nicht mehr an die Plausibilität des Hexenhammers (1486) von Heinrich Kramer (um 1430–1505), dem berühmten Dominikaner, der mit seinem Buch die Hexenverfolgung legitimierte. Wir haben Probleme, uns in diese Zeit und die Mentalität der Menschen hineinzuversetzen. Uns fällt es erheblich leichter, herauszufinden, wie die Anhänger von IS und Al-Quaida ticken. Auch wenn beide Terrororganisationen keine Hexen verfolgen, ähnelt ihre religiöse Mentalität der der Menschen des Mittelalters. Der eigene Glaube ist der einzig richtige und alle anderen müssen entweder bekehrt werden oder sterben. Dies ist religiöser Fanatismus. Der Unterschied zwischen den Kreuzzügen und den modernen Terrornetzwerken ist, dass die christlichen Kreuzfahrer – im Gegensatz zu IS 42 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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und Al-Quaida – keine Terroristen gewesen sind, auch wenn sie mit Sicherheit viel Terror verbreitet haben. Was ist Extremismus? In Deutschland hatten wir die Rote Armee Fraktion (RAF), die eine linksextremistische Vereinigung war und zwischen 1970 und ihrer Selbstauflösung im Jahr 1998 aktiv gewesen ist. Die drei Generationen der RAF haben vor allem Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung im Blick gehabt, um dem kapitalistischen System zu schaden und ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. »Kollateralschäden« wie der Tod von Unbeteiligten oder Personenschützern und Polizeibeamten wurden bei ihren Anschlägen billigend in Kauf genommen. Auf der anderen Seite gab es den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der eine kleine rechtsterroristische Vereinigung gewesen ist und zwischen 2000 und 2007 etliche Morde und Mordversuche aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven begangen hat. Ihre Mitglieder waren Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Sie konnten sich jedoch auf zahlreiche Unterstützung aus dem rechtsextremen Bereich verlassen. Der Unterschied zwischen beiden Formen des Extremismus zeigt, warum der deutsche Staat immer etwas genauer nach Links als nach Rechts geschaut hat. Der Linksextremismus hat die staatlichen Institutionen direkt angegriffen, indem ihre Anhänger vor allem die führenden Köpfe aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung attackiert haben. Die Rechtsextremisten haben normalerweise »nur« Menschen mit Migrationshintergrund oder Ausländer getötet, jedoch keine deutschen Führungspersonen staatlicher Institutionen. 8 Das langfristige Ziel des Rechtsextremismus ist auch weiterhin die Infiltration und Übernahme des Staates sowie die Neuerrichtung einer an rechten Idealen ausgerichteten faschistischen Gemeinschaft. Erst die Ermordung des bekannten und beliebten Politikers Walter Lübcke (1953–2019), der vor allem durch sein Engagement für Flüchtlinge und als Kritiker von Pegida bekannt war, hat die staatlichen Institutionen dazu gebracht, sehr viel genauer und mit erheblichem Nachdruck gegen die neuen Rechten vorzugehen. Ob der Einsatz jedoch zu spät kommt, wird allein die Zukunft zeigen. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass die RAF und der 43 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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NSU nicht nur extremistische Gruppen, sondern auch Terrorvereinigungen gewesen sind. Letzteres kann man daran festmachen, dass die Mitglieder Anschläge verübt haben. Sie wollten Angst schüren und Chaos stiften. Mit anderen Worten: Sie wollten Terror verbreiten. Was ist Terrorismus? Weiter oben habe ich bereits einige Beispiele für Terrorismus genannt: Die islamistischen Terrorgruppen ISIS und Al-Quaida und die beiden extremistischen terroristischen Vereinigungen RAF und NSU. Darüber hinaus gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Terroristen, die mehr oder weniger alleine handeln und im Namen ihres religiösen Wahns oder ihrer rechten Ideologie Anschläge verüben. In Europa und insbesondere in England, Frankreich und Deutschland ist es in den letzten Jahren gehäuft zu terroristischen Anschlägen von islamistischen Einzeltätern mit vielen Opfern gekommen. Doch der rechte Terror zieht nach, was man zum Beispiel am Massenmord in Norwegen durch Anders Breivik (2011), am Mord von Walter Lübcke (2019) und den Tötungen in Hanau (2020) erkennen kann. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch den sogenannten Staatsterror, der genau dann vorliegt, wenn ein Staat anfängt, einen Teil seiner eigenen Bürger zu drangsalieren, zu entrechten, zur Ausreise zu drängen oder zu töten. Das beste Beispiel für Staatsterror in der jüngsten Geschichte Europas ist die Judenverfolgung und der Genozid an den Juden in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). Alle Formen des Terrorismus beinhalten immer Fanatismus und Extremismus, während dies umgekehrt nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Jemand kann ein Fanatiker sein, ohne gleichzeitig auch ein Terrorist sein zu müssen. Jemand kann ein Extremist sein, allerdings davor zurückschrecken, als Terrorist Anschläge zu verüben. Was jedoch alle Formen des Fanatismus, Extremismus und Terrorismus eint, ist ein Gedankensystem, das zumindest auf drei unterschiedlichen Säulen basiert. Erstens: Die Anhänger sind davon überzeugt, dass nur sie bzw. ihre Gruppe die absolute Wahrheit kennen. Zweitens: Auf Grund der Tatsache, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, besteht für die Anhänger eine große Motivation, alles zu tun, um dafür Sorge zu 44 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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tragen, dass sich dies verändert. Alle Mittel sind erlaubt. Drittens: Die Fanatiker, Extremisten und Terroristen sind zutiefst davon überzeugt, dass der künftige Zustand der Welt besser als die aktuelle Lage ist. Daher glauben sie auch, »handeln« zu müssen. Was kann man dagegen tun? Was kann der Staat oder wir als Gemeinschaft tun, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen? Die gute Nachricht ist, dass man viel tun kann, wenn man gewillt ist, bestimmte lieb gewonnene Grundfreiheiten wie Freiheit und Autonomie aufzugeben. Der Staat hat die Möglichkeit, die Überwachung aller Bürger – einschließlich potentieller Terroristen – effektiv und flächendeckend auszubauen. Dies schließt dann sowohl die »komplette« Überwachung des Internets ein als auch alle Formen der Kommunikation. Hinzu kommt ein massiver Ausbau der herkömmlichen audio-visuellen Überwachung (Einsatz von Kameras und Drohnen etc.). Darüber hinaus wäre es notwendig, die Entwicklung entsprechender Programme mit künstlicher Intelligenz voranzutreiben und das Sammeln von persönlichen Daten aus allen Lebensbereichen der Bürger massiv zu erhöhen. Nennen wir dieses Szenario das Big Brother Projekt. Ohne Zweifel kann man davon ausgehen, dass man diesbezüglich nicht nur die extremen Verbrechen verhindern bzw. stark reduzieren könnte (also Anschläge von Fanatikern, Extremisten und Terroristen), sondern damit auch eine Vielzahl von anderen Verbrechen effektiv vermeiden kann. Philosophisch gesehen gibt es jedoch ein schwerwiegendes Problem. Das Big Brother Projekt opfert das Recht auf Privatsphäre im Tausch für Sicherheit. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen hinter dem Big Brother Projekt das System nicht für ihre eigenen Vorteile missbrauchen (und dies ist bereits ein sehr großes Zugeständnis), erscheint ein solcher Tausch nicht wünschenswert zu sein. Unsere liberale Lebensweise würde sich schlagartig verändern. Es heißt dann nicht mehr wie früher »Wenn das der Führer wüsste!«, sondern »Wenn das Big Brother wüsste!«. Auch wenn Sie nichts zu verbergen haben, wird sich Ihre Kommunikation und Lebensweise verändern, um ja nicht in Verdacht zu geraten. Ist menschliches Leben in einer solchen Welt noch lebenswert? Was ist denn mit einem Kompromiss? Könnte man nicht das Verhältnis von 45 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Sicherheit und Privatsphäre ausbalancieren? Die Schwierigkeit besteht in der Tat genau darin, gemeinsam zu bestimmen, welche Prioritäten unsere Gesellschaft setzen sollte und welche Maßnahmen dazu geeignet sind oder nicht. Dies ist ein langwieriger und komplexer Prozess, der vor allem durch unterschiedliche Positionen, die hart aufeinander treffen, gekennzeichnet ist. Aus pragmatischen Gründen sollten wir uns also zunächst fragen, was der kleinste gemeinsame Nenner ist. Wenn wir dies festgestellt haben, dann können wir darauf aufbauen und ans Werk gehen. Die sozialen Auswirkungen von Fanatismus, Extremismus und Terrorismus auf den Alltag und das Verhalten von vielen Menschen sind tiefgreifend. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Ich fliege sehr ungern. Mein Beruf macht es jedoch hin und wieder erforderlich, dass ich an Konferenzen, Workshops und anderen akademischen Treffen teilnehme oder längere Forschungsaufenthalte im Ausland mache. Als ich vor ca. 2–3 Jahren zur Hochzeit der terroristischen Anschläge von Kopenhagen nach Palanga flog, saßen in der ersten Reihe zwei junge Männer. Ich dachte mir zunächst nichts dabei, warum sollte ich auch. Als sie plötzlich anfingen, sich auf Arabisch zu unterhalten, bekam ich einen erheblichen Angstschub und malte mir allerlei verrückte Dinge aus. Werden sie unser Flugzeug entführen oder gar zum Absturz bringen wollen? So schnell wird uns keiner in der Ostsee zur Hilfe kommen, dachte ich noch. Was ist, wenn es zu einer Notwasserung kommt und wir überleben sollten? Naja, so versuchte ich mich zu beruhigen, die Ostsee ist ja eigentlich stark befahren. Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Warum muss ich jetzt sterben? Dies sind fundamentale existentielle Ängste, die natürlich durch meine allgemeine Flugangst noch verstärkt worden sind. Ich wurde in meinem Sitz immer unruhiger. Da geschah es. Sie fingen plötzlich an akzentfrei Dänisch zu sprechen und alle Ängste fielen sogleich von mir ab. Ich konnte es kaum glauben, doch ich war sofort angstfrei und alle irrationalen Gedanken verließen meinen Kopf. Ich habe mich geschämt. Diese Situation hat mir deutlich gemacht, dass wir Menschen gerade in extremen Situationen nicht nur irrationale Überlegungen anstellen (das war mir natürlich 46 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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schon vorher klar), sondern unser Denken auch dann nicht mehr vorurteilsfrei funktioniert, wenn wir im Allgemeinen hohe moralische Standards haben. Tiefverwurzelte stammesgeschichtliche Denkmuster des Menschen gegenüber allem »Fremden« gewinnen zumindest teilweise die Oberhand. Wir sind zurück in der Steinzeit. Die dänische Sprache ist mir natürlich auch »fremd«, doch als Sylter kenne ich die dänische Sprache, da ich sie früher wegen der Grenznähe hin und wieder gehört habe. Sie ist mir also vertraut. Die arabische Sprache ist mir jedoch vollkommen fremd und unbekannt. Darüber hinaus klingt sie für meine Ohren recht hart und gerade die Männer sprechen in der Regel lauter als ich es gewöhnt bin. Dies sind natürlich meine ganz eigenen Empfindungen, andere mögen die Sprache anders wahrnehmen. Ich gehe jedoch davon aus, dass mich damals die Terrorzeit von Al-Quaida und ISIS zunehmend geprägt und sensibilisiert hatten. Die Mitglieder der beiden Terrororganisationen sprechen in der Regel arabisch, doch klarer Weise ist nicht jede arabisch sprechende Person auch Mitglied bei Al-Quaida und ISIS oder befürwortet ihre unmenschlichen Taten. Theoretisch gesehen können wir solche Dinge ohne Probleme richtig einordnen und in der Regel sollten unsere Ansichten und unser Handeln dann auch nicht durch Vorurteile bestimmt bzw. beeinflusst werden. In Notsituationen kommt jedoch das Primitive in uns hoch und irrationale Ängste bestimmen unsere Gedankenwelt und unser Handeln. Es ist aber gut, dass ich diese Erfahrung gemacht habe, da ich nun besser verstehen kann, was es bedeutet, in einer solchen Lage zu sein. Ich bin dann beim nächsten Mal besser darauf vorbereitet, wenn irrationale Gedanken in mir hochsteigen sollten. Dies ist allerdings ein Prozess und man muss aktiv daran arbeiten, sich nicht wieder von irrationalen Gedanken überwältigen zu lassen. Ich habe meine Lektion gelernt. Doch diese Erfahrung hat mir auch gezeigt, dass die Auswirkungen von Fanatismus, Extremismus und Terrorismus substantiell sind und auch dann durchschlagen können, wenn man glaubt, dagegen gewappnet zu sein.
47 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
6. Das Moralisch Böse Die Banalität des Bösen (1963) ist ein bekanntes Buch der Philosophin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt (1906– 1975), das nach dem Erscheinen kontrovers diskutiert worden ist. Das Buch sollte auch ihr persönliches Verhältnis zu Hans Jonas (1903–1993), einem guten Freund, stark belasten. Doch worum geht es? Das Buch ist eine Art subjektiv gefärbte Dokumentation des Gerichtsprozesses gegen Adolf Eichmann (1906–1962), der während des Nationalsozialismus für die planmäßige Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Ermordung der Juden in Europa zuständig war. Eichmann wurde von Mossadagenten 1960 in Argentinien aufgegriffen und dann in einer Nacht- und Nebelaktion nach Israel gebracht, wo er 1961 zum Tode verurteilt und dann 1962 hingerichtet wurde. Arendt beschreibt Eichmann als einen normalen Menschen, der keineswegs den Eindruck eines Monsters oder Schlächters gemacht hat. Er sei eher ein typischer Schreibtischtäter gewesen, der sich an die Befehlskette gehalten hat, ohne dabei jedoch Gewissensbisse gehabt zu haben. Er war ein Sachwalter des Todes gewesen. Pedantisch, dienstbeflissen und sehr effektiv. Auf der anderen Seite glauben sowohl viele Mitglieder aus der Jüdischen Gemeinschaft (daher der Bruch mit Jonas) als auch Nichtjuden daran, dass er – neben Adolf Hitler (1889–1945) – die Personifizierung des moralisch Bösen darstellt. In der Folge ist Eichmann zu einem paradigmatischen Beispiel dafür geworden, dass man große moralische Schuld auf sich laden kann, ohne selbst den Abzug zu drücken. Darüber hinaus – aber in Qualität und Quantität verschieden – gibt es jedoch auch andere höchst unmoralische Handlungen, die ebenfalls von scheinbar ganz normalen Personen oder aber von wirklichen moralischen Monstern (keinen Schreibtischtätern) verübt werden. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen: Gruppenvergewaltigungen von Frauen und Kindern mit anschließender Folter und Tötung (insbesondere in Indien), Menschen werden vor Züge geschupst (ein neuartiges Problem in Deutschland), Massenmorde an Unschuldigen von 1 bis 2 Tätern verübt (ins48 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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besondere in den USA ein Problem), sexuelle Ausbeutung von Kindern (weltweites Problem), die Etablierung der neuen Rechten (vor allem in Europa, den USA und Brasilien), die negativen Ismen wie zum Beispiel Rassismus, Antisemitismus und Islamismus etc., Tierquälerei (nicht nur im Kontext der Massentierhaltung), Cybermobbing und Mobbing (weltweites Problem), massive negative psychologische Folgen eines Shitstorms sowie Fußball und Rassismus (vor allem in Italien, Deutschland, Spanien, England etc.). All diese Beispiele sind keine Einzelfälle, sondern Alltag. Die moralische Bösartigkeit und Niederträchtigkeit solcher Vergehen bzw. Zustände kann man nicht deutlich genug anprangern. Das moralisch Böse ist unter uns. Steckt es auch in uns? Die Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist, ist insbesondere in der Philosophie im Kontext der Ethik und der philosophischen Anthropologie ausgiebig diskutiert worden. Die klassischen Antipoden in der Frage sind die beiden Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) und Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778). Während Rousseau in seinem Buch Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) annimmt, dass der Mensch von Natur aus gut ist und erst die Gesellschaft, das soziale Miteinander und die Kultur ihn korrumpieren, betont Hobbes in seinem politischen Hauptwerk Leviathan (1651) hingegen, dass der Mensch von Natur aus schlecht ist und erst der Staat und die Gemeinschaft ihn dazu zwingen, sich entsprechend der Gesetze zu verhalten. Auf Grund der menschlichen Natur herrscht, so Hobbes, im Naturzustand ein »bellum omnium contra omnes«, ein Krieg aller gegen alle. Darüber hinaus gibt es auch Autoren, die glauben, dass Menschen eine natürliche Veranlagung zum Guten und zum Schlechten haben. Was ist nun richtig? Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass das menschliche Verhalten nicht nur monokausal durch unsere genetische Ausstattung bestimmt wird, sondern ebenfalls zu einem erheblichen Teil von der Erziehung abhängt. Mit anderen Worten: Wenn der Mensch zum Beispiel von Natur aus schlecht ist, dann kann eine positive Erziehung entsprechend kompensierend wirken. Ist er von Natur aus gut, dann wird eine schlechte Erziehung das natür49 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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liche Potential hemmen. Ist er von Natur aus gut und wird gut erzogen, dann ist dies am besten. Ist er jedoch von Natur aus schlecht und wird auch noch schlecht erzogen, dann gnade uns Gott. In allen Fällen kann also eine gute Erziehung das Schlimmste vermeiden helfen. Praktisch gesehen müssen wir also gar nicht genau wissen, ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht ist, sondern lediglich dafür Sorge tragen, dass er eine gute Erziehung bekommt. Doch ist dies so einfach? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich die häufigen Fälle von stark vernachlässigten oder sexuell missbrauchten Kindern in den Nachrichten sehe, dann denke ich immer daran, dass es doch eigentlich ganz gut wäre, wenn wir einen Führerschein für Eltern hätten. Diejenigen, die bestehen, dürfen Kinder bekommen; diejenigen, die vollkommen versagen, sollten überzeugt werden, dass es besser ist, keine Kinder in die Welt zu setzen. Für alle wichtigen Bereiche des menschlichen Lebens gibt es Führerscheine und Prüfungen, doch für den vermutlich wichtigsten Bereich, das Kinderbekommen und deren Erziehung, gibt es nichts dergleichen. Gibt es ein Recht auf Kinder? Gewiss, die biologische Fortpflanzung ist ein Teil unserer Spezies. Doch gibt es auch ein moralisches Recht darauf? Was kann man also insgesamt tun, um nicht Opfer des moralisch Bösen zu werden? Die wichtigste Regel lautet vermutlich, dass man sich gar nicht erst in eine ernste Lage bringen sollte. Einige klassische Beispiele sind schnell zur Hand: Man sollte sich vorher genau überlegen, ob man das Getränk eines wildfremden Menschen in einer Diskothek annimmt, auch wenn die Person einen netten Eindruck macht. Oder man sollte sein eigenes Getränk niemals unbeaufsichtigt lassen, wenn man auf die Tanzfläche oder auf die Toilette geht. In ihrer Stammkneipe mag dies etwas anderes sein als in einer Diskothek, in der sie noch nie waren und keine Leute kennen. Viele würden vermutlich sagen, dass dies doch reichlich übertrieben scheint. Wie dem auch sei, solche Dinge kommen vor. Vom Schlimmsten ausgehen und das Beste hoffen! Das Leben ist schwieriger und unübersichtlicher geworden. Ich selbst bin während meiner Konfirmandenzeit noch das eine oder andere Mal zum sonntäglichen Gottesdienst ge50 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Veränderung – aber wie?
trampt. Auf Sylt war dies natürlich kein Problem. Jeder kennt jeden. Doch ich würde meinem Kind, wenn ich eines hätte, nicht empfehlen, dasselbe zu tun, wenn wir zum Beispiel in einer Großstadt leben würden. Man muss lernen, die Gefahren zu antizipieren und sein Handeln entsprechend danach auszurichten. Vorsicht ist besser als Nachsicht, wie man zu sagen pflegt. Dieser Ausspruch mag zwar etwas altbacken klingen, hat aber durchaus seine Berechtigung. Das wichtigste ist jedoch, dass man sich mit anderen austauscht und mit den eigenen Problemen nicht alleine ist. Die Familie, Freunde oder die moralische Gemeinschaft wird in der Regel weiterhelfen.
3. Veränderung – aber wie? In vielerlei Hinsicht ist dieses Kapitel schwer verdaulich. Wie kann man nur aus dieser gesellschaftlich verzwickten Lage wieder herauskommen? Wie bleibt oder wird man vor diesem Hintergrund ein tugendhafter Mensch? Ist es überhaupt möglich, sich moralisch zu verhalten, wenn es so viele Menschen gibt, die auf Gedeih’ und Verderb’ versuchen, ihre eigenen, ganz egoistischen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen? Stelle ich mir dann nicht selbst ein Bein und handle mir Nachteile ein? Diese und ähnliche Fragen sind berechtigt. Wir haben gesehen, dass die sozial-politischen Herausforderungen enorm sind und es einer gemeinsamen Anstrengung bedarf, um der Lage wieder Herr zu werden. Darüber hinaus ist es jedoch ebenfalls wichtig, nicht nur die minimalen Ansprüche der Moral zu erfüllen – es geht hier nicht darum, ein Gutmensch zu werden oder moralische Perfektion zu erlangen –, sondern seinen eigenen Kurs einzuschlagen, seine eigenen wertvollen Projekte im Leben zu verfolgen und insgesamt ein gutes Leben zu führen. Man braucht kein Philosoph zu sein, um zu erkennen, dass Hass zu mehr Hass führt und dann in Gewalt umschlägt. Die Philosophie kann Ihnen aber dabei helfen, unterschiedliche Möglichkeiten zu sichten, wie Sie Ihr Leben ethisch und mora51 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
lisch einrichten können, ohne dabei sprichwörtlich unter die Räder zu geraten. Der Zeiger der sogenannten Doomsday Clock (Weltuntergangsuhr) steht seit dem 23. Januar 2020 auf 100 Sekunden vor 12 Uhr. Dieser Wert ist der geringste Wert, den es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat (und hier ist noch nicht mal die aktuelle Situation des Corona Virus einbezogen). Die Doomsday Clock ist ein Symbol für das Risiko einer globalen Katastrophe und wurde das erste Mal 1947 von Wissenschaftlern gestartet und wird seitdem von der US-amerikanischen Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists regelmäßig neu eingestellt. 9 Es ist kurz vor 12. Die Uhr tickt! Unsere philosophische Reise könnte nicht ungünstiger starten. Wir leben in einer sehr beunruhigenden Zeit, in der die globale Lage und ihre Entwicklung unklar sind. Wenn die Menschheit, so der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking (1942–2018), es schafft, bis ans Ende des Jahrhunderts zu überleben, dann stehen die Chancen gut, dass wir noch weitere Jahrtausende überstehen können. Nach Hawking liegt allerdings die Chance, dass wir es bis an das Ende dieses Jahrhunderts schaffen, bei 50 %. Viele kluge Menschen hoffen darauf, dass die Menschheit durch die Entwicklung und den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz gerettet werden kann. Die Technisierung und Digitalisierung der modernen Gesellschaft hat im Zusammenspiel mit Künstlicher Intelligenz bereits jetzt fundamentale Auswirkungen auf ganz unterschiedliche Lebensbereiche des Menschen. Die folgenden Beispiele gibt es bereits und ihr Einsatzpotential wird stetig erweitert und verbessert: Beim Militär (Einsatz von intelligenten und autonomen Drohnen), im Gesundheitswesen (Früherkennung von Krankheiten, Pflegeroboter etc.), im gesamten Transportwesen (autonomes Fahren), Internet of Things (Konnektivität und interne Kommunikation von smart devices), die Entwicklung von smart cities, im Kontext von Erziehung und den Wissenschaften, im Gerichtswesen und Polizeiarbeit (Unterstützungssysteme für Richter, Anwaltsfirmen, allgemeine Polizeiarbeit) sowie mit Blick auf Sexualität (Entwicklung von Sexrobotern). Der Vormarsch des Einsatzes von Künst52 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Veränderung – aber wie?
licher Intelligenz ist tief und breit angelegt. Es wird in der Zukunft keinen menschlichen Lebensbereich mehr geben, der davon nicht betroffen sein wird. Die Hoffnung derjenigen, die sich mit Künstlicher Intelligenz im Kontext von Politikwissenschaften beschäftigen, liegt unter anderem auf dem Thema von AI Governance. Was ist AI Governance? Die grundlegende Idee mit Blick auf AI Governance ist, die Künstliche Intelligenz auf die Bereiche von Public Policy und Staatsführung anzuwenden. Mit anderen Worten: Die Künstliche Intelligenz soll den Menschen dabei helfen, zum Beispiel bessere Gesetze zu machen, bessere und effizientere Abläufe zu finden, bessere Institutionen zu gestalten, bessere Lösungen für unterschiedliche gesellschaftliche Probleme zu finden und damit eine insgesamt bessere Gesellschaft zu schaffen. Bei meinem letzten längeren Forschungsaufenthalt an der Universität Oxford im Jahr 2019 habe ich am Oxford Future of Humanity Institute die Arbeiten im Kontext von AI Governance etwas genauer kennengelernt und bin sehr darauf gespannt, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden. Wenn wir also irgendwann einmal in der Lage sein sollten, die oben beschriebenen sozial-politischen Herausforderungen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu minimieren oder etwa in den Griff zu bekommen, dann wäre dies wahrlich eine großartige Sache. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz durchaus nicht unproblematisch ist, wie man bereits in der Anwendung mit Blick auf unterschiedliche Bereiche deutlich sehen kann. Die folgenden fünf Beispiele gehören derzeit zu den meist diskutierten Problemen im Kontext der Forschung von Künstlicher Intelligenz: Das Black Box Problem bezieht sich auf Entscheidungen einer KI, die auf einem selbstlernenden Algorithmus basieren. Die getroffenen Entscheidungen sind nicht vorhersagbar, intransparent und opak und können deswegen nicht bzw. nur stark eingeschränkt nachvollzogen werden. Dies ist natürlich dann ein Problem, wenn es darum geht, dass Entscheidungen auch begründet werden müssen. Relevant ist das zum Beispiel im Kontext des autonomen Fahrens mit Blick auf die Klärung der Schuldfrage, 53 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
wenn es darum geht, nachzuvollziehen, auf welcher Grundlage das Auto Entscheidungen getroffen hat. Ein echtes Problem für Versicherungen. Das Thema »Machine Bias« betrifft das Problem von Vorurteilen gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen (Rassismus) oder die Bevorzugung von Frauen gegenüber Männern (Sexismus). Es hat sich gezeigt, dass es beispielsweise bei der Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Kontext der Rechtsprechung und der Krankenversicherung in den USA und im allgemeinen bei der Arbeitssuche zu erheblichen Vorurteilen gegenüber den oben erwähnten Gruppen gekommen ist. Die Entwicklung entsprechender selbstlernender Software in Kombination mit den zur Verfügung stehenden Datensätzen sind die beiden Hauptfehlerquellen für die angeführten Schwierigkeiten. Dies ist natürlich ein erhebliches Problem, dass man derzeit versucht, in den Griff zu bekommen. Ein weiteres Problemfeld tut sich auf, wenn es darum geht, den Maschinen »moralisches Handeln« beizubringen. Nach welchen moralischen Prinzipien und Regeln sollen Maschinen agieren? Sollen wir Maschinen zum Beispiel nach dem Utilitarismus (größter Nutzen für die größte Zahl), der Kantischen Pflichtethik (gemäß dem Kategorischen Imperativ) oder der Tugendethik (gemäß eines tugendhaften Charakters) konstruieren? Diese Frage stellt sich derzeit im Rahmen des autonomen Fahrens, wenn es zum Beispiel darum geht, dass Ihr Auto auf Grund eines Vorfalls ausweichen muss. Diesbezüglich sollten wir auch als Gesellschaft gemeinsam darüber nachdenken, wie Maschinen handeln sollten. Die zunehmende Interaktion von Menschen und Maschinen macht es erforderlich, dass sich die Maschinen uns gegenüber entsprechend verhalten müssen, wenn es nicht laufend zu Konflikten kommen soll. Mein Lieblingsthema im Kontext von Künstlicher Intelligenz ist das Problemfeld der moralischen und legalen Rechte für intelligente und autonome Roboter. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn die Welt Androiden wie Data aus Star Treck hätte. Würden wir solchen Maschinen moralische und legale Rechte zugestehen? Derzeit gibt es solche Androiden nicht, doch die Forschung ar54 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Veränderung – aber wie?
beitet daran, diese Maschinen herzustellen. Konservative Prognosen gehen davon aus, dass wir in den nächsten 50–60 Jahren in der Lage sind, komplexe künstliche Lebewesen herzustellen. Welchen moralischen Status haben dann die Data-ähnlichen Roboter? Darf ich sie auseinandernehmen, beschädigen, »vergewaltigen« oder gar »töten«? Ist dies dann ein Fall von Sachbeschädigung oder haben wir es dann mit einem intelligenten Lebewesen zu tun, das einen Anspruch auf moralische und legale Rechte hat? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt jenes Problemfelds. Mit Blick auf unsere eingangs gestellte Frage, ob AI Governance helfen kann, die sozial-politischen Herausforderungen zu bewältigen, stehen wir vor einem grundlegenden Problem, das auch meine Kollegen aus Oxford am Oxford Future of Humanity Institute beschäftigt. Dabei geht es um das sogenannte Alignment Problem (Problem der Anpassung bzw. Ausrichtung), das sich vor dem Hintergrund einer möglichen Singularität und der Kontrolle von Supermaschinen stellt. Dieses Problem ist dann auch mit Blick auf das Thema von AI Governance relevant. Worum geht es? Der bekannte Futurist und Google’s Direktor für Technik, Ray Kurzweil, definiert den Begriff der Singularität in seinem Buch The Singularity is Near (2006) wie folgt: Die Singularität ist derjenige Zeitpunkt, wo alle technologischen Fortschritte insbesondere mit Blick auf Künstliche Intelligenz dazu führen, dass die Maschinen klüger als Menschen werden. (Ray Kurzweil) Nach dem Oxforder Philosophen Nick Bostrom gibt es zumindest zwei unterschiedliche Szenarien mit Bezug auf superintelligente Maschinen: Zum einen könnten sich solche Maschinen gegen die Menschen und ihre Interessen stellen (denken Sie an den Film Terminator mit Arnold Schwarzenegger) und zum anderen könnte es sein, dass die Maschinen das Wohl der Menschheit befördern und zum Beispiel fortan alle zukünftigen Erfindungen machen werden. Bostrom betont, dass wir sicherstellen sollten, dass die Maschinen den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen, bevor wir sie in unsere Dienste stellen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, denn wir wollen natürlich keine Maschinen entwickeln, 55 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Zeitalter der Orientierungslosigkeit: »Oh Tempora, Oh Mores!«
die zum Beispiel den menschlichen Krebs dadurch vernichten wollen, indem sie den Wirt, also uns Menschen, töten. Dies wäre eine sehr unglückliche Fügung. Es mag sein, dass wir irgendwann einmal mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz in der Lage sind, die oben genannten Herausforderungen zu meistern, doch wir müssen uns natürlich auch zwischenzeitlich mit der schwierigen Situation auseinandersetzen und wenn möglich Abhilfe schaffen. Welche Möglichkeiten stehen uns denn zur Verfügung, wenn wir noch nicht auf die Hilfe von Supercomputern zählen können? Diese Frage wird in den folgenden Kapiteln beantwortet.
56 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
III. Die Natur der Moral
1. Über die Natur der Moral Existiert die Moral unabhängig vom Menschen oder ist sie nur eine seiner Erfindungen? Mit anderen Worten: Gibt es moralische Tatsachen, Werte und Prinzipien, die unabhängig vom Menschen existieren oder ist das Gesamt der Moral vom Menschen abhängig? Die Antwort auf diese grundlegende Frage ist für die folgenden Kapitel wichtig, um zu klären, ob es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Moral und der Frage nach dem guten Leben gibt. Muss sich das Verhalten der Menschen immer an den Ansprüchen der Moral orientieren, damit man ein gutes Leben führen kann? Oder ist es möglich, dass selbst eine höchst unmoralische Person oder gar ein moralisches Monster wie Adolf Hitler, Josef Stalin, Idi Amin (der »Schlächter von Uganda«) oder Pol Pot ebenfalls ein gutes Leben führen kann? Oder liegt die Antwort vielleicht irgendwo dazwischen? Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Nach meiner Erfahrung glauben die meisten Menschen, dass ein wirklich gutes Leben auch bestimmte moralische Ansprüche erfüllen sollte. Ein moralisches Schwein, das in jeder Situation immer nur an sich und an seine eigenen Vorteile denkt, kann doch kein wirklich gutes Leben führen. Wenn man stets darum bemüht ist, ohne Rücksicht auf Verluste die eigenen Interessen und Lebensprojekte auch zu Lasten anderer zu verfolgen, dann sagt das viel über den Charakter einer solchen Person aus. Mit solchen Personen möchten wir in der Regel nicht befreundet sein, da wir denken, dass die moralische Schlechtigkeit jener auf uns abfärbt und uns irgendwann einmal in Schwierigkeiten bringt. Aus dem gleichen Grund wollen wir zum Beispiel auch nicht, dass unsere Kinder mit anderen Kindern spielen, die Tiere quälen und sich ständig prügeln, da wir Angst haben, dass unsere Kinder genauso 57 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
werden. Wir wollen, dass unsere Kinder ein gutes Leben führen und sich anständig – also moralisch – verhalten. Im Folgenden wird gezeigt, was man beachten muss, um ein solches Leben zu führen. Die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem moralisch Guten und dem guten Leben wird insbesondere vor dem Hintergrund von einigen wichtigen philosophischen Positionen aus der Antike, dem Mittelalter und der Moderne beleuchtet. Die Beschäftigung mit den klassischen Positionen gibt uns wichtige Impulse, wie man heutzutage ein moralisch besserer Mensch wird und gleichzeitig ein individuell gutes Leben führen kann. Es hat eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze in der Philosophie gegeben, die Natur der Moral zu bestimmen und die moralischen Ansprüche an den Menschen zu formulieren. Bevor wir jedoch tiefer in das Thema einsteigen, ist es allerdings ratsam, noch einige wichtige inhaltliche Bemerkungen zur Ethik zu machen. Dies ist notwendig, um überhaupt das richtige Rüstzeug bei der Hand zu haben, die Natur unserer philosophischen Reise zu verstehen und danach unsere grundlegenden Fragen angemessen beantworten zu können. Die meisten Menschen verwenden entweder bewusst oder unbewusst einen oder mehrere der unten beschriebenen Ansätze. Wenn wir aber wirklich verstehen wollen, was es heißt, ein gutes Leben zu führen und ein moralisch besserer Mensch zu werden, dann sollten wir uns nicht länger damit zufrieden geben, was wir intuitiv tun oder was man uns vorgelebt hat, sondern die Gründe für unser Verhalten kennen. Erkenne dich selbst. Die Philosophie teilt sich traditionell in zwei unterschiedliche Hauptstränge auf, die theoretische und die praktische Philosophie. Unser Thema ist Gegenstand der philosophischen Ethik, die ein Teilgebiet der praktischen Philosophie 10 ist. Einer breiten Öffentlichkeit sind vor allem Themen aus den Bereichen der Medizinethik (Abtreibung, Sterbehilfe, pränatale Diagnostik etc.), der Umweltethik (globale Erderwärmung, Naturschutz etc.) und der Technikphilosophie (Künstliche Intelligenz, Big Data, digitale Überwachung etc.) bekannt. Dies ist jedoch nur ein sehr kleiner Teil dessen, was in der (angewandten) Ethik insgesamt diskutiert 58 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
wird. 11 Die allgemeine Ethik lässt sich wiederum in zwei große Bereiche einteilen: In die normative Ethik einerseits und die nicht-normative Ethik (deskriptive Ethik und Metaethik) andererseits.
2. Was soll ich tun? Die normative Ethik umfasst zum Beispiel die folgenden ethischen Theorien, die an dieser Stelle allerdings nur knapp dargestellt werden sollen, deren Kenntnis jedoch für unser allgemeines Verständnis mit Blick auf unsere Grundfrage – wie hängt die Moral mit dem guten Leben zusammen – wichtig ist. Wenn wir noch nicht einmal im Umriss wissen, welche ethischen Positionen es gibt, die uns sagen, was man tun soll, dann stochern wir im Dunkeln. Die folgenden Überlegungen sind recht anspruchsvoll und leider gibt es keine Möglichkeit, eine Abkürzung zu nehmen, wenn man verstehen will, was wir in bestimmten Situationen moralisch tun sollten. Es gibt jedoch ein gutes Mittel, um die einzelnen Positionen für uns verständlicher zu machen. Daher werden auch im folgenden aktuelle Beispiele gewählt, die entweder aus dem Alltag stammen oder besonders gut geeignet sind, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der ethischen Ansätze deutlich zu machen. Zusätzlich wird ein aktuelles Beispiel im Rekurs auf alle ethischen Positionen diskutiert, damit die Besonderheiten der Theorien noch klarer zum Vorschein kommen. Stellen Sie sich vor, dass Sie mit Ihren beiden kleinen Kindern ein Fußballspiel im Stadion besuchen und ein schwarzer Spieler der gegnerischen Mannschaft mit Affenlauten konfrontiert wird. Ihre beiden Kinder beobachten die sich daran anschließenden tumultartigen Szenen auf dem Spielfeld und fragen Sie mit großen Augen, was es denn damit auf sich hat. Was antworten Sie Ihren Kindern? Grundsätzlich haben Sie hoffentlich die starke moralische Intuition, das Rassismus moralisch schlecht ist und man seine Mitmenschen nicht beleidigen sollte. Doch welche anderen Gründe können Sie Ihren Kindern nennen, um ihnen deutlich zu machen, dass solches Ver59 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
halten unmoralisch ist und keinen Platz in unserer Gesellschaft haben darf?
Tugendethik oder Was für ein Mensch möchte ich sein? Die klassische Tugendethik ist untrennbar mit dem Namen von Aristoteles verbunden. Aristoteles, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte, ist neben seinem Lehrer Platon der wirkmächtigste und bedeutendste Philosoph aller Zeiten. Er verbrachte die längste Zeit seines Lebens in Athen, wo er zunächst die Platonische Akademie besucht hat und danach seine eigene Schule, die Peripatos hieß, gründete. Die Tugendethik beurteilt Handlungen im Rekurs auf den jeweiligen Charakter einer Person, die sich an den ethischpolitischen Tugenden einer Polisgemeinschaft orientiert. Nach Aristoteles kann nur eine tugendhafte Person eine entsprechend moralisch gute Handlung ausführen. Die moralisch richtige Handlung kann in der klassischen Tugendethik nicht von der moralischen Güte des Charakters einer Person getrennt gedacht werden. Beides bildet eine echte Einheit. Mit anderen Worten: Moralische Schweine können also keine guten Leben führen. Die Tugendethik kann sich entweder auf alle Menschen beziehen (universalistische Variante) oder nur diejenigen Menschen in den Blick nehmen, die in einer bestimmten Gemeinschaft leben (relativistische Variante). Die Frage, was das gute Leben ist, ist für die tugendethische Position von zentraler Bedeutung, wie wir weiter unten noch sehen werden (eine ausführliche Beschreibung der Tugendethik erfolgt später). Im Rahmen einer tugendethischen Position könnte man mit Blick auf die Warum-Frage der Kinder folgende Überlegungen anstellen: Die Affenlaute der Fans gegenüber dem schwarzen Spieler gefährden den sozialen Frieden in der Gemeinschaft. Der gegnerische Spieler wird in seiner Menschlichkeit herabgewürdigt und als bloßes Tier umgedeutet. Damit wird er aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und nicht mehr als Mensch angesehen. Ohne Zweifel findet hier eine Entmenschlichung statt. Was sagt dies jedoch über den Charakter der be60 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
treffenden Fans aus? Können die Fans für sich beanspruchen, tugendhaft zu sein, während sie gleichzeitig anderen Menschen ihre Menschlichkeit absprechen? Nach der tugendethischen Position ist das Verhalten jener Fans zum einen ein Verstoß gegen bestimmte Tugenden (wie zum Beispiel die der Gerechtigkeit, Gleichheit und Höflichkeit etc.) und gilt damit als Ausdruck eines unmoralischen Verhaltens. Zum anderen ist das Verhalten auch ein Verstoß gegen das, was Aristoteles als das Gute (gr. to kalon) bezeichnet hat. Was ist damit gemeint? Alle Tugenden, so Aristoteles, werden um des guten Willens angestrebt. Das Gute steht wiederum in einem engen Bezug zum Angemessenen und Lobenswerten. Handlungen, die also gegen dasjenige verstoßen, was angemessen und lobenswert ist, sollten demnach gemieden werden, da sie tadelnswert und glücksabträglich sind. Das Beispiel zeigt außerdem, dass es drei unterschiedliche Perspektiven gibt. Erstens: Die Perspektive der Fans offenbart, dass ihr Verhalten maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass sie keinen tugendhaften Charakter ausbilden und somit kein moralisch gutes Leben führen können (zumindest im Rahmen einer tugendethischen Position). Wer andere moralisch schlecht behandelt, der hat nach der Tugendethik keine Möglichkeit, ein guter Mensch zu werden und ein glückliches Leben zu führen. Zweitens: Die Perspektive der Gesellschaft zeigt, dass der soziale Frieden bzw. Eintracht zwischen den Menschen durch solche Fälle erheblich gestört werden kann. In der Folge kann sich dann ein starkes Misstrauen zwischen unterschiedlichen Gruppen ausbilden. In diesem Kontext kann man dann von politischer Brandstiftung sprechen, was ein Nährboden für noch schlimmere Dinge sein kann. Drittens: Die Perspektive des Spielers zeigt deutlich, dass ihm ein erhebliches Unrecht angetan wurde, das entsprechend kompensiert werden muss.
61 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
Pflichtethik oder Handle aus Pflicht und am besten gegen die eigene Neigung! Der Begründer der Pflichtethik war der in Königsberg lebende deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804), der ohne jeden Zweifel nicht nur zu den größten deutschen, sondern auch zu den bedeutendsten Philosophen insgesamt gehört. Seine praktische Philosophie wird immer noch an den Universitäten gelehrt und findet viele Anhänger. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Kants Pflichtethik neben der Tugendethik und dem Utilitarismus immer noch zu den drei wichtigsten ethischen Theorien gehört, die an allen Universitäten gelehrt werden. Doch auch in persönlichen Diskussionen mit Menschen kann man immer wieder feststellen, dass ein Teil der Kantischen Grundsätze bei vielen Menschen unbewusst Eingang gefunden hat. Nach Kant gibt es keine notwendige Harmonie zwischen Moral bzw. den Interessen anderer und der persönlichen Glückseligkeit, wie es die Tugendethik beschreibt. Die Glückseligkeit ist vielmehr der nicht intendierte Lohn der Moral, was Kant in der Kritik der praktischen Vernunft folgendermaßen ausdrückt: »Tugend und Glück entsprechen einander.« Die zentrale Frage für Kant ist: Wie kann es sein, dass die Moral auch dann noch legitime Ansprüche gegen uns hat, wenn sie nicht glückszuträglich oder sogar glücksabträglich ist? Ein weiterer Kritikpunkt gegen die tugendethische Position liegt in Kants Glückspessimismus begründet. Nach Kant ist es sehr unwahrscheinlich, dass man die wahre Glückseligkeit im Diesseits bzw. im Hier und Jetzt erreichen kann; ebenso erscheinen ihm allgemeine Ratschläge für die individuelle Lebensführung unplausibel. Moralische Gründe und Klugheitsgründe, so Kant, gehören unterschiedlichen Kategorien an. Kant glaubt irrtümlicherweise, dass die Tugendethiker behaupten, dass das Moralverhalten nur im Eigeninteresse, nämlich in der Glückseligkeit des Menschen, liegt. Ob letzteres aber den Kern der Tugendethik trifft, ist fraglich. Kants Ethik ist eine deontologische, universelle und autonome Prinzipienethik. Was ist damit gemeint? Sie ist deontologisch, weil die Menschen sich an die Pflichten bzw. Forderungen, die sich 62 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
aus dem höchsten Moralprinzip bzw. dem kategorischen Imperativ ergeben, halten sollen. Kants Ethik ist universell, weil sich das System der moralischen Forderungen an alle vernünftigen Wesen einschließlich der Menschen richtet. Es ist viel darüber spekuliert worden, welche anderen vernünftigen Wesen Kant wohl gemeint haben könnte. Heiße Kandidaten sind zum Beispiel Engel oder intelligente außerirdische Wesen. Genaueres weiß man nicht. Kants Ethik ist eine autonome Moral, die sich nicht im Rekurs auf egoistischen Interessen, Intuitionen und Gefühlen oder das Gewissen begründen lässt. Sie ist auch keine heteronome Ethik im Sinne einer religiösen Moral oder einer Naturrechtslehre; sie ist autonom, weil die rationalen Wesen bzw. Menschen ihre Entscheidungen im Lichte der reinen praktischen Vernunft fällen. Die reine praktische Vernunft 12 kann man als die ultimative Quelle der universellen Normen ansehen. Kants universelle Pflichtethik orientiert sich am kategorischen Imperativ 13, der wiederum einen Verallgemeinerungstest für Maximen darstellt. Kategorische Imperative sind unbedingte Forderungen, die einzig von der Rationalität der Forderungen als solche abhängen. Doch was heißt das genau? Der kategorische Imperativ ist ein Universalisierungstest bzw. Verallgemeinerungstest für Maximen (nicht Handlungen!) und lautet wie folgt: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Maximen sind persönliche Handlungsgrundsätze 14, die dem Individuum aufzeigen, was in einer bestimmten Situation im Bereich der Ethik zu tun ist. Wenn nun nach Kant die Maximen universalisierbar bzw. verallgemeinerbar sind, dann sind sie gültig und man muss nach ihnen handeln. Darunter versteht Kant, dass der persönliche Handlungsgrundsatz »entindividualisiert« wird. Er gilt nunmehr als ethische Richtschnur für alle vernünftigen Wesen in dieser bestimmten Situation. Ist eine Maxime nicht verallgemeinerbar, dann verstößt sie gegen den Verallgemeinerungstest und die entsprechende Handlung darf nicht ausgeführt werden. Kant verdeutlicht seine Idee, dass eine bestimmte Maxime 63 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
nicht verallgemeinerbar ist, an Hand des folgenden Beispiels: Eine Person, die auf Grund einer Reihe von Schicksalsschlägen gebeutelt ist, will Suizid begehen und überlegt, ob die Maxime, sich aus Selbstliebe das Leben zu nehmen, wenn das Leben mehr Schaden als Freude bereit hält, verallgemeinerbar ist oder nicht. Hierbei lautet die Kernfrage des Verallgemeinerungstests: Kann das Prinzip, sich aus Selbstliebe das Leben zu nehmen, ein universelles Gesetz der Natur werden? Nach Kant ist dies unmöglich, da das Gefühl der Selbstliebe, das eigentlich für die Lebenserhaltung zuständig ist, nicht auch als eine Maxime herangezogen werden kann, um als universelles Gesetz der Natur die Zerstörung des Lebens zu fordern. Die Selbstliebe kann nicht gleichzeitig lebenserhaltend und lebenszerstörend sein. Hierin liegt nach Kant der Widerspruch im Denken. Mit anderen Worten: Inkonsistent zu handeln bedeutet nach Kant, irrational zu handeln und irrational in moralischen Dingen zu handeln bedeutet, unmoralisch zu handeln. Nach Kant ist nicht der Charakter einer Person (Tugendethik) der größte Nutzen für die größte Zahl (Utilitarismus) oder die menschlichen Interessen (Vertragstheorien) für die moralische Bewertung einer Handlung ausschlaggebend, sondern einzig das Handlungsmotiv der Menschen. Kant lehnt heteronome Ethiken wie zum Beispiel die Tugendethik, Vertragstheorien, religiöse Ethiken und den Utilitarismus ab, da sie die menschliche Autonomie unterminieren. Die meisten Leser werden jetzt vermutlich die Nase rümpfen und glauben, dass Kants Ethik nicht wirklich tragfähig ist, doch das wäre eine etwas zu vorschnelle Einschätzung. Das große Verdienst von Kant besteht unter anderem darin, dass er religiöse und naturrechtliche Konzeptionen der Ethik überzeugend kritisiert und zurückgewiesen hat. Die moralische Güte einer Handlung hängt nicht davon ab, ob diese mit den moralischen Forderungen eines allmächtigen Gottes übereinstimmt, sondern Handlungen haben nach Kant nur dann einen moralischen Wert, wenn sie autonom sind und gegen die eigene Neigung erfolgen. Warum gegen die eigene Neigung? Kant möchte damit ausschließen, dass die Handelnden durch ein persönliches Interesse an einer Sache 64 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
geleitet werden, was den moralischen Wert der Handlung untergraben würde. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine reiche Person macht eine großzügige Spende an ein Hilfswerk, das sich um das Wohl von Flüchtlingen kümmert. Insbesondere soll das Geld dafür verwendet werden, traumatisierten Kindern, die auf ihrer Flucht vergewaltigt oder misshandelt wurden, zu helfen. Eine löbliche Sache. Es stellt sich jedoch heraus, dass die besagte Person nur gespendet hat, um soziale Anerkennung zu bekommen. Würden wir immer noch sagen, dass ihre Handlung wirklich moralisch gut war? Gewiss, die Person konnte vielen helfen; die Folgen ihrer Spende waren positiv und warum sollte man denn nicht das persönliche Motiv einfach beiseitelassen? Mit Blick auf das Beispiel der Fußballfans könnte man im Rekurs auf eine Kantisch orientierte Pflichtethik folgendes sagen: Indem die Fans den schwarzen Spieler als nicht menschlich beschreiben, sprechen sie ihm seine Personalität ab. Rationale Lebewesen haben eine Würde und verdienen damit, so Kant, unseren unbedingten Respekt. Wenn also Menschen andere Menschen nicht als Personen respektieren, indem sie sie zum Beispiel als tierähnlich charakterisieren, dann ist dies in hohem Maße unmoralisch und sollte entsprechend sanktioniert werden. Es könnte jedoch eingewendet werden, dass die Fans nur deswegen die Affenlaute machen, um den Spieler in Rage zu bringen, damit er nicht mehr so gut spielt und die Chancen auf den langersehnten Sieg der eigenen Mannschaft erhöht werden. Im Rahmen einer Kantisch orientierten Ethik ist dieser Einwand ebenfalls abzulehnen, da man in diesem Fall den Spieler nur als Mittel zum Zweck gebraucht, was nach Kant ebenfalls unmoralisch wäre. Nach Kant darf man eben keine Menschen für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren. In diesem Sinne könnte man sagen, dass man seine Gegner achten und sich anständig verhalten sollte. Ein weiteres Beispiel: Die gehasste Exfrau droht in den Flammen ihres Hauses zu verbrennen; wie der Zufall es will, kommt der frühere Ehemann am Haus vorbei, da er etwas mit ihr zu besprechen hat. Wenn er sie sterben lässt, dann sind seine Probleme gelöst und er muss ihr keinen Unterhalt mehr bezahlen. Er rettet sie vor einem grausamen Flammentod. Seine Handlung 65 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
war autonom und erfolgte entgegen seiner persönlichen Neigung. Nach Kant war es eine echte Handlung aus Pflicht und somit moralisch wertvoll. Was wäre, wenn es sich bei der gehassten Exfrau um die geliebte Ehefrau gehandelt hätte? Der Fall ist nach Kant klar: Es handelt sich hierbei lediglich um eine pflichtmäßige Handlung ohne moralischen Wert, jedoch nicht um eine Handlung aus Pflicht, die gegen die eigene Neigung erfolgt ist, da der Ehemann ein starkes Eigeninteresse hatte, seine geliebte Frau zu retten. Für Kant ist ausschließlich das zu Grunde liegende Handlungsmotiv mit Blick auf die moralische Güte einer Handlung entscheidend. Moralisch entscheidend sind nicht die positiven Folgen einer Handlung oder der tugendhafte Charakter, sondern einzig das Motiv. Ich denke, dass Kant hier eine wichtige moralische Einsicht herausgearbeitet hat, die uns jedoch einiges abverlangt. Es ist wichtig, die feinen Nuancen bei der moralischen Bewertung einer Handlung zu erkennen und entsprechend zu bewerten. Wir müssen die Hintergründe einer Handlung kennen, um wirklich verstehen zu können, ob die Handlung an sich wirklich moralisch gut ist. Macht es einen moralischen Unterschied aus, ob Schindler die Juden gerettet hat, weil er sich soziale Anerkennung im späteren Leben (nach dem Nationalsozialismus) erhofft hat oder ist seine Handlung gerade deswegen moralisch wertvoll, weil er gerade im Kontext der Gefahr das Richtige getan und damit auch sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat? Die meisten Menschen würden vermutlich mit Recht sagen, dass das Motiv der sozialen Anerkennung abträglich ist und die moralische Güte einer Handlung beschädigen kann. Kants Ethik ist sehr anspruchsvoll und mag uns oftmals moralisch überfordern, doch dies sind zunächst keine guten Gründe, seine Position – die dennoch richtig sein kann – insgesamt abzulehnen. Es braucht mehr dazu. Alternativen zu Kant sind die anderen ethischen Theorien wie zum Beispiel die Tugendethik (Relevanz des tugendhaften Charakters) und der Utilitarismus (Relevanz der Handlungsfolgen).
66 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
Utilitarismus oder Was ist der größte Nutzen für die größte Zahl? Der Begriff Utilitarismus leitet sich vom lateinischen Wort utilitas ab, das so viel wie »Nutzen« bedeutet. In diesem Sinne ist die utilitaristische Ethik eine Ethik, die sich am Nutzen orientiert, welches der Kernbegriff dieser Konzeption ist. Hierbei geht es jedoch nicht um einen egoistischen, sondern um einen altruistischen Nutzenbegriff, der das Wohl des anderen deutlich in den Vordergrund rückt. Grundsätzlich kann man sagen, dass der Utilitarismus eine teleologische, eudaimonistische und konsequentialistische Prinzipienethik ist. Was heißt das? Sie ist teleologisch, weil sie ein höchstes Ziel kennt; sie ist eudaimonistisch, weil das höchste Ziel im größten Glück für alle Menschen (und Tiere!) besteht; und sie ist konsequentialistisch, weil es in erster Linie nicht um die Handlungen, sondern hauptsächlich um Handlungsfolgen geht. Mit anderen Worten: Die moralische Richtigkeit einer Handlung wird allein durch ihre Folgen bestimmt. Der Utilitarismus, den man schon damals als einen Gegenentwurf zu Kants Ethik ansah, ist heutzutage neben der an Pflichten orientierten Ethik die am meisten vertretene ethische Position. 15 Historisch gesehen gelten Jeremy Bentham (1789) und John Stuart Mill (1863) als die Gründungsväter des Utilitarismus. Die beiden Philosophen Francis Hutcheson (1755) und William Paley (1785) sind jedoch einflussreiche Vordenker der utilitaristischen Idee in der Ethik. In den meisten ethischen Übersichtswerken wird Mill’s Darstellung des Utilitarismus auf Grund seiner hohen Bedeutung für die Philosophie und seiner klaren Gedankenführung herangezogen. Die klassische Stelle bezüglich der Grundformel des Utilitarismus bei Mill lautet: Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ›Glück‹ [happiness] ist dabei Lust [pleasure] und das Freisein von Unlust
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Die Natur der Moral
[pain], unter ›Unglück‹ [unhappiness] Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. 16
Mill betont, dass das Handlungsmotiv zwar sehr viel mit dem moralischen Wert der handelnden Person zu tun hat, doch in keiner Weise etwas mit der moralischen Richtigkeit der Handlung. Während andere ethische Theorien Personen und Handlungen als moralisch gut ausweisen können, unterscheidet der Utilitarismus scharf zwischen der moralisch guten Person und der moralisch richtigen Handlung. Folglich kann eine unmoralische Person auch eine moralisch richtige Handlung vollziehen (und umgekehrt). Dies ist nach den anderen ethischen Theorien wie der Tugendethik und Kants Pflichtethik nicht möglich. Der Utilitarismus ist eine universalistische Ethik, die die moralische Richtigkeit einer Handlung an ihren Folgen bemisst und die Rolle des tugendhaften Charakters mit Blick auf die Evaluierung von Handlungen entschieden zurückweist. Die moralische Güte des Charakters hat also mit der moralischen Richtigkeit einer Handlung nichts mehr zu tun. Ein Gedanke, der in der Antike undenkbar gewesen wäre. Wenn wir die oben angeführten Beispiele bei Kant – Rettung der gehassten Exfrau und der geliebten Ehefrau, die Spende für das Hilfswerk, Rettung einiger Juden durch Schindler – im Rekurs auf die utilitaristische Ethik zu klären versuchen, dann bleibt zu konstatieren, dass alle Handlungen der Akteure moralisch richtig sind. Mit Blick auf die moralische Richtigkeit der Handlung unterscheidet der Utilitarismus nicht zwischen der Handlung des großzügigen Spenders, der einfach nur ein Menschenfreund ist und einem, der aus reinem Egoismus gehandelt hat. Meiner Erfahrung nach haben die meisten Menschen damit ein echtes Problem. Muss man nicht auch das Handlungsmotiv einbeziehen, wenn es um die Bewertung der moralischen Güte einer Handlung geht? Hat Kant so unrecht gehabt? Natürlich macht es keinen Unterschied, ob ein Trickbetrüger oder ein langjähriger Freund deine Kreditkarte stiehlt. Beide Handlungen sind moralisch falsch. Doch mit Blick auf den diebischen Freund – und hier spreche ich aus eigener Erfahrung – sind wir zusätzlich moralisch empört und zutiefst enttäuscht. Wir halten 68 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
ein solches Verhalten mit Recht für moralisch niederträchtig, da es mit unseren Vorstellungen, was Freundschaft bedeutet, im Widerspruch steht. Der Freundesverrat wirkt moralisch schwerer. Der Grund ist, dass wir glauben, dass die moralische Bewertung einer Handlung auch etwas mit der Person selbst bzw. ihrem Charakter zu tun haben muss. Die Anhänger des Utilitarismus räumen natürlich ein, dass es einen moralischen Unterschied zwischen dem egoistischen und dem uneigennützigen Spender gibt. Allerdings bezieht sich der Unterschied auf den Charakter der beiden und nicht auf die moralische Richtigkeit ihrer Handlungen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der Utilitarismus zwischen den Handlungen einer Person und ihrer Tugendhaftigkeit unterscheidet. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass sich die moralische Gesamtsituation nicht nur auf Handlungsfolgen fokussiert, sondern immer auch im Kontext des menschlichen Charakters gesehen werden muss. Nur wenn wir das Gesamtbild kennen, können wir auch eine vollständige moralische Bewertung der Situation vornehmen. Wenn wir dies berücksichtigen, was könnte man dann auf die Warum-Frage der Kinder antworten? Welche Gründe kann uns der Utilitarismus liefern? Wir haben gesehen, dass der Utilitarismus Handlungen als moralisch richtig ausweist, wenn sie die Tendenz dazu haben, das Glück für alle Betroffenen zu maximieren. Worin besteht also der Nutzen darin, den gegnerischen Spieler zu beleidigen? Nehmen wir einmal an, dass die Fans nur deswegen den Spieler beleidigen, weil sie wollen, dass er schlechter spielt und dadurch die eigene Mannschaft höhere Chancen hat, zu gewinnen. Folgende moralische Kosten-Nutzen-Rechnung müsste man dann machen: Die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Team gewinnt, ist gestiegen und die Fans wären sehr glücklich, wenn dies der Fall wäre. Dies steht auf der positiven Seite. Auf der anderen Seite steht zum einen der schwarze Gegenspieler, der – auch wenn er vielleicht auf solche Attacken vorbereitet ist – dennoch sehr darunter leidet, nicht als Mensch respektiert zu werden. Für den jeweiligen Spieler kann es eine traumatische Erfahrung sein, die ihn stets verfolgen wird und ihn möglicherweise auch an seiner Berufswahl zweifeln lässt. Auf der anderen Seite stehen ande69 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
re Menschen, die schwarz sind oder ebenfalls eine dunkle Hautfarbe haben. Man kann wohl mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass ihr Glück durch solche Vorfälle nicht maximiert wird. Die Zahl der letzteren Gruppe wird ungleich größer sein als die Zahl der radikalen Fußballfans, denen jedes Mittel recht ist, um den Sieg der eigenen Mannschaft zu befördern und sich daran zu erfreuen. Hinzu kommt, dass die Folgen für die Gemeinschaft verheerend sein können, wenn der allgemeine Eindruck entsteht, dass man Rassismus im Sport als Normalität akzeptieren sollte, ohne weiterhin entschieden dagegen vorzugehen. Solche Sichtweisen können eine Tiefenwirkung entfalten, die in andere gesellschaftliche Bereiche hineingeht und nachhaltig den sozialen Frieden stört. Eine Tendenz, die man bereits beobachten kann. Nach der utilitaristischen Kosten-Nutzen-Rechnung steht jedenfalls fest, dass das, was die radikalen Fußballfans machen, moralisch falsch ist, da ihr Verhalten insgesamt mehr Leid als Lust hervorbringt.
Moralischer Kontraktualismus oder Warum basiert die Moral auf einem Vertrag? Nach dem berühmten antiken Philosophen Epikur (ca. 342/41 bis 271/70 v. Chr.) existiert die Moral nicht unabhängig vom Menschen, sondern sie geht auf einen Vertrag zwischen den Menschen zurück. Epikur ist neben den Sophisten der Vorsokratik – die Zeit vor Sokrates – einer der ersten Denker, die diese Behauptung aufstellen. In seiner Schrift Zentrale Lehrsätze betont Epikur, dass die Moral aus einem Gesellschaftsvertrag zwischen freien und gleichen Menschen hervorgeht. 17 Eine für die damalige Zeit ganz erstaunliche, gegen die Tradition gerichtete a-religiöse Behauptung. 18 Die wichtigsten Vertreter des Kontraktualismus zu Beginn der Moderne sind die beiden Giganten der Philosophie Thomas Hobbes und John Locke sowie der einflussreiche Philosoph JeanJacques Rousseau. 19 Vertragstheoretiker glauben, dass die Moral kein naturrechtliches Fundament hat, nicht auf ein göttliches 70 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
Wesen zurückgeführt werden kann oder auf einer objektiven Werteordnung (Max Scheler) gründet. Die Moral, wie wir sie kennen, basiert einfach nur auf einem gegenseitigen Vertrag zwischen freien und gleichen Personen. Dieser Gesellschaftsvertrag kann entweder faktisch oder hypothetisch verstanden werden. Gemäß dem faktischen Kontraktualismus gab es einen wirklichen Vertrag zwischen den Menschen, die sich in einer demokratischen Urversammlung trafen und gemeinsam die Entscheidung fällten, ein Moralsystem zu etablieren. Die Anhänger des hypothetischen Kontraktualismus glauben hingegen, dass rationale Personen bestimmten, allgemeinen moralischen Prinzipien in einer hypothetischen Ursituation zustimmen würden, ohne die eigenen Präferenzen, Fähigkeiten und körperlichen Eigenschaften (Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Gesundheit etc.) in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Dieser »Schleier des Nichtwissens« (John Rawls) ist eine raffinierte Methode, um zu gewährleisten, dass die Entscheidungen unabhängig von subjektiven Interessen und spezifischen Gegebenheiten der Menschen gefällt werden. Dies, so die Idee, macht die Entscheidungen unparteiisch. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, dass eine kleine Gemeinschaft von Männern und Frauen zusammenkommt, um darüber zu entscheiden, welche Prinzipien ihr Moralsystem haben soll, das allen Mitgliedern gleichermaßen nützt. Der Vorschlag eines Mannes, keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zuzulassen, zeugt offenkundig von Parteilichkeit. Diese Parteilichkeit kann der Schleier des Nichtwissens aushebeln, da die Mitglieder bei der Beschlussfassung von ihrer eigenen aktuellen Situation abstrahieren müssen. Das heißt, sie dürfen keine aktuellen subjektiven Präferenzen, Fähigkeiten und körperlichen Eigenschaften etc. bei der Entscheidung einfließen lassen. Darüber hinaus haben sie keinerlei Informationen darüber, welche Stellung sie später in der Gesellschaft – nach der Etablierung des Gesellschaftsvertrages – haben werden. 20 Auf Grund dieser Strategie ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die durch den Schleier des Nichtwissens entstehende Gemeinschaft von gerechteren Prinzipien geleitet sein wird. 71 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
Die kontraktualistische Moral wird als etwas angesehen, das im Interesse der Menschen ist, obgleich der Vertrag die individuelle Freiheit und die Möglichkeit, zu tun, was man will, einschränkt. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass gerade die Einschränkung des menschlichen Handelns der Grund dafür ist, warum sich die Menschen zumindest stärker als zuvor geschützt fühlen. Gegen die Regeln des etablierten Moralsystems zu verstoßen, wäre eine ernste Verletzung der gemeinsamen Verpflichtung, die Regeln der Moral zu achten und würde entsprechend sanktioniert werden. Doch wer darf sanktionieren? Nach Hobbes hat der Souverän die absolute Autorität im Staat, um die Existenz der Gesellschaft mit allen Mitteln zu schützen und damit am Leben zu erhalten. Gauthier glaubt, dass die Rationalität eine ausreichende Kraft ist, Personen, die er als ausschließlich eigeninteressierte Akteure versteht, starke interne Gründe zu geben, sich stets kooperativ zu verhalten. Der Vollstreckungsmechanismus ist somit als internalisiert gedacht. Stemmer glaubt, dass es die Aufgabe der moralischen Gemeinschaft ist, die Kooperation mit angemessenen Mitteln wie zum Beispiel das Meiden oder Missbilligen von Personen und durch soziale Ausgrenzung sicherzustellen. Der moralische Kontraktualismus, so die Anhänger, liefert eine klare Konzeption bezüglich der Frage nach der moralischen Normativität. Mit anderen Worten: Moralische Verpflichtungen sind vertragliche Verpflichtungen. Nach dem moralischen Kontraktualismus gibt es keine Moral im Naturzustand. Die Menschen wollen diesem Zustand entfliehen und etablieren aus diesem Grund ein Moralsystem, das die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft vor den Launen der anderen schützen soll. Die moralische Gemeinschaft ist die moralische Autorität. Die moralische Gemeinschaft bestraft Verstöße gegen moralische Verpflichtungen wie in Fällen von Mord und Vergewaltigung, indem sie darauf mit sozialer Ausgrenzung reagiert – die vermutlich härteste Bestrafung, die es gibt. Zusätzlich sanktionieren die Justizbehörden diejenigen Personen, deren Handlungen ebenfalls Verstöße gegen rechtliche Verpflichtungen darstellen, wie zum Beispiel bei Mord und Vergewaltigung. Dies
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Was soll ich tun?
kommt daher, dass moralische Regeln durch Gesetze rechtlich verstärkt werden können. Wie kann uns die Vertragstheorie mit Blick auf die WarumFrage der Kinder weiterhelfen? Grundsätzlich könnte man zum Beispiel wie folgt argumentieren: Eine Gruppe von Menschen kommt zusammen und diskutiert über die allgemeinen Verhaltensregeln mit Bezug auf ihre zukünftigen Fußballspiele. Auf Grund des Schleiers des Nichtwissens ist jedem klar, dass man von der je eigenen Person, ihren Befindlichkeiten und ihren körperlichen Eigenschaften bei der Entscheidungsfindung absehen muss. Außerdem ist unklar, ob die Mitglieder der Gemeinschaft später zur Gruppe der Fußballer oder der Fans gehören werden. Darüber hinaus wissen sie, dass sie selbst von Rassismus im Sport betroffen sein können, je nachdem welches Los auf sie fällt. Vor diesem Hintergrund findet die Entscheidung bezüglich der Verhaltensregeln für den Fußball statt. Man einigt sich darauf, dass man ein Verhalten, wie es die radikalen Fußballfans zeigen, nicht dulden will. Ausschlaggebend dabei ist, dass niemand in der Situation des gegnerischen Spielers sein will. Niemand möchte in der Situation sein, dass andere einem die eigene Menschlichkeit absprechen und damit Schmerzen zufügen. Auch wenn sich der moralische Kontraktualismus gerade im 20. Jahrhundert einer nicht unerheblichen Beliebtheit erfreut hat, glauben viele Menschen mit Recht, dass es doch nicht sein kann, dass das Gesamt der Moral einzig von uns Menschen abhängen kann. Die moralische Bewertung mit Blick auf das grausame Quälen von Tieren, das Foltern von Kindern, Vergewaltigungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc. können doch nicht einfach von unserer Meinung abhängen. Sind unsere moralischen Vorbehalte im Westen gegenüber des früheren Apartheidssystems in Südafrika wirklich unangemessen? Hängt die moralische Wahrheit wirklich nur von einem Diskurs von rationalen Akteuren ab oder gibt es nicht vielmehr etwas, das darüber hinaus moralisch relevant ist? Sind Gerechtigkeit und Gleichheit nur menschliche Erfindungen?
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Die Natur der Moral
Die Kasuistik oder Warum machen die Umstände den Fall? Die beiden zeitgenössischen Philosophen Stephen Toulmin und Albert Jonsen haben zwar nicht die Kasuistik entwickelt (sie entstand aus der mittelalterlichen Rechtswissenschaft), jedoch waren sie dafür verantwortlich, dass das kasuistische Denken wieder in den allgemeinen ethischen Diskurs im letzten Jahrhundert Eingang gefunden hat. Ihr Buch The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning (1988) hat erheblich dazu beigetragen. Vor allem im Kontext der Medizinethik fand die Kasuistik Anschluss und wurde auf unterschiedliche Weisen weiterentwickelt und fruchtbar gemacht. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Kasuistik eine kontextsensitive Methode ist, die sich stets am konkreten Fall orientiert und keine übergeordneten universellen moralischen Prinzipien oder Regeln verwendet, um ein moralisches Problem zu lösen. Die Kasuistik lehnt universelle moralische Normen ab, da es sie nach dieser Position nicht gibt. Paradigmatische Fälle, die eine besondere Bedeutung im moralischen Diskurs erlangt haben (und von deren Richtigkeit man ausgeht), dienen als eine Art Ankerpunkt für die Untersuchung und Bestimmung weiterer Fälle. Grundsätzlich ist der Vergleich mit anderen Fällen zentral. Zunächst werden die Grundstruktur und die Grundprobleme eines Falles erfasst, danach wird der vorliegende Fall in eine Ordnung verwandter Fälle eingeordnet und abschließend werden die besonderen Umstände des Falles bewertet. Vor diesem Hintergrund erfolgt dann das moralische Urteil. Das Credo der Kasuistik lautet, dass die Umstände den Fall »machen«. Die Anhänger der Kasuistik glauben, dass man die moralischen Fälle zum Beispiel nicht einfach mittels Kants kategorischem Imperativ lösen kann oder indem man den Nutzen maximiert. Die Tugendhaftigkeit des Charakters einer Person oder die Hingabe an die ethischen Tugenden, so die Kasuisten, können nicht sicherstellen, dass die Handlungen der Person entsprechend moralisch gut sind. Wir müssen uns im Kontrast dazu die genauen Umstände eines Falles anschauen und dann entscheiden, was wir in 74 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun?
einer bestimmten Situation jeweils zu tun haben. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen: Die Annahmen, dass Abtreibung grundsätzlich unmoralisch ist oder dass das Töten einer Person immer moralisch falsch ist, sind nach den Anhängern der Kasuistik wenig überzeugend. Mit Blick auf Abtreibung könnte man mit Recht einwenden, dass es gute Gründe gibt, die eine solche Praxis rechtfertigen können, wie zum Beispiel im Fall einer Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens. Auch wenn man in der Regel durchaus gewisse Vorbehalte gegenüber Abtreibungen haben kann, so sollte man dennoch die besonderen Umstände bei der moralischen Bewertung eines Falles im Blick haben. Dasselbe gilt für das Töten einer anderen Person. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass das Töten einer anderen Person immer unmoralisch ist. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel. Wenn ich angegriffen werde und die einzigen Optionen sind, dass entweder ich oder der Angreifer getötet werde, dann habe ich jedes Recht, mich selbst zu verteidigen und den Angreifer zu töten. Im Rahmen einer kasuistischen Position könnte man auf die Warum-Frage der Kinder folgendes in den Blick nehmen: Die Abwertung anderer Personen oder ganzer Gruppen ist auch im Kontext des Sports ein schweres moralisches Unrecht und kein Kavaliersdelikt. Die Kasuistik zieht paradigmatische Fälle heran und vergleicht dann, ob relevante Gemeinsamkeiten vorliegen oder nicht. Historisch gesehen kann man feststellen, dass die Tieranalogie oftmals dazu benutzt worden ist, um die Würde der betroffenen Personen zu verletzen und diese zu erniedrigen. So zum Beispiel im Fall der Juden im Nationalsozialismus, der Roma und Sinti in der Gegenwart und der afrikanischen Sklaven in Zeiten des Sklavenhandels. Erfahrungsberichte von schwarzen Fußballspielern, die bereits Opfer solcher Fanattacken wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Sie fühlen sich hilflos und in ihrer Würde verletzt. Diejenigen, die gegnerische Spieler durch Affenlaute und entsprechende Gesten beleidigen, verletzen in klarer Weise die Menschenrechte der betreffenden Spieler und müssen entsprechend streng bestraft werden. Auch wenn man in der Lage ist, solche Fälle im Rekurs auf die anderen ethischen Theorien ebenfalls befriedigend zu lösen, muss 75 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
man sich im Klaren darüber sein, dass der Lösungsweg jeweils etwas anders ist. Oftmals stimmen die moralischen Bewertungen der Theorien mit Blick auf die verhandelten Fälle überein, doch es gibt unzählige Fälle, wo dies nicht der Fall ist. Moralischer Dissens ist nicht das Ende der Welt, sondern der Beginn einer Suche.
Fazit Wie sollen wir uns nur moralisch verhalten, wenn es doch so viele unterschiedliche ethische Theorien gibt? Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass es fraglich ist, ob eine ethische Theorie allein alle moralischen Probleme zu lösen vermag. Vielmehr hat es den Anschein, dass die jeweiligen Ethiken bestimmte wesentliche Aspekte 21 einer spezifischen Situation richtig erfassen und diese im Kontext erhellen können. Ob jedoch eine Handlung oder eine Person moralisch gut oder richtig, neutral oder moralisch schlecht oder falsch ist, kann mit der einfachen Anwendung einer spezifischen ethischen Theorie auf Grund der Komplexität des moralischen Lebens an sich nicht oder nur unzureichend bestimmt werden. Was in einfachen Fällen möglicherweise noch relativ problemlos funktionieren mag, ruft bereits bei etwas komplexeren moralischen Problemen ein heilloses Durcheinander hervor. Aus diesem Grund erscheint es mit Blick auf die Frage, was man tun soll, plausibel, sich nicht nur starr an moralische Prinzipien und Regeln zu halten, sondern auch den Kontext bei einer Entscheidungsfindung angemessen einzubeziehen.
3. Was tun die Menschen? Während die ethischen Theorien versuchen, die Frage zu beantworten, was der Fall sein sollte, ist die nicht-normative Ethik bemüht, die Frage zu klären, was der Fall ist. Die deskriptive Ethik beschreibt zum einen das menschliche Verhalten, ihre moralischen Vorstellungen sowie die Sitten, Werte und Traditionen menschlicher Gemeinschaften und ganzer Kulturen mit Blick auf 76 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was tun die Menschen?
unterschiedliche Orte und zu unterschiedlichen Zeiten. Zum anderen nutzt sie zum Beispiel Erkenntnisse aus der Biologie und Psychologie, um die Natur des Menschen mit Blick auf ihre Bedeutung für die Ethik zu erforschen. Dabei werden selbst keine normativen Prinzipien oder Regeln aufgestellt. Die gewonnenen Erkenntnisse sind für die normative Frage, was der Fall sein sollte, wichtig, gleichwohl es in der Forschung strittig ist, auf welche Weise Ergebnisse aus der deskriptiven Ethik für die normative Ethik relevant sein können, ohne dabei gegen Humes Gesetz zu verstoßen. Nach Hume darf man nicht von einem Sein (so wie etwas ist) unmittelbar auf ein Sollen (so wie etwas sein soll) schließen, ohne dabei einen logischen Fehler zu machen. Es gibt also keinen direkten Weg von der reinen Beschreibungsebene auf ein moralisches Sollen. Die Beiträge dazu sind Legion. Die deskriptive Ethik bezieht sich – unter anderem – auf die folgenden wichtigen empirischen Einzelwissenschaften und erkennt ihnen eine zentrale Rolle mit Blick auf die allgemeine Fragestellung (was der Fall ist) zu. Anthropologie/ Kulturanthropologie: Die Bestimmung der Natur des Menschen, die Untersuchung von unterschiedlichen Moralsystemen der Gegenwart und Vergangenheit sowie das Verhältnis von Mensch und Kultur sind für die normative Ethik insofern relevant, als dass zum Beispiel spezifische Konstanten innerhalb der kulturellen und moralischen Entwicklung der Menschen aufgedeckt werden können, die weiterhelfen, die Ansprüche der Moral an den Menschen besser zu verstehen. Auf welche Weise erwerben Menschen ihre moralische Kompetenz? Gibt es Gesetzmäßigkeiten für die Entwicklung des menschlichen Vermögens, moralische Urteile zu fällen und ihnen gemäß zu handeln? Diese und ähnliche Fragen stehen im Zentrum der Moral- und Entwicklungspsychologie (vgl. Piaget und Kohlberg). Die Relevanz für die normative Ethik umfasst zumindest die beiden folgenden wichtigen Kernfragen: (1.) Wie entsteht die Moral? und (2.) Wie können moralische Urteile überhaupt motivieren, wenn ihnen keine subjektiven Wünsche zu Grunde liegen? Mit Blick auf die Physik sind die Erkenntnisse aus der Quan77 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
tenphysik besonders relevant, wenn es darum geht, die Frage zu klären, ob Menschen überhaupt einen freien Willen haben oder nicht. Können Menschen für ihr Handeln moralisch verantwortlich gemacht werden oder nicht? Wenn nämlich alles im Vorhinein kausal festgelegt ist, so wie es der Kausaldeterminismus nahelegt, dann erscheint es durchaus fraglich, inwiefern es noch sinnvoll ist, von individueller Autonomie und moralischer Verantwortlichkeit zu sprechen. Wenn die Menschen nicht anders als determiniert handeln können, dann ist es unplausibel, Menschen für ihr Tun moralisch verantwortlich zu machen. Auf der anderen Seite erscheint es ebenso problematisch zu sein, die Willensfreiheit im Rekurs auf einen Indeterminismus – nicht alle Ereignisse sind kausal bestimmt – zu retten, da man Willensentscheidungen nicht auf der Grundlage von Zufallsprozessen erklären sollte, weil sie dann zwar nicht determiniert, aber auch nicht selbstbestimmt wären. Die Situation ist also verzwickt. Nur weitere Forschung kann uns helfen, eine entsprechende Lösung zu finden. Neurobiologen wie Gerhard Roth und Peter Singer (nicht der Philosoph!) haben in ihren Experimenten vor einigen Jahren festgestellt, dass die Gehirnprozesse des Menschen determiniert sind und dafür argumentiert, dass es keine Willensfreiheit gibt. Aus ihrer Sicht müsste man daher auch das Strafrecht entsprechend verändern. Aus philosophischer Sicht wurde die Deutung der empirischen Daten seitens der Neurobiologen in Frage gestellt. Es wurde darauf hingewiesen, dass die rein materialistische Sichtweise auf den Menschen einfach zu kurz greifen würde, um den Menschen in seiner Komplexität angemessen zu beschreiben (vgl. dazu Julian Nida-Rümelin). Dabei wurde vor allem auf den wesentlichen Unterschied zwischen den streng kausalen empirischen Ursachen einerseits und den mentalen Handlungsgründen andererseits hingewiesen. Auf welche Weise jedoch ein fruchtbares Zusammenspiel zwischen Ursachen und Gründen überhaupt möglich ist, ist in der Forschung immer noch umstritten. Mit Blick auf die Verhaltensforschung bleibt zu konstatieren, dass man versucht hat, relevante Erkenntnisse für das Verstehen der menschlichen Moral mit Blick auf den Vergleich des moral78 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was tun die Menschen?
analogen Verhaltens von Tieren – vor allem Primaten – zu gewinnen (vergleichende Verhaltensforschung). So hat man zum Beispiel versucht, die Erkenntnisse von Konrad Lorenz hinsichtlich seiner Erfahrungen mit den Graugänsen, die Besonderheiten der Brutpflege und Warnrufe bei Tieren, das Lausen bei Affen sowie das »soziale« Miteinander von Bienen, Ameisen und Termiten als wichtige Belege für moral-analoges Verhalten zu deuten. Auf dieser Grundlage, so die Anhänger, könnte man wiederum Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der menschlichen Moral ziehen: Das Lausen bei Affen könnte zum Beispiel altruistische Motive haben und das soziale Miteinander fördern. Das »soziale« Miteinander im Bienenstaat, so die allgemeine These, könnte zum Beispiel ein Hinweis auf die Richtigkeit der anthropologischen These sein, dass der Mensch ebenfalls ein zoon politikon ist. Die Soziologie beschäftigt sich im Allgemeinen mit dem sozialen Verhalten von Menschen, ihren Strukturen, sozialen Institutionen, ihren Werten und Normen etc. Dabei untersucht sie unter anderem auch die gesellschaftliche Funktion moralischer Konventionen. Menschliches und moralisches Verhalten soll im Rekurs auf empirische und theoretische Forschung erklärt werden. Die Soziobiologie hat im letzten Jahrhundert ihren Führungsanspruch mit Blick auf die Erklärung des menschlichen Verhaltens angemeldet und deutlich gemacht, dass die Soziologie in Zukunft ein Teil der Soziobiologie sein wird. Ein zentrales Ziel der Soziobiologie ist, dass der Altruismus, die die Soziobiologen fälschlicherweise mit der Moral identifizieren, im Sinne der Evolution als Egoismus erklärt werden soll. Die Thesen von Richard Dawkins dazu sind auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. So glaubt er, dass die Menschen lediglich Reproduktionsmaschinen und die Vehikel ihrer Gene seien. Mit Blick auf die Ethik besteht die Gefahr eines Biologismus – das menschliche Verhalten wird ausschließlich im Rekurs auf seine Biologie bestimmt – und der Marginalisierung der Kultur bzw. der geistig-kulturellen Errungenschaften von Menschen. Grundsätzlich sollte man hier eine moderate Position vertreten, die zwischen den empirischen Ansprüchen der Soziobiologie einerseits und grundlegenden philosophischen Positionen andererseits vermittelt. 22 79 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
Kenntnisse über die Natur des Menschen sind wichtig, um herauszufinden, auf welche Weise wir uns moralisch verhalten sollten und welche typisch menschlichen Bedürfnisse für ein gutes Leben relevant sind. Wir müssen uns also fragen, ob das menschliche gute Leben nicht einige minimale Voraussetzungen erfüllen muss. Wie wir oben gesehen haben, ist die deskriptive Ethik in der Lage, hierauf einige Antworten zu liefern.
4. Was sind die Grundlagen der Ethik? Für das vorliegende Kapitel ist der Bereich der Metaethik ebenfalls bedeutsam, wie im Folgenden noch deutlicher zu sehen sein wird. Die Metaethik wird traditionell in vier Bereiche – die Semantik, die Ontologie der Moral, die Erkenntnistheorie der Moral und Argumentationstheorie – eingeteilt und nimmt insgesamt eine Vogelperspektive auf die Ethik als solche ein. Auf die Bereiche der Semantik, die die Bedeutung moralischer Ausdrücke untersucht und der Argumentationstheorie wird hier nicht weiter eingegangen, da sie für unsere Darstellung nicht weiter wesentlich sind. Die beiden wichtigsten Bereiche für uns beziehen sich auf die Ontologie und Erkenntnistheorie der Moral. Doch was ist damit genau gemeint? Während sich die Ontologie der Moral mit der Frage beschäftigt, was die Quelle der Moral ist, versucht man bei der Erkenntnistheorie der Moral die Frage zu beantworten, wie wir eigentlich wissen können, was die Moral von uns fordert. Mit Blick auf die Natur der Moral und der Frage nach dem guten Leben sind beide Bereiche wichtig. Im nächsten Abschnitt werden wir gesondert auf die Ontologie der Moral eingehen und die dortigen Einsichten für unsere allgemeine Fragestellung fruchtbar machen. An dieser Stelle werden wir uns also lediglich mit der Erkenntnistheorie der Moral beschäftigen. Woher wissen wir eigentlich, dass wir unsere Mitmenschen nicht ermorden oder foltern dürfen und keine Tiere quälen sollten? Warum glauben die meisten Menschen, dass solche Handlungen unmoralisch sind und man Übertretungen moralisch und legal sanktionieren muss? Woher wissen wir also, was moralisch 80 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
geboten ist und was man als unmoralisch einstufen muss? Diese und ähnliche Fragen werden im Kontext der Erkenntnistheorie der Moral diskutiert. Grundsätzlich stehen sich hier zwei Hauptströmungen gegenüber, die sich wiederum in unterschiedliche Varianten aufteilen lassen, die wir jedoch in unserer Beschreibung vernachlässigen können. Die beiden Hauptrichtungen sind der Kognitivismus und der Nonkognitivismus. Die Anhänger des Kognitivismus glauben, dass moralische Aussagen die Welt um uns herum objektiv – also unabhängig von unseren Gefühlen und persönlichen Einstellungen – beschreiben und ihre Richtigkeit und Falschheit im Rekurs auf unsere Vernunft, Sinneswahrnehmung oder religiöse Quellen bestimmt werden kann. Die Aussage, dass ein vorsätzlicher Mord aus niederen Beweggründen (z. B. das Töten der reichen Erbtante) moralisch falsch ist, kann zum Beispiel an Hand der Folgen der Handlung bestimmt werden. Die Anhänger des Nonkognitivismus sind jedoch der Ansicht, dass die kognitivistische Position falsch ist und man vielmehr davon ausgehen muss, dass moralische Aussagen eher ein Ausdruck unserer Gefühle oder Wünsche sind. Moralische Aussagen beschreiben nicht die Welt, so wie sie wirklich ist. Daher können moralische Aussagen, so die Kritiker, auch nicht wahr oder falsch sein; sie sind rein subjektiv und lediglich Meinungsäußerungen. Offenkundig widerspricht eine solche Position dem Alltagsverständnis vieler Menschen. Normalerweise glauben wir, dass es objektiv gesehen unmoralisch ist, wenn man seine Mitmenschen tötet, foltert, beleidigt oder ihnen auf irgendeine andere Weise vorsätzlich Schaden zufügt. Dies ist im Allgemeinen keine Sache des persönlichen Gefühls. Doch nur weil etwas dem Alltagsverständnis widerspricht, heißt das freilich nicht, dass die Position bereits falsch ist. Es könnte zwar ein erster Hinweis darauf sein, dass die Position nicht stimmt, doch mit Gewissheit lässt sich dies ohne weitere Untersuchungen nicht sagen. Neben den beiden oben genannten Hauptströmungen gibt es zwei unterschiedliche Herangehensweisen, die Frage zu beantworten, wie wir wissen können, was von der Moral gefordert wird: Zum einen gibt es die religiöse Herangehensweise und zum 81 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
anderen die säkulare Herangehensweise, die wiederum ganz unterschiedliche Ansätze beinhaltet. Anhänger der religiösen Herangehensweise glauben, dass man sich auf die Zehn Gebote, die biblischen Schriften, die göttliche Offenbarung, die kirchliche Tradition und die eigene religiöse Erfahrung berufen sollte, um herauszufinden, was moralisch richtig oder falsch ist. Vor dem Hintergrund einer modernen und zunehmend säkularen Gesellschaft, die sich eher pluralistisch orientiert (auch in religiösen Ansichten), erscheint eine solche Herangehensweise insgesamt problematisch zu sein. Philosophisch gesehen kommt jedoch noch ein weiterer schlagkräftiger Einwand hinzu (eigentlich sind es vier), der die religiöse Sichtweise insgesamt zu Fall bringt. Erstens: Die Existenz Gottes (oder der Götter) muss zweifelsfrei bewiesen werden, damit man den Anspruch erheben kann, dass die religiöse Herangehensweise fundiert ist. Alle bisherigen Gottesbeweise haben sich jedoch als fehlerhaft herausgestellt. Es kann durchaus sein, dass es einen überzeugenden Gottesbeweis gibt, der jedoch bisher noch nicht entdeckt worden ist und man daher eher agnostisch sein sollte. Wir wissen es einfach nicht. Zweitens: Wenn es einen Gott (oder Götter) gibt, dann muss in einem nächsten Schritt nachgewiesen werden, dass er einen Willen hat. Ein göttliches Wesen, das keinen Willen hat, wäre für die religiöse Herangehensweise problematisch. Ein Wesen ohne Willen kann auch nichts vom Menschen wollen. Drittens: Selbst wenn es möglich ist, zu beweisen, dass es einen Gott (oder Götter) gibt, der einen Willen hat, müssen wir zeigen, dass das göttliche Wesen etwas vom Menschen will. Es kann durchaus sein, dass es einen allmächtigen Gott gibt, der jedoch kein Interesse am Menschen hat. Viertens: Selbst wenn wir nachweisen können, dass es einen allmächtigen Gott (oder Götter) gibt, der einen Willen hat und Interesse am Menschen zeigt, müssen wir immer noch zeigen, dass er den Menschen bestimmte moralische Regeln gegeben hat, an denen sie sich orientieren sollen. Auf Grund der genannten philosophischen Schwierigkeiten erscheint die religiöse Herangehensweise derzeit nicht überzeugend zu sein. Die zweite, säkulare Herangehensweise beinhaltet zumindest 82 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
vier ganz unterschiedliche Ansätze. Erstens: Ansätze, die die Vernunft in den Mittelpunkt rücken. Hier wird argumentiert, dass man nur lange genug über eine Sache nachdenken muss, um herauszufinden, was richtig oder falsch ist. Zweitens: Positionen, die auf Erfahrung und Beobachtung basieren. Hier wird versucht, das erfahrungsbasierte Wissen zu nutzen, um festzustellen, ob sich etwas im Nachhinein als richtig oder falsch herausgestellt hat. Im Anschluss daran wird das Gelernte für zukünftige Situationen in Anschlag gebracht. Drittens: Das Haben von moralischen Intuitionen. Die Menschen haben einen intuitiven Zugang zu moralischen Wahrheiten und fühlen bzw. sehen geradezu, was richtig oder falsch ist. Viertens: Ansätze, die auf eine vertragstheoretische Lösung setzen. Hier wird bei einem faktischen Vertrag bereits festgelegt, was moralisch richtig oder falsch ist. Bei einem hypothetischen Vertrag wird im Rekurs auf die mögliche Übereinstimmung aller Betroffenen in einem rationalen Diskurs die moralische Richtigkeit oder Falschheit bestimmt. In beiden Fällen sind jedoch nur rationale Akteure moralisch relevant. Die Interessen nicht-rationaler Personen wie Menschen mit starker mentaler Einschränkung, von Komatösen und Babys sowie Tieren können nur durch einen Stellvertreter moralisch geschützt werden. Sie haben keine eigene moralische Stimme. Grundsätzlich erscheint die Frage, ob etwas richtig oder falsch ist, nicht von der menschlichen Übereinstimmung abzuhängen. Dies ist nur dann der Fall, wenn man zusätzlich annimmt, dass die Moral subjektiv ist und nicht unabhängig vom Menschen existiert. Wir werden jedoch noch sehen, dass es gute Gründe dafür gibt, warum man annehmen sollte, dass die Moral objektiv ist und nicht von der Entscheidung des Menschen abhängt (vgl. den folgenden Abschnitt über die Ontologie der Moral). Dass Vergewaltigung oder Massenmord moralisch falsch ist, gilt unabhängig davon, ob Menschen erst darin vertraglich übereinkommen oder nicht. Darüber hinaus erscheint es wenig plausibel, dass nicht-rationale Personen keine Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sein sollen und damit auch keinen moralischen Schutz genießen können. Das Fehlen von Rationalität darf nicht ausschlaggebend dafür sein, dass es keinen moralischen Schutz ohne 83 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
die moralische Interessenvertretung durch einen Stellvertreter gibt. Über die Bedeutung und Relevanz von moralischen Intuitionen ist in der Geschichte der Philosophie viel gestritten worden. Es bleibt jedoch festzustellen, dass wir bis heute keine Methode des moralischen Intuitionismus kennen, die uns verlässlich darüber Auskunft geben kann, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist. So hatten viele Menschen früher die starke moralische Intuition, dass es entweder richtig ist, Hexen zu verbrennen oder andere Menschen zu versklaven, Homosexuelle wegen ihrer sexuellen Orientierung zu verfolgen und Juden zu vernichten etc. Was ist also, wenn Menschen ganz unterschiedliche moralische Intuitionen haben? Gibt es dann auch unterschiedliche moralische Wahrheiten? Und was ist, wenn sich die moralischen Intuitionen verändern? Ist dann das, was früher moralisch richtig war, jetzt plötzlich moralisch falsch? Ist also moralische Richtigkeit und Falschheit beliebig – je nachdem, in welcher Zeit ich lebe oder an welchem Ort ich mich befinde? Mit Blick auf Erfahrung und Beobachtung erscheint es zunächst eine überzeugende Strategie zu sein, abzuwarten und dann zu sehen, ob sich etwas in der Folge als richtig herausstellt oder nicht. Die Erfahrung ist oftmals ein guter Lehrmeister. Gilt dieser Ansatz jedoch auch für die Frage nach der moralischen Wahrheit? Wissen wir erst, nachdem wir eine Vergewaltigung gesehen oder einen Massenmord erlebt haben, dass diese Dinge moralisch falsch sind? Oder gibt es nicht vielmehr eine überzeugendere Position, die uns hilft, herauszufinden, was moralisch richtig oder falsch ist? Der erfahrungsbasierte Ansatz ist vor allem in den Naturwissenschaften wichtig und wird dort seit Jahrhunderten erfolgreich angewendet. So könnte man sagen, dass die moralische Richtigkeit und Falschheit zwar nicht im Rekurs auf die Erfahrung und Beobachtung bestimmt wird, beide Elemente jedoch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die moralischen Folgen stärker in den Blick zu nehmen. Die grundlegende Idee hinter den vernunftorientierten Ansätzen ist durchaus plausibel. Es ist überzeugend, anzunehmen, dass wir mittels unserer Vernunft herausfinden können, was 84 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
moralisch richtig oder falsch ist und wir uns nur etwas stärker bemühen müssen, wenn wir eine Lösung noch nicht gefunden haben. Darüber hinaus sollte man die oben genannten Ansätze nicht zur Gänze fallen lassen, sondern versuchen, Teile für den vernunftorientierten Ansatz zu nutzen. Das Haben von Erfahrung ist für die Bestimmung der moralischen Wahrheit durchaus relevant; jemand, der in moralischen Dingen unerfahren ist, wird es schwerer haben, herauszufinden, was man tun soll oder nicht. Erfahrungsbasiertes Wissen in der Moral ist für die Bestimmung, was moralisch richtig oder falsch ist, hilfreich. Ebenfalls sind unsere moralischen Intuitionen wichtig, gleichwohl wir stets vorsichtig sein müssen, ob wir nicht von ihnen getäuscht werden. In diesem Sinne sollte man einen inklusiven Ansatz verfolgen und neben der Vernunft auch Erfahrungen sowie moralische Intuitionen einbeziehen. Stellen Sie sich vor, dass Sie oder Ihr Partner ins Krankenhaus gebracht werden und auf Grund Ihrer Erkrankung schwierige Entscheidungen anstehen. Sie haben weder das medizinische Fachwissen, noch sind Sie in der Lage, eine rationale Entscheidung zu treffen, da es sich hierbei um einen sehr komplexen Fall mit vielen Details handelt. Sie wissen einfach nicht, was Sie tun sollen. Zu viele unverständliche Informationen prasseln auf Sie ein, zu viele Interessen überlagern sich und Sie haben das Gefühl, dass Sie nicht mehr Herr der Lage sind und klar denken können. Es wird Sie vielleicht überraschen, doch genau für diese Situation gibt es Experten. Die klinischen Ethikberater sind in der Lage, Ihnen weiter zu helfen. Dabei handelt es sich entweder um Ärzte, die eine ethische Weiterbildung gemacht haben; Ethiker, die über solide medizinische Grundkenntnisse verfügen; oder Personen, die sowohl eine medizinische als auch eine ethische Ausbildung genossen haben. In schwierigen Fällen werden die klinischen Ethikberater hinzugezogen und Sie haben dann die Möglichkeit, Ihren Fall mit Experten zu diskutieren, die Ihnen bei der Entscheidungsfindung beratend zur Seite stehen. Sie können davon ausgehen, dass die meisten Ethikberater einen inklusiven Ansatz nutzen und Ihnen die Vor- und Nachteile Ihrer Situation im Rekurs auf die unterschiedlichen ethischen Positionen erklären können. 85 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
Es kann natürlich sein, dass ein Krankenhaus keinen klinischen Ethikberater/In hat (gerade in Deutschland ist dies nicht flächendeckend der Fall), so dass Sie dann mit einem erfahrenen Arzt/In vorliebnehmen müssen, was in der Regel ebenfalls in Ordnung ist. Der wesentliche Punkt ist jedoch, dass Ihnen geholfen wird und Sie dann eine wohlinformierte Entscheidung treffen können, die immer auch einen starken moralischen Bezug hat. 23
Über die Ontologie der Moral oder Was gibt es? Die grundlegende Frage der Lehre vom Sein der Moral ist die Frage nach ihrer Quelle. Was ist also die Quelle – der Urgrund – der Moral? In der Geschichte der Philosophie hat es diesbezüglich eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen und Positionen gegeben, die sich jeweils den beiden Hauptströmungen innerhalb der Ontologie der Moral zurechnen lassen. Die eine Hauptströmung wird moralischer Realismus, die andere moralischer Antirealismus genannt. Bevor es jedoch weiter geht, müssen wir noch die Frage klären, was eigentlich der Begriff Objektivität in der Moral bedeutet. Grundsätzlich kann man zumindest zwei Hauptbedeutungen mit Blick auf den Objektivitätsbegriff im Kontext der Philosophie voneinander unterscheiden. Zum einen kann der Begriff im Bereich der Ethik und Moralphilosophie bedeuten, dass zum Beispiel moralische Aussagen, Werte, Regeln und Prinzipien etc. als moralische Tatsachen unabhängig vom Menschen existieren. Das bedeutet, dass eine Aussage wie »Es ist unmoralisch, zu lügen!« genau dann wahr ist, wenn sie mit der moralischen Tatsache eines Lügenverbots, das unabhängig vom Menschen existiert, übereinstimmt. Die weiterführende Aufgabe bestünde dann darin, herauszufinden, auf welche Weise diese Dinge unabhängig vom Menschen existieren können und wie man sich einen Zugang zu den besagten Tatsachen verschaffen kann. Zum anderen kann der Begriff der Objektivität im Rekurs auf den Begriff der Intersubjektivität bestimmt werden. Doch was ist 86 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
damit genau gemeint? Damit ist gemeint, dass die Wahrheit der moralischen Aussagen, Werte, Regeln und Prinzipien im Rekurs auf das Gemeinsame der Menschen bestimmt wird. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Das Quälen von Tieren ist demnach genau dann unmoralisch, wenn die Menschen gemeinsam darin übereinkommen, dass das Quälen von Tieren moralisch falsch ist. Wenn man also feststellen kann, was intersubjektiv gesehen als moralisch richtig oder falsch angenommen wird, dann hat man damit gleichzeitig offengelegt, was objektiv gesehen moralisch richtig oder falsch ist. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um bloße Meinungsäußerungen, sondern es liegt idealerweise bereits ein rationaler Diskurs vor, in dem bereits das Abwägen von Gründen und die Diskussion von Einwänden erfolgt ist. 24 Unter dem moralischen Realismus versteht man im Allgemeinen, dass die Moral unabhängig vom Menschen existiert und unsere moralischen Urteile genau dann richtig oder falsch sind, wenn sie moralischen Tatsachen, die unabhängig vom Menschen existieren, entsprechen. Mit anderen Worten: Das Foltern von Menschen ist moralisch falsch, wenn es eine vom Menschen unabhängige moralische Tatsache gibt, die das Foltern von Menschen verbietet. Oder die Sklaverei ist moralisch falsch, wenn es eine moralische Tatsache gibt, die unabhängig vom Menschen existiert und die die Sklaverei als moralisch falsch verurteilt. Doch woher sollen wir eigentlich wissen, dass zum Beispiel Sklaverei moralisch falsch ist? Zunächst einmal sollte klar sein, dass die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Sache nicht durch eine Mehrheitsentscheidung bestimmt werden kann. Diese basale Erkenntnis gehört zum Einmaleins der Philosophie. Moralische Realisten könnten mit Recht darauf hinweisen, dass die Sklaverei nicht nur heute, sondern auch damals objektiv gesehen moralisch falsch war – und zwar unabhängig davon, wie hoch die Zahl der Befürworter (gewesen) ist, da bestimmte moralische Normen und Werte unabhängig von bestimmten Zeiten, Orten und Kulturen Geltung haben. Das Problem für die moralischen Realisten besteht jedoch 87 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
darin, genau anzugeben, woher sie eigentlich wissen, dass bestimmte Handlungen moralisch richtig oder falsch sind. Warum ist Tierquälerei oder das Foltern von Kindern moralisch falsch? Wer sagt uns denn, dass die Moral unabhängig vom Menschen existiert? Wie können wir denn verlässlich wissen, was richtig oder falsch ist? Weiter oben haben wir bereits im Kontext der Diskussion der Erkenntnistheorie der Moral auf die unterschiedlichen Ansätze hingewiesen und versucht, dafür zu argumentieren, dass man einen inklusiven Ansatz verfolgen sollte, der sich hauptsächlich an der Vernunft orientiert, aber auch moralische Intuitionen und Erfahrungen ernst nimmt. Mit Blick auf die oben genannten Fälle könnte man zum Beispiel auf der Grundlage von John Stuart Mill argumentieren, dass im Fall von Sklaverei und dem Foltern von Kindern die moralische Gemeinschaft das Recht hat, in die Freiheitsrechte des Sklavenhalters oder des Folterers einzugreifen, da somit eine Schädigung anderer Personen verhindert wird. So schreibt Mill in der klassischen Stelle in seiner Schrift Über die Freiheit folgendes dazu: Dies Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. 25
Mit anderen Worten: Menschen sind keine moralischen Inseln, sondern leben in einem sozialen Kontext mit anderen Menschen zusammen. Die Rechte des Einen enden dort, wo die Rechte des Anderen anfangen. Die erheblichen ökonomischen Vorteile der Sklavenhalter in den USA (in Zeiten der Sklaverei) sind jedoch nicht in der Lage, die grundlegenden Freiheitsrechte der Betroffenen aufzuheben. Vorurteile gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen machen einen moralisch blind und taub mit Blick auf bestimmte Argumente und rationale Gründe. Das beste Mittel gegenüber moralischer Dummheit und Selbsttäuschung ist eine an den Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, 88 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
Brüderlichkeit und Menschenwürde orientierte moralische Erziehung, die ebenfalls an die Gefühle der Handelnden appelliert. Sollte dieser Ansatz jedoch versagen, steht es jedem frei, sich mit allen Mitteln gegen jedwede Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Die Anhänger des moralischen Antirealismus glauben, dass die Moral nicht unabhängig vom Menschen existiert, sondern eine Erfindung des Menschen ist. Mit anderen Worten: Wenn es keine Menschen gibt, dann gibt es auch keine Moral. Der moralische Antirealismus umfasst eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Positionen, die wir im Folgenden natürlich nicht alle darstellen können. Im Folgenden beschränken wir uns daher auf die weit verbreitete Position des moralischen Relativismus. Die Anhänger des moralischen Relativismus glauben, dass die moralischen Prinzipien, Regeln, Normen und Werte nicht universell gelten, sondern ausschließlich auf die eigene moralische Gemeinschaft bezogen sind. Es gibt keine übergeordneten moralischen Ansprüche. Wenn man wissen will, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist, dann muss man sich die moralischen Normen der eigenen Gemeinschaft anschauen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Abtreibung und Sterbehilfe können nach dieser Position in einem Staat moralisch und rechtlich erlaubt sein und in einem anderen nicht. Die moralischen Normen in beiden Staaten würden zwar einander widersprechen, doch ihre moralische Richtigkeit, so die These, bliebe davon unberührt, da die moralischen Normen in den unterschiedlichen Gemeinschaften verschieden sein können. Diese Sichtweise wird von vielen Menschen geteilt. Wenn eine moralische Norm verletzt wird, dann sanktioniert die moralische Gemeinschaft diejenigen, die die Norm verletzt haben. Dabei kann es natürlich sein, dass die moralische Norm auch rechtlich positiviert ist. Das heißt, dass im Fall der Übertretung einer moralischen Norm die Normverletzung auch rechtlich sanktioniert wird. Eine Vergewaltigung ist nicht nur eine schwere moralische Straftat, sondern auch eine klare Rechtsverletzung, die entsprechend von Gerichten geahndet wird. Die härteste Form einer moralischen Sanktion ist der soziale Ausschluss aus der Gemeinschaft. Grundsätzlich ist der moralische Relativismus jedoch wenig 89 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
überzeugend: Die Theorie ist darauf angewiesen, die Geltung einer bestimmten universellen moralischen Norm anzuerkennen und von anderen moralischen Gemeinschaften zu verlangen, dasselbe zu tun. Dabei handelt es sich um die universelle Norm der Toleranz. Der moralische Relativismus ist darauf angewiesen, dass außenstehende Individuen und andere moralische Gemeinschaften die eigenen moralischen Normen tolerieren und sich bei internen moralischen Konflikten nicht einmischen (Prinzip der Nichteinmischung). Wenn andere Staaten also der Meinung sind, dass die moralischen Normen eines bestimmten Staates falsch sind, weil dieser menschenverachtende Dinge erlaubt, dann mag dies für Außenstehende zwar höchst bedauerlich sein, doch der moralische Relativismus verpflichtet sie dazu, solche Gemeinschaften zu tolerieren und diese nicht zu verändern. Einige Beispiele sind schnell zur Hand: Das Kastensystem und die Witwenverbrennung (Indien), die Beschneidung von jungen Mädchen, Sklaverei, Zwangsarbeit und Rassentrennung. Der methodische Widerspruch zwischen der These des moralischen Relativismus, dass es einerseits keine universellen moralischen Normen und Werte gibt und der Annahme eines universellen Toleranzgebots andererseits ist von vielen Philosophen mit Recht kritisiert worden. Auf der einen Seite glauben viele Menschen, dass die Moral relativ ist und nehmen an, dass die Werte und Normen tief in der eigenen moralischen Gemeinschaft verankert sind. Auf der anderen Seite erkennen dieselben Menschen jedoch häufig universelle Standards an, wenn es zum Beispiel darum geht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen. Entweder glaubt man, dass alle moralischen Ansprüche relativ zur eigenen Gemeinschaft sind oder man muss einräumen, dass es darüber hinaus auch bestimmte universelle Standards – zum Beispiel Menschenrechte – gibt, an die sich dann alle moralischen Gemeinschaften halten müssen. Die bekannte Anthropologin Ruth Benedict hat in ihrem klassischen Beitrag Anthropology and the Abnormal (1934) den Begriff der Moral als einen zweckdienlichen Begriff für sozial anerkannte Gewohnheiten bestimmt. 26 Dies bedeutet, dass die moralischen Überzeugungen von Menschen in der je eigenen Tra90 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was sind die Grundlagen der Ethik?
dition gründen und das moralisch Richtige und Falsche jeweils im Rekurs auf die eigene moralische Gemeinschaft bestimmt werden muss. Ob es einen harten moralischen Kern gibt, der von allen Menschen geteilt wird, kann nach Benedict nur mit Blick auf weitere Forschung bestimmt werden. Dieser anthropologischen Position ist mit Recht von philosophischer Seite widersprochen worden. Eine überzeugende Kritik hat Ruth Macklin vorgebracht und in ihrem bekannten Buch Against Relativism. Cultural Diversity and the Search for Ethical Universals in Medicine (1999) folgendes geschrieben: Eine langjährige Debatte bezieht sich auf die Frage, ob Ethik relativ mit Blick auf Zeit und Raum ist. Eine Seite argumentiert, dass es keine offensichtliche Quelle einer universellen Moral gibt und dass ethische Richtigkeit und Falschheit Produkte eines kulturellen und historischen Umfelds darstellen. Gegner behaupten hingegen, dass selbst wenn noch keine universellen ethischen Normen formuliert worden sind oder man sich noch auf keine geeinigt hat, der ethische Relativismus eine gefährliche Doktrin ist, die man ablehnen muss. Die erste Gruppe antwortet darauf, dass die Suche nach universellen ethischen Vorschriften der Suche nach dem Heiligen Gral gleichkommt. Die zweite Gruppe entgegnet mit dem eindrucksvollen Einwand: Wenn Ethik relativ zu Zeit, Ort, und Kultur wäre, dann muss man einräumen, dass das, was die Nazis taten, für sie »richtig« war und es keine Grundlage für eine moralische Kritik ausserhalb der Nazi Gemeinschaft gibt. 27
Ruth Macklin hat ganz Recht, wenn sie betont, dass moralische Kritik nur plausibel ist, wenn wir davon ausgehen, dass es eine gemeinsame moralische Grundlage der Menschen gibt, die es uns erlaubt, das Verhalten anderer Menschen sowie bestimmte soziale Praxen anderer Gemeinschaften zu kritisieren. Die entscheidende Frage ist somit die nach der gemeinsamen moralischen Grundlage. Gibt es sie und wenn ja, wie sieht sie genau aus? Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir keine gemeinsame moralische Grundlage haben, dann wäre es zum Beispiel verfehlt, die soziale Praxis der Sklaverei (derzeit sind noch ca. 50 Millionen Menschen 91 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Natur der Moral
versklavt), Folter und der Witwenverbrennung in Indien zu kritisieren und zu hinterfragen.
5. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem guten Leben und der Natur der Moral? Wir haben gesehen, dass durchaus einiges dafür spricht, dass die Moral objektiv ist und Menschen bestimmten moralischen Ansprüchen genügen müssen. Das vorsätzliche Töten und grausame Foltern von Menschen, das Quälen von Tieren, Vergewaltigung, Sklaverei und Zwangsprostitution etc. sind moralisch schlecht und zwar unabhängig davon, ob Menschen dem zustimmen oder nicht. Wir wollen schlechthin nicht in einer Welt leben, in der solche oder ähnliche Handlungen moralisch und legal nicht sanktioniert werden. Normalerweise glauben wir, dass diese Handlungen objektiv gesehen unmoralisch sind und man sie nicht tun sollte. Darüber hinaus denken die meisten Menschen mit Recht, dass ein stark unmoralisches Leben – zum Beispiel das Leben eines Folterknechts in einer Diktatur oder das Leben eines Gangmitglieds in einer kriminellen Vereinigung – nicht mit einem wirklich guten Leben in Einklang gebracht werden kann. Die unterschiedlichen Rollen, Interessen und Projekte eines Menschen sind eng miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Die Vorstellung, dass man während der Arbeitszeit ein brutaler und grausamer Folterknecht und im Privatleben gleichzeitig ein liebevoller Familienvater, guter Ehemann und echter Menschenfreund sein kann, scheint wenig plausibel zu sein. Wenn das aber der Fall ist, dann hat dies natürlich auch Auswirkungen auf die Frage nach dem individuell guten Leben. Es gibt dann nämlich kein »anything goes« mehr mit Blick auf die individuelle Ausgestaltung des guten Lebens, da die moralischen Ansprüche inhaltliche Grenzen setzen. Was ist damit gemeint? Ein Bild mag dies verdeutlichen: Ein Komet hat einen Körper, der als Anfangspunkt dient, und einen langen kegelförmigen Schweif, dessen Grenzen das Innere des Schweifs bestimmen und vom Äußeren abgrenzen. Wir können uns vorstellen, dass der 92 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem guten Leben und der Natur der
Kopf des Kometen das Höchstmaß eines moralisch guten Lebens darstellt, wobei das Moralische – je weiter man sich vom Kopf entfernt – abnimmt. Ein Leben ganz am Ende des Schweifs stellt also ein gutes Leben dar, das nur den minimalen moralischen Anforderungen genügt. Ein Leben außerhalb der Grenzen des Schweifs stellt ein unmoralisches Leben dar. Die moralische Güte der einzelnen Leben unterscheidet sich also je nachdem, wie nah ein Leben dem Kopf des Kometen kommt. Damit kann man die moralischen Leben untereinander und mit Blick auf das Höchstmaß bestimmen. Die Frage, inwiefern ein individuell gutes Leben mit einem moralischen Leben in Einklang gebracht werden kann, bemisst sich also daran, wie das Zusammenspiel des individuell guten Lebens mit dem moralisch guten Leben gestaltet ist. Es gibt zumindest drei unterschiedliche Positionen, wie Moral und gutes Leben zusammenhängen können. Erstens: Das individuell gute Leben besteht zur Gänze in einem Leben gemäß der Moral, so wie es zum Beispiel im Sinne der Antiken Tradition gefordert wird. Zweitens: Das individuell gute Leben ist vollkommen unabhängig von objektiven moralischen Ansprüchen. Eine solche Position wird zum Beispiel im Rahmen von rein egoistischen Positionen vertreten. Drittens: Das individuell gute Leben und moralische Ansprüche stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander und müssen als eine Einheit gedacht werden. Solche Ansätze werden zum Beispiel im Kontext des Neoaristotelismus in der Gegenwart vertreten. Die drei Positionen werden im nächsten Kapitel im Rekurs auf einige bedeutende Autoren aus der Antike, dem Mittelalter sowie aus der Moderne diskutiert. Die Darstellung der einzelnen Ansätze dient dazu, meine eigene Position in Anlehnung und Abgrenzung zu den Autoren zu entwickeln und für die Frage fruchtbar zu machen, wie das gute Leben im Zeitalter der Orientierungslosigkeit aussieht. Fangen wir mit der Frage nach dem guten Leben in der Antike an.
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IV. Die Frage nach dem guten Leben
Grundsätzlich kann man den drei Epochen – Antike, Mittelalter und Moderne – jeweils unterschiedliche Merkmale zuschreiben, die den Diskurs wesentlich bestimmt haben: Mit Blick auf die Antike (ca. 500 v. Chr. bis 500 n. Chr.) gilt, dass man – mit ganz wenigen Ausnahmen – das gute Leben des Einzelnen mit dem moralisch guten Leben identifiziert hat. Mit anderen Worten: Das Leben einer Person wurde als gut angesehen, wenn sie sich gegenüber ihren Mitmenschen moralisch verhalten hat. Dies ist die Essenz der tugendethischen Position, wie sie zum Beispiel von Aristoteles vertreten wird. Neben der aristotelischen Position werden wir ebenfalls sehen, auf welche Weise das moralisch Gute mit dem individuell guten Leben bei Aristipp von Kyrene (das hedonistische Leben), Diogenes von Sinope (das hündische Leben) und bei Epiktet (das stoische Leben) verbunden ist. Die Frage nach dem guten Leben im Mittelalter (um 476 n. Chr. bis 1500 n. Chr.) ist wesentlich durch das Christentum und die Hingabe an Gott geprägt. Ein gutes Leben ist immer auch ein gottgefälliges Leben. Zumindest gilt im christlich geprägten europäischen Mittelalter, dass ein Leben gemäß der Zehn Gebote, der Bibel und den Vorgaben des Papstes als moralisch gut angesehen wurde. Das Christentum im Mittelalter bildet jedoch keine homogene Weltsicht, sondern stellt eine sehr ausdifferenzierte religiöse Weltanschauung mit unterschiedlichen Positionen und Akzentuierungen dar. In diesem Kapitel können wir nicht allen Strömungen nachgehen, sondern konzentrieren uns daher auf die allgemeine biblische Ethik und ihre spezifischen Ausgestaltungen beim berühmten Kirchenvater Thomas von Aquin und dem großen Kirchenreformator Martin Luther. Der zeitgenössische Diskurs mit Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem guten Leben und dem moralisch Guten ist stark ausdifferenziert. Es gibt keine übergeordnete reli94 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
giöse Hintergrundmetaphysik, wie sie im christlichen Mittelalter vorherrscht. Die moderne Diskussion ist maßgeblich durch einen eher rationalen Diskurs geprägt, in dem versucht wird, sich von religiösen Tendenzen zu befreien. Viele moderne Autoren versuchen, eine metaphysikferne Position einzunehmen, bei der zumindest zwei wesentliche Punkte betont werden: Zum einen wird in der Regel nicht mehr angenommen, dass es das schlechthin gute Leben gibt, sondern es wird vielmehr vor dem Hintergrund des Pluralismus dafür argumentiert, dass es unterschiedliche Gestaltungsformen des individuell guten Lebens gibt, die sinnvoll sein können. Zum anderen glaubt man, dass es vernünftig ist, eine Zwischenposition zwischen den beiden Extremen (i.) das gute Leben besteht in einem ausschließlich moralisch guten Leben und (ii.) das gute Leben ist vollkommen unabhängig von moralischen Überlegungen einzunehmen. Hierbei kommt es natürlich auf die genaue Ausgestaltung an, die – je nach Autor/In – verschieden ist. An dieser Stelle gehen wir dann auf Martha C. Nussbaum, Philippa Foot und Susan Wolf ein, die zu den bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart zählen.
1. Die Antike und die Frage nach dem guten Leben Im Folgenden wollen wir die anspruchsvolle Glücksethik von Aristoteles (384–322 v. Chr.) darstellen, der neben seinem Lehrer Platon vermutlich der bedeutendste Philosoph aller Zeiten war und die Philosophie wie kein anderer nachhaltig geprägt hat. Im Anschluss daran folgt der Hedonist Aristipp von Kyrene (ca. 435– 366/55 v. Chr.), der als Ideal eines an Lust orientierten klugen Philosophen gilt und von allen Kollegen wegen seiner Persönlichkeit und seines heiteren Wesens hoch geschätzt wurde. Danach wenden wir uns dem berühmten Kyniker Diogenes von Sinope (412/404–323 v. Chr.) zu, der eine recht schillernde Person war und sogar eine Zeit lang in Athen in einer Tonne lebte, um seine Philosophie der Bedürfnislosigkeit zum Ausdruck zu bringen. Den Abschluss bildet der für die stoische Philosophie bedeutende
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Die Frage nach dem guten Leben
griechische Philosoph Epiktet (50–135 n. Chr.), der sogar eine Zeit lang in Rom als Sklave gehalten wurde. Eine der wichtigsten Quellen mit Blick auf das Leben und die Ansichten der antiken griechischen Philosophen ist das Werk des berühmten Biographen Diogenes Laértius (entstanden um 220 n. Chr.), der ungefähr im dritten nachchristlichen Jahrhundert lebte. Er nennt nicht nur die wichtigen Aspekte der philosophischen Lehren und die biographischen Einzelheiten der Personen, sondern beschreibt auch eine Vielzahl von unterhaltsamen und pikanten Details. Leider kennen wir nur einen ganz kleinen Bruchteil dessen, was in der Antike geschrieben wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass nur zwischen 3–15 % aller antiken Texte überliefert worden sind. Der Rest ist zerstört und verschollen, ob durch Zensur, Brände, Kriege oder Verfall. Klar ist, dass ein immenser geistiger Reichtum unbringbar vernichtet wurde und auch nicht mehr rekonstruierbar ist.
Aristoteles – Ein Leben gemäß der Tugenden Aristoteles ist einer der bedeutendsten und wirkmächtigsten Philosophen überhaupt und einer der wichtigsten Vertreter der klassischen Tugendethik. Er lebte im 4. Jahrhundert v. Chr., wurde 384 v. Chr. in Nordgriechenland in Stagira geboren und starb 322 v. Chr. in Chalkis auf Euböa. Er war Platons Meisterschüler, wurde von seinen Mitstudenten »the Brain« genannt und war ein echter Universalgelehrter, der eine Vielzahl der heutigen Wissenschaften begründet hat. Er grenzte sich jedoch später von seinem Lehrer durch gegensätzliche Positionen ab und beaufsichtigte sogar eine Zeit lang die Erziehung von Alexander dem Großen. Nur ein kleiner Bruchteil seines sehr umfangreichen wissenschaftlichen Werkes ist erhalten geblieben. Seinen Unterricht, so Diogenes Laértius, hielt er mit viel Pomade im Haar und üppig beringt vornehmlich im Peripatos, der berühmten Wandelhalle am Lykeion in Athen, ab. Eine auf Martin Heidegger zurückgehende, etwas nüchterne, jedoch treffende Beschreibung zur Biographie
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Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
des Griechen besagt, dass Aristoteles geboren wurde, arbeitete und starb. Insbesondere die ethischen Schriften des Aristoteles – Nikomachische Ethik, Eudemische Ethik und Magna Moralia (letztere Schrift stammt nicht von Aristoteles selbst, sondern ist in seinem akademischen Dunstkreis entstanden) – und die politische Hauptschrift Politik, die ebenfalls einige wichtige ethische Einsichten enthält, haben zusammen mit seiner Schrift Metaphysik die Nachwelt nachhaltig geprägt. Die Nikomachische Ethik ist Aristoteles’ ethische Hauptschrift und am weitesten ausgereift. 28 Im Folgenden werden die Hauptpunkte der aristotelischen Position in groben Zügen dargestellt. Während Platon noch im zweiten Kapitel seiner politisch-ethischen Hauptschrift Politeia versucht, den moralischen Skeptiker zu überzeugen, betont Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik, dass sein Ziel nicht darin besteht, die relativistische Position der Sophisten zu widerlegen, sondern seine Ethik vielmehr an diejenigen gerichtet ist, die bereits über eine angemessene ethische Erziehung verfügen. Wer wie die moralischen Skeptiker unter eine gewisse ethische Grenze fällt, so Aristoteles, ist ungeeignet, seinen ethischen Ausführungen beizuwohnen. Nach Aristoteles geht es darum, den Menschen zu zeigen, wie sie eine gute oder tugendhafte Person werden können. Die Tugendethik ist eine sogenannte teleologische Strebensethik. Sie ist teleologisch, weil es in der Tugendethik ein höchstes Ziel, nämlich die Glückseligkeit, gibt, das von den Menschen angestrebt wird. Worin die Glückseligkeit jedoch besteht, wird im Folgenden noch etwas genauer gezeigt. Während die modernen Prinzipienethiken wie Kants Pflichtethik oder der Utilitarismus die moralisch gute bzw. richtige Handlung oder die positiven Folgen in den Mittelpunkt stellen, fragt die Tugendethik nach dem guten Leben und den ethischen Tugenden. Freilich geht es auch bei der Tugendethik um den Vollzug von entsprechenden Handlungen, doch im Vordergrund steht zunächst der Charakter der Menschen. Nach Aristoteles ist eine Handlung dann moralisch gut, wenn sie entsprechend tugendhaft
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Die Frage nach dem guten Leben
ist und von einer moralisch guten bzw. tugendhaften Person ohne Schwanken auf eine bestimmte Art und Weise ausgeführt wird. Alle Menschen, so Aristoteles, streben von Natur aus nach Glückseligkeit. Der Ausdruck Glückseligkeit meint hier nicht ein kurzweiliges Gefühl, das die Menschen in einer bestimmten Situation haben, wenn sie zum Beispiel in der Lotterie gewinnen. Der Begriff Glückseligkeit bezieht sich vielmehr im tugendethischen Sinne auf die Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben führen; es geht also um das gute oder tugendhafte Leben als Ganzes. Erst am Ende eines menschlichen Lebens kann beurteilt werden, ob das jeweilige Leben tugendhaft war oder nicht. Nach Aristoteles ist die Glückseligkeit das höchste Gut, das um seiner selbst willen angestrebt wird; ferner ist sie ein vollkommenes Gut, weil sie um ihrer selbst willen und niemals wegen eines anderen Gutes wegen gewollt wird. Wer das gesuchte Gut hat, dem fehlt es an nichts, ein solches Leben kann durch nichts weiter verbessert werden, die Glückseligkeit ist sich selbst genug. Doch um welche Art von Gütern geht es? Aristoteles unterscheidet drei Arten von Gütern: Die äußeren Güter (Reichtum, Freundschaften, gute Herkunft und Nachkommen, Ehre); die inneren Güter des Körpers (Gesundheit, Schönheit, Stärke, athletische Fähigkeiten) und die inneren Güter der Seele, das heißt, die Tugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit etc.). Nur bei den Tugenden gibt es kein Übermaß und sie können auch nicht auf eine schlechte Art und Weise verwendet werden. Hat man eine Tugend, dann folgen die anderen nach. Mit anderen Worten: Alle ethischen Tugenden hängen miteinander zusammen; sobald man also eine spezifische Tugend wie die Gerechtigkeit erworben hat, weiß man auch, wie man sich in den Handlungsbereichen der anderen Tugenden zu verhalten hat. 29 Die Glückseligkeit ist nach Aristoteles eine theoretische Tätigkeit, die an sich begehrenswert ist und das Göttlichste im Menschen darstellt. Hierbei handelt es sich um das Denken. So preist Aristoteles die Glückseligkeit als eine Art ernster Arbeit, die mit Lust verbunden ist. Eine Person ist umso glücklicher, je mehr diese sich der ernsthaften Arbeit, nämlich Philosophie zu betreiben, widmet. Dies ist natürlich eine sehr elitäre Sichtweise, die jedoch 98 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
– so kann ich berichten – von nicht wenigen Kollegen geteilt wird. Ich selbst kann mir nichts Schöneres und Erhabeneres vorstellen, als meine Zeit mit Denken zu verbringen, während ich aus dem Fenster auf das Kurische Haff blicke. Was bedeutet Glückseligkeit? Um diese Frage zu beantworten, geht Aristoteles zunächst von einigen einfachen Beispielen aus. Die eigentliche Funktion eines Messers besteht darin, etwas zu schneiden. Wenn das Messer seine Funktion gut ausführt, dann hat das Messer Gutsein. Mit anderen Worten: Das Gutsein von X besteht im guten Vollzug der eigentümlichen Funktion von X. Ein anderes Beispiel: Die eigentümliche Funktion eines Flötenspielers ist das Flötenspielen. Die gute Funktion eines Flötenspielers besteht darin, dass er die Flöte gut spielt. Aristoteles fragt nun, ob der Mensch als Mensch eine ihm eigentümliche Funktion hat. Aristoteles glaubt fest daran. Dies bildet den Anfangspunkt für die Definition des Begriffs Glückseligkeit. Aristoteles argumentiert wie folgt 30: Zu philosophieren ist das größte und ehrenwerteste Ziel im menschlichen Leben. 31 Ein gutes Leben zu führen besteht darin, ein Leben gemäß der Vernunft zu führen. Dies ist die Standardinterpretation. Eine davon abweichende Interpretation wird vor allem von den Neoaristotelikern des 20. Jahrhunderts wie zum Beispiel Martha C. Nussbaum vertreten, die davon ausgeht, dass ein glückseliges Leben zwar ein Leben gemäß der Vernunft ist, aber zusätzlich noch weitere Dinge beinhaltet wie zum Beispiel Beziehungen zu Mitmenschen haben, Tiere, Spielen, Lachen, das Ausleben von Sexualität, Gesundheit, gutes Essen und Trinken etc. Neoaristoteliker wie Nussbaum setzen zweifellos wichtige Impulse mit Blick auf eine Weiterentwicklung der klassischen aristotelischen Tugendethik. Mit Blick auf die eigentümliche Funktion des Menschen geht Aristoteles über Platon hinaus und erklärt, dass das Gutsein eher im Charakter des Menschen begründet ist und nicht nur im aktiven Vollzug desselben besteht. Dies belegt Aristoteles mit einem einfachen Beispiel: Die gute und die schlechte Person sind mit Blick auf den Vollzug der typisch menschlichen Funktion während der Hälfte ihrer Lebenszeit als gleich anzusehen, weil sie beide schlafen müssen. In dieser Zeit werden also keine bewussten 99 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Handlungen vollzogen. Wenn wir jedoch Aristoteles’ Vorschlag berücksichtigen, dann können wir auch während der Schlafenszeit zwischen guten und schlechten Personen differenzieren, indem wir auf die unterschiedlichen Charaktere beider Personen hinweisen können. Der Schwerpunkt der aristotelischen Ethik liegt auf den ethischen Tugenden. Dies ist der Grund, warum die Tugendethik eine charakterzentrierte Ethik ist. Ethische Tugenden sind Charakterzüge wie zum Beispiel Tapferkeit und Gerechtigkeit, die die Grundlage menschlicher Handlungen sind. Aristoteles untersucht 13 ethische Tugenden in der Nikomachischen Ethik, die jeweils von zwei Extremen flankiert werden: Übermaß und Mangel. Jede ethische Tugend liegt in der Mitte beider Extreme. Aristoteles betont, dass nur diejenigen Handlungen, die genau einer ethischen Tugend entsprechen, einen moralischen Wert besitzen. Handlungen, die die Mitte gering verfehlen, sind zwar nicht tadelnswert, verfügen aber insgesamt über keinen echten moralischen Wert (Lehre vom Mittleren). Das folgende Beispiel soll dies näher verdeutlichen: Nach Aristoteles und anderen Tugendethikern wird man zum Beispiel nur dann eine tapfere Person, wenn man gemäß der Tugend der Tapferkeit handelt, die in der Mitte zwischen Feigheit (Mangel) und Tollkühnheit (Übermaß) liegt. Je mehr man also tapfere Handlungen vollzieht, desto stärker entwickelt sich dann ein tapferer Charakterzug. Falls eine Person wirklich die ethische Tugend der Tapferkeit internalisiert hat, wird diese Person nicht mehr fähig sein, anders als von der Tugend gefordert zu handeln. Dies gilt für jede ethische Tugend. Der entscheidende Punkt ist, dass alle ethischen Tugenden einen starken sozialen Bezug haben. Insofern die Tugenden immer auf das Wohl des Anderen gerichtet sind, zielen sie naturgemäß stets auf eine andere Person. Die grundlegende Idee dahinter ist, dass man nur dann eine gute Person wird, wenn man moralisch handelt, das heißt, wenn man zu Gunsten einer anderen Person handelt. Dagegen wurde jedoch eingewandt, dass man nur darum zu Gunsten anderer Personen handeln würde, weil man die eigenen ganz egoistischen Bedürfnisse befriedigen will, 100 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
nämlich eine moralisch gute Person zu werden. Ob der Einwand jedoch plausibel ist, erscheint durchaus fraglich, da die tugendethische Position tiefer geht, als die Kritiker wie Kant eingestehen wollen. Das Motiv tugendethischer Handlungen geht nicht auf einen rationalen Egoismus zurück, sondern besteht vielmehr im ehrlichen und wahrhaftigen Wunsch dem jeweils Anderen zu helfen. So handelt die tapfere Person gemäß ihres Charakters. Nicht das eigene Wohl, sondern das Wohl des jeweils Anderen ist ausschlaggebend, wie zum Beispiel mit Blick auf die eigenen Kameraden in der Schlachtreihe. In diesem Kontext bedeutet »tapfer sein«, sich den Gefahren zu stellen und sich gegen die feindlichen Angriffe zu wehren. Die Schlachtreihe wird nicht verlassen, um das eigene Leben zu retten. Damit würde man nicht nur die eigenen Kameraden, sondern auch die gesamte Polisgemeinschaft gefährden, was unmoralisch wäre. Eine wahrhaft tapfere Person fühlt und handelt gemäß der Tugend der Tapferkeit. Wie wir gesehen haben, streben die Menschen nach Glückseligkeit; sie wollen ein glückliches Leben führen. Um eine tugendhafte Person zu werden, muss man entsprechend handeln. Doch was heißt das genau? Was ist eine tugendhafte oder moralisch gute Handlung? Im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung eine moralisch gute Handlung ist. 32 Erstens: Der Handelnde muss wissentlich handeln, indem er die Handlung aktiv durchführt und sich dabei über die besonderen Umstände der jeweiligen Handlung genau im Klaren ist. Die Handlung als solche darf nicht zufällig entstanden sein. Zweitens: Der Handelnde muss vorsätzlich handeln; das heißt, er trifft eine überlegte Entscheidung auf der Grundlage von Argumenten. Die Handlung erfolgt um ihrer selbst willen. Drittens: Der Handelnde agiert fest und ohne Schwanken; das heißt, die Handlungen stammen von einem festen Charakterzug, wobei sich der Handelnde über die Richtigkeit der spezifischen Handlung sicher ist. Nach Aristoteles beurteilt die praktisch kluge Person alles richtig, findet in allem das wahrhaft Gute heraus und ist gleichsam die Regel und das Maß. Eine solche Person kann nicht schlecht han101 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
deln. Man kann nicht tugendhaft sein, ohne gleichzeitig klug zu sein und umgekehrt ist es nicht möglich, dass eine Person klug ist, ohne gleichzeitig tugendhaft zu sein. Was Klugheit ist, so Aristoteles, ergibt sich aus der Beobachtung einer solchen Person. Eine kluge Person ist, welche wohl zu überlegen weiß, was ihr gut und nützlich ist in Bezug auf das, was das menschliche Leben gut und glückselig macht. Woher weiß die praktisch kluge Person aber, was in einer bestimmten Situation richtig ist, wenn es keinen weiteren Referenzpunkt außer ihr selbst gibt? Ob dies nun zirkulär ist oder ob Aristoteles in der Lage ist, das Problem der Zirkularität aufzulösen, ist in der Forschung umstritten und kann an dieser Stelle auch nicht weiter verfolgt werden. Aristoteles glaubt, dass es zwei unterschiedliche Wege gibt, Glückseligkeit zu erlangen: Zum einen geht er davon aus, dass man glückselig wird, wenn man Philosophie betreibt; zum anderen kann man jedoch auch glückselig werden, wenn man sich an den ethisch-politischen Tugenden der Polisgemeinschaft orientiert und sein Leben danach ausrichtet. Offenkundig ist die erste Sichtweise zu elitär und abgehoben, um für unsere Zwecke geeignet zu sein (ungeachtet ihrer philosophischen Attraktivität), so dass man sich eher der zweiten Lesart annehmen und für die moderne Diskussion fruchtbar machen sollte. Tugendethische Positionen – so auch die aristotelische – betonen grundsätzlich, dass man danach streben sollte, einen tugendhaften Charakter auszubilden. Je tugendhafter man ist, desto glücklicher ist man nach Aristoteles. Es geht weniger um einzelne Handlungen, sondern primär um die Frage, wie man das gute Leben erreichen kann. Das gute Leben, so Aristoteles, ist ein Leben, dass bestimmten objektiven moralischen Maßstäben – den ethisch-politischen Tugenden – gerecht werden muss. Die Tugenden sind auf den jeweils Anderen gerichtet und haben somit immer eine soziale Dimension. Diese soziale Perspektive ist für die Herausbildung des eigenen tugendhaften Charakters wesentlich. Nach Aristoteles ist das gute bzw. tugendhafte Leben ein moralisches Leben, das unbedingt objektiven Standards genügen muss. Neoaristotelische Positionen, wie sie zum Beispiel von Martha C. Nussbaum, Philippa Foot und Susan Wolf vertreten wer102 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
den, haben den Vorteil, dass sie mit Blick auf die Frage, worin das gute Leben besteht, ebenfalls die eigenen Ziele, wertvolle Projekte und individuelle Interessen für das gute und gelingende Leben als zentral ansehen. Das gute Leben besteht also nicht mehr nur darin, objektiven Standards gerecht zu werden, sondern bietet auch subjektiven Interessen Raum. Ich bin davon überzeugt, dass das gute Leben im Rekurs auf solche Überlegungen am besten beschrieben werden kann. Dazu später mehr. Neben dem Fokus auf den tugendhaften Charakter (anstatt von Handlungen) und der Betonung, dass sowohl objektive Standards als auch subjektive Interessen eine wichtige Rolle mit Blick auf das Gelingen des eigenen guten Lebens spielen, ist die soziale Eintracht für ein harmonisches Miteinander in einer Gemeinschaft grundlegend. Wenn sich die Mitglieder der Gemeinschaft an die ethisch-politischen Tugenden halten, dann hat man bereits viel mit Blick auf den sozialen Frieden erreicht. Klar ist, dass heutzutage andere als die antiken Tugenden wichtig sind und man nicht den Fehler machen sollte, die Aristotelischen Tugenden eins-zu-eins auf die Gegenwart zu übertragen. Es gibt einige antike Tugenden, die universell sind und unabhängig von bestimmten Zeiten gelten; es gibt jedoch andere Tugenden, die relativ sind und einem zeitlichen Wandel unterliegen. 33 Die Tugendethik ist eine überaus wirkmächtige Position, die in den letzten 2.400 Jahren viele Anhänger gefunden hat und auch heutzutage noch viele Menschen in ihren Bann zieht. Die Beschäftigung mit der Tugendethik mag nun aus wissenschaftlichem Interesse erfolgen oder im Sinne einer ratgeberischen Funktion für Fragen des guten Lebens interessant sein. Fragen des guten Lebens sind Fragen, mit denen sich die Menschen immer beschäftigen werden, wobei Aristoteles mit seiner tugendethischen Position hierauf eine klassische Antwort liefert.
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Die Frage nach dem guten Leben
Aristipp von Kyrene – Das gute Leben ist ein lustvolles Leben 34 Aristipp von Kyrene war ein bekannter Philosoph in der Antike, der im Allgemeinen bei vielen auf Grund seiner Persönlichkeit und seines heiteren Wesens hoch angesehen war. Er ist ca. 435 v. Chr. in Kyrene geboren und um 355 v. Chr. gestorben. Er war wie Platon ein Schüler von Sokrates und der erste Sokratesschüler, der für seinen Unterricht Geld genommen hat. Er gründete die Schule der Kyrenaiker und gilt als Vater des Hedonismus, einer an der körperlichen Lust orientierten Denkrichtung. Der spätere Epikureismus hat sich in Anlehnung und Abgrenzung zum Kyrenaismus entwickelt. Keine von Aristipps Schriften ist erhalten geblieben. Das, was man über ihn weiß, findet sich in kurzen Berichten zu seinem Leben und Werk bei anderen Philosophen und Biographen wie Diogenes Laértius, der vermutlich die wichtigste Quelle ist. Mit den Kynikern teilt Aristipp die Ansicht, dass das Wissen nur mit Blick auf die praktischen Dinge nützlich ist. Der theoretischen Philosophie konnte er nie etwas abgewinnen. Alle Handlungen, so Aristipp, sollten immer nach dem Höchstmaß an Lust streben, da die körperliche Lust das höchste Gut darstellt. Es gibt graduelle qualitative Unterschiede mit Blick auf die Güter. Die Kyrenaiker glauben, dass die Glückseligkeit – verstanden als langfristiger Zustand – nicht das Ziel des menschlichen Lebens ist, so wie Aristoteles annimmt, sondern in der körperlichen Lust des Augenblicks besteht, dass das wahre Ziel des Lebens ist. Die Begründung dafür ist interessant: Die Vergangenheit ist vorbei und die Zukunft ist ungewiss, daher ist nur das Hier und Jetzt entscheidend, da die unmittelbaren Gefühle den einzigen verlässlichen Pfad zu dem darstellen, was wirklich wertvoll ist. Die praktische Klugheit ist die Voraussetzung für Glückseligkeit. Sie hat, so Aristipp, lediglich einen rein instrumentellen Wert für die Menschen, damit sie Lust erlangen können. Aristipp und die Kyrenaiker strebten das Maximum an Lust in jedem Moment an, ohne davon jedoch hinweggerissen zu werden. In jeder Situation, so Aristipp, muss man unbedingt die Oberhand be104 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
halten und darf sich nicht von seinen Gelüsten bestimmen lassen: »Ich besitze, werde aber nicht besessen!«, soll Aristipp gesagt haben. Aristipp von Kyrene war ein echter Meister der Selbstbeherrschung, der in der Lage war, jede geeignete Situation in Möglichkeiten für körperliche Lust zu verwandeln. Er war ein Freund des luxuriösen Lebens und der Unterhaltung und machte stets das Beste aus jeder Situation. Er konnte jedoch ebenso mit einem kargen Mal und in einfachen Verhältnissen lebend glücklich sein, wenn es die Situation erforderte. Aristipp lehrte, dass man in der Lage sein muss, seine Wünsche zu begrenzen, wenn Gefahr besteht, dass sie einen in Schwierigkeiten bringen würden. Man muss Selbstbeherrschung bewahren, seine Glückseligkeit sichern, nach innerer Freiheit streben und heiter sein. Die Betonung der Selbstbeherrschung teilt Aristipp mit seinem Lehrer Sokrates, obgleich dieser sowohl sein Streben nach körperlicher Lust als auch seine Ablehnung von Wissen klar verurteilen würde. Es ist schon erstaunlich, dass der große Lehrer Sokrates Ausgangspunkt von teils so unterschiedlichen philosophischen Strömungen geworden ist. So beruft sich nicht nur Platon – der Lehrer von Aristoteles –, sondern auch die Kyrenaiker – wie Aristipp von Kyrene – und die Kyniker, die Prediger der Bedürfnislosigkeit wie Diogenes von Sinope, auf sokratische Lehren. Auch wenn der alleinige Fokus auf die körperlichen Gelüste mit Blick auf die Frage nach dem guten Leben in der Gegenwart sicherlich zu kurz greifen würde, erscheinen Aristipps Überlegungen für die Frage nach den eigenen Projekten und Interessen dennoch wichtig zu sein. Ein nur tugendhaftes Leben zu leben, so wie Aristoteles es empfiehlt, mag sich der menschlichen Natur gewiss entziehen. Aristipps Lehre berücksichtigt keine moralischen Ansprüche, die notwendig gegeben sein müssen, damit man von einem glücklichen Leben sprechen kann. Glückseligkeit bedeutet im hedonistischen Denken die maximale Befriedigung der eigenen körperlichen Gelüste. Dies heißt natürlich nicht, dass seine Lehre auch mit unmoralischen Handlungen in Einklang gebracht werden kann. Zwei Beispiele mögen dies erhellen: Es könnte natürlich sein, dass jemand, der gerne Tiere quält, körperliche Lust dabei emp105 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
findet und in dem Augenblick glücklich ist. Nach Aristipp sollte man sich jedoch von Handlungen, die einen in Schwierigkeiten bringen können, fern halten. Wenn der Tierquäler entdeckt wird und es Gesetze gegen Tierquälerei gibt, dann handelt sich die betreffende Person Probleme ein. Oder: Wenn es einen moralischen Trittbrettfahrer gibt, der sich selbst nicht an moralische Normen hält, aber davon profitiert, dass seine Mitmenschen dies tun, dann mag die Person zwar in den Momenten glücklich sein, doch die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, wäre nach der kyrenaischen Sichtweise bereits Grund genug, sich nicht so zu verhalten. Die negativen Folgen würden die kurzfristigen körperlichen Gelüste nicht aufwiegen können. Die kyrenaische Selbstbeherrschung und der Hinweis, dass man seine Wünsche entsprechend begrenzen sollte, sind wichtige Aspekte für das eigene gute Leben. Die verfeinerte Lebensart sollte das Ziel sein. Man sollte in der Lage sein, sowohl körperliche Lust bei einem üppigen Festmahl zu empfinden als auch bei einer kargen Brotzeit. Flexibilität ist eine Lebenskunst, die ein wichtiger Aspekt mit Blick auf das gute Leben sein kann. Auch wenn Aristipp keine moralischen Ansprüche wie Aristoteles formuliert, so kommt seine Position nicht ohne die minimalen Anforderungen der Moral aus. Die eigenen Projekte und Interessen im Kontext des guten Lebens sind zwar das wichtigste, doch sie dürfen einen nicht negativ gefährden. Negative Folgen können zum Teil durch das Einhalten von moralischen Ansprüchen begrenzt werden. Und dies, so scheint es, ist die wichtigste Lehre, die man aus der kyrenaischen Position für das eigene gute Leben ziehen kann. Auch wenn der rein philosophische Beitrag der Kyrenaiker insgesamt recht dürftig ist, muss ich jedoch einräumen, dass mich Aristipp als Person und seine spezifische Glückslehre irgendwie faszinieren. Die Vorstellung, dass man lediglich seine körperliche Lust maximieren müsse, um ein gutes Leben zu führen, erscheint durchaus attraktiv. Stellen Sie sich vor, dass Sie immer an einer reich gedeckten Tafel speisen, Ihren Hobbies und sportlichen Aktivitäten nachgehen, seltene Single Malts trinken (zumindest wenn Sie wie ich ein Whiskyfreund sind), Freundschaften pflegen und genau das tun können, was Sie eigentlich wollen. Was ist 106 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
eigentlich falsch daran? Mit Blick auf Aristipp ist es in der Forschung umstritten, ob er auch mentale Lüste in seine Glückstheorie einbezieht. Ein Kritikpunkt wäre also, dass man ebenfalls die mentalen Lüste mit Blick auf die Frage, worin das gute Leben besteht, berücksichtigen sollte. Das Lesen von sehr guten Büchern kann einen bereichern und wirklich viel Freude bringen. Als junger Student habe ich Epiktets Buch Das Handbüchlein der Moral verschlungen und 1–2 Jahre lang stets bei mir getragen. Bücher können lebensverändernd sein. Gleichwohl Epiktet natürlich eine ganz andere Lebensphilosophie vertritt als Aristipp, kann man sich dennoch an der Lektüre erfreuen und unzählige Stunden darüber nachsinnen. Sich von schlechten Handlungen fern zu halten und die eigenen Wünsche zu beschneiden, wenn keine anderen Möglichkeiten vorhanden sind – also Selbstbeherrschung zu üben –, sind kluge Einsichten, die man unbedingt für die eigene Lebensführung im Blick haben sollte. Nicht nur Aristoteles, sondern auch Aristipp verdient es, hier ernst genommen zu werden.
Der Kynismus – Ein Leben in Bedürfnislosigkeit Der Kynismus ist eine philosophische Strömung, die sich der absoluten Bedürfnislosigkeit verschrieben hat. Der Begründer des Kynismus ist der bedeutende Sokratesschüler Antisthenes von Athen (ca. 455 v. Chr. – um 365/60 v. Chr.), der die sokratische Bedürfnislosigkeit ins Extreme getrieben und zahlreiche Schriften verfasst hat, von denen nur ein kleiner Bruchteil erhalten geblieben ist. In vielerlei Hinsicht kann man den Kynismus als eine Gegenposition zum Kyrenaismus verstehen. Neben Antisthenes, der sich nicht nur mit ethischen und politischen Fragen beschäftigt, sondern auch über Homers Dichtkunst, Logik und Erkenntnistheorie gearbeitet hat, gilt sein Schüler Diogenes von Sinope (ca. 413 v. Chr. – ca. 323 v. Chr.) als einer der bekanntesten Vertreter des Kynismus. Es ist jedoch in der Forschung nach wie vor umstritten, ob Diogenes von Sinope überhaupt Schriften verfasst hat. Aus dem Kynismus wird sich später in Anlehnung und Abgrenzung die bedeutende Schule der Stoa entwickeln (ab ca. 107 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
300 v. Chr.), die über mehrere Jahrhunderte hinweg herausragende Philosophen hervorgebracht hat und einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der Philosophie nahm. Was wir über den Kynismus wissen, ist größtenteils indirekt von anderen antiken Autoren oder Biographen wie Diogenes Laértius vermittelt worden. Entweder mit Blick auf eine Diskussion von Argumenten und Thesen oder wie im Fall von Diogenes mittels einer Vielzahl von durchaus amüsanten Anekdoten. Nach der kynischen Lehre ist die praktische Klugheit ein Gut und für die Erlangung von Glückseligkeit hinreichend. Was kann man darunter verstehen? Die Fähigkeit zu denken ist die typische Eigenschaft des Menschen und, so Antisthenes, das einzig wahre Gut des Menschen. Damit grenzt er sich gegen die Kyrenaiker ab und betont, dass die Lust niemals ein Gut sein kann. Dinge wie Tod, Krankheit, Knechtschaft, Armut, Schande und harte Arbeit werden gemeinhin als Übel charakterisiert, sind aber nach der kynischen Lehre nicht wirklich schlecht. Man sollte vielmehr gleichgültig mit Blick auf die eigene Ehre, Eigentum, Freiheit, Gesundheit und das eigene Leben sein. Das von Bedürfnislosigkeit geprägte Leben eines Bettlers erscheint vielen Kynikern als Ideal eines guten Lebens. Nichts zu bedürfen und möglichst keine materiellen Güter zu haben, wie Diogenes es vorlebt, wird von den Kynikern angestrebt. Mit den Sophisten teilen sie die Abneigung gegenüber allen kulturellen und religiösen Riten und Praktiken. Darüber hinaus sollte man sich stets von schlechten Dingen fern halten und immer danach streben, Gleichgültigkeit zu erreichen und Gelassenheit zu bewahren, so wie es später auch von den Stoikern gefordert wird. Ohne Zweifel war Diogenes von Sinope ein radikaler Provokateur, der sich vor allem durch seine Scham- und Bedürfnislosigkeit ausgezeichnet hat. Die Grundbedürfnisse des Menschen, so Diogenes, sind auf Essen und Trinken, Kleidung, Unterkunft und auf das Ausleben von Sexualität beschränkt. Das Essen in der Öffentlichkeit, was in der Antike als wenig schicklich galt und das Masturbieren auf dem Marktplatz zeigen deutlich, dass er sich keinen gesellschaftlichen Konventionen unterordnen wollte. Er gilt als erster Kosmopolit (Weltbürger), da er jedwede staatliche 108 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
Form ablehnte und glaubte, dass der Kosmos die einzig wahre Ordnung vorgebe. Mit Platon geriet er immer wieder aneinander. Diogenes konnte es einfach nicht unterlassen, Platon auf unterschiedliche Weise mit Blick auf seine philosophischen Lehren 35 durchaus erfolgreich vorzuführen. Grundsätzlich könnte man mit Recht behaupten, dass Diogenes die Lehren des Kynismus radikalisiert und auf den Bereich der Ethik begrenzt; sein philosophischer Beitrag besteht vor allem in der strikten Umsetzung der kynischen Lehre im Alltag. Auf den ersten Blick könnte man glauben, dass der Kynismus mit Blick auf unsere Frage, worin das gute Leben besteht, wenig für die moderne Diskussion bereithält. Dies wäre jedoch eine Fehleinschätzung. Auf den zweiten Blick findet man eine Reihe von wichtigen Überlegungen, die man auch oder gerade für die Gegenwart fruchtbar machen kann. Einige Aspekte des Kynismus helfen uns, zu verstehen, wie wir ein besseres Leben führen können. Man muss sich nicht unbedingt an den durchaus extremen Vorschlag von Diogenes halten und nur die Grundbedürfnisse des Menschen in den Blick nehmen. Vielmehr erscheint die dahinter liegende These, dass man sich zumindest stärker von den materiellen Bedürfnissen lossagen sollte, durchaus überzeugend zu sein. Das tugendhafte Leben hängt nicht von materiellen Reichtümern ab; man kann auch glücklich werden, wenn man kein Millionär ist. Die kynische Lehre besagt unter anderem, dass Armut und Krankheiten nicht schlecht sind bzw. keine Übel darstellen. Warum ist dies für die moderne Diskussion relevant? Die Vorstellung, dass Armut ein echter Hinderungsgrund mit Blick auf das gute Leben ist, kann dadurch entkräftet werden, dass wir einfachhin unsere spezifischen Einstellungen dazu verändern müssen, um fortan in der Lage zu sein, auch im Kontext von extremer Armut – so wie es Diogenes von Sinope vorgelebt hat – nicht die Hoffnung zu verlieren, dennoch ein gutes Leben führen zu können. Sind wir also in der Lage, unsere Einstellungen zu bestimmten Dingen zu verändern (Reichtum ist gut und Armut ist schlecht), dann befreien wir uns von teils idiosynkratischen gesellschaftlichen Normen und können insgesamt ein besseres und freieres Leben führen. 109 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Mit Blick auf Krankheiten und Tod gilt dasselbe. Die Kyniker – sowie die Stoiker – glauben fest daran, dass man Gelassenheit anstreben sollte, um seine Seelenruhe nicht zu gefährden. Es ist in erster Linie unsere Einstellung zu den Dingen, die uns bewegt und in Unruhe versetzen kann. Bestimmte Dinge, die nicht in unserer Verfügungsgewalt liegen, kann man nicht verhindern und daher sollte man diese mit (mehr) Gelassenheit hinnehmen. Dass dies oftmals nicht einfach ist, ist klar, doch man kann sich selbst durch Übungen dazu bringen, gelassener zu werden. Hinzu kommt, dass die kynische Lehre uns auch mit Blick auf die Meinung anderer über uns weiterhelfen kann. Wir lassen uns im alltäglichen Leben viel zu sehr davon beeinflussen, was andere über uns denken. Mit Recht glauben die Kyniker, dass wir uns davon nicht beeinflussen lassen sollten und uns ebenfalls in Gelassenheit üben müssen. Niemand sagt (auch die Kyniker nicht!), dass dies einfach ist, doch jede Person hat die Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln und ein besseres Leben zu leben. Der Kynismus ist dafür bekannt, dass die Anhänger unter anderem religiöse und kulturelle Praktiken ablehnen. Dies könnte ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass die Unterschiede zwischen den Menschen, die erst mit einer bestimmten Zugehörigkeit statuiert werden, die eigentliche Wahrheit mit Blick auf die fundamentale Gleichheit der Menschen verdecken. Andersheit, so könnte man vor diesem Hintergrund argumentieren, wird erst durch eine künstliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion und Kultur etc. statuiert, obgleich im Sinne des Kosmopolitismus klar sein sollte, dass dies falsch ist. Das gute Leben zeichnet sich unter anderem darin aus, dass die Person, die ein solches Leben führt, authentisch ist. Zweifelsohne kann man Diogenes vieles bezüglich seiner Scham- und Bedürfnislosigkeit vorwerfen. Allerdings bleibt festzustellen, dass er sich selbst stets treu geblieben ist und versucht hat, so zu handeln, wie er glaubt, dass es moralisch richtig ist. Er ist authentisch und gibt nicht vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Wenn wir heutzutage versuchen, ein gutes Leben zu führen, dann müssen wir es ihm gleichtun und uns nicht verstellen, sondern entsprechend unserer moralischen Einstellung handeln. Dann sind wir mit uns im Reinen. 110 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
Ein letztes Beispiel: Ein sehr guter litauischer Freund von mir, ein moderner Diogenes (allerdings sehr viel sozial verträglicher), ist ein Paradebeispiel dafür, wie man sein Leben erfolgreich umgestalten kann. Vor vielen Jahren lebte er ein durchaus luxuriöses Leben, er konnte sich alles leisten und hat die Welt gesehen. Dann vollzog er eine innere Wandlung und lebt nunmehr ein Leben, so könnte man mit Recht sagen, in absoluter Bedürfnislosigkeit. Er ist eine sehr intelligente Person, sehr hilfsbereit und ein überaus unterhaltsamer Gesprächspartner, der gelernt hat, seine Wünsche entsprechend anzupassen (vgl. Aristipp). Derzeit lebt er ein recht karges, aber dafür glückliches Leben. Wir sehen uns regelmäßig, genießen ein gutes Mahl zusammen und erfreuen uns an Single Malts. Ich bewundere seine Fähigkeit, seine Bedürfnisse einzuschränken und stelle mir hin und wieder vor, ob ich dies wohl auch könnte. Gleichwohl mich das Konzept der Bedürfnislosigkeit und die damit verbundene Selbstbeherrschung fasziniert, bin ich dennoch froh, dass es unterschiedliche Wege nach Rom gibt.
Die Stoa – Ein Leben gemäß der Natur Die enorm einflussreiche philosophische Lehre der Stoa hat sich um 300 v. Chr. in der Auseinandersetzung mit dem Kynismus und anderen philosophischen Strömungen in Athen entwickelt und hatte viele Jahrhunderte lang bis in die römische Zeit Bestand. Zenon von Kition gilt als ihr Begründer und wurde ca. 333/32 v. Chr. in Kition geboren. Um 312 v. Chr. ging er nach Athen, um Philosophie zu studieren, wo er den Unterricht von verschiedenen Lehrern aus unterschiedlichen Schulen besuchte. Dazu zählten vor allem die Kyniker, aber auch Dialektiker – Philosophen aus Megara, die sich vornehmlich mit logischen Fragen befassten – und Akademiker (die Schüler Platons). Zenon starb ca. 262/61 v. Chr. Die stoische Lehre umfasst sowohl die Bereiche der Ethik (einschließlich der Politik) und Physik (dazu zählt Theologie, Kosmologie, Anthropologie und Psychologie) als auch den der Logik (dazu zählt Dialektik, Grammatik und Rhetorik). Die Quellenlage ist ausgesprochen dürftig: Aus den beiden 111 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Epochen der älteren Stoa (um 300 bis ca. 130 v. Chr.) und der mittleren Stoa (um 130 bis ca. 50 v. Chr.) sind keine vollständigen Schriften – bis auf Kleanthes’ Hymnus auf Zeus – erhalten. Ein kleiner Teil der Lehren der älteren Stoa wurde hauptsächlich von Diogenes Laértius, Pseudo-Plutarch – eine Gruppe von unbekannten Autoren, deren Werke fälschlicherweise Plutarch zugeordnet werden – und Johannes Stobaios (er lebte im 5. Jahrhundert n. Chr.) festgehalten. Unsere Kenntnisse mit Blick auf die Lehren der mittleren Stoa fußen vor allem auf dem Werk Vom höchsten Gut und vom größten Übel (entstanden 45 v. Chr.) von Cicero, dem berühmten römischen Politiker und Philosophen (106–43 v. Chr.). Die Lehren der jüngeren Stoa (1. und 2. Jahrhundert n. Chr.) sind nahezu vollständig im Original erhalten. Zu den wichtigsten Vertretern zählen unter anderem der bedeutende römische Politiker und Philosoph Seneca (1–65 n. Chr.), der römische Philosoph Rufus (30–80 n. Chr.), sein berühmter Schüler Epiktet 36 (um 50 – ca. 138 n. Chr.) und schließlich der römische Kaiser und Philosoph Mark Aurel (121–180 n. Chr.). Die drei wichtigsten Aspekte der stoischen Lehre kann man wie folgt zusammenfassen: Zum einen sind die Stoiker der Meinung, dass man ein selbstgenügsames Leben führen sollte, das durch wertvolle Freundschaften mit anderen geprägt ist und von der Vorstellung geleitet wird, dass alle Menschen einer Gemeinschaft (Kosmopolitismus) angehören, da sie alle derselben Vernunft teilhaftig sind. Zum anderen müssen sich die Menschen von ihren Leidenschaften wie ihrer Lust und ihren Wünschen sowie ihren Leiden und Schmerzen etc. befreien, um ihre innere Seelenruhe zu bewahren. Das wichtigste ist jedoch ein Leben gemäß der Natur zu führen. Doch was heißt das genau? Ethische Prinzipien, so die stoische Lehre, sind mit dem Kosmos verbunden. Der Kosmos beinhaltet allgemeine Prinzipien wie zum Beispiel Strukturprinzipien, die göttliche Ordnung und Vorsehung, die zusammengenommen die normativen Ideale für den Menschen darstellen. Mit anderen Worten: Der Kosmos ist mit Blick auf das Wohl für die Menschen und Götter organisiert. Die Pflanzen sind für die Tiere da, die Tiere und Pflanzen wiederum 112 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
für die Menschen und die Menschen sind dazu da, über die Welt nachzudenken. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben, heißt nach der stoischen Lehre so zu werden wie die Götter. Menschen sollten also der vernünftigen Ordnung im Kosmos folgen, sodass das Gute für den Menschen darin besteht, gemäß der Natur zu leben. Doch wie kann man herausfinden, was es heißt, gemäß der Natur zu leben? Die Stoiker glauben, dass man die natürlichen Regeln für die Menschen dadurch bestimmen kann, dass man die Natur des Menschen – also seine Anthropologie – genau untersucht und auf dieser Grundlage versucht, herauszufinden, auf welche Weise die Natur will, dass wir unsere Leben organisieren. Das Verhalten der Menschen, so die Stoiker, wird durch zwei primäre natürliche Instinkte bestimmt: Zum einen Selbsterhaltung bzw. Selbstliebe und zum anderen Kosmopolitismus bzw. Soziabilität (die Fürsorge gilt allen Menschen). Die natürlichen Instinkte des Menschen zusammen mit seiner Vernunftfähigkeit ermöglichen es ihm: erstens, das körperliche Wohl und die normale Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zu befördern; zweitens, Fürsorge für unsere Mitmenschen zu empfinden und ihnen zu helfen; und drittens, dasjenige zu vermeiden, was uns und anderen schadet. Stoische Glückseligkeit erfordert somit ein komplexes Zusammenspiel von übergeordneter Natur einerseits und Anthropologie andererseits. Ein tugendhaftes Leben gemäß den Stoikern setzt also voraus, dass die Menschen den kosmischen Vorgaben einer göttlichen Vernunft folgen, wobei die Kriterien des guten Lebens in der Natur selbst begründet liegen und für alle Menschen verbindlich gelten. Das Naturgesetz, das der vernünftige Standard für die Richtigkeit und Falschheit jeder Handlung ist, verpflichtet alle vernünftigen Wesen. Die richtige Handlung wird danach ausgewählt, ob sie den natürlichen Instinkten des Menschen förderlich ist und abgelehnt, wenn sie diesen hinderlich ist. Die tugendhafte Handlung befördert also die Ordnung der Natur. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass die stoische Vorstellung, dass man in Übereinstimmung mit der eigenen menschlichen Natur handeln muss, wenn man tugendhaft agieren möchte, im Kontrast zu den Lehren der anderen philosophischen 113 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Schulen in der Antike steht. Hinzu kommt die Annahme, dass erst das richtige Motiv die pflichtgemäße Handlung zu einer tugendhaften Handlung werden lässt, ohne auf die Folgen der Handlung zu schauen (ein Gedanke, der erst wieder bei Kant an prominenter Stelle anklingt). Eine der zentralen Aufgaben der Philosophie, so Epiktet, besteht darin, den Menschen Orientierung im Handeln und Ratschläge für ein gutes Leben zu geben. Im Handbüchlein der Moral versucht Epiktet, die stoische Lehre für die Frage nach dem guten Leben fruchtbar zu machen. Ein wichtiger Aspekt seiner Lebensphilosophie fußt auf der grundlegenden Unterscheidung, was in unserer Verfügungsgewalt liegt und was nicht. Wenn wir eine unklare Vorstellung davon haben, was bei uns steht und was nicht bei uns steht, dann werden wir nie in der Lage sein, ein gutes Leben führen zu können. Die klassische Stelle dazu findet sich gleich zu Beginn des Handbüchleins der Moral: In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung – mit einem Wort, alles, was nicht von uns selber kommt. Was in unserer Gewalt steht, ist von Natur aus frei, es kann nicht gehindert und nicht gehemmt werden. Was nicht in unserer Gewalt steht, ist anfällig, abhängig, steht in fremder Hand und kann gehindert werden. Sei dir also bewußt: Hältst du für frei, was seiner Natur nach unfrei ist, und für dein eigen, was fremd ist, so wirst du viele Schwierigkeiten haben, Aufregung und Trauer, und wirst mit Gott und allen Menschen hadern. Hältst du aber nur das Deine für dein eigen und Fremdes für das, was es ist: fremd, so wird nie jemand dich zwingen, nie jemand dich hindern, du wirst nie jemand Vorwürfe machen, nie jemand schelten, nie etwas wider Willen tun. Niemand wird dir schaden, du wirst keinen Feind haben; denn nichts Schädliches trifft dich. 37
Derjenige, der äußere Güter wie Ansehen und Reichtum anstrebt und diese nicht erlangt, empfindet Trauer darüber, nicht angesehen und nicht reich zu sein. Nach Epiktet sollten wir nur die114 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Antike und die Frage nach dem guten Leben
jenigen Dinge begehren und anstreben, die in unserer Gewalt liegen (die äußeren Güter zählen eben nicht dazu). Alle anderen Dinge, die wir nicht kontrollieren können, sollten wir mit Gelassenheit hinnehmen und über uns ergehen lassen. Hierzu zählt auch die körperliche Unfreiheit (Epiktet war eine Zeit lang Sklave in Rom). Doch selbst in einer solchen Situation, so Epiktet, kann man seine innere Freiheit bewahren und dennoch glücklich werden. Das eigene Wollen und Handeln muss also entsprechend auf den Bereich begrenzt werden, den man auch beeinflussen kann. Hat man dies jedoch gemeistert – was permanente Selbstreflexion, Übung und Anwendung erfordert –, dann kann einen nichts mehr erschüttern und man erträgt alle Dinge, die einem widerfahren, mit innerer Ruhe sowie Gelassenheit. Ein wahrhaft glückliches Leben, so Epiktet, ist ein naturgemäßes Leben mit innerer Freiheit, Seelenruhe und von Leidenschaften befreit. Grundsätzlich könnte man vielleicht glauben, dass die stoische Vorstellung, sich gänzlich von den menschlichen Leidenschaften zu befreien, darin mündet, dass wir uns in seelen- und teilnahmslose Automaten verwandeln und zum Beispiel kein Mitgefühl mehr mit anderen haben können. Dies wäre jedoch zu vorschnell. Die Lehre der Stoa zeichnet sich unter anderem darin aus, dass sie die menschliche Natur ernst nimmt und sowohl die Selbsterhaltung als auch die Soziabilität und den Kosmopolitismus fest im Menschen verankert sieht. Der soziale und tugendhafte Bezug zum Mitmenschen – und nicht nur zur eigenen Familie und zu Freunden – ist ein wesentliches Kennzeichen der stoischen Lehre. Es kann also keine Rede davon sein, dass Stoiker das Mitgefühl zu ihren Mitmenschen aufgeben wollen. Die dahinterliegende Idee mit Blick auf die Freiheit von Leidenschaften zielt wohl eher darauf ab, dass wir uns zum einen besser im Klaren darüber sein sollten, welche Dinge wirklich gut sind oder ein Übel darstellen. Zum anderen, dass wir uns nicht immer von unseren Leidenschaften fortreißen lassen dürfen, sondern insgesamt versuchen sollten, innere Ruhe zu erlangen und Gelassenheit anzustreben. Ein durchaus vernünftiger Gedanke. Lobenswert ist auch der stoische Kosmopolitismus. Stoiker sind von Natur aus Weltbürger, da sie glauben, dass alle Men115 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
schen auf Grund ihrer Vernunft miteinander verbunden sind und daher eine Gemeinschaft bilden. Weniger nationalstaatliches, sondern vielmehr weltstaatliches – also globales – Denken ist das stoische Credo. In der Gegenwart wird Globalität häufig mit Pluralismus in Verbindung gebracht und beides mit dem Verweis abgelehnt, dass die eigene Kultur darunter leiden würde. Die Annahme, dass Kulturen homogene statische Gebilde sind und sich nicht verändern dürfen, ist nicht nur falsch, sondern offenbart auch eine erhebliche Unkenntnis mit Blick auf die notwendige Eigendynamik menschlicher Gesellschaften für ihr Überleben. So wird offenkundig vergessen, dass sich Fortschritt – seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte – fast ausschließlich im Kontext von Globalität und Pluralismus entwickelt hat. Die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ermöglicht immer auch Fortschritt, sei es technischer Fortschritt, sozialer Fortschritt, politischer Fortschritt, moralischer Fortschritt oder kultureller Fortschritt etc. Gleichzeitig sollte man jedoch nicht davon ausgehen, dass es keine Rückschritte gibt. Die Geschichte der Menschheit zeigt deutlich, dass das Ringen um die jeweils bessere Strategie in vielen Bereichen durch ein Auf und Ab charakterisiert werden kann. Philosophisch gesehen ist jedoch klar, dass nationalstaatliches Denken eher Probleme schafft als löst. Die stoische Lehre zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass die Menschen ein selbstgenügsames und moralisch selbstbestimmtes Leben mit innerer Freiheit und Gelassenheit führen sollen, damit sie glücklich werden, sondern auch echte Freundschaften unterhalten sollten. Der Mensch ist keine Insel. Heutzutage gibt es einen beunruhigenden gesellschaftlichen Trend, dass Menschen keine echten Freunde mehr haben, sich in vielen wichtigen Dingen nicht mehr wirklich austauschen können und sich daher alleine (gelassen) fühlen. Dies hat unterschiedliche Gründe. Wichtig ist jedoch zu erkennen, dass das gute Leben Freundschaften einschließt und man sich bemühen sollte, nicht alleine durchs Leben zu gehen. Weiter oben habe ich darauf hingewiesen, dass ich als Student Epiktet gelesen habe und mich seine philosophische Lebensphilosophie sehr bewegt hat. Die tiefe Einsicht, (nur) dasjenige zu 116 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Mittelalter und die Frage nach dem guten Leben
bedenken, was in unserer Verfügungsgewalt liegt und von dem zu unterscheiden, was nicht in unserer Verfügungsgewalt liegt, ist wirklich bedeutend und darf nicht unterschätzt werden. Die meisten Menschen lassen sich von Dingen negativ beeinflussen, über die sie keine Kontrolle haben und auch nicht verändern können. Dies ist eine ungute Situation, die – so die Stoiker – das eigene gute Leben negativ beeinträchtigen kann. Stellen Sie sich vor, dass jemand von Ihnen verlangt, den Lauf der Sonne zu verändern oder das Meer zu teilen. Mit Recht würden Sie sagen, dass dies unmöglich ist und es nicht bei Ihnen steht, solche Dinge zu bewerkstelligen. Von solchen Dingen lassen Sie sich in der Regel nicht negativ beeinflussen. Stellen Sie sich nun vor, dass Sie im Theater sind oder am Strand liegen und in Ruhe ein Buch lesen wollen oder ein Freund von Ihnen stirbt. Es liegt nicht in Ihrer Verfügungsgewalt, dass Ihr Nebenmann im Theater Schluckauf bekommt, am Strand Kinder spielen und sich eine entsprechende Geräuschkulisse bildet oder Ihr Freund stirbt. Sie können diese Dinge einfach nicht kontrollieren und sollten, so die Stoiker, mehr Gelassenheit üben. Es bringt nichts, sich aufzuregen und emotional in Unruhe zu geraten. Das heißt natürlich nicht, dass Sie über den Tod ihres Freundes nicht traurig sein dürfen, sondern nur, dass Sie sich dabei nicht emotional hinwegreißen lassen sollen. Vermutlich wäre die Einstellung des legendären Jedimeisters Yoda genau im Sinne der Stoiker: Beweine den Tod deines Freundes nicht, sondern freue dich, dass er wieder eins mit der Natur geworden ist. Niemand sagt, dass dies einfach ist, doch tägliche Übungen helfen dabei, sich klar zu werden, dass wir uns nicht über Dinge aufregen sollten, die nicht in unserer Hand liegen. Mehr Gelassenheit und weniger Aufregung sind hier das Ziel.
2. Das Mittelalter und die Frage nach dem guten Leben Das europäische Mittelalter (500–1500 n. Chr.) ist ohne die Religion und den Glauben an einen christlichen Gott undenkbar. Eine eigenständige Philosophie im Mittelalter – ohne Rekurs auf das Christentum – ist ebenfalls undenkbar. Die Philosophie, so der 117 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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bekannte Ausspruch, war »die Magd der Theologie« (philosophia ancilla theologiae). Aus diesem Grund hat auch der zeitgenössische schottische Philosoph Alasdair MacIntyre ganz Recht, wenn er folgendes über die mittelalterliche Philosophie in seiner populärwissenschaftlichen Einführung in die Ethik (1995) schreibt: Der mittelalterliche Gott ist immer ein Kompromiß zwischen der gebietenden Stimme Jahwes auf Sinai und dem Gott der Philosophen. Welcher Philosophen? Entweder Platon oder des Aristoteles. 38
Die meisten von Ihnen werden sich vermutlich fragen, warum ich das Mittelalter und die religiösen Antworten auf die Frage nach dem guten Leben in eine moderne Konzeption des guten Lebens einbeziehen möchte. Dies ist eine berechtigte Frage. Zum einen gehört das Mittelalter zu unserer Geistes- und Ideengeschichte und wir können einige bedeutende Aspekte über die menschliche Anthropologie lernen, auch wenn das Christentum heutzutage nicht mehr diesen bestimmenden Einfluss auf unser Leben hat, wie es noch im Mittelalter der Fall war. Zum anderen kann man feststellen, dass das Gros der Menschen auf dieser Welt immer noch an einen Gott oder Götter glaubt und das Religiöse durchaus ein wichtiger Bestandteil im Leben vieler Menschen ist. Darüber hinaus wenden sich ebenfalls viele Menschen an die Natur und sprechen ihr eine Art metaphysische Bedeutung zu. Frei nach dem Motto, dass es etwas Größeres als uns selbst gibt, nämlich die Natur, die aber nicht notwendigerweise göttlich – aber dennoch verehrungswürdig – ist und Halt geben kann. Eine wesentliche Funktion der christlichen Religion im Mittelalter bestand unter anderem darin, den Menschen zu versichern, dass die Vereinigung von Glück und Tugend zumindest im Jenseits grundsätzlich möglich ist, auch wenn damals das Diesseits eine für die meisten Menschen harte und unschöne Zeit war (Kreuzzüge ins Heilige Land, Bauernkriege, Religionskriege in Europa etc.). Mit anderen Worten: Wenn du Pech im Hier und Jetzt hast, dann versichern wir dir, dass du, wenn du dich gemäß den religiösen Vorstellungen des Christentums verhältst, ein glückliches Leben nach dem Tod im Paradies führen kannst. Dies 118 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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war für viele Menschen eine große Motivation. Diesbezüglich war Gott also nicht nur die Quelle der Moral, sondern auch der Garant für ein glückliches Leben im Jenseits. Die Beschäftigung mit Gott und der Religion gab den Menschen also einen gewissen Halt. Die damalige Welt war stürmisch und unruhig. Die anthropologische Bedeutung dieser existentiellen Erfahrung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Kraft und Stärke, die viele Menschen aus einer solchen Konstellation für ihre eigene Existenz und ihr Überleben gezogen haben, war enorm. Gewiss, wenn Gott nicht existieren sollte (so wie Friedrich Nietzsche annimmt), dann – so die Vorstellung einiger Menschen – ist alles umsonst gewesen und es gibt darüber hinaus keine Garantie für ein Leben – geschweige denn ein gutes Leben – nach dem irdischen Tod. Doch warum sollte alles umsonst gewesen sein? Wenn sich insgesamt herausstellt, dass das Christentum in der Lage war, die Menschen dazu anzuleiten, sich zum Beispiel vermittels der Nächstenliebe moralisch besser zu verhalten – diesbezüglich lassen wir einmal die Kreuzzüge und die Inquisition beiseite –, dann sollte man einräumen, dass viel erreicht wurde. Der Einwand, dass man ein Leben lang eine Lüge gelebt hat, wenn Gott nicht existiert, ist sicherlich berechtigt, doch das Problem besteht schlussendlich darin, dass wir nicht absolut sicher sein können, ob dies der Fall ist oder nicht. Dies, so könnte man mit dem französischen Philosophen Blaise Pascal (1623–1662) sagen, kommt einer metaphysischen Wette gleich: Wenn Gott nicht existiert und man an ihn geglaubt hat, dann bringt man sich vielleicht um einige lustvolle Erfahrungen im irdischen Leben. Wenn Gott aber existiert und man nicht an ihn geglaubt hat, dann verliert man sein Seelenheil und landet in der Hölle. Daraus folgt, so Pascal, dass eine rationale Person ihr Leben so einrichten sollte, als ob Gott existiert. Was man auch immer von Pascals Wette halten mag, so scheint es jedoch wichtig zu sein, die Bedeutung, die das Religiöse und die Natur für das menschliche Leben haben, angemessen in einer Konzeption des guten Lebens zu berücksichtigen. Damit sage ich allerdings nicht, dass jede Person an den christlichen Gott glauben muss, um überhaupt ein gutes Leben führen zu können. Eher geht 119 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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es um die metaphysische Rückgebundenheit des Menschen, der darin Trost und Halt findet. Wir Menschen neigen dazu, dass wir uns in unserer Existenz schnell verloren fühlen, wenn wir glauben, dass unser Dasein keinen höheren Sinn hat. Wir versuchen dann, diesen Zustand der Einsamkeit mit einer Sinnsuche zu bewältigen. Die existentielle Einsamkeit des Menschen kann zum Beispiel durch den Glauben an einen Gott, das Religiöse – was man auch immer genau darunter verstehen mag – oder an eine metaphysische Natur überwunden werden. Die Annahme, dass das menschliche Leben im Universum nicht umsonst war, sondern einen Sinn hatte, kann durch die metaphysische Rückgebundenheit des Menschen angemessen begründet werden. Eine solche Position ist für den Atheisten und den Gläubigen in gleicher Weise akzeptabel, da keine Person dazu verpflichtet wird, an einen übernatürlichen, himmlischen Gott zu glauben, der einem das ewige Leben und die Wiederauferstehung verspricht. Atheisten und Agnostiker haben jedoch die Möglichkeit, entweder an die Natur – anstelle der Religion – zu glauben oder ganz grundsätzlich der Meinung zu sein, dass es etwas gibt, das unserem Dasein einen höheren Sinn vermittelt, aber grundsätzlich offen bleibt, was es genau ist. Historisch gesehen steht am Anfang der Menschheitsgeschichte der Glaube an die Natur und das Übernatürliche (Naturreligionen). Im Laufe der Zeit kam es dann zum Theismus: Die Vorstellung, dass es Götter (Polytheismus) oder einen einzigen Gott (Monotheismus) gibt. Das Christentum ist neben dem Judentum und dem Islam die bekannteste monotheistische Religion, die das religiöse Leben in Europa am meisten bestimmt hat. Während für das Judentum das Alte Testament als heilig gilt, nimmt das Christentum im Mittelalter an, dass es mehr oder weniger durch das Neue Testament abgelöst bzw. maßgeblich ergänzt wurde. Das Alte Testament spielte für das Christentum im Mittelalter nur noch eine untergeordnete Rolle. Diesbezüglich gibt es zwei Hauptgründe: Zum einen beziehen sich die meisten moralischen Gebote des Alten Testamentes auf die Juden und wurden daher für das Christentum als eher ungeeignet angesehen. Zum anderen ging es den Urchristen und den nachfolgenden Generationen vor 120 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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allem darum, eine biblische Ethik in Anlehnung an die Lehren von Jesus Christus zu entwerfen. Damit sage ich jedoch nicht, dass das Alte Testament eines strafenden und rächenden Gottes auf einen Schlag unwichtig wurde, sondern lediglich, dass sich die christliche Liebesbotschaft insgesamt im Rekurs auf das Neue Testament durchgesetzt hat. Seit dem frühen ersten Jahrhundert n. Chr. wurden die Urchristen im Römischen Reich zunächst erbarmungslos verfolgt und ihr Besitz eingezogen. Dies endete erst mit dem Konzil von Nicäa im Jahre 325. Dort wurde ein Religionsfrieden für das Römische Reich ausgehandelt und Kaiser Konstantin I. (285–337) bestätigte mit seiner Unterschrift das Ende der Christenverfolgung. Im Jahre 380 wurde das Christentum dann im oströmischen Reich vom dortigen Kaiser Theodosius I. (347–395) zur alleinigen Staatsreligion erklärt und es wurde gleichzeitig verfügt, dass die Ausübung aller anderen Religionen und Kulte verboten wurde. Mit anderen Worten: Das Christentum entwickelte sich innerhalb von ca. 400 Jahren von einer verfolgten und unbedeutenden kleinen religiösen Sekte zu einer mächtigen und einflussreichen Staatsreligion, die ihrerseits begann, andere Religionen zu verfolgen. Das Christentum sollte nicht nur im Kontext der Religion, sondern auch politisch bestimmend werden. Fortan beanspruchte der römische Papst als oberster Vertreter Gottes auf Erden den Kaiser zu krönen und ihm damit die politische Legitimität seiner Herrschaft von Gottes Gnaden zu verleihen und zu bestätigen. Die Katholische Kirche erlangte damit eine enorme politische Macht. Um zu verstehen, wie sich das Christentum entwickelt hat und auf welche Weise religiöse Vorstellungen für das Leben der Menschen wichtig wurden, ist es gut, nochmals den Unterschied zwischen dem Alten und Neuen Testament in den Blick zu nehmen. Für beide Testamente gilt, dass sie recht uneinheitlich und unsystematisch sind. Darüber hinaus entstanden die Texte nicht über Nacht, sondern wurden über viele Jahrhunderte zusammengestellt. Die Auswahl der Evangelien und anderer Texte, die zum Beispiel Eingang in das Neue Testament finden sollten, wurde teils heftig und kontrovers in den unterschiedlichen Kirchen121 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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gemeinden der Urchristen und auf den Kirchensynoden diskutiert. Heutzutage geht die Forschung davon aus, dass die Kanonisierung ein Prozess war und bis zum Ende des 4. nachchristlichen Jahrhunderts abgeschlossen wurde. Auf Grund dessen geht man auch davon aus, dass die Auswahl der relevanten Texte nicht auf einer einmaligen Entscheidung beruhen kann. Diejenigen Schriften, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht in die beiden Testamente geschafft haben, werden apokryphe Texte genannt und sind ebenfalls sehr lesenswert und erhellend. Das Alte Testament enthält Hunderte konkrete religiöse Vorschriften, wie man als Jude leben sollte und was man tun muss, wenn es zu einem Konflikt kommt. Die bekanntesten unter ihnen sind die Zehn Gebote (Dekalog). Sie werden von vielen Theologen als eine Art Konzentrat angesehen und dienten den Menschen als notwendige Regeln für das soziale Zusammenleben in der Gemeinschaft. Während sich die ersten drei Gesetze auf das Verhältnis von Gott und den Menschen bezieht, geht es bei den anderen sieben Gesetzen um das Verhältnis zwischen den Menschen. Der Dekalog kann, so die Theologen, in der Goldenen Regel – Was du nicht willst, was man dir tu’, das füg auch keinem andern zu. – zusammengefasst werden. Zwei wichtige Aspekte des Alten Testaments kommen in der folgenden Passage aus dem 5. Buch Mose besonders zum Vorschein: Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. 39
Diese wichtige Passage ist insbesondere für zwei grundlegende Motive relevant: Für das Motiv der Nächstenliebe und das Motiv der Gerechtigkeit. Die Nächstenliebe wird am Beispiel der »Fremdlinge« bzw. Flüchtlinge expliziert (vgl. die Bergpredigt im Neuen Testament). Das Beispiel der Gerechtigkeit wird im Kontext des Rechts von »Waisen und Witwen«, also der schwächsten 122 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Mitglieder in der damaligen Gesellschaft, thematisiert. Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass das Gottesverhältnis zum Menschen (Bund mit Israel) und die Bedeutung des Gesetzes (Dekalog und andere religiöse Bestimmungen) im Rekurs auf die universelle Gutheit der Schöpfung gerechtfertigt wird. Die Schöpfung sorgt für deren »ethisch verpflichtenden Charakter«, so der dänische Theologe und Ethiker Svend Andersen. Das Neue Testament, das in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entstanden ist, enthält zumindest zwei fundamentale Punkte: Das Gebot der doppelten Nächstenliebe (Matthäus 22, 37–39) und die Vergebung aller Sünden durch Jesus Christus, der für alle Menschen gestorben ist. Die doppelte Nächstenliebe bezieht sich zum einen auf das Verhältnis von Gott zum Menschen und zum anderen auf das zwischenmenschliche Verhältnis. Beide Verhältnisse sind durch Nächstenliebe geprägt. Darüber hinaus gibt es die ethischen Überlegungen von Jesus Christus (Nächstenliebe mit Blick auf alle, Barmherzigkeit) und Paulus (Christusgeschehen, Nächstenliebe in der Gemeinde, Gnade allein durch Gott), die für die nachfolgenden Generationen wesentlich sein werden. Mit Blick auf Jesu Verkündigung kann man sagen, dass Jesus Christus einen ethischen Gesinnungswandel vom Menschen verlangt, da das Reich Gottes nahe ist. Die Forderung nach der Nächstenliebe ist die zentrale Aussage des Neuen Testamentes. Sie wird unter anderem am Beispiel des barmherzigen Samariters in Lukas (10, 25–37) weiter ausgeführt. Das Ergebnis ist, dass die Nächstenliebe darin besteht, einerseits Mitleid mit anderen zu haben (Gesinnung) und andererseits barmherzig zu sein (Tätigkeit). Andersen hat darauf hingewiesen, dass eine Person weiß, auf welche Weise man einer anderen helfen kann, indem sie darauf reflektiert, was es heißt, selbst hilfsbedürftig zu sein. Das Gebot der Nächstenliebe würde dann mit der Goldenen Regel zusammenfallen. Die theologische Ethik im Mittelalter – und damit die Überlegungen, wie man ein gutes Leben im Sinne des Christentums führen sollte – wird hauptsächlich von den Ergebnissen der Konzile und den Schriften der Päpste bestimmt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch einige wichtige theologische Schriften, denen eine 123 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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ganz erhebliche Bedeutung zukommt, wie zum Beispiel: Die Schrift Prinzipien der Ethik (361) über eine christliche Lebensführung von Basilius von Caesarea (330–379); die erste systematische Abhandlung der christlichen Ethik Über die Pflichten des Klerus (391) von Ambrosius von Mailand (339–397); die Monographie Über die Sitten der Katholischen Kirche und die Sitten der Manichäer (388–89) von Augustinus (354–430) sowie die bedeutendste Fassung der theologischen Ethik von Thomas von Aquin (1225–1274) mit seiner Schrift Summa Theologica (1265– 1274), in der er eine theologische Tugendlehre in Anlehnung an Aristoteles entwickelt. 40 Letztere Position werden wir uns weiter unten im Kontext der Frage des guten Lebens im christlichen Mittelalter in groben Zügen anschauen. Mit Blick auf die Frage nach dem guten Leben im Mittelalter darf der Hinweis auf das Naturrecht (lex naturalis), das bei Thomas von Aquin und Martin Luther ebenfalls wesentlich ist, nicht fehlen. Was ist das Naturrecht und warum ist es für die Menschen im Mittelalter und ihre ethische Orientierung so wichtig? Im dritten Kapitel haben wir bereits gesehen, dass die Stoiker das Naturrecht in Anlehnung an Aristoteles weiterentwickeln und als Maßstab für das sittlich gute Handeln ansehen. Die christlichen Theologen greifen die Konzeption des antiken Naturrechts der Stoiker wieder auf und transformieren den Begriff gemäß den christlichen Vorstellungen. So verbindet zum Beispiel Augustinus das stoische, vernunftbasierte Naturrecht mit der biblischen Sündenlehre und der schöpfungsgewollten Ordnung Gottes. Die klassische Formulierung des Naturrechts der Katholischen Kirche wird jedoch maßgeblich durch Thomas von Aquin bestimmt. In Anlehnung an Aristoteles, die biblische Tradition und andere Quellen geht Thomas von Aquin davon aus, dass es ein ewiges Weltgesetz (lex aeterna) gibt, das nicht einmal von Gott verändert werden kann. So steht es Gott zum Beispiel nicht frei, sich selbst von den Vorgaben des Sittengesetzes auszunehmen und moralische Übel als Güter umzudeuten. Mit anderen Worten: Gott kann keine logisch unmöglichen Dinge tun. Dazu zählt zum Beispiel, dass Gott keinen so schweren Stein erschaffen kann, den nicht einmal er anheben könnte. Dies würde der Allmacht Gottes 124 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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widersprechen. Genauso wie es der Allgüte Gottes widersprechen würde, wenn er sich vom Sittengesetz abwendet. Das Naturrecht ist ein Abbild des ewigen Gesetzes, das sich in der Struktur der göttlichen Schöpfung ausprägt. Alle Dinge, so Thomas von Aquin, sind objektiv und auf das Weltgesetz hin ausgerichtet. Auf Grund seiner Gottebenbildlichkeit kann der Mensch als ein vernünftiges Wesen erkennen, was das Naturrecht vorschreibt. So definiert Thomas von Aquin das Naturrecht als »Teilnahme am ewigen Gesetz in einem vernünftigen Wesen«. Im 16. Jahrhundert findet eine Abkehr von der thomistischen Naturrechtslehre statt. Protestantische Theologen greifen die konservative Vorstellung der Katholischen Kirche von der Statik der Weltordnung und der Permanenz der mittelalterlichen Ständeordnung, die durch das thomistische Naturrecht zementiert wurde, an und entwickeln ein Naturrecht, das die Vernunftfähigkeit des Individuums stärker in den Vordergrund stellt. Der bedeutende, zeitgenössische evangelische Theologe Martin Honecker beschreibt das Naturrecht als »ein profanes, auf die Personwürde sich berufendes Vernunftrecht.« 41 Dieses sogenannte profane Naturrecht wird im Kontext der Philosophie der Aufklärung zunächst vom einflussreichen niederländischen Theologen und Juristen Hugo Grotius (1583–1645) und dann durch die beiden Philosophen und Juristen Samuel Pufendorf (1632–1694) und Christian Thomasius (1655–1728) weiterentwickelt und vollständig in ein rationales Naturrecht umgeformt. Dieses rationale und aufgeklärte Naturrecht fußt nicht mehr auf christlichen Vorstellungen, sondern nimmt die Natur des Menschen als Ausgangspunkt. Diese stärker individualistische Formulierung des Naturrechts wurde von der Katholischen Kirche im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als »gottlos« abgelehnt. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass das thomistische Naturrecht die Ordnung bewahren wollte und grundsätzlich keine Veränderung zuließ, während die neuzeitliche Fassung des Naturrechts einen starken dynamischen Charakter hatte. 42 Die Frage, worin das gute Leben im christlichen Mittelalter genau besteht, wird im Folgenden im Rekurs auf die beiden bedeutenden Theologen Thomas von Aquin (Katholizismus) und 125 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Martin Luther (Protestantismus) näher beschrieben. Beide christlichen Denker haben eine durchaus unterschiedliche Vorstellung davon, wie man leben sollte.
Thomas von Aquin – Die Aristotelische Tugendlehre revisited Der Dominikaner Thomas von Aquin (um 1224–1274) wurde als Spross einer adligen Familie in der Nähe von Neapel geboren und sollte sich zu der Autorität der Katholischen Kirche im Mittelalter entwickeln. Er war nicht nur ein sehr origineller und überaus systematisch denkender Theologe, sondern er wurde – auf Grund seines wirkmächtigen Einflusses auf nachfolgende Generationen – auch zu einem bedeutenden Kirchenlehrer und schließlich zur Kirchenautorität erhoben. Die thomistische Lehre wurde im Jahr 1879 von Papst Leo XIII. als Grundlage der offiziellen Morallehre der Katholischen Kirche bestimmt. Ohne Zweifel ist Thomas von Aquin der bedeutendste Scholastiker 43 im europäischen Mittelalter. Während Augustinus dafür steht, das Christentum mit dem Platonismus zu versöhnen, kämpft Thomas von Aquin dafür, das Christentum mit Aristoteles zu verbinden, da er die Philosophie von Aristoteles als grundsätzlich richtig und von Gott inspiriert ansah. Die thomistische Lehre gäbe es ohne Aristoteles nicht. Thomas von Aquin studierte unter anderem beim Theologen Albertus Magnus (1200–1280) in Köln, dem führenden Experten für die Griechische Philosophie und Aristoteles in der damaligen Zeit. In der Folge machte er Bekanntschaft mit Wilhelm von Moerbeke, der für Thomas von Aquin einige Schriften des Aristoteles übersetzt hat. Mit Blick auf die Überlieferungsgeschichte der Aristotelischen Werke bleibt festzustellen, dass im lateinisch sprechenden Westen nur einige logische Schriften des Aristoteles bis zum 12. Jahrhundert bekannt waren (dies mag vielleicht auch den besonderen Fokus von Augustinus auf Platon erklären). Das gesamte Corpus Aristotelicum lag im Westen erst um 1240 in lateinischer Übersetzung vor. In der arabischen und jüdischen Welt waren die ge126 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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samten Schriften des Aristoteles bereits im 10. Jahrhundert bekannt. Die beiden berühmten arabischen Philosophen Avicenna (980–1037) in Bagdad und Averroes (1126–1198) in Cordoba verfassten wirkmächtige Kommentare zu Aristoteles. Im 13. Jahrhundert wurde die Lektüre von Aristoteles teilweise verboten (1210, 1231 und 1263), da einige seiner philosophischen Überlegungen mit der Katholischen Lehre unvereinbar schienen wie zum Beispiel seine Ablehnung der Erschaffung der Welt aus dem Nichts (creatio ex nihilo) und seine Annahme, dass die Seele sterblich sei. Es ist jedoch der große Verdienst von Thomas von Aquin, nicht nur Aristoteles erfolgreich verteidigt, sondern ihn zur obersten Autorität der Katholischen Kirche gemacht zu haben, indem er die Interpretationen von arabischen Denkern und christlichen Averroisten als falsch zurückwies und die Kirchenobersten ihm darin folgten. Fortan galt Aristoteles gegenüber Platon und anderen als unangefochtene Grundlage der Christlichen Philosophie. Die beiden einflussreichsten thomistischen Schriften sind die Summa 44 Contra Gentiles (Die Summe wider die Heiden, 1258– 1264) und die Summa Theologiae (Die Theologische Summe, angefangen 1265, jedoch unvollendet). In der ersten Schrift soll die Wahrheit des Christentums gegenüber einem nicht-christlichen Leser bewiesen werden. In der zweiten systematischen Schrift stellt Thomas von Aquin die Lehre der Katholischen Kirche umfassend dar und verteidigt sie gegen eine Vielzahl von unterschiedlichen Einwänden, die es in der damaligen Zeit gab und von unterschiedlichen Schulen in der Kirche oder heidnischen Denkern erhoben wurden. Ohne Zweifel ist sie nicht nur eine der bedeutendsten Schriften in der Geschichte der Philosophie, sondern auch eine der einflussreichsten Werke der westlichen Literatur. Die thomistische Antwort auf die Frage, worin das gute Leben besteht, beinhaltet zumindest drei wesentliche Aspekte: Die thomistische Tugend-, Naturrechts- und Gnadenlehre. Im Folgenden werden wir uns diese Punkte in groben Zügen anschauen und miteinander in Beziehung setzen. Thomas von Aquin glaubt, dass die menschliche Glückseligkeit nicht im Diesseits mit Blick auf 127 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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äußere Güter wie Reichtum und Ehre sowie durch den Vollzug der ethischen Tugenden – die nur als ein Mittel angesehen werden – erlangt werden kann, sondern ausschließlich im Jenseits in der Vereinigung mit Gott gefunden werden kann. Dies ist das höchste Gut des Menschen und darin besteht seine ganze Glückseligkeit. Im Diesseits sind der Natur des Menschen jedoch zumindest, so Thomas von Aquin, drei natürliche Neigungen eingeschrieben, die ihm den Weg weisen, worin das gute menschliche Leben im Hier und Jetzt besteht: Selbsterhaltung, Arterhaltung und Vernunftfähigkeit. Er verbindet die drei natürlichen Tugenden mit den entsprechenden Vorgaben des Naturrechts, so dass man folgende Konstellationen erhält: (1.) Das Naturrecht erlaubt alles, wodurch das Leben erhalten wird und das Gegenteil vermieden werden kann (Selbsterhaltung); (2.) das Naturrecht unterstützt alles, was sich auf die menschliche Permanenz wie zum Beispiel die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau oder das Aufziehen von Kindern etc. bezieht (Arterhaltung); und (3.) das Naturrecht umfasst alles, was den Erkenntnisgewinn des Menschen (insbesondere mit Blick auf Gott) und seine Soziabilität befördert, wie zum Beispiel die eigene Unwissenheit zu überwinden und niemanden zu verletzen (Vernunftfähigkeit). Die thomistische Tugendlehre lehnt sich ganz in ihrer Struktur an die aristotelische Tugendlehre an, wird allerdings von Thomas von Aquin nochmals erweitert. Er geht von einem zweistufigen System aus. Zunächst – auf der untersten Ebene – gibt es die sogenannten vier natürlichen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit. Die zweite Ebene umfasst die spezifischen christlichen übernatürlichen Tugenden wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Tugenden haben eine orientierende Funktion und sollen den Menschen eine möglichst christliche Lebensführung auf Erden weisen. Wenn man sich im Diesseits, so die allgemeine Vorstellung, nach den Vorgaben eines christlichen Lebens einrichtet, dann ist man schon einmal auf einem guten Weg. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man aus eigener Kraft die Glückseligkeit – Vereinigung mit Gott im Jenseits – erreichen kann, sondern lediglich, dass man eine gute Voraussetzung dafür im Hier und Jetzt schaffen kann, ohne damit jedoch einen echten 128 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Anspruch an Gott stellen zu können. Der Grund dafür ist die menschliche Erbsünde. Auch wenn Thomas von Aquin im Gegensatz zu Martin Luther nicht glaubt, dass der Mensch vollständig verdorben ist, ist er dennoch notwendigerweise auf die Gnade Gottes angewiesen, wenn es darum geht, glückselig zu werden und ins Paradies zu kommen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Tugenden notwendig, aber nicht hinreichend für die menschliche Glückseligkeit sind. Das thomistische Naturrecht, das sich in der Summa Theologiae (Fragen 90–108) findet und in der Forschung als Lex Traktat bekannt ist, ist komplex und soll hier nur in seinen Grundzügen mit Blick auf das gute menschliche Leben dargestellt werden. Die menschliche Vernunft ist auf Grund unserer Gottebenbildlichkeit in der Lage, zu bestimmen, was das von Natur aus Gute und Schlechte ist. Ein solches Wissen kann zum Beispiel im Rekurs auf das Wissen um angeborene Prinzipien wie die Goldene Regel und das menschliche Gewissen erworben werden. Damit ist die praktische Vernunft das Richtmaß dafür, was der Mensch moralisch tun sollte. Der Urgrund des Naturrechts liegt nach Thomas von Aquin im selbstevidenten Prinzip, dass das Gute zu tun und das Böse zu meiden ist. Daraus folgt nach Thomas von Aquin, dass die Menschen nach dem Guten streben sollten. Das Gute aber, so hatten wir bereits gesehen, wird durch die natürlichen Neigungen des Menschen und die Tugenden avisiert. Mit Blick auf die thomistische Naturrechtslehre könnte man annehmen, dass die Menschen auf Grund ihrer Vernunftfähigkeit in der Lage sind, immer das Richtige zu erkennen. Diese Vorstellung ist falsch. Richtig ist, dass Thomas von Aquin kein festgelegtes System von naturrechtlichen Vorschriften kennt, sondern annimmt, dass sich die Vorgaben des Naturrechts im Lichte der Vernunft und im Kontext des Nachdenkens darüber einstellen. Dieser Gedanke wird im Rahmen des profanen Naturrechts weiter ausgebaut und verabsolutiert. Auf Grund der Unsicherheit der menschlichen Beurteilung ethischer Fragen im Rekurs auf das Naturrecht allein brauchen wir nach Thomas von Aquin daher das Göttliche Recht (lex divina). Das Göttliche Recht wird im Alten und Neuen Testament geoffenbart und stimmt teilweise 129 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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mit dem Naturrecht überein, enthält allerdings noch zusätzlich den in der Gnade liegenden ethischen Teil. Dieser Teil wird auch als Gesetz Christi bezeichnet und manifestiert sich in der christlichen Liebesbotschaft. Diese Botschaft ist den Menschen eingeschrieben und bewegt den Gläubigen dazu, Gott und seinen Nächsten vollumfänglich zu lieben. Damit sollen das Göttliche Recht und das Gesetz Christi zusätzlich dafür Sorge tragen, die ethischen Entscheidungen der Menschen im Kontext des Naturrechts abzusichern. Wie wir bereits gesehen haben, braucht der Mensch auf Grund seiner Erbsünde 45 die Hilfe Gottes, um glückselig zu werden und sich mit ihm zu vereinigen. Thomas von Aquin hat dafür die Formel gratia perficit naturam geprägt, um deutlich zu machen, dass die Gnade Gottes die menschliche Natur nicht zerstört, sondern ihr unvollkommenes Streben nach dem Wahren und Guten vollendet. So schreibt er mit deutlichen Worten: Die Geschenke der Gnade fügen sich auf solche Weise zur Natur, daß sie diese nicht aufheben, sondern vollenden. Darum auch löscht das Licht des Glaubens, das gnadenhaft in uns einströmt, das Licht der natürlichen Erkenntnis nicht aus, das unsere natürliche Mitgift ist. 46
Zusammenfassend können wir also mit Blick auf das gute Leben bei Thomas von Aquin folgendes sagen: Ein gutes menschliches Leben im Sinne einer christlichen Lebensführung auf Erden zeichnet sich dadurch aus, dass es sich an den Tugenden orientiert und die Bestimmungen des Naturrechts – tue Gutes und meide Böses zu tun – einhält, um schlussendlich das glückselige Leben im Jenseits in der Vereinigung mit Gott zu erlangen. Die Vereinigung mit Gott setzt jedoch auf Grund der menschlichen Erbsünde voraus, dass er den Menschen das Geschenk der Gnade zu Teil werden lässt. Die Gnade Gottes können die Menschen zwar nicht mittels ihrer positiven Werke erzwingen; es erscheint jedoch durchaus angemessen zu sein, davon auszugehen, dass sie mit Blick auf die Gnade Gottes notwendig gegeben sein müssen. Thomas von Aquin hat eine interessante Konzeption des guten 130 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Lebens in Anlehnung an die aristotelische Tugendlehre und in Verbindung mit dem christlichen Glauben vorgelegt. Mit Blick auf die Frage, worin das gute Leben besteht, ist der Kontext des Christentums für Thomas von Aquin unerlässlich. Wenn wir uns jedoch über eine allgemeine Konzeption des guten Lebens für alle Menschen Gedanken machen wollen, dann ist die Rückbindung an die spezifischen Lehren des Christentums problematisch, auch wenn die Katholische Kirche davon ausgeht, dass es kein Heil außerhalb der Kirche gibt (extra ecclesiam nulla salus). Grundsätzlich erscheint es jedoch angemessen, die religiösen Vorstellungen einer Person im Sinne der metaphysischen Rückgebundenheit im Kontext der Frage nach dem guten Leben fruchtbar zu machen. Mit anderen Worten: Jede Person sollte die Möglichkeit haben, ihre eigenen religiösen Ansichten als ein wertvolles Lebensprojekt in eine pluralistische Konzeption des guten Lebens zu implementieren. Die thomistische Sichtweise macht jedoch auf zwei weitere wichtige Punkte aufmerksam, die ebenfalls zu den Minimalanforderungen der Moral gehören: Das soziale Miteinander und die Goldene Regel. Thomas von Aquin hat ganz recht, wenn er betont, dass die soziale Eintracht eine notwendige Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben ist. Eine gespaltene Gesellschaft ist langfristig nicht überlebensfähig, wie man im Kontext der europäischen Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert gesehen hat. Darüber hinaus fungiert die Goldene Regel als eine Art moralischer Superkompass, der die Menschen anleitet. Dies gilt nicht nur für das Christentum und insbesondere für Thomas von Aquin, sondern ebenso für andere Religionen und a-religiöse Moralkonzeptionen. Unsere Konzeption des guten Lebens muss beiden Punkten gerecht werden. Drei weitere Aspekte der thomistischen Ethik sollten noch Erwähnung finden: Zum einen geht es um einen systematischen Punkt – die Wahrheit der religiösen Aussage wird bereits vorausgesetzt –, sodann um die thomistischen Überlegungen zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung und schließlich um das konkrete Beispiel der Gleichgeschlechtlichkeit. Die Summa Theologiae zeichnet sich unter anderem darin aus, dass Thomas von 131 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Aquin stets versucht, Einwände so stark wie nur möglich zu machen, um sie dann zu kritisieren. Dies ist fair und löblich. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass Thomas von Aquin nicht offen sein kann, sondern das Ergebnis immer zum Vorteil der Christlichen Lehre ausfällt. Damit ist seine Schrift eine Verteidigung des Glaubens und keine philosophische Arbeit, deren Ergebnis – so wie es den wissenschaftlichen Üblichkeiten entspricht – offen ist. Dies ist durchaus ein schwerer wissenschaftlicher Mangel, der jedoch im Kontext der religiösen Perspektive verständlich ist. Thomas von Aquin geht es nicht um Philosophie, sondern um die Verteidigung der Lehren der Katholischen Kirche mit philosophischen Mitteln. Thomas von Aquin glaubt, dass alles, was mittels der Vernunft beweisbar ist, im Einklang mit dem Christentum steht und dass alles, was die Offenbarung aussagt, nicht im Widerspruch zur Vernunft sein kann. Die Vernunft ist grundsätzlich ungeeignet, um alle Fragen des Glaubens aufzuklären, obgleich es nach Thomas von Aquin einige Punkte gibt, die die Vernunft auch mit Blick auf komplexe Fragen des Glaubens beweisen kann. Dazu zählen zum Beispiel die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes. Andere Dinge wie das Jüngste Gericht, die Trinität oder die Fleischwerdung Gottes kann die Vernunft nicht beweisen, sondern obliegt der Offenbarung. Grundsätzlich kann man zwei Einwände vorbringen: Zum einen ist es falsch, anzunehmen, dass die Vernunft bis jetzt in der Lage war, erfolgreiche Gottesbeweise zu führen oder die Unsterblichkeit der Seele nachzuweisen. Alle bisherigen Versuche sind fehlgeschlagen. Zum anderen erscheint es fraglich, wo genau die Grenze zwischen Vernunft und Offenbarung verläuft, so dass es unklar bleibt, was der spezifische Inhalt der beiden Bereiche ist. Das Wissen darüber ist jedoch für unsere Erkenntnis von Gott wesentlich. Die Überlegungen von Thomas von Aquin mit Blick auf die »Widernatürlichkeit« von Gleichgeschlechtlichkeit sind bis in unsere heutige Zeit einflussreich geblieben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle sein naturrechtliches Argument, das nicht nur von konservativen Gläubigen, sondern auch von nicht-religiösen, teils rechts-konservativen Gruppen und anderen Personen geteilt 132 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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wird, mit deutlichen Worten zurückweisen. Sein Argument kann auf Grund des naturalistischen Fehlschlusses nicht überzeugen. Was ist damit gemeint? Und wie sieht das Argument von Thomas von Aquin genau aus? Thomas von Aquin nimmt folgendes an: 1. Alles Natürliche ist moralisch gut. 2. Gleichgeschlechtlichkeit widerspricht den Neigungen aller Tiere. 3. Dasjenige, was den Neigungen aller Tiere widerspricht, ist gegen die Natur gerichtet. 4. Alles, was gegen die Natur ist, ist unmoralisch. 5. Also: Gleichgeschlechtlichkeit ist unmoralisch. Diese Argumentation kann aus unterschiedlichen Gründen philosophisch gesehen nicht überzeugen. Erstens: Aus der Tierforschung wissen wir, dass es etliche Spezies gibt, deren Mitglieder ebenfalls gleichgeschlechtliche Akte vollziehen. Somit ist die zweite Prämisse von Thomas von Aquin falsch. Zweitens: Die Annahme, dass alles Natürliche moralisch gut ist, verknüpft auf unzulässige Weise die rein deskriptive Ebene mit der rein normativen Ebene. Und dies ist nach David Hume mit Recht nicht erlaubt, auch wenn es unterschiedliche Versuche in der Geschichte der Philosophie gegeben hat, seine Position als falsch zu erweisen. Moralische Argumente, die auf die Natürlichkeit einer Sache verweisen, sind nicht ohne Grund in der Philosophie in hohem Maße verpönt. Drittens: Die Philosophie der Aufklärung – und insbesondere Kant – hat deutlich gemacht, dass die religiöse Ethik ihre Deutungshoheit mit Blick auf das moralische Verhalten von Menschen verloren hat. Die moderne Ethik ist eine Ethik der autonomen Moral. Viertens: Die zwischenmenschliche Sexualität – so lange sie einvernehmlich ist und niemandem schadet – ist ausschließliche Domäne der Beteiligten. Dritte haben weder ein Recht noch einen legitimen Anspruch darauf, zu verlangen, dass alle Menschen sich gleich verhalten. So gibt es beispielsweise noch einige amerikanische Bundesstaaten, in denen – zumindest dem Gesetz nach – einige sexuelle Handlungen wie Oral- und Analverkehr nicht erlaubt sind, sondern auf Grund einer spezifischen 133 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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konservativ-christlichen Sexualmoral unter Strafe stehen. Auch wenn Zuwiderhandlungen vermutlich nicht mehr geahndet werden, sind solche gesetzlichen religiös-motivierten Bestimmungen nicht nur überzogen, sondern bevormunden den mündigen und autonomen Bürger. Im Folgenden werden wir sehen, auf welche Weise Martin Luther von den thomistischen Vorstellungen in Fragen des guten Lebens abweicht.
Martin Luther – Back to the Roots Der frühere Benediktinermönch Martin Luther (1483–1546), verheiratet mit der ehemaligen Nonne Katharina von Bora (1499– 1552), sollte mit seinen theologischen Neuerungen nicht nur die mittelalterliche Glaubenswelt revolutionieren, sondern auch die sozial-politische Lage in Europa und in der bekannten Welt nachhaltig verändern. Er ist der große Kirchenreformator, Vater des Protestantismus und Gegenspieler des Papstes. Während Thomas von Aquin noch glaubt, dass der Papst nicht nur der oberste Vertreter Gottes auf Erden ist, sondern damit auch über dem Kaiser steht, der seine politische Herrschaft erst durch die päpstliche Kaiserkrönung legitimieren kann, nimmt Luther hingegen an, dass die Natur des Staates unabhängig von der kirchlichen Autorität gedacht werden muss. Damit wollte Luther die Autorität des Papstes und seine politische Macht einschränken und zu einem insgesamt authentischeren Glaubensverständnis, wie ihn die urchristlichen Gemeinden hatten, zurückkommen. Grundsätzlich darf man annehmen, dass Luther die Katholische Kirche nicht spalten, sondern eher reformieren wollte, was offenkundig nicht gelungen ist. Im Jahre 1517 veröffentlicht Luther seine berühmten 95 Thesen gegen den Ablasshandel. Dies war ein echter Affront gegenüber dem Papst. Der Ablasshandel war ein sehr lukratives Geschäft und füllte die Kassen der Katholischen Kirche regelmäßig auf, da die Gläubigen durch ihre Spenden entweder ihre eigene 134 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Zeit oder die Zeit einer geliebten Person im Fegefeuer – den Bereich zwischen Himmel und Hölle – verkürzen konnten. Luthers provokante Thesen führten dazu, dass er vom Kaiser auf Wirken des Papstes angeklagt wurde. Er sollte seine Thesen und diejenigen Aussagen in seinen Schriften widerrufen, die für ketzerisch gehalten wurden und sich gegen den rechten Glauben der Katholischen Kirche wandten. Dies sollte deshalb geschehen, weil man die Anfänge einer Reformationsbewegung und die Revision des christlichen Glaubens verhindern wollte. Als bekannt wurde, dass man Luther während des Prozesses töten wollte, floh er mit Hilfe des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen auf die Wartburg, wo er anfing, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen, zunächst das Neue Testament (1522). Nachdem er im selben Jahr nach Wittenberg zurückkehrte, organisierte Luther zusammen mit anderen Theologen die Übersetzung des Alten Testamentes, so dass die vollständige Übersetzung der Bibel im Jahre 1534 vorlag, die letztmalig im Jahre 1545 von Luther verbessert wurde. Ohne Zweifel hatte die Bibelübersetzung einen großen Einfluss auf das soziale, politische und kulturelle Leben der Menschen. Zum einen revolutionierte und vereinheitlichte sie die deutsche Sprache und zum anderen konnten nun diejenigen Menschen, die Deutsch, aber nicht Latein lesen konnten, Gottes Wort selbst studieren. Damit wurde die elitäre Stellung der Priester geschwächt. Mit Blick auf den Inhalt und die Deutung der Bibel musste das einfache Volk den Priestern bisher immer vertrauen, da es in der Regel kein Latein verstand. In dieser Zeit engagierte sich Luther in der Reformationsbewegung. Er lehnte nicht nur das Fegefeuer ab und kämpfte für die politische Einschränkung der Macht der Katholischen Kirche, sondern er war auch für die Anerkennung der weltlichen Fürsten als Oberhäupter der Kirchen, insofern sie Protestanten waren. Luther lehnte die Bauernaufstände entschieden ab und erklärte sich durchaus mit den Massakern der Fürsten an den Bauern einverstanden, um den Status Quo der feudalistischen Ständeordnung im Mittelalter, die er als von Gott gewollt ansah, zu bewahren. In diesem Sinne war Luther kein Neuerer, sondern in höchstem Maße konservativ. Mit Blick auf Luthers Ethik fest135 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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zustellen, dass er kein Theoretiker und überragender Philosoph wie Thomas von Aquin war, sondern ganz seelsorgerischer Praktiker geblieben ist. Er entwickelte kein umfängliches ethisches System, sondern bezog eher zu religiösen und sozial-politischen Einzelfragen Stellung. Seine Äußerungen wie zum Beispiel über die Bauernaufstände, das Judentum und Toleranz waren dabei oftmals in hohem Maße problematisch. Seine teils recht kruden Aussagen, gleichwohl von vielen geteilt, sind jedoch Ergebnis der eigenen historischen Umstände. Auch wenn Luther kein Systematiker war, geht er natürlich von einigen religiösen Grundannahmen aus, um seine Position zu rechtfertigen. Sein Ansatz ist jedoch insgesamt unsystematisch und theoretisch weniger tief durchdacht als die thomistische Position, gleichwohl seine Neuerungen die Nachwelt viel grundlegender beeinflussen sollten. Luthers Wirken leitete einen Paradigmenwechsel mit Blick auf den christlichen Glauben im Mittelalter und das Verhältnis von Kirche und Staat ein. In der Folgezeit unterschied man zumindest zwischen drei verschiedenen Hauptrichtungen des Protestantismus: Zum einen der evangelisch-lutherische Protestantismus, der vor allem in Norddeutschland und den nordischen Ländern vorherrschte, sodann die reformierte Kirche in der Schweiz auf Betreiben der beiden berühmten Reformatoren Huldrich Zwingli (1484–1531) und Jean Calvin (1509–1564) und schließlich der Anglikanismus in England. Die religiösen Auseinandersetzungen zwischen den Protestanten und Katholiken nahmen immer weiter zu und es kam zu einem brutalen und kräftezehrenden 30-jährigen Religionskrieg (1618–1648), der weite Teile Europas in Schutt und Asche legte. Spätestens dann war jedem klar, dass es keine Glaubenseinheit mehr geben würde. Es folgte eine Phase der religiösen Toleranz und es gab Länder mit unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen in Europa. Die Katholische Kirche blieb natürlich nach wie vor sehr bedeutsam, doch ihr früherer politischer Einfluss war gebrochen und viele kluge Köpfe wandten sich eher den Naturwissenschaften als der Theologie zu. Es brach eine neue Phase, das Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaften, an. Wie wir gesehen haben, geht Thomas von Aquin noch von der Einheit von Glaube und Vernunft aus und ist davon überzeugt, 136 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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dass sich die Menschen durch gute Handlungen (gute Werke) im Rekurs auf die Tugenden und das Einhalten naturrechtlicher Normen der Gnade Gottes als würdig erweisen können. Damit waren die guten Werke für die Erlösung zwar notwendig, aber eben nicht hinreichend. Luther sieht dies entschieden anders. Er lehnt die scholastische Tradition, die traditionelle Kirchenlehre von den »guten Werken« sowie die Philosophie im Allgemeinen und den aristotelischen Einfluss auf die Religion im Besonderen ab. Luthers religiöse Position basiert vor allem auf der biblischen Ethik des Neuen Testamentes (Nächstenliebe, Barmherzigkeit), der Ethik von Paulus (Gnadenlehre) und einigen neuplatonischen Gedanken von Augustinus (vor allem mit Blick auf seine Prädestinationslehre). Die einzige Instanz, so Luther, die dem erbsündigen Menschen das Heil bringen kann, ist der Glaube an Gott. Die Vernunft ist »des Teufels Hure« und Aristoteles ein »arglistiger Heide«, der viele gute Kirchenmänner zu einem falschen Glauben »verführt« hat. Zweifellos denkt er dabei auch an Thomas von Aquin. Luther nimmt an, dass die sogenannten guten Werke für das Heil des Menschen insgesamt bedeutungslos sind, da man die Gnade Gottes nicht durch positive Handlungen vorbereiten kann. Allerdings, so Luther, würde dies nicht dazu führen, dass die Menschen untätig bleiben. Im Gegenteil, das Leben in der menschlichen Gemeinschaft macht es unbedingt erforderlich, dass die Menschen ihr Handeln an der selbstlosen Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit ausrichten. Während für Thomas von Aquin das Naturrecht noch eine überragende Stellung mit Blick auf das gute Leben einnimmt, ist dies bei Luther anders. Auch wenn Luther die Evidenz des Naturrechts anerkennt, glaubt er jedoch, dass es im alltäglichen Leben kaum umgesetzt wird. Dies ist aus systematischen Gründen merkwürdig, da er selbst darauf hinweist, dass die Zehn Gebote eine Art Zusammenfassung des Alten Testamentes darstellen und man sie als naturrechtliche Bestimmungen auffassen sollte. Nach Luther geht Jesus Christus in der Bergpredigt davon aus, dass der Dekalog in der Goldenen Regel zusammengefasst werden kann. Alle anderen Bestimmungen des Alten Testamentes gelten jedoch, so Luther, nur für die Juden und nicht für Christen. Die mora137 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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lischen Regeln, an die sich die Christen halten sollen, sind die Zehn Gebote und die moralischen Gebote Gottes im Neuen Testament. Wenn dies stimmt, dann erscheint die Rolle des Naturrechts größer zu sein, als Luther zunächst einräumt. In diesem Kontext ist der folgende Gedanke wichtig: Frühere Theologen sind davon ausgegangen, dass die Menschen auf Grund ihrer Vernunftfähigkeit mittels ihres individuellen Gewissens in der Lage sind, moralisch gute von schlechten Handlungen zu unterscheiden und sich entsprechend danach im Handeln zu orientieren. Luther lehnt jedoch die Vorstellung eines säkularen, individuell-normativen Gewissens ab und geht davon aus, dass das Gewissen der Ort der Gotteserfahrung ist und immer im Rekurs auf das Wort Gottes in der Bibel zu verstehen ist. Doch was heißt das genau? Wenn ich Luther richtig verstehe, dann glaubt er, dass Gewissensentscheidungen von Natur aus im Lichte der göttlichen Liebesbotschaft zu sehen sind und nicht davon losgelöst gedacht werden können. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Gewissen einem Schlüssel gleicht, mit dem Sie Türen aufschließen können. Wenn Ihr Schlüssel nicht die richtige Form hat, dann sind Sie auch nicht in der Lage, Türen zu öffnen. Mit anderen Worten: Nur mit Hilfe des richtigen Schlüssels können Sie die richtigen Entscheidungen treffen. Und dies ist, so Luther, das sich an Gott orientierende Gewissen. Der bekannte niederländische Philosoph und Theologe Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der unter anderem auch »Fürst der Wissenschaft« und »Vater der Studien« genannt wurde, war ebenfalls einer der bedeutendsten humanistischen katholischen Denker der Renaissance und wurde von der Katholischen Kirche dazu angestiftet, Luthers Lehre unter Beschuss zu nehmen. Auf Grund der Tatsache, dass Erasmus Luther achtete und die negativen Folgen eines fundamentalen Streits mit Blick auf die Einheit der Kirche befürchtete, zögerte er zunächst, gab jedoch dem Ansinnen der Kirche nach und nahm schlussendlich den theologischen Streit mit Luther auf. In seiner kleinen, aber wirkmächtigen Schrift Über die Freiheit des Willens (1524) greift Erasmus die Position von Luther, insbesondere seine Form der Prädestinationslehre, die er teilweise von Augustinus übernommen hatte 138 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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und die Vorstellung der absoluten Notwendigkeit allen Geschehens, die auf den scholastischen Theologen und Philosophen John Wycliffe (um 1330–1384) zurückgeht, an. Die Prädestinationslehre besagt, dass Gott bereits das Schicksal eines jeden einzelnen Menschen – sein Heil oder seine Verdammnis – im Voraus bestimmt hat. Erasmus versucht, Luther davon zu überzeugen, dass die Folgen, die sich aus der Annahme der Prädestinationslehre und der Notwendigkeit allen Geschehens ergeben, mit der Gnade Gottes unvereinbar seien. Sein Gedankengang ist wie folgt: Wenn alles mit absoluter Notwendigkeit geschieht, dann ist der Mensch weder Urheber guter noch schlechter Handlungen, da alles ursächlich auf Gott zurückgeht. Dies ist aus religiösen Gründen jedoch unhaltbar, da man Gott nicht für die schlechten Handlungen der Menschen verantwortlich machen will. Ferner, auch wenn der menschliche Wille auf Grund des Sündenfalls geschwächt ist, so Erasmus, agiert er dennoch frei im Zusammenspiel zwischen der eigenen Anstrengung einerseits (gute Werke zu verrichten) und der Gnade Gottes andererseits. Luther antwortet auf diesen Angriff mit seiner berühmten Schrift Über die Unfreiheit des Willens (1525), in der er darauf beharrt, dass der menschliche Wille unfrei ist und alles mit Notwendigkeit geschieht. Im Detail: Der Mensch, so Luther, ist mit einem Lasttier vergleichbar, das entweder vom Teufel oder nach der Verwandlung des Glaubens von Gott geritten wird. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich frei der göttlichen Gnade hinzuwenden, da dies bedeuten würde, dass seine Handlungen – die guten Werke – einen positiven Einfluss auf die Gnade Gottes hätten. Dies ist nach Luther jedoch nicht der Fall. So hat Svend Andersen ganz recht, wenn er Folgendes dazu schreibt: Die gläubige Annahme der Gnade setzt eine Verwandlung der Grundeinstellung des Menschen voraus, die er selbst nicht leisten kann. Nicht der Mensch handelt, wenn er zum Glauben gelangt, sondern Gott. 47
Ein weiterer Punkt betrifft Luthers Annahme, dass der Begriff eines freien Willens an sich widersprüchlich sei. Etwas verkürzt 139 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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kann man Luthers Einwand wie folgt zusammenfassen: Der Wille ist notwendigerweise – auf Grund seiner Definition – unfrei, da er immer schon vom Gewollten gebunden wird, insofern sich der Mensch dadurch bereits auf etwas festgelegt hat. Mit anderen Worten: Die Freiheit, zu wollen, was man will, wäre somit nach Luther die Willensfreiheit von Erasmus. Dies kann jedoch kaum ein überzeugender Einwand sein, da die Willensfreiheit eben genau dadurch definiert wird, nämlich wollen zu können, was man will (Willensfreiheit) und nicht handeln zu können, wie man will (Handlungsfreiheit). Die fundamentale Frage lautet also eher, ob es etwas gibt, dass den Willen als Willen determiniert und dadurch die Willensfreiheit eingeschränkt würde und weniger, ob unsere Handlungsfreiheit festgelegt ist oder nicht. Diese Diskussion würde hier jedoch zu weit führen, so dass wir uns im Folgenden fragen wollen, welchen Beitrag Luther für unsere Konzeption des guten Lebens leisten kann. Luthers Position erscheint in einigen Hauptpunkten überzeugend zu sein, gerade wenn es darum geht, gegen einige kritische Aspekte der Katholischen Lehre wie zum Beispiel den Ablasshandel, die politische Vormachtstellung der Kirche und die Existenz des Fegefeuers etc. Stellung zu beziehen. Dennoch gibt es etliche Punkte seiner Lehre, die für eine Konzeption des guten Lebens ungeeignet sind. Die folgenden Aspekte halte ich für besonders relevant: Die Trennung von Staat und Kirche ist nicht nur im Kontext eines modernen liberalen Rechtsstaates angemessen, sondern ebenfalls für die Frage wesentlich, worin das gute Leben besteht, wenn es zum Beispiel darum geht, eine von der christlichen Lehre verschiedene Konzeption umzusetzen. Die Einschränkung der politischen Autorität und Vormachtstellung der Katholischen Kirche sowie die Hinwendung zu einem authentischen Glaubensverständnis, das zum Beispiel ohne Fegefeuer und den Ablasshandel auskommt, ist sehr überzeugend. Darüber hinaus steht dies besser im Einklang mit der ursprünglichen Lehre von Jesus Christus, wenn er sagt, dass man des Kaisers geben soll, was des Kaisers ist und Gott, was ihm gebührt. Das Weltliche ist im frühen Christentum vom Religiösen getrennt. Jesus Christus sagt nicht, dass die christliche Kirche in politischen Angelegen140 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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heiten über der Autorität des Staates steht und politische Macht für sich reklamieren und ausüben sollte. Es ist gut, dass Luther diese Fehlentwicklung erkannt hat und verbessern wollte. Luther betont, dass die guten Werke zwar nicht für die Gnade Gottes relevant sind, jedoch eine hohe Bedeutung mit Blick auf das soziale Zusammenleben der Menschen haben. Diesbezüglich sind die guten Werke bzw. guten Handlungen unerlässlich. Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und das Streben, sich der Goldenen Regel gemäß zu verhalten, sind unbedingt als positiv zu bewerten und sollten im täglichen Leben auch umgesetzt werden. Soziale Eintracht gehört zu den Minimalanforderungen der Moral, wie wir noch sehen werden, ohne die eine funktionierende Gesellschaft nicht auskommt. Ein weiterer Punkt, den Luther zwar nicht befürwortet hat, bezieht sich auf die religiöse Toleranz, die sich im Anschluss an die Kirchenspaltung ergibt und sich dann vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert weiter verfestigt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte selbst entscheiden können, woran ich glaube und wie ich mein Leben einrichten möchte. Der Hass, der sich insbesondere im Kontext von religiösen Konflikten einstellt, untermauert dies eindringlich, wie man an den folgenden Beispielen erkennen kann: An den christlichen Kreuzzügen, der Inquisition, der Hexenverbrennung, den Religionskriegen in der frühen Neuzeit und im allgemeinen an der Verfolgung Andersgläubiger. Glaube woran du willst, ohne Anderen dabei zu schaden, sollte ein Leitmotiv für jeden Gläubigen sein. Deshalb ist der religiöse Toleranzgedanke eine echte Errungenschaft und ein hohes Gut, das man auch im Kontext der Frage nach dem guten Leben einbeziehen sollte. Auf der anderen Seite gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Punkten, die Luthers ethische Position durchaus in Frage stellen. Seine Äußerungen mit Blick auf die Bauernaufstände, das Judentum und Toleranz sind genauso moralisch verwerflich wie Aristoteles’ Aussagen über Frauen und Sklaven. Es gibt zumindest zwei Gegeneinwände. Erstens könnte man ins Feld führen, dass man zwischen Person und Werk unterscheiden sollte. Mit anderen Worten: Wenn die fragwürdigen Aussagen einer Person 141 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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nicht in ihre religiöse oder ethische Position eingehen, dann – so der Einwand – sollte man nicht allzu kritisch sein. Darauf kann man antworten, dass es zum einen richtig ist, die religiöse oder ethische Lehre nur auf der Grundlage dessen zu beurteilen, was geschrieben steht und was man aus der Lehre ableiten kann. Zum anderen sollte man jedoch den Charakter der Person im Kontext ihrer ethischen Äußerungen bewerten. Zweitens könnte man einwenden, dass die historischen Umstände dergestalt waren, dass solche Überlegungen, die ebenfalls allgemein anerkannt waren, nicht weiter als problematisch angesehen wurden. Diesbezüglich macht man es sich allerdings zu leicht. Wir entschuldigen ja auch nicht die Untaten der Nazis mit den historischen Umständen und ihrer allgemeinen Akzeptanz, sondern sind der Meinung, dass es bestimmte Dinge gibt, die man einander nicht antun sollte und zwar unabhängig von Zeit, Ort und Kultur. In diesem Sinne hat Luther nicht nur als Theoretiker, sondern auch als seelsorgerischer Praktiker moralisch versagt. Die moralische Größe einer Person – wie zum Beispiel bei Buddha, Konfuzius und Sokrates – lässt sich insbesondere daran erkennen, dass sie sich von den idiosynkratischen Vorstellungen der eigenen Zeit befreien kann 48 und das Moralische selbst in den Blick nimmt. Mit anderen Worten: Wir sollten uns immer fragen, ob unsere moralischen Entscheidungen durch fragliche Konventionen gefärbt sind oder nicht. Auch wenn ich kein Katholik bin, hat mich die Gnadenlehre und thomistische Naturrechtslehre stärker beeindruckt als Luthers Überlegungen dazu. Die Annahme, dass die eigenen guten Werke mit Blick auf das eigene Heil bedeutungslos sind, ist nicht gerade ermutigend, wenn es darum geht, weitere gute Handlungen zu verrichten. Luther ist davon überzeugt, dass sich die Menschen vor dem Hintergrund der Prädestinationslehre nicht fatalistisch verhalten würden, da das soziale Zusammenleben gute Handlungen erforderlich macht und somit die eigene Untätigkeit bekämpft werden kann. Dies mag in praktischer Hinsicht richtig sein, doch zumindest stellt sich bei mir ein bitterer Nachgeschmack ein, der dadurch noch verstärkt wird, dass die Rolle der Vernunft im Kontext der Gnadenlehre vollständig negiert 142 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
werden soll. Ein weiterer Punkt betrifft Luthers Kritik an der Natur des individuellen Gewissens. Gewissensentscheidungen, so Luther, sind nicht mehr losgelöst vom Glauben zu betrachten, sondern im Gegenteil der Ort der Gotteserfahrung. Dabei geht es Luther darum, eine inhaltliche Rückbindung des Gewissens an die Worte Gottes in der Bibel vorzunehmen. Mit anderen Worten: Das Gewissen soll an der christlichen Lebensführung ausgerichtet sein und sich nicht an unabhängigen Standards orientieren. Grundsätzlich dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass sich die religiösen Vorstellungen des Protestantismus in den nachfolgenden Jahrhunderten ebenfalls verändert haben und heutzutage eine etwas bekömmlichere Glaubensvorstellung gepredigt wird, in der das Judentum nicht mehr verteufelt und die eigenen guten Handlungen mit Blick auf die Gnadenlehre klein geredet werden. Der Protestantismus hat sich seit Luther weiterentwickelt und steht im Grunde genommen der Position von Erasmus von Rotterdam näher als Luthers Lehren. Die positiven Aspekte wurden übernommen und die fraglichen Punkte wurden überwunden. Man könnte sagen, dass der heutige Protestantismus aufgeklärter ist als zu Luthers Zeiten. Und dies ist gut so.
3. Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben Die Frage, worin das gute bzw. gelungene Leben besteht, ist in der Philosophie erst wieder seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausgiebig diskutiert worden. Grundsätzlich kann man sagen, dass nahezu alle Autoren versuchen, die Frage im Rekurs auf die antike Tugendethik – insbesondere mit Blick auf Aristoteles – zu beantworten. Die aristotelische Tugendethik hat eine echte Renaissance erfahren und die meisten Philosophen entwickeln ihre Theorien des guten Lebens in Anlehnung an und Abgrenzung zu seiner Position. Diese philosophische Richtung wird Neoaristotelismus genannt. Die Rückbesinnung auf tugendethische Überlegungen mit Blick auf unsere moralischen Vorstellungen und Fragen des guten Lebens verdanken wir zumindest zwei sehr einflussreichen englischen Philosophen, Elizabeth Anscombe 143 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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(1919–2001) und Bernard Williams (1929–2003) sowie dem schottischen Philosophen Alasdair MacIntyre (geb. 1929). In ihrem klassischen und extrem einflussreichen Beitrag Modern Moral Philosophy (1958) hat Anscombe dafür argumentiert, dass die traditionellen ethischen Theorien wie Kants Pflichtethik oder Mills Utilitarismus auf Grund ihrer Fokussierung auf Handlungen bzw. Handlungsfolgen ungeeignet sind, die Komplexität der Moral abzubilden. Die zeitgenössische Philosophin Elif Özmen, mit der ich in Göttingen promoviert habe, hat dies sehr gut auf den Punkt gebracht, indem sie folgendes in ihrem vorzüglichen Buch Moral, Rationalität und gelungenes Leben (2005) schreibt: […] der modernen Tugendethik [liegt] eine ganz andere Vorstellung von Ethik zu Grunde als der Theorie des richtigen Handelns. Rationalität und Rechtfertigung sowie Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit […] sind für die tugendethische Vorstellung von Ethik nicht zentral. Nicht die Rechtfertigung von Einzelhandlungen von einem objektiven Standpunkt der Moral aus, sondern die Bewertung der handelnden Person unter Maßgabe eines Ideals menschlicher Vorzüglichkeit und des gelungenen Lebens machen diese Vorstellung von Ethik aus. 49
Im Folgenden sollen die Kerngedanken von drei unterschiedlichen Ansätzen des guten Lebens vorgestellt werden. Die Ansätze wurden von drei herausragenden zeitgenössischen Philosophinnen entwickelt, die sich in der Philosophie mit Blick auf ihre Konzeptionen des guten Lebens überaus verdient gemacht haben. Ihre Diskussionsbeiträge zählen zu den wichtigsten, die es im Kontext des Neoaristotelismus in der Gegenwartsphilosophie gibt. Die Philosophinnen sind: Die US-amerikanische und vermutlich bedeutendste zeitgenössische Philosophin Martha C. Nussbaum mit ihrem berühmten Ansatz der Fähigkeiten, die US-amerikanische Philosophin Susan R. Wolf mit ihrer Konzeption eines glücklichen und sinnerfüllten Lebens und die bereits verstorbene englische Philosophin Philippa R. Foot (1920–2010) mit ihrer naturalistischen tugendethischen Position. 144 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Bevor wir uns die drei Positionen etwas näher anschauen, ist es ratsam, sich nochmals vor Augen zu führen, was eigentlich gemeint ist, wenn wir von einem Subjektivismus und Objektivismus mit Blick auf Werte sprechen. Subjektivisten glauben, dass es keine intrinsischen Werte gibt, die unabhängig vom Menschen existieren, sondern alle Werte im Rekurs auf die Bewertungen von Personen zurückzuführen sind. Zum Beispiel: Die Natur hat deswegen einen moralischen Wert, weil wir Menschen sie als wertvoll erachten und nicht, weil sie einen Wert hat, der unabhängig vom Menschen existiert. Objektivisten sehen dies anders. Sie sind der Meinung, dass Gegenstände einen Wert haben können, der unabhängig vom Menschen existiert, wobei die Wertschätzung einer Person auf etwas im Gegenstand Bezug nimmt, das an sich wertvoll ist. Zum Beispiel: Die Natur ist wertvoll und zwar unabhängig davon, ob Menschen dies glauben oder nicht. Diese Überlegungen sind mit Blick auf den Diskurs des guten Lebens relevant. Warum ist das so? Vor diesem Hintergrund ist es dann zum Beispiel für den Objektivisten möglich, das glückliche Leben einer bloß lustorientierten Person als objektiv gesehen nicht gelungen zu bezeichnen. Mit anderen Worten: Eine Person, die glaubt, dass ihr Leben auf Grund ihrer glücklichen Erfahrungen besonders wertvoll ist und als ein gutes Leben begriffen werden kann, könnte sich darin irren, wenn ihr Leben zum Beispiel bestimmte objektive Aspekte – wie tiefe Freundschaften oder moralisches Verhalten – entbehrt, die dem menschlichen Leben insgesamt Sinn und Bedeutung geben. Diese wichtige Unterscheidung wird im Folgenden noch relevant werden.
Martha C. Nussbaum – Der Ansatz der Fähigkeiten Die US-amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten und einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart. Ihr sehr umfangreiches Oeuvre umfasst nahezu die gesamte Bandbreite der praktischen Philosophie und sie ist auch einer breiten Öffentlichkeit wohlbekannt. Sie gilt 145 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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zusammen mit anderen als Begründerin des Neoaristotelismus in der Ethik und versucht, Ihr Denken im Rekurs auf Aristoteles zu bereichern. Und in der Tat ist es ein sehr lohnenswertes Programm, antike Denktraditionen für die Gegenwart fruchtbar zu machen, um interessante Lösungen zu erarbeiten, ohne jedoch die Fehler der Antike und idiosynkratische problematische Sichtweisen zu duplizieren. Was wir im Kontext des Neoaristotelismus vermittelt bekommen, ist eine von solchen Problemen bereinigte Fassung des aristotelischen Denkens. Und dies ist gut so. So weisen viele tugendethische Philosophinnen darauf hin, dass sie Aristoteles zwar ungemein schätzen, aber zum Beispiel seine Überlegungen zur Stellung der Frauen und Kinder sowie zur Sklaverei entschieden ablehnen. Nach Aristoteles sind Frauen auf Grund ihrer mangelnden Vernunftfähigkeit nicht in der Lage, ein glückseliges Leben zu führen, während man sich gegenüber Kindern nicht ungerecht verhalten kann, da sie ein Teil des Mannes sind und man sich selbst gegenüber nicht ungerecht verhalten kann. Sklaven sind grundsätzlich Sachen und als Werkzeug zu betrachten. Diese Aussagen sind natürlich skandalös. Aristoteles’ fürsorgliche Vorkehrungen in seinem Testament zeigen ihn jedoch von einer anderen Seite. Dort versucht er alles, um sicherzustellen, dass seine Konkubine (seine Ehefrau starb zuvor) und seine beiden Kinder – ehelich und unehelich – ausreichend versorgt werden. Etliche seiner Sklaven erhalten sofort die Freiheit und eine ordentliche Abfindung, alle anderen werden vor dem Verkauf geschützt und in Freiheit entlassen, sobald sie ein gewisses Alter erlangt haben. Diese Fürsorge ist bemerkenswert und geht moralisch gesehen weit über das hinaus, was in der damaligen Zeit üblich war. Der international bekannte Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften (1998) und zeitgenössische Philosoph Amartya Sen hat zusammen mit Nussbaum den Ansatz der Fähigkeiten entwickelt, der in den 1980er Jahren als ein alternativer Ansatz zum traditionellen Modell in der Wohlfahrtsökonomie, indem der Wohlstand einer Gesellschaft lediglich im Rekurs auf das Einkommen bestimmt wurde, konzipiert worden ist. Der Ansatz der Fähigkeiten wird nunmehr als ein solides Modell in der Entwick146 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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lungsökonomie genutzt. Dieser Ansatz wurde von Nussbaum im Kontext der Ethik weiterentwickelt (durchaus im Kontrast zu Sen) und mit Blick auf die Frage, worin das wirklich gute menschliche Leben besteht, fruchtbar gemacht. Im Folgenden werden die Kerngedanken ihres Ansatzes beschrieben, den sie in unterschiedlichen Schriften weiter verfeinert hat und wir werden sehen, welche Aspekte für unsere eigene Position bedeutsam sind. Der Kern ihres Ansatzes der Fähigkeiten besteht aus einer Liste von zehn Grundfähigkeiten, die jeder Mensch haben muss, um ein typisch menschliches – und kein animalisches – Leben führen zu können. Im Rekurs auf Aristoteles und Karl Marx (1818–1883) gründet sie ihren Ansatz auf die anthropologisch rückgebundene Idee von typisch menschlichen Tätigkeiten. Doch was sind typisch menschliche Tätigkeiten? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu den sogenannten Grundfähigkeiten? Menschliche Tätigkeiten sind nach Nussbaum entweder bestimmte Zustandsformen wie zum Beispiel gut ausgebildet sein, unterernährt sein, Teil einer kriminellen Organisation sein oder Aktivitäten wie zum Beispiel reisen, Fußball spielen, Tiere töten oder Geld für Obdachlose spenden. Die Grundfreiheiten sind die Möglichkeiten einer Person, bestimmte Tätigkeiten umzusetzen. Zum Beispiel: Das Reisen in ferne Länder kann man mit Nussbaum als eine Tätigkeit begreifen, während die wirkliche Möglichkeit zu reisen in der korrespondierenden Grundfähigkeit liegt, über entsprechende finanzielle Mittel zu verfügen (man muss es sich also leisten können). Welche menschlichen Grundfähigkeiten gibt es denn? Die folgende aktuelle Liste der Grundfähigkeiten habe ich aus ihrem einflussreichen Buch Creating Capabilities: The Human Development Approach 50 entnommen, allerdings die einzelnen Punkte teils stark gekürzt. Die Liste sollte, so Nussbaum, von allen demokratischen Ländern unterstützt werden, da die aufgeführten Punkte mit Blick auf das gute menschliche Leben zentral sind: 1. Leben: Ein lebenswertes und kein verkürztes menschliches Leben zu führen. 2. Körperliche Gesundheit: Gesund und angemessen ernährt zu sein sowie eine angemessene Unterkunft zu haben. 147 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
3. Körperliche Integrität: Bewegungsfreiheit zu haben und keinen Angriffen ausgeliefert zu sein. Sexuelle Befriedigung und eine freie Wahl mit Blick auf Fortpflanzung zu haben. 4. Sinne, Imagination und Denken: Die fünf Sinne zu benutzen, zu imaginieren und zu denken. Eine angemessene Bildung zu haben. Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit. 5. Emotionen: Zuneigungen zu Dingen und Personen außerhalb von uns zu unterhalten; im Allgemeinen zu lieben, zu trauern sowie Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigte Wut zu erfahren. Emotionale Entwicklung ohne Furcht und Angst. 6. Praktische Vernunft: Eine Konzeption des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung kritisch zu reflektieren. 7. Zugehörigkeit: 1. Mit anderen und mit Bezug auf andere zu leben, die Sorge für andere Menschen zu erkennen und zu zeigen; an unterschiedlichen Formen sozialer Interaktionen teilnehmen; fähig sein, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen. 2. Das Haben einer sozialen Grundlage für Selbstachtung und Nichtdemütigung; fähig zu sein, als ein würdevolles Lebewesen behandelt zu werden, dessen Wert mit dem der anderen gleich ist. 8. Andere Spezies: Mit der Sorge um und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und der Umwelt zu leben. 9. Spiel: Zu lachen, zu spielen und Aktivitäten zur Erholung zu genießen. 10. Kontrolle über das eigene Umfeld: 1. Politisch: Das Recht auf politische Partizipation zu haben, Schutz von freier Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. 2. Materiell: Eigentum besitzen zu können und gleiche Eigentumsrechte zu haben; das Recht auf humane Arbeit und respektvoller Umgang mit Kollegen. Nussbaum glaubt, dass alle Menschen die in der Liste aufgeführten Grundfähigkeiten haben müssen, um mittels der menschlichen Tätigkeiten in der Lage zu sein, ein würdevolles mensch148 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
liches Leben zu führen. In den 1990er Jahren hat sie noch angenommen, dass die Liste der Grundfähigkeiten statisch ist und sich nicht verändert. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten hat Nussbaum die Liste leicht revidiert und weitere Grundfähigkeiten aufgenommen. Mit anderen Worten: Nussbaum geht nunmehr davon aus, dass die objektive Liste der Grundfähigkeiten durchaus veränderbar ist. Grundsätzlich sind nach Nussbaum alle zehn Grundfähigkeiten in gleicher Weise wichtig, doch sie hebt zwei von ihnen besonders hervor, die praktische Vernunft und die Zugehörigkeit, da sie die anderen Grundfähigkeiten durchfluten und damit erst die wahre menschliche Betätigung ermöglichen. Das besondere mit Blick auf die Liste ist, dass sie einerseits umfassend genug ist, um eine bestimmte Form des guten Lebens – nämlich die des menschlichen Aufblühens (human flourishing) – zu gewährleisten, ohne jedoch andererseits den Menschen genau vorzuschreiben, wie sie ihr Leben insgesamt führen sollen. Dies ist ein echter Vorzug gegenüber anderen Konzeptionen des guten Lebens. Darüber hinaus bietet der Ansatz der Fähigkeiten die Möglichkeit, interkulturelle Urteile darüber zu fällen, auf welche Weise die Grundfähigkeiten von Menschen in anderen Ländern realisiert sind oder nicht. Zum Beispiel: Mit Blick auf die Grundfähigkeit der Zugehörigkeit betont Nussbaum, dass ein würdevolles Leben nicht mit Diskriminierung, wie sie beispielsweise mit Blick auf das Kastensystem in Indien vorliegt, vereinbar ist. Unabhängig davon, ob man nun annimmt, dass alle Grundfähigkeiten wirklich überzeugen, ist das Potential des Ansatzes der Fähigkeiten insgesamt beeindruckend. Eine Konzeption des guten Lebens, die interkulturell bedeutsam ist, ermöglicht es uns, die Lebensumstände von Menschen in anderen Ländern im Rekurs auf eine gemeinsame Vergleichsgrundlage besser einzuschätzen und entsprechend zu verbessern. Diesbezüglich könnte man also eine vernünftigere Entwicklungshilfe, die nicht an den Grundbedürfnissen des Menschen vorbeigeht, leisten. Hinzu kommt, dass der Staat allen Bürgern ein soziales Minimum garantieren sollte, damit sie die Grundfähigkeiten umsetzen können. Dies ist sicherlich eine sehr ambitionierte Forderung, die jedoch zumindest als ein praktisches Ideal angestrebt werden sollte. 149 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Ohne Zweifel ist Nussbaums Ansatz der Fähigkeiten durchaus attraktiv, insbesondere wenn es um die interkulturelle Perspektive geht und um die Forderung, Staaten so einzurichten, dass der sozial-politische Rahmen dafür sorgt, dass alle Menschen die Möglichkeit bekommen, ihre je eigene Vorstellung vom guten Leben umzusetzen. Dies sind wichtige Aspekte. Andererseits bleibt zu konstatieren, dass Nussbaums Ansatz der Fähigkeiten auf einer enorm anspruchsvollen Liste von Grundfähigkeiten ruht, die vermutlich nur von wenigen Menschen ganz erfüllt wird. Diesbezüglich war es mir also wichtig, einen großen Teil der Liste aufzuführen, um die umfassende Dimension ihrer Konzeption deutlich zu machen. Nussbaum geht sogar so weit und betont, dass es sich nicht mehr um ein wirklich würdevolles menschliches Leben handelt, wenn eine Person auch nur eine Grundfähigkeit entbehrt. Hinzu kommt, dass Nussbaum die praktische Vernunft für das Erreichen des guten Lebens als wesentlich ansieht. Auch wenn ich die hohe Relevanz der praktischen Vernunft mit Blick auf Nussbaums Konzeption grundsätzlich überzeugend finde (hier bin ich ganz Aristoteliker), ist von unterschiedlicher Seite mit recht scharfer Kritik an ihrem Ansatz formuliert worden. Was wurde kritisiert? Viele Anhänger der Behindertenrechtsbewegung sind davon überzeugt, dass Nussbaums Fokussierung auf die praktische Vernunft sowie ihre Position, dass Menschen nur dann ein würdevolles Leben führen können, wenn sie alle Grundfähigkeiten haben, das Potential hat, Menschen auszugrenzen. Insbesondere geht es um Menschen mit einer starken mentalen Einschränkung. Ist es wirklich angemessen, ihnen das Menschsein abzusprechen und ihnen damit zu attestieren, dass sie kein würdevolles Leben führen können? So etwas erregt die Gemüter vieler Menschen. Auf Grund Nussbaums systematischer Nähe zu Aristoteles – schließlich handelt es sich bei ihrer Konzeption immerhin um einen neoaristotelischen Ansatz – ist es wenig verwunderlich, dass die praktische Vernunft so stark betont wird und eine solch’ prominente Schlüsselfunktion einnimmt. Doch nicht nur ethische Theorien, die sich auf Aristoteles berufen, setzen sich dem Vorwurf der Ausgrenzung von Menschen aus. Auch Kantisch orien150 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
tierte Positionen haben es mitunter schwer, wenn es darum geht, den moralischen Status von Menschen zu bestimmen, die eine starke mentale Einschränkung haben. Nach Kant haben nur diejenigen Personen Würde, die über Autonomie verfügen, wobei das Konzept der Autonomie voraussetzt, dass die Person notwendigerweise über Rationalität verfügen muss. Ein Mensch, der diesbezüglich stark eingeschränkt ist und somit nicht mehr autonom handeln kann, ist nach Kant keine Person. Um solche negativen Folgen zu umgehen, hat man in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts den Begriff der Person in der feministischen Ethik und der Ethik der Fürsorge anders definiert. Es wird nunmehr davon ausgegangen, dass der Begriff der Person relational ist und ausschließlich durch soziale Beziehungen konstituiert wird, auch wenn der betroffene Mensch eine starke mentale Einschränkung hat. Diese Idee wurde dann von der Behindertenrechtsbewegung aufgegriffen und im Kontext der inklusiven Gesellschaft fruchtbar gemacht. Auch wenn der Ansatz der Fähigkeiten interessant ist und über ein gutes Potential verfügt, gibt es jedoch ebenfalls einige Nachteile, die diese Konzeption mit Blick auf unsere Vorstellung, worin das gute Leben besteht, insgesamt weniger geeignet macht.
Susan R. Wolf – Glück und Sinnhaftigkeit Susan R. Wolf hat sich in unterschiedlichen Schriften mit dem Thema des guten Lebens beschäftigt und dabei die Bedeutung von Glück und den Aspekt der Sinnhaftigkeit betont. Wolfs Konzeption des guten Lebens wird insbesondere in ihrem wichtigen Beitrag Happiness and Meaning: Two Aspects of the Good Life (1997) beschrieben. Das objektiv gute bzw. gelungene Leben, so Wolf, darf nicht vollkommen unabhängig von den persönlichen Vorstellungen, Interessen oder Präferenzen einer Person definiert werden. Es muss auf das individuelle Glück der Person Rücksicht nehmen. Diesbezüglich wird also das gute Leben im Rekurs auf das individuelle 151 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Glück einerseits und die objektive Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens andererseits definiert. Doch was heißt das genau? Wolf glaubt, dass ein glückliches Leben an sich nicht ausreicht, um ein gutes menschliches Leben zu sein. Ein gutes Leben muss immer auch durch den Aspekt der Sinnhaftigkeit gekennzeichnet sein. Die objektive Sinnhaftigkeit eines menschlichen Lebens kommt dadurch ins Spiel, dass sich die Person wertvollen Projekten zuwendet und sich dabei aktiv engagiert. Diesbezüglich stellt sich dann ein tiefes und kognitiv befriedigendes Gefühl der Erfüllung ein, die das individuell glückliche Leben zu einem objektiv guten Leben transformiert. Darüber hinaus muss die Person über praktische Vernunft und normative Kompetenz verfügen. Die praktische Vernunft ist notwendig, da die Person das Richtige und Falsche erkennen muss, um sich am Richtigen bzw. Guten orientieren zu können. Dies setzt jedoch voraus, dass die Person in normativen Dingen kompetent genug ist, um verantwortlich und vernünftig handeln zu können. Wolfs Konzeption des guten Lebens beinhaltet zudem einen normativen Pluralismus. Was meint Wolf damit? Sie geht davon aus, dass es eine Pluralität von unterschiedlichen subjektiven (sinnliche Lustbefriedigung) und objektiven (Freundschaft, Gesundheit, Sinn des Lebens, Schmerzvermeidung etc.) Gütern und Werten im menschlichen Leben gibt, die man nicht aufeinander reduzieren kann und die teils inkompatibel sind. Dieser Pluralismus führt zu einer offenen Liste von Gütern und unterschiedlichen Werten, wie wir sie bereits in ähnlicher Weise bei Nussbaum kennengelernt haben. Unauflösbare moralische Konflikte gehören zur Natur des menschlichen Lebens dazu und sind, so Wolf, kein Argument gegen den moralischen Objektivismus. Es gibt keinen übergeordneten Anspruch darauf, dass wir alle moralischen Konflikte auflösen können. Grundsätzlich sind wir jedoch nach Wolf dazu verpflichtet, wertvolle Lebensprojekte zu verwirklichen, wenn wir ein objektiv gutes menschliches Leben führen wollen. Wolfs Konzeption des guten Lebens ist aus meiner Sicht nicht nur philosophisch interessant und bedeutsam, sondern enthält auch viele überzeugende Überlegungen, die es wert sind, für eine 152 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
eigene Konzeption des guten Lebens in Betracht zu ziehen. Die Vorstellung, dass es eine Pluralität von ganz unterschiedlichen subjektiven und objektiven Gütern und Werten gibt, ist sicherlich richtig und jeder Person auch auf Grund ihrer eigenen Lebenserfahrung unmittelbar einleuchtend. Genauso erscheint Wolfs Idee vernünftig zu sein, dass das gute bzw. gelungene Leben sowohl von der jeweiligen Person subjektiv als glücklich empfunden werden sollte, als auch objektiv gesehen lohnenswerte Lebensprojekte enthalten muss. Derzeit sind viele Menschen auf Grund der Coronakrise entweder mit dem Tod konfrontiert oder sind teils schwer erkrankt. Dies ist eine existentielle Situation, in der sich die meisten Menschen fragen, ob ihr Leben insgesamt sinnvoll gewesen ist und Bedeutung hatte. Oder aber, ob es ein vergeudetes Leben war und damit sowohl in den Augen der Person als auch von einem objektiven Standpunkt aus gesehen kein gelungenes Leben gewesen ist. Dies sind aufwühlende und bewegende Gedanken. Wie würde man sein Leben einrichten wollen, wenn man nochmals eine zweite Chance bekommen würde? Was würde man anders tun? Würde man sich mit mehr sinnvollen Dingen beschäftigen oder versuchen, das individuelle Glück zu befördern? Wie würden Sie sich entscheiden? Wolf schreibt mit Blick auf die lohnenswerten Projekte folgendes: Daß ein sinnerfülltes Leben auch »lohnenswerte Vorhaben« enthalten muß, wird wohl, wie ich glaube, etwas kontroverser sein, da dieser Begriff auf eine Verpflichtung zu irgendeiner Art objektiven Wert hindeutet. Dies ist kein Zufall, denn ich glaube, dass die Idee der Sinnhaltigkeit sowie unsere Sorge, daß unser Leben auch sinnerfüllt ist, begrifflich mit einer solchen Verpflichtung verbunden ist. 51
Diese Passage ist aufschlussreich. Wolf ist davon überzeugt, dass wir dazu verpflichtet sind, lohnenswerte Projekte in unser Leben zu integrieren. Diese können, müssen aber nicht moralischer Natur sein. Nach Wolf unterscheiden sich lohnenswerte von nicht lohnenswerten Projekten darin, dass die lohnenswerten Projekte im Rekurs auf kategorische Wünsche, die Menschen Gründe ge153 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
ben, weiterleben zu wollen, gerechtfertigt werden können. Diese kategorischen Wünsche beziehen sich zum Beispiel auf folgende als wertvoll angesehene Projekte: Moralische, künstlerische und intellektuelle Projekte, soziale Beziehungen sowie politisches und soziales Engagement. Diesbezüglich bleibt zu konstatieren, dass die Moral zwar wichtig, jedoch nur ein Projekt unter anderen ist. Ihre Unterscheidung vom subjektiven Glück und objektiver Sinnhaftigkeit enthält nicht die Erfüllung moralischer Ansprüche als ein notwendiges Kriterium für das gute Leben. Gewiss, man kann davon ausgehen, dass ihre tugendethische Position implizit den moralischen Aspekt enthält, da man nach einer tugendethischen Position nur dann ein gutes Leben führen kann, wenn man sich anderen gegenüber entsprechend anständig – also moralisch angemessen – verhält. Dennoch definiert Wolf das gute Leben als ein glückliches und sinnerfülltes Leben und nicht als ein Leben, das notwendigerweise auch moralisch sein muss. Man könnte natürlich versuchen, die Sinnhaftigkeit in einen breiteren Kontext zu stellen und in die Nähe moralischer Überlegungen zu rücken, doch es bleibt fraglich, ob Wolf dem letztendlich zustimmen würde oder nicht. Tugendethische Positionen betonen mit Aristoteles die Wichtigkeit der Praktischen Vernunft für das gute Leben. Wir haben gesehen, dass dieser Aspekt auch bei Nussbaum durchaus problematisch ist, wenn es zum Beispiel darum geht, Menschen mit einer starken mentalen Einschränkung den Vollzug des guten Lebens abzusprechen. Wenn Wolf die Bedeutung der praktischen Vernunft und die normative Kompetenz einer Person als wesentliche Aspekte begreift, um das gute Leben zu erlangen, dann schließt dies natürlich jene Personengruppe ebenfalls aus. Aus Sicht der Disability Studies ist dies eine provokante Sache. Ein solcher Ansatz, so die Anhänger, sollte von Anfang an verworfen werden, da er nicht inklusiv ist und Menschen ausgrenzt. Und tatsächlich, nach Wolfs Konzeption des guten Lebens würden Menschen mit einer starken mentalen Einschränkung lediglich in der Lage sein, glückliche Leben zu leben, ohne fähig zu sein, auch sinnhafte Leben gelebt zu haben. Dies hört sich zunächst
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Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
krass an, erscheint jedoch im Kontext des Intellektualismus tugendethischer Positionen unvermeidbar zu sein. Wolf glaubt, dass es zum menschlichen Leben dazu gehört, dass wir auf Grund der Pluralität von subjektiven und objektiven Werten unauflösbare Konflikte haben und dies dem moralischen Objektivismus keinen Abbruch tut. Auf Grund meiner eigenen philosophischen Position mit Blick auf das Lösen von moralischen Problemen weiß ich natürlich, was sie meint, halte es aber dennoch für nicht überzeugend. Meiner Ansicht nach gibt es durchaus Möglichkeiten, hartnäckige moralische Konflikte zu lösen, auch wenn dies am Anfang unwahrscheinlich erscheint (dazu später mehr). 52
Philippa Foot – Die naturalistische Tugendethik Das Spätwerk von Philippa Foot zeichnet sich unter anderem darin aus, dass sie die erfolgreiche Realisierung der Natur bzw. des Wesens des Menschen als Grundlage für moralisch gute Handlungen ansieht. Tugend und Glück sind die beiden notwendigen Bestandteile einer Konzeption des guten bzw. gelungenen Lebens, die objektiv gerechtfertigt werden kann. Eine solche Konzeption führt sie zum Beispiel in ihrem bekannten Buch Natural Goodness (2003) aus. Doch wie sieht diese Konzeption aus? Zunächst untersucht Foot, was das Gute des Menschen ist, um festzustellen, worin das gute menschliche Leben besteht. Ihre Antwort darauf fällt naturalistisch aus. Das heißt, dass die natürlichen bzw. speziesabhängigen Eigenschaften des Menschen von Foot als natürliche Normen interpretiert werden, die als Grundlage für moralische Normen dienen sollen. Die Philosophin Elif Özmen hat diesen Übergang sehr schön in ihrem Buch mit den folgenden Worten beschrieben: Natürliche Normen werden zur Grundlage von moralischen Normen erklärt: das, was das Gute der Menschen ausmacht als die besonderen Wesen, die sie im Unterschied zu anderen Wesen sind,
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Die Frage nach dem guten Leben
bestimmt, was als normativ kraftvoll, was als moralisch gut gelten kann. Zu erkennen, was das Gute der Menschen ausmacht, bedeutet, Erkenntnisse zu gewinnen darüber, welche Art von Personen wir sein sollen, welche Art von Leben wir führen sollen und welche Art von Willen wir ausbilden sollen. 53
Doch was kann man sich genau unter den natürlichen Eigenschaften des Menschen vorstellen? Foot unterscheidet zumindest zwischen zwei Arten von natürlichen Eigenschaften: Zum einen gibt es für das Gutsein einer Spezies bestimmte notwendige Dinge wie die Selbsterhaltung, Fortpflanzung und die Entwicklung, die erfüllt sein müssen. Zum anderen gibt es darüber hinaus noch ganz spezifische Notwendigkeiten wie die soziale Kooperation, Kommunikation oder die Etablierung bestimmter abstrakter Güter wie Gerechtigkeit und Kunst, die die Menschen als Menschen betreffen. Das wichtigste ist jedoch die praktische Vernunft und ihre Funktion mit Blick auf das moralische Denken, das den Menschen als Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Mit Hilfe der praktischen Vernunft erkennt der Mensch, was tugendhaft ist oder nicht. Das Gute bestimmt sich nach der Natur des Menschen, wobei die Tugend die Fähigkeit ist, sich am Guten zu orientieren und entsprechend danach zu handeln. Foot definiert die gute menschliche Handlung dadurch, dass die betreffende Handlung zum einen keiner spezifischen Tugend widersprechen darf und zum anderen zumindest eine bestimmte Tugend vorausgesetzt werden muss. Auch wenn Foot die beiden Begriffe Glück und Moral in einen engen Zusammenhang bringt, dürfen wir sie jedoch nicht so verstehen, dass – wie bei den antiken Autoren – diejenigen Menschen, die moralisch handeln (und dies ein ganzes Leben lang tun), notwendigerweise auch ein gelungenes Leben führen. Ein gelungenes Leben, so Foot, besteht nicht nur in moralischen Handlungen, sondern auch darin, lustvolle Ereignisse, tief empfundenes Glück sowie freudvolle Erlebnisse zu haben. Foots tugendethische Konzeption des guten Lebens ist interessant, da sie anders als Nussbaum keine objektive Liste benutzt und dennoch genauso wie sie die Natur des Menschen als Start156 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Moderne und die Frage nach dem guten Leben
punkt für die Frage nach dem guten Leben wählt. Der Vorteil liegt darin, dass der Rekurs auf die menschliche Natur durchaus positiv zu bewerten ist, wenn es darum geht, moralische Entscheidungen an anthropologische Konstanten zurückzubinden. Die oftmals vorgebrachte Kritik einiger Autoren an zu abgehobenen Konzeptionen des guten Lebens – wie zum Beispiel bei Aristoteles – kann damit erfolgreich entgegnet werden. Dieser positive Zug naturalistischer Ansätze ist durchaus erfreulich und sollte hervorgehoben werden. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass wir auf Grund von G. E. Moores (1873–1958) naturalistischem Fehlschluss nicht wirklich sicher sein können, ob dasjenige, was von Natur aus »gut« für den Menschen ist, auch moralisch gesehen gut ist. 54 Nach Moore ist der Begriff gut weder eine natürliche noch eine metaphysische Eigenschaft und lässt sich somit nicht im Rekurs auf beide definieren. Diesbezüglich kann man immer im Kontext von naturalistischen Ethiken fragen, ob dasjenige, was durch diese als »gut« definiert worden ist, auch wirklich gut ist. Mit anderen Worten: Wenn Foot als Grundlage für ihre Konzeption des guten Lebens von der Relevanz natürlicher Eigenschaften mit Blick auf moralische Normen ausgeht, dann, so könnte man mit Moore betonen, bleibt immer noch offen, ob dasjenige, was Foot als moralisch gut ansieht, auch wirklich gut ist. Dies ist ein schwerer Rückschlag. Ein weiterer Punkt betrifft Foots Fokus auf die Tugendhaftigkeit der Person und ihrer Handlungen. So geht es nicht wie bei Wolf um konkrete subjektive und objektive Werte und deren Realisierung im Kontext von Glück und Sinnhaftigkeit, sondern um eine eher offen gehaltene Konzeption. In ihrem Buch Die Wirklichkeit des Guten (1997) schreibt sie diesbezüglich folgendes: Wenn Philosophen sagen, ein glückliches Leben umfaßt Freundschaft, Arbeit und so weiter, dann muß das unvergleichlich banal klingen. Es kann sehr unterschiedliche Güter und herrliche Dinge geben, Glück kann sehr verschiedene Formen annehmen, in verschiedenen Kulturen, Zeiten und bei verschiedenen Personen. Ich glaube nicht, daß man auch nur soviel wie Aristoteles über die guten
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Die Frage nach dem guten Leben
Dinge des Lebens sagen sollte. Ich glaube aber auch nicht, daß einfach alles den Menschen tiefes Glück vermitteln kann oder auch nur großes Glück. 55
Ohne Zweifel sind dies eher moderate Töne, die durchaus verständlich, jedoch ein Stück weit für eine echte ethische Orientierung unbefriedigend sind. Schließlich wollen wir ja wissen, wie wir uns ethisch und moralisch verhalten sollen. Der bloße Verweis auf die natürlichen Eigenschaften des Menschen greifen dann einfach zu kurz, wenn es darum geht, wie wir unsere Leben einrichten sollten, um ein gutes Leben zu führen. Gewiss, die Orientierung an moralischen Normen, die in angemessener Weise die Natur des Menschen berücksichtigen, ist natürlich hilfreich und als positiv zu bewerten, doch man darf mit Blick auf die ethische Dimension bei Foot keine konkrete Hilfestellung erwarten, wie das obige Zitat deutlich macht. Gleichwohl hat uns die Beschäftigung mit Foot wichtige Impulse für unsere philosophische Reise gegeben.
4. Was ist das gute Leben? Dieses Kapitel hat uns gezeigt, auf welche Weise das gute Leben in der Antike, im Mittelalter und in der Moderne beschrieben worden ist. Wir haben gesehen, dass unterschiedliche Autoren unterschiedliche Antworten darauf geben, wie wir leben sollten. Prinzipiell, so hatten wir am Anfang gesagt, gibt es drei verschiedene Antworten darauf, wie sich das gute Leben und die Moral zueinander verhalten: (1.) Das gute Leben besteht in einem moralischen Leben (antike Autoren), (2.) das gute Leben ist unabhängig von der Moral (rein egoistische Positionen) und (3.) das gute Leben muss auch moralischen Anforderungen gerecht werden (Neoaristotelische Ansätze). Aber was ist denn nun das gute Leben und wie müssen wir unsere Leben einrichten, damit wir auch im Kontext der sozial-politischen Herausforderungen noch tugendhaft bleiben? Bis jetzt haben wir ja nur eine Übersicht darüber bekommen, welche Möglichkeiten es gibt. 158 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was ist das gute Leben?
Die gute Nachricht ist, dass es nicht das schlechthin gute Leben gibt, wie noch einige antike und mittelalterliche Philosophen und Theologen dachten, sondern dass es einen bestimmten Spielraum für das gute Leben gibt (vgl. Nussbaum). Was ist damit gemeint? Wer ein gutes Leben führen möchte, muss einige wesentliche Kriterien erfüllen, die inhaltlich durch die Minimalanforderungen der Moral flankiert werden. Das gute Leben muss also auch moralischen Anforderungen gerecht werden (3. Position). Doch welche Kriterien sind so wichtig, dass ein gutes Leben nicht ohne sie auskommt? Und wie kann das gute Leben überhaupt pluralistisch sein (vgl. Wolf)? Der Pluralismus der individuell guten Leben, so haben wir im Rekurs auf die Neoaristotelischen Positionen gesehen, kommt mit Blick auf die wertvollen Lebensprojekte ins Spiel, die je nach Person ganz unterschiedlich gestaltet sein können. Zum Beispiel: Während Aristoteles glaubt, dass das gute Leben nur im Philosophieren besteht, denkt der Kyniker Diogenes von Sinope jedoch, dass es sich eher durch absolute Bedürfnislosigkeit auszeichnet. Was ist nun richtig? Die Antwort ist, dass beide recht und unrecht haben. Unrecht haben sie damit, dass sie versuchen, eine ganz bestimmte Form des guten Lebens zu verabsolutieren und für alle als bestimmend auszuweisen. Das gute Leben besteht nicht allein im Philosophieren oder in der Bedürfnislosigkeit. Recht haben beide Denker damit, dass ihre Vorstellungen vom guten Leben unterschiedliche Lebensprojekte darstellen, die sowohl individuell wertvoll sind als auch den Anforderungen der Moral gerecht werden. Die folgenden Überlegungen werden diesen Punkt an Hand der wesentlichen Kriterien, die ein gutes Leben erfüllen muss, weiter ausführen. Es gibt insgesamt sechs Kriterien. Erstens: Wie bereits oben angedeutet, kommt der Pluralismus der individuell guten Leben dadurch ins Spiel, dass sich Personen auf unterschiedliche Weise selbst verwirklichen. Diese Selbstverwirklichung drückt sich in der Verfolgung unterschiedlicher Lebensprojekte aus, die stets von den jeweiligen Personen als wertvoll angesehen werden. Alle Menschen wollen glückselig werden, doch sie glauben, dass es unterschiedliche Wege zur
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Die Frage nach dem guten Leben
Glückseligkeit gibt. Frei nach dem Motto, dass viele Wege nach Rom führen. Genau hier kommt der Pluralismus ins Spiel. Zwei wichtige Punkte sollten dabei jedoch beachtet werden: Zum einen bleibt festzustellen, dass nicht alle Wege nach Rom führen, sondern dass es auch Sackgassen oder Umwege gibt. Wenn ein bestimmter Weg den Anforderungen der Moral nicht gerecht wird, dann führt dies in eine Sackgasse. Wenn zum Beispiel das vermeintlich wertvolle Lebensprojekt darin besteht, anderen Menschen Schaden zuzufügen, dann ist dies eine Lebensweise, die nicht zur Glückseligkeit führen wird. Das »Glück« des moralischen Monsters ist getrübt. Zum anderen könnte man die Frage aufwerfen, ob es nicht auch Lebensprojekte gibt, die zwar den Minimalanforderungen der Moral gerecht werden, aber objektiv gesehen als wenig wertvoll anzusehen sind. Mit anderen Worten: Gibt es unterschiedliche Qualitäten mit Blick auf die unterschiedlichen Lebensweisen? Gibt es also unterschiedlich gute Wege nach Rom? Macht es einen Unterschied, ob ich die große Prachtstraße nehme oder kleine verwinkelte Gassen, die mich über Umwege ans Ziel bringen? Stellen Sie sich vor, dass das größte Glück einer Person darin besteht, Briefmarken zu sammeln. Die Person richtet einen großen Teil ihres Lebens danach aus. Sie fährt auf Conventions für Briefmarken, nimmt teils erhebliche Strapazen auf sich, um bestimmte Briefmarken zu ergattern und findet darin einen tiefen und befriedigenden Sinn. Für sie ist es ein wertvolles Lebensprojekt, in dem sie sich selbst voll und ganz verwirklichen kann. Die Antwort auf die Frage, ob es sich dabei um ein Projekt handelt, das wertvoll genug ist, um ein ganzes Leben zu bestimmen, kann nur vor dem Hintergrund aller Kriterien beantwortet werden. Im Folgenden werde ich also hin und wieder auf das Briefmarkenbeispiel verweisen und im Rekurs auf die anderen Kriterien deutlich machen, was man von einer solchen Lebensweise zu halten hat. Zweitens: Es gibt bestimmte Güter, die ein gutes menschliches Leben haben sollte, um als ein solches zu gelten. Darunter zähle ich vor allem Gesundheit und Freundschaften. Es macht einen großen Unterschied aus, ob man gesund ist oder das eigene Leben durch eine starke mentale oder physische Einschränkung gekenn160 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was ist das gute Leben?
zeichnet ist. Ich habe einige Jahre lang im Bereich von Anthropologie und Ethik – vor allem im Kontext von Menschen mit Behinderung – geforscht und kenne mich diesbezüglich recht gut aus. 56 Es geht nicht darum, zu sagen, dass Menschen mit einer schweren Behinderung wie zum Beispiel Stephen Hawking (1942–2018) kein sinnerfülltes und glückliches Leben führen können. Das wäre unsinnig. Es geht um etwas anderes. Persönliche Berichte von Menschen mit schweren Behinderungen deuten oftmals darauf hin, dass es viele Dinge gibt, die man gerne machen möchte und die man dann auf Grund der besonderen Situation einfach nicht umsetzen kann. Dies kann eine sehr ernüchternde Angelegenheit sein. Eine Person, die auf Grund ihrer medizinischen Indikation nicht – oder nicht mehr – das Bett verlassen kann, kann eben keine Pilgerreise zu Fuß nach Santiago de Compostela machen, auch wenn dies der größte Lebenswunsch ist. Menschen mit einer medizinischen Indikation lernen, sich einzuschränken und ihr Leben danach auszurichten. Dies ist eine überlebensnotwendige Praxis. Gesundheit ist ein hohes Gut und man sollte allen helfen, die Hilfe brauchen. Auf der anderen Seite sollte man auch sagen dürfen, dass Gesundheit ein hohes Gut ist und sich nicht dafür schämen müssen. Instinktiv fragen wir die Eltern eines neugeborenen Babys, ob alles gut und das Kind gesund ist. Und dies sollte kein gesellschaftliches Problem sein. Auch dann nicht, wenn wir in einer inklusiven Gesellschaft leben würden, unabhängig davon, ob sich dann unsere Vorstellungen mit Blick auf die Wertigkeit von Gesundheit entsprechend verändern würden. Ein gutes menschliches Leben umfasst auch Freundschaften. Damit meine ich natürlich nicht die Tausenden Facebook-Freunde, die heutzutage ein Teenager haben muss, um überhaupt in seiner Peer Group anerkannt zu sein. So gibt es Berichte darüber, dass einige Teenager in den USA von anderen in ihrem sozialen Umfeld gemobbt worden sind, weil sie nur einige Hundert Facebook-Freunde hatten und sich dann darauf hin das Leben genommen haben. Dies ist eine tragische Entwicklung und man sollte alles daransetzen, damit so etwas nicht mehr vorkommt. Es ist unmöglich, über eine Vielzahl von guten Freunden zu 161 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
verfügen. Wenn jemand mehr als 2 oder 3 sehr gute Freunde hat, mit denen er alles teilen kann, dann ist dies schon sehr viel. In der Regel machen wir klare Unterschiede, mit welcher Person wir etwas besprechen und welche pikanten Details für welches Ohr geeignet sind. Darüber hinaus kann man natürlich etliche Bekannte haben, doch Bekannte sind eben keine Freunde, auch wenn man sich mit Bekannten freundschaftlich austauschen kann. Das Thema Freundschaft hat in der Philosophie mit Blick auf das gute Leben einen hohen Stellenwert. Dies kann man unter anderem daran erkennen, dass Aristoteles in seinem einflussreichen ethischen Hauptwerk gleich zwei von zehn Kapiteln dem Thema Freundschaft gewidmet hat. Doch warum sind Freundschaften so bedeutsam? Und warum nehmen wir an, dass ein Leben ohne Freunde für die meisten Menschen mit Recht ein eher trauriges Leben darstellt? Seine Sorgen und Ängste, aber auch seine glücklichen Momente mit jemanden teilen zu können, der einen sehr gut kennt und versteht und den man einen »Freund« nennt, ist für das menschliche Dasein und die Natur des Menschen überaus wichtig. Erlebtes teilen zu können und sich über wichtige – oder ganz unwichtige – Dinge austauschen zu können, ist wie Balsam für die eigene Seele. Wir brauchen Freundschaften, um uns als Menschen wirklich verstehen zu können. Menschen sind soziale Lebewesen und keine Einzelgänger. Wir sind keine Inseln, sondern aufeinander angewiesen. Daher ist es auch so wichtig, dass wir Bezugspersonen in unserem Leben haben, die uns helfen, wenn wir Fehler machen und uns die Wahrheit sagen. Freunde lassen einen nicht hängen, auch in stürmischen Zeiten nicht. Das heißt jedoch nicht, dass man sehr gute Freunde nie verlieren kann. Es gibt Situationen, die dazu führen, dass man Freundschaften aufkündigt und jeder seiner Wege geht, ohne dass man die Zeit, die man zusammen verbracht hat, verteufeln muss. Wahre Freundschaften sind selten. Mit Blick auf das Briefmarkenbeispiel müsste man zusätzlich in den Blick nehmen, ob die Person über echte Freunde verfügt oder sie sich auf Grund einer psychischen Besonderheit derart stark auf das Briefmarkensammeln fokussiert. Eine Person, für 162 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was ist das gute Leben?
die das wichtigste im Leben darin besteht, Briefmarken zu sammeln, hat unter Umständen einige soziale Defizite, die durchaus glücksabträglich sein können. Letztendlich kommt es auf die Balance an, auf welche Weise das Lebensprojekt Briefmarkensammeln das eigene Leben bestimmt. Man kann ein ernsthafter Briefmarkensammler sein, ohne ein solches Hobby zum Lebensziel zu machen, das alle anderen Lebensbereiche dominiert und unterordnet. Drittens: Mit Blick auf die Diskussion der mittelalterlichen Denker wie Thomas von Aquin und Martin Luther haben wir gesehen, dass die Religion für die meisten Menschen in der Welt eine sehr wesentliche Rolle für die eigene Identität spielt. Man könnte also einräumen, dass das Religiöse mit Blick auf das gute Leben ebenfalls seine Berücksichtigung finden sollte. Ich glaube allerdings, dass dies eine zu starke Forderung ist und schlage daher vor, dass man eher von einer metaphysischen Rückgebundenheit des Menschen sprechen sollte. Doch was ist damit gemeint? Jeder Mensch fragt sich irgendwann einmal im Leben – oder häufiger –, warum die Welt, die Menschen und er selbst als Individuum existiert. Was ist der Grund dafür? Was ist der Sinn und Zweck der eigenen Existenz? Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person an den christlichen Gott glaubt oder an die ewige Wiederkehr des Gleichen oder aber an die Natur als metaphysischen Urgrund. Wichtig ist dabei, dass es eine metaphysische Rückgebundenheit gibt, bei der sich der Mensch als Individuum mit seiner Existenz und Endlichkeit auseinandersetzt. Das gute Leben besteht eben zumindest auch darin, zu fragen, warum wir eigentlich auf dieser Welt sind und dies schließt eben auch Atheisten oder Agnostiker ein. Warum sollte man nicht die Religion als ein notwendiges Kriterium des guten Lebens begreifen? Diesbezüglich könnte man wie folgt argumentieren: Vor vielen Jahrtausenden haben die Menschen angenommen, dass es nur unsere Welt gibt und das Heil in einer lokalen Gottheit gesehen. Die Existenz von Milliarden von anderen Galaxien oder die Existenz eines Universums, das über unsere eigene Welt hinausreicht, konnte man sich nicht vorstellen. Dann haben die Menschen ihre eigenen Grenzen im 163 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
Mittelalter überwunden und zumindest eine Vorstellung davon gehabt, was es heißt, dass es neben unserer Welt noch ein ganzes Sonnensystem gibt. Damit wurde der lokale Gott zum Gott des Sonnensystems. In der Neuzeit hat man dann die gewaltigen Ausmaße des Universums mit den vielen Galaxien erkannt und der Gott des Sonnensystems wurde zu einem Gott des Universums. In unserer Gegenwart nehmen viele Astrophysiker an, dass es nicht nur ein Universum, sondern Multiversen gibt. Und wiederum sind wir gezwungen, unsere Vorstellung davon, was Gott ist, auf die Theorie der Multiversen zu erweitern. Unser Gott ist nun der Gott der Multiversen. Wenn wir diese stark vereinfachte Geschichte einmal zu Grunde legen, dann wird klar, warum viele Menschen gewisse Vorbehalte haben, wenn es darum geht, die Religion bzw. Gott als Grundlage für das je eigene gute Leben zu bestimmen. Wir lagen bis jetzt immer falsch. Warum, so die Gegner, sollte es diesmal anders sein? Viertens: Eine wichtige Weisheit, die zum Beispiel von Buddha (5. Jahrhundert v. Chr.) in Indien, Konfuzius (551–479 v. Chr.) in China und Aristoteles in Griechenland unabhängig voneinander formuliert wurde, besteht in der sogenannten Lehre des Mittleren. Die Extreme sollen gemieden werden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn Aristoteles von der Tugend der Tapferkeit spricht, dann nimmt er gleichzeitig an, dass die Tugend in der Mitte zwischen den beiden Extremen von Feigheit und Tollkühnheit liegt. Dies gilt für alle anderen Tugenden ebenso. Wenn wir also unsere Leben tugendhaft ausrichten wollen, dann sollten wir uns von den Extremen fernhalten. Diesbezüglich geht es nicht um ein »mittelmäßiges« Leben, sondern um ein Leben, das auf das Mittlere, also das Beste im Kontext der Tugendethik, ausgerichtet ist. Wenn dies aber der Fall ist, dann gibt es einige Konzeptionen des guten Lebens, die bereits von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Was ist damit gemeint? Zum Beispiel: Ein Leben in absoluter Bedürfnislosigkeit, so wie es Diogenes von Sinope gelebt und er von anderen gefordert hat, wäre demnach ein extremes Leben, das man schon auf Grund der Tatsache, dass es extrem ist, ablehnen sollte. Eine solche Kritik ist durchaus überzeugend. Doch was ist 164 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was ist das gute Leben?
mit der Position von Aristipp von Kyrene, dem Begründer des Hedonismus? Hier muss man klar zwischen einer hedonistischen Position, die ohne Rücksicht auf Verluste die eigene Lust in den Vordergrund stellt und alles andere darüber vergisst und einer klugen Perspektive unterscheiden, bei der man niemals zum Sklaven der Lust werden darf, sondern immer Herr über seine eigenen Begierden sein muss (die letztere Position ist die von Aristipp). Während die erste Position ein extremer Fall ist und abgelehnt werden sollte, erweist sich die zweite Position als durchaus überzeugend, die mit der Lehre des Mittleren kompatibel ist. Was ist mit unserem Briefmarkenbeispiel? Wenn sich die Person maßgeblich an diesem Lebensprojekt orientiert und glaubt, dass ihr Leben nur damit glückselig wird, dann ist dies ebenfalls ein extremes Beispiel. Ein solches Leben ist objektiv gesehen nicht gut, gleichwohl es von der Person selbst als überwiegend befriedigend angesehen werden kann. Es mag den einen oder anderen von Ihnen geben, der eine andere Intuition hat. Dies liegt daran, dass wir in der Regel glauben, dass jeder mit seiner Façon glücklich werden möge und eine spezifische Lebensweise gut ist, wenn sie für die betreffende Person gut ist. Dies ist jedoch falsch. Es gibt Lebensweisen, die insgesamt gesehen wertvoller als andere sind (die inspirierende Lebensweise von Mutter Theresa ist wertvoller als die eines moralischen Monsters). Und es gibt viele Fälle, in denen die Personen in der Begegnung mit anderen Lebensformen dazu übergehen, ihre eigenen Lebensweisen entsprechend abzuändern, weil sie erkennen, dass bestimmte Defizite sie daran gehindert haben, ihr volles Potential auszuschöpfen. Wenn der Briefmarkensammler erkennt, dass es noch andere wichtige Dinge als das Sammeln von Briefmarken im Leben gibt, die sinnvoll sind und sein Leben bereichern können, dann hat eine positive Entwicklung stattgefunden, die sein Leben insgesamt glücklicher machen wird. Fünftens: Ein wichtiger Punkt, den ich Aristipp von Kyrene verdanke, ist der wesentliche Gedanke, dass man sein Leben und die Freuden des Lebens genießen sollte, ohne jedoch ein Getriebener zu sein. Man sollte kein Kostverächter sein, aber sich nicht von seinen Gelüsten beherrschen lassen. Es geht nicht um Ver165 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
schwendung und das Ausleben aller Wünsche, sondern es geht auch hierbei um das kluge Maßhalten. Menschen, die unfähig sind, ihre Leben zu genießen, haben sich von der Idee des guten Lebens verabschiedet. Sie haben aufgegeben und nehmen nicht mehr am Leben teil. Wir sollten nicht vergessen, dass der Weg das Ziel ist. Es kommt darauf an, wie du gelebt hast. In diesem Sinne könnte man an uns Menschen appellieren, dass wir unsere Leben nicht verschwenden sollten, sondern uns darum bemühen sollten, möglichst gut zu leben. Das heißt jedoch nicht, dass man dem Grundsatz »Nach mir die Sintflut!« folgen sollte und auch nicht bis zum Lebensende wartet, um sich bestimmte Dinge zu erfüllen, da es dann nämlich zu spät sein kann. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung soll dies nochmals verdeutlichen: Ein Freund von mir, der ein wirklich international bedeutender Oxforder Philosoph und weltweit bekannt ist, teilt eine große Leidenschaft mit mir, nämlich exquisite schottische Single Malts zu trinken, vornehmlich von der Insel Islay, die berühmt für ihre sehr rauchigen Whiskys ist. Wir treffen uns sehr regelmäßig, wenn ich in Oxford bin und verbringen Zeit miteinander. Vor 1–2 Jahren stellte ich erstaunt fest, dass er über eine erhebliche Anzahl der besten Whiskys verfügt, aber normalerweise nur günstige Standards trinkt. Dies schien mir sehr verwunderlich zu sein. Ich sprach ihn darauf an und teilte ihm meine Verwunderung mit, wobei wir im Anschluss daran über meine Konzeption des guten Lebens diskutierten. Seitdem trinkt er nicht mehr die billigen Standards, sondern genießt seine guten Tropfen. Uns trennt eine Generation und – wie bereits gesagt – das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn ich in Oxford bin, komme ich nunmehr regelmäßig in den Genuss, gemeinsam mit meinem Freund herausragende und sehr alte schottische Whiskys zu trinken. Solche Momente verschönern das Leben. Sechstens: Menschen sollten ihr Leben in Harmonie mit ihrem sozialen Umfeld und mit der Natur leben. Man kann es nicht oft genug betonen: Wir Menschen sind keine Inseln, sondern wir sind auf unsere Mitmenschen notwendigerweise angewiesen. Das Verhalten mit Blick auf unsere Mitmenschen wird durch allgemeine 166 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was ist das gute Leben?
moralische Regeln bestimmt, die man einhalten sollte, wenn man keine Probleme haben und gleichzeitig ein tugendhaftes Leben führen möchte. Es gibt minimale Anforderungen der Moral, die alle erfüllen sollten, wenn wir gut miteinander auskommen wollen. Selbst das moralische Monster ist auf andere Menschen angewiesen, ob es nun die Leibwache im antiken Rom ist oder die Security eines modernen Despoten. Ohne Hilfe und Unterstützung anderer können auch solche Menschen nicht überleben. Einige Autoren gehen sogar davon aus, dass die Tatsache, in ständiger Angst als ein moralisches Monster oder ein moralischer Schurke zu leben und getötet zu werden, verhindert, dass solche Menschen jemals ein gutes Leben werden führen können. Darüber hinaus gibt es meiner Ansicht nach noch weitere Aspekte, die das Leben solcher Menschen als nicht erstrebenswert auszeichnen. Zum Beispiel: Auf Kosten anderer zu leben und sich über die moralischen Belange anderer hinwegzusetzen, ist mit einem moralischen Parasiten vergleichbar. Das gute Leben und das Leben eines moralischen Parasiten schließen einander aus. Ein gutes Leben zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass man ebenfalls in Harmonie mit der Natur lebt. Doch was ist damit gemeint? Müssen wir alle zu Umweltaktivisten werden, um ein gutes Leben führen zu können? Nein, sicherlich nicht. Doch Menschen, die sorglos die Überreste ihrer McDonalds-Einkäufe aus dem fahrenden Auto werfen, ihren Müll in der Natur entsorgen oder sich grundsätzlich achtlos gegenüber der Natur verhalten etc., sind offenkundig unfähig, die moralische Schwere ihrer Taten zu erkennen. Die Natur ist die Grundlage für unser menschliches Dasein. Ohne eine gesunde Natur gibt es kein gesundes menschliches Leben. Dies gilt unabhängig davon, ob wir glauben, dass die Natur nur deswegen wertvoll ist, weil sie für unser Überleben notwendig ist und wir ein gesteigertes Interesse daran haben, die Natur unseretwegen zu schützen (Anthropozentrismus), oder weil wir denken, dass die Natur an sich wertvoll ist und zwar unabhängig davon, ob es uns Menschen gibt oder nicht (Physiozentrismus). 57 Wir haben gesehen, worin das gute bzw. gelungene Leben besteht und welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit wir von 167 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Die Frage nach dem guten Leben
einem Leben als ein gutes Leben sprechen können. Ein gutes Leben beinhaltet sowohl subjektive Aspekte wie das Verfolgen von wertvollen Lebensprojekten, die die Person glücklich machen als auch objektive Aspekte, die dem menschlichen Leben als Ganzes Sinn und Bedeutung geben, was moralische Ansprüche, die erfüllt sein müssen, einschließt. Ein solches Leben ist nicht nur glückselig, sondern auch erfüllt. Die Anforderungen der Moral, die ein solches Leben notwendigerweise ebenfalls erfüllen muss, werden im folgenden Kapitel dargestellt.
168 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
V. Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
1. Warum moralisch sein? Warum sollte man eigentlich ein Zug- oder Busticket kaufen, wenn die Chancen sehr hoch sind, dass man nicht erwischt wird? Und warum sollte man bei einer Abschlussprüfung nicht schummeln, wenn man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht entdeckt wird? Mit anderen Worten: Warum sollte man sich moralisch – das heißt richtig – verhalten, wenn es keine negativen Folgen für die eigene Person zu befürchten gibt? Während Platon noch in seinem Hauptwerk Politeia versucht hat, die Sophisten davon zu überzeugen, dass es gute Gründe dafür gibt, dass man sich moralisch verhalten sollte, geht Aristoteles in der Nikomachischen Ethik einen anderen Weg und betont, dass seine ethischen Ausführungen nur an diejenigen gerichtet sind, die bereits über einige moralische Grundanforderungen verfügen. Wenn man also erst fragen muss, warum man sich moralisch verhalten sollte, so könnte man mit Aristoteles festhalten, dann hat man noch vieles in moralischen Dingen zu lernen. Wenn etwas als moralisch richtig erkannt worden ist, dann hat man doch einen guten Grund, entsprechend zu handeln, oder nicht? Welche anderen Gründe könnte es denn geben, sich anders als von der Moral gefordert zu verhalten? Persönliche Vorteile – ob klein oder groß – sind für viele Menschen ein echtes Motiv, die Ansprüche der Moral zu ignorieren und die Stimme der Vernunft zu überhören. Der moralische Trittbrettfahrer ist ein Parasit des Moralsystems, da er sich alle Vorteile zu sichern versucht, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu wollen. Was ist damit gemeint? Stellen Sie sich vor, dass jemand kein Zugticket kauft und somit in den Vorteil kommt, die Strecke von Köln nach Düsseldorf unbezahlt mitzufahren. Die Person sitzt in einem sauberen Abteil der 1. Klasse, es ist ruhig, nicht überfüllt und er kann den Getränke169 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
service am Platz benutzen. Wenn sich alle oder die Mehrheit der Menschen so verhalten würde, gäbe es keine Züge mehr. Dies wäre dann ein erheblicher Nachteil für alle Menschen. Der moralische Trittbrettfahrer ist jedoch sehr darauf bedacht, dass sein Verhalten nicht entdeckt wird, um einerseits nicht bestraft zu werden und andererseits keine moralischen Sanktionen seitens der Gesellschaft zu provozieren. Der moralische Parasit muss also immer den Anschein erwecken, als ob er sich moralisch verhalten würde, obwohl er es de facto nicht tut. Die Gefahr, entdeckt zu werden, kann hohe finanzielle und soziale Kosten nach sich ziehen, was der moralische Trittbrettfahrer unbedingt vermeiden will. Denken Sie zum Beispiel an den bekannten Ausspruch des Volksmunds: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht.« Weiter oben haben wir bereits gesehen, dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem guten Leben und dem moralisch Guten gibt. Dabei haben wir festgestellt, dass das moralisch Gute immer ein Bestandteil des guten Lebens ist. Anders formuliert: Vorstellungen des je eigenen guten Lebens schließen immer auch Fragen der Moral ein. Doch wir haben dabei mehr oder weniger offen gelassen, worin eigentlich genau die minimalen Anforderungen der Moral bestehen. Es liegt mir fern, den Menschen vorzuschreiben, wie sie sich moralisch verhalten sollen oder sie zu einem Gutmenschen zu erziehen. Ich bin kein moralischer Paternalist. Es ist mir jedoch wichtig, klar und deutlich zu beschreiben, welche Aspekte der Moral für Fragen des guten Lebens wesentlich sind. Dabei geht es nicht um moralische Perfektion, sondern um das Mindestmaß dessen, was wir als Menschen moralisch anstreben sollten, um ein glückliches Leben führen zu können. Stellen Sie sich vor, dass Sie – so wie ich – etwas Übergewicht haben und abnehmen wollen. Der Sommer steht ja vor der Tür. Was tun Sie? Vermutlich werden Sie – auch wenn es schwer fällt – eine Diät machen und evtl. auch ins Fitnessstudio gehen, um Ihr Gewicht entsprechend zu reduzieren. Dies erfordert eine strenge Disziplin, erhebliche Anstrengung und die Bereitschaft, auf viele kulinarische Annehmlichkeiten zu verzichten. Ähnlich verhält es sich mit der Moral. Viele Menschen glauben jedoch, dass man 170 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
ohne große Anstrengung oder Vorbildung ein gutes und tugendhaftes Leben führen könnte. Solche Vorstellungen sollte man allerdings schnellstmöglich ablegen. Die meisten Menschen machen den Fehler, den Aufwand und die Tiefe ethischen Räsonierens zu unterschätzen, wenn es darum geht, Konfliktfälle angemessen zu lösen. Die folgenden Überlegungen sollen dabei helfen, sich moralisch besser zu orientieren und entsprechend zu handeln. Moralisches Handeln und gutes Leben schließen einander nicht aus – sie sind zwei Seiten einer Medaille.
2. Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral Im Folgenden werden fünf wichtige Aspekte der Moral – die Goldene Regel, der Perspektivenwechsel, Mitleid empfinden können, soziale Eintracht und das Lösen von moralischen Interessenkonflikten – vorgestellt, die zusammengenommen die minimalen Anforderungen der Moral beschreiben. Darüber hinaus gibt es natürlich noch eine Vielzahl von anderen moralisch relevanten Punkten, doch mit Blick auf unsere zentrale Frage, worin das gute Leben im Zeitalter der Orientierungslosigkeit besteht, sind diese fünf Aspekte die zentralen Ankerpunkte der Moral, ohne die ein gutes Leben schlechthin nicht auskommen kann.
1. Die Goldene Regel Stellen Sie sich folgendes einfaches Beispiel vor: Sie sehen zufällig, dass Ihr kleines Kind die Beinchen einer Spinne ausreißt. Sie stellen Ihr Kind zur Rede, da Sie hoffentlich glauben, dass man solche Dinge einfach nicht tun sollte. Sie haben unter anderem die Befürchtung, dass Ihr 8-jähriger Sohn nicht nur Spinnen traktiert, sondern irgendwann einmal anfängt, auch größere Tiere wie Hunde und Katzen zu quälen. Sie wollen nicht, dass sich Ihr Kind zu einem Tierquäler entwickelt. Was sagen Sie Ihrem Kind? Die meisten Eltern würden vermutlich intuitiv die Goldene Regel anwenden und ihrem Kind sagen, dass man anderen Lebewesen – 171 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
egal wie klein sie sind – keinen Schaden zufügen sollte: »Was wäre«, so könnten Sie sagen, »wenn du die Spinne wärst? Würde es dir gefallen, wenn man dir deine Beine ausreißen würde?« Normalerweise wird Ihr Kind dann die Frage verneinen und sich einsichtig zeigen. Sollte dies allerdings nicht der Fall sein, sollten Sie sich durchaus besorgt zeigen und entsprechend reagieren. Das grundlose Zufügen von Schmerzen und das Quälen von anderen Lebewesen sind sicherlich Dinge, die Sie nicht in Ihrem Kind kultiviert sehen wollen. Die Ausbildung eines tugendhaften Charakters ist die beste Voraussetzung für ein gelingendes Leben und die Goldene Regel hilft dabei, dies zu erreichen. Karl Jaspers (1883–1969), einer der großen deutschen Philosophen des letzten Jahrhunderts, hat in seinem geschichtsphilosophischen Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) den Begriff der sogenannten Achsenzeit geprägt. Damit meint Jaspers, dass es in der Zeit zwischen 800 v. Chr. bis 200 v. Chr. zu einer unerhörten globalen Dynamik mit Blick auf die kulturelle, technische, religiöse und philosophisch-ethische Entwicklung in den voneinander unabhängigen Gesellschaften 58 in China, in Indien, im Orient und im Okzident (hier vor allem in Griechenland) gekommen ist. Mit Jaspers könnte man vielleicht sagen, dass in dieser Zeit die Fundamente der modernen Gesellschaft und ihrer geistigen Verfassung gelegt wurden. Der bekannte deutsche Ägyptologe, Religionswissenschaftler und Kulturforscher Jan Assmann zweifelt Jaspers Theorie der Achsenzeit in seinem Buch Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne (2018) an und betont, dass es dafür keine historischen Belege gäbe. Er räumt jedoch ein, dass er durchaus versteht, warum Jaspers nach dem Krieg das Gemeinsame zwischen den Kulturen und Religionen betont hat. Unabhängig davon, ob Assmanns Kritik an Jaspers Theorie der Achsenzeit nun berechtigt ist oder nicht, kann man jedoch im Rekurs auf die interkulturelle Philosophie sagen, dass bestimmte gesellschaftliche Großentwicklungen unabhängig voneinander stattgefunden haben. So sind zum Beispiel grundlegende moralische Prinzipien wie die Goldene Regel, die Lehre vom Mittleren und das Gleichheitsprinzip unabhängig voneinander in unterschiedlichen Zivilisationen entdeckt bzw. formuliert worden. Hin172 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
zu kommt, dass sich die neuere Forschung nicht nur auf die oben genannten vier Kulturen bezieht, sondern ebenfalls die parallelen Entwicklungsschübe auf dem afrikanischen Kontinent und bei den südamerikanischen Völkern mit in den Blick nimmt. Auch hier hat es eine tiefgreifende, unabhängige und rasante Entwicklung gegeben. 59 Die Bedeutung der Goldenen Regel für das moralische Handeln des Menschen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch was besagt eigentlich die Goldene Regel und worin liegt ihre große Bedeutung? Drei Beispiele sollen den Inhalt etwas genauer beleuchten: Auf die Frage seines Schülers Dschung Gung, was das Wesen der Sittlichkeit sei, hat Konfuzius (551–479 v. Chr.) unter anderem Folgendes geantwortet: »Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an.« (Gespräche, XII, 2). Im bekanntesten indischen Heldenepos, dem Mahabharata, das viele bedeutende religiöse und philosophische Lehren des Hinduismus enthält, kämpfen zwei verwandte Königsfamilien um die Vorherrschaft im Staat. Dort liest man an prominenter Stelle: »Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit.« Und im Neuen Testament in der berühmten Bergpredigt von Jesus lesen wir: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun […]« (Matthäusevangelium 7,12). Gleichwohl sich die drei Formulierungen ein Stück weit voneinander unterscheiden, kann man jedoch den eigentlichen Kern der jeweiligen Aussprüche deutlich erkennen. In allen drei Versionen handelt es sich um die Goldene Regel, die wir in einer etwas vereinfachten Weise wie folgt formulieren können: »Behandle andere, wie du selbst behandelt werden willst.« Daraus folgt, dass die Goldene Regel die Kombination zweier widerstreitender Verhaltensweisen verbietet: Demnach kann man zum Beispiel nicht eine andere Person schlagen oder beleidigen wollen und zugleich nicht wollen, dass man in derselben Situation nicht geschlagen oder beleidigt wird. Mit anderen Worten: Sie wollen nicht, dass andere Personen Sie beleidigen. Gleichzeitig nehmen Sie sich aber beim Fußballspiel Ihrer Lieblingsmannschaft das Recht heraus, den schwarzen Fußballspieler der gegnerischen 173 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
Mannschaft mit Affenlauten zu entwürdigen. Dies ist ein klarer Widerspruch. Immanuel Kant hat die Goldene Regel in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stark kritisiert 60 und betont, dass man sie nicht als eine ethische Richtschnur oder als ein moralisches Handlungsprinzip begreifen darf. Einer seiner Einwände bezieht sich auf das Beispiel eines Masochisten, der vielleicht gern geschlagen werden würde und somit auch kein Problem hat, die Goldene Regel in solchen Fällen entsprechend anzuwenden und zu missbrauchen. Doch was kann man dazu sagen? Überzeugt uns dieser Einwand? Zum einen könnte man darauf erwidern, dass die Goldene Regel nicht direkt auf Handlungen bezogen werden sollte, sondern als eine anthropologische Grundkonstante verstanden werden muss. Dabei könnte sie dann zum Beispiel die grundlegende Funktion übernehmen, dass die Menschen einander als Menschen respektieren und achten sollten. Eine mögliche Formulierung wäre dann: »Respektiere und achte deine Mitmenschen, so wie du auch von ihnen respektiert und geachtet werden willst.« Eine solche Regel könnte dann viel Positives zur sozialen Eintracht in einer Gesellschaft beitragen. Zum anderen könnte man die Goldene Regel weiterhin auf Handlungen beziehen, wenn man einige zusätzliche Vorkehrungen in den Blick nimmt. Diesbezüglich könnte man es zur Auflage machen, dass man sich stärker in die andere Person hineinfühlen sollte. Man muss sich also bei der Anwendung stets fragen, ob bestimmte Handlungen, die zunächst formal von der Goldenen Regel gedeckt werden, möglicherweise anderen moralischen Grundintuitionen – zum Beispiel Menschenwürde, Gleichheitsprinzip und Wahrhaftigkeit etc. – inhaltlich widersprechen könnten. Dies erfordert jedoch moralische Imagination. Doch was bedeutet das? Unter moralischer Imagination kann man zum Beispiel Folgendes verstehen: Bei der Lösung eines moralischen Problems hilft es hin und wieder, »outside the box« zu denken und nach kreativen Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Hinzu kommt, dass man zum einen ein gutes Einfühlungsvermögen besitzen und zum anderen das moralisch Relevante in einer Situation erkennen sollte. 174 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
Warum ist die Goldene Regel für den Alltag so wichtig und wozu brauchen wir sie eigentlich? Die Goldene Regel ist eine Art moralische Faustregel, die uns dabei hilft, zu verstehen, ob zum Beispiel unser moralisches Handeln mit Blick auf andere Personen auch dann noch überzeugt, wenn wir selbst davon betroffen wären. In dem Sinne ist sie ein moralischer Schnelltest. Wenn wir jedoch glauben, dass wir damit nicht in gleicher Weise einverstanden sind, dann ist dies ein erster Beleg dafür, dass etwas mit unserer geplanten Handlung nicht stimmt. Wir sollten dann unsere Handlung überdenken. Eine moralische Faustregel ist jedoch nur so gut wie die Personen, die sie anwenden. Es braucht ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen und Kreativität.
2. Der Perspektivenwechsel Der Perspektivenwechsel in der Moral ist eine wichtige Methode, um die eigene moralische Sensibilität durch das Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen erheblich zu steigern. Bloßes Faktenwissen ist für die moralische Beurteilung eines spezifischen Falles nicht unbedingt ausreichend. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In der Regel weiß man, dass obdachlose Menschen ein Leben in absoluter Armut führen und im Alltag vielen Anfeindungen ausgesetzt sind. Ob ihr Leben nun durch einen schweren Schicksalsschlag oder durch einen anderen Grund aus den Fugen geraten ist, mag der eine oder andere noch im Blick haben, doch grundsätzlich muss man sich mehr anstrengen, um die besondere Lage der Obdachlosen wirklich verstehen zu können. Was bedeutet es eigentlich, keine saubere Kleidung tragen und sich nicht selbst waschen zu können, wenn man will? Kein Dach über den Kopf sowie keine ausreichende Nahrung zur Verfügung zu haben? Was macht das tägliche Betteln mit einer Person? Das lebhafte Hineinfühlen in das Leben der obdachlosen Menschen und sich zu fragen, wie es wäre, ein solches Leben zu führen, ist für das moralische Urteil mit Blick auf Obdachlosigkeit wichtig. Warum sieht man allzu häufig, dass bei vielen Obdachlosen die Schamgrenze zu verschwinden droht (zum Beispiel das 175 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
ungenierte Urinieren in der Öffentlichkeit)? Warum denken die meisten Menschen, dass es doch nicht sein kann, dass Obdachlose so viele Hunde besitzen, wenn sie noch nicht einmal für sich selbst sorgen können? Und warum verurteilen die meisten Menschen den hohen Alkoholkonsum unter Obdachlosen? Mit Blick auf die erste Frage bleibt festzustellen, dass das Leben auf der Straße in absoluter Armut einen erheblichen Stress erzeugt, der die Menschen auf Dauer mental und physisch krank macht. Im Zuge dessen kommt es dazu, dass bestimmte Dinge nicht mehr wichtig genommen werden, weil man unter anderem das starke Gefühl hat, nichts mehr dagegen tun zu können. Es mag sein, dass die meisten obdachlosen Menschen besonders tierlieb sind und ihren Vierbeiner als einen echten Lebensbegleiter ansehen, doch die harte Realität sieht etwas anders aus. Hunde sind für Obdachlose in erster Linie eine Lebensversicherung gegenüber Angriffen von anderen Menschen. Gerade in den letzten Jahren ist es immer mal wieder in Deutschland vorgekommen, dass skrupellose Menschen Obdachlose im Schlaf mit Benzin übergossen und diese dann angezündet haben. Diese Fälle sind nicht nur unglaublich verstörend und tragisch, sondern zeigen auch, dass jene Obdachlose in der Regel keine Hunde gehabt haben. Das Halten von Hunden dient in erster Linie dem eigenen Schutz. Mit Blick auf den Alkoholkonsum ist es wohl naheliegend, dass Obdachlose in der Regel aus eskapistischen Gründen – Flucht vor der belastenden Gegenwart – trinken. Was soll man auch anderes tun? Es wird getrunken, um zu vergessen. Wenn man dies alles beachtet, dann ist man sehr viel besser in der Lage, sich in die schwierige Situation dieser Menschen hineinzuversetzen. Man wird dann nicht mehr so vorschnell urteilen, sondern man betrachtet die Dinge sehr viel differenzierter. Der Perspektivenwechsel macht dies möglich. Die eigene moralische Entwicklung erfordert das Einüben des Perspektivenwechsels. Man könnte sagen, dass dies eine praktische Notwendigkeit ist, ohne die wir nur schwerlich auskommen können. Wenn wir – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage wären, uns in andere Personen oder ihre Situationen hineinzuversetzen, dann hätte dies tiefgreifende negative Folgen für unsere Soziabilität. 176 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
Warum ist das so? Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn die menschliche Gemeinschaft zu einem hohen Teil aus Personen bestünde, die sehr viel weniger Einfühlungsvermögen hätten. Grundsätzlich könnte man dann davon ausgehen, dass sich der gesamte zwischenmenschliche Bereich anders gestalten würde. Die soziale Kommunikation und Interaktion innerhalb der Gemeinschaft sähen vollkommen anders aus und es gäbe substantielle Probleme mit Blick auf das soziale Verständnis untereinander. Dies ist sicherlich unbestritten. Daher ist es ja auch so wichtig, dass man versucht, allen Mitgliedern der Gemeinschaft die Regeln des sozialen Miteinanders beizubringen (auch wenn dies in einigen Fällen sicherlich schwierig sein wird oder unter Umständen überhaupt nicht gelingt). Mit anderen Worten: Der Perspektivenwechsel befähigt uns dazu, die Position des anderen besser zu verstehen und angemessen kennenzulernen, wodurch unsere moralische Sensibilität gesteigert wird und wir schlechthin bessere moralische Urteile fällen können. Wir leben moralisch bessere Leben, wenn wir aufeinander ein- und zugehen. Dies kann man auch daran erkennen, dass wir uns mit Blick auf den Perspektivenwechsel selbst besser kennenlernen; wir entdecken uns selbst, indem wir uns intensiv mit unseren Mitmenschen beschäftigen. Diese Selbstbezüglichkeit, durch die wir uns als Mensch besser verstehen lernen, macht uns zu einer moralisch besseren Person. Der Perspektivenwechsel hilft uns ebenfalls dabei, tiefsitzende Vorurteile Stück für Stück abzubauen. Die Dignität einer Gemeinschaft zeigt sich insbesondere darin, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Können wir heutzutage wirklich damit zufrieden sein, dass unsere obdachlosen Mitbürger in einer kalten Nacht erfrieren, mit Benzin übergossen und angezündet werden, verhungern und im Dreck dahinvegetieren? Ist dies wirklich ein würdevoller Umgang mit den schwächsten Mitgliedern unter uns? Nein, gewiss nicht. Doch was können wir tun? Einige sehr gute Anfänge – wie zum Beispiel Waschbusse für Obdachlose und Tafeln – sind bereits gemacht worden. Diese Maßnahmen sind jedoch weder flächendeckend eingeführt worden, noch werden sie von staatlicher Seite ko177 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
ordiniert begleitet. In der Regel werden die Tafeln von gemeinnützigen Organisationen und kirchlichen Einrichtungen betrieben und erhalten vom Staat keine oder nur wenig finanzielle und logistische Unterstützung. Dies sollte sich ändern. Der Gang zur Tafel darf nicht als unangenehm empfunden werden, als Empfang von Almosen, sondern sollte als ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis angesehen werden – als eine Begegnungsstätte der Hoffnung. Hinzu kommt, dass man substantielle gesellschaftliche Anstrengungen unternehmen sollte, allen Obdachlosen freie Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, wo ihnen ebenfalls geholfen werden kann und sie auf einen würdevollen Wiedereinstieg in den normalen Alltag der Gesellschaft vorbereitet werden können. Wenn dies in einem der reichsten Staaten der Erde nicht möglich ist, dann ist unsere Gesellschaft nicht nur moralisch bankrott, sondern auch zum Scheitern verurteilt.
3. Mitleid empfinden können In der Forschung ist es nach wie vor umstritten, ob Mitleid angeboren ist und somit eine anthropologische Grundkonstante darstellt, die dem Menschen auf Grund seines Menschseins zukommt oder etwas ist, was kulturell erworben wird. An dieser Stelle ist es natürlich unmöglich, den akademischen Streit beizulegen, doch ich möchte auf einige wichtige Punkte eingehen, die sich auf die Funktion von Mitleid beziehen. Wenn wir die Bedeutung der Funktion von Mitleid verstehen, dann wird auch besser verständlich, warum der Begriff moralisch relevant ist. Einige Beispiele werden uns die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs deutlich machen. Die erste literarische Erwähnung von Mitleid als ein menschliches Phänomen, dass das Gegenüber beachten sollte, geht auf Homers Epos Ilias zurück. Patroklos, der beste Freund und Waffenbruder von Achilles, wird im zehnten Jahr des Trojanischen Kriegs von Hektor, dem Sohn des trojanischen Königs Priamos, getötet. Diesbezüglich kam es allerdings zu einer folgenschweren Verwechslung. Hektor nahm an, dass er Achilles getötet hatte, der 178 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
jedoch der Schlacht fernblieb. Daraufhin rächt sich Achilles für den Tod seines geliebten Freundes, tötet den Helden Trojas und schleift seinen Leichnam, so die Legende, mehrmals um die Stadt Troja und um das Grab des geliebten Patroklos. Erst auf Bitten seiner Mutter, die von Zeus gesandt wurde und dem Flehen des Priamos stattgebend, der nachts in sein Lager kommt und ihn um Mitleid bittet, wird Hektors Leichnam an Priamos übergeben. Warum ist dies für unser Verständnis, was Mitleid ist, bedeutsam? Der Zorn von Achilles trifft Hektor bzw. die Schändung seines Leichnams in einer Weise, die auch für das damalige Verständnis der Griechen zu weit ging. Nach der Tradition hätte Achilles den Leichnam zurückgeben müssen, damit Hektor angemessen nach den religiösen Riten seiner Heimat hätte bestattet werden können (vgl. dazu die Geschichte von Antigone). Nach dem damaligen Verständnis haben Achilles’ Handlungen gegen das natürliche Recht verstoßen und waren somit unmoralisch. Hektor geschieht Unrecht. Aber nicht nur er wird unrechtmäßig behandelt, sondern auch seine Familie, die dadurch ebenfalls großes Leid erfährt. Mit anderen Worten: Wenn Handlungen Personen treffen, die sie auf Grund von allgemeinen Sitten und Gepflogenheiten nicht verdienen oder nicht in dem Maße, dann, so könnte man sagen, ist das Empfinden von Mitleid angemessen. In der christlichen Tradition des Abendlands koppelt sich die Bedeutung von Mitleid an den Begriff der Barmherzigkeit. In dem Sinne ist das Mitleid eine Voraussetzung für Barmherzigkeit, die wiederum ein wesentlicher Bestandteil von Nächstenliebe ist. Diejenigen Menschen, die auf Grund eines Unglücks leiden, verdienen unser Mitleid, so die christliche Vorstellung. Der Kirchenvater Thomas von Aquin definiert Mitleid als »miserum cor super miseria alterius«, als eine Art Gefühl, bei dem das eigene Herz am Leid des Anderen mitleidet. Dieses Gefühl hat man in der Geschichte zum Beispiel Menschen mit Behinderungen entgegengebracht und ihnen in der Folge Almosen als Form der Nächstenliebe zuerkannt. Im 20. Jahrhundert hat man dann im Rekurs auf das Mitleid dafür argumentiert, dass Menschen mit Behinderungen die Mög179 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
lichkeit haben sollten, eine Schule zu besuchen (die sogenannte Sonderschule), was vorher in der Regel nicht der Fall war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich dann die Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Integration erstritten, so dass viele von ihnen dieselbe Schule wie Menschen ohne Behinderung besuchen konnten (diesbezüglich mussten sich die einzelnen Schüler jedoch an das Schulsystem anpassen). Erst seit 2008 gibt es die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention, die die unterzeichnenden Staaten dazu verpflichtet, unter anderem dafür Sorge zu tragen, inklusiven Unterricht für alle Schulen und Universitäten einzuführen (das Schulsystem ist nun dazu verpflichtet, sich an die besonderen Bedürfnisse der Schüler anzupassen). Die Entwicklung des Besuchs der Schule aus Mitleid hin zu einem verbrieften Menschenrecht auf Inklusion ist insgesamt ein sehr positiver Fortschritt, der die Gesellschaft jedoch vor erhebliche finanzielle, bauliche, ausbildungstechnische und soziale Herausforderungen stellt, wenn es darum geht, alles umzusetzen, was die Konvention verlangt. 61 In Deutschland sind wir derzeit noch weit davon entfernt, die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, doch wir sollten alles daran setzen, diese wichtige Menschenrechtskonvention bestmöglich umzusetzen. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Frage, ob Menschen auch gegenüber Tieren oder nur bestimmten Tieren Mitleid empfinden können. Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) war ein römischer Gelehrter und Beamter, der vor allem durch seine umfassende Enzyklopädie Naturalis Historia (Naturgeschichte) bekannt wurde und folgendes über Elefanten schrieb: Der Elefant ist das größte aller Tiere und mit seiner Intelligenz kommt er dem Menschen am nächsten. Er versteht die Sprache seines Landes, er gehorcht Befehlen und er erinnert sich an alle Pflichten, die er gelernt hat. Er ist empfänglich gegenüber den Freuden der Liebe und des Ruhms; und er besitzt – zu einem Grad, der auch unter Menschen rar ist – die Begriffe von Ehrlichkeit, Klugheit und Gleichheit. Er hat religiösen Respekt, auch für die Sterne und eine Wertschätzung für die Sonne und den Mond. 62
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Stellen Sie sich nun folgende Szene vor, die sich im Zirkus Maximus im Jahre 55 v. Chr. auf Geheiß von Pompeius (106–48 v. Chr.), dem römischen Politiker und brillanten Feldherren Roms (er war Caesars Gegenspieler), ereignet hat. Pompeius veranstaltete zur Ehre der römischen Stadtbevölkerung ein mehrtägiges Festspiel, das neben den üblichen Gladiatorenkämpfen auch Kämpfe zwischen Gladiatoren und Tieren, sogenannte venationes, beinhaltete. Am letzten Tag, nachdem bereits viele Tausend Tiere starben, ließ er auch ca. 20 Elefanten grausam töten. Dieses Spektakel hat die Gemüter der römischen Bürger derart aufgebracht, dass sie Pompeius verfluchten und sich für die Elefanten einsetzten. Plinius machte folgende Anmerkungen zu dieser Szene: […] als sie alle Hoffnungen auf Flucht verloren hatten, versuchten sie das Mitleid der Menge zu erlangen, indem sie unbeschreibliche Gesten des Flehens machten, und ihr Schicksal durch Jammergeschrei beklagten, so sehr zum Kummer der Öffentlichkeit, dass sie den General und seine Großzügigkeit mit Blick auf das Festspiel zu ihren Ehren vergaßen, und das Publikum in Tränen ausbrach und Pompeius verfluchten. 63
Dieses Ereignis wurde unter anderem von Cicero, der das Gemetzel mit eigenen Augen gesehen hatte, Seneca (1. Jahrhundert n. Chr.) und Cassius Dio (2. und 3. Jahrhundert n. Chr.) beschrieben, die alle zu unterschiedlichen Zeiten hohe römische Staatsbeamte waren und bedeutende Philosophen (Cicero, Seneca) oder Geschichtsschreiber (Cassius Dio) gewesen sind. Sie alle verurteilten die Tötung der Elefanten als unmoralisch und grausam. 64 Doch warum haben die Römer und die genannten Personen mit Blick auf dieses Ereignis so empfunden? Gibt es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen der grausamen Abschlachtung der Elefanten und den vielen Tausend anderen getöteten Tieren wie Löwen, Tiger, Bären, Leoparden, Krokodile, Hunde, Hasen etc.? Plinius hat wichtige Aspekte genannt, die zusammengenommen die ablehnende Reaktion der Bevölkerung erklären können. So könnte man sagen, dass die Elefanten es nicht verdient haben, 181 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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so zu sterben, da sie majestätische und überaus intelligente Lebewesen sind, die ein ausgeprägtes Sozialverhalten zeigen und ihre ausweglose Lage sowie ihren bevorstehenden Tod klar erkennen konnten. Darüber hinaus baten sie, so die Beschreibung, die Zuschauer um Hilfe, was gewiss eine überaus eindringliche Szene gewesen sein muss. Die Elefanten haben also ein geradezu menschenähnliches Verhalten gezeigt. Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass bestimmte empirische Eigenschaften wie Größe, Intelligenz, Menschenähnlichkeit (nicht notwendigerweise im Aussehen) und Selbsterkenntnis etc. in Tieren bestimmte Gefühle in uns Menschen hervorrufen können, wenn es darum geht, Mitleid empfinden zu können. Offenkundig gibt es für viele Menschen einen moralisch relevanten Unterschied zwischen dem Zerdrücken einer Kellerspinne und der Tötung eines Elefanten. Meine frühere vegane Partnerin aus Litauen hätte dies jedoch anders gesehen und sich dafür eingesetzt, dass man alles Leben achten müsse. Selbst das Töten der kleinsten Fruchtfliege hätte sie verärgert und ihren Widerstand hervorgerufen. Ohne Zweifel hätte sie die Position von Albert Schweitzer, dem Friedensnobelpreisträger und Autor des berühmten Buches Ehrfurcht vor dem Leben (1963), geteilt, wenn sie sie gekannt hätte. Sein durchaus überzeugendes Diktum lautet: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will«. Beide hätten klare Worte mit Blick auf das Verhalten des ehemaligen Königs von Spanien, Juan Carlos, gefunden. Zur Erinnerung: Juan Carlos hatte einen weltweiten Skandal hervorgerufen, als er im Jahre 2012 einen Elefanten mit mehreren Schüssen aus einem großkalibrigen Gewehr in Botswana getötet hatte. Wenn man das Sozialverhalten, die Intelligenz und die enormen Fähigkeiten dieser Tiere kennt, dann erscheint es vollkommen unverständlich, wie man aus sportlichen Gründen jene majestätischen Tiere überhaupt töten kann. Diesbezüglich teile ich den Ausspruch Arthur Schopenhauers dazu, der Folgendes in seiner ethischen Hauptschrift Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841) geschrieben hat: »Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaup-
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ten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein« (§ 19). Die Frage, ob Mitleid moralisch relevant ist, ist bereits von vielen Philosophen ausgiebig diskutiert worden. An dieser Stelle möchte ich in aller gebührenden Kürze auf die Überlegungen zum Mitleidsbegriff der beiden großen deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts eingehen: Die Rede ist von Arthur Schopenhauer (1788–1860), dem Meister des philosophischen Pessimismus und Friedrich Nietzsche (1844–1900), dem Bejaher des Lebens. Die Schriften des letzteren wurden bekanntlich zu Unrecht von den Nationalsozialisten für ihre eigenen ideologischen Zwecke missbraucht. Der Grundbegriff in Schopenhauers Ethik ist der Begriff des Mitleids, der das Fundament seiner sogenannten Mitleidsethik ist, die er als eine Gegenposition zu Kants Pflichtethik entwirft. Alle Handlungen, so Schopenhauer, lassen sich auf eine von drei grundlegenden Triebfedern zurückführen: 1. Der Egoismus, der das eigene Wohl will; 2. die Bosheit, die das fremde Leid will; und 3. das Mitleid, welches das fremde Wohl will. Mit Blick auf Schopenhauers Mitleidsbegriff bleibt zu konstatieren, dass er sich an philosophische Vorstellungen des Hinduismus wie zum Beispiel an das Tat Twam Asi anlehnt und im Mitleid eine Art metaphysischer Einswerdung von Objekt und Subjekt mit Blick auf die absolute Realität annimmt. Die Grenzen sind beinahe aufgehoben, gleichwohl Schopenhauer deutlich macht, dass derjenige, der Mitleid empfindet, nicht annimmt, wie es wäre, an der Stelle desjenigen zu sein, der leidet und versucht, seine Schmerzen zu imaginieren. Schopenhauer ist vielmehr der Meinung, dass es uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig [bleibt], daß er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer fühlen wir das Leiden […] Wir leiden mit ihm, also in ihm, wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß er der unsrige sei: ja, je glücklicher unser eigener Zustand ist und je mehr also das Bewußtseyn desselben mit der Lage des Andern kontrastiert, desto empfänglicher sind wir für das Mitleid.« 65
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Im Gegensatz dazu lehnt Nietzsche den Begriff des Mitleids ab und entlarvt diejenigen, die in Anderen Mitleid erwecken wollen, als machthungrige Egoisten. Die Funktion des Mitleids, so könnte man Nietzsche interpretieren, ist die, über andere Menschen Einfluss ausüben zu wollen und jene für sich zu vereinnahmen. 66 Mit anderen Worten: Mitleid ist eine Illusion und lediglich ein Mittel der Schwachen, um Macht auszuüben. Es mag natürlich Fälle geben, die mit Nietzsches Position zusammenpassen, doch die Reduzierung aller Fälle auf eine kleine Klasse von spezifischen Fällen erscheint wenig überzeugend zu sein. Nietzsche nennt folgende durchaus plausible Beispiele: Kinder, denen etwas passiert ist und die Mitleid erwecken wollen, warten häufig den Moment ab, wenn Eltern sie sehen können (ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir hin und wieder davon berichtet hat, wie ich Ähnliches tat) oder kranke Verwandte, die einen um den Finger wickeln wollen. Hier hat Nietzsche auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht, doch alle Sachverhalte darauf zurückzuführen, ist wenig sinnvoll. Denken Sie an die vielen vergewaltigten Kinder und Frauen in Kriegszeiten, die Flüchtlinge an den europäischen Grenzen, die buchstäblich vor dem Nichts stehen oder an die vielen leidenden Tiere, die in der Massentierhaltung zusammengepfercht gehalten werden und auf ihren Tod warten. Alles nur ein »Durst nach Selbstgenuss«, eine egoistische Finte, um Macht über andere auszuüben? Der Begriff des Mitleids ist für das moralische Verständnis und das soziale Miteinander wesentlich. Selbst die antiken Stoiker, die der Meinung waren, dass man sich keinen Affekten und Gefühlen hingeben sollte, sind gegenüber dem Leid anderer Personen und Tiere nicht verschlossen gewesen, sondern haben darin einen echten Handlungsgrund für moralisches Handeln gesehen. In diesem Sinne erscheint Schopenhauers Maxime »Verletze niemanden, vielmehr hilf allen soviel du kannst.« nicht nur moralisch angemessen zu sein, sondern auch Ausdruck einer Haltung zu sein, die man für das alltägliche Leben gut in Anschlag bringen kann.
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4. Eintracht Das lateinische Wort Concordia bedeutet so viel wie Eintracht und geht auf die römische Mythologie zurück. Demnach ist Concordia eine römische Göttin, die die Personifizierung der römischen Tugend Eintracht ist. Doch was ist damit gemeint? In der sehr wechselvollen Geschichte Roms hat es viele soziale und politische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ständen, den Patriziern (dem Adel) und den Plebejern (dem Volk), gegeben. Im Jahre 367 v. Chr. endeten die blutigen Ständekämpfe zwischen den Patriziern und den Plebejern und die Plebejer erhielten das Recht, nahezu alle politischen Ämter bis auf einige Priesterämter ebenfalls ausführen zu dürfen. Um dieses Ereignis zu würdigen, wurde ein Tempel im Westen des Forum Romanum zu Ehren der Göttin Concordia errichtet. Heutzutage ist nur noch das Podium erhalten geblieben. Herrscht in einer Gemeinschaft Discordia (Zwietracht), dann kann dies eine sehr gefährliche Situation sein, die die Grundfesten einer Gesellschaft bedroht und diese schließlich zum Einsturz bringen kann. Der Zusammenhalt einer Gemeinschaft ist umso stärker, je stärker die soziale Eintracht ist. Im zweiten Kapitel wurde bereits auf die schwierige soziale und politische Situation hingewiesen. An dieser Stelle sollen nochmals drei relevante Punkte erwähnt werden: Das Thema der Migration, die Schere zwischen arm und reich sowie der Überlebenskampf unserer liberalen Demokratie mit Blick auf die politischen Angriffe von Rechts. Wir leben in gefährlichen Zeiten und wir tun gut daran, die Tugend der Concordia wieder aufleben zu lassen. Diejenigen, die emigrieren wollen, haben in der Regel gute Gründe, ihre eigene Heimat zu verlassen. Wenn Krieg herrscht und kein Stein mehr auf dem anderen steht, wie es derzeit in weiten Teilen Syriens der Fall ist, dann sollte man eigentlich in der Lage sein, sich in die schwierige Situation der Personen hineinzuversetzen, die in andere Länder auswandern wollen. Gleiches gilt, wenn man in seinem eigenen Land politisch verfolgt wird, Folter und sogar der eigene Tod droht. Dies sind politische Gründe. Darüber hinaus gibt es auch soziale Gründe. Die große 185 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Zeit der europäischen Auswanderung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA war zu einem großen Teil durch die Motivation geprägt, dort ein besseres Leben führen zu können. Letztlich gibt es auch Gründe, die von ganz individueller Natur sind. Ich bin zum Beispiel im Jahre 2016 nach Litauen ausgewandert, weil ich dort mein Paradies auf Erden gefunden habe – die Kurische Nehrung, die ich im Jahre 2010 das erste Mal besucht habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Heutzutage ist das Thema Migration in Deutschland vor allem dadurch geprägt, dass eine kleine, aber laute Minderheit zunehmend die Mehrheit beeinflusst und recht erfolgreich erhebliche Ängste schürt. Diesbezüglich wird nicht nur Fremdenhass kultiviert, sondern auch Rassismus und Antisemitismus ausgelebt. Inwiefern und zu welchem Grad bereits die Mitte der Gesellschaft davon betroffen ist, ist derzeit noch schwer zu sagen. Mittlerweile gibt es jedoch einen tiefen Graben in der Gesellschaft. Verschwörungstheorien werden in die Welt gesetzt und rechte Trolle kommen aus ihren Höhlen heraus, um weiter Öl ins Feuer zu gießen. Das Internet macht es möglich. Eine gefährliche Situation. Wenn wir nicht in der Lage sind, die soziale Eintracht wieder zu erlangen, dann sind wir, dann ist unser Land verloren. Die Schere zwischen arm und reich ist ein sozial-politischer Dauerbrenner, der die Gemüter der Menschen mit Recht regelmäßig erhitzt. Ein altbekanntes und etwas abgegriffenes Beispiel mag dies verdeutlichen: In den letzten Jahrzehnten sind die Managergehälter der großen und mittelständischen Unternehmen um ein Vielfaches gestiegen. Teils verdienen die sogenannten Topmanager großer Firmen mehr als das Hundertfache eines normalen Arbeiters. Eine solche Entwicklung hat das Potential, die soziale Eintracht in einer Gesellschaft zu untergraben, insbesondere wenn sich die Manager als wenig kompetent herausstellen. Es liegt mir fern, eine neuerliche Neiddebatte anzustiften, sondern deutlich zu machen, dass es eine rote Linie gibt, die – falls sie überschritten wird – ein Aufbegehren der breiten Masse bewirken kann. Der Pauperismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die revolutionären Ideen des Marxismus haben damals dazu beigetragen, dass es zu erheblichen gesellschaftspolitischen Um186 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
wälzungen kam. Menschen zeichnen sich nicht gerade dadurch aus, dass sie aus der Geschichte lernen würden, so dass es wieder Situationen geben kann, die unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen könnten. Ein gutes Korrektiv könnte darin liegen, dass die Topmanager zum Beispiel auf einen Teil ihres Gehalts verzichten und es bestimmten karitativen Einrichtungen zur Verfügung stellen. Große Macht verpflichtet zur Übernahme von besonderer Verantwortlichkeit gegenüber anderen in einer Gemeinschaft. In den letzten Jahren haben wir miterlebt, wie unsere liberale Demokratie unterschiedlichen Angriffen, insbesondere von Rechts, ausgesetzt war. Das Aufkommen und Erstarken von rechten Parteien; das Auftauchen von offen islamfeindlichen und rassistischen Organisationen wie Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes); rechtsterroristische Morde (NSU, Walter Lübcke, Hanau etc.); eine erhebliche Zunahme des Antisemitismus; der Verkauf von rechter Musik auf Schulhöfen; Rechtsradikale in der Polizei und Bundeswehr etc. sollten uns zunehmend über die Zukunft unseres Landes besorgt machen. Der deutsche Staat hat sich allzu lange sehr zurückhaltend gegenüber rechter Gewalt und Einflussnahme gezeigt und erst seit kurzem substantiellere Maßnahmen ergriffen. Wenn man zynisch wäre, könnte man sagen, dass das klare und koordinierte Durchgreifen des Staates gegenüber Rechts erst dann erfolgt ist, als es einen der ihren, nämlich den Politiker Walter Lübcke, getroffen hat. Ich bin durchaus skeptisch, ob die liberale Demokratie noch in der Lage ist, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen. Klar ist, dass die soziale Eintracht durch Angriffe von Rechts (und Links) gefährdet ist und es keineswegs auszuschließen ist, dass die braune Brut wieder die Oberhand gewinnt und ein neues Zeitalter einläutet. Diejenigen von uns, die die Menschenwürde achten, sollten darüber sehr besorgt sein. Soziale Eintracht ist ein moralisch relevanter Aspekt und hilft darüber hinaus, die Wunden der Vergangenheit zu schließen. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander fremd werden, ist eine Gesellschaft, die früher oder später zum Scheitern verurteilt ist. Wir alle können mithelfen, dass es nicht dazu kommt, indem wir 187 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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täglich daran arbeiten, offen und aufgeschlossen auf unsere Mitmenschen zuzugehen.
5. Interessenkonflikte Ich gehöre zwar noch nicht zu denjenigen Ehemännern, wo die Ehefrau die Kleidung morgens fein säuberlich herauslegt, doch dies ist etwas, was viele von Ihnen entweder selbst kennen oder zumindest davon gehört haben. Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, insbesondere dann nicht, wenn die eigene Frau einen etwas besseren Geschmack mit Blick auf Kleidung hat. Was passt zusammen, was kann man zu welchem Anlass tragen etc.? Auch wenn ich hin und wieder einen leichten Druck spüre, überlässt mir meine Frau immer noch die Wahl, was ich anziehen darf. Konflikte gibt es selten. Darüber hinaus gibt es natürlich gerade in der Diskussion mit Kollegen, Freunden, der Familie und in der Öffentlichkeit Situationen, die aus dem Ruder laufen können. Wir alle haben dies schon erlebt und dann gewünscht, dass wir manche Dinge nicht gesagt oder getan hätten. Die meisten von uns sind keine Stoiker, unsere Emotionen überwältigen uns hin und wieder und wir fühlen uns wie fremdgesteuert. Interessenkonflikte können nicht vermieden werden, sie wird es immer geben. Es gibt jedoch eine gute Möglichkeit, wie wir unsere unterschiedlichen Interessen in einem sicheren Rahmen diskutieren können, ohne dass wir einander verletzen. Es darf einfach nicht sein, dass Menschen bei der Parkplatzsuche aufeinander losgehen und sich wegen einer eigentlich unbedeutenden Sache bekämpfen oder sogar in einigen Fällen totschlagen. Doch was soll man tun? Interessenkonflikte, ob nun in der Moral oder außerhalb der Moral, sollte man im Rekurs auf einen geregelten Ablauf diskutieren. Eine regelbasierte Diskussion ist der beste Weg, wie man Konflikte mit unterschiedlichen involvierten Interessen beilegen kann. Allerdings gibt es auch hier keine Garantie, dass man alle Konflikte zufriedenstellend auflösen kann. Es gibt Konflikte, die so fundamental sind, dass man sich irgendwann selbst eingestehen muss, dass es 188 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Was soll ich tun? Fünf Ansprüche der Moral
in dem Moment einfach keine gute Lösung gibt. Dies ist auch ein Ergebnis. Auch wenn sich das Thema in diesem Abschnitt auf Interessenkonflikte in der Moral bezieht, kann man die Überlegungen problemlos auf alltägliche Konfliktsituationen anwenden. Warum ist das so? Der regelbasierte Ablauf ist so grundlegend, dass er allen spezifischen Interessenkonflikten vorausgeht. Es spielt einfach keine Rolle, ob es sich bei den Konflikten um moralische oder nicht-moralische handelt. Es ist dieselbe Methode. Selbst wenn Sie die oben beschriebenen ethischen Theorien wie Kants Pflichtethik oder den Utilitarismus benutzen, um Konflikte zu lösen, müssen Sie bestimmte Dinge beachten, die gegeben sein müssen. Dies sind die sogenannten Regeln der Argumentation. Der bekannte zeitgenössische deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat die sogenannte Diskursethik entwickelt, die einige Elemente enthält, die so grundlegend sind, dass sie für jede Form von Kommunikation gilt. Auch wenn ich die spezifische Ausgestaltung der Diskursethik für nicht überzeugend halte, glaube ich, dass einige Aspekte der Theorie vernünftig sind. Diejenigen, die sich im Bereich der interkulturellen Philosophie auskennen, wissen natürlich, dass Teile der Diskursethik bereits in der sozialen Praxis des Palavers über Jahrhunderte hinweg in vielen afrikanischen Gemeinschaften angewendet werden, um Konflikte innerhalb der Familie und Gemeinschaft etc. zu lösen. Jede Kommunikation, so Habermas, beinhaltet bereits eine Festlegung auf die normativen Bedingungen rationaler Argumentation. Es gibt zumindest vier wesentliche Grundbedingungen. Erstens: Jede Person, die am Diskurs teilnimmt, ist mit den anderen Diskursteilnehmern vollkommen gleichberechtigt. Es ist somit unerheblich, wer mit wem in Konflikt ist. Dies war nicht immer so. Zum Beispiel: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit galt das Wort einer höher gestellten Person mehr als das Wort einer Person aus einem niederen Stand. Somit gab es keine Gleichberechtigung im Diskurs und Interessenkonflikte wurden oftmals zu Lasten der Schwächsten in der Gesellschaft entschieden. Aus heutiger Sicht ist dies natürlich ein unhaltbarer Zustand 189 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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und man sollte daher nie vergessen, dass es wichtig ist, alle Stimmen zu hören. Zweitens: Nach Habermas darf man keinen äußeren oder inneren Zwang auf den Verständigungsprozess ausüben, was er in einer bekannten Formulierung wie folgt fasst: Zugelassen ist lediglich »der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes«. Mit anderen Worten: Die Stellung einer Person (oder ähnliches) darf den Ausgang des Diskurses nicht beeinflussen. Es zählt allein das bessere Argument und nicht das Ansehen einer bestimmten Gruppe oder Person. Mit Blick auf die Beilegung eines Interessenkonfliktes sollte daher ausschließlich auf die Richtigkeit der Gründe und Einwände geschaut werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verurteilung des italienischen Universalgelehrten und Philosophen Galileo Galilei (1564–1642), Vater und Wegbereiter der modernen exakten Naturwissenschaften, durch die Katholische Kirche. Ein wesentlicher Streitpunkt beim Prozess der Inquisition war Galileos Annahme, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist und sich somit die Sonne nicht um die Erde, sondern umgekehrt die Erde um die Sonne drehen würde. Er vertrat also das ketzerische Kopernikanische Weltbild und lehnte das Ptolemäische bzw. heliozentrische Weltbild, das von der Kirche bevorzugt wurde, ab. Erst im Jahre 1992 wurde Galileo von der Katholischen Kirche rehabilitiert. Drittens: Die Diskursteilnehmer müssen sich vom Motiv der kooperativen und argumentativen Konsensfindung leiten lassen. Was bedeutet das? Die Teilnehmer müssen sich darauf verständigen, dass sie gewillt sind, dem besseren Argument Raum zu geben und es zu akzeptieren. Darüber hinaus kann man auch den Punkt der Wahrhaftigkeit in den Blick nehmen: So könnte man dafür argumentieren, dass die eigenen Handlungen, Entschlüsse und Wünsche im Einklang mit den eigenen moralischen Überzeugungen sein müssen, da man ansonsten inkonsistent handelt. Ein Beispiel: Peter ist der Meinung, dass es gut ist, anderen in Not zu helfen und versucht, seine Mitmenschen ebenfalls davon zu überzeugen. Ein Bettler, der offensichtlich Hilfe braucht, kommt auf ihn zu, doch Peter weist ihn zurück und geht seiner Wege. Offenkundig handelt Peter inkonsistent. 190 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Viertens: Nach Habermas müssen sich die Diskursteilnehmer verständlich ausdrücken und ihre Beiträge müssen logisch richtig sein. Warum sind diese beiden Aspekte wichtig? Zum einen ist es eine grundlegende Voraussetzung, dass wir einander genau verstehen und wissen, worin eigentlich der Interessenkonflikt besteht. Dies erfordert jedoch, dass man sich sprachlich verständlich ausdrückt. Zum anderen ist es unbedingt erforderlich, dass man nicht an logisch inkompatible Dinge glaubt. Man kann zum Beispiel nicht der Meinung sein, dass alle Türken schlecht sind und am besten das Land verlassen sollten und gleichzeitig seinen alten Schulfreund Öger davon ausnehmen. Das wäre ein Widerspruch. Ebenso ist es widersprüchlich, wenn man an etwas glaubt und dann die logische Konsequenz daraus ablehnt. Zum Beispiel: Stellen Sie sich jemanden vor, der glaubt, dass es keinen Gott gibt und der alles Religiöse als falsch ansieht, aber dennoch der Meinung ist, dass man durchaus an seinen lokalen Heiligen glauben darf. Man ist ja aus einem Dorf und es schadet ja nicht. Dies ist einfach nicht möglich. Die vier Grundbedingungen helfen dabei, dass die Lage nicht eskaliert und man sich auch nach einem Interessenkonflikt in die Augen schauen kann. Die Regeln der Argumentation sind wichtig, um einen geregelten Ablauf zu garantieren, sollten jedoch noch durch zwei weitere Punkte ergänzt werden: Wohlinformiertheit und Unparteilichkeit. Mit Blick auf den ersten Punkt kann man zwei unterschiedliche Aspekte betonen: Zum einen ist es wichtig, so viele Informationen wie möglich bezüglich eines Falles – Umstände, Alternativen, Folgen etc. – zu kennen, um eine angemessene Entscheidung zu fällen. Auch wenn man »niemals« alle Fakten kennen kann und oftmals schnelles Handeln erforderlich ist, kann man mehr oder weniger gut informiert sein. So ist es zum Beispiel wichtig, dass man bei einer klinischen Entscheidung möglichst gut informiert ist, um eine wohlinformierte Entscheidung mit Blick auf den Behandlungsplan zu treffen. Zum anderen müssen wir uns selbst besser verstehen und wie wir zu unseren Gefühlen und moralischen Überzeugungen gekommen sind. Nur wenn wir uns selbst kennen, können wir – bis zu einem gewissen Grad – von unserer eigenen Lebensweise abstrahieren und in 191 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Folge auch andere Personen besser verstehen. Einige Menschen wachsen zum Beispiel in absoluter Feindseligkeit gegenüber anderen ethnischen Gruppen auf. Sie wurden von klein auf so erzogen, haben nie die Vorstellungen und Anweisungen ihrer Eltern hinterfragt und haben diese dann unkritisch übernommen. Diesen Kreislauf wirklich nachhaltig zu durchbrechen ist eine schwierige Sache. Die Einstellung dieser Menschen mag sich unter günstigen Umständen vielleicht verändern, wenn sie sich klar darüber werden, was die eigentliche Quelle ihrer Feindseligkeit ist. Und wenn sich insgesamt herausstellt, dass die Informationen, die ihrer Sichtweise als Grundlage gedient haben, falsch sind. Dadurch wird der Erfahrungshorizont jener Menschen erweitert und ihre Überzeugungen könnten sich möglicherweise schrittweise zum Positiven hin verändern. Es gibt jedoch keine Garantie. Mit Blick auf die Unparteilichkeit bleibt zunächst festzustellen, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was sie eigentlich ist. Zum Beispiel: Einige Autoren bevorzugen das RichterModell, andere sehen in Rawls Schleier des Nichtwissens eine ideale unparteiische Ausgangsposition und wiederum andere sind der Ansicht, dass der wechselseitige Perspektiventausch aller Beteiligten Unparteilichkeit gewährleistet. Wie und für welche Position soll man sich nun entscheiden? Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, warum bei Interessenkonflikten Parteilichkeit moralisch problematisch sein kann. Stellen Sie sich vor, dass Sie einen Job zu vergeben haben. Es gibt zwei Kandidatinnen, wobei die eine Kandidatin die Freundin Ihrer geliebten Tochter ist. Die andere Kandidatin ist eine hochqualifizierte Frau, die Sie zwar nicht kennen, aber die sehr gut auf die Stellenbeschreibung passen würde. Wie entscheiden Sie sich? Beziehungsspezifische Loyalitäten sind nicht an sich schlecht, können aber durchaus moralisch problematisch werden, wenn sie in einem bestimmten Kontext als Gegenspieler von Unparteilichkeit auftreten. Niemand wird Sie für ein moralisches Monster halten, wenn Sie Ihr eigenes Kind anstatt des Kindes einer anderen Person aus den Flammen eines Hauses retten wollen, falls Sie keine Zeit dafür haben, beide Kinder zu retten. Dies mag aber anders sein, wenn Sie den Job der Freundin Ihrer Tochter geben. 192 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Auf den Punkt gebracht
Offenkundig gibt es zwischen beiden Beispielen einen moralisch relevanten Unterschied. Doch woran kann man erkennen, wann Parteilichkeit für den Interessenkonflikt moralisch bedeutsam ist und wann nicht? Meiner Ansicht nach lässt sich diese Frage nicht ohne weiteres beantworten, da die Antwort vom jeweiligen Fall abhängt und somit ein hohes Maß an Kontextsensitivität erfordert. Es gibt natürlich Autoren wie Kant und Mill, die grundsätzlich der Meinung sind, dass man in moralischen Dingen ausschließlich unparteilich sein sollte. Die Anhänger der feministischen Ethik und der Ethik der Fürsorge etc. glauben jedoch mit Recht, dass man etwas differenzierter vorgehen muss. Ein einfaches Patentrezept gibt es dafür nicht und wir sind stets dazu aufgefordert, die genauen Umstände eines Falles in den Blick zu nehmen.
3. Auf den Punkt gebracht Ein glückseliges Leben, so haben wir gesagt, besteht darin, dass man sowohl seine eigenen Projekte verfolgt, die man als wertvoll erachtet als auch bestimmten objektiven moralischen Standards gerecht werden sollte. Dies sind die beiden notwendigen – jedoch nicht hinreichenden – Grundvoraussetzungen, um ein gutes Leben zu führen. Menschen sind keine Inseln, sondern leben mit anderen Menschen zusammen. Ein erfolgreiches Zusammenleben macht es jedoch erforderlich, dass man sich an bestimmte Regeln der Moral hält. Innerhalb dieser Regeln steht es jedoch jedem frei, sich gemäß seiner eigenen Lebensprojekte und Lebensziele zu verhalten. Dies klingt zunächst einfach, doch ein gutes und tugendhaftes Leben zu führen, ist vermutlich die schwierigste Aufgabe im Leben eines Menschen. Nochmals: Es geht nicht darum, allen Menschen vorzuschreiben, wie sie leben sollen und sich zu verhalten haben, sondern darum, aufzuzeigen, dass bestimmte Lebensprojekte und Lebensziele unter Umständen weniger wertvoll sind als angenommen wird. Ob dies nun daran liegt, dass die eigenen Vorstellungen entweder gegen moralische Standards verstoßen oder die eigenen Projekte und Ziele – auch vor dem Hin193 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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tergrund einer offenen und pluralistischen Sichtweise – an sich irrational sind und daher mit Blick auf vernünftige Standards nicht überzeugen können. Darüber hinaus haben wir gerade gesehen, dass ein gelungenes Leben neben der Einhaltung moralischer Regeln auch bestimmte minimale moralische Standards erfüllen muss, damit man ein solches Leben auch als tugendhaft beschreiben kann. Wer sich zum Beispiel nicht darum bemüht, soziale Eintracht zu bewahren, sondern im Gegenteil diese zu untergraben sucht, ist wenig tugendhaft. Wer nicht in der Lage ist, Mitleid empfinden zu können, wenn es angebracht ist, ist hartherzig und wird ebenfalls kaum als tugendhaft gelten. Letztlich, wer die moralische Bedeutung des Perspektivenwechsels leugnet und stets auf seine eigenen Vorteile im sozialen Umgang mit anderen bedacht ist, weiß nicht, was es wirklich bedeutet, ein verantwortungsbewusster Mensch zu sein. Eine solche Haltung ist ebenfalls wenig tugendhaft. Es bleibt jedoch festzustellen, dass selbst wenn wir uns alle auf eine bestimmte Weise moralisch verhalten und unsere eigenen guten Leben leben, es immer noch sein kann, dass wir miteinander in Konflikt geraten. Dies liegt unter anderem an der moralischen Komplexität des menschlichen Lebens. Doch auch wenn wir Interessenkonflikte nicht ausschließen können, ist es möglich, unsere Konflikte entsprechend friedlich und im Rahmen eines geregelten Ablaufs zu diskutieren und zu lösen. Niemand sagt, dass dies immer einfach ist bzw. sein wird. Es braucht den ernsthaften Willen und die stete Bereitschaft, auf den anderen zuzugehen und ihn unter anderem als gleichwertigen Gesprächspartner zu akzeptieren. Und selbst dann kann es sein, dass wir nicht immer erfolgreich sein werden, wie das folgende Beispiel zeigt: Zwei junge Männer diskutieren aufgeregt und zunehmend lautstark die Rolle Russlands in Estland und die sozial-politischen Probleme mit Blick auf die Besatzungszeit. Dies war ungefähr im Jahr 2002 oder 2003 an einem späten Nachmittag in einer Restobar in Göttingen. Die jungen Männer – der eine ein Doktorand der Philosophie und der andere der Theologie – konnten vor lauter Erregung kaum an sich halten und schrien sich über den Tisch hinweg an, um ihren Argumenten – so schien es – noch mehr Stärke zu verleihen. Die 194 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Auf den Punkt gebracht
Leute um sie herum guckten sie bereits mit ungläubigen Blicken an. Als die beiden Doktoranden der Situation Gewahr wurden, hielten sie einen Moment inne und senkten den Ton, diskutierten jedoch unnachgiebig und heftig weiter. Für Außenstehende war der große Eifer der Diskutanten und ihre Hingabe an die Richtigkeit der jeweils eigenen Position nicht zu übersehen. Der Theologe war ein Sohn des früheren Erzbischofs von Estland und sein befreundeter Diskussionspartner war ich. Wir lernten uns zuvor während eines Oberseminars zum international bedeutenden Buch What Do We Owe to Each Other? des Harvard Philosophen Tim Scanlon am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen kennen. In der Folge verbrachten wir viele Stunden damit, ausgiebig zu philosophieren und das Göttinger Leben zu erforschen. Das Seminar wurde damals von meinem Zweitdoktorvater Günther Patzig (1926–2018) geleitet, der einer der großen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts war und auch weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gewesen ist. Er war einer der ersten, die die sogenannte analytische Philosophie in Deutschland etabliert haben und ist auch im Bereich der Medizin- und Bioethik Vorreiter gewesen. Er war darüber hinaus ein anerkannter Aristoteles- und Kantexperte sowie ein bedeutender Kenner der griechischen Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie. Ohne Zweifel war er ein Grandseigneur der deutschen Philosophie. Am wichtigsten war für mich jedoch die Tatsache, dass er während meiner Zeit als Doktorand mein Mentor war und mir stets – auch noch danach – mit Rat und Tat zur Seite stand. Zur Sache: Mein Theologenfreund und ich waren wie zwei hochgerüstete Rennpferde auf Steroiden, wenn es dazu kam, philosophische oder religiöse Themen zu diskutieren und dem jeweils anderen die philosophische Stirn zu bieten. Dies war eine anstrengende und recht laute Zeit, die aber stets sehr lehrreich gewesen ist. Niemand wollte nachgeben und so waren wir damit beschäftigt, die Argumente und Einwände des anderen minutiös zu untersuchen, um etwaige Fehler ausfindig zu machen. Gibt es eine bessere Schule? Andererseits gestehen wir uns heutzutage beide freimütig ein, dass wir den Bogen in der Diskussion das eine oder 195 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Wie werde ich ein moralisch besserer Mensch?
andere Mal deutlich überspannt haben, wie zum Beispiel am besagten Treffen in der Restobar in Göttingen. Wir beide sind mit den Jahren ruhiger geworden und etwas weniger hitzig in unseren Debatten, da wir einen Weg gefunden haben (siehe oben), der uns davor bewahrt, dass wir uns auch nach einem heftigen Streitgespräch nicht feindlich gegenüberstehen. Die bisherigen Kapitel haben deutlich gemacht, worauf man achten sollte, wenn man ein gutes Leben führen möchte. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, in welchem sozial-politischen Kontext wir unsere Vorstellungen vom guten Leben am besten verwirklichen können.
196 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
VI. Quo Vadis?
1. Guter Mensch gleich guter Bürger? Mit diesem Kapitel endet unsere philosophische Reise. Wie bei einer Bergwanderung haben wir es beinahe geschafft, den Gipfel zu erklimmen, bevor wir die Aussicht genießen können. Es ist nicht mehr weit, der Gipfel ist bereits in Sichtweite. Mit Genugtuung können wir dann auf das Geleistete zurückblicken und uns daran machen, das Gehörte umzusetzen. Wir haben bereits einen sehr guten Überblick darüber bekommen, was das gute Leben ist und welche moralischen Ansprüche man erfüllen sollte, um in einer Gemeinschaft friedlich miteinander auszukommen. Diesbezüglich müssen wir also nur noch feststellen, mit welcher Staatsform unsere pluralistische Konzeption des guten Lebens am besten kompatibel ist. Ist es der faschistische, kommunistische oder der liberale Staat? Diese Frage ist deswegen so wichtig, da das gute und tugendhafte Leben nur in einem Staat gedeihen kann, dessen Ziele ebenfalls am Guten orientiert sind. Im 5. Kapitel der Nikomachischen Ethik stellt sich Aristoteles daher ebenfalls die Frage, ob der gute Mensch auch gleichzeitig ein guter Bürger ist. 67 Doch erst im 4. Kapitel seiner politischen Hauptschrift Politik wird er die Frage beantworten und schreibt: Im vollkommenen Staat ist der gute Mensch mit dem guten Bürger absolut identisch; während der gute Bürger in anderen Staaten nur relativ mit Blick auf seine eigene Staatsform gut ist. 68
Wenn man also weiß, was die beste Staatsform ist, dann weiß man auch, was die Grundvoraussetzungen dafür sind, um das gute und tugendhafte Leben zu gewährleisten (und umgekehrt). Zwei Dinge sollte man sich jedoch klarmachen: Zum einen sind wir 197 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
ebenso wenig wie Aristoteles in der Lage, den besten Staat in der Wirklichkeit herzustellen, sondern sind darauf angewiesen, hier einige Abstriche zu machen. Der Staat, den wir suchen, ermöglicht uns nur annäherungsweise das beste Leben. Der US-amerikanische Philosoph Fred D. Miller hat ganz recht, wenn er vor diesem Hintergrund Folgendes sagt: Die beste Verfassung kann als eine regulative Idee für Gesetzgeber und Politiker fungieren, die danach streben, so gut sie es eben in den besonderen Umständen vermögen, das Ideal der gegenseitigen vorteilhaften Kooperation in einer autarken Gemeinschaft, die sich am guten Leben orientiert, umzusetzen. 69
Zum anderen geht es uns – anders als Aristoteles – um eine pluralistische Konzeption des guten Lebens. Beide Einschränkungen sind jedoch nicht als negativ zu bewerten. Im Gegenteil, die beiden Einschränkungen geben uns erst die Möglichkeit, eine pragmatische und gute Lösung für die Gegenwart zu finden. Zunächst müssen wir jedoch herausfinden, was das Ideal ist, um dann den für uns bestmöglichen Staat zu finden. Gehen wir es an. Das 7. Kapitel der Aristotelischen Schrift Politik enthält einige deutliche Hinweise darauf, wie das Verhältnis vom guten Menschen und der besten Staatsform aussieht. Diese Überlegungen helfen uns dann im Folgenden dabei, herauszufinden, in welchem Staat man das bestmögliche Leben führen kann. Der beste Staat, so Aristoteles, ermöglicht seinen Bürgern ein glückseliges Leben. So schreibt er: Es ist offenkundig, das diejenige Staatsform am besten ist, in der jede Person, wer auch immer sie sei, am besten handeln und glücklich leben kann. 70
Gleichwohl unsere Vorstellung davon, was der beste Staat ist, von der Aristotelischen Vorstellung abweicht, ist zumindest die grundlegende Überzeugung richtig, dass nur der beste Staat in der Lage ist, die besten Leben zu ermöglichen. Aristoteles glaubt, dass der beste Staat gemäß dem Zweck der Natur eingerichtet ist. 198 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Guter Mensch gleich guter Bürger?
Dort leben dann die Menschen in Freiheit und Gleichheit, um ein gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies setzt jedoch voraus, dass die sozial-politischen Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. Denn nur dann gibt es im perfekten Staat »eine Identität zwischen Naturgesetzen, Moralgesetzen, Vernunftgesetzen und positiven Gesetzen«. 71 Ein Staat, der sich nicht um seine eigenen Bürger kümmert und wo Menschen nur von der Hand in den Mund leben, ist nicht in der Lage, die Glückseligkeit seiner Bürger zu befördern. Damit ist nicht gesagt, dass es nur reichen Staaten möglich ist, ihren Bürgern die Voraussetzungen für ein glückseliges Leben bereit zu stellen, sondern lediglich, dass es ein gewisses Minimum gibt. Zum Beispiel: Eine Person, die den ganzen Tag damit beschäftigt ist, Essen zu finden, damit sie und ihre Familie überleben können, wäre nach Aristoteles mit Recht unfähig, wirklich glückselig zu werden und ein gutes Leben führen zu können. Es geht nicht darum, dass man ein Millionär sein muss, doch es sollten die Grundvoraussetzungen erfüllt sein, damit man sich anderen Dingen zuwenden kann, die das gute Leben ausmachen. Auf der anderen Seite zeigt Diogenes von Sinope, der ja bekanntlich in einer Tonne lebte, dass man auch ein gutes und erfülltes Leben führen kann, ohne in Luxus zu schwelgen. Dies, so scheint es, hängt jedoch sehr von der je eigenen Vorstellung davon ab, was das gute Leben ist. Doch was ist der beste Staat nach Aristoteles? Nach Aristoteles gibt es drei Grundformen bei einem Staat, die wiederum durch drei negative Abweichungen mit Blick auf die »Ausrichtung des Staates« bestimmt werden können. Die positiven und auf das Gemeinwohl achtenden Grundformen sind: die Monarchie, die Aristokratie (Herrschaft der Besten und Klügsten) und die Politie (Mehrheitsherrschaft der vernünftigen Personen). Sie alle können in ganz unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen. Ihre negativen Abweichungen, bei denen nicht der Nutzen aller im Vordergrund steht, sondern die Herrschaft zum Nutzen der Regierenden erfolgt, sind: Die Tyrannis (selbstsüchtige Diktatur), die Oligarchie (Herrschaft der wenigen) und die Demokratie (Herrschaft aller). Die wahre Königsherrschaft, so Aristoteles, ist die beste Staatsform, wenn der Staat von der besten und klügsten 199 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
Person regiert wird. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Aristokratie vorzuziehen. Die Demokratie ist die erträglichste Form unter den negativen Abweichungen. Da die Ziele der Individuen und der Staaten gleich sind, so Aristoteles, müssen die Ziele der besten Verfassung und die des besten Menschen ebenfalls gleich sein. Mit anderen Worten: Das beste Leben kann nur in der wahren Monarchie, die von der klügsten und besten Person regiert wird und die sich an den höchsten moralischen Idealen orientiert oder in der Aristokratie gewährleistet werden. Aristoteles hat jedoch damals schon erkannt, dass es die beiden besten Staatsformen in der Realität so nicht gibt. Sie sind Ideale, die zwar angestrebt, jedoch nie erreicht werden können. Es sei denn, dass wir es mit einem sehr glücklichen Umstand zu tun haben. In seiner politischen Schrift beschreibt er noch eine weitere Mischform eines Staates, die zumindest praktisch umgesetzt werden kann, da die normativen Voraussetzungen geringer sind. In ihr finden sich sowohl oligarchische Aspekte wie zum Beispiel die Bestimmung der Beamten durch Wahlen (anstatt durch das Losverfahren) als auch demokratische Elemente wie die Teilnahme an der Volksversammlung der – mehr oder weniger – vom Zensus befreiten Bürger. 72 Aristoteles ist der Meinung, dass es das beste Leben nur im besten Staat gibt, wenn die sozial-politischen Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Im Folgenden werden wir sehen, in welchem der drei politischen Systeme das bestmögliche Leben in der Gegenwart möglich ist. Das bestmögliche Leben ist immer noch ein herausragendes gutes und tugendhaftes Leben. Ein Leben, das pluralistisch orientiert ist und die Minimalanforderungen der Moral erfüllt. Wir müssen uns also fragen, ob ein solches Leben am besten im Faschismus, Kommunismus oder in der liberalen Demokratie verwirklicht werden kann. Dazu werden zunächst die politischen Kerngedanken dargestellt (unterschiedliche Versionen können hier nicht behandelt werden) und im Anschluss daran die Frage beantwortet, ob unsere eigenen Vorstellungen mit Blick auf das gute Leben mit der jeweiligen Verfasstheit der untersuchten Staaten übereinstimmen. Die Ziele der besten Verfassung, so hatte ja bereits Aristoteles betont, stimmen mit den200 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus
jenigen des besten Menschen überein. Wenn wir uns also sicher sind, dass die im Buch vorgestellte Position grundsätzlich überzeugt, dann werden wir auf dieser Grundlage ebenfalls erkennen können, welcher der drei politischen Entwürfe am besten mit den Zielen eines pluralistisch orientierten guten Lebens zusammenpasst. Dann werden wir sehen, in welchem Staat das bestmögliche Leben am besten realisiert werden kann.
2. Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus Im Folgenden wird weder eine umfassende Geschichte des Faschismus noch eine detaillierte Darstellung des Faschismus in Deutschland vorgestellt, sondern lediglich auf die Kernthesen des Faschismus, teils in Anlehnung an den Nationalsozialismus, eingegangen. Der Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam im Grunde genommen mit je unterschiedlicher Ausprägung und Stärke in allen europäischen Staaten vor. Die unmenschlichste Form der faschistischen Ideologie sollte sich aber in Deutschland unter Adolf Hitler (1889–1945), in Italien unter Benito Mussolini (1883–1945) und in einer etwas schwächeren aber dennoch extremen Form in Spanien unter Francisco Franco (1893–1975) verwirklichen. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass es keine einheitliche Ideologie des Faschismus gibt, so wie es zum Beispiel im Kommunismus bei Marx und Engels der Fall war, sondern dass unterschiedliche Aspekte mehr oder weniger unsystematisch zusammengefasst wurden. Die Wurzeln des modernen Faschismus reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, obgleich es einige Aspekte der Ideologie wie den Antisemitismus und den Imperialismus gibt, die wesentlich älter sind. Es gibt zumindest fünf Hauptaspekte, die unter anderem als Quelle der faschistischen Ideologie und des Nationalsozialismus in Deutschland gegeben waren: Nationalismus, Sozialdarwinismus, Imperialismus, Antisemitismus und die Folgen des Ersten Weltkrieges (die Schmach des Versailler Vertrages). Diese unterschiedlichen Aspekte bilden den Hintergrund für die Entwicklung der faschistischen Ideologie im 20. Jahrhundert, die sich in den 201 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
europäischen Ländern verbreitet hatte. Darüber hinaus gab es natürlich unterschiedliche Ausprägungen und eine unterschiedlich starke Betonung jeweiliger Aspekte. Die faschistische Ideologie des Nationalsozialismus in Deutschland wird klassischer Weise in zumindest vier Hauptpunkte eingeteilt: Die Rassenlehre, das Führerprinzip, die homogene Volksgemeinschaft und der neue Lebensraum im Osten. Diese Elemente und die Weise ihrer Umsetzung vermitteln uns einen hinreichend genauen Eindruck, ob unsere Konzeption des guten Lebens mit dem Faschismus kompatibel ist. Der französische Aristokrat Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) und der deutsch-englische Denker Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) waren – neben anderen – die geistigen Väter der nationalsozialistischen Rassenlehre, so wie Hitler sie in der Folge verstehen sollte. Gobineau versuchte, den Rassismus mittels pseudowissenschaftlicher Theorien wie der Theorie einer Arischen Herrenrasse zu legitimieren (natürlich hatten die Aristokraten nach Gobineau einen höheren Anteil an den genetischen Eigenschaften des Ariers als die einfachen Bürger). Seine rassistische Position fand nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland viele Anhänger, so zum Beispiel den bekannten deutschen Komponisten Richard Wagner (1813–1883) und dessen späteren »Schwiegersohn« Houston Chamberlain (Heirat mit Wagners Tochter erst im Jahre 1908). Chamberlain arbeitete im Kontext von politischer Philosophie und Naturwissenschaften. Er hatte einen großen Einfluss auf Hitlers Gedankenwelt und beeinflusste nachhaltig die sogenannte völkische Bewegung und den Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts mit seinem Buch Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899). Die Ideen der unterschiedlichen Wertigkeit von »Menschenrassen« und die Vorstellung, dass die Arier als Herrenvolk germanischen Ursprungs die Weltherrschaft an sich reißen sollten, entstand genau in einem solchen pseudowissenschaftlichen und teils mythologisch überformten Milieu. So wurden zum Beispiel die Slawen wie die Russen, Polen und Tschechen etc. als »minderwertig« angesehen, die es deshalb zu vernichten galt. Doch die schlimmste »Rasse« waren die Juden, die sich unter die anderen 202 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus
Völker mischen und diese dann von innen heraus »zersetzen« würden. Der menschliche Unsinn kennt keine Grenzen. Mit Blick auf die Gegenwart ist es jedoch erstaunlich, dass die neuen Rechten überhaupt mit osteuropäischen Faschisten in Verbindung stehen und diese Kontakte weiter ausbauen. Offenkundig ist die faschistische Ideologie entweder recht anpassungsfähig oder sie folgt ihrer eigenen Logik nicht, wenn aus früheren Feinden – die osteuropäischen Rechten sind immerhin Slawen – in einem absurden Theaterspiel »Waffenbrüder« werden. Man sollte schon seine eigene Ideologie verstehen können. Darüber hinaus weiß man heutzutage, dass es weder eine homogene Volksgemeinschaft gibt noch der pseudowissenschaftliche Begriff der Rasse wissenschaftlich angemessen ist. Wissenschaftlich gesehen ist der Begriff der Ethnie korrekt. 73 Das Führerprinzip ist das faschistische Ideal eines sozial-politischen Systems für alle Entscheidungen im Staat. Was ist damit gemeint? Die politische Macht ist im Führer zentriert. Alle Macht geht von ihm aus. Es gibt keine Gewaltenteilung und das Parlament, so es noch eines gibt, hat keine Weisungsbefugnis oder gesetzgeberische Funktion. In diesem Sinn ist das Führerprinzip sowohl antiliberal als auch antidemokratisch. Die Propaganda macht aus dem Führer wie bei Hitler einen nahezu gottähnlichen Übervater, der wie ein Patron über seine Herde wacht. Es entsteht der sogenannte Führerkult. Staat, Partei (NSDAP) und Führer verschmelzen. Die Verschmelzung von Staat und Führer erinnert an die Zeit des französischen Sonnenkönigs Ludwig IV. (1638– 1715), der den absolutistischen Leitsatz mit der Formulierung »Der Staat bin Ich.« auf den Punkt gebracht hat. Alle Befehlsgewalt geht vom Führer aus, der den absoluten Gehorsam einfordert. »Du bist nichts, Dein Volk ist alles!« ist nicht nur eine aufschlussreiche Aussage, sondern zeigt auch die Verachtung des faschistischen Staates für das Individuum im Verhältnis zur Gemeinschaft als solche. Der faschistische Staat duldet keinen Individualismus und Pluralismus, geschweige denn demokratische Institutionen, da man glaubt, dass dies die Einheit der Volksgemeinschaft spaltet. Das Deutschland der Nationalsozialisten ist 203 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
eine sogenannte Willens- und Gefühlsgemeinschaft. Das Deutsche Volk soll die Vorsehung erfüllen und die Weltherrschaft übernehmen. Die Vorstellung eines reinen, arischen, homogenen Volkes, in der blauäugige und blonde gesunde Menschen leben, entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man sich die schwarzhaarige und dunkeläugige (sowie teils körperlich versehrte) politische Elite des Nazistaates anschaut. Auf Grund der nationalsozialistischen Idee, die Weltherrschaft zu erlangen, wollte man die eigenen als zu eng empfundenen Grenzen gen Osten hin erweitern, um mehr Lebensraum zu gewinnen. Die weniger dicht besiedelten Gebiete in Polen und der Sowjetunion, in denen nach der NS-Ideologie »minderwertige« Völker lebten, boten sich auf Grund dessen naturgemäß an. Die westlichen und nördlichen Staaten wurden zwar nicht als »gleichwertig« angesehen, waren aber dennoch gemäß der NS-Ideologie »höher« entwickelt als die slawischen Völker, so dass der benötigte Lebensraum nur im Osten gewonnen werden sollte. Dies war somit die Grundlage für die Eroberungspolitik mit Blick auf Polen und die Sowjetunion. Diejenigen Menschen und Gruppen, die die Nationalsozialisten und ihre Ideen ablehnten, wurden durch den faschistischen Terror auf der Straße – vor allem durch die paramilitärische Sturmabteilung (SA) seit den frühen 1920er Jahren – gefügig gemacht. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten fand im Jahr 1933 statt. Die anschließende Festigung der politischen Macht in den Jahren 1933 und 1934 wurde unter anderem durch das politische Mittel der Gleichschaltung erreicht, das im Grunde von allen faschistischen – aber auch kommunistischen – Systemen in ähnlicher Weise genutzt wird. Doch was ist Gleichschaltung? Darunter versteht man die Beseitigung aller demokratischen und pluralistischen Elemente in einer Gesellschaft. Es entsteht eine politische Struktur, die einer Pyramide gleicht und an dessen Spitze der Führer steht. Die Gleichschaltung betrifft alle Bereiche des öffentlichen Lebens und ordnet alles dem Willen des Führers (Nationalsozialismus) oder der Diktatur des Proletariats (Kommunismus) unter. Mit Blick auf den Nationalsozialismus wurden zum Beispiel folgende Lebensbereiche gleichgeschaltet: Auflösung der 204 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus
Länderparlamente (Übertragung aller Rechte auf den Staat); Parteien und Gewerkschaften (die NSDAP wurde alleinige Partei); Justiz; Medien wie Presse und Rundfunk; alle Interessenverbände, Berufsgruppen und Institutionen; und Religion (Versuch der Einflussnahme auf die Evangelische und Katholische Kirche). Die Expansionspolitik des Deutschen Reiches beginnt am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen und endet mit seiner totalen Kapitulation am 8. Mai 1945. Dazwischen liegt unzähliges Leid. Der Zweite Weltkrieg kostete ca. 60–70 Millionen Menschen das Leben (Soldaten, Zivilisten, Völkermord an den Juden und anderen Volksgruppen etc.).
»Du bist nichts, Dein Volk ist alles!« Der Faschismus in Europa ist nicht tot. Die Geschichtsvergessenheit der Menschen, insbesondere in Deutschland (aber auch in anderen europäischen Ländern), ist enorm. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben extrem zugenommen und weite Teile der Bevölkerung in Deutschland erfasst. Anders kann man sich den hohen Zulauf der neuen Rechten und ihrer politischen Parteien in den letzten Jahren nicht vorstellen. Bestimmte rechte Gruppierungen rüsten sich für den als unvermeidlich angesehenen Bürgerkrieg, horten Waffen, lehnen das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ab und richten Schaden an, wo sie nur können. Das Internet kommt dabei sehr gelegen. Die längste Friedensperiode in Europa scheint viele Menschen in Unruhe zu versetzen, genauso wie die Menschen in der Coronakrise in Quarantäne in Unruhe geraten. Es brodelt, es kocht. Die neue Rechte will die Geschichte zurückdrehen und die NS-Ideologie wieder aufleben lassen. Wenn wir uns also fragen, ob unsere Konzeption des guten Lebens mit dem Faschismus kompatibel ist, dann bleibt festzustellen, dass dies offenkundig nicht der Fall ist. Der Faschismus verstößt nicht nur gegen die Minimalanforderungen der Moral, sondern lehnt jegliche Form des Pluralismus ab. Das gute Leben besteht in einem Leben gemäß der faschistischen Ideologie. Das 205 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
Individuum ist – genauso wie im Kommunismus – der Volksgemeinschaft nachgeordnet. Durch die Gleichschaltung wird sichergestellt, dass alle Lebensbereiche mit der faschistischen Ideologie übereinstimmen, so dass Menschen, die unterschiedliche Lebensprojekte verfolgen wollen, diese nur vor dem Hintergrund des Faschismus und in seinem Sinne tun können. Er bildet den normativen Ausgangspunkt und den Rahmen aller individuellen, als wertvoll angesehenen Projekte. Er gibt vor, was gut ist und was schlecht ist. Und er bestimmt, worin das Glück der Menschen zu bestehen hat. Zum Beispiel: Bestimmte Kunst wie die moderne Kunst und Musik, z. B. Jazz, wurden als »entartet« bezeichnet und allgemein verboten. Freilich hinderte dies den Reichsmarschall Hermann W. Göring (1893–1946) nicht daran, die größte Jazzsammlung des Deutschen Reiches zu haben. Offenkundig gibt es auch im Faschismus eine Doppelmoral. Wasser predigen und Wein trinken. Wenn Sie glauben, dass die Konzeption des guten Lebens, die wir uns im Buch erarbeitet haben, richtig ist oder zumindest in die richtige Richtung geht, dann können Sie nicht anders, sondern müssen sogar den Faschismus als Gegenposition ablehnen. Es gibt keinen dritten Weg. Eine menschenverachtende Ideologie kann niemals etwas objektiv Gutes sein. Wir würden ja auch nicht die kranken Vorstellungen eines Vergewaltigers und Serienmörders als ein gutes Leben ansehen, genauso wenig ist der Faschismus gut, sondern philosophisch gesehen eine kranke Ideologie kranker Menschen. Mehr muss man dazu nicht sagen.
Der Kommunismus In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer massiven Armut, von der weite Teile der Bevölkerung in den europäischen Ländern betroffen waren. Diese Periode der Verelendung der Bevölkerung nennt man auch Pauperismus. Diesbezüglich gibt es zwei Hauptgründe dafür: Zum einen lag die Verantwortung beim Kapitalismus, wo die Produktion und der Handel in privaten Händen lag und die Waren sowie die Arbeitskraft auf 206 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus
dem freien Markt ausgetauscht wurden. Zum anderen in der zunehmenden Industrialisierung, bei der es auf Grund der Arbeitsteilung und des technischen Fortschritts zu einem enormen Anstieg der Produktion und des Handels kam. Die Folgen waren verheerend. Die Arbeitsbedingungen wurden zunehmend härter und die Gehälter sanken beträchtlich ab, so dass mehr und mehr Frauen und Kinder gezwungen waren, in Fabriken zu arbeiten, um den Lebensunterhalt der Familie finanzieren zu können. Hinzu kam die sogenannte Landflucht. Viele Menschen sind in die Städte geflüchtet, um dort Arbeit zu finden. Es kam zur Bildung von Slums und Ghettos, wo die Ärmsten der Armen auf engem Raum wohnten. Die Arbeitslosigkeit stieg ins Unermessliche und die Menschen starben wie die Fliegen. Dies war die allgemeine Lage, in der einige kluge Köpfe die sozialistischen Ideen aus der frühen Neuzeit weiterentwickelten, um für eine Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen einzutreten. Die beiden tragenden Figuren dieser politischen Phase der Umwälzung sind Karl Marx (1818–1883) und sein enger Freund und lebenslanger Unterstützer Friedrich Engels (1820– 1895). Marx ist Sprössling einer deutsch-jüdischen Familie, die im Jahr 1824 zum Protestantismus konvertiert ist. Die größte Zeit seines Lebens verbringt Marx in Armut und wird finanziell von seinem Freund Engels unterstützt. Während seines Studiums in Berlin macht Marx sich mit Hegels Philosophie vertraut und heiratet Jenny von Westphalen im Jahr 1843. Im selben Jahr lernt er Engels kennen. Unter dem Einfluss der Philosophie von Ludwig Feuerbach (1804–1872), der darüber hinaus auch einen großen Einfluss auf Friedrich Nietzsche und Richard Wagner hatte, wendet sich Marx dem Sozialismus zu. Im Jahr 1849 geht er mit seiner Familie ins Exil nach England. Die beiden wichtigsten Werke sind Das Kommunistische Manifest (1848), das er zusammen mit Engels schrieb und sein Opus Magnum, das dreibändige Werk Das Kapital (1867, 1885, 1894). Beide Werke sind Meilensteine des Denkens, die unsere Welt nachhaltig beeinflusst haben. Auf der anderen Seite steht Friedrich Engels, der Sohn eines reichen Fabrikbesitzers in England (Manchester), und eine der bedeutendsten Hauptfiguren des Sozialismus. Ohne Zweifel ist er 207 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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dafür verantwortlich gewesen, dass die sozialistische Bewegung zu einer Massenbewegung wurde. Er nimmt im Jahr 1849 an der missglückten Märzrevolution in der Pfalz teil und flieht im Anschluss daran nach England. Dort arbeitet er in der Fabrik seines Vaters und verkauft dann im Jahr 1870 seine Anteile an den Mitbegründer, um sich vollkommen der philosophischen und politischen Arbeit mit Blick auf die Theorie und Praxis des Sozialismus zu widmen. Die wesentliche Leistung von Marx und Engels besteht darin, dass beide den utopischen Sozialismus der frühen Sozialisten in einen wissenschaftlichen Sozialismus überführen. Die frühen Sozialisten waren unter anderem von den Ideen solcher Denker wie Thomas Morus (1478–1535) oder Jean-Jaques Rousseau (1712– 1778) inspiriert. Morus argumentiert in seinem bekannten Werk Utopia (1516) dafür, dass die ideale, nach demokratischen Grundsätzen orientierte Gesellschaft nicht auf Privateigentum fußen darf, sondern aller Besitz der Gemeinschaft angehören sollte. Rousseau geht in seinem Werk Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) davon aus, dass – unter anderem – die Degeneration des Menschen durch das Privateigentum und das Zusammenleben verursacht wird. Zu den frühen Sozialisten, die unter anderem durch die Folgen der Französischen Revolution (1789–1799) beeinflusst wurden, zählen zum Beispiel Henri de Saint-Simon (1760–1825), Charles Fourier (1772–1837), der Begründer der Sozialdemokratie Louis Blanc (1811–1882) und Pierre J. Proudhon (1809– 1865) in Frankreich, Robert Owen (1771–1858) in England und der erste deutsche Theoretiker des Kommunismus Wilhelm Weitling (1808–1871) in Deutschland. Allen ist gemeinsam, dass sie mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen sozialer Ideale die schlechte Lage der Arbeiter verbessern wollen. Viele Frühsozialisten sind jedoch eingefleischte Antisemiten wie zum Beispiel Fourier und Proudhon. Auf der einen Seite wird der erfolgreiche Großkapitalismus mit dem Judentum identifiziert und auf der anderen Seite deren Unfähigkeit und Minderwertigkeit hervorgehoben. Nach Proudhon sollten die Juden daher entweder vertrieben oder vernichtet werden. Ein fataler Gedanke, der im 208 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Nationalsozialismus wiederkehrt und dort zum Völkermord an den Juden führen sollte. Der utopische Sozialismus wird nicht im Rekurs auf ein umfassendes philosophisches System begründet, sondern basiert fast ausschließlich auf spekulativen Ideen und unrealistischen Zielen sozialistischer Vorreiter. Grundsätzlich bleibt jedoch festzustellen, dass die Frühsozialisten gegen das soziale Elend und die soziale Ungleichheit kämpften, indem sie dafür eintraten, dass moralische Überlegungen wie Mitleid und Mitgefühl gesellschaftlich relevant werden müssen. Der wissenschaftliche Sozialismus von Marx und Engels orientiert sich hingegen an Hegels Geschichtsphilosophie, in der Hegel für deterministische Gesetze in der Geschichte eintritt. Diesbezüglich geht es also weniger um moralische Bedenken, die natürlich auch eine gewisse Rolle spielen, als vielmehr um die Entdeckung deterministischer Gesetze in der Geschichte, die letztendlich dafür Sorge tragen, dass sich die revolutionären sozialistischen Ideen auch gesellschaftlich niederschlagen. Insgesamt orientiert sich der wissenschaftliche Sozialismus an durchaus realistischen Zielen (im Vergleich zu den Frühsozialisten) und lehnt die Ziele des utopischen Sozialismus ab. Der Sozialismus Marx’scher Prägung ist ohne Hegels Geschichtsphilosophie nicht vorstellbar. Was ist damit gemeint? Die Theorien beider Autoren haben zumindest vier relevante Aspekte gemeinsam, die jedoch je nach Autor unterschiedlich ausgerichtet sind: Ein starker Positivismus, der Gedanke des Kollektivismus, die Notwendigkeit geschichtlicher Prozesse und die Dialektik. Beide Denker glauben, dass es nur wenig Spielraum für moralische Kritik an den gegebenen Verhältnissen gibt, da der Geschichtsverlauf deterministisch – also vorherbestimmt – ist. Diesbezüglich gibt es jedoch einen bedeutenden Unterschied zwischen Hegel und Marx. Nach Hegel ist der preußische Staat die bestmögliche Realisierung eines Staates in der realen Welt. Die Weltgeschichte, so Hegel, ist die notwendige Realisierung des Weltgeistes. Der Weltgeist ist ein Vernunftprinzip, das sich im Laufe der Geschichte vom Persischen Reich über das Griechische Reich von Alexander dem Großen bis hin zum Römischen Reich realisiert hat, um schlussendlich im Preußischen Reich seinen finalen 209 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
Höhepunkt zu finden. Das Vernünftige, so kann man Hegel deuten, ist im Preußischen Reich zur realen Wirklichkeit geworden. Die Menschen sind passiv und bejahen den Zustand, der sich ohne eine Revolution von unten eingestellt hat. Marx sieht dies allerdings anders. Er sieht im Proletariat die treibende Kraft hinter einer sozialistischen Revolution. Marx lehnt Hegels Konservatismus monarchischer Systeme ab und ersetzt ihn durch die Progressivität des Sozialismus. Der Preußische Staat ist nicht das Ende der Geschichte. Die Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs in der Welt zielt auf eine klassenlose Gesellschaft ab. Für Hegel und Marx spielt das Individuum als Individuum keine zentrale Rolle. Die Betonung liegt bei Hegel auf dem Übernatürlichen (der Weltgeist) und bei Marx auf dem Natürlichen (die sozialen Klassen). Nach Hegel ist das Subjekt der Geschichte der Weltgeist. Alle Individuen sind Teile der Gemeinschaft, wobei das Individuum kein Rechtssubjekt ist. Das alleinige Rechtssubjekt ist vielmehr der Staat. Marx lehnt die Rede vom Weltgeist und Hegels Überlegungen zum Staat entschieden ab. Für ihn liegt der Fokus auf den Transformationsprozessen der sozialen Klassen – nicht der Individuen. Dabei kommt dem Proletariat als einziger revolutionärer Klasse eine ganz besondere Rolle in der Geschichte zu. Beide Denker stimmen darin überein, dass es eine Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs gibt. Bisher hat es noch nie einen kommunistischen Staat, der die Lehren von Marx und Engels ernst nimmt, gegeben. Freilich hat es an Versuchen nicht gefehlt, wie man an den sogenannten kommunistischen Ländern wie China, der ehemaligen Sowjetunion, Kuba und der früheren DDR deutlich erkennen kann. Doch es bleibt festzustellen, dass jene Länder mit der ursprünglichen Idee von Marx und Engels, wie die kommunistische Vereinigung aussehen sollte, nichts gemein haben. Im Gegenteil, diese Länder haben nicht den notwendigen Schritt von der Diktatur des Proletariats hin zur klassenlosen Vereinigung vollzogen und damit lediglich eine weitere Diktatur unter anderen etabliert. 74 Die Menschen in der klassenlosen Gesellschaft sollen sich an den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit orientieren und so leben, wie der Grundsatz des Kommunismus Marx’scher 210 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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Prägung vorgibt: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Marx und Engels gehen nur wenig auf die klassenlose Vereinigung und den sogenannten neuen Menschentypus ein, der ein solches Leben zuallererst ermöglichen soll. Klar ist jedoch, dass diese Form der Gesellschaft über erhebliche Ressourcen verfügen muss, um den obersten Grundsatz zu befriedigen. Eine erfolgreiche kommunistische Gesellschaft ist immer auch ein technisch hochgerüsteter Staat. Einen solchen Staat gibt es bis heute nicht.
Das gemeinschaftlich gute Leben Bevor wir uns fragen, ob unsere Konzeption des guten Lebens im Kommunismus am besten verwirklicht werden kann, gilt es, ein altes Vorurteil gegenüber dem Kommunismus auszuräumen. Wenn im Kommunismus Marx’scher Prägung davon die Rede ist, dass man das Privateigentum abschaffen müsse, dann nehmen viele Menschen an, dass einem nicht einmal mehr die eigene Zahnbürste oder Unterwäsche gehört und alles – aber wirklich auch alles – gemeinschaftliches Eigentum sein muss. Dies ist eine alte Mär und natürlich falsch. Dem Kommunismus, so Marx, geht es darum, die private Groß- und Schlüsselindustrie einer Gesellschaft in gemeinschaftliches Eigentum zu überführen. Darunter würden heutzutage zum Beispiel folgende Bereiche fallen: Autoindustrie, große Reiseunternehmen, Fluglinien und Flugzeughersteller, Militärzulieferer, soziale Medien wie Facebook, Twitter und Instagram sowie die großen Verkaufsplattformen wie Amazon und Zalando etc. Alle anderen Kleinst- und Kleinbetriebe sowie alle mittleren Betriebe dürfen als Privateigentum von Personen geführt werden. Dennoch stellt sich die Frage, ob das gute Leben im Kommunismus am besten gedeiht. Der ursprüngliche Kommunismus schreibt sich auf die Fahnen, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – also Solidarität – einzustehen. Dies steht jedoch im krassen Widerspruch zur Realität. Diejenigen Staaten, die behaupten, kommunistisch zu sein, wie zum Beispiel die frühere Sowjetunion, das kommunistische 211 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
China, Kuba und die ehemalige DDR haben die ursprüngliche kommunistische Idee sprichwörtlich mit Füßen getreten. Es gab weder Freiheit noch Gleichheit. Die Freiheit in den sogenannten kommunistischen Ländern wurde durch eine Diktatur ersetzt. Die Bürger konnten sich eben gerade nicht frei entfalten und verwirklichen, so wie es Marx mit Blick auf die klassenlose Vereinigung anvisiert hatte. In diesem Sinne kann man sagen, dass jene Länder nicht über die Diktatur des Proletariats hinausgekommen sind. Mit Blick auf die Gleichheit sah es nicht anders aus. Zum einen gab es die einflussreichen politischen Eliten und Technokraten – und natürlich ihre Familien –, die durch das Einparteiensystem getragen wurden und zum anderen die einflusslosen Arbeiter und Bauern. Es gab also in allen modernen Versionen des gelebten Kommunismus eine Zweiklassengesellschaft. Die Klasse der Kapitalisten wurde im Grunde genommen durch die Klasse der Berufspolitiker und Technokraten ersetzt. Die Solidarität beschränkte sich darauf, sich solidarisch mit den politischen Eliten und Technokraten zu zeigen und diese in der Arbeit für die Partei zu unterstützen. Wir haben es also mit einer Pervertierung des Sozialismus zu tun. Daraus folgt zweierlei: Erstens, die kommunistische Idee ist so anspruchsvoll, dass sie entweder nicht umgesetzt werden kann und wir bei allen praktischen Versuchen einfach nicht über die Diktatur des Proletariats hinauskommen. Oder zweitens, dass bestimmte Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, um den Kommunismus im Sinne einer klassenlosen Vereinigung aller Menschen zu etablieren. Im vorherigen Abschnitt habe ich bereits auf zwei wesentliche Faktoren hingewiesen, die der Verwirklichung der kommunistischen Idee entgegenstehen. So haben wir weder einen neuen Menschentypus, der für die unterschiedlichen Besonderheiten des Kommunismus gemacht ist, noch gibt es eine hochtechnisierte Gesellschaft, in der jedem nach seinen Fähigkeiten und nach seinen Bedürfnissen vergolten wird. Der Kommunismus basiert auf einer sehr anspruchsvollen Idee, die jedoch mit enormen Voraussetzungen daherkommt. Wie müsste also der neue Mensch beschaffen sein, damit er dem Kommunismus Vorschub leisten
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kann? Welche Möglichkeiten gibt es heutzutage, einen solchen Menschen zu erschaffen? Mittlerweile gibt es einige Möglichkeiten, die über die normale traditionelle Erziehung, staatliche Erziehungsprogramme, ethische Reflexion, Sozialisierung, Peer Groups, das Folgen von Idealen oder die Suche nach einem vermeintlich intelligenten Partner hinausgehen. Seit etlichen Jahren wird sehr aktiv daran geforscht, den Menschen besser zu machen. Seine Sinne zu verbessern, seine Lebensspanne zu verlängern, seine Intelligenz und Gedächtnisleistung zu erhöhen oder seine moralischen Fertigkeiten zu verstärken. Doch auf welche Weise kann man die menschliche Verbesserung noch erreichen? Derzeit wird an zwei Methoden geforscht: Zum einen werden pharmazeutische Mittel entwickelt und zum anderen versucht man, einige der oben genannten Ziele über die genetische Verbesserung in den Griff zu bekommen. Mit Blick auf zukünftige Mittel der menschlichen Verbesserung sind insbesondere zwei Kandidaten zu nennen: Die sogenannte molekulare Nanotechnologie und die Superintelligenz. Die molekulare Nanotechnologie ist der Heilige Gral der Wissenschaften und hat das Potential, nicht nur alle Krankheiten des Menschen wie Krebs zu heilen oder seine vorhandenen Fähigkeiten ins Unermessliche zu steigern (zum Beispiel durch Superintelligenz), sondern auch physische Objekte wie Raketen (zur Kolonialisierung des Weltraums), Flugzeuge oder Autos etc. herzustellen, die aus Materialien bestehen, die besonders strapazierfähig, elastisch und extrem leicht sind. Auf den Menschen übertragen könnte man – so es die technischen Voraussetzungen gibt – einen neuen und verbesserten Menschen herstellen, der den hohen Ansprüchen des Kommunismus gewachsen wäre. Und in der Tat gibt es eine internationale philosophische Bewegung, die für die Verbesserung und Transformation der menschlichen Fähigkeiten – seiner Intelligenz und seiner physiologischen Ausstattung – eintritt. Die Anhänger einer solchen Position werden Transhumanisten genannt. Die Transhumanisten sind jedoch nicht notwendigerweise am Kommunismus interessiert. Ihnen geht es einzig um die Aufwertung und Verbesserung des Menschen. Der Name Transhumanismus geht 213 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
auf den bekannten Evolutionsbiologen und Eugeniker Julian Huxley (1887–1975), den Bruder des berühmten Schriftstellers Aldous Huxley (1894–1963), zurück. Er schreibt in seiner Schrift Religion without Revelation (1927) Folgendes: Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, sich selbst transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier und ein anderes dort, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht wäre der Begriff Transhumanismus geeignet: Der Mensch bliebe Mensch, aber er würde über sich hinausgehen, indem er neue Möglichkeiten für sich und der menschlichen Natur realisiert. 75
Diesbezüglich gehe ich nicht auf den interessanten Diskurs zwischen liberalen und konservativen Gruppen ein, die die Vor- und Nachteile des Transhumanismus und der Verbesserung des Menschen diskutieren, sondern fokussiere mich anstatt dessen auf die Realisierung des neuen Menschen im Kommunismus. Wenn es also möglich wäre, Menschen moralischer zu machen und wir in der Zukunft dazu in der Lage wären, zum Beispiel folgende sozialpolitische Herausforderungen zu lösen: Organisierte Kriminalität, Human Trafficking, Zwangsprostitution, Rassismus, Terrorismus, Fanatismus und Antisemitismus etc. Was könnte man dann mit Blick auf den neuen Menschen erreichen? Der neue Menschentypus des Kommunismus würde sich vermutlich dadurch auszeichnen, dass man stärker auf das soziale Miteinander setzt und Menschen sich insgesamt moralischer verhalten. Darüber hinaus müsste der neue Mensch sehr intelligent sein, um den Wohlstand der Gesellschaft auch technisch umsetzen zu können. Dies alles sind ohne Zweifel immense Vorteile, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Doch warum zögern wir? Nur eine hochtechnisierte Gesellschaft kann den Wohlstand einer solchen klassenlosen Vereinigung, in der jeder nach seiner Façon glücklich werden kann, sicherstellen. Wir haben derzeit nicht die technischen Mittel oder Expertise dazu, um so etwas auf den Weg zu bringen. Viele glauben, dass, wenn wir über einen 214 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
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superintelligenten Computer verfügten, wir dann in der Lage wären, alle – bzw. fast alle – Probleme der Menschen zu lösen. Ein solcher Supercomputer würde dann fortan alle Erfindungen für uns machen, da er in allen Bereichen sehr viel besser wäre als wir. Dies ist ein durchaus realistisches Szenario. Es gibt zumindest zwei grundlegende Probleme: Zum einen setzt dies voraus, dass wir der Natur alle Geheimnisse »entreißen« müssen, um das entsprechende Wissen zu erlangen, damit wir die sozialen und ökonomischen Probleme der modernen Zivilisation lösen können. Dieser Gedanke stammt nicht von mir, sondern von Francis Bacon (1561–1626), dem englischen Philosophen und bedeutenden Politiker sowie Naturwissenschaftler. Er hat die modernen Naturwissenschaften revolutioniert. Das Problem dabei ist, dass ein solches massives Forschungsprogramm erhebliche negative Folgen für die Umwelt hätte. Dies haben wir bereits im Kontext der kommunistischen Länder gesehen, die alles versucht haben, um die Technisierung zu Lasten der Umwelt voranzutreiben. Mit anderen Worten: Wir bräuchten also eine Künstliche Intelligenz, die den technischen Fortschritt in Harmonie mit der Natur verfolgt. Zum anderen müssen wir uns fragen, was mit uns passiert, wenn wir ein Heer von besser qualifizierten Robotern für uns arbeiten lassen. Wir würden arbeitslos werden. Für viele mag eine solche Vorstellung spontan großartig klingen (keine Arbeit mehr), doch seien Sie versichert, eine solche gesellschaftliche Situation würde auch ganz erhebliche soziale Folgekosten haben. Ich spreche von dem Problem der Langeweile, wie sie die meisten Menschen derzeit in der Coronakrise in 2020 erleben. Was bedeutet Langeweile? Philosophisch gesehen ist der Begriff durchaus bekannt, er spielt jedoch in der philosophischen Forschung keine zentrale Rolle und wird erst seit einigen Jahrzehnten sporadisch diskutiert. So zum Beispiel beim marxistischen Philosophen Ernst Bloch (1885–1977), der unter anderem die folgende These in seinem dreibändigen Opus Das Prinzip Hoffnung (1954) vertritt: Die wirklichen »Existenzsorgen«, so Bloch, beginnen erst dann, wenn es die »schäbigste« Sorge des Daseins, nämlich »die des Erwerbs«, nicht mehr gibt. Bloch spielt hier auf die Langeweile an und wird dafür von Hans Jonas (1903–1993) in seinem wirkmäch215 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
tigen Buch Das Prinzip Verantwortung (1984) scharf kritisiert. Das Thema wird ebenfalls von Bernard Williams (1929–2003), einem der einflussreichsten englischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, diskutiert. Williams bezieht sich in seinem Beitrag (1973) auf das berühmte Theaterstück Die Sache Makropulos (1922) von Karel Čapek, dem bekannten Tschechischen Schriftsteller und Science-Fiction Autor (er führte den Begriff des Roboters ein). Der menschliche Lebenswille, so Williams, erlischt bei einem extrem langen Leben, da sich alle kategorischen Wünsche, die für das Weiterleben zentral waren und dem Leben einen Sinn gegeben haben, erfüllt haben. Auch wenn das Theaterstück das Problem der Langeweile im Kontext der extremen Lebensverlängerung diskutiert – die Hauptfigur Elina Makropulos entschließt sich nach über 300 Jahren, nicht mehr das lebensverlängernde Elixier zu nehmen –, ist die Situation durchaus mit der Langeweile vergleichbar, die sich dann einstellt, wenn man ein ganzes Leben lang nicht arbeiten muss. Was sollen die Menschen ohne Arbeit tun? Den ganzen Tag ihren Hobbies nachgehen? Dies mag sicherlich für eine Zeit lang gut gehen, doch wenn es sich dabei um das ganze Leben handelt, dann mag dies sicherlich anders aussehen. Ich vertraue dabei auch auf Ihre Intuition. Selbst wenn Sie Spaß am Lesen hätten und dies als einen wichtigen Zeitvertreib ansehen, ist es doch etwas anderes, sein ganzes Leben mehr oder weniger mit Lesen zu verbringen. Gewiss, man könnte sich Abwechslung verschaffen und einfach andere Dinge tun, doch irgendwann wird einem dies ebenfalls zu langweilig. Die menschliche Natur verlangt nach einer sinnvollen Tätigkeit, der wir Bedeutung zuweisen, auch wenn es sicherlich erhebliche Unterschiede mit Blick auf die einzelnen Tätigkeiten gibt. Insgesamt wollen wir jedoch, zumindest wenn wir die Möglichkeit dazu haben, einer Arbeit nachgehen, die uns auch inhaltlich erfüllt und anspruchsvoll genug ist. Sie wissen, was ich meine. Die Abwechslung von Arbeit, Familienleben und Hobbies erscheint vielen Menschen mit Recht die beste Mischung zu sein. Verabsolutiert man einen Bereich zu Lasten der anderen Bereiche, dann gerät das harmonische Leben aus dem Gleichgewicht. Dies mag für unterschiedliche Personen unterschiedlich 216 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Kollektiv: Faschismus und Kommunismus
sein, doch für die meisten Menschen wäre ein Leben voller Müßiggang sicherlich eher eine Qual als ein Genuss. Es mag natürlich Ausnahmen geben, doch in der Regel wird es sich so vermutlich abspielen. Mit anderen Worten: Man sollte sich genau überlegen, ob man eine bestimmte Gesellschaft etabliert, in der die Mitglieder nicht mehr arbeiten müssen, sondern alle Arbeit an die Roboter abgegeben wird. Eine solche gut gemeinte Utopie kann sehr schnell zu einer furchtbaren Dystopie werden. Es gibt jedoch weitere Gründe, warum unsere Konzeption des guten Lebens nicht mit dem Kommunismus vereinbar ist. Die Anhänger des Kommunismus Marx’scher Prägung nehmen fälschlicherweise an, dass es Gesetze in der Geschichte gibt, die den Geschichtsverlauf eindeutig bestimmen und letztendlich mit Notwendigkeit eine klassenlose Vereinigung von Menschen entsteht. Diese von Hegel übernommene Vorstellung ist falsch. Hinzu kommt, dass Marx und andere sozialistische Theoretiker davon ausgehen, dass das Kollektiv Priorität im Verhältnis zum Individuum hat und die missliche soziale Lage der Menschen als sekundär zu betrachten ist. Dies halte ich für unangemessen und weltfremd. Es hat viele Sozialisten gegeben, die gerade die schlechten sozialen Verhältnisse im Kontext des Pauperismus für ausschlaggebend gehalten haben, um eine soziale Veränderung oder Revolution in Gang zu bringen. Doch die Marxisten sehen dies in der Regel anders (zumindest, wenn sie echte Marxisten sind oder sein wollen). Unsere Konzeption des guten Lebens nimmt zuallererst den Einzelnen in den Blick und fragt dann danach, wie eine Gesellschaft aussehen muss, damit das Individuum ein glückliches und tugendhaftes Leben führen kann. Das beste Leben und der beste Staat entsprechen einander, wie bereits Aristoteles gesagt hat. Und wenn wir nicht in der Lage sein sollten, aus welchen Gründen auch immer, das beste Leben zu verwirklichen, dann versuchen wir, das bestmögliche Leben in einem bestmöglichen Staat zu realisieren. Ein weiteres Problem bezieht sich auf unsere Vorstellung der metaphysischen Rückgebundenheit des Menschen. Damit haben wir gemeint, dass der Mensch frei sein sollte, sich zum Beispiel einer Religion anzuschließen und darin einen höheren Sinn zu 217 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
sehen. Der Kommunismus lehnt die Religion entschieden ab, ja er bekämpft sie sogar. 76 Für viele Menschen gehört die Religion zum Alltag, sie gehen darin auf, finden in der Religion und im Religiösen Hoffnung oder glauben einfach nur an Gott ohne das Beiwerk der institutionalisierten Religionen. Diesbezüglich ist also die Religion oder das Religiöse ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Eine staatliche Verordnung, die besagt, dass man alles Religiöse abzulegen hat, ist Paternalismus und damit Bevormundung. Wenn eine Person an etwas glauben und ihre Religion praktizieren möchte, dann sollte sie dies auch tun dürfen. Es gibt eben Menschen, die die Religion wertschätzen und Gott als einen wesentlichen Teil in ihrem Leben ansehen. Es sollte allen Menschen freistehen, zu glauben, woran sie wollen, so lange sie keinem Dritten damit Schaden. Zum Beispiel: Der Sektenführer, der seine Mitglieder sexuell ausnutzt, sie um ihr Eigentum bringt und belügt. Im Großen und Ganzen bleibt festzustellen, dass der Kommunismus Marx’scher Prägung eine interessante Ideologie darstellt, die jedoch einige grundlegende Voraussetzungen macht, die derzeit – und auch nicht auf absehbare Zeit – erfüllt werden können. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass der Kommunismus im Allgemeinen einige systematische Aspekte enthält, die unserer Konzeption des guten Lebens entgegenstehen. Der Kommunismus ist somit nicht die gesuchte Gesellschaftsform, in der das gute Leben aufblühen und gedeihen kann.
3. Das Individuum: Liberale Demokratie Das letzte politische System in unserer Reihe ist die liberale Demokratie. Sie wird am stärksten in einem liberalen und freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat gelebt. Diese Staatsform gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert. Seit dem 23. Mai 1949 gibt es sie auch in Deutschland. In all den Jahrhunderten zuvor – mit Ausnahme der Weimarer Republik (1919–1933) – hat es keine Demokratie in Deutschland gegeben. Mit anderen Worten: Erst seit ca. 70 Jahren leben wir in einem liberalen und demokratischen 218 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Individuum: Liberale Demokratie
Rechtsstaat. Die liberale Demokratie geht im Allgemeinen auf den englischen Philosophen John Locke (1632–1704) zurück. Er ist der Vater des Liberalismus. Der Liberalismus ist eine bedeutende Position in der politischen Philosophie und hat sich vor dem Hintergrund der englischen Bürgerkriege und Revolutionen des 17. Jahrhunderts herausgebildet. Das vermutlich einflussreichste philosophische Buch der Welt, wenn man die praktischen Schlüsse daraus in den Blick nimmt, ist Lockes politisches Hauptwerk Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689). Es ist das Manifest der liberalen Demokratie in Verbindung mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Darüber hinaus haben Lockes politische Überlegungen unmittelbar die Grundlegung der englischen Staatsordnung nach der Glorious Revolution (1688/1689) beeinflusst, in der sich die Gegner des Absolutismus in England durchsetzen konnten. Doch nicht nur der englische Staat, sondern auch die US-Unabhängigkeitserklärung von 1776, die US-Verfassung sowie die französische Staatsordnung nach der Französischen Revolution von 1789 wurden durch Lockes philosophische Überlegungen stark bestimmt. Die zeitgenössische liberale Demokratie fußt zumindest auf fünf grundlegenden Pfeilern: Dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (Gewaltenteilung, Grundrechte), einer demokratischen Grundordnung (politische Partizipation, freie und gleiche Wahlen), einem klaren Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, einem klaren Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und grundlegenden Werten sowie der Annahme und Verteidigung des Pluralismus. Die gemeinsamen Grundwerte einer Gemeinschaft wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität etc. sind ein wesentlicher Bestandteil der liberalen Demokratie. Diese Werte haben eine lange Tradition und haben sich bereits vielfach bewährt. Ein moderner Rechtsstaat kann auf solche bedeutenden Grundwerte nicht verzichten, wenn er das friedliche und soziale Miteinander der Menschen ernst nehmen möchte. Ein Beispiel: Die Möglichkeit zu haben, seine Meinung frei von Furcht und Repressalien in der Öffentlichkeit zu äußern, ist für die liberale Demokratie wesentlich. Es gibt jedoch einige Menschen, die dieses 219 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
Recht auf Meinungsfreiheit grundlegend missverstehen, wenn sie zum Beispiel Hass auf Flüchtlinge in der Öffentlichkeit und im Internet schüren. Dies ist nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt und sollte unbedingt bestraft werden. Wie bereits der englische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873) in seinem Buch Über die Freiheit (1859) deutlich betont, darf die Freiheit des Einzelnen nicht dazu führen, dass andere belästigt werden und betont in seinem immer noch weithin akzeptierten Freiheitsprinzip: […] dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten. 77
Geteilte Grundwerte sind der gesellschaftliche Kitt, der dafür sorgt, dass sich die Mitglieder einer Gemeinschaft – zumindest in groben Zügen – verstehen. Ihre Vorstellungen, wie man leben sollte, orientieren sich daran. Natürlich heißt dies nicht, dass alle Menschen in einer bestimmten Gesellschaft dieselbe Lebensweise gut finden und ihre Leben danach ausrichten müssen. Die Grundwerte bilden jedoch einen normativen Rahmen innerhalb dessen sich die unterschiedlichen Lebensweisen der Menschen bewegen. Es kann jedoch vorkommen, dass sich Menschen, die in einer liberalen Demokratie leben, eine andere Grundlage für ihre Lebensweise wünschen, die entweder durch die faschistischen oder kommunistischen Grundwerte und Lebensvorstellungen bestimmt wird. Die drei unterschiedlichen politischen Systeme – Faschismus, Kommunismus und liberale Demokratie – sind mit Blick auf ihr Wertesystem inkompatibel. Daraus folgt, dass diejenigen, die andere Grundwerte vorziehen, immer ein gesellschaftlicher Störfaktor sein werden und nicht vollständig integriert werden können. Die einzige Gesellschaftsform, die eine solche Abweichung im Großen und Ganzen toleriert, ist die liberale Demokratie, die jedoch anfällig wird, wenn immer mehr und 220 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Individuum: Liberale Demokratie
mehr Menschen andere Grundwerte vorziehen. Fällt die gesellschaftliche Mitte, dann fällt die Gesellschaft. Sie ist das Rückgrat einer jeden Gesellschaft und kann sich durch die Last der sozialpolitischen Herausforderungen verkrümmen. Die liberale Demokratie ist das einzige der drei politischen Systeme, das unterschiedliche Lebensweisen toleriert und den Menschen die Möglichkeit gibt, sich auf ganz verschiedene Weise zu verwirklichen. Die liberale Demokratie bietet allen Menschen die Möglichkeit, so zu leben, wie sie wollen und dennoch dieselben Grundwerte zu teilen. In der politischen Diskussion in Deutschland wurde in den letzten Jahren hin und wieder der Begriff der Deutschen Leitkultur im Kontext von Zuwanderung verwendet. Diejenigen, die zu uns kommen, so die Vorstellung, sollten sich der Deutschen Leitkultur anschließen oder zumindest unterordnen. In der liberalen Demokratie gibt es so etwas nicht. Die Idee, dass bestimmte Werte, eine bestimmte Tradition oder eine bestimmte Lebensweise innerhalb einer liberalen Demokratie verabsolutiert werden soll, um dann allen als ein Leitstern in der Dunkelheit zu dienen, ist koloniales faschistoides Geschwätz. Jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden dürfen, wenn er anderen nicht schadet und dies, so kann man sagen, ist der Leitspruch einer liberalen Demokratie. Die Unterschiedlichkeit der Menschen ist ein kultureller Schatz, den man zum Vorteil aller in einer Gesellschaft nutzen sollte. Wenn man dies begriffen hat, dann ist man nicht nur klug, sondern weise.
Das individuell gute Leben Mit Blick auf die Beschreibung der liberalen Demokratie dürfte bereits klar geworden sein, dass unsere Konzeption des guten Lebens am besten dazu passt, gleichwohl es auch einige Aspekte gibt, die man durchaus kritisch sehen sollte. Doch warum ist die liberale Demokratie die bestmögliche gesellschaftspolitische Form? Der Hauptgrund liegt darin, dass die liberale Demokratie – anders als es im Faschismus und Kommunismus der Fall ist – dem Individuum nicht vorschreibt, worin das gute Leben besteht. Es stellt 221 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
lediglich die Grundvoraussetzungen zur Verfügung, die es den Menschen erlauben, ihre unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben zu realisieren. Der Pluralismus gedeiht hier am besten. Dazu braucht es die konsequente Umsetzung der demokratischen Grundwerte wie zum Beispiel die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sowie einen funktionierenden modernen und liberalen Staat, der an die demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien rückgebunden ist. Darüber hinaus bleibt festzustellen, dass die Minimalanforderungen der Moral – die Goldene Regel, der Perspektivenwechsel, Mitleid empfinden können, soziale Eintracht und das Lösen von moralischen Interessenkonflikten – am besten in der liberalen Demokratie geschützt werden, obgleich ein wohlverstandener Kommunismus Marx’scher Prägung diese ebenfalls erfüllt (die klassenlose Vereinigung). Es gibt jedoch weitere moralische Ansprüche, die über die Minimalanforderungen der Moral hinausgehen und ebenfalls ihre Berechtigung haben. Das Problem beim Kommunismus ist die Fokussierung auf das Kollektiv als Spielball eines vorherbestimmten Geschichtsverlaufs, bei der das Individuum insgesamt eine untergeordnete Rolle einnimmt. Zum Beispiel: Der sozio-ökonomische Schutz der Menschen – wie wir bereits bei Marx im Kontrast zu den Frühsozialisten gesehen haben – ist kein zentraler Punkt im Kommunismus. Der Pauperismus wird als ein notwendiges Stadium in der Geschichte angesehen. Im liberalen Sozialstaat gibt es jedoch eine Fülle von sozialen Hilfsprogrammen, die den Bürgern zur Verfügung stehen und Schlimmeres zu vermeiden helfen. Doch auch hier gibt es natürlich Unterschiede. So gibt es liberale Rechtsstaaten wie die USA, die einen »Turbokapitalismus« verfolgen, bei der die Schwächsten in der Gesellschaft durch das soziale Netz fallen und Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben müssen (die Auswirkungen davon kann man im Kontext der Coronakrise deutlich erkennen). Dies ist in einem sozial-liberalen Rechtsstaat wie Deutschland anders. Und das ist gut so. Es kommt also ganz entschieden darauf an, wie die sozial-politische Ausgestaltung des Systems genau aussieht. Allerdings gibt es gerade im Kontext der liberalen Demokratie 222 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Individuum: Liberale Demokratie
mit Blick auf den Kapitalismus das Problem der sozio-ökonomischen Ungleichheit, die sich weiter verschärfen kann, wenn man keine (politischen) Grenzen setzt. Dies führt langfristig zu einer gefährlichen Unruhe in einer Gesellschaft, die die soziale Eintracht zwischen den Bürgern empfindlich stören kann. Wenn der Staat die Lage nicht ernst genug nimmt und es versäumt, gegenzusteuern, dann wird sich das politische Klima weiter vergiften und extremistische Parteien haben es dann leicht, die Situation für sich auszunutzen. Daraufhin kann sich dann die politische Kultur in einem Land nachhaltig verändern. Politische Systeme sind nicht in Stein gemeißelt. Sie müssen gelebt und geschützt werden. Wenn dies nicht der Fall ist, dann stürzen sie. Der Faschismus und Kommunismus (Diktatur des Proletariats) schaffen, sobald sie die politische Macht übernommen haben, ein ausgeklügeltes Spitzelsystem, um die Glaubens-, Meinungs- und Gewissensfreiheit der Bürger zu beobachten, zu manipulieren und einzuschränken (vgl. Gleichschaltung). Mit Blick auf die Glaubensfreiheit kann man deutlich erkennen, dass es keine echte metaphysische Rückgebundenheit im Faschismus und Kommunismus gibt. Die Religion bzw. das Religiöse wird in beiden Systemen angefeindet. Warum ist das so? Die Religion umfasst eine moralische Tiefe, die über die »Moralvorstellungen«, die im Faschismus und Kommunismus gelebt werden, hinausgeht und wird auf Grund dessen von den jeweiligen Systemen abgelehnt. Die Religion, so die Annahme, könnte als Ausgangspunkt für gesellschaftliche Umwälzungen dienen. Aus diesem Grund darf es daher entweder keine Religion geben oder sie muss mit den faschistischen und kommunistischen Idealen einigermaßen übereinstimmen. Wir wissen aus Erfahrung, dass das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Nationalsozialismus immer angespannt war. Dies ist in einer liberalen Demokratie anders. Die Meinungs- und Gewissensfreiheit kann jedoch auch in einer liberalen Demokratie zu erheblichen sozial-politischen Problemen und Verwerfungen führen, was wir im Kontext der sozialpolitischen Herausforderungen mit Blick auf die Verschwörungstheorien und Fake News gesehen haben. Diese Schwachstelle wird von extremistischen Personen und Gruppierungen ausgenutzt, 223 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
um die Gesellschaft zu spalten, soziale Unruhe zu schüren und den Rechtsstaat zu schwächen, um ihn letztendlich zu stürzen (vgl. das Flüchtlingsthema, die Coronakrise). Interessanterweise glaubt eine große Anzahl der Menschen in Deutschland irrigerweise, dass man eine Partei wie die AfD zum Sündenbock macht, wenn der Rechtsstaat versucht, sich gegen die rechte Vereinnahmung in der Politik zu wehren und diesbezüglich rechtsstaatliche Mittel einsetzt (Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, Beobachtung durch den Verfassungsschutz etc.). Dies ist nicht nur falsch, sondern unsinnig. Es zeigt jedoch, dass die rechte Deutungshoheit in der Gesellschaft bereits so weit fortgeschritten ist, dass die Mär vom Sündenbock in den Köpfen der Menschen fest verankert ist. Diese Strategie ist eigentlich aus der Geschichte wohlbekannt und sollte in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr geglaubt geschweige denn akzeptiert werden. Der Rechtsstaat hat jedes Recht, sich gegen rechte Infiltration und menschenverachtende Tendenzen in der Politik und Gesellschaft zur Wehr zu setzen. Es ist nicht nur eine Option, sondern seine vornehmste Pflicht als liberale Demokratie. Kommt der Rechtsstaat dieser moralischen Verpflichtung nicht nach, erscheint es philosophisch gesehen angemessen, dass die Bürger ihre Angelegenheiten – wenn ein gewisser Punkt überschritten wird – selbst in die Hand nehmen dürfen und müssen. Die liberale Demokratie gibt den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und ihre unterschiedlichen Lebensprojekte umzusetzen. Sie ist pluralistisch ausgerichtet und versucht, die verschiedenen Interessen der Menschen zu schützen. Beim Faschismus und Kommunismus gibt es eine klare Vorstellung davon, wie das gute Leben aussieht und wie die Menschen sich unterordnen und entsprechend einrichten müssen. Dies ist bei der liberalen Demokratie anders. Hier kann jedoch das Problem der Sinnsuche entstehen. Interessanterweise fühlen sich viele Menschen in liberalen Demokratien damit überfordert, Lebensprojekte zu finden und ihre Leben entsprechend danach auszurichten. Sie wissen nicht, was sie tun sollen oder wie sie ihre Leben ausfüllen sollen. Dies mag zum Beispiel am Überangebot von unterschiedlichen Lebensentwürfen in einer freiheitlichen 224 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Das Individuum: Liberale Demokratie
Demokratie liegen oder in der mangelnden Kompetenz zu verorten sein, sein Leben entsprechend zu strukturieren. Entscheidend dabei ist, dass der Ruf nach einer Sinnstiftung immer lauter und lauter wird. Da es nicht in der Natur der liberalen Demokratie liegt, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, wird die Sinnstiftung von gesellschaftlichen Kräften übernommen, die damit kein Problem haben. Hier schlägt dann die Stunde der neuen Rechten und der islamistischen Fanatiker. Ihre Propaganda offeriert den Sinnsuchenden Halt. Den Menschen wird Orientierung versprochen. Das eigene Denken wird aufgegeben und man übergibt sich voll und ganz in die Hände der Heilsbringer. Der einzige Weg eine solche Situation zu verhindern besteht darin, die Erziehung im Staat nach demokratischen Grundsätzen zu gestalten und dafür Sorge zu tragen, dass diese auch von den Menschen in der Gesellschaft aktiv gelebt werden. Platons bedeutende Schrift Politeia (Der Staat) ist nicht nur ein Buch, das sich intensiv mit moralischen, politischen und erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt, sondern ein Werk, das sich auch der Frage nach der richtigen Erziehung (Paideia) im Staat widmet. Die richtige Erziehung bildet das sozial-politische Rückgrat einer Gesellschaft. Auch wenn Platon kein Anhänger der liberalen Demokratie war, ist seine Beobachtung mit Blick auf die grundlegende Bedeutung von Erziehung für den Staat und die Dauerhaftigkeit desselben richtig. Geschichtsvergessenheit ist einer der größten Feinde der Demokratie und man sollte alles daran setzen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen und das Bewusstsein der Bürger für extreme Tendenzen zu schärfen. Eine aktive demokratische Bürgerschaft, die am Wohl der Gemeinschaft interessiert ist, ist der beste Schutz gegen den Faschismus und Kommunismus. Ein weiterer Vorzug der liberalen Demokratie gegenüber den anderen beiden Systemen besteht darin, den Natur- und Umweltschutz ernst zu nehmen. Wir haben gesehen, dass die Natur im Kommunismus (aber auch im Faschismus) für ihre jeweiligen Zwecke instrumentalisiert wird und sich unterordnen muss. Auch wenn es in liberalen Demokratien ebenfalls ein Spannungsverhältnis zwischen Natur- und Umweltschutz auf der einen Seite 225 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Quo Vadis?
und ökonomischen Interessen auf der anderen Seite gibt, ist dieses Verhältnis in den beiden anderen sozial-politischen Konzeptionen erheblich verschärft. Die Ideologie hat Priorität gegenüber der Natur (vgl. die aktuelle Lage in Brasilien mit Blick auf den Amazonaswald). Die international bekannte Fridays for FutureBewegung stößt insbesondere in liberalen Demokratien auf Gehör, während sie in anderen Ländern eher langsam vorankommt. Damit meine ich nicht, dass die Menschen in anderen Ländern weniger an einer gesunden Natur und Umwelt interessiert sind, sondern dass die spezifische sozial-politische Ausrichtung der Länder eine echte Hürde darstellen kann, die es den Menschen erschwert, ihre Meinung offen – und ohne negative Folgen – äußern zu können. Gewiss, auch in liberalen Demokratien könnte der Natur- und Umweltschutz besser sein, doch dies ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist vielmehr die genuine Bereitschaft, sich für die Natur und die Umwelt aktiv einzusetzen. Dieser Abschnitt hat nochmals das bestätigt, was wir in der Beschreibung der liberalen Demokratie gezeigt haben, nämlich, dass es neben den eindeutigen Vorteilen auch klare Nachteile gibt. Insgesamt haben wir jedoch festgestellt, dass unsere Konzeption des guten Lebens am besten zur liberalen Demokratie passt. Sie ist die bestmögliche Staatsform für das bestmögliche Leben.
4. Ende gut, alles gut? Unsere philosophische Reise hat nunmehr ein Ende gefunden. Ich habe Ihnen bei unserer Abfahrt die sozial-politischen Herausforderungen dargestellt, mit denen wir zu kämpfen haben. Diese Herausforderungen sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir uns derzeit in einem Zeitalter der Orientierungslosigkeit befinden. Wie können wir vor diesem Hintergrund ein gutes und tugendhaftes Leben führen? Wie können wir aus dem Zeitalter der Orientierungslosigkeit ausbrechen und diesen Zustand erfolgreich überwinden? Um dieser Orientierungslosigkeit Herr zu werden, hatte ich 226 https://doi.org/10.5771/9783495825525 .
Ende gut, alles gut?
Ihnen vorgeschlagen, mit mir auf eine philosophische Entdeckungsreise zu gehen. Das individuell gute Leben, so haben wir gesehen, ist ein Leben, in dem Sie auf der einen Seite Ihre eigenen als wertvoll angesehenen Projekte verfolgen und umsetzen können, Sie auf der anderen Seite jedoch bestimmten moralischen Anforderungen – den Minimalanforderungen der Moral – gerecht werden müssen. Wenn wir eine solche offene und pluralistische Lebensweise für das bestmögliche Leben halten (und das tun wir), dann müssen wir uns natürlich fragen, in welchem politischen System wir unsere Leben am besten verwirklichen können. Während unserer Reise sind wir an eine Gabelung mit drei unterschiedlichen Möglichkeiten gekommen: Faschismus, Kommunismus und liberale Demokratie. Wie haben Sie sich entschieden? Wenn Sie glauben, dass das menschliche Leben gewissen objektiven moralischen Standards gerecht werden muss und die Menschen ein Recht darauf haben, selbst zu entscheiden, worin ihr persönliches Glück besteht (ohne anderen zu schaden oder selbst Schaden zu erleiden), dann gibt es nur eine Möglichkeit. Dann müssen Sie mit mir die liberale Demokratie wählen. Diejenigen aber, die noch unschlüssig sind, welchen Lebensweg sie künftig einschlagen wollen, haben hoffentlich einige wichtige Eindrücke von dieser Reise mitnehmen können, um sich entsprechend zu entscheiden. Die anderen aber sind entweder bereits wohlbehalten angekommen oder gar nicht erst mit auf die Reise gegangen. Quo vadis?
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Endnoten
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»Wer irgend einen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. Wer aber ein Vieh erschlägt, der soll’s bezahlen, Leib um Leib. Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat: Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun. Also daß, wer ein Vieh erschlägt, der soll’s bezahlen; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben. Es soll einerlei Recht unter euch sein, dem Fremdling wie dem Einheimischen; denn ich bin der HERR, euer Gott.« (3. Moses, 24: S. 17–22). 2 Derzeit sieht sich die Menschheit mit einer weiteren ungeheuren Katastrophe konfrontiert. Die derzeitige Pandemie, der Corona Virus, hat nicht nur weitreichende und fundamentale negative politische, wirtschaftliche und kulturelle Auswirkungen, sondern bedroht auch unsere gesamte Lebensweise. Dieses Ereignis ist eine existentielle Prüfung und wird uns alle nachhaltig prägen. Ohne Zweifel sind wir alle auf die eine oder andere Weise davon betroffen. Ob die Katastrophe nun als göttliche Strafe mit Blick auf das unmoralische Verhalten von uns Menschen zu sehen ist, wie einige Kritiker sagen mögen oder es einfach nur eine Katastrophe biblischen Ausmaßes ist, sei dahingestellt. 3 vgl. Theodor W. Adornos Buch Negative Dialektik (1966). 4 vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/namibia-massaker-bundes regierung-spricht-von-voelkermord-a-1043117.html. 5 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/rechtsextreme-gewalt-mehr-als1700-straftaten-gegen-gefluechtete-und-unterkuenfte-a-845e6372-c1a1–4bdfba7b-1e089351e10b. 6 vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/rechtsextremismus-polizeierfasst-deutlich-mehr-straftaten-in-2019-a-7cb3d872–2478–41a0–9563dd3af848cded. 7 vgl. https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-in-den-usa-wie-rechtsex treme-die-krise-ausnutzen-a-0d4c7507–47f5–4438–9330-ca09eab5cdb5. 8 Die Ignoranz der Staatsanwaltschaft und die Inkompetenz der Ermittlungsbehörden mit Blick auf den Fall der sogenannten »Döner-Morde« stimmt einen mehr als nur verwundert. Es hat zum einen sehr lange gedauert, bis die Anschläge als solche erkannt und irgendwann auch entsprechend verfolgt wurden. Zum anderen wurden die Angehörigen teilweise sogar vorher selbst beschuldigt. 9 vgl. https://thebulletin.org/doomsday-clock/. 10 Diese teilt man wiederum in zwei große Bereiche ein: Die allgemeine Ethik und die angewandte Ethik. Die allgemeine Ethik stellt als praktische Grundlagenwissenschaft ein Begriffs- und Methodeninstrumentarium bereit, um
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Endnoten zum Beispiel Themen zu diskutieren, spezifische Probleme zu erörtern und gezielte Lösungen im Kontext der angewandten Ethik anzubieten. 11 Das Standardwerk von Julian Nida-Rümelin Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre Theoretische Fundierung (1996) bietet einen sehr guten Überblick über die unterschiedlichen Disziplinen, Themen, Probleme und Herausforderungen der angewandten Ethik. 12 Die reine praktische Vernunft determiniert, indem sie das Moralgesetz bzw. den kategorischen Imperativ anleitet, was getan werden soll, ohne jedoch auf kontingente empirische Faktoren wie zum Beispiel die persönlichen Wünsche oder Neigungen der Menschen Bezug zu nehmen. Das, was ist (deskriptive Ethik), darf nicht dasjenige beeinflussen, was sein soll (normative Ethik). Diesbezüglich hält Kant an Humes Gesetz fest, nach dem es eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Sein und dem Sollen gibt. Mit anderen Worten, empirische Wissenschaften wie zum Beispiel die Soziobiologie, Sozialpsychologie oder Anthropologie können nichts zur Klärung normativer Fragen beisteuern, da sich dann die Ergebnisse einzig auf den Menschen und nicht auf alle vernünftigen Wesen beziehen würden. Allein die Vernunft regiert im Bereich des Ethischen. 13 Ein Imperativ ist grammatikalisch gesehen eine Befehls- oder Aufforderungsform, die als ethische Forderung eine bestimmte Handlung oder Unterlassung für notwendig erklärt. 14 Etwas genauer: Subjektive Prinzipien oder Regeln des Wollens. 15 Der Utilitarismus ist insbesondere in der englischsprachigen analytischen Philosophie vorherrschend. 16 John Stuart Mill, Der Utilitarismus, 1997: S. 13. 17 Lehrsätze 31–33. 18 Die Vertragstheorien nehmen unter den ethischen Theorien wie der Tugendethik, Kants Pflichtethik und dem Utilitarismus einen besonderen Platz ein, da es bei ihnen weniger darum geht, einzelne moralische Urteile zu rechtfertigen und eine Lösung für moralische Probleme zu offerieren, sondern die Grundlage der Ethik selbst zu begründen. Der moralische Kontraktualismus ist keine Erfindung der Moderne, sondern basiert auf Vorläufer in der griechischen Antike. Freilich gibt es keine vergleichbare umfassende Gründungsschrift der Vertragstheorie in der Antike, wie sie zum Beispiel im 17. Jahrhundert von Thomas Hobbes mit seiner politischen Hauptschrift Leviathan (1651) entwickelt worden ist. Hobbes’ Leviathan gilt als das Gründungsdokument des politischen Kontraktualismus. 19 Wichtige vertragstheoretische Ansätze des 20. Jahrhunderts sind diejenigen von John Rawls, John Mackie, David Gauthier und für den deutschsprachigen Raum von Peter Stemmer. 20 Das heißt, der Mann, der gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter ist, könnte eine Frau sein. 21 Wie zum Beispiel die Tugendhaftigkeit des Charakters in der Tugendethik, die Pflicht in der deontologischen Ethik, den Nutzen im Utilitarismus und vertragliche Übereinkünfte im Kontraktualismus. 22 vgl. dazu die Arbeit von Günther Patzig.
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vgl. den Sammelband Clinical Ethics Consultation: Theories and Methods, Implementation, Evaluation (2016), der von Jan Schildmann, John-Stewart Gordon und Jochen Vollmann herausgegeben wurde. 24 Mit Blick auf den zweiten Objektivitätsbegriff könnte man nochmals zwei Varianten voneinander unterscheiden. Bei der ersten Variante würde das Gemeinsame jeweils faktisch bestimmt werden, während man bei der zweiten Variante hypothetisch vorgeht und fragt, auf welche Weise ein rationaler Akteur den Fall in einem rationalen Diskurs entscheiden würde. 25 John Stuart Mill, Über die Freiheit, 1998: S. 16. 26 »Morality is a convenient term for socially approved habits.« (Ruth Benedict, Anthropology and the Abnormal, 1934). 27 »A long-standing debate surrounds the question whether ethics are relative to time and place. One side argues that there is no obvious source of a universal morality and that ethical rightness and wrongness are products of their cultural and historical setting. Opponents claim that even if a universal set of ethical norms has not yet been articulated or agreed upon, ethical relativism is a pernicious doctrine that must be rejected. The first group replies that the search for universal ethical precepts is a quest for the Holy Grail. The second group responds with the telling charge: If ethics were relative to time, place, and culture, then what the Nazis did was »right« for them, and there is no basis for moral criticism by anyone outside the Nazi society.« (Ruth Macklin, Against Relativism. Cultural Diversity and the Search for Ethical Universals in Medicine, 1999: S. 4). 28 Die aristotelische Autorschaft der Eudemischen Ethik wurde insbesondere im 20. Jahrhundert vielfach in Frage gestellt, wobei die Schrift im Verhältnis zur Nikomachischen Ethik in einigen Bereichen weniger stark entwickelt ist. Es wurde lange Zeit vermutet, dass sie ebenso wie die Magna Moralia im Umkreis seiner Schüler entstanden ist. Die Magna Moralia, obgleich Große Moral genannt, ist die kürzeste und am wenigsten ausgereifte aristotelische – bzw. aristotelisch inspirierte – Schrift. 29 Es ist jedoch nur schwer vorstellbar, dass eine Person, die zum Beispiel über die Tugend der Tapferkeit verfügt, gleichzeitig auch alle anderen Tugenden wie die der Gerechtigkeit, Freigebigkeit, Besonnenheit etc. haben soll. Eine mögliche Erklärung ist, dass alle Tugenden etwas gemeinsam haben, was dafür verantwortlich ist, dass die tapfere Person ebenfalls gerecht, besonnen etc. ist. An einer Stelle betont Aristoteles, dass es unmöglich ist, tugendhaft zu sein, ohne auch gleichzeitig klug zu sein und umgekehrt. Demnach ist also das Gemeinsame aller Tugenden die Klugheit. Eine kluge Person weiß also in jeder Situation, wie sie sich zu verhalten hat, ob dies nun im Bereich der Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Besonnenheit ist. 30 »Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit der Seele entsprechend der Vernunft oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, dass die Funktion eines So-und-so und die eines guten So-und-so zur selben Art gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers und so überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit (aretê) zur Funktion hinzugefügt wird (denn die Funktion eines Kitha-
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Endnoten raspielers ist, die Kithara zu spielen und die Funktion des guten Kitharaspielers, das auf gute Weise (eu) zu tun) – wenn das der Fall ist, wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen und zwar eine Tätigkeit der Seele oder der Vernunft entsprechenden Handlungen, als die Funktion des guten Menschen aber, diese Handlungen auf gute und angemessene Weise zu tun und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend verrichtet ist – wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gute für den Menschen als Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinne derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel ist.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 6). 31 Aristoteles, Nikomachische Ethik X, 6–9. 32 Aristoteles, Nikomachische Ethik II, 3,4. 33 Die Tugend der Tapferkeit bedeutet in der altgriechischen Zeit von Homer so viel wie Männlichkeit (vor allem im Krieg), was nach unseren heutigen Standards auch höchst unmoralische Handlungen einschließen kann. In der klassischen Zeit von Sokrates, Platon und Aristoteles gehört die Tugend der Tapferkeit zu den Grundtugenden und wird durch Eigenschaften wie ›furchtlos sein‹ und ›tüchtig sein‹ erweitert. Die Tugenden sind in der griechischen Klassik durch die praktische Klugheit miteinander verbunden. Die moderne Bedeutung von Tapferkeit wird wiederum anders definiert – hier wird zum Beispiel Mut von Tapferkeit unterschieden – und ist nicht mehr notwendiger Bestandteil eines moralisch guten Lebens. 34 vgl. meinen Beitrag Modern Morality and Ancient Ethics (2013) in Internet Encyclopedia of Philosophy. 35 Zum Beispiel bezüglich der Ideenlehre und Platons Definition des Menschen. 36 Der Grieche Epiktet lebte zeitweise in Rom als Sklave, wurde dann freigelassen und eröffnete nach der Verbannung aller Philosophen aus Rom und Italien durch Kaiser Domitian (um 90 n. Chr.) eine eigene Philosophenschule in Nikopolis im Nordwesten Griechenlands. 37 Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, 1984: S. 21. 38 Alasdair MacIntyre, Geschichte der Ethik im Überblick, 1995: S. 113. 39 Bibel, 5. Mose 10, 17–19. 40 vgl. auch die solide Darstellung bei Martin Honnecker Einführung in die Theologische Ethik, 1990: S. 249–255. 41 Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, 1990: S. 117. 42 vgl. auch die Darstellung des Naturrechts bei Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, 1990: S. 107–125. 43 Die Scholastik folgt der Patristik – der Epoche der frühen Kirchenlehrer – und war vor allem durch ihre wissenschaftliche Methode der Analyse von strittigen theologischen und philosophischen Fragen bekannt, bei der zunächst die These und dann die Gegenthese begründet wurden. Daraus sollte sich dann die Lösung ergeben. Ein mittelalterlicher Scholastiker ist also eine Person, die auf eine bestimmte wissenschaftliche Art und Weise Theologie betreibt. Neben Thomas von Aquin gibt es noch weitere namhafte Scholastiker wie zum Beispiel der Bischof Anselm von Canterbury, der Lehrer von Thomas von Aquin Albertus Magnus, Wilhelm von Ockham und der Mystiker Meister Eckhart.
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Eine Summa ist eine didaktische Literaturgattung des Mittelalters (vor allem in der Theologie, Philosophie und in den Rechtswissenschaften), in der eine These und Gegenthese aufgestellt und diskutiert wird. Wenn Thomas von Aquin seine Schrift als Summa bezeichnet, dann weiß man auch, auf welche wissenschaftliche Weise er in seiner Schrift arbeitet. 45 Adam und Eva haben – entgegen dem göttlichen Willen – einen Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen und damit den Sündenfall des Menschen und seine Vertreibung aus dem Paradies begründet. Auf Grund dessen ist auch der heutige Mensch vorbelastet und der Erbsünde schuldig. 46 zitiert nach Wolfgang H. Pleger, Das gute Leben. Eine Einführung in die Ethik, 2017: S. 45. Er zitiert eine Passage aus Thomas von Aquin (Thomas von Aquin 1946: 116). 47 Svend Andersen, Einführung in die Ethik, 2000: S. 113. 48 So zum Beispiel die moralische Gleichheit aller Menschen zu achten, Andersgläubige zu respektieren und nicht zu diffamieren, die Gleichheit der Geschlechter vollumfänglich anzuerkennen etc. 49 Elif Özmen, Moral, Rationalität und gelungenes Leben, 2005: S. 147. 50 vgl. Nussbaum, Martha, Creating Capabilities: The Human Development Approach, 2011: S. 33–34. 51 Susan Wolf, Happiness and Meaning: Two Aspects of the Good Life, 1997: S. 171. 52 vgl. mein Buch Ethik als Methode (2019). Dort habe ich zum Beispiel in Anlehnung an Aristoteles, den US-amerikanischen Bioethiker Baruch Brody (1943–2018) und den bedeutenden deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900–2002) eine ethische Methode im Rekurs auf das Konzept des moralischen Experten entwickelt, die dabei helfen soll, komplexe moralische Probleme zu lösen. Inwiefern sich mein Ansatz philosophisch durchsetzen wird, wird allein die Zukunft zeigen. 53 Elif Özmen, Moral, Rationalität und gelungenes Leben, 2005: S. 161. 54 G. E. Moore, Principia Ethica, 1903. 55 Philippa Foot, Die Wirklichkeit des Guten, 1997: S. 43. 56 John-Stewart Gordon, Johann-Christian Pôder, Holger Burckhart (Hrsg.), Human Rights and Disability. Interdisciplinary Perspectives, 2017; John-Stewart Gordon und Jerome Bickenbach (Hrsg.), Human Rights and Disability, in: The Journal of Law, Medicine & Ethics, 41/4, 2013, S. 749–828; John-Stewart Gordon, Is Inclusive Education a Human Right?, in: The Journal of Law, Medicine & Ethics, 41/4, 2013, S. 754–767; John-Stewart Gordon und Felice TaveraSalyutov, Remarks on Disability Rights Legislation, in: Equality, Diversity and Inclusion. An International Journal, 37/5, 2018, S. 506–526. 57 In der Umweltethik, die ein Teil der Angewandten Ethik ist, wird die zweite Position wiederum in drei unterschiedliche Varianten eingeteilt: In den Pathozentrismus, den Biozentrismus und den Ökozentrismus. Während die Anhänger des Pathozentrismus wie Peter Singer oder Tom Regan glauben, dass nur die empfindungsfähigen Lebewesen moralisch berücksichtigt werden sollten, ist zum Beispiel der bekannte Theologe und Philosoph Albert Schweitzer (1875– 1965) der Ansicht, dass man alle Lebewesen schützen muss. Am weitesten gehen
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Endnoten die Ökozentristen wie der norwegische Philosoph und Umweltaktivist Arne Næss (1912–2009), der der Natur einen eigenständigen Wert zumisst und sich ebenfalls für eine starke Reduzierung der Bevölkerungsdichte – auf ca. 100 Millionen Menschen – einsetzt, um die Natur zu schützen (Deep Ecology). Ohne Zweifel ist dies ein radikaler Ansatz. Man muss kein Vertreter der Deep Ecology sein, um zu erkennen, dass man mit der Natur vernünftig umgehen sollte. Diejenigen, die die Umwelt verschmutzen und in Disharmonie mit der Natur leben, verhalten sich wie eine Person, die auf einen Baum geklettert ist und den Ast, auf dem sie sitzt, durchsägt. 58 In China sind es vor allem die Lehren von Konfuzius; in Indien sind es die beiden religiösen Strömungen des Hinduismus und des Buddhismus; im Orient sind es zum Beispiel die biblischen Propheten in Palästina sowie die Lehren des Zarathustras im Iran; und im Okzident – insbesondere in Griechenland – sind es die Epen des Homers, die Entwicklung der Naturphilosophie sowie die Geburt der klassischen Philosophie in Athen (Sokrates, Platon und Aristoteles). 59 vgl. dazu Ralf Moritz et al., Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?, 1988. 60 »Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u. s. w.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 430 Anmerkung). 61 Vgl. Meine eigenen Beiträge dazu: Is Inclusive Education a Human Right?, in: The Journal of Law, Medicine & Ethics, 41/4, 2013, S. 754–767 und Remarks on Disability Rights Legislation (John-Stewart Gordon, Felice Tavera-Salyutov), in: Equality, Diversity and Inclusion. An International Journal, 37/5, 2018, S. 506–526. 62 »The elephant is the largest of them all, and in intelligence approaches the nearest to man. It understands the language of its country, it obeys commands, and it remembers all the duties which it has been taught. It is sensible alike of the pleasures of love and glory, and, to a degree that is rare among men even, possesses notions of honesty, prudence, and equity; it has a religious respect also for the stars, and a veneration for the sun and the moon.« (Plinius, Naturgeschichte, VIII, 1). 63 »[…] when they had lost all hope of escape tried to gain the compassion of the crowd by indescribable gestures of entreaty, deploring their fate with a sort of wailing, so much to the distress of the public that they forgot the general and his munificence carefully devised for their honour, and bursting into tears rose in a body and invoked curses on the head of Pompey.« (Plinius, Naturgeschichte, VIII, 7, 20).
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Grundsätzlich bleibt zu konstatieren, dass in anderen römischen Festspielen ebenfalls Elefanten getötet wurden. Die Gesamtzahl geht in die Tausende. 65 Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, 1977: S. 251. 66 »Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie bemitleidet werden, und deshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden weh zu tun: das Mitleiden, welches Jene dann äußern, ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu tun. Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Überlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst […]«. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, II, Nr. 50. 67 vgl. die Textstelle in: Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 1130b9–1130b29. 68 vgl. die Textstelle in: Aristoteles, Politik IV, 1293a35–1293b22. 69 vgl. Miller (JR), Fred D., Aristotle and the Origins of Natural Justice, in: The Review of Metaphysics. A philosophical quarterly, 1996, S. 873–907: »Thus the best constitution can serve as a regulative idea for lawgivers and politicians, who should strive to approximate, as best they can in their particular circumstances, the ideal of mutually advantageous cooperation in a self-sufficient community aiming at the good life.« (S. 895). 70 vgl. die Textstelle in: Aristoteles, Politik VII, 1324a22–1325a17. 71 John-Stewart Gordon, Aristoteles über Gerechtigkeit. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik, 2007: S. 273. 72 Die folgenden Textstellen belegen die im Text gemachten Aussagen: Monarchie und Aristokratie sind die besten Staatsformen (Aristoteles, Politik IV., 1289a28–1289a39; Politik III., 1288a34–1288b2); die Monarchie ist die beste Staatsform (Nikomachische Ethik VIII., 1160a32–1160b22); und die Aristokratie ist der Monarchie vorzuziehen, wenn es genügend gute Menschen gibt (Politik III., 1286a32–1286b8). 73 vgl. https://www.uni-jena.de/190910_JenaerErklaerung.html. 74 Das Proletariat sieht sich nun selbst als treibende Kraft hinter dem notwendigen Geschichtsverlauf an, stürzt die Herrschaft der Kapitalisten und enteignet das Privateigentum der »Ausbeuter«. Es kommt für eine bestimmte Zeit zur sogenannten Diktatur des Proletariats. Sie hat das Ziel, die andere Klasse zu zerstören und sich damit ebenfalls als Klasse überflüssig zu machen. Am Ende steht die klassenlose kommunistische Gesellschaft, in der sich die Menschen in einer Vereinigung um die freie Entwicklung aller kümmern. 75 Wieder abgedruckt in der Fachzeitschrift Ethics in Progress, 6(1), 2015: S. 12– 16, hier: S. 15.
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Marx schreibt diesbezüglich in der Einleitung zu seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) folgendes: »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. […] Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr encyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. […] Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. […] Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. […] Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« (Deutsch-Französische Jahrbücher, 1844: S. 71 f.) 77 John Stuart Mill, Über die Freiheit, 1998: S. 16.
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