München 68 : Traumstadt in Bewegung
 9783862222773

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München 68 - Traumstadt in Bewegung

München 68

Traumstadt in Bewegung Karl Stankiewitz

„Wird es wirklich wahr, daß das stille Traumland

in lebendige Bewegung geraten?“ Heinrich Heine, 1843 im Pariser Exil, als deutsche Schriftsteller, Journalisten und Studenten („Junges Deutschland“) geistige Freiheit und Demokratie verlangten - und damit den Metter-

nich’schen Polizeistaat herausforderten

Volk Verlag München

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Taschenbuchausgabe 2018 © 2008 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23, 81673 München Tel. 089 / 420 79 69 80, Fax 089 / 420 79 69 86 www.volkverlag.de

Druck: KESSLER Druck + Medien GmbH, Bobingen Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. ISBN 978-3-86222-277-3

Inhalt

Vorwort

365 Tage, die eine Stadt veränderten: Reformstau, Revolte, Randale - und Resignation.................. 8

VorSpiel

München 67........................................................................ 13

Revoluzzer feiern Fasching.................................................. 16 Der drohende Notstand...................................................... 17 Was ist, was will die APO?.................................................... 19

Studenten

Alle Macht den Studenten!.................................................. 22

Drei Schicksale.................................................................... 24 Dreierbund der Mächtigen................................................... 27

Comeback der Rechten....................................................... 29 Permanente Revolution...................................................... 31 Vogel lenkt ein..................................................................... 34

Blutige Ostern..................................................................... 36 „Happening“ in Uniform..................................................... 40

Katz-und-Maus-Spiele........................................................ 43 „Rädelsführer“ und Idole.................................................... 45

Waffenruhe am Königsplatz.................................................51 Gewerkschaften oder Räte?.................................................54

Totale Reform der Hochschulen.......................................... 55 Olympia im Visier................................................................ 56

Teufel tanzt mit Justitia...................................................... 58

2.000 Verfahren schweben................................................... 62 Am Ende nur Resignation?................................................... 65

Polizei

Wie Fische im Wasser........................................................... 67 Mit gleichen Waffen............................................................. 69

Polizei gegen Saalschutz..................................................... 70 Zum Bürgerkrieg gerüstet?.................................................. 74 Zentrum der Waffenschieber...............................................77

Jugend

Jugendverbände mucken auf.............................................. 80

Ungehorsam und Sabotage................................................. 81 Gefühlte Solidarität............................................................. 84

Schüler sollen mitbestimmen............................................. 85 Gefängnis für Desertionstipps............................................. 87

Neue Sicht auf die Jugend................................................... 88

Subkultur führt ins „neue Land“.......................................... 90

Vorbilder

Im Geist der Weißen Rose?................................................... 93

Kleinkrieg um Lenin........................................

Parteien

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Es brodelt in der SPD.......................................................... 101

Ein „teuflisches Spiel“........................................................ 103 CSU ruft Futurologen......................................................... 106 CSU wagt „Sprung nach vorn“............................................ 108

CSU-Anleihe bei Marx........................................................ 109 CSU - Spitze des Fortschritts............................................. 111

Medien

Hetze und Verständnis........................................................ 115

Fernsehen als Unruhestifter?............................................. 118 Neues auf dem Boulevard................................................. 122

Theater

Mehr Demokratie im Theater..............................................125 Warnstreiks auf der Bühne................................................ 127

Pop und Polemik............................................................... 129

Lachen und Schießen........................................................ 132 Sex erobert die Bühne....................................................... 135 Explosion auf der Bühne....................................................137

Fassbinders „antiteater“....................................................140

Film

Des Jungfilms neue Welle................................................... 144 Jugend gegen „Nationalfilm“............................................. 147

„Die grünen Teufel“ verjagt................................................ 147

„Anderes Kino“ im Untergrund......................................... 148 Revolte mit Sprachbarriere................................................ 151

Kunst

Die Revolution sucht ihre Künstler..................................... 153

Ausbruch aus dem Kulturbetrieb....................................... 155

Heimkehr des Jugendstils................................................. 157 Posters, Pop, Psychodelic.................................................. 159

Nackter als nackt............................................................... 162

Die Kunst ist tot, ihr seid die Kunst..................................... 163

Kirche

Erst das Wissen, dann die Moral......................................... 167 Junge Protestanten planen Streik...................................... 170 Bischofsblatt macht böses Blut......................................... 172

Kirche und Kriegsdienst.................................................... 174 Raus aus dem Elfenbeinturm............................................. 176

Revolution der Religionslehre............................................179

Mode

Aufstand auf dem Laufsteg................................................ 182

Vom Salon zur Kommune.................................................. 185

Bauen

Ein Basar der Industriezeit.................................................. 187

Träume vom „befreiten Heim“.......................................... 189 Ein Haus für das Jahr 2000................................................ 192 Wohnen und Vergnügen.....................................................194

Eine City unter Dach.......................................................... 196

Nachspiel

München 69....................................................................... 199

Nachwort

Quovadis, Demokratie? .................................................... 208 Es kam, wie 68 nicht verhindert......................................... 209 Sturm auf die Tabus.......................................................... 214

Anhang

Erläuterungen....................................................................216

Literatur............................................................................ 221

Personenregister.............................................................. 222

Vorwort

365 Tage, die eine Stadt veränderten: Reformstau, Revolte, Randale - und Resignation Es war ein Jahr des Umbruchs und des Aufbruchs. Nicht nur in Berlin und Frankfurt, wo von Ausschreitungen studentischer Gruppen laufend zu berichten war, sondern auch und gerade in der „heimlichen Hauptstadt“ München, wo alle Schichten der Gesellschaft nach und nach erfasst wurden von zunächst schwer erklärlichen, scheinbar vorrevolutionären Strömun­

gen. Das legendäre Jahr 1968 also - in einer dynamisch gewachsenen Stadt,

die gleichsam zur „Hauptstadt einer neuen Bewegung“1 wurde. In dieser

größten bayerischen Hochschulstadt habe sich eine „einzigartige Atmo­

sphäre antiautoritärer und spontanistischer Aktionen“ entwickelt, die sich

merklich von der Situation in anderen Brennpunkten abgehoben habe, fol­ gerte Gerhard Fürmetz vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv aus vielen gesammelten Dokumenten.2 Ein ideales Tummelfeld für Lokalreporter und noch mehr für Korres­ pondenten auswärtiger Blätter, zu denen ich mich zählte. In diesem Job hatte ich mir seit den 50er Jahren angewöhnt, alle Ressorts „meiner“ politisch

unterschiedlich orientierten, aber im Grunde durchwegs liberal-demokra­

tischen Zeitungen3 zu bedienen. Als da waren: Stadt- und Landespolitik, die ganze Palette der Kultur, das sogenannte Vermischte, das in einigen Redaktionen auch „Buntes“ oder ähnlich hieß und als Lesestoff hoch geschätzt war, die Wissenschafts-, Reise- und Motorseiten. Auch Wochen­

end- und selbst Modebeilagen, wie sie damals noch üblich waren, blieben von meinem Fernschreiber nicht verschont. Nur den Sport (abgesehen von

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der vor- und nacholympischen Berichterstattung) habe ich vernachlässigt;

hier fühlte ich mich nicht kompetent genug. Da gab es nun reichlich zu tun für unsereiner. Fast täglich war Neues,

Seltsames, Umwälzendes zu berichten. Viele kleine Revolutionen fanden auf der Schaubühne München statt. Überall probte man den Aufstand. Der

stürmische Geist der Zeit drang in alle gesellschaftlichen Institutionen und

Formationen, durch alle Ritzen und Verwerfungen. Da und dort drohte dieser politische Tsunami das Unterste zuoberst zu kehren. Die „politische Protestbewegung“ wurde tatsächlich zum „Motor gesellschaftlicher Verän­

derungen“ (Fürmetz).

Bewegt, unterspült, verändert von der gesellschaftspolitischen Flut­ welle wurden fast alle Massenorganisationen, vom Jugendverband bis zum

Gewerkschaftsbund. Berührt wurden aber auch Theater und Film, Kunst und Wissenschaft, die Kirchen und das Bauwesen, Medien und Mode, die Pädagogische Provinz und die politischen Parteien. Zeitweilig bebte sogar die Ordnungszelle CSU, obzwar festgefügt wie ein erratischer Block durch

Franz Josef Strauß4, der jeglichem vermeintlichen Zeitgeist trotzte. Nicht der Zeitgeist, sondern Zeitgeschehen, ein Stück Zeitgeschichte war journalistisch zu erfassen, war festzumachen an Ereignissen und Beobachtun­ gen. Aus meinen in jenem Jahr veröffentlichten Münchner Meldungen,

Reportagen und Analysen sowie aus Erinnerungen und einigen dokumen­ tierten Quellen5 ist dieses Buch entstanden.

Meine Texte habe ich möglichst im Original wiedergegeben, woraus die Sichtweise von damals zu erkennen ist; manches sehe ich heute anders. Vielleicht war doch nicht alles, was sich auch liberalen oder links eingestellten

Zeitgenossen als allzu schrill und anarchisch dargestellt hatte, nur oberfläch­ liche Gaudi. Das „Happening“6 war ja damals eine Spielart öffentlicher Dar­ stellung. Zumindest könnten parallel verlaufene Veränderungen außerhalb der studentischen „Umtriebe“ auf tiefer liegende Strömungen hinweisen. Da die „68er-Bewegung“ kein isoliertes Geschehen war, das sich etwa

am Vietnamkrieg entzündet hat, fand sie mit dem Jahr 1968 keineswegs ihr Ende. Vielmehr war auch das ganze Folgejahr in München noch voller

reformerischer bis utopischer Ansätze auf vielen Gebieten. Vor allem aber

zeitigte es als Spätlese, wie schon die „Schwabinger Krawalle“ von 1962, einen Rattenschwanz von Strafverfahren gegen die Aufsässigen, die man­ che Richter fast wie Aufständische bewerteten und im Geist des 19. Jahr­

hunderts wegen Auflaufs, Aufruhrs oder Landfriedensbruch reihenweise

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MÜNCHEN 68 - VORWORT

aburteilten. Einige der Münchner Ereignisse des Jahres 1969 füge ich, wie­ derum aufgrund meiner damaligen Berichterstattung, als gesondertes Kapi­ tel in Kurzfassung an.

Erst im Verlauf des Jahres 1970 verebbte die Sturmflut, die neuere For­ schungen als „soziale Bewegung“ durchaus positiv qualifizieren. Unter den Veränderungen, die ihr vollends den schon flau gewordenen Wind aus den

Segeln nahmen, seien erwähnt: •

das Scheitern des Volksaufstands in der benachbarten CSSR, der viele junge Deutsche angefeuert und ihnen danach manche Illusionen geraubt

hatte, sowie der Rücktritt des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, gegen den sich der erste, bahnbrechende Studentenprotest gerichtet hatte (beides im April 1969); die Ablösung der konfliktscheuen, ungeliebten Großen Koalition durch

eine sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt, der „mehr Demokratie wagen“ wollte (Oktober 1969);

die Selbstauflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im März 1970;

die beginnende Annäherung zwischen BRD und DDR und die begin­

nenden Abrüstungsgespräche zwischen den beiden Weltmächten (beides Frühjahr 1970) sowie der deutsch-sowjetische Vertrag zum Gewaltver­

zicht; die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre, die Ausweitung der Mit­

bestimmung und nicht zuletzt die Große Strafrechtsreform (alles noch

1970), die den größten Teil der abgeurteilten Demonstranten amnes­ tierte.

Deren „harter Kern“ indes, darunter auch früher in München ansässige

„Rädelsführer“7, übernahm und realisierte eine Parole der südamerika­ nischen und italienischen Guerilla: „Der Kampf geht weiter.“ Eine nun

wirklich winzige Minderheit, die allerdings einen größeren Sympathisan­

tenkreis hatte, tauchte ab in den Untergrund und verunsicherte die Bundes­ republik als „Rote Armee Fraktion“ (RAF) oder unter anderen Komman­

donamen noch viele Jahre lang. Auch in München kam es zu tödlichen Anschlägen gegen den „militärisch-industriellen Komplex“ und einige sei­ ner Exponenten. Wie das besondere Münchner Jahr 1968 von denen, die „dabei“ waren, heute im Rückblick gesehen wird, habe ich bei einigen der

noch lebenden Personen, die in den verschiedenen Kapiteln genannt sind,

MÜNCHEN 68

VORWORT

nachgefragt und zu den entsprechenden Kapiteln eingefügt. Auch habe ich einige jüngere Experten, die vielleicht einen anderen Blickwinkel haben, um Kurzkommentare zu dem sie betreffenden Sachgebiet gebeten.

Im Nachwort-Teil dieses Buches äußern sich ausführlicher: für die auf­

begehrende Linke der damalige Kabarettist Reiner Uthoff, für die staat­ lichen Ordnungshüter der damalige bayerische Innenminister Bruno Merk

und für die zwischen den Fronten stehenden Medien der damalige Student und heutige Rundfunkintendant Thomas Gruber (ihnen und dem Betreuer

des APO-Archivs, Heinz Koderer, danke ich ganz besonders für ihre Koope­ ration). So soll das nun 40 Jahre alte Bild, das immer noch vielfach unklar, verzerrt und lückenhaft ist, von daher nachträgliche Kontur oder auch Kor­ rektur erfahren. Karl Stankiewitz, September 2007

Eine Revolte, kein Spiel Vorwort zur Taschenbnchansgabe Als der Autor vor gut zehn Jahren daran ging, seine Berichte und Erinne­ rungen vom Jahr 1968, das ihn als Münchner Zeitungs-Korrespondent wie kaum ein anderes Jahr gefordert hatte, in ein Buch zu fassen und zu reflek­

tieren, da bat er eine Reihe von direkt oder indirekt betroffenen Zeitzeugen um ihre Meinung „aus heutiger Sicht“. Damals, 2008, war die Sicht 40 Jahre

zurück auf das Geschehen keineswegs ausgereift und einhellig. Zu jung war noch die Geschichte. Einige der Protagonisten wollten sich überhaupt nicht äußern, es wäre ja einem Bekennen gleichgekommen. Die meisten sind inzwischen verstorben. Sie sollen trotzdem in dieser Neuauflage meines

Buches „München 68. Traumstadt in Bewegung“ noch einmal mit ihren unveränderten Spontan-Äußerungen zu Wort kommen. Unverändert oder nur leicht gekürzt sind auch die übrigen Texte.

Inzwischen sehen Publizistik und Geschichtsschreibung die Ereignisse offenbar klarer, als es ihnen 40 Jahre danach möglich war. Im Jahr 2018, hun­

dert Jahre nach einer echten Münchner Revolution, dominiert für 1968 ein gemeinsamer Oberbegriff. Daniel Cohn-Bendit, einer der Anführer, hatte sein

Buch schon 2008 mit „Die Revolte“ betitelt, während der Altlinke Reinhard

Mohr damals eine „Rebellion“ und Norbert Frei, Kapazität für Zeitgeschichte,

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MÜNCHEN 68 - VORWORT

eine „Jugendrevolte“ bilanzierten. Die „Gesellschaftsgeschichte einer Revolte“

(Christina von Hodenberg, Professorin für Europäische Geschichte) kündigt der Beck Verlag als Neuerscheinung an und der Unrast Verlag den Titel „Lektüre & Revolte“ (Gerhard Hanloser, Sozialwissenschaftler).

Bleiben wir also nunmehr dabei: Es war eine Revolte. Und keine Spielerei mit einer wie immer gemeinten Revolution. Es war eine Revolte, die von vielen für vieles, was seither in Deutschland geschehen ist, verantwortlich gemacht wird. Meist wohl zu Recht. Im Großen und Ganzen werden die Folgen für die demokratische Gesellschaft heute vielleicht sogar noch etwas positiver gesehen als vor zehn Jahren. Allerdings konnte auch nicht ausblei­

ben, dass „die Revolte“ von rechts her nach wie vor heruntergezogen wird, ganz tief in den Dreck. Das Anprangern der „links-rot-grün versifften 68er“

durch einen populistischen Partei­ führer kann aber getrost als Außenseiter-Meinung beiseitegelegt wer­

den.

Das vorliegende Buch hat ein Reporter geschrieben, für den - von der Pike auf - der Grundsatz galt, bei seinen Berichten die eigene

Meinung gegenüber den Fakten

hintanzustellen. Dass dies ange­ sichts von gelegentlichem Chaos und Emotionen nicht immer hun­

dertprozentig möglich war, mag nun wiederum der verständige Leser hintanstellen. Karl Stankiewitz,

Januar 2018 ... und 1968

VorSpiel

München 67 Im Februar 1967 zogen Studenten der beiden Münchner Universitäten zusammen mit Gewerkschaftsjugend durch die Innenstadt, um gegen die

geplante Erhöhung der Straßenbahntarife um 20 bis 25 Prozent zu protes­

tieren. Anders als in Köln, wo es aus gleichem Anlass zu einer Straßen­ schlacht mit der Polizei gekommen war, verteidigte Oberbürgermeister Vogel ausdrücklich das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit. Bald mehrten sich organisierte, aber auch „wilde“ Demos, Umzüge, Sprech­

chöre, Sitzstreiks vor dem US-Konsulat, die nun nicht mehr das „Trambahn-Zehnerl“ verdammten, sondern den eskalierenden Vietnamkrieg:

„Die echten Fronten stimmen nicht mehr mit den Parteigrenzen überein“

- auf diesen Nenner brachte der Münchner CSU-Fraktionsvorsitzende Hans Stützle die sich ankündigenden Veränderungen in der bayerischen Politik. In der SPD riefen Junggenossen zu einem oppositionellen Kongress über „demokratischen Sozialismus“ und sprachen der Großen Koalition in Bonn ihr Misstrauen aus. Die CSU wollte sich aus der Umarmung der

Stadtratsfraktion durch OB Vogel befreien und lieferte sich deshalb eine

fünfstündige Redeschlacht. Und in der FDP spitzten sich die Gegensätze zwischen Liberalen und Konservativen zu, Hildegard Hamm-Brücher „emigrierte“ nach Hessen.

Auf der Bühne wurden neue Töne laut. In der Müllerstraße eröffnete das „Action-Theater“, dessen Regisseur Rainer Werner Fassbinder hieß. In

Schwabing spielte ein „Mittagstheater“ mit den Bildungsgütern des Abend­ landes. Der 39-jährige Kelle Riedl tingelte mit „purem Theater“ durch die

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MÜNCHEN 6«

VORSPIEL

Vorstädte. Der 22-jährige Martin Sperr spielte im Werkraumtheater einen

bösen Strichjungen, nachdem in den letzten 15 Monaten in München fünf Homosexuelle vermutlich von asozialen Jugendlichen ermordet worden waren. Auf einer „Lesebühne“ wurde das erste Antivietnamkriegs-Musical

aufgeführt. Die Kirche stand ebenfalls an einem Wendepunkt. Der 33-jährige neue

Direktor der Katholischen Akademie, Franz Henrich, stellte eine gewisse Skepsis und Distanzierung bei den Gläubigen gegenüber dem zaghaften römischen Konzil fest und namhafte Theologen forderten „Mut und Wag­ nis zum Neuen“. Auch in der Kunstszene erschienen junge „Provos“, die mit roter Tinte und roter Grütze gegen Autoritäten anrannten. In der Jahres­

schau im Haus der Kunst griffen radikale Realisten wie der 26-jährige Uwe Lausen das alte Motiv von Macht und Menschenschinderei auf. Am 1. Juni kam es nach dem Gala-Abend für Schah Reza Pahlavi und

Gemahlin vor der Oper zu einem Krawall. Der im Frack gekleidete Polizei­ präsident Manfred Schreiber packte einen neugierigen Statisten, den er für

Der Vietnamkrieg, der Schah-Besuch und die beginnende Diskussion über Notstands­ gesetze trieben schon 1967 besorgte Bürger auf die Straße (Foto: Stadtarchiv München)

MÜNCHEN 68

VORSPIEL

einen Rädelsführer hielt, am Hals und überließ ihn Zivilbeamten zu etwas härterer Behandlung; später verhalf er ihm zu einem Job, doch der junge

Mann kam zusammen mit 15 Kommilitonen wegen Verstoßes gegen das

Versammlungsgesetz und Beleidigung eines ausländischen Staatsober­ haupts vor Gericht. Am Abend des 2. Juni flog das persische Kaiserpaar von München nach

Berlin, wo es vor dem Schöneberger Rathaus viel lautstärkere Protestchöre und „Mörder“-Rufe empfingen; dabei wurde der Romanistik-Student Benno Ohnesorg vom Polizeihauptwachtmeister Kurras niedergeschossen.

Wenn der Jugend die Selbstbestimmung, Spontaneität und Mit­

verantwortlichkeit nicht gewährleistet seien, käme es leicht zum Ausbruch des jugendlichen Eifers und des besonderen Rechtsgefühls, warnte der Soziologe Gerhard Wurzbacher vom Deutschenjugendinstitut in München. Notfalls zögen die jungen Menschen dann auf die Straße - als Zeichen des

Interesses. Im Juli löste sich der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) von

der Partei, in der es „keine echte Sozialdemokratie mehr“ gebe, und driftete

ins linke Lager, wo die neuen Bundesgenossen vom Sozialistischen Deut­ schen Studentenbund (SDS), dem Liberalen Studentenbund und anderen Gruppen mit offenen Armen aufgenommen wurden. Wenige Tage später klagte der AStA-Vörsitzende Rolf Pohle: „Selbst in der fortschrittlichsten

Polizei Deutschlands, in München, wird grundsätzlich danach unterschie­

den, ob eine Demonstration staatstragend ist oder nicht.“ Im Dezember berieten „sozialistische und unabhängige Schüler“, ob sie das bayerische Kultusministerium verklagen sollten, weil ihnen verwehrt worden war, über Mitbestimmung, Bundeswehr und Sexualaufklärung zu

diskutieren. Da aber keiner der Jungrevoluzzer volljährig war, wäre die Zustimmung der Erziehungsberechtigten nötig gewesen. Bevor das Jahr 1967 endete, hat der Autor dieses Buches in außerbaye­

rischen Zeitungen die Lage so kommentiert: „Die Große Koalition und das sozialdemokratische Parteipräsidium werden sich im neuen Jahr auf hefti­

ges Störfeuer aus Bayern gefasst machen müssen. Der traditionell linke Unterbezirk München, einer der mitgliederstärksten und einflussreichsten

Ortsverbände der SPD, hat die Rolle eines Kaders der innerparteilichen Opposition übernommen.“

Inzwischen aber hatte sich, nicht nur in München, eine immer stärker werdende „Außerparlamentarische Opposition“ formiert, abgekürzt APO.

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VORSPIEL

Revoluzzer leiern Fasching Fröhlich sollte das Jahr beginnen. Fasching wurde erst einmal gefeiert, nicht irgendeiner, sondern ein jubilierender. Vor 75 Jahren hatte der Kaminkehrer­

meister Mayer die inzwischen offiziöse Gesellschaft „Narrhalla“ gegründet.

Seither widmete sich dieser „bürgerliche Verein“ - so bestimmte es die Sat­ zung - der „Schaffung eines großen Carnevals und der Veranstaltung von öffentlichen Lustbarkeiten“ und so weiter. Nun hätte man ja schöne nostalgische Erinnerungen erwarten dürfen:

an Höhepunkte heiterer Lebensart, an das Ventil der Freude in harten oder stürmischen Zeiten, an das Ganzanderssein, das die Münchner immer so narrisch machte, wenn „diese Bewegung, die vielleicht das Leben war,

durch die Straßen der Stadt brauste“, wie der Dichter Wilhelm von Scholz die Stimmung der Jahrhundertwende wiedergegeben hatte.

Doch in der offiziellen Festschrift fanden sich ganz andere Namen und

Geschehnisse. Da tauchte zum Beispiel der Anarchist Erich Mühsam auf

mit seinen Erinnerungen an eine gute alte „Traditionspflicht“. Ein Mädchen namens Marietta „verschönte jedes Fest durch die allmählich zur lieben Gewohnheit werdende Überraschung, dass sie gegen ein Uhr beim Tanzen ihre Hüllen fallen ließ und unter gutmütigem Beifall der übrigen nackt weiter­ tanzte“. Inzwischen ist Marietta eine alte Dame, die immer noch gelegentlich

freche Lieder singt und den Schwabinger Kunstpreis bekommen hat. Solche Tradition wurde indessen vor allem von den „Schwabinger Modellbällen“ fortgeführt. Doch selbst der hochoffizielle Presseball 68, an dem Prominenz aus München und Bonn teilnahm, zeigte sich im Jubeljahr

ziemlich offenherzig: Als Mitternachtsattraktion traten Mädchen aus Guinea

mit schokoladenbraunem Oben-Ohne-Charme auf. Eine Novität war auch die Einladung an den Bonner Sowjetbotschafter Zarapkin zum etwas hochnäsigen „Madame-Ball“. Moskaus Mann kam

auch tatsächlich mit Ehefrau und Gefolge nach München und äußerte unter

dem Flitterhimmel des Deutschen Theaters seine Bewunderung für das „talentierte und lustige bayerische Völk“. Und die schwarze Virginia Lee

servierte vor der Weißwurstpause einen kommerzialisierten Protestsong („Sag mir, wie viel Tränen muss weinen ein Kind ...“), der zu der kapitalis­ tisch-kommunistisch-snobistischen Gaudi wie die Faust aufs Auge passte. Ein Anarchist, ein Kommunist und ein paar nackte Dinger - eine tolle

Jubelfeier hatten sich die Narrhallesen da einfallen lassen. „Ja, sans denn jetzt alle narrisch worn?“ pflegte der ehemalige Oberbürgermeister Thomas

MÜNCHEN 68 - VORSPIEL

(„Dammerl“) Wimmer zu raunzen, wenn er manchmal die politischen Schlin­ gerungen in seiner „Münchnerstadt“ nicht nachvollziehen konnte oder wollte. Na gut, Erich Mühsam war nicht nur Linksaußen, Berliner und Bohe­ mien, sondern auch Dichter wirklich lustiger Verse. Jener von dem braven

Manne, „welcher revoluzzt und dabei noch Lampen putzt“, könnte durch­

aus als Motto für die bevorstehenden Geschehnisse herhalten. Und auch die „Soffjets“, wie Bundeskanzler Adenauer zu sagen pflegte, wurden in dieser

tollen Zeit in München zunehmend gesellschaftsfähig. Ihr Gründervater

Lenin, dem die Stadt schon während der Emigration ihre ganze Gastfreund­ schaft offenbart hatte, würde bald zu großen Ehren kommen (siehe Kapitel

„Kleinkrieg um Lenin“).

Der drohende Notstand Das politische Jahr begann mit einem Paukenschlag. „München, einst Hit­

lers ,Hauptstadt der Bewegung', ist der Ausgangspunkt einer kraftvollen,

überparteilichen Gegenbewegung aller wahren Demokraten.“ So hieß es auf einem Flugblatt, das Mitte Januar in Riesenauflage aus der Druckpresse kam. Gleichzeitig erschienen in den großen Zeitungen kleine Anzeigen­

blöcke mit dem Aufruf: „Nochmal? Nicht mit uns!“ Das „O“ zierten Hitlertolle und Bartbürste - als Blickfang und Symbol. Symbol für „Restauration, Neofaschismus und Notstandspläne“, gegen die sich das Flugblatt aus­

sprach. Es sagte aber auch, wofür es agitierte: „Für Fortschritt, Frieden,

Freiheit.“ Das Flugblatt wollte den Staub aufwirbeln, der sich im Gefolge der Großen Koalition unter einem Kanzler, der Mitglied der Nazipartei gewesen war, in deutschen Landen abgelagert hatte und der nach Meinung kritischer Zeitgenossen immer mehr die politische Problematik, die frucht­

bare Auseinandersetzung um Grundfragen, die gesellschaftlichen Risse zuzudecken drohte. Hinter dieser neuesten „Nestreinigungsaktion“ stand ein solider Block

von Persönlichkeiten und Organisationen. Sie schlossen sich im Europä­ ischen Hof hinter spanischen Wänden zu einer „Demokratischen Aktion“

zusammen, in der Hoffnung, eine breite Kampagne im ganzen Bundes­ gebiet anstoßen zu können. „Wenn die, die sich Demokraten nennen, ihre Pflicht nicht erfüllen, müssen wir alle die unterstützen, die wie Demokraten handeln“, hieß es im Aufruf zu einer Kundgebung im Deutschen Museum.

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MÜNCHEN «8- VORSPIEL

Zu den über 150 Unterzeichnern gehörten Politiker von SPD, FDP und

Deutscher Friedensunion, zahlreiche Professoren (darunter Nobelpreisträger Max Born), die Schriftsteller Heinrich Böll, Günther Weisenborn, Hans Hell­

mut Kirst, Herrmann Mostar und Gerhard Zwerenz, die Verleger Kurt Desch, Gerhard Szczesny und Rolf Heyne, die Publizisten Ernst Müller-Meiningen und Helmut Lindemann, die Gewerkschaftler Wilhelm Gfeller (Vorsitzender der IG Chemie) und Georg Benz vom Vorstand der IG Metall, der frühere Daimler-Benz-Generaldirektor Fritz Koenecke und Generalstaatsanwalt

Fritz Bauer. Den Vorsitz übernahmen die Schriftsteller Frank Arnau und Bernt Engelmann sowie Xaver Senft vom Deutschen Gewerkschaftsbund.1

Auf der Massenkundgebung am 35. Jahrestag der „Machtergreifung" Hitlers sprachen außer den Unterzeichnern des Aufrufs die Kabarettisten Ursula Herking und Dieter Hildebrandt (obwohl ihn einer der Mitgründer

als „politischen Kasperl“ abtat) sowie die Schauspieler Paul Dahlke, Hans Clarin und Siegfried Lowitz (sie lasen Texte von Brecht und Tucholsky). Mitunterschreiberin Hildegard Hamm-Brücher, hessische Staatssekretärin

aus Bayern, war als „liberale Stimme“ eingeplant, musste aber zum FDP-Parteitag. Die Ostberliner Diseuse Gisela May war in Polen. Und der Westber­ liner Revoluzzer Rudi Dutschke wurde vom Vorstand wieder ausgeladen,

was zu einer „gewissen Unzufriedenheit“ führte. Hildegard Knef, „die auf unserer Seite steht“, konnte auch nicht. Die Veranstaltung am 31 .Januar endete mit Tumulten. Als Frank Arnau

vor 3.000 Menschen sagte, die Zeit sei vorbei, in der „ein schmieriger brau­ ner Mob“ eine demokratische Versammlung zusammenschlagen könne, begannen die von rund 300 NPD-Anhängern angezettelten Tumulte. Unter

andauerndem Störfeuer stellte der Schriftsteller Günther Weisenborn fest, es gebe in der Geschichte Deutschlands keinen Krieg, der nicht von rechts

vorbereitet worden sei. Deshalb sei es höchste Zeit, sich wieder gegen Rechtsradikalismus und Restauration zu rüsten. Als es zu Prügelszenen mit

den Saalordnern kam, brach der 57 Jahre alte Rentner Carl Hoffmann

zusammen, er starb im Krankenhaus an einem Herzschlag. Die Revolution hatte ihr erstes Opfer.

Der Paukenschlag von München wurde trotzdem in der Republik kaum gehört. Doch der Widerstand gegen politische Stagnation und Restauration

verstärkte und zersplitterte sich, die Fronten wurden zunehmend unüber­ sichtlich, sodass der Autor dieses Buches im Februar den folgenden Lage­ bericht veröffentlichte:

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Was ist, was will die APO? Ein Gespenst geht um in der Bundesrepublik - das Gespenst der „Außer­

parlamentarischen Opposition“. Alle Mächte des „Establishments“ haben sich, unter dem Vorwand der Abwehr des Radikalismus, zu einer heiligen

Hetzjagd gegen dieses Gespenst namens APO verbündet: besorgte Politi­ ker und Polizisten, Ämter-Patrone und eine gewisse populäre Presse. Schon gefällt sich ein bayerischer Staatssekretär a. D., ein Sozialdemokrat ausge­

rechnet, mit der Drohung, die soldatischen Traditionsverbände gegen die

Unruhestifter zu mobilisieren. Sollen wieder Freikorps die Freiheit retten?

Zweierlei geht, um weiter das bildkräftige „Kommunistische Manifest“ abzuwandeln, aus diesen Tatsachen hervor: Die „Außerparlamentarische Opposition“ wird bereits von allen bestehenden Mächten als neue Macht anerkannt. Und es ist höchste Zeit, dass deren Repräsentanten ihre An­

schauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen offen darlegen. Das ist bis zum damaligen Zeitpunkt nicht geschehen. (Nur die studentische Oppo­

sition wird ausführlich, vielseitig und gelegentlich missverständlich analy­ siert). Und deshalb quält, streitet, ängstigt man sich einstweilen noch mit einem Gespenst, einem bloßen Schlagwort, herum.

Die APO will der Justiz an den Kragen In München neue Aktionen geplant

Es erscheint ein Buch, hektographiert und schlecht gebunden, das Klar­

heit schaffen will. Der Münchner Autor und Kleinverleger Rolf Seeliger, der mit seiner Reihe „Braune Universität“ ein wenig zur fruchtbaren Unruhe an den Hochschulen beigetragen hatte, versucht erstmals, eine Gesamtüber­ sicht über die Außerparlamentarische Opposition. Er stellt Gruppen vor, nennt Wortführer und Hintermänner, deckt Querverbindungen, Reibungs­

flächen und Mitgliederstärken auf, zitiert Programme, Manifeste, Proteste, Aufrufe, verfolgt die wachsende Entfremdung von den Parteien und unter­

sucht schließlich Chancen und Gefahren, Macht und Ohnmacht dieser

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noch ungefügten Opposition. Zu vielfältig und unterschiedlich sind die

einzelnen Gruppen und Grüppchen, als dass sie auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Im politischen Spektrum reicht diese

Opposition etwa von der „Vereinigung unabhängiger Sozialisten“, die mit

strenggläubigem Marxismus die Welt verändern will, bis zu den Nationa­

len, Neutralisten und Rechtsdemokraten, die eine „Deutsche Volkspartei“ gegründet hatten. ‘ lr.c-.!n< «fch.nlllch HRidprfl, DM O.M

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apo press® Informationsdienst für die Außerparlamentarische Opposition

Können sie jemals zusammen­ finden? Das erscheint zunächst

freilich schon angesichts der Tatsa­ che fraglich, dass einige Gruppen nicht nur mit den parlamenta­

rischen Parteien und der jewei­ ligen „Konkurrenz“, sondern auch noch intern zerstritten sind. Zum

Beispiel verträgt sich die in München gegründete, lautstarke „Humanistische Union“ nicht mit der „Humanistischen Studenten­ • Gegen das iewshnkgesetz •

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