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German Pages 513 [516] Year 2011
MITTELHOCHDEUTSCH BEITRÄGE ZUR ÜBERLIEFERUNG, SPRACHE UND LITERATUR
Mittelhochdeutsch Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag
Herausgegeben von Ralf Plate und Martin Schubert zusammen mit Michael Embach, Martin Przybilski und Michael Trauth
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026234-6 e-ISBN 978-3-11-026235-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort der Herausgeber Am 20. Juni 2011 feiert Kurt Gärtner seinen 75. Geburtstag. Zu der Festschrift, die ihm aus diesem Anlass gewidmet ist, haben sich Freunde, Kollegen und Schüler zusammengetan, um den Jubilar zu ehren und ihm vielfältigen Dank abzustatten: für seine energisch fördernde Teilnahme an aktuellen Entwicklungen der Mediävistik und germanistischen Sprachgeschichte; für seine freundliche und verlässliche Kollegialität, die schon immer weit über die engere Wirkungsstätte an der Universität Trier hinausreichte und sich seit der Pensionierung 2001 noch stärker als zuvor in vielfältigen Aufgaben der Wissenschaftsorganisation bewährt hat; und nicht zuletzt für seine seit 1990 bzw. 1994 bis heute unvermindert tatkräftig leitende Mitwirkung an zwei Langfristvorhaben der Akademien in Berlin und in Mainz und Göttingen, den ‘Deutschen Texten des Mittelalters’ und dem neuen ‘Mittelhochdeutschen Wörterbuch’. Der thematische Bezug der Beiträge auf das Mittelhochdeutsche, um den in der Einladung zu dieser Festschrift gebeten wurde, bot vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten an Arbeiten und Interessen von Kurt Gärtner. Im Ergebnis, das durch die lockere Gruppierung der Beiträge in solche zur Literatur, Sprache, Rezeption und anderes in seiner thematischen Breite nur angedeutet ist, werden zentrale Arbeitsgebiete des Jubilars beleuchtet: die Mariendichtung, der die Habilitationsschrift von 1978 gewidmet ist, überhaupt mittelhochdeutsche Bibelepik und Bibelübersetzung in Vers und Prosa, die in zahlreichen mit der Habilitationsschrift in Verbindung stehenden früheren und späteren Arbeiten Kurt Gärtners erschlossen werden; das Frühmittelhochdeutsche, besonders der an seinem Beginn stehende lateinisch-deutsche Hohelied-Kommentar Willirams von Ebersberg mit seiner langen Überlieferung bis ins Spätmittelhochdeutsche; Hartmann von Aue, dem Kurt Gärtner als Bearbeiter der wissenschaftlichen Editionen des ‘Erec’ und des ‘Armen Heinrich’ besonders verpflichtet ist; Wolfram von Eschenbach, dessen eigenwilligen Sprachstil er in der anregenden Umgebung der Marburger ‘Willehalm’-Arbeitsstelle studieren konnte und in seiner 1968 abgeschlossenen Dissertation behandelt hat; schließlich das weite Gebiet von Grammatik und Lexik des Mittelhochdeutschen in Literatur- und Urkundensprache, dem mehrere fruchtbare Forschungsprojekte Kurt Gärtners gewidmet waren – ihr Bindeglied im Sprachgebrauch ist die historische Syntax, als deren profunder Kenner sich bereits der Doktorand ausgewiesen hatte. Birgitta Zeller-Ebert hat als Cheflektorin die Aufnahme der Festschrift in das Programm des Verlags de Gruyter freundlich befürwortet und zusammen mit Daniela Zeiler die Herausgeber bei der Herstellung beraten. Bei schwierigen Satzaufgaben ist Michael Trauth in Trier von Ute Recker-Hamm und Niels Bohnert in der souveränen Handhabung der TUSTEP -Programme unterstützt worden. In Berlin hat Elke Zinsmeister an der Korrektur des Bandes mitgewirkt. Ihnen allen möchten die Herausgeber auch an dieser Stelle herzlich danken. Trier / Berlin, im Mai 2011
Inhalt
Ernst Hellgardt Zur Priester Wernher-Edition. Ein Vorversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Nigel F. Palmer A Fragment of ‘König Rother’ in the Charles E. Young Research Library in Los Angeles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
Yoshihiro Yokoyama Zu ‘Erec’ v. 6125. Ein Plädoyer für Haupts Konjektur . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Wolfgang Haubrichs Erzählter Wahnsinn. Zur Narration der Irrationalität in Chre´tiens ‘Yvain’ und Hartmanns ‘Iwein’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Werner J. Hoffmann Die ‘Iwein’-Handschrift a (Mscr. Dresd. M.175) – ein Zeugnis jüdischer Rezeption der mhd. Artusepik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Jens Haustein Nichterzählte Geschichten. Zur Minnelyrik Hartmanns von Aue . . . . . .
83
David Yeandle Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede als Mittel der Charakterisierung in der Soltane-Episode im III . Buch des ‘Parzival’ . . .
94
Martin H. Jones Vivianz, der reuige Schächer und das gute Sterben im ‘Willehalm’ Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Wolfgang Achnitz Verlorene Erzählwelten. Zum poetologischen Ort fragmentarischer Artusromane am Beispiel der Neufunde zu ‘Manuel und Amande’ . . . . . . . . . . 132 Karin Schneider Die Eckhart-Handschrift M 1 (Cgm 133) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
Freimut Löser Neues vom Österreichischen Bibelübersetzer. Proverbia, Ecclesiastes und die Verteidigung der Laienbibel in der ‘Vorrede I’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
VIII
Inhalt
Niels Bohnert Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift. Vergleichende Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
John L. Flood Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’ aus der Frühdruckzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Frank Shaw Marozia, die Totgeschwiegene. Zu den gesäuberten Papstgeschichten der mittelhochdeutschen Chronistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Bernhard Schnell Das ‘Prüller Kräuterbuch’. Zu Überlieferung und Rezeption des ältesten deutschen Kräuterbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
Rudolf Bentzinger Mittelniederdeutsch und Mittelhochdeutsch in den Kanzleien Halberstadts
295
Thomas Klein und Eva Büthe Regularisierung des Irregulären. Zur Geschichte der Verbgruppe um gehen und stehen im Mittelfränkischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Birgit Herbers Zur Apokope im mittelhochdeutschen Verbsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
Norbert Richard Wolf do-Sätze am Wendepunkt. Versuche einer zeitlinguistischen Lesung von Oswalds von Wolkenstein Kl 18 ‘Es fügt sich’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
342
Gerhard Diehl Sprachschöpfung im Feld des Unsagbaren. Beobachtungen zum ‘Bamberger Glauben und Beichte’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
Jürgen Wolf hövesch – Verwirrende Beobachtungen zur Genese der deutschen Hofkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
Thomas Gloning Humoraler Wortgebrauch in der Prosavorrede zum deutschen ‘Macer’ (13. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Inhalt
IX
Karl Stackmann Lexikograph und Editor. Über eine nicht immer von Spannungen freie Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
Wernfried Hofmeister Mich nimt des michel wunder – Neue Technik(en) zur textfunktionalen und übersetzungspraktischen Erschließung historischer Phraseologismen, veranschaulicht am ‘Nibelungenlied’ und Neidharts Sommerlied 21 . . . . 393 Wolfgang Kleiber Auf dem Dossen. Ein galloromanischer Findling im Oberen Wiesental am Belchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
418
Waltraud Fritsch-Rössler Mittelalterliche Dichtung im Visier. Markus Werners Rezeption des ‘Armen Heinrich’, der ‘Melusine’ und von ‘Der Welt Lohn’ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
Ulrich Müller Zur heutigen Aussprache des Mittelhochdeutschen. Eine nur scheinbar triviale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
Va´clav Bok Tschechische Übersetzungen altdeutscher literarischer Texte seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459
Michael Embach Die Protoplasten in der Sicht Hildegards von Bingen. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie des 12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
471
Michael Embach, Claudine Moulin und Andrea Rapp Die mittelalterliche Bibliothek als digitaler Wissensraum. Zur virtuellen Rekonstruktion der Abteibibliothek von Trier-St. Matthias . . . . . . . . . . . .
486
Roy A. Boggs Shane, John Wayne, and Dick Tracy too: The 21st Century ›Enabling‹ Philologist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur Priester Wernher-Edition Ein Vorversuch
von Ernst Hellgardt
Die Editionsgeschichte zu Priester Wernhers ‘Maria’ hat Kurt Gärtner 1971 bündig zusammengefasst.1 Seither ist das außer Frage stehende Desiderat einer neuen Ausgabe unerfüllt geblieben. Die Überlieferungsfrequenz von Wernhers Dichtung ist für einen Text aus der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts beträchtlich, zumal wenn man bedenkt, dass der erhaltene Bestand höchstens die Hälfte dessen bezeugt, was an Handschriften vorauszusetzen ist. Bekannt sind zurzeit zwei (fast) vollständige Handschriften (D und A) sowie Fragmente von sechs weiteren. Der größte Neufund gelang 1968 Kurt Gärtner,2 kurz vor dem 700. Jahr seit Entstehung des Werkes, das bekanntlich genau auf das Jahr 1272 datiert ist. Der Überlieferungsbestand lässt sich chronologisch und regional nach aktuellen Datierungen und Schreibsprachbestimmungen durch Karin Schneider und Kurt Gärtner3 so auflisten: E D W A F G B C
Anf. 13. Jh. Ende 1. Viertel 13. Jh. 2. Viertel 13. Jh. 3. Viertel 13. Jh. Anf. (?) 3. Viertel 13. Jh. Ende 13. / Anf. 14. Jh. Anf. 14. Jh. Mitte 14. Jh.
alem. bair. süddt. (Kärnten, Steiermark, Salzburg?) österr. alem.-bair. Grenzbereich obdt., einige bair. Merkmale nordostbair. mitteldt.-thüring.
Die erhaltene Überlieferung setzt eine Generation nach der Entstehung des Werkes ein und erstreckt sich über eineinhalb Jahrhunderte etwa in Vierteljahrhundert-Abständen bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts. Von der Entstehung 1 Kurt Gärtner, Neues zur Priester-Wernher-Kritik. Mit einem Abdruck der kleineren Bruchstücke von Priester Wernhers ‘Maria’, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, hg. von L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff und Roy A. Wisbey, Berlin 1974, S. 103–135. – Auf diesem Kolloquium bin ich Kurt Gärtner zum ersten Mal begegnet. 2 Gärtner [Anm. 1], S. 132–134; ders., Ein bisher unbekanntes Fragment von Priester Wernhers ‘Maria’, in: ZfdA 101 (1972), S. 208–213, hier S. 208, Anm. 1. 3 Alle Einzelheiten bei Kurt Gärtner, Priester Wernher, in: 2VL 10 (1999), Sp. 903–915, hier Sp. 905–906. Zur Priester-Wernher-Bibliographie kann im Übrigen verwiesen werden auf Francis G. Gentry, Bibliographie zur frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 11), Berlin 1992, S. 98–105.
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Ernst Hellgardt
des Textes an gerechnet verläuft die Überlieferung über etwa 180 Jahre. Es gibt nur wenige deutsche Texte des zwölften Jahrhunderts, die so lange tradiert wurden. Die regionale Verbreitung scheint vom alemannisch-bairischen Grenzbereich aus einerseits nach Nordostbayern und in den österreichischen Raum ausgestrahlt zu haben, andererseits später auch in die mitteldeutsch-thüringischen Region. Das Verhältnis der Handschriften untereinander hat sich im Sinne eines Stemmas nicht definitiv bestimmen lassen. Vorerst besteht Konsens darüber, dass dies für die Erstellung einer Ausgabe auf der Grundlage des Erhaltenen auch keine vorrangige Bedeutung hat.4 Wenn schon auf dem Weg über ein Stemma der »vertikale« Zugang zum Original über eine Hierarchisierung der Überlieferungszeugen nicht möglich ist, so wäre es doch von text- und literaturgeschichtlichem Interesse, die Texte der Handschriften und Fragmente im Vergleich miteinander auf »horizontaler« Ebene charakterisieren zu können. Ziel der Edition müsste es sein, eine optimale Textgrundlage für einen solchen Vergleich herzustellen. Die editorische Aufgabe gleitet dann über in eine text- und literarhistorische.5 In der Forschung, soweit es im Zusammenhang mit der Stemmafrage hierzu Äußerungen gibt, werden für die Texte der verschiedenen Wernher-Handschriften die Wörter »Fassung« und »Bearbeitung« »Umarbeitung«, »freie Umarbeitung« u. ä. verwendet. Die Bezeichnungsintention dieser Ausdrücke wird dabei nicht genau bestimmt, jedenfalls nicht näher festgelegt, als es im Rahmen der hierarchisch interessierten Stemmadiskussion von Interesse ist. Die Varianz der Handschriften zeigt eine große Bandbreite: im Bereich der einzelnen Handschrift selbstverständlich von einfachen, verhältnismäßig leicht als Fehler erkennbaren graphischen Schreibversehen und grammatischen Unkorrektheiten; zwischen den Handschriften gibt es dann Textunterschiede hinsichtlich ihrer dialektal verschiedenen Schreibsprachen, und es gibt unterschiedliche Formulierungen, es gibt Zusätze/Auslassungen von Textmaterial, es gibt Varianz bei den Reimen und in der versmetrisch-rhythmischen Gestaltung. Als bei dieser Lage einzig mögliche editorische Behandlung des Gedichts hat bereits 1938 Ulrich Pretzel den Paralleldruck der Handschriften und Fragmente bezeichnet.6 Dies in Reaktion auf Carl Wesles Ausgabe, die diesen Weg zwar 4 Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hg. von Carl Wesle, Halle (Saale) 1927, hier S. LV ; Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hg. von Carl Wesle. 2. Aufl. besorgt durch Hans Fromm, hier S. XXII . Vgl. auch Ulrich Pretzel, Studien zum Marienleben des Priesters Wernher, in: ZfdA 75 (1938), S. 65–82, hier S. 74. 5 Hierzu Hans-Jochen Schiewer, Fassung, Bearbeitung, Version und Edition, in: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004 (Beihefte zu editio 23), Tübingen 2005, S. 35–50; den Hinweis auf diese Studie verdanke ich Norbert Kössinger. 6 Pretzel [Anm. 4], S. 68; vgl. dens., Werner, Pfaffe, in: 1VL 4 (1953), Sp. 901–909, hier Sp. 903.
Zur Priester Wernher-Edition
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schon eingeschlagen, aber nicht konsequent durchgehalten hatte. Wesle hatte bekanntlich die Texte der vollständigen Handschriften A und D überlieferungsnah in synoptischen Spalten präsentiert, hatte die Fragmente aber in einer weiteren Spalte nicht einzeln, sondern zusammengefasst in kritischer Behandlung neben die Synopse der vollständigen Handschriften gestellt. Grund dafür war, dass Wesle in den Fragmenten Zeugen der Autorfassung sah, dies wegen ihres – wenn auch unterschiedlich – hohen Wertes für deren Rückgewinnung. Pretzel konnte aber zeigen, dass Wesles pauschale Einschätzung der Fragmente als Zeugen des Originals nicht haltbar ist,7 und zog daraus die genannte Folgerung, dass als editorisches Verfahren nur der handschriftennahe Paralleldruck aller Textzeugen in Frage komme. Bis zu deren Vorliegen wären, wie Pretzel beklagte,8 wenn man sich ein Bild der Überlieferung verschaffen wolle, über Wesles Edition hinaus nach wie vor neun Bücher erforderlich, die man gleichzeitig zur Hand haben müsste, mit Gärtners Fund des Fragments E2 und seinem Neuabdruck von F hätte Pretzel heute, Wesles Edition mitgerechnet, sogar elf zu zählen. Für die Synopse der gesamten Überlieferung hat zuletzt denn auch Gärtner votiert, wobei er wiederum den textkritisch hohen Wert der Fragmente betonte.9 Dem Konzept einer Synopse der gesamten Überlieferung ist zweifellos beizupflichten, und es ist zu hoffen, dass sich eines Tages jemand findet, der es in die Tat umsetzt. Erst dann wäre die Grundlage geschaffen für die angedeutete Aufgabe eines Vergleichs der handschriftlich unterschiedlichen Texte im Sinne eines text- und literaturgeschichtlichen Interesses. Über die synoptische Präsentation der gesamten Überlieferung hinaus würde ich es für wünschenswert halten, wenn einer solchen Neuausgabe ein textkritisch kommentierter Lesetext beigegeben würde, der doch auch in Annäherung an den Autortext, soweit es denn möglich ist, alle Chancen nutzt, die die gesamte Überlieferung bietet. Dabei könnte auf die sehr detaillierten Vorarbeiten der Forschung, besonders Wesles und Pretzels10 vielfach zurück gegriffen werden. Was ich hier beitragen kann, ist nur ein sehr vorläufiger Versuch. Für die textund literaturgeschichtliche Auswertung steht hier nicht der Raum zur Verfügung, auch wäre die Materialbasis zu schmal, wenngleich sie bereits wichtige Beobachtungen zuließe (s. z. B. unten zum F-Apparat). Im besten Fall bietet die Überlieferung vier parallel laufende Texte. Eine solche Passage, und gar nicht die einzige dieser Art, liegt im ersten liet Wernhers mit den Versen 401–630 vor. Hierzu gebe ich einen parallelen Abdruck der Fragmente F und C2/C4 in Synopse mit den Texten nach A und D. Die Auswahl 7 8 9 10
Pretzel [Anm. 4], S. 66–70. Pretzel [Anm. 4], S. 67. Gärtner [Anm. 3], Sp. 906 mit Verweis auf Gärtner [Anm. 1], S. 116–117. Carl Wesle, Überlieferung und Textkritik von Wernhers Maria, in: ZfdA 62 (1925), S. 151–179; Pretzel [Anm. 4].
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Ernst Hellgardt
war bedingt durch Vorarbeiten, die ich zur Verfügung hatte, durch die an diesem Ort bindende Umfangsbegrenzung und nicht zuletzt durch die knapp bemessene Zeit für die Ausarbeitung. Auf jeden Fall sollte Fragment F berücksichtigt sein, das den anerkannt besten Text der Dichtung bewahrt. Sinnvoller an diesem Ort wäre vielleicht eine Synopse der Verse C 3336 − A 2848/D 3236 mit F und dem von Kurt Gärtner neu aufgefundenen Fragment der Handschrift E (E2) gewesen; doch hätten dann große Lücken des Fragments C2 in diesem Bereich in Kauf genommen werden müssen. Grundlage der Synopse konnten leider nicht die Handschriften selbst sein. Doch stand mir für D immerhin ein Farbdigitalisat zur Verfügung. Für F, C2/C4 und A habe ich die Abdrucke von Greiff, Bartsch und Wesle11 benutzt, für F hatte ich darüber hinaus auch den genannten, und offensichtlich überaus genauen Neuabdruck Gärtners zur Hand.12 Im Allgemeinen gelten die Abdrucke mit Einschränkungen als zuverlässig. Nachkollationen und Berichtigungen sind mir für die hier behandelte Passage nicht bekannt geworden, was natürlich nicht bedeutet, dass sie unnötig wären. Für D stützte sich Wesle auf den hoch gelobten Abdruck Hoffmanns,13 für A stand ihm Feifaliks Ausgabe14 zur Verfügung, deren sprachliche Normalisierung er aber rückgängig machte.15 Bei einer Neuausgabe wird die Verszählung ein verwickeltes Problem sein. In meiner Synopse ist den Texten – nur für den hier gegebenen Zweck – links eine eigene Verszählung von 1–324 beigegeben, auf welche die Apparate referieren, übersichtlicher, als es der Bezug auf die verschiedenen Zählungen der Handschriftenabdrucke gestattet hätte. Doch selbstverständlich sind auch deren Zählungen dokumentiert. Der Apparat zu F verzeichnet die Emendationen von Wesles aus F und C2/C4 hergestelltem, kritischem Text, mit dem er Wernhers Original zurück zu gewinnen meinte. Der Vergleich mit C2/C4, auch mit A und D, wie er nun in der Synopse möglich ist, macht Wesles Verfahren vielfach nachvollziehbar. Aber 11 Benedikt Greiff, Zu Wernher’s Marienleben. Augsburger Bruchstücke, in: Germania 7 (1862), S. 305–330, besonders S. 315–330; Karl Bartsch, Beiträge zur Quellenkunde der altdeutschen Literatur, Straßburg 1886, S. 1–59, hier S. 6–11; Wesle 1927 [Anm. 4]. Zur Zuverlässigkeit von Wesles Abdrucken Pretzel [Anm. 4], S. 68; zu Bartschs Unzuverlässigkeit Wesle [Anm. 10], S. 154; für die in diesem Beitrag gewählte Textpassage jedoch ohne Berichtigungen. 12 Gärtner [Anm. 1], S. 122–130; die in F durch Reagentien arg beschädigte Seite fällt zum Glück nicht in den hier bearbeiteten Bereich; dazu zuletzt Gärtner, ebd., S. 119 und S. 129–130 mit einer neuen Entzifferung der Seite. Dieser Beitrag Gärtners enthält auch Neuabdrucke der Fragmente G, B und E1. 13 In: Heinrich Hoffmann (von Fallersleben) (Hg.), Fundgruben für Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 2., Breslau 1837, S. 145–212. 14 Des Priesters Wernher Driu liet von der maget. Nach einer Wiener Handschrift mit den Lesarten der übrigen hg. von Julius Feifalik, Wien 1860. 15 Zur Zuverlässigkeit von Wesles Abdrucken Pretzel [Anm. 4], S. 68.
Zur Priester Wernher-Edition
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auch andere Gesichtspunkte, die zu diskutieren hier nicht Raum ist, bestimmten seine Textherstellung. Die viel kleineren Apparate zu A und D machen Wesles Verfahren auch hier wieder rückgängig. Wo er Fehler in A und D erkannt hatte, emendierte er sie in den Textabdrucken und dokumentierte die handschriftlichen Lesungen in den Apparaten. Wesles wohlbegründete Emendationen werden in meiner Wiedergabe der Texte dem Prinzip des handschriftengetreuen Abdrucks aufgeopfert, doch sind sie dann aber in den Apparaten bewahrt. Zum Schluss sei hier aber noch einer Arbeit von Werner Schröder gedacht,16 die auch wie die hier vorgelegte in einer Festschrift für Kurt Gärtner erschien und sich mit der meinen materiell in großen Teilen überschneidet. Schröder ging es auch in diesem Fall, wie immer, um das ursprüngliche Wort des Dichters. Im Umgang mit dem Priester Wernher hatte er dabei aber seine »Schwierigkeiten«. Auch wenn man die auf sich beruhen lässt, mag ein Specimen wie das hier angebotene vielleicht seinen philologischen Sinn in der oben angedeuteten Weise haben.
16 Werner Schröder, Schwierigkeiten im Umgang im Priester Wernhers ‘Driu liet von der maget’, in: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag, hg. von Va´clav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S. 43–73.
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Ernst Hellgardt
F II (Greiff / Gärtner)
w[a]rn vuluchet in der e di an i[rr]e geburte gesegent nie wurden eines tages do si komen vnd daz gots wort unamen in templo dn¯i ioachim der stunt da bi da sich di ewarten zu dem oppher karten vn¯ nach ir gewonheite di schaf da wr gereiten lamp vnd to[t]e rinder ioachim der stunt dar under als di wandernde tube sine vsume di wolt er duollen stiften gotis willen er het opphers gnuk daz man im dar getruk daz wolte er do vbrenne sende de¯ rouch zu himele ................ brenge wr di gotis ougen groz was sin gloube do was er nicht als nv ein [s]criba sprach darzu rubyn der eruarte den hren
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F II
C4 (Klapper, Fragment II )
. . . . . . . . . . . . . . .[2r] wonehaite h div scaf dar fur geriten lamp un¯ div roten rinder / ioachim stunt dar under o same div ainvalte tvbe 415 Greiff Gärtner siner frasuˆme / die wollte er da ir wllen stiften gotes willen o er hete ophers genvch / o daz ime sin hiwesch dar trvh 420 daz wolte er da verbrennen den roˇch / ze himele senden fvr div gotes oˇgen groz was sin geloˇbe da was ieˆ . / nit . als och nv 425 o ein scriba spranc dar zv ruben der ewarte / den herren rafster starche vn¯ stoˇte in also sere er sprach dv ne scolt / niht mere 430 zv vnserme opher gan wir haben uns alle wol enstan / hat dih got so verfluchet dc er niht en roˇchet en heines wchers / von dir 435 der diner fravel ist so vil o dv mvst dih svndern hinnen wirne wellin niht gewinnen susgetane gesellen wir ne moˇgen / oˇch dih zv den besten niht gezellin / 440
30 Klapper
35
40
45
50
Von solichem itevize mit sinen handin wizen swanch er also / toˇgen die zahere von den oˇgen
10 gwonheite mit CD 11 gereiten 13 stuont starche] harte mit AD 29 scholt nie 30 unserem einzeilige blaue Initiale solhem 42 swanc
14 same] sam 15 siner] sine 19 ime] im 32 got haˆt dich 34 deheines 38 susgetaˆnen
27 40
Zur Priester Wernher-Edition
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35
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A (Wesle)
D (Wesle)
[13v] si waren verfluchet in der æˆ die an ir geburde¯ 355 gesegenet niht enwurden. Eines tages do si quamen vn¯ daz gotes wort vernamen in templo domini o Joachym stunt da bey, 360 da sich die æwarten o [14r] zv dem opfer garten, vn¯ nach ir gewonheiten o do schuf man dar bereiten e lamp vn¯ rote rinder 365 o Joachim stunt dar vnder sam die ainvalde toube: sin versoumunge wold er erfullen vn¯ stiften gotes willen. 370 o er het da des opfers genuk, o daz er dar truk: daz wold er verbrennen, den rouch ze himel senden fur die gotes augen. 375 groz waz sin gelauben. æz waz do neit als auch nv: o ein schreiber sprach da zv, Rvben der æwarte; den herren refste er harte 380 vn¯ strafte in harte ser; er sprach: ‚dv solt niemer ze vnserm opfer gan. wir han vns alle wol verstan: o got hat dich so verfluchet 385 o daz er niht geruchet o dencheines wuchers von dir. diner frevel ist ze vil: o dv must dich sundren hinnen, wan wir niht gewinnen 390 dich ze einem solhen gesellen, noch wellen da mit div æˆ niht vellen.‘
[9r] wan sie hete uerfluchet div e, 400 di vngesegent also ersturben daz si erben niht erwrben. Eines tages do sie chamen vnd daz gotes wort uernam ¯¯ in dem templo dnı¯, 405 ioachim der stunt dabi, da sih die ewarten zu dem opher garten un¯ nah [9v] ir gewonheˆite heten die schaf dafur gereite, 410 v lember vnd dı roten rinder ioachim der stuˆnt dar under sam div einvalte tube, daz er da sin uersume eruolte vnd oˇh siniv leit 415 got in dem herzen chleite er hete opfers gnuch, daz im sin hiwish dar truch: daz wolt er da uerbrennen, den roˇch ze himele senden 420 v fur dı gotis oˇgen. grozen habete er gloˇben. do was ie [10r] nit als oˇh nv: ein scriba der trat darzu, ruben der ewarte; 425 den herren rafster harte und bestunt in also sere; er sprah: ‚dv enscolt nien mere zu unserem opfer gan. wir haben uns alle wol enstan: 430 got hat dih so uerfluchet daz er nien geruochet deheines vˆvchers uon dir. din din fræuel misseuell& mir: du must dich svndern hinnen; 435 wir newellen niht gewinnen susgetanen gesellen; wir megen oˇh dih ze den besten niht gecellen.‘
Uon solhen iteweizzen mit sinen handen weizzen swank er ab so tougen die trehen von den augen.
Uon solhen itewizen mit sinen handen wizen swanger also toˇgen die zaher uon den oˇgen.
A
1 in!
2 geburde
D
35 din nur einmal
23 gelaube
395
39 die
40 zweizeilige rote Initiale
440
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Ernst Hellgardt C2 (Bartsch)
F II (Greiff / Gärtner) 45
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65
70
ez duhte in michel scande 445 doch ne / was ime nie so ande daz er dc selbe scelten mit oˇbele wolte gel/ten erne wolte oˇch nit meˆre o wider insin hvs cheˆren 450 vn¯ wolte / sih vor laide h von sinem wibe scaiden von siner wunneclicher / chonen o inainer wuste wolter wonen o inainer wuste uerre / 455 dar hiez och ime der herre al sin chorter triben un¯ wolte / da beliben des vihes wchers wolter leben zehenden almusen / geben 460 michel baz danne e vil weste wesin an siner e. an / nihte sich wr sumen clagen un¯ chm ˆ eren inder einode / 465 menneclicher broˇde dc div werlt niht anders ist wan stuppe / un¯ mist un¯ ein scahte der gar verswindet so sih div sele en/bindet 470 von menneschlcher zarge so zer get och ælliv froˇde / mir arge.
Alse frowe anna dc ver nam daz ioachim / der ir man so sere waz gelaidegot do ware ir liber der tot. [2v] daz vil wnnecliche wip harte chelte sie ir lip 80 dc er ir hete eintwichen / dez waz ir clage michel vn¯ so verre vaz gevaren o sine trvwete / niht bewaren ir hiwisch da haime 85 dar vmbe waz ir laide 75
F II
475
480
Greiff Gärtner
[4r] . . . . . . . . . . . . . . . . . ... ande, daz er daz selbe schelten mit ubele wolte gel/ten; er enwolte ouch nicht mere wid in sin hus / kere und wolte sich vor leide von sime wibe schei/de, von siner wunnenclich cronen. in einer wus/tunge wolte er wonen, in einer wuste verre. do hiz / ouch in der herre alliz sin vihe dar triben und wolte / da bliben. des vihe wuchers wolte er leben, zehenten / und almusen geben michels baz danne e, vil veste / wesen an siner e, an nichte sich vsumen, clagen / und kummeren in der mensclichen brod daz die werlt / anders nicht enist
5 Bartsch
10
15
20
wanne gestuppe und mist und / ein schade der gar v‘windet, so sich di sele enpindet / von menschelicher zarge: 25 so zergent ouch alle vro/wden mit arge. /
Als vrouwe anna daz vnam, daz ioachim ir man / di so sere was geleıgot, do wer ir liber der tot. daz vil / wunnencliche wip herte hilt si den lip. daz er ir / het entwichen, daz was ur clage michel, und so ver/re was geuarn. o si trut nicht bewarn ir hiwish / da heime. dar umme was ir vil leide,
30
35
45 im niht 53 wolt er 54 inainer wuo ste] von den liuten (hierzu zusammenfassend Gärtner [Anm. 1], S. 104–105 55 im 58 vihewuochers 59 zehenten unt almuosen 61 veste 63 chuˆmern 65 mennischlicher 66 anders niht enist 68 schate 70 menneschlıˆcher 74 einzeilige rote Initiale Als 79 cholte 80 entwichen 82/83 gevarn : bewarn
Zur Priester Wernher-Edition
45
50
55
60
65
A (Wesle)
D (Wesle)
[15r] ez douht in ein michel schande, doch waz im niht so ande daz er daz selbe schelten mit vbele wolde gelten: 400 da von sin gank, sin chere wart in daz hous niemere, vn¯ wolde sich vor leide von sinem weibe schaiden, von siner wunnechlichen chonen. 405 e in einer wuste wolde er wonen von den levten verre: dar hiez im ouch der herre al sin vihe treiben, vnde wande da beleiben. 410 o Des vihe wuchers wolde er leben, zehenden vn¯ almusen geben michel paz dan æˆ, vil vester an siner æˆ, an nihte versovmen sich; 415 mit chlage vn¯ vil chummerlich wolde er sein in der einode mit menschlicher blode.
ez duht in michel schande vnt iedoh was im niht so ande daz er daz selbe schelten mit ubele wolte gelten. erne wolt oˇh niht mere wider in sin hus cheren vnde wolt sih vor leide uon sinen wibe scheiden, uon siner wnneklichen chonen; in einer w ˆ ste gedaht er wonen hin dan uon den livten uerre: dar hiez oˇh im der herre allez sin chorter triben, als er da gert beliben. des vihewchers wolt er da leben, zehenten v¯ almusen geben michels baz denne e, uil veste wesen an siner e, got sine¯ [10v] chumber da chunden o v¯ sin angest zallen stunden, chlagen oˇh menniskliche brode in der wilden einode, daz du werlt anders niht enist wan stuppe v¯ mist unt ein schate der gar uerswindet, so sih div sele enbindet uon mennesklicher zarge: so zergat oˇh elliv froˇde mit arge, v¯ elliv werltliebe da gelit, so daz leben den lip begit.
70
Als vrowe Anna daz vernam, daz Joachim der ir man so sere waz geleidegot, si were gewesen lieber tot. daz vil minnechliche weip harte quelte si ir leip: 80 daz er ir wolde gesweichen, daz chlagte si herzechlichen, 75
85
D
51 sinem
74 zweizeilige rote Initiale
420
425
[11r] Als froˇe anna daz ervant, daz ioachı¯ der ir man genant so sere was geleidigot, do ware ir lieber der tot. daz uil wnnecliche wip harte cholte si den lip: daz er ir hete entwichen, des was ir chlage michel, vnt so uerre hin was geuarn. sie entruwot niht bewarn ir hiwish da heˆime. darumbe saz si mit leide
9
445
450
455
460
465
470
475
480
10
Ernst Hellgardt C2 (Bartsch)
F II (Greiff / Gärtner)
90
daz / si vf der erde witewe scolte werden bi lebendigem manne 95
485 Greiff
Gärtner
o
sie / mvze ir bleichen danne ir scone wart verderbit elliv ir froˇde / wart irsterbit.
490
495
500
505
o
swaz dv wil dc mvz irgen / 120 die totin hiezestu uf sten die armen machestv riche in selben / ungeliche die richen lastu wallen o dez mvzen sie dir alle 125 groz/zer maister scehfte gehen swaz din oˇge geroˇchet sehen i da / ist genedichate mere denne grizes andem mere, o diner gvte / manichvalte 130 mere denne indeme walde
40 Bartsch
si muste erbleichen dan,
100
Die hende hoˇp sie hohe gegen der phalnze fro/ne gegen dem himelriche si sprah w . il clageliche 105 owi gewalti/ger got mine vil inneclichen not o rvche dv bedenken c ione / mah ih niht gewenken o ih ne muze liden swaz dv wil 110 ia han / ih angeste vil wa maht ih reste vinden do du mir an den kin/din ne heine froˇde gabe dc dvmr do beneme o 115 minen karelen / also gvten o mit solihem ungemvte
daz si uffe der / erden scholte witebe wden bi lebendingem man. /
510
515
ir schone wart vderbet. / [4v] alle ir vreude wart dschreket, ir iam wart derwek/et. di hende hub si hohe gein der phabize vrone, gein / dem himelriche. si sprach vil tugentliche ‚ouwe du / gewaltiger got, mine vil innencliche not geruche / zu bekennen. io enmak ich nicht gewenken, / e ich muz liden waz du wilt. io hab ich angst uil. / wa mocht ich raste vinden? do du mir an den kin/den keine vreude nıˆe gegebe, daz du mir be/neme, hre also gute, mit sulchem ungemute. / waz du wilt, daz muz erge. di totun heizstu uf ste, / di armen machs tu riche, in selben ungeliche, / di richen lestu vallen: des muzen si dir alle grozer / meisterschefte iehen. wo dine ougen geruchen se/hen, daz ist gnedikeit mer danne griz an dem m, / e diner gute manikvalde me danne zwige in dem / walde
F II
96 muoste 99 al 124 des 125 jehen
102/103 gen 109 ich ne 114 benaˆme 116 solhem 120 heizestu 126 swar 127/128 meˆr : mer 128 in dem 130 ze walde
C2
107 zu] davor etwas ausgefallen, wahrscheinlich du wie ADF Wesle [Anm. 10], S. 154
45
50
55
60
65
70
123 vallen
Zur Priester Wernher-Edition A (Wesle)
D (Wesle)
90
daz si ouf der ærden witebe solde werden bey lebindegem manne. 95
e
si muste erblaichen danne,
430
e
ir schone wart verterbet, [15v] alle ir frevde ersterbet. 100
o
ir hende hub si schone o zv der pfalzen frone, zv dem himelriche; si sprach vil chlegelich: 105 ‚awe gewalteger got, min vil inrechliche not o geruche dv bedenken. ich mak dir niht gewenken: o ich muz leiden swaz du wil. 110 ia han ich angest al ze vil. waz frevden mag ich vinden, do dv mir an den kinden denheine frevde geˆbe, daz dv mir do benæˆme o 115 minen man so gut o mit solhem vnmut! swaz dv wil daz ist ergan: den toten hiezzest du oˇf stan, die armen machest dv reiche vn¯ in selben vngelich, die reichen lastu vallen: e dez mvzzen si dir allen 125 grozzer maisterschefte iehen. o swar din ougen geruchent sæhen, da ist diner genaden meˆ danne griezzes in dem sæ. 120
130
A
120 heizzest
11
124 alle
v¯ weinet herzecliche, daz sie got so chumberriche hete gescaffen vnde gesat an der unsæligen stat, daz sie bi so reinem man nie herzeliep mit kinde gewan, vnt dazu bi im lebentigen daz si witewe solt geligen: daz waren sorgen ungefuˆge, die nehein lip samfte truge. do muse erbleichen danne div schone v¯ div gute froˇe anne. v ir liehtı varwe uerdarp, al ir froˇde erstarp. ir hende hub sie hinz im genoˆte der uns daz leben gebot;
485
490
495
500
435
si sprah vil chlageliche: ‚owi got der gnadige v¯ der riche,
440
445
450
455
du ruche mih arme bedenchen. iane mag ich niht gewenchen, ihen muze liden swaz du wil. ia han ich angeste vil. waˆ mæht ich reste vinden, do du mir an den kinden verzige liebis beschoˇde, daz du mir do die einen froˇde die ih hete [11v] benomen hast! din gnade, herre, suaz du begast! v reht v¯ gnade sint bedı din, daz laze an mir werden schin! swaz du wil daz muz ergen: die toten hiezest dv ufsten, di armen machestu riche, in selben ungeliche, die richen hohestv ze ualle: des muzen sie dir alle uon rehte der meisterscefte iehen. o swar din oˇge ruchet hin gesehen, da ist sa der sælden me denne griezes in dem se, mere der guˆte v¯ der bærme din denne zwıˆer ze walde mege sin.
505
510
515
520
525
12
Ernst Hellgardt C2 (Bartsch)
F II (Greiff / Gärtner) immer zwiger / muge sin. ewigez vrschin gezalt hastv dine sternen o sie mv/gen dir dienen gerne 135 die div wil bero ˇ chen o nu ledige mih / von dinem flvche der mih hat ir derret min wambe ist be/sperret die scolt div herre entslizen 140 dc ih diner hailichaite / genize. Anna schvt ir venie mit zaheren also / manigen dc si got er horte ir angest zerstorte 145 do si nider ge/nihte vn¯ wider vf geblichte in ainem / boˇngartin sie begu¯de / vmbe warten vn¯ sach an ainem aste 150 die sperchen scrigen / vaste sie gaheten zv ainem neste da si ir kindelin vesten vn¯ / brahten in die spise vs einem clainem rise 155 vf ainem lorbo ˇ me / [3r] div frowe nam dez goˇme wie frolichen si flugen o durh dc si / iungide zvgen.
520 Greiff
Gärtner
525
530
535
540
545
mugen gesin od e ´ındem mer vische gesı´n. ˙ gezalt / hastu die sterne, si mugen dir dinen g‘ne, der du wilt / geruchen. o nu ledige mich von den fluchen, di mich / haben gederret, mine wammen gesperret, di sch/oltu, herre, entslizen, daz ich din heilikeit genieze.‘ / Anna suchte ir venien mit zehern als manige¯, / daz si got erhorte, ir angst gar zustorte. [5r] do si nid / genikte und wid ouf geblikte in einen boumgar/tun, si begonde umme warten und sach an eime / aste di sperken schrie vaste. si gahte zu eime neste, / da si ire kint weste und bracht in di spise uf eime / cleinen rise, uf eime birnboume. di vrouwe nam / des goume, wi frolich si flugen, durch daz si iu¯ge / zugen.
75 Bartsch
80
85
90
95
100
160
Si sprach owie herre nahen un¯ verren ist / din gnade getailet din troˆst vz ge braitet 165 fur allir slahte / chunter dv stiftest michel wnder durh dc dv ime allem ob/lıˆst. diner geschefede dv gıˆst miscliche wnne. 170 von regene ioch / uon sunnen machestu die erde berehaft den uogelin gistu / die craft dc sie ir kint mainent o swi sie indem lufte swaiment 175 dv / gebivtist den vilden tieren F II
550
555
560
si sprach: ‚ouwe hre, nahen und vre ist din / trost geleitet, din gnade bereitet vor aller slachte / kund. du stiftes michel wund durch daz du ob in / allen bist. dine geschefte du gist unmenschliche wune. / von regen und von sunnen machstu di erden bnhaft. / den vogelin gibstu di kraft, daz si ire kint meinen, / wi si in d luft sweimen. e du gebutes den wilden tirn,
105
110
115
131 iemer 133 die 135 die du 136 dem 138 mine w. besperret 139 scholtu 141 einzeilige blaue Initiale suochte 145/146 genicte : geblicte 150 schrıˆen 151 gaˆhten zeinem 152 chindel 154 uˆf 163 gnade getailet] troˆst geleitet 164 troˆst] gnaˆde 167 im allem obe lıˆst 169 mislıˆche 171 berhaft 175 wilden
Zur Priester Wernher-Edition A (Wesle)
13
D (Wesle)
131
gezalt hastu die sterne. si mugent dir dienen gerne 460 o 135 die du wil beruchen. e nv ledige mich von den fluchen da von ich pin verderret, minem manne sint versperret. die soltu herre entsliezzen, 465 140 [16r] diner genade la mich geniezzen!‘
gezalt hastu al die sterne. si mugen dir dienen gerne die du wil beruchen. o nu ledige mih uon dem fluche der mich hat erderret v¯ mine wambe besperret: die scholt dv herre entsliezen, daz ich diner milte genieze.‘
Anna suocht ir venien mit ir zeher menien, daz si got erhort vn¯ ir angest zestort. 145 do si ze tal nikte vn¯ wider ouf plikte in einem boumgarten, do begunde si warten vn¯ sach an einem aste 150 die agilster schreien vaste: o si gahte zv einem neste, da si die iungen weste, vn¯ braht in die speise ouf einem chleinem reise, 155 ovf einem lorboume. die vrowe nam des gaume, wie frolich si flugen da si ir iungen zvgen.
Anna begunde venigen mit zaheren also manigen, daz si got erhorte v¯ ir angest zestorte. do sie nider genicte unde wider uf geblicte in einem boˇgarten, sie began umbewarten unde sach an einem aste die sperchen schrien uaste: si gahten ze einem neste uf eines boˇmes ueste
470
475
480
160
Si sprach: ‚owe herre, nahen vn¯ verre ist din trost gelaitet vn¯ din genade gebreitet 165 fur aller slahte chummer. dv stiftest michel wunder dvrch daz dv im allem obe pist. diner schepfede dv gibest maneger hande wunne: 170 von regen vn ¯ ouh von sunne machest dv die erde behaft; den vogelin geist du die chraft daz si ir kint meinen, swie si in den luften swaimen. 175 dv gebivtest den wilden tieren A
171 berhaft
D
141 zweizeilige rote Initiale
485
490
495
530
535
540
545
v
dı froˇe nam des goˇme, uf einem lorboˇme wie vroliche si flugen da [12r] sie ir ivngide zugen, vnde brahten in ir spise. do sprah si also lise: ‚owıˆ, owıˆ got herre, bediv nahen unde uerre ist din trost geleitet, din gnade uz gebreitet fur aller slahte chundir. du stiftest groziu uvndir durh daz du in allen obelist. diner creature du gist misliche gnade unde wnne: uon regen ioh von sunne machestv die erde berhaft, den uogellinen gistu die chraft daz si ir kint meˆinent, swie sie in den luften sweˆiment. du gebivtest den wilde
550
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195
200
F II (Greiff / Gärtner)
C2 (Bartsch)
dc sie kint ziehin. div natir da slichet / sva sie ir kint ir griffit si gat ime willeclichen bi 565 o vn¯ zeiget dc / sie sin mvtir si. v von dir die vise namen wcher un¯ samen die / fische indem wazzære fliezzent o diner gvte sie geniezzent / 570 allez dc der ie wart dc hat din segen wol bewart dc ez sich iente / nivwet o swaz criset oder flivget vf der erde un¯ indem wage 575 nu sage ih dir gnade dc dv mih alter saine so verre hast ge/schaieden von allen sachen die dv hast geschaffen 580 von allen / den dingen die uf dem urspringe mit dinem gewalte sint / bechomin dar us hast du genomen nd gesurdert ioch geschaiden / 585 o dc mvz ih iemer clagen vn¯ wainen.
daz / si zihen. di natere di da slifet, wa si ur kint begrifet, / si get in willeclichen bi 120 und bezeiget daz si sin / muter si. von dir di vische namen wucher und samen, di in / deme wazere vlizen: e diner gute si genızen. 125 allez daz / da ie wart, daz hat din segen wol bewart, daz ez sich / vneuwet, e e waz krucht od fluget uffe der erden / od in dem wage. 130 nu sage ich dir gnade, daz du / aleine so vre hast gescheiden von allen sachen, / di du hast derschaffen, 135 von allen dingen, di uz dem / urspringen dins gewalts sint bekumen. o [5v] dar uz / hastu mich genumen, gesundert und gescheiden, 140 e des / muz ich immer clage und weinen.‘ /
He dc sie die rede volle sprach ein engel sie sah o vor ir antlvhte sten div vorhte begunge si ane gen 205 si wider sazzez harte do sie / begunge warten an sine scone vedere ir sin voˇr en wedele sam / won dem uuinde dc loˇp 210 der engel niht vf sco ˇp sine potesclaft frone / die frowen grvzeter scone 215 mit senftent worten dvne scolt dir / niht fvrhtin sprah der engel liehte
F II
Ernst Hellgardt
590
595
600
Greiff Gärtner
E daz si die rede volsprach, einen engel si gesach vor / irme antlizce sten. di vorhte begonde si angen: si / widersaz ez harte. do si begonde warte an sine scho/ne vederen, vr sin wr als ein wedele tut vor deme winde / daz loup. der engel nicht ouf schop sine bot/schaft vrone. di vouwen gruzt er schone mit senf/tlichen worten. ‚du scholt dich nicht wrhten‘, u spch / der engel lichte.
145
150
155
177 diu da 178 begrıˆfet 179 im 183 die in dem wazzer 187 daz sich ie iteniuwet 192 gescheiden 193 allen 〈den〉 s. 196 uˆz 197 mit dinem gewalte] dıˆnes gwaltes 198 du mich 201 rote einzeilige Initiale He dc] Bedaz (nach Wesle [Anm. 4], S. XLVIII wohl eˆ mit prothetischem H [vgl. C], richtig sei aber mit D Bedaz) volsprach 202 einen e. si gesach 204 und 206 begunde 207 vederen 209 won] vor 213 boteschaft 214 gruozt er 215 senftlıˆchen
Bartsch
15
Zur Priester Wernher-Edition A (Wesle)
D (Wesle)
daz si ir kint erziehen, div nater div da sleifet, [16v] daz si chint begreiffent.
500
daz ez nah muterlichem bilde v allez sinı kint ziehen chan vn¯ hat oˇh sin froˇde daran.
570
180
185
190
195
200
von dir die vische nament, o wuchernt vn¯ sament, die in dem wazzer fliezzent, e diner gute si geniezzent. alles daz ie wart daz hat din segen wol bewart, daz sich iærlichen niwet swaz chrivchet oder flivget ovf der erde vn¯ in dem wage. nu sag ich dir genade daz dv mich aleinen so verre hast gescheiden von allen den sachen die woldest machen, von allen den dingen die ouz den vrspringen dines gewaltes sint bechomen, o darzv hast dv mich genomen, gesundert vn¯ gescheiden: o dez muz ich immer wainen.‘
Also schir si die red gesprach, einen engel gesach vor ir antlutze sten. voriht begunde si ane gen, 205 si wider saz in harte; si begunde warten an die schonen vederen; o ir sin fur enwedelen sam vor dem winde daz laup. 210 den engel niht ouf schoup sine botschaft frone. o die vrowen gruzt er schone 215 mit semftelichen worten: ‚du solt dir niht furhten,‘ sprach der engel lieht,
A
179 si 〈ir〉 chint begreiffet
D
191 nur ein daz
505
510
uon dir die vische namen bediv wchir vn¯ samen, die in dem wazzer fliezent, diner gvˆte si genıˆezent. allez daz ter ˆıe v¯ ie wart hat dinen segen wol bewart, daz ez sih ie iteniwet swaz chres& oder flivget uf der erde vn¯ in dem wage. nu sage ich dir gnade daz daz du mich alterseine h so uerre hast gesceiden
575
580
515
520
525
530
535
194 die 〈du〉 woldest
201 zweizeilige rote Initiale
uon allem dem dinge daz uz dem urspringe dines gewaltes ist bechomen, dar uz hastu mich genomen, gesundert ioh gescheiden: o des muz ih min suˆnde weinen.‘
585
[12v] Bedaz sie die rede uol sprah, einen engel si gesah uor ir antlutze sten. v dı uorhte begunde si durhgen, sie wider saz irz harte; do si in began anwarten, ir sin fuˆr enwedele v sam uor dem winde dı uedere v¯ oˇh daz lovb gerne tut. o der engil swang ir den mut uz den sorgen also swæren. mit semftlichen gebæren er gruzte die froˇen schone mit der botscaft frone, mit minne[13r]lichen worten: ‚du solt mich niht erfurhten in des gwalte div werlte stat,
198 darvz 210 der engel
202 engel 〈si〉 gesach
210 der
590
595
600
605
16
Ernst Hellgardt
F II (Greiff / Gärtner)
C2 (Bartsch) / C4 (Klapper, Fragment III)
dir alliv dinhc von nihte / chvnde wol machin
‚d alle dink von nichte
220
225
230
235
240
der wil selbe wachen vbir din raines gebete / o als er kvnech ieˆ tet o vber alle die ir gemvte o cherent an sine / gvte h do din carele ioachim als ih der chvndende bin von dir [3v] zeiungeste schieˆt div gotes gnade ivch beriet dc dv swanger wurde. chai/serlicher burde dv treist indinen brusten o dez dich wol mach lvsten / eine tohter here io ne wart niemer mere ir geliche geboren o sie ist / ze kuneginne ir chorn vber allez hvmelschez heˆre sie scol den go/tes sunt gebern. den heiligen crist der aller der werlte vater ist. / Din tohter ist heˆr vn¯ wıˆch irne wart nıˆe niemen gelich
605 Greiff
Gärtner
610
615
620
625
konde wol / gemachen, d wil selber wachen uber din reinez / gebet, als d kunc ie tet a uber alle di ir gemute / keren an sine gute. do din alt man ioachim, als ich / dir kundigen bin, vnd dir zu iungest ziet, di gotis / gnade ouch wirret, daz du swanger wurde keiser/licher burde. du treist unt dinen brusten des dich / wol mak gelusten, eine tochter here. ja enwirt / ouch nimmermere ur glich geborn. si ist zu kunegı¯ / erkorn uber allez himelischs her. si schol gotis / sun geber, den vil heiligen crist, der aller werlde / vater ist. di tochter ist herlich: ir wart nie kein / vrouwe glich
160 Bartsch
165
170
175
180
245
vnder wib/lichem chunne sie wirt ein michel wnne aller dirre werlte o 250 so / got bvwet in ir gezelte. Alse div botescaft wart ergeben sine mahte in mere niht ge/sehen wan er ze kvrzen stunden vor ir waz verswnden o 255 vn ¯ fvr / zesinem maister zv andern gaisten die ime himelriche sint / gehaizen engelsciv kint
F II
630
under wiplichem kunde: si wirt ein / [C 4] michele wunne aller diser werlt got buwet mit ir [s]in gezelt
635
Als dise botschaft was e[r] geben si enmochte sin nı¯me gesehen wenn er zu kurzcen stunden von ir was vswunden er wr zu sime meister wider zu andern geisten di in deme himelriche sint ges[e]hen engeliss[ch]e kint
218 der 219 gemachen 223 gebet 226 cherten 228 dir 231 swanger 234 gelusten wirt ouch 237 geborn 239 himilischez 240 sun 241 heiligen] den vil h. 242 aller w. 251 einzeilige blaue Initiale Als 254 von ir 257 wider ze a. 258 in dem
58 Klapper 60 Klapper
65
236 wart] 244 glıˆch
Zur Priester Wernher-Edition A (Wesle)
D (Wesle)
‚der alle dink von niht
vnd ellı dinch gescaffen hat im ze dıˆenest unt ze lobe, wa¯d er richsent dar obe, der wil in dinen sachen gnadechliche wachen uber din reinez gebet, als er kunich ˆıe tet o uber alle die ir gemute o kerent an sıˆne gute. Do din karle ioachim, als ih dir chundent bin, von dir nv ze ivˆngeste schıˆet, v dı gotes gnade ivh berıˆet daz du swanger wrde einer chunklicher burde. du treist bi dinen brusten des dih wol mak gelusten, eine tohter here. ia ne wirt oˇh niemer mere dehein ir glich geborn, wan si ist ze froˇen erchorn uber allez himiliske her. uon ir sol chomen der der aller werlte vater ist: daz ist der heilige christ. din tohter ist der engeln froˇde, wan sie in gotes beschoˇde gewıˆhet ist v¯ gesegent, daz uon ir gnade begegent allem mennisklichem chunne: si wirt der werlte wunne.‘
v
220
225
230
235
240
17
chan wol gemachen, [17r] der wil selbe wachen vber din reines gebet, als er kvnik ˆıe teˆt e vber alle die ir gemvte e cherten an seine gute. do din man Joachim, als ich dir saginden pin, von dir ze iungist schiet, do gotes genade evch beriet daz dv swanger wurde einer keiserlichen burde. dv treist vnder dinen brusten dez dich wol mak gelusten, eine tohter heˆre. ia wirt nimmer mæˆre ir geliche geborn: Si ist ze kvniginne erchorn vber alles himilischez heˆr, daz si gotes sun geber, den heiligen Christ, der aller werlde vater ist. Si wirt weise vn¯ hæˆr, ir wart nıˆe niht geleiches meˆr
540
545
550
555
560
245
vnder weiplichem kvnne. si wirt ein michel wunne aller der werlde, 250 so got erbo ˇ wet ir gezelte.‘
610
615
620
625
630
635
565
Als er der botschaft het veriehen si moht sein niht mær gesehen, wan er in churzen stunden von ir waz verswunden.
Do diu botschaft was ergangen, den sie hete beuangen lipliche mit ir oˇgen, 570
255 o
der [13v] hub sih wider ze den toˇgen, da div engiliskiv kint in gotes ordenunge sint.
A
228 saginde
230 diu
D
227 zweizeilige rote Initiale
251 zweizeilige rote Initiale
640
18
Ernst Hellgardt C4 (Klapper, Fragment III / IV)
F II (Greiff / Gärtner) 260
Do begunde frowe anna got loben star/che danne ir schephare sagete sie gnade
640 Greiff
Gärtner
do begund d[i] vro[u]w anne got baz lobun dan e irme schepphere sagt si gnade
265
dc er sie ir loˆste mit / svsgetanem troste von allen ietewizen 645 dez loˇpte sie in mit fliscze / 270 sie wart vil inneclichen fro ˆ ir venie svhte sie abir do dar nah / ginch sie rasten io hete sie dc vasten 650 ein tail geswendet 275 doh hete / sie ir arbait wol gewendet /
280
285
290
295
300
F II
In ir beite sie gelach eine ganze / naht vn¯ einen tach dc sie en haˆz noch en tranch sie hete rainen / gedanch ioˆ waz ir ander selbin zıˆt alse ein man oder ein wıˆp mit / swaregem troˇme sliefe vnder einem boˇme dem ware chomen de schv/me dc er entrunne chvme vor sinen uianden vn¯ er dar nah irchande / swenne er ir wachete dc alle sine noˆte waren verswnden alse was / sie anden stunden bechomen von ir laide wnne vn¯ waide vn¯ vil ste/tigen segen hete ir der engil gegeben ir wibe einer roˇfte sie div / chom ir alze seime do roˇfte sie der magede div was vil vngesagede / o sie mvse ir harne ofte mere danne ir tohte vber lanch gie sie dar / do sprah div tohter ysachar anna div raine 260 Anne 278 enaˆz 300 harn
daz er si erloste mit sogetanem troste von aller itwizce des lobte si vn mit flize si wart vil in[n]enclichen vor ir venyen suchte si aber do darnach gink si rastun ia hat si daz vastun ein teil vaste geswendet doch hat si alle ir . . .
70 Klapper
75
655
660
665
670
675
680
[C4 IV] . . . . . . . . . . . . . . . rif si eine di kom ur alleine do rif si aber d meide di w[a]s vil vngesc[hei]de si rif vil ofte me den ez getochte uber lant ginc si dar do sprach di tocht ysachar anna du reine
80 Klapper
85
267 soˆ getaˆnem 269 des lobete 276 dreizeilige rote Initiale am Rand des Schriftspiegels 281 als 284 ze schuˆme 288 erwachoˆte 291 als 296 wıˆbe ruofte si einer 297 seine 301 danne ir] dennez
Zur Priester Wernher-Edition
260
A (Wesle)
D (Wesle)
Do begunde vrov Anna got loben starke alda,
do begunde froˇe anne got starche loben danne. si sagete im gnade groz, daz sie alsovil gnoz der sinen gute wider in. si erhub ir herze v¯ sin im ze danchen mit flize, wan er si uon dem itewıˆze mit so getanem troste gnadecliche erloste. sie wart uil herzeclichen fro, ir uenige suhte sie auer do, darnah giench sie rasten: ia hete sie daz uasten ein teil geswendet, doh hete sie ir arbeit wol gewendet.
265
daz er si erloste e [17v] mit so getanem troste von ir iteweizze: des lobt si in mit fleizze. e 270 Si wart vil innrechlichen fro, o ir venie sucht si do, darnach gienk si rasten: ia het si daz vasten ze gote verendet 275 vn ¯ ouch bewendet.
280
285
290
295
In ir bette si gelach eine ganze naht unz an den tak, daz si niht az noch trank. si het reinen gedank. ir waz an der selben zeit als ob ein man oder ein weip mit swerem trovme slief under einem bovme, vn¯ bedouht von sinnen wie er niht moht entrinnen dahin vor seinen veinten, die im sær nach eilten, vn¯ als er dan erwachot, daz alle seine not wæren gar verswunden: also waz ir zestuden gar chomen von laide: wunne vn¯ liebe paide het ir der engel geben vn¯ einen steten segen. ire weip rief si ane, die chomen alze saine. do rief si der magede, der waz niht leihte ze sagene:
300
vber lank gie si dar, do sprach si zwar Anna div reine: A
291 zestunden
D
276 zweizeilige rote Initiale
575
580
585
590
595
600
605
In ir bette sie gelach ein naht vnd eine¯ tach daz sie enaz noh entranch si hete reinen gedanch. ia was ir an der selben zit als eine¯ man der da gelit begrifen mit swarem troˇme slafend under einem boˇme, dem chom ¯¯ wære ze sune daz er entrunne chuˆme uor den sinen uianden, vnde darnah erchande, swenner uon dem slafe erwaˆchot daz garliche alle sin not uon im wære uersvˆvunden: also was sie an den stunden bechuket uon ir leide: v bedı vˆvnne vnd weˆide unt vil statigen segen hete ir der engil gegeben. do rufte si einer magede, div [14r] was uil ungesagede: o sie muse ir haren ofte, mere dennez getohte. iedoh uber lanch gie si dar, v do sprah dı tohter ysachar, v anna dı uil reine:
19
645
650
655
660
665
670
675
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20
Ernst Hellgardt C4 (Klapper, Fragment IV)
F II (Greiff / Gärtner) nu sage mir was daz / maine wannen chvmet dir der gaist so du min angest wol waist / dc dv so harte tragest 685 dc dv mih nine fragest 310 weder ih lebe / oder to ˆ t si dv werist mir bellichen bi ob ih den lip wolti laben dc ih / dir daz mahte gesagen. 690 Div maget begunde murmeln 315 vngezo/genlichen zvrnen si sprah waz mahte ih dir aine getvˆn dvne 305
320
F II
311 billıˆchen
316 maht
Greiff Gärtner
nv saga mir waz ez meine wanne komet dir d geist 90 so du niman ge[st] wol we[is]t da[z] . . ... d[az] du mich nich[t] en vragest weder ich lebe oder tot si du werst mir billiche¯ bi ab ich den lip wolde laben 95 daz ich di mochte gesagen di maget begonde zurnen o vngezogenclichen murmeln si sprach waz mochte ich dir eine getvn du enhast di tochter noch den svn 100 din man hat dich vlazen ich wil ouch mine straze anderhalben wende¯
Klapper
Zur Priester Wernher-Edition A (Wesle)
D (Wesle)
‚nv sage mir waz daz meine, 610 oder von wev chumt dir der geist, seit dv min angest wol weist, daz dv also traˆgest vn¯ mich niht enfragest, 310 ob ich leb oder tot sey? 615 [18r] dv wærist mir billeich bey, ob ich den leib wolde laben, daz ich dirz mohte gesagen.‘ div magt begunde murmen 315 vn ¯ hezzechlichen zvrnen; 620 o si sprach: ‚waz moht ich dir getun? dv hast tohter noch sun, din man hat dich verlazzen. ich wil ouch mine strazzen 320 al von hinnen wenden 625 vn¯ wil daz schier vol enden.‘ 305
325
Mit solhen iteweizzen o so mvst div vrowe enbeizzen: si labt sich vil chleine, ir frevde mischte si mit weinen.
D
310 mir
315 ungezogenlichen
21
630
‚sage mir waz daz meine: wanne chum dir der geist, so du min angeste wol weist, daz du so stille dagest v¯ mir antwrte uersagest? 690 du wærest mih billicher bıˆ v¯ sæhest wie min dinch stende si, ob ich den lip wolte laben, [14v] daz ich daz uon dir mæhte haben.‘ Div maget begunde murmeln, 695 ungezonlichen zurnen; si sprah: ‚waz mag ich dir eine getun? dune hast die tohter noh den sun, din man der hat dich uerlan. nu wil oˇh ich min straze gan, 700 anderhalben min dinch wenden: ich kan ez wol uerenden. waz tustu ze liebe mir? swaz ih ie gedienot dir, h des en han ich danc noh loˆne.‘ 705 die froˇe uertrugez schone die v¯ beweˆin& doh ıtewıˆze, un¯ swie ez wære an dem imbize, sie half den libe also seˆine: ir froˇde wart gemisk& mit leide. 710
A Fragment of ‘König Rother’ in the Charles E. Young Research Library in Los Angeles by Nigel F. Palmer
The anonymous epic poem ‘König Rother’, generally dated to the third quarter of the twelfth century and one of the most significant precursors of the Middle High German court romance, is preserved in a single almost complete manuscript, Heidelberg Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 390 (H), that extends as far as line 5185 of the critical edition, lacking perhaps not more than a single leaf at the end of the poem.1 In addition to the Heidelberg manuscript, datable on palaeographical grounds to the early years of the thirteenth century, three fragmentary witnesses to the text are known: E and N (later thirteenth century), M (c. 1200), and B (fourteenth century), with 496 lines (115 of them imperfectly preserved), 80 lines, and 46 lines respectively.2 Of these fragment B in Berlin is of special note in that it preserves a short block of 16 lines from the otherwise lost conclusion to the poem. 1 References are to the most recent edition: König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter Stein, ed. Ingrid Bennewitz, Beatrix Koll and Ruth Weichselbaumer (Reclams Universal-Bibliothek 18047), Stuttgart 2000. For details of the manuscript transmission see König Rother, ed. Theodor Frings and Joachim Kuhnt (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 3), Bonn 1922, pp. 1*– 48*; Hans Szklenar, ‘König Rother’, in: 2VL 5 (1985), cols 82–94, here 82 f.; Thomas Klein, Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, ed. Volker Honemann and Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, pp. 110–167, here 132 f.; Marburger Repertorien deutschsprachiger Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (http://www.marburger repertorien.de/; last consulted 8 March 2011) under ‘König Rother’ and Berlin, Staatsbibliothek, mgf 923 Nr. 20. 2 B = Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. 2o 923,20; E = Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8797 (formerly Ermlitz); H = Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 390; M = Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5249,1; N = Nuremberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 27744. To which may now be added L = Los Angeles, UCLA , Charles E. Young Research Library, MS . 170/112. In the older literature the Berlin fragment B was called A (after the former owner Freiherr von Arnswaldt) and the Nuremberg fragment N was called B (for Baden/Canton Aargau, where the fragment was first attested in 1827); these obsolete designations have confusingly been retained in the Stein/Bennewitz edition of 2000 [n. 1]. For the date of the Heidelberg manuscript H, see Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, pp. 113 f.; Matthias Miller and Karin Zimmermann, Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304– 495) (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg VIII ), Wiesbaden 2007, pp. 291 f.
A Fragment of ‘König Rother’
23
The purpose of the following study is to make known a newly discovered fragment (Fig. 1) deriving from the same manuscript as E and N, that turns out to be part of the inner section of the same leaf as fragment N, now preserved in the Germanisches Nationalmuseum in Nuremberg. The new fragment contains 56 lines of verse from that part of the epic which reports King Rother’s reception at the Greek court, when he arrives there disguised as ›Dietrich‹, and the scornful words spoken by the Greek queen to her husband King Constantin at the sight of Rother’s retinue of unruly giants. The fragment has been preserved as binding scrap inside the upper board of a Latin ‘Vitaspatrum’ manuscript in Los Angeles, UCLA , Charles E. Young Research Library, MS . 170/642 (Fig. 2), and removed, with a view to facilitating a complete transcription of the text, in March 2005.3 The ‘König Rother’ fragment has been given the shelfmark MS . 170/112.
I. Manuscript E/L/N, if we may designate the Los Angeles fragment as L, was a two-column parchment manuscript executed in the later thirteenth century and measuring c. 217 × 148/155 mm (written area c. 175 × 119/120 mm).4 The number of lines in a column appears to have varied between 27 and 30, so that the complete poem could have been accommodated on fewer than 50 leaves. The previously known fragments of the codex discissus consist of a vertical strip preserving the outer text columns of a single leaf, Nuremberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 27744 (N), and two double leaves, that originally formed the centre of a quire, Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8797 (E). The Nuremberg leaf is known as the Baden fragment on account of having belonged to Josef Anton Sebastian Federer (1793–1868) of Baden in Canton Aargau, Switzerland, in 1827.5 The leaves now in Munich were purchased in 1984 by the 3 The presence of an unidentified German fragment in the binding of this manuscript is signalled by Mirella Ferrari, Medieval and Renaissance Manuscripts at the University of California, Los Angeles, ed. Richard H. Rouse (University of California publications. Catalogs and bibliographies 7), Berkeley, CA , etc. 1991, pp. 152 f. Images are available on-line (UCLA Library / Digital Collections. Bound manuscript collections. Collection 170): http://digital2.library.ucla.edu/viewItem.do?ark=21198/zz0009gjpd (last consulted 8 March 2011). I wish to express my gratitude to Richard Rouse (UCLA ) and to Genie Guerard (Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA ) for facilitating my study of the fragment and making arrangements for it to be lifted and photographed. 4 I am grateful to Bettina Wagner of the Bayerische Staatsbibliothek for measurements and further information about the Munich fragment. 5 Printed, with a modern German translation, in Stein / Bennewitz [n. 1], pp. 394–399 (»Baden-Nürnberger Fragmente BE 1«); I follow the line numbering of this edition (N 1–57). For the first publication see Eberhard Gottlieb Graff, Verse aus dem altdeutschen Heldengedichte: König Rother, in: Diutiska 2 (1827), pp. 376–378 (reprint
24
Nigel F. Palmer
Bayerische Staatsbibliothek. They were originally found in the binding of an incunable from the charterhouse at Buxheim, near Memmingen in Swabia, and were sold at the Buxheim auction of 1883 to the Apel family of Ermlitz in Saxony, in whose possession they remained until 1984.6 Because of the way the Munich leaves were trimmed for use as the pastedowns of a bookbinding, half of the text in the outer columns of fols 2r/v and 4r/v has been lost. To these leaves may now be added the Los Angeles fragment L, a vertical strip of parchment with 28 imperfectly preserved lines of text on recto and verso measuring c. 217 × 29 mm. As noted above, the fragment originally formed part of the same leaf that we know from Nuremberg, but whereas N preserves the full width of the outer column with no loss of text, L is narrower, extending only from the middle of the inner text column to the centre of the leaf. The inner margins together with the first half of each line of verse on the recto and the end of each line on the verso are lost. The match of L and N is so close that several missing letters at the end of the line on the recto of L are preserved in N, and some of the majuscules that have been partly cut away at the beginning of the line on the verso of L are visible on the inner edge of the Nuremberg fragment. I am grateful to the libraries in Los Angeles, Munich and Nuremberg for providing me with the photographs on which these observations are based. L/N (a single leaf) contains 113 lines of the poem corresponding to H 975– 1084,7 whereas E (four leaves) contains 399 lines corresponding to H 1387–1815 (with ten extra lines at the beginning), and it can be calculated that three leaves are likely to be missing between L/N and E. Whereas Karl von Bahder believed that fragment E preserved the inner leaves of a quaternion,8 it seems equally likely that L/N was the first leaf of a sexternion of which E1– 4 formed the inner Hildesheim / New York 1970); corrections in Anton Edzardi, Zur Textkritik des Rother, in: Germania: Vierteljahresschrift für deutsche Altertumskunde 20, N. R. 8 (1875), pp. 403– 421, here 419– 421. Reprinted in Frings / Kuhnt [n. 1], pp. 33–36. See also Lotte Kurras, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Erster Teil: Die literarischen und religiösen Handschriften. Anhang: Die Hardenbergschen Fragmente (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg I,1), Wiesbaden 1974, p. 100. 6 Printed, with a modern German translation, in Stein / Bennewitz [n. 1], pp. 398– 427 (»Baden-Nürnberger Fragmente BE 2 (Ermlitzer Fragment)«); I follow the line numbering of this edition (E 1– 443). For the first publication see Karl von Bahder, Zum König Rother, in: Germania: Vierteljahresschrift für deutsche Altertumskunde 29, N. R. 17 (1884), pp. 229–243. Reprinted in Frings / Kuhnt [n. 1], pp. 47–73. See also: Die Welt von Byzanz – Europas östliches Erbe. Glanz, Krisen und Fortleben einer tausendjährigen Kultur, ed. Ludwig Wamser (Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung 4), Munich 2004, p. 424 cat. no. 979. 7 In references to H I follow the line numbering first introduced in earlier editions by H. Rückert and K. von Bahder, as interpreted by Stein / Bennewitz [n. 1]. This edition gives the divergent line numbering used by Frings / Kuhnt and De Vries in the margin to the left of the text. 8 Bahder [n. 6], p. 240.
A Fragment of ‘König Rother’
25
leaves. An overview of the surviving portions of text, in which the damaged lines are indicated by round brackets, will serve to clarify the make-up of E/L/N. It should be noted that the actual number of lines in each column, indicated in square brackets, sometimes exceeds that of the critical edition because of expansions and added lines. L/N – – – E1 E2 E3 E4
L (975–1001) [28] + N 1002–1027 [30] / N 1028–1054 [29] + L (1055–1084) [28] ............................................................................... ............................................................................... ............................................................................... 1386a-1403 [28] + 1404–1432 [29] / 1433–1460 [28] + 1461–1490 [28] 1491–1518 [28] + (1519–1549) [29] / (1550–1575) [28] + 1576–1603 [28] (centre of quire) 1604–1630 [27] + 1631–1656 [27] / 1657–1681 [27] + 1682–1708 [27] 1709–1737 [27] + (1738–1762) [27] / (1763–1790) [28] + 1791–1815 [27]
In the following transcription I give the text of the Los Angeles fragment in parallel to that of the complete manuscript H in Heidelberg, which I take from the edition by Peter Stein and Ingrid Bennewitz.9 L Left-hand column (recto)
5
10
15
20
. . .n wizse christ . . .(:)ez wert ist. . . . ich nt zekeinem ¶man . . .chen her qua¯. . . .n daz lant . . . (v)nbechant. . . .t so groz . . .r vber gnoz. . . .inden gwalt min . . .(:)e wirt sin . . .da¯ch ist . . .(:)e wirt bist . . . dv woltest g’n . . .t mohte¯ gew’n. . . .lgetan . . .e erzoge¯ han. . . .se Rvther . . . vb’ mer. . . .h betwngen . . . gevangen. . . .(h)ere . . .(m)er mere
H deme wirt gedienit, wizze [wize MS.] Crist, alse her wert ist. doch ne achtich zo nieheinen vrumen man, der da ie durch richtom uz quam her zo Kriechen in dit lant. ture degene ville balt, din geverde daz ist groz, du bist ir aller obergnoz! nu gebut dir an de gewalt min, du salt hie silve wirt sin, wandiz mir zo danke is, daz du minis gotis gerochis. wer wanden, daz du gertis einir magit wolgetan die ich mit vlize irzogen han: so tet ich also Rothere der dich virtreib ober mere. den han ich iedoch bedwungin: sine botin sin hiere gebunden in mime kerkenere, her ne gesiet sie nimmer mere.
975
980
985 – 988 990
995
9 Round brackets indicate that a letter is uncertain. Illegible letters are indicated by a colon. A vertical stroke marks off a letter that has been cut away, but is preserved intact on the matching fragment in Nuremberg. Angular brackets mark additions made by a later corrector; where he deleted a word (line 42), this is marked in italic.
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Nigel F. Palmer
Fig. 1. ‘König Rother’ L: Los Angeles, UCLA, Charles E. Young Research Library, MS. 170/112 recto and verso
A Fragment of ‘König Rother’
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. . .wene man . . .r mohte han. . . .(e)r gewalt . . .(e)gen helt balt. . . .(o) daz v’nam . . . (v)azsen began.
27
dar under waren zwene man, daz sie ein keiser mochte han gerne in siner gewalt. 998 si vuortin manigin helt balt.« Alse Asprian dise rede virnam [virman MS.], den schilt [scihlt MS.] er vazzen began [. . .].
L 3 The word man, for which the two-column format allowed insufficient space, was added by the scribe of the main text between the lines, in the right-hand margin, preceded by a paragraph sign. The final -n has been cut away, but is preserved on fol. 1r of N. L 9 The last letter of min has been cut away, but is preserved on fol. 1r of N. L 17 -er of Rvther visible under ultra-violet light. L 19 f. The words d(o)ch (of which the o is scarcely visible) and noch were added subsequently, in order to achieve a pure rhyme, by the corrector responsible for further stylistic corrections in E and N; see also L 42.
Right-hand column (verso) 30
35
40
45
50
55
Hie vert des tiv. . . e Vn¯ mohte ich d. . . Jmm’ vber win(d). . . Sa mir daz heil. . . Jch erbaitte sin . . . D o div chuni. . . Von ienem d’ do. . . Si sprach nv wa(r). . . Hie fvret man d. . . An einer chete. . . Owi wie tvm. . . Daz dv dine t. . . Der dise vertr. . . Ez wielt niht . . . Got gebe dine. . . Mohtest dv d. . . Jch wene ab’ . . . Swes si an dic(h) . . . dez gew’test d(:). . . Vor vorhten m. . . Hieten si nv (m). . . Si hiezzen in . . . Dar vmbe dv. . . Hast benome(n) . . . Da wolt ich di. . . Dise choment . . . Si fvrent gvt. . . Mich dvnchet (d). . .
»hir veret des tuvelis brut! 1055 mochtich die schande immer mer gewandelen – so mir daz heiliche licht! –, ich negebeite sin vor deme kuninge nicht!« Also die kuninginne gesach 1060 dene de dar gebunden lach, – sie sprach: »sich nu, herre Constantin, hi voren sie den meister din in einer ketenen zwaren! owi, we tump wer do waren, 1065 daz wer unse tochter virsageten Rothere der dise virtreif [uirtreiph MS.] uber mere: iz ne gewelt nicht grozer wisheit! got der moze geven leit dineme ungemote! 1070 owi, herre gote, nu mochtistu dise van oder slan, ob wer minen rat hedden getan! ich wene aber, sowes sie dich beten, daz du iz vor vorchtin tetes, 1075 mer dan dur gote. owi, hetten sie nu min gemote, so heizen si in geben daz selve wif [wiph MS.], dar umbe du manegen man daz lif [liph MS.] hast benumen unde bracht in arbeid: 1080 so wolde ich sien dine kundicheit! dise ne sin dir aver kumin nicht rechte, sie voren gote knechte [knenchte MS.], mich dunkit, daz sie dine meistere sin. [. . .]«
L 36, 38, 46– 47, 49–56 The majuscules at the beginning of the line are partly cut away, but have been preserved on fol. 1v of the Nuremberg fragment. L 42 Ez deleted and changed to dv by a later hand; the same hand was responsible for the corrections in the Nuremberg and Munich fragments. L 43/44 No gap in the manuscript.
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II. The provenance of the Los Angeles fragment is not as clear cut as might at first appear and depends on an interpretation of the host volume MS . 170/642 and its binding. The manuscript consists of two parts, both copied in the Cistercian abbey of Salem, north of the Bodensee, in the last third of the fifteenth century. The first fascicule contains a section of the ‘Vitaspatrum’, comprising twentytwo chapters of the ‘Historia monachorum’ (1r –58v, Inc.: Benedictus dominus deus qui wult omnes homines saluos fieri ... IN nomine sancte trinitatis Primum igitur tanquam vere fundamentum nostri operis ...), copied by a named Salem scribe in 1478: Per me fratrem johannem de tuibingen sed professus in Salem isto tempore sub diaconus Anno domini M cccc lxx8 (58v).10 The second fascicule contains a musical scale (59r), the opening paragraph of the ‘Tractatus de Purgatorio 10 In view of his profession at Salem, Joannes de Tuibingen (Tübingen) is unlikely to be identical with any of the slightly later Cistercian scribes and book owners at the abbey of Bebenhausen, near Tübingen, who bore the same name. Cf. Ansbach, Regierungsbibliothek, Ms. Lat. 41, with the name Johannes de Tuibingen; Oxford, Bodleian Library, MS . Canon. Pat. Lat. 223, written in Jadra (Zadar, Dalmatia) in 1489 by Johannes de sueuia. ciuitate tuibingen (fol. 271v), Johannes Tuibinginensis monachus (fol. 322v); Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 108: per humilem fratrem Johannem Howenschilt de Tübingen, 1503 (fol. 222v); Cod. brev. 161: per me fratrem Johannem ex tu´wingen sartoris filium in bebenhusen professus, 1495 (fol. 168v) (formerly Paris, Libraire Jacquemet). See also: Colmar, Bibliothe`que municipale, Ms. 462 (cat. 342), written by Johannes Sartor in 1502, with dedication to Felix Huber prior of Bebenhausen; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Sal. VII 1, probably the work of Johannes Hauwenschild; Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB I 137, inscription by Johannes Sartoris on fol. 180. Johannes Hawenschilt and Johannes sartoris are included in a list of Bebenhausen monks from 5 May 1488 in Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, J 1 Bd. 206, fol. 156r. See Günther Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken vom Mittelalter bis 1806 (Schriften des Instituts für fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen [1.] 8), Kallmünz 1961, p. 50 and n. 27; Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVI e sie`cle, ed. Be´ne´dictins du Bouveret (Spicilegii Friburgensis subsidia 2–7), Freiburg / Switzerland 1965–1979, vol. 3, nos. 11586, 11720–21 (MSS . in Oxford and Paris / Stuttgart); Jürgen Sydow, Die Zisterzienserabtei Bebenhausen (Germania Sacra, N. F. 16: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz: Das Bistum Konstanz 2), Berlin / New York 1984, pp. 286 f.; Ursula Schwitalla, Zur Geschichte der Bibliothek des Klosters Bebenhausen, in: Die Zisterzienser in Bebenhausen, ed. Ursula Schwitalla and Wilfried Setzler, with Christopher Blum, Tübingen 1998, pp. 85–104, here pp. 95 f.; Sigrid Krämer, Scriptores codicum medii aevi. Datenbank von Schreibern mittelalterlicher Handschriften, CDROM , Augsburg 2003, s. v. Johannes de Tuibingen. Johannes de Tuibingen is not listed in the Salem necrology, for which see Franz Ludwig Baumann, Das Totenbuch von Salem, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 53 N. F. 14 (1899), pp. 351– 380, 511–548; Leodegar Walter, Das Totenbuch der Abtei Salem, CistercienserChronik 40 (1928), pp. 1–5, 37– 40, 71–77, 106–110, 129–135, 164–168, 194–197, 220– 224, 246–251, 281–285, 322–326, 359–378; Nachträge zum Totenbuch (I. Teil) der Abtei Salem, ibid. 59 (1952), pp. 17–22. My thanks to Andrea Fleischer (Heidelberg) and Peter Rückert (Stuttgart) for references.
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Sancti Patricii’ (60r), Innocent III : ‘De contemptu mundi sive de miseria humane conditionis’ (60v –88v), Hugh of St Victor: ‘Soliloquium de arrha animae’ (88v – 91v), and Johannes Herolt: ‘Sermones Discipuli communes et de sanctis’ nos. 137–140, 156–160, 163, 141–150, 152–155, 122 (92r –179v, ends incomplete).11 The scribe names himself on fol. 179vb as Joannes Krantz.12 That this fascicule too originated in Salem is suggested by the extract from the ‘Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii’ by the English Cistercian H. of Saltrey, which is most likely copied from the Salem manuscript Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Sal. IX 31, fol. 63r (second quarter of the thirteenth century).13 How long the manuscript remained in Salem is not known, and it is only possible to speculate on where the manuscript survived to the twentieth century. It was purchased by the Charles E. Young Research Library around 1988 from the bookseller Bernard M. Rosenthal of Berkeley, who acquired the volume from Paul Veyssiere (Librairie »Les quatres vents«, Tours) in 1986.14 The binding dates from the fifteenth century and consists of bevelled wooden boards covered in unstained alum-tawed deer skin, devoid of any ornamentation; as such it is untypical of the Salem collection.15 The inside of the upper and lower boards is covered with leaves from a Latin paper manuscript, serving as board-liners or pastedowns, pasted over the turn-ins of the leather covering, but only extending as far as the spine-edge of the boards.16 11 The sermons of Johannes Herolt as numbered in the incunable editions Hain 8473– 8508 (cited from Hain 8496). 12 Cf. the ownership inscription Joannes Krantz in Überlingen, Leopold-Sophien-Bibliothek, Ms. 43, fol. 1r, a late fifteenth-century collection of normative texts for Cistercians nuns for one of the women’s houses dependent on Salem; later ownership inscription: Sum monasterii Salem; Christian Heitzmann, Die mittelalterlichen Handschriften der Leopold-Sophien-Bibliothek in Überlingen, Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 120 (2002), pp. 42–103, here p. 89. The scribe Joannes Krantz cannot be identical with Johannes Krantz de Bufnang listed in the Salem necrology, who appears to have died on 23 May 1577; Walter, Totenbuch [n. 10], p. 134. 13 Described by Wilfried Werner, Die mittelalterlichen nichtliturgischen Handschriften des Zisterzienserklosters Salem (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 5), Wiesbaden 2000, p. 231. See also ibid., pp. XLIX f., for a discussion of four manuscripts copied in Salem from English exemplars. 14 The manuscript was designated no. 102 in Rosenthal’s stock. I am grateful to Richard Rouse and Bernard M. Rosenthal for information about the circumstances of acquisition. 15 The Salem bindings from the later fifteenth century described by Werner [n. 13] are all stamped and tooled. See also Armin Schlechter, Die Einbände der Inkunabeln aus der Bibliothek des Zisterzienserklosters Salem unter besonderer Berücksichtigung der Werkstatt Salem-Weißenau (Kyriss 25 = EBDB w00056), Einbandforschung 14 (2009), pp. 33– 41. 16 The two leaves derive from the same fifteenth-century paper manuscript and contain part of an unidentified scholastic treatise on moral philosophy with twenty numbered ›responsiones‹, citing the Bible, Aristotle’s Politics, and Ps.-Boethius: ‘De disciplina scholarium’.
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Fig. 2. Los Angeles, UCLA, Charles E. Young Research Library, MS. 170/642, front pastedown and fol. 1 r (as in March 2005)
The parchment strip with the text of ‘König Rother’ was sewn in with the first quire of the ‘Vitaspatrum’ to provide a flange that could be pasted down to the upper board, over the paper board-liner and hooked round the first quire, with a stub between fols 11 and 12, and was thus functional in attaching the bookblock to the board (cf. Fig. 2). A similar, but wider parchment strip containing Latin text and with exactly the same function was sewn in with the last quire of the manuscript and pasted down to the lower board.17 It appears from traces of paper pasted over the board-liners and over the strip from ‘König Rother’ that additional, blank pastedowns were at one time glued to the inner surface of both boards in order to neaten up the appearance, but these leaves have at some time been removed. The first leaf of the first sexternion, which may well have contained inscriptions relevant to the provenance, has also been removed, perhaps in more recent times. The parchment flange that was pasted to the lower board contains inscriptions by two different mid-fifteenth-century hands, recording the names of Salem monks and referring to the years 1452 and (14)62: tephanus hegar Anno m occcc o lij o and ainricus opp anno lxii emi[ :::] (the last 17 This fragment is a horizontal strip, preserving the full width of a double leaf from a late thirteenth-century two-column manuscript of an unidentified Latin formulary, including advice on epistolary style and the forms of address to be used in writing to cardinals; Magister Guido is cited as an authority.
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word uncertain). Stephanus Hegar (or Heger) was a monk of Salem from 1420 until his death in 1467, which is recorded in the Salem necrology, and is known as the scribe of a short set of Latin sermons, with an appended list of animal names in Latin and German, in Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Sal. VII 106b, fols 173r –184v.18 Hainricus Opp is named in a Salem charter of 1417 and his death is recorded in the Salem necrology under 14 July (Hainricus Opp monachus et sacerdos).19 It is clear from the position of these inscriptions, which were written one above the other in the inner margins of the double leaf of parchment, at right angles to the text of the formulary and now situated at the centre of the lower board of the binding, that their addition was subsequent to the use of the parchment strip as binding scrap. As they appear to record ownership, or to put on record the use or transfer of use within the abbey of Salem, at a particular date,20 it seems very unlikely that these entries could have been added significantly later than the years recorded in the inscription, namely 1452 and 1462. It follows, as the book-block is dated by hand 1 of MS . 170/642 to 1478, that the boards and leather covering, including the parchment flange attached to the lower board, originally served as the binding of a different manuscript, and that we have here, however improbable this might seem at first sight, the relatively unusual case of a binding that has been reused. This hypothesis is strengthened by the fact that the manuscript leaves pasted inside the boards (over the turn-ins of the leather covering, but under the parchment strips by which the boards are attached to the book-block), referred to above as ›board-liners‹, are functionless in the present binding. It may be surmised that in an earlier binding the single leaves of Latin text now used as board-liners were attached to counterparts or hooks sewn in with the book-block or the endleaf quires, and played their part, in the manner of conventional pastedowns, in attaching the boards to the book-block. The lack of ornamentation on the leather covering is more easily understood once it is realized that the binding may date from the mid-fifteenth century, and not from the period around 1478 when the texts were copied.21 18 Walter, Totenbuch [n. 10], p. 325 (20 November 1467); Werner [n. 13], pp. 81 f. Hegar’s Latin-German glosses are printed by Franz Josef Mone, Glossensammlung II . Salmansweiler Glossen, in: Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters 3 (1834), col. 50. 19 Walter, Totenbuch [n. 10], p. 196; Nachträge [n. 10], p. 21. 20 For the interpretation of ›ownership marks‹ and the terms of ownership in a Cistercian abbey in this period, see Nigel F. Palmer, Zisterzienser und ihre Bücher. Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford und London aufbewahrten Handschriften, Regensburg 1998, pp. 143–152. I regard the reading emi in the second inscription as too uncertain to be used to support further conclusions. 21 For the construction of endleaf quires of this type and their role in attaching the boards to the bookblock, see Jan A. Szirmai, The Archaeology of the Medieval Bookbinding, Aldershot / Burlington, VT 1999, p. 179. The 410 cases studied by Szirmai contain several types with a flange, but none with a sheet of lining paper between the flange and the board; the flange attached to the upper board of the Los Angeles
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Our investigation of the binding has established that in all probability the boards and leather covering of a manuscript from the Salem collection were reused about 1478 to provide a binding for a newly copied Salem manuscript. We cannot be certain that the reused binding was originally made at Salem, but it seems likely that the manuscript which it first enclosed was already at Salem shortly after 1452, when the name of Stephanus Hegar was entered. On the evidence of the inscriptions the parchment flange, that was until relatively recently pasted to the lower board, must have been taken over from the earlier binding and reused. There is no evidence, however, to suggest that this also applies to the ‘König Rother’ fragment, which served to attach the upper board to the book-block. It seems unlikely that such a narrow strip of parchment could have survived being extracted from an earlier binding to be reused in the present manuscript with the same function. Furthermore, the parchment flanges at the front and back of the book are different in character, that at the front (the ‘König Rother’ fragment) being unusually narrow, that at the back (the Latin formulary) being an exceptionally broad strip extending over half the width of the board. It is much more likely, therefore, that the strip taken from a ‘König Rother’ manuscript was a new piece of binding scrap supplied by the binder of c. 1478 at the Cistercian abbey of Salem. Finally, it must be considered how these conclusions regarding L relate to what is known of the provenance history of N and E. As noted above, the Nuremberg fragment N is first attested in 1827 in the private ownership of Profesor J. A. S. Federer, a teacher at the Sekundarschule in Baden in northern Switzerland; it is a vertical strip (210 × 85 mm) removed from the board of a book, and most likely employed by the same bookbinder and serving the same function, namely as a vertically positioned flange attached to the inner surface of the board, as the fragment in Los Angeles. This might suggest a Salem provenance, but there is no independent evidence to indicate how Federer came by the book.22 The Munich fragment E is said in the Buxheim sale catalogue, where it is listed as item 2815a, to have been removed from an incunable, presumably one of the 541 Buxheim incunabula offered for sale at the auction, but apart from the fact that it must have been a pre-1500 printed book in quarto we have no information about the host volume.23 The Swabian monasteries of Salem (near volume is also unusual in being much narrower than Szirmai’s examples, which usually reach to one third of the width of the board. The term ›flange‹, corresponding to German ›Flügelfalz‹, is taken over from Szirmai. 22 For J. A. S. Federer, see Dictionnaire historique et biographique de la Suisse, vol. XIII , Neuchaˆtel 1926, p. 73; Leo Zeller, Josef Anton Sebastian Federer (1794–1868). Leben und Wirken bis zur Badener Konferenz, Diss. Freiburg / Switzerland 1964. Federer’s Nachlass in the Stadtbibliothek Vadiana in St. Gallen contains no correspondence with the editor of the fragment, E. G. Graff (cf. n. 5). I am grateful to Wolfgang Gödli (St. Gallen) for this information. 23 Catalog der Bibliothek des ehemaligen Carthäuserklosters Buxheim aus dem Besitze
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Überlingen) and Buxheim (near Memmingen) were both dissolved under the terms of the Reichsdeputationshauptschluss of 1803 and their property made over to the house of Baden and to the Counts of Ostein (succeeded by the Counts of Waldbott-Bassenheim) respectively.24 The Salem library was purchased en bloc by the Großherzoglich Badische Universitätsbibliothek in Heidelberg in 1827, the year in which the Nuremberg fragment is first attested in the possession of J. A. S. Federer, and it is therefore possible, in view of the likelihood that the fragments L and N were employed by a Salem bookbinder, that Federer’s acquisition of the fragment is in some way connected with the transfer of the Salem library to Heidelberg. The Buxheim library remained in the possession of the Counts of Waldbott-Bassenheim until its dispersal in 1883. The library of the charterhouse at Buxheim was characterized by the receipt of donations, many of which were brought with them by new members of the monastic community, so that the Buxheim provenance of the Munich fragments is not in itself a strong indicator for the institutional origin of the codex discissus of ‘König Rother’.25 It is undoubtedly, however, in the region of Upper Swabia, north of the Bodensee, where these two abbeys were situated, that the manuscript from which these leaves have been preserved survived until the later years of the fifteenth century.26 III. The palaeographical, linguistic and textual evidence of the Los Angeles fragment on its own is insufficient to modify in any significant way what can be learned from a study of E and N. It simply confirms and reinforces the picture that can be derived from the more extensive fragments, which were analysed in some detail by Karl von Bahder in 1884 (n. 6). The purpose of this concluding section is to attempt a brief overview of what can be known about the codex discissus E/L/N in the light of modern scholarship, putting all the evidence together. With regard to date, Karin Schneider’s suggestion of the end of the thirteenth century must be allowed to stand. Despite the overall conservative appearance, seiner Erlaucht des Herrn Hugo Grafen von Waldbott-Bassenheim [. . .], XXX . Carl Förster’sche Kunstauktion. Abt. II . Bibliotheca Buxiana, Munich 1883, p. 151. Cf. Volker Honemann, The Buxheim collection and its dispersal, in: Renaissance Studies 9 (1995), pp. 166–188; Charterhouse Buxheim and its Library. William Whobrey, Yale University (http://www.cls.yale.edu/buxheim/index.html; last consulted 8 March 2011). 24 Werner [n. 13], p. LVII ; Honemann [n. 23], p. 173; both with further references. 25 See the account of the library in Honemann [n. 23], pp. 167–170 (with further references). 26 For an attempt at the reconstruction of the circumstances in which a copy of another Middle High German courtly romance was broken up to be used as binders’ scrap in the same region and at about the same time, see Christine Putzo, Die Frauenfelder Fragmente von Konrad Flecks ‘Flore und Blanscheflur’. Zugleich ein Beitrag zur alemannischen Handschriftenüberlieferung des 13. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 138 (2009), pp. 312–343, esp. 334–343.
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which might at first sight point to the 1260s or 70s, the occurrence of a number of modern letter-forms (especially f, s, t, z, and the majuscules) speaks more for a date towards the end of the century, most likely in the 1290s and thus some 20–30 years before the Vienna ‘Willehalm’ manuscript, which is dated 1320 and may serve as a useful landmark. The ‘Willehalm’ provides a useful comparison in terms of level of script and place of origin (but with clearly more advanced forms of the letters a and z).27 Ruling is in ink. The first line of text is copied below the top ruled line (a feature evident in L and N, but not in E, where the upper margins have been cut away). The script is a highly legible, professionally written textualis without calligraphic pretensions. Minor initials are in red. The verses are set out in lines, and as a rule each new line begins with a majuscule. There is one case where two verses are written on a single line (N 45– 46). The punctuation system, which would appear to be a distinctive feature of the manuscript, even though it is not absolutely consistent, marks the second line of each couplet by a punctus.28 Personal names are commonly marked by a majuscule. The script is spacious, set out so that each word appears as a single block. Rounded letter-forms are broken, but not with the strict regularity that one might expect of a fully developed fourteenth-century textualis in a manuscript of this quality. Biting occurs regularly wherever rounded letter-forms meet: be, de, do, pe, va, and ve, sometimes even he and ho. The a has an upright back and an open upper lobe, sometimes broken, occasionally with a hairline closing the bow to make a twocompartment a. A distinctive feature of b, h and l is the repeated, but by no means invariable use of an elongated horizontal approach-stroke forming a serif at the head of the ascenders (e. g. L 19, N 2, E 3– 4, 21); in the letter combination ll the two ascenders remain separate and are not linked by a horizontal line, as in many fourteenth-century hands. For d only the round-backed uncial form with 27 Schneider [n. 2], pp. 233 f. n. 117. For the following discussion, see Schneider, passim (and indices), and Albert Derolez, The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century, Cambridge 2003, whose account of northern textualis is my main point of reference for terminology; cf. Derolez, pl. 28 (‘Arabel’ from the Vienna ‘Willehalm’ MS .). For the script and provenance of the Vienna ‘Willehalm’ manuscript, see Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. II . Die oberdeutschen Schriften von 1300 bis 1350. Textband, Wiesbaden 2009, pp. 25 f. 28 For a similar punctuation system, but with the second line of each couplet indented, see Wolfram von Eschenbach: ‘Willehalm’, Fragm. 83 (late thirteenth / early fourteenth century), reproduced by Betty C. Bushey, Nachträge zur ‘Willehalm’-Überlieferung, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag, ed. Kurt Gärtner and Joachim Heinzle, Tübingen 1989, pp. 359– 380, here pp. 377–380 (for »Fragm. 84« read »Fragm. 83«). See also Nigel F. Palmer, Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft, in: PBB 113 (1991), pp. 212–250, here p. 240 (for »Fragm. 84« read »Fragm. 83«); the punctuation system [ A A. ] can be interpreted as a variant of type IV .
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a sloping shaft is employed. The letters f and upright-s, the shafts of which are formed with a double pen-stroke (clearly visible in N 40 and E 51–52, cf. Schneider, n. 2), have a pointed base, which occasionally descends slightly below the baseline, whereas the bow of the h is extended well below the line. The letter i is often marked with a diagonal stroke. Both upright and rounded forms of r are used, the latter only after o. In final position both upright-s and rounded-s are used, the latter rising slightly above the headline (cf. Schneider, p. 204), also an elongated rounded-s ending in a hook which descends below the baseline like the bow of the letter h (L 22, 33, E 311). For st the ligature is used. The bar of t (and occasionally of f), when employed in final position, is frequently ornamented with a vertical hairline, as more commonly in fourteenth-century manuscripts. Whereas the scribe employs only one form of z, with a distinctive tail cutting through the baseline, in the manner of the later thirteenth century, the corrector, whose work is most visible in E fol. 1r, uses an earlier form of short-z with a wavy approach-stroke (E 42 and L 9). Majuscules are frequently ornamented with vertical hair-lines, sometimes also with loops derived from the letter-forms of cursive script (S and D). For majuscule M the distinctive form with a tailed final stroke alternates with the non-distinctive minuscule form; majuscule V is distinguished from the minuscule only by having an approachstroke from the right. Abbreviations are frequent, including the standard forms of con, er, m/n, ra, ri, n t for niht, and vnd(e). The dialect of E/L/N is the Eastern Upper German idiolect, which was current in Austria and central and southern Bavaria, and thus points to an area further to the east than the region in which the fragments were used in bookbindings. The linguistic profile is determined by the following features: – 〈ai〉 is the normal form for MHG ei, less frequently 〈æi〉 (9 ×), but invariably 〈ei〉 or 〈æi〉 in heilich (e. g. L 32), ein/æin and the related pronominal forms dehein and kein (e. g. L 3). – 〈æ〉 is employed frequently for short e, short ä, and æ, but never for eˆ (e. g. wærden E 107, wægene N 37, wære E 51, mere L 22); cf. gedrange (: stange) E 320 (with 〈a〉 for ä). The relative frequencies of the rendering of æ by 〈æ〉 (19×) or 〈e〉 (14 ×) are determined by the word-specific spellings wære (12×), mere(n) (7 ×) for MHG mære (mære 1×), and chamerere (4 ×). o – MHG uo is regularly realized as 〈v〉 (c. 80%), less frequently as 〈v〉 (c. 20%); o o o 〈v〉 is also employed for MHG ou (kvfman E 28, rvft E 349) alongside the o o regular form 〈ou〉, for MHG uˆ (e. g. fvste E 415, trvrende E 25) alongside the o o regular form 〈v〉, as well as for secondary umlaut of u (e. g. fvr E 69, mvlstæine N 49); the name of the principal character is invariably written without a e e superscript as Rvther(e) (L 17, N 6, E 102, 429). Note 〈v〉 for üe in mvt E 436. – Diphthongization is not as a rule indicated; in all there are just three occure rences: leip E 307, ev E 341, wıt N 1 (suprascript e in the corrector’s hand).29 29 The form auch E 427 is a misprint in Stein / Bennewitz [n. 1]; the MS . reads ouch.
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– Apocope of final -e has only occurred to a limited extent (cf. chneht N 6, an N 17), but note the hypercorrect form sæhse E 278, the regularly syncopated forms such as gwalt L 9 (alongside gewalt L 25), E 96, gnesen E 289, and gnoz L 8; frvmchliche E 49 (alongside frvmechlichen E 35). – 〈ch〉 is the normal form for MHG k/c in all positions including final -g, e. g. chan N 30, chneht N 6 (exceptions: kamer E 137, kemen(ate) E 165, kamerere E 262, kamerman N 35, kethen E 285 alongside chete(n) L 38, kvnich N 16 alongside the regular form chunich E 175); rechen E 170, dvnchet L 56 (but invariably 〈h〉 in niht e. g. L 42, welher E 91, mohte(n) L 14, E 63, and exceptionally benke E 261); sprach L 36; volch E 316 (but mark E 71, schalc E 6, volkez E 288, zwainzek E 287 alongside drizzech E 212); lach E 273, tach E 235 (-g); cf. marchrauen E 212; sic E 201 (hypercorrect?). – 〈s〉 and 〈z〉 are used indiscriminately for MHG s and z, 〈zs〉 and less commonly 〈zz〉 for MHG zz. 〈zz〉 is also the commonest rendering of MHG z (13×), alongside 〈z〉 (7×) and 〈zz〉 (2×). This feature accords well with the palaeographical dating of the script at the very end of the thirteenth century.30 – Distinctive Bavarian features include: ditz N 6, E 86 (etc.); chom E 18 (the only occurrence of the word mid-line), chan E 358 (an artificial spelling for the rhyme with man), alongside the regular rhyme form quam L 4, N 56 (etc.); 3 p. sg. pret. ind. het E 103 (regularly), 3. p. sg./pl. subj. hiet/ hieten E 299, L 49.31 i i – Distinctive Alemannic features are: 〈v〉 for secondary umlaut of u in svlt N 20 i (suprascript added by the corrector); 〈-g-〉 for -h- in flegende E 26; 〈-m〉 for -n in im E 49, 〈mm〉 for nn in lammen N 48; 〈-n〉 for -m in fraisan (: han) N 43 und nan (: gan) E 221; dierre for diser E 94; ritter (with geminated 〈-tt-〉) E 146;32 gat E 98 (mid-line), and frequently in the rhyme; gen for geben E 71. The Alemannic 2. p. pl. pres. in -ent does not occur; but see the 3 p. pl. pret. in -ent in nvzsent E 214 and fvrent E 216. The artificial rhyme bvrgi (: fvrent si ) E 217 presupposes familiarity with the Alemannic retention of final -ıˆ. e e – Isolated linguistic forms: 〈o〉 for secondary umlaut of o and oˆ in mohte L 30 and e schonen E 430; 〈o〉 for aˆ in noh E 443; 〈k-〉 for g- in enkeltent E 323; 〈-nd-〉 for -nn- in landen E 357; 〈-ng-〉 for -nn- in gewngen N 37; syncope of sagete ez to sages E 85; (erroneous?) strep as 3. p. sg. pret. of streben (wk. vb.) N 48; giengte (?) as 2. p. pl. imperative of gaˆn E 34; infinitive in -e in rvche E 243. The overall picture is one of a distinctive variant of Eastern Upper German/ Bavarian (〈ai〉, 〈ch〉, chom/quam), in which the more recent phonological developments such as secondary umlaut, diphthongization, the development of ä, æ and eˆ, and the coalescence of s and z, have been realized to differing degrees. 30 Cf. Ursula Schulze, Studien zur Orthographie und Lautung der Dentalspiranten s und z im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert (Hermaea N. F. 19), Tübingen 1967, resume´e of the evidence for northern Bavaria and Franconia pp. 168 f. 31 Klein [n. 1], p. 138 n. 81. 32 ibid., p. 138 n. 82.
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Alemannic features are certainly present, but they occur sporadically and it is therefore difficult to determine if their presence is a function of the regional location of the scriptorium, the nature of the exemplar, or more general aspects of the literary interchange between different regions. ‘König Rother’ is one of a number of twelfth-century epic poems of which it has often been said that they could only meet the expectations of later literary audiences after they had been subjected to stylistic revision by thirteenthcentury redactors.33 E/L/N exemplifies this phenomenon. Is it one of a multiplicity of versions of the ‘König Rother’, or should the codex discissus E/L/N and the Heidelberg manuscript H be seen as representing two principal branches of the textual tradition of ‘König Rother’, alongside which the two other fragments, B and M (see note 2 above), must be accorded a subordinate position? Is the text of the recension documented by E/L/N, as distinct from the late thirteenth-century scribal copy in which it has been preserved, datable, and in particular should it be thought of as a product of the thirteenth century, dating from the period after the texts that set the stylistic norms had been composed, or does the phenomenon of recension observable in E/L/N date back to a period closer to the original composition of the poem in the later twelfth century? Viewed in its relation to H, the version of ‘König Rother’ contained in E/L/N is a secondary recension, in Joachim Bumke’s sense of a ›Bearbeitung‹,34 in that one of its principal characteristics is a deliberate reworking in order to increase the proportion of pure rhymes. Some of the main features of this recension can usefully be demonstrated from a consideration of the opening lines of the Nuremberg fragment N by comparison with the Heidelberg manuscript H: [N 1 ra]
[H 15 r] e
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vnde vorderte sin wıt gewete: »man bivtet vns hie vnrede stete!« er sprach ze Constantin dem kvnich richen: »ir habet minem herren Dietrichen ein tail ze swache gezalt: Rvther sande in ditz lant chneht balt, swie ir die hiezzet binden: die enmohtens niht erwinden! nv sin wir her entrvnnen vnde svln werden gebunden, daz waiz der waltende got, hie gelit eˆ manich helt tot, der der tivrist wil sin, mir zebreste eˆ div stange min!«
1002 unde vordirte sin wicgewete. her sprach: »man butit uns hi unrechte!
ir habit minen herren zo swache gezalt: 1005 Rother sante gote knechte in diz lant! sower die heiz binden, des mochte her noch lichte untgelden! nu si wir hi vor huwen handen: er wir werdin gevangin 1010 – daz weiz der waldindiger got –, er geligit ettelicher tod der allerturist wil sin, mir ne zobreche die stange min!«
33 Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ‘Nibelungenklage’. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 (242)), Berlin / New York 1996, p. 47 (»Die gesamte Epik aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde im 13. Jahrhundert neu bearbeitet oder neu gedichtet [. . .].«). 34 ibid., pp. 45– 46.
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It would appear that the redactor of E/L/N rejected the imperfect rhymes or assonances that he found in his exemplar, which we may suppose to have been similar to H, rephrasing and expanding the text of lines N 1–8 to achieve pure rhymes, and then, in the following couplet, replacing untgelden : handen by an impure, but less obtrusive rhyme entrvnnen : gebunden (N 9–10). The opposition of variants such as chneht balt / gote knechte and niht erwinden / untgelden (with their respective syntactic constructions) is not to be interpreted as free variation or ›variance‹, such as we might find in parallel recensions of equal status, for the variants of N are a by-product of a deliberate modification of the handling of rhyme. This does not apply, however, to the different solutions for the introduction of direct speech (N 3 / H 1003) or to the opposition of the linguistic forms waltende / waldindiger, manich helt / ettelicher, or der tivrist / der allerturist, which are simply alternative modes of expression available in the language. It is possible that such oppositions have arisen as the result of the work of the redactor of E/L/N, but this is not necessarily the case. We must always bear in mind that the text represented by the near-complete manuscript H is equally likely to have been subjected to a process of stylistic and linguistic redaction, even if we have no concrete evidence by which to judge what this might have involved. At one point there is a significant difference in the sense between N and H. In the preceding passage, preserved only in H, the giant Asprian witnessed the encounter between Rother/Dietrich and King Constantin in which the latter stated that initially he thought they had come to woo his daughter, as King Rother did, and that if that had been so he would have driven them away, just as he had taken action in imprisoning Rother’s messengers (H 987–999). In H the giant responds aggressively with a veiled threat to whoever imprisoned the messengers (i. e. Constantin), whereas in the corresponding lines of N he confines himself to commenting on the defenselessness of the messengers. H is the ›better‹ version in that the threat fits more meaningfully into the sequence of scenes in which the giant’s impatience is articulated, but it is only the association of the difference in sense with the difference between the assonances and the more modern rhymes that allows us to consider the N text to be secondary. In cases such as this the difference in content between the two recensions is likely to be a by-product of stylistic revision rather than the result of a new literary conception of the narrative. The assonance entrvnnen : gebunden employed by the redactor in N 9–10 was rejected by a corrector to the manuscript, who deleted the word vnde and added zu vru, wir, hie and nv, in order to achieve a new reading: nv sin wir her entrvnnen zu vru svln wir werden hie gebunden nv.
Corrections such as these, which are quite numerous, are in the same hand as the addition of the pure rhyme doch : noch in lines 19–20, and the change of Ez to dv (›that was not ...‹ / ›you did not ...‹) in line 42 of the Los Angeles fragment,
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and they provide evidence that this recension of the text had survived to the end of the thirteenth century in a form that was still felt to require stylistic revision. Similar additions in the corrector’s hand, to achieve pure rhyme, occur in N 33–34, 37–38, E 12–13, 24–25, 38 (here combined with a deletion to regularize the metre), 42– 43, 46– 47 and 50. E 55 is an added line of verse which the corrector appears to have invented in order to regularize the sequence of couplets at a point where the E/L/N redactor had made two lines out of three (H 1427–1429 / E 52–53). L 42 provides significant new evidence that the corrector’s work was not confined to emendation of the rhymes. The changes made by the corrector of E/L/N, even though they are restricted to a brief portion of the extant text (the single leaf L/N, recto and verso, and E fol. 1r), provide an unusual and valuable insight into the procedure of sporadic stylistic revision, such as must have been practised by many medieval scribes while they were copying and which was undoubtedly one of the factors underlying the common phenomenon that medieval poems survive in multiple versions. The recension E/L/N is shown by the work of the corrector to represent an ongoing process that continued into the later thirteenth century, not a single intervention. Notwithstanding the efforts of the E/L/N redactor, such as we have seen exemplified in the passage cited above, the recension still retains a very large number of impure rhymes, the vast majority of which correspond to the forms used in H and are thus likely to have been carried over from the redactor’s exemplar. If we ignore rhymes that are impure only by virtue of vowel length, a feature which the redactor seems to have tolerated, about one third of the rhymes in the surviving passages of this version are impure.35 This is particularly apparent in those passages where a sequence of impure rhymes occurs in succession, such as E 122–127, 204–213, and 218–229. Nonetheless, there is a clear gradation to be observed between H and E/L/N. In the passages for which a comparison between the two recensions is possible more than half the rhymes in H are impure, even ignoring vowel length, and the proportion of impure rhymes in the two recensions stands in a relationship of about three to two. In many cases the impure rhymes of E/L/N correspond exactly to those of H, and it is thus evident that they were accepted by the scribes of both branches of the transmission. There are, however, numerous passages where the readings of E/L/N and H differ quite markedly, and where both versions present impure rhymes. This can be shown most clearly in those cases where the corrector has intervened in E/L/N, allowing us to witness three distinct recensions of the text, e. g.: nv sin wir her entrvnnen vnd svln werden gebunden (E 9–10)
nu si wir hi vor huwen handen er wir werdin gevangin (H 1008–09)
35 189 rhyme pairs are preserved intact in the fragments. Of these, not counting vowel length, 66 are impure. In my discussion of the rhymes I ignore all those cases where the end of the line has been cut away, or where only one verse of a rhyming couplet has been preserved.
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Nigel F. Palmer Emended to: nv sin wir her entrvnnen zu vru vnde svln wir werden hie gebunden nv zv der porte nahen da si allesampt warn (E 33–34)
der porten also nahe daz sie sich wol undersagen (H 1032–33)
Emended to: zv der porte nahen hin zv da si allesampt warn nv vnde gewngen zwelf wægene die siben naht ze samene (E 37–38)
unde gewunnin zwelf wagine die gingin sibin nacht geladene (H 1036–37)
Emended to: vnde gewngen zwelf wægene do die siben naht ze samene so
The relative quantity of pure and and impure rhymes may mark out E/L/N as more modern in its conception of the rules of couplet verse than the Heidelberg recension. But in the many individual cases where this version persists in using the assonances that were such a marked feature of an earlier stage of Middle High German poetic style, the rhyme technique of the two recensions is indistinguishable, and neither recension can be accorded priority over the other. Shortly after manuscript E/L/N was copied, some time towards the end of the thirteenth century, a corrector intervened, introducing a very large number of emendations which simply aimed to rectify the principles of rhyme – without, it would seem, feeling any need to intervene in the metrical construction of the verse. This is the principal stylistic feature which marks out the E/L/N recension from H. In this recension the whole text (of which a reasonably representative sample has survived) appears to have been subjected at some time unknown to stylistic revision which aimed at redressing the balance of assonance and pure rhyme. Yet there was no attempt to impose this more modern conception of the rules of rhyming couplet verse, such as we know it from Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach and their followers, in a completely rigorous and systematic manner. Indeed, if only the recension E/L/N had been preserved, we would have had nothing to indicate that this was not the original form of the poem, the product of a school of German verse with a different aesthetic, in matters relating to the rhythm of the verse and rhyme, from the later developments that arose under the influence of French models. The late thirteenth-century corrector of the codex discissus E/L/N provides a commentary on the literary style of the poem by his unsophisticated attempts to impose a different system on the text such as he found it at the end of the thirteenth century. This version of the text, of which some 512 lines (a little less than one tenth of the whole) have been preserved, is in no way inferior, neither in its authenticity nor its style, to the better known Heidelberg recension. Its Eastern Upper German linguistic forms, such as were current through much of Austria and Bavaria, stand out in contrast to the complicated linguistic mix of
A Fragment of ‘König Rother’
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the West Central German recension in H. We should in fact think of ‘König Rother’ as a text that is known in two quite distinct recensions, one from the east of the German lands and one from further west, one preserved in a manuscript rather later than the other, one rather more modern in terms of the transition from assonance to rhyme, and with a manuscript transmission extending from around 1200 to the fourteenth century. Only a small portion of the Eastern Upper German recension survives, but it is sufficiently extensive to permit comparison with the West Central German version in Heidelberg and a consideration of the status of these two versions in respect of each other. That this is only part of the story is evident from the two fragments in Berlin and Munich (B and M), but these preserve such a small amount of text that they give only a tantalizing glimpse of that larger, but largely lost context which a fuller account of the transmission of ‘König Rother’ would have to address.
Zu ‘Erec’ v. 6125 Ein Plädoyer für Haupts Konjektur von Yoshihiro Yokoyama*
I. In den letzten Jahren ist der ‘Erec’ Hartmanns von Aue in drei verschiedenen Ausgaben neu veröffentlicht worden. Als wissenschaftlich maßgeblich gilt bis heute die kritische Ausgabe von Albert Leitzmann, die er 1939 herausbrachte und für deren Besorgung Kurt Gärtner in ihrer 6. Auflage von 1985 mit Christoph Cormeau und jetzt, in der 7. von 2006, allein verantwortlich zeichnet, nachdem sie zuvor dreimal, in der 3. bis 5. Auflage von 1963, 1967 und 1972, von Ludwig Wolff besorgt worden ist;1 die anderen beiden Ausgaben sind von Manfred Günter Scholz (2004, mit einer neuhochdeutschen Übersetzung von Susanne Held) und von Volker Mertens (2008, ebenfalls zweisprachig).2 Die einzige fast vollständige Handschrift des ‘Erec’, das Anfang des 16. Jahrhunderts von Hans Ried geschriebene ‘Ambraser Heldenbuch’ (Hs. A), lässt nicht nur den Anfang des Werkes und 78 Verse nach v. 4629, sondern auch in weiteren 13 Stellen jeweils einen ganzen Vers vermissen.3 Die betreffenden * Der vorliegende Beitrag ist im Zusammenhang mit einem von Kurt Gärtner betreuten Forschungsvorhaben entstanden, das ich als Stipendiat der Alexander von HumboldtStiftung vom März 2006 bis März 2007 in Trier an der Arbeitsstelle des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (MWB ) der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur durchgeführt habe. Christoph Gerhardt, den mein Dank nicht mehr erreichen kann († 28. Dezember 2010), und Ralf Plate haben ein Rohmanuskript des vorliegenden Beitrags durchgesehen. Von ihren kritischen und lehrreichen Kommentaren profitiert der Beitrag vielfach. Koji Watanabe (Chuo-Universität Tokyo) danke ich für seine freundliche Hilfe bei meiner Beschäftigung mit Chre´tiens Text. 1 Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006; 1. Aufl. 1939, 2., unveränderte Aufl. 1957, 3., 4. und 5. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff 1963, 1967 und 1972, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner 1985. 2 Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held (Bibliothek des Mittelalters 5), Frankfurt a. M. 2004; Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Volker Mertens (RUB 18530), Stuttgart 2008. 3 Näheres zur Überlieferung des ‘Erec’ vgl. Gärtner [Anm. 1], S. XI–XXIII , zu den in A festgestellten Lücken ebd., S. XIX , ferner Kurt Gärtner, Hartmann von Aue im Ambraser Heldenbuch, in: Das Ambraser Heldenbuch, hg. von Waltraud FritschRößler (cristallıˆn wort. Hartmann-Studien 1/2007), Wien / Berlin 2008, S. 199–212, hier S. 206.
Zu ‘Erec’ v. 6125
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13 Verse, v. 1429, 1961, 2055, 3623, 3789, 4079, 4117, 4238, 5043, 5545, 6125, 6520 und 6589,4 gehören alle zu den Passus, die nur in A und nicht in den wenigen erhaltenen Fragmenten der weiteren Handschriften des Werkes überliefert sind. Um sie zu ergänzen, ist man also auf Vermutungen angewiesen. Die genannten drei Neueditionen weisen in jeder der 13 Stellen eine gleichlautende Ergänzung auf und lehnen somit gemeinsam das Prinzip von Lambertus Okken ab, der von den 13 Ergänzungen in v. 1429 (nebst dem Ende von v. 1428) »eine einzige glückliche Rekonstruktion« sieht und verlangt, »daß wir die übrigen zeilengroßen Lücken leer lassen sollten –, zumal weil Hartmann selbst die Leere einigemale gewollt zu haben scheint.«5 Die meisten derjenigen 13 ergänzten ‘Erec’-Verse, die sich durchgesetzt zu haben scheinen, gehen auf den ersten Herausgeber Moriz Haupt (v. 1961, 2055, 4079, 5043, 6125 u. 6589, vgl. auch v. 4117) oder auf dessen Lehrer Karl Lachmann (v. 4238 u. 5545, vgl. auch v. 3789) zurück.6 Haupt selbst verfährt allerdings bei der Gestaltung seines ‘Erec’-Textes so zurückhaltend und vorsichtig, dass er für die 13 Stellen immer nur einen Asterisk (*) in den kritischen Text einfügt und den aus seiner Sicht akzeptablen Vorschlag zu jedem einzelnen Vers außer zu v. 1429 erst im unter dem Text stehenden Apparat zur 1. Ausgabe von 1839 bzw. in den an den Textteil angehängten ›Anmerkungen‹ zur 2. Ausgabe von 1871 mit dem Vorbehalt »vielleicht« (zu v. 5545) oder »etwa« (zu allen anderen 11 Stellen) verzeichnet. Anders geht der zweite Herausgeber Fedor Bech vor.7 Bech ergänzt an 12 der genannten 13 Stellen in eckigen Klammern einen Vers direkt im kritischen Text.8 Dabei macht er zu v. 1429, 1961 und 4238 eigene Vorschläge, übernimmt zu v. 2055, 3789, 4079, 4117, 5043, 5545 und 6589 die Vorschläge von Haupt oder Lachmann und schließt sich in v. 3623 an Franz Pfeiffer und in v. 6520 seit der 2. Auflage an Karl Bartsch an; an den letztgenannten beiden Stellen folgen die drei Neuausgaben ebenfalls Pfeiffer oder 4 Die Aufzählung der Stellen in Anlehnung an Gärtner [Anm. 1], S. XIX . 5 Lambertus Okken, Nochmals zu Hartmanns ‘Erec’, in: ABäG 53 (2000), S. 167–186, hier S. 176, Zitate ebd. Vgl. dazu Gärtner [Anm. 1], S. XIX und Manfred Günter Scholz, Der Erec-Text zwischen Albert Leitzmann / Ludwig Wolff und Lambertus Okken / Hans Ried, in: Fritsch-Rößler [Anm. 3], S. 260–279, hier S. 270 f. 6 Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Moriz Haupt, Leipzig 1839; Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, 2. Ausgabe von Moriz Haupt, Leipzig 1871 (Nachdr. Hildesheim / New York 1979). Die heute übliche Verszählung der 2. Ausgabe ist um einen Vers höher als die der Erstausgabe. 7 Hartmann von Aue, hg. von Fedor Bech. 1. Theil: Eˆrec der Wunderære (Deutsche Classiker des Mittelalters 4), Leipzig 1867, 2. Aufl. 1870, 3. Aufl. 1893 (Verszählung wie in Haupts Erstausgabe, s. Anm. 6). 8 Von Bech [Anm. 7] wird v. 3623 (= 3622 nach Bechs Verszählung) in den ersten beiden Auflagen nicht eingeklammert, und zwar vermutlich deswegen, weil in diesen – anders als in der dritten – das darauf folgende Reimpaar eingeklammert wird, denn »3623–24 sind wegen ihres Inhalts mit Pfeiffer für unecht zu halten« (Bechs Anm. zur Stelle in der 1. und 2. Aufl.; diese Anm. wird in der 3. Aufl. gestrichen).
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Yoshihiro Yokoyama
Bartsch. Allein bei v. 6125, um den es im folgenden gehen soll, ist Bechs Ergänzung nicht eingeklammert, denn Bech nimmt an, dass dort nicht ein ganzer Vers, sondern nur der letzte Teil davon fehlt und der Anfang zum vorangehenden Vers gezogen worden ist. Ich gebe im folgenden den in A überlieferten Wortlaut der einschlägigen Stelle und ihrer Umgebung wieder und stelle ihm nur für v. 6124 f. Bechs Text gegenüber: Hs. A, v. 6110– 61599 [6110] [6111] [6112] [6113] [6114] [6115] [6116] [6117] [6118] [6119] [6120] [6121] [6122] [6123] [6124] [6125] [6126] [6127] [6128] [6129] [6130] [6131] [6132] [6133] [6134] [6135] [6136] [6137] [6138] [6139] [6140]
vil wol bewarte )y¨ das wort vnd kerte das ort a entgegn¯ jr pru)ten nach todes gelu˘)ten als )y )ich wolt eruallen daran Nu kam geriten ein man der )is erwannde den got dar ge)ande ditz was ein edler herre ein Graue vil vnuerre so )tund )in was von dann Oringles hie)s der reiche man von Limors geborn den het got dartzu˚ erkorn daz er )y¨ )olt bewarn * Ir ze hay¨le ry¨t er durch den walt nach weu des i)t mir nicht getzalt wann daz jch betracht in meines hertzen acht es kum von Ir )elikait daz er des tages y¨e aus gerait Er fu˚rt mit jm ritter genu˚g von ge)chichten jn tru˚g in den walt der )elbe weg da der Ritter Ereck in )o gro))em kumber lag vnd )ein die fraw Enite phlag vnd dannoch do der herre von jn was vil verre da gehort er das wey¨b
Bech, 1. bis 3. Aufl. [Anm. 7], v. 6124 f.10
daz er sıˆ solde bewarn als er wolde.
9 Es handelt sich um den Passus, den Ursula Kuttner, Das Erzählen des Erzählten. Eine Studie zum Stil in Hartmanns ‘Erec’ und ‘Iwein’ (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 70), Bonn 1978, S. 26–30 erörtert, s. u. Die folgende Transkription mit der eingeklammerten Verszählung ist die von Brigitte Edrich angefertigte, die z. Z. im ‘Erec’-Teil des Hartmann von Aue-Portals (vgl. Roy A. Boggs und Kurt Gärtner, Das Hartmann von Aue-Portal. Eine Internet-Plattform als Forschungsinstrument, in: ZfdA 134 (2005), S. 134–137) untergebracht wird: http://www.fgcu.edu/rboggs/ hartmann/Erec/ErMain/ErHome.htm (zuletzt eingesehen am 6. November 2010). 10 6123 f. nach Bechs Verszählung.
Zu ‘Erec’ v. 6125 [6141] [6142] [6143] [6144] [6145] [6146] [6147] [6148] [6149] [6150] [6151] [6152] [6153] [6154] [6155] [6156] [6157] [6158] [6159]
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mit ru˚ffe chelen jr leib vnd als er jr )ty¨mme vernam von wu˚nder er dar kam zu dem daz er ge)ach was wunders da ge)chach ye mitten vnd )y¨ das )chwert gegen jr prü)ten werdt )ich zertöten hat ge)at Nu kam er rey¨tende an die )tatt vnd als er jr gepärde )ach daz )y gegen dem leibe )tach da ward im vom ro))e gach wann er mochte )ich vil nach a an der rede ver)umet han daz der )tich wäre getan er vieng )y gähes an )ich vnd erwannte den )tich aus der handt er jrs brach er warf es von im vnd )prach
Bechs Vorschlag kann man einfach zurückweisen, wenn man sich auf die Überlieferung verlassen kann: In A findet sich in v. 6124 nach bewarn und in v. 6126 nach walt ein hochgestellter Punkt, der als Reimpunkt für den ersten Vers eines Reimpaars dient. Zwischen bewarn und Ir ze hay¨le ist also ein ganzer Vers anzunehmen, dessen Ende Ried durch einen als Reimpunkt für den zweiten Vers des Reimpaars dienenden Doppelpunkt markiert hätte.11 Unter den späteren Herausgebern ist Hans Naumann der einzige Befürworter der Lesung Bechs;12 der von Haupt vorgeschlagene und von Leitzmann sowie dessen Nachfolgern übernommene und jetzt auch den drei neuen Ausgaben gemeinsame Wortlaut des fehlenden Verses ist: 6125
[er kam von sıˆnem huˆs gevarn,]13
Scholz referiert die jüngste Diskussion über das Fehlen dieses Verses – für Okken [Anm. 5, S. 176] eine »vom Dichter gewollte Leerzeile?« –14 und zieht im Zusammenhang damit einen brieflichen Hinweis von Max Siller auf die Möglichkeit heran, dass die Waise v. 6124 »inhaltlich überflüssig« sei und »erst nach Hartmann eingefügt wurde, also gar nicht nach einem darauf reimenden Vers zu 11 Zum Reimpunkt im ‘Ambraser Heldenbuch’ für den ‘Erec’-Text vgl. Gärtner [Anm. 1], S. XI . Für den betreffenden Passus habe ich ein Faksimile von A im ‘Erec’-Teil des Hartmann von Aue-Portals [Anm. 9] eingesehen. 12 Hartmann von Aue, Erec / Iwein. Bearbeitet von Hans Naumann und Hans Steinger (Deutsche Literatur: Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Höfische Dichtung: Höfische Epik 3), Leipzig 1933, darin ‘Erec’ S. 25–174. 13 Haupt in beiden Ausgaben kom an Stelle von kam, in der 1. Ausgabe ohne Komma am Versende. Bei Mertens [Anm. 2] steht der Vers kursiv in eckigen Klammern. 14 Vgl. Scholz [Anm. 5], S. 271 und ebd., Anm. 3.
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Yoshihiro Yokoyama
suchen ist«.15 Ursula Kuttner stellt bei ihrer Diskussion über den Passus v. 6110– 6159 [s. Anm. 9] fest: »Hartmann verweist wie Chre´tien zweimal auf das Eingreifen Gottes, wobei im deutschen Text Gott nicht so sehr als persönlicher Actor gezeichnet ist denn vielmehr als derjenige, der seine rettende Macht dem Grafen überträgt und diesen agieren lässt«, und führt anschließend als Ergänzungen zu v. 6115 ein man die beiden betreffenden Verse mit got, v. 6117 und 6123, an.16 Wenn diese Wiederholung als authentisch aufzufassen ist, darf man m. E. auch v. 6124, der den Satz des vorausgehenden Verses vervollständigt, stehenlassen.17 Unter der Voraussetzung, dass Hartmann v. 6125 einen ganzen zweiten Vers des Reimpaars auf -arn zustande gebracht haben muss, werde ich im folgenden den Rekonstruktionsversuch Haupts überprüfen. Der von Haupt vorgeschlagene Wortlaut darf dabei aber nicht isoliert betrachtet werden, denn er steht im Zusammenhang mit einer Konjektur zu v. 6120: Haupts Vorschlag für das Innere des in A fehlenden Verses 6125 von sıˆnem huˆs wird nämlich vorbereitet und gestützt durch die Lesung huˆs statt des überlieferten was in v. 6120. Während Bech in seiner 1. Auflage von 1867 in v. 6120 nach Haupts Erstausgabe von 1839 ebenfalls huˆs liest, ändert er in seiner 2. Auflage von 1870 zu wesen; Haupt bleibt in seiner 2. Ausgabe von 1871 bei huˆs, Naumanns Text von 1933 übernimmt Haupts Konjektur. Leitzmanns Ausgabe von 1939 folgt nun Bech gegen Haupts huˆs,18 ebenso alle späteren Auflagen der Leitzmannschen Ausgabe bis heute und auch die Ausgaben von Scholz/Held und von Mertens; alle drei Neueditionen lesen also in v. 6119 f.:19 [. . .] vil unverre / soˆ stuont sıˆn wesen von dan.
Haupts Konjektur huˆs in v. 6120 wird im Apparat der drei Neuausgaben nicht angeführt, obwohl sie den Wortlaut der von ihnen übernommenen Ergänzung Haupts in v. 6125 mitbegründet, denn in diesen modernen Editionen ist der Apparat so angelegt, dass er nur diejenigen Abweichungen von ihrem jeweiligen kritischen Text aufweist, die auf die handschriftliche Überlieferung (und in der Ausgabe von Scholz/Held auch auf den kritischen Text von Cormeau/Gärtner [Anm. 1]) zurückgehen.20
15 Vgl. Scholz [Anm. 5], S. 271, Anm. 3, Zitate ebd. 16 Kuttner [Anm. 9], S. 28, Zitat ebd. 17 Scholz referiert zu v. 6115– 6137 die oben zitierte Feststellung Kuttners und spricht dabei von »v. 6117 und 6123 f.«, Scholz / Held [Anm. 2], S. 848–850, hier S. 849. 18 Vgl. Leitzmann, 1. Aufl. [Anm. 1], S. XXVIII . 19 Mertens [Anm. 2] macht durch den Kursivdruck von esen die Konjektur des in A überlieferten Textes kenntlich. 20 Vgl. Gärtner [Anm. 1] (Apparat auf denselben Seiten des kritischen Textes unter diesem), S. XXXII ; Scholz / Held [Anm. 2] (S. 603– 619 »Abweichungen vom Text der Ausgabe Cormeau / Gärtner«), S. 603; Mertens [Anm. 2] (S. 586– 625 »Lesarten«), S. 584.
Zu ‘Erec’ v. 6125
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II. Zunächst gehe ich auf gevarn als Reimpartner von bewarn ein. Hartmann reimt bewarn in dieser Wortform immer als Infinitiv, und zwar nicht ganz selten: im ‘Erec’ außer v. 6124 f. noch 8mal, im ‘Gregorius’ und im ‘Armen Heinrich’ je einmal und im ‘Iwein’ nicht weniger als 18mal.21 Er reimt sie nur einmal auf das Substantiv scharn (‘Erec’ v. 2586 f.) und sonst ausnahmslos auf Infinitiv (‘Erec’ 6 ×, ‘Armer Heinrich’ 1×, ‘Iwein’ 14×) oder Partizip Präteritum (‘Erec’ 1 ×, ‘Gregorius’ 1×, ‘Iwein’ 4×) eines varn-Verbs. Angesichts dieses Befundes wäre tatsächlich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass ‘Erec’ v. 6125 ursprünglich auf Partizip Präteritum gevarn endete.22 Der Wortlaut des hier erörterten Verses, auf den Haupt aus dem mehr oder weniger plausiblen Reimwort gevarn geschlossen hat, stellt einen Hauptsatz dar, als dessen finites Verb das Präteritum von komen mit dem Partizip Präteritum konstruiert wird, das »die Art und Weise angeben«23 soll, »in der das Kommen erfolgt«24. Die manche Grammatiker aus historischer Perspektive interessierende Fügung von kommen (mittelhochdeutsch komen) mit dem Partizip Präteritum eines intransitiven Bewegungsverbs ist »schon mhd. in groszer manigfaltigkeit«25 belegt. In den mittelhochdeutschen Denkmälern war gevarn offenbar 21 Die vorliegende Auszählung der Reimbelege beruht auf: Hartmann von Aue. Lemmatisierte Konkordanz zum Gesamtwerk. Bearbeitet von R. A. Boggs, 2 Bde. (Indices zur deutschen Literatur 12/13), Nendeln 1979, Reimindex in Bd. 2, S. 641–761, hier S. 676 f., unter » ARN «; für den ‘Erec’ legt Boggs seiner Konkordanz Leitzmann / Wolff, 5. Aufl. [Anm. 1] zugrunde. Mit einem solchen Hilfsmittel lässt sich in Buchform nach wie vor bequemer arbeiten. Zur Überprüfung der Belege habe ich folgende maßgebliche Ausgaben benutzt: Gärtner [Anm. 1]; Hartmann von Aue, Gregorius, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Burghart Wachinger, 15., durchgesehene und erweiterte Aufl. (ATB 2), Tübingen 2004; Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner, 17., durchgesehene Aufl. (ATB 3), Tübingen 2001; Hartmann von Aue, Iwein. Text der 7. Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4., überarbeitete Aufl. (de Gruyter Texte), Berlin / New York 2001. 22 Der einzige überlieferte ‘Erec’-Beleg mit dem Partizip Präteritum, Gärtner [Anm. 1], v. 4800 f. diu mir sus ist widervarn. / nuˆ enmac doch daz nieman bewarn, weist allerdings in W widervarn offenbar als Infinitiv auf, s. Gärtner, Apparat zur Stelle. 23 Kozo Hirao, Fügungen des Typs kam gefahren im Deutschen, in: PBB 87 (1965), S. 204–226, hier S. 204; auch ders., Über kumad gifaran, gifaran qua¯mun im Heliand 555, 3752, in: Journal of the Faculty of Literature Chu¯o¯ University 40 [Department of Literature 19] (1965), S. 1–27. 24 Hirao [Anm. 23], S. 204. 25 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (DWB ), Nachdr. München 1984 (dtv 5945) (auch: Der Digitale Grimm = Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Bearbeitet von Hans-Werner Bartz, Thomas Burch, Ruth Christmann, Kurt Gärtner, Vera Hildenbrandt, Thomas Schares und Klaudia Wegge, Frankfurt a. M. 2004), Bd. 5, bearbeitet von Rudolf Hildebrand, Leipzig 1873 = Bd. 11, s. v. KOMMEN (Sp. 1625–1680), hier Sp. 1636 mit Verweis auf zwei weitere Standardwerke, die mittelhochdeutsche Beispiele der betreffenden Fügung mit Partizip Präteritum
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eines der stehenden Partizipien dieser Fügung.26 Es wird also durchaus möglich sein, dass Hartmann, der in seinen Werken die Fügung von komen mit geriten (im ‘Erec’ 11×, ‘Gregorius’ 1×, ‘Iwein’ 8×), gegangen (‘Erec’ 1×, ‘Iwein’ 6 ×), gerunnen (‘Erec’ 1×), gestoˆ"en (‘Erec’ 1×), getriben (‘Iwein’ 1×) oder gewalopieret (‘Iwein’ 1×) insgesamt 31mal benutzte, dort einmal auch von gevarn komen sprach.27 Das Substantiv huˆs ist im ‘Erec’ als Bezeichnung für den Ausgangspunkt einer Fortbewegung im Dativ nach von oder uˆ" bei Bewegungsverben rıˆten usw. belegt, und zwar sowohl im Reim (v. 1511 huˆse [: dem künege Artuˆse]; 2065 u. 4629.10 huˆs [: der künec Artuˆs, s. u. Anm. 54], 6654 huˆs [: diu muˆs])28 als auch im Versinnern (1398, 1584 u. 6777 huˆse; 9870 huˆs).29
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verschiedener Verben zusammenstellen: Jacob Grimm, Deutsche Grammatik, 4. Theil, S. 8 und 126 (Neuer vermehrter Abdruck. Besorgt durch Gustav Roethe und Edward Schroeder, Gütersloh 1898 [Nachdr. Hildesheim / Zürich / New York 1989], S. 9 f. und 146); Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke (BMZ ), Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf, 5 Bde., Stuttgart 1990 (auch in: Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund, hg. von Thomas Burch, Johannes Fournier und Kurt Gärtner, CD-ROM und Begleitbuch, Stuttgart 2002), Bd. 1, s. v. KUM, Sp. 900a20–904a28, hier Sp. 903a10–38. Vgl. die Übersicht über das Vorkommen der Fügung in der mittelalterlichen deutschen Literatur in Hirao [Anm. 23], S. 206–210 und Yoshihiro Yokoyama, Zum Vorkommen des Präteritums von komen in Hartmanns Artusromanen: Einige Bemerkungen zu einem Forschungsvorhaben und zu ‘Iwein’ 1–1000, in: Hiyoshi-Studien zur Germanistik, Keio Universität Yokohama 42 (2006), S. 47–76, hier S. 63 f., Anm. 37 und S. 65, Tab. 4. Wenn Hirao [Anm. 23], S. 222, Anm. 81 im Hinblick auf das Vorkommen der betreffenden Fügung bei Wolfram von Eschenbach je nach Verben im Partizip Präteritum zwischen »formelhaft gewordenen« und »sehr originelle[n] Fügungen« unterscheidet, zählt er gevarn zweifellos zu den ersteren wie geriten und gegangen, vgl. ferner meinen genannten Aufsatz, S. 65, Tab. 4, wo ich diese drei Partizipien herausgehoben habe. Die Auszählung der Belege nach Yokoyama [Anm. 26], S. 63, Anm. 37 auf S. 63 f. und Tab. 4 auf S. 65; dort wird ‘Erec’ v. 6125 mitgerechnet. Zum Nebeneinander der beiden dativischen Singularformen von huˆs bei Hartmann im Reim vgl. K[onrad] Zwierzina, Beobachtungen zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs, in: Abhandlungen zur Germanischen Philologie. Festgabe für Richard Heinzel, Halle a. d. S. 1898 (Nachdr. Hildesheim / Zürich / New York 1985), S. 437– 511, hier S. 490, Anm. 3; ders., Mittelhochdeutsche Studien, in: ZfdA 44 (1900), S. 1– 116, 249–316 und 345– 406 und 45 (1901), S. 19–100, 253–313 und 317– 419 (Nachdr. Dublin u. a. 1971), hier 1901, S. 345 und ebd., Anm. 2. Vgl. auch Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Aufl. neu bearbeitet von Thomas Klein, HansJoachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearbeitet und erweitert von Heinz-Peter Prell (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A2), Tübingen 2007, S. 194, § M 14, Anm. 3. Vgl. Boggs [Anm. 21], Bd. 1, S. 181 f., s. v. huˆs, vgl. auch Erich Gierachs Wörterbuch zu Hartmanns Gesamtwerk (z. Z. in der Trierer Arbeitsstelle des MWB zugänglich,
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Was die alternativen Konjekturen Haupts und Bechs zu v. 6120 betrifft, formuliert weder der eine noch der andere Argumente für seine eigene oder gegen die des anderen. Das Substantiv we¨sen ist bei Hartmann auf jeden Fall nur im ‘Erec’ belegt: v. 3884, 9549 und 10048,30 allerdings jeweils in einer anderen Bedeutung, als bei v. 6120 der Fall wäre. Bei Haupts Vorschlag könnte ‘Gregorius’ v. 2848 f. als Parallele zu der ‘Erec’-Stelle in Frage kommen: duˆ weist wol daz dıˆn huˆs staˆt / den liuten alsoˆ verre.31 Dabei müsste dieses ›Haus‹, das der Erzähler ein hiuselıˆn (v. 2775) nennt und in dem ein vischære hete gehuˆset (v. 2777), ganz anders beschaffen gewesen sein als das des rıˆche[n] (‘Erec’ v. 6121) Grafen. ‘Erec’ v. 6120 an und für sich scheint beide vorgeschlagene Lesungen zuzulassen.
III. Dass das Fortbewegungsmittel, das Graf Oringles benutzte, ein Reittier war, wird bereits v. 6115 mit dem Partizip Präteritum geriten bei kam, ferner in dem auf die Auslassung unmittelbar folgenden Vers 6126 mit dem Finitum ry¨t, v. 6131 mit aus gerait und v. 6149 mit dem kam modifizierenden Partizip Präsens32 rey¨tende explizit gemacht. Dass es sich bei diesem Reittier um ein Pferd handelt, darf man von vornherein ruhig voraussetzen, auch wenn das erst v. 6152 eindeutig erwähnt wird (da ward im vom ro**e gach). Als der Graf von sıˆnem huˆs gevarn kam, ritt er also auf einem Pferd, was das Partizip Präteritum gevarn als Bezeichnung für die Art und Weise der Fortbewegung implizieren muss (s. Beispiele unten). Ich spreche von der Implikation, denn fahren war: Urspr. der allgemeinste Ausdruck für jede Bewegung, die einen Ortswechsel bewirkt, es schließt die spezielleren gehen, reiten, fliegen, schwimmen, (im Wagen) fahren ein, [. . .]33
so dass sich für das mittelhochdeutsche varn die Bedeutungsangabe »sich von einem ort zum andern bewegen, fahren, wandern, ziehen, gehn, kommen« ergibt.34 Insoweit hätte das Partizip Präteritum von varn nur etwas zu Allgemeines
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vgl. Boggs / Gärtner [Anm. 9], S. 135 und ebd., Anm. 5), s. v. huˆs. Die genannten ‘Erec’-Belege wurden anhand von Gärtner [Anm. 1] geprüft. Es handelt sich um sämtliche Belege, die bei Gierach [Anm. 29] unter dem substantivischen Stichwort wesen angeführt werden; ‘Erec’ v. 6120 führt Gierach nicht nach Bech unter wesen, sondern nach Haupt unter huˆs an. Boggs [Anm. 21], Bd. 1, S. 541 ordnet dem Substantivlemma wesen nur ‘Erec’ v. 3884, 6120 und 10048 zu; ‘Erec’ v. 9549 stellt Boggs zum gleichlautenden Verblemma (Bd. 1, S. 539–541, hier S. 541). Die genannten ‘Erec’-Belege wurden anhand von Gärtner [Anm. 1] geprüft. Gierach [Anm. 29] verzeichnet unter huˆs diesen ‘Gregorius’-Beleg unmittelbar nach ‘Erec’ v. 6120 (s. o.). Ich zitiere den ‘Gregorius’ nach Wachinger [Anm. 21]. Vgl. Hirao [Anm. 23], S. 222 und ebd., Anm. 84. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete und erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, Tübingen 2002, s. v. fahren, S. 313.
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bezeichnet, um in Verbindung mit komen dieses näher zu bestimmen. Außerdem ist erwähntermaßen gleich v. 6126 vom Reiten die Rede. Unter diesen Umständen verlieren die meisten der mir zugänglichen modernen Übersetzungen des ‘Erec’, mehrerer deutscher und englischer und einer japanischen, v. 6125 f. kein eigenes Wort für gevarn (die eckigen Klammern in den folgenden zitierten Übersetzungen aus dem Original):35 Cramer:36 Mohr:37 Hirao:38 Thomas:40 Keller:41 Vivian:42
[Er kam von seiner Burg.] / Ihr zum Heil ritt er durch den Wald; Er kam von seinem Schloß herab. / Ihr zum Heile machte er den Ritt. [Kare ha yakata kara yattekite,] mori wo kikou shite ita ga, sore ga kanojo no sukui to natta.39 Luckily for her, h e h a d g o n e o u t and was riding through the forest. [He came from his castle,] riding through the forest for her salvation. [He came from his castle,] riding through the forest, to her good fortune.
34 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-MüllerZarncke. Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 3 Bde., Stuttgart 1992 (auch in: Burch / Fournier / Gärtner [Anm. 25]), Bd. 3, s. v. varn, varen, Sp. 23 f. Zitat aus Sp. 23. Auf diese Undifferenziertheit gegenüber dem neuhochdeutschen fahren wird der Anfänger des Mittelhochdeutschen aufmerksam gemacht, vgl. z. B. Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. von Karl Bartsch, 4. Aufl. bearbeitet von Marta Marti, 3 Teile (Deutsche Klassiker des Mittelalters 9, 10 und 11), Leipzig 1927, 1929, 1932, 1. Teil, S. 30, Anm. zu ‘Parzival’ 20,27. 35 Ernst Schwarz, Hartmann von Aue, Erec. Iwein. Text, Nacherzählung, Worterklärungen. 2., unveränderte Aufl., Darmstadt 1986 [1. Aufl. 1967], Text von Leitzmann / Wolff, 3. Aufl. [Anm. 1] und Nacherzählung des ‘Erec’ S. 1–336, ist für den Vergleich kaum relevant. Die englischen Hartmann-Übersetzungen listet Roy A. Boggs, The Hartmann von Aue Internet (Knowledge Based) Portal: An Introduction and Description, in: Fritsch-Rößler [Anm. 3], S. 13–32, hier S. 14 und S. 28–32 (Bibliographie) auf. 36 Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutscher Text [nach Leitzmann, 1. Aufl., s. Anm. 1] und Übertragung von Thomas Cramer (Fischer Taschenbuch 6017), Frankfurt a. M. 1972 [26. Aufl. 2005], hier S. 269. 37 Hartmann von Aue, Erec. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Mohr (GAG 291), Göppingen 1980; Mohr versucht, den ‘Erec’ mit dem neuhochdeutschen Reimpaar wiederzugeben, hier S. 147 im Reim auf v. 6124: »daß er ihr Hilfe gab. –« bzw. auf v. 6127: »Das Ziel teilte man mir nicht mit;«. 38 Hartmann von Aue. Ins Japanische übersetzt von Kozo Hirao [‘Erec’], Yuji Nakajima [‘Gregorius’], Morio Sagara [‘Armer Heinrich’] und Tamako Linke [‘Iwein’], Tokyo 1982, ‘Erec’-Übersetzung von Hirao nach Leitzmann / Wolff, 5. Aufl. [Anm. 1] S. 1– 159, hier S. 99. 39 Auf Deutsch hieße es etwa: »[Er kam von dem bzw. seinem Schloss her und] ritt durch den Wald, was zu ihrem Heil war.« 40 Erec by Hartmann von Aue. Translated, with an Introduction, by J. W. Thomas, Lincoln, London 1982 [nach Leitzmann / Wolff, 5. Aufl., s. Anm. 1], hier S. 101, Sperrung von mir. 41 Hartmann von Aue, Erec. Translated by Thomas L. Keller (Garland Library of Medieval Literature, Volume 12. Series B), New York / London 1987 [nach Cormeau / Gärtner, s. Anm. 1], hier S. 87.
Zu ‘Erec’ v. 6125 Held:43 Dohle:44 Mertens:45
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[Er kam von seiner Burg her,] / zu ihrem Glück ritt er durch den Wald: [Er kam von seiner Burg] / und ritt zu ihrem Glück durch den Wald. [Er kam von seiner Burg,] / zu ihrem Glück ritt er durch den Wald,
Ein eigenes Übersetzungsäquivalent von gevarn bietet die folgende Wiedergabe von v. 6123–6126 in einem Satz: Resler:46
God had chosen this man to protect Enite, for he came t r a v e l l i n g from his castle, riding through the forest to save her.
Gegen die Auslegung, dass es sich bei dem varn des Grafen um eine Reise handelte, scheint aber seine Lokalisation zu sprechen, die Hartmann kurz zuvor v. 6119 f. beschreibt: Das was (nach A) des Grafen, das wie gesagt nach Haupt eigentlich huˆs ist und mit dem Ausgangspunkt zu identifizieren ist, aus dem der Graf gevarn kam,47 soll sich vil vnuerre von dann befunden haben, der Graf hatte also keine so große Strecke zurückgelegt, dass man von einer Reise sprechen könnte.48 Die folgenden beiden Übersetzungen scheinen hingegen unter varn einen Ritt zu verstehen: In der ersteren ist aus v. 6125 kam gevarn und v. 6126 reit nur ein came riding geworden, indem die beiden Verse verschmolzen sind, während die letztere offensichtlich gevarn komen zu einem ‘reiten’ verschmilzt und die Präpositionalphrase von sıˆnem huˆs einfach durch einen Verbzusatz ›aus-‹ ersetzt: 42 Arthurian Romances, Tales, and Lyric Poetry. The Complete Works of Hartmann von Aue. Translated with Commentary by Frank Tobin [‘Klage’, Lyrik und ‘Armer Heinrich’], Kim Vivian [‘Erec’ und ‘Gregorius’], Richard H. Lawson [‘Iwein’], Pennsylvania 2001, ‘Erec’-Übersetzung von Vivian nach Leitzmann / Wolff, 4. Aufl. [Anm. 1] S. 53–163, hier S. 122. 43 Scholz / Held [Anm. 2], S. 349. 44 Hartmann von Aue, Erec. Aus dem Mittelhochdeutschen neu übersetzt [nach Leitzmann, 1. Aufl., s. Anm. 1] und mit einem Nachwort von Stephan Dohle, Köln 2006, hier S. 186 f. 45 Mertens [Anm. 2], S. 351. 46 Erec by Hartmann von Aue. Translated, with an Introduction and Commentary, by Michael Resler, o. O. 2004 [zuerst Philadelphia 1987] [nach Leitzmann/Wolff, 5. Aufl., s. Anm. 1], hier S. 133, Sperrung von mir. 47 In dieser Hinsicht ist bemerkenswert, dass Hirao [Anm. 38], S. 99 und Keller [Anm. 41], S. 87 v. 6120 wesen mit »yakata« (auf Deutsch etwa »Schloss«) bzw. »castle«, d. h. mit ein und demselben Wort wiedergeben, das sie auf v. 6125 huˆs anwenden; die anderen ‘Erec’-Übersetzer paraphrasieren v. 6120 wesen mit »Behausung« (Cramer [Anm. 36], S. 269), »Ländereien« (Scholz / Held [Anm. 2], S. 349), »Anwesen« (Mohr [Anm. 37], S. 146, Okken [s. u. Anm. 50], S. 112 und Dohle [Anm. 44], S. 186), »Besitz« (Mertens [Anm. 2], S. 351), »castle« (Thomas [Anm. 40], S. 101), »residence« (Fisher [s. u. Anm. 49], S. 67 und Vivian [Anm. 42], S. 122) oder »domain« (Resler [Anm. 46], S. 133). 48 Man paraphrasiert v. 6119 vil unverre z. B. mit »nicht weit entfernt« (Cramer [Anm. 36], S. 269 und Scholz / Held [Anm. 2], S. 349) oder gar »ganz in der Nähe« (Mertens [Anm. 2], S. 351) sowie »in nächster Nähe« (Okken [s. u. Anm. 50], S. 112) bzw. »gar nicht weit, sehr nahe« (Bech, 1. bis 3. Aufl. [Anm. 7], Anm. zur Stelle).
52 Fisher:49 Okken:50
Yoshihiro Yokoyama He c a m e r i d i n g through the forest from his castle for her salvation Der Graf war soeben ausgeritten; zu ihrem Glück ritt er durch den Wald.
Wenn man den von Haupt rekonstruierten v. 6125 Wort für Wort ins Neuhochdeutsche übersetzen soll, mag man sich auch mit ‘geritten’ als Äquivalent von gevarn abfinden müssen. Dabei frage ich mich, ob hier tatsächlich nichts mehr und nichts weniger als das in diesem Passus ohnehin wiederholt erwähnte Reiten gemeint ist. IV. In anderen Werken begegnen weitere Belege der Fügung gevarn komen, welche die Vermutung nahezulegen scheinen, dass Hartmann im ‘Erec’ v. 6125 durchaus so formuliert haben kann, wie Haupt vorschlägt. In Ulrichs von Zatzikhoven ‘Lanzelet’ gibt es zwei Stellen, in denen gevarn ebenso gereimt wird (allerdings nicht auf bewarn, sondern auf scharn) und ebenso davon die Rede ist, dass man aus einer Burg (allerdings nicht huˆs, sondern burc) nur auf einer kurzen Strecke auf einem Pferd gevarn kom, wie in Haupts Rekonstruktionsversuch für ‘Erec’ v. 6125:51 ‘Lanzelet’ v. 1397–1430 Vermezzenlıˆch er für si reit. / daz duˆht ein michel tumpheit, / di in ab der burc gesaˆhen. / Si begunden alle gaˆhen, / di alten zuo den jungen. / ze dem burctor si uˆz drungen / mit gewæffen aller hande. / zem eˆrsten di sarjande, / di bestuonden in mit scharn. / doˆ k o m aber dar naˆch g e v a r n / manic gewæffent man, / di fuorten ringez gespan, / helm mit den schilten. / di bestuonden den milten / in eim buocholze. / [. . .] / Er erhiu sich von dem fuozher. / di ritter satzten sich ze wer, / [. . .] / er stach ir zweinzic der nider / von den rossen uˆf daz gras, / daz etslicher nie genas. 49 The Narrative Works of Hartmann von Aue. Translated by R. W. Fisher (GAG 370), Göppingen 1983, ‘Erec’-Übersetzung nach Leitzmann / Wolff, 3. Aufl. [Anm. 1] S. 1– 109, hier S. 67, Sperrung von mir. 50 Hartmann von Aue erzählt. Erec, Iwein oder Der Löwenritter, Gregorius oder Der gute Sünder, Der arme Heinrich. Aus dem Mittelhochdeutschen von Lambertus Okken (insel taschenbuch 1417), Frankfurt a. M., Leipzig 1992, ‘Erec’-Partie der Prosaübersetzungen nach Cormeau / Gärtner [Anm. 1] mit Änderungen zugunsten der Hs. A (vgl. S. 423 f. und [430]) S. 9–175, hier S. 112. 51 Die folgenden ‘Lanzelet’-Belegzitate aus Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. von Florian Kragl, 2 Bde., Berlin / New York 2006, sowie Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausgabe, hg. von Florian Kragl (de Gruyter Texte), Berlin / New York 2009, Sperrung von mir. Ulrich von Zatzikhoven, ‘Lanzelet’, aus dem Mittelhochdeutschen ins Japanische übertragen, mit Anmerkungen und Studien versehen von Kozo Hirao, Tokyo 2010 (nach Kragls Ausgabe von 2006), S. 62 übersetzt v. 1407 manic gewæffent man in »soubi katameta oˆku no kihei«, d. h. »viele bewaffnete Reiter«, und scheint in dieser Weise den Sinn von v. 1406 gevarn (von Kragl 2006, Bd. 1, S. 81 sowie 2009, S. 81, einfach mit »gefahren« paraphrasiert) umzusetzen.
Zu ‘Erec’ v. 6125
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‘Lanzelet’ v. 1444–1487 uˆf der burc was ein maget, / [. . .] / doˆ ir daz vehten wart geseit, / ir eˆren siu niht vergaz: / uˆf ir pferit siu gesaz, / daz ir ze rıˆten gezam. / [. . .] / es enwære kein noˆt, / daz iu ieman seite / von bezzerm gereite, / dan daz uˆf daz pferit was geleit, / daz diu juncvrouwe reit, / diu dente naˆch den scharn. / siu k o m von der burc g e v a r n / reht als ein wolkenschoˆz. / doˆ sach siu slaˆhen [sic] manic geboˆz / und stechen manic sper / uˆf den ritter, der dort her / balde gegen ir reit.
Hartmann scheut sich im einschlägigen Passus des ‘Erec’ ohnehin nicht davor, immer wieder vom Ritt des Grafen zu sprechen. Dass v. 6125 er kam gevarn wie eine Wiederholung von v. 6115 kam geriten ein man wirken würde, ist kaum als Argument gegen Haupt zu gebrauchen, weil geriten komen auch in anderen Werken in einem kurzen Abstand in Form von gevarn komen quasi wiederkehrt:52 ‘Parzival’ 61,18– 62,2 Gahmuret der werde man / die selben zıˆt dort uˆze enbeiz. / dar naˆch er sich mit vlıˆze vleiz, / w i e r h ö f s l ˆı c h e k œ m e g e r i t n . / des enwart niht langer doˆ gebitn, / sıˆne knappen an den stunden / sıˆniu sper ze samne bunden, / ieslıˆcher fünviu an ein bant: / daz sehste fuorter an der hant / Mit einer baniere. / s u s k o m g e v a r n d e r f i e r e . / vor der küngıˆn wart vernomn / daz ein gast daˆ solte komn / uˆz verrem lande, / den niemen daˆ rekande. ‘Parzival’ 210,27–211,4 uˆ z k o m g e r i t e n P a r z i v aˆ l / an daz urteillıˆche wal, / daˆ got erzeigen solde / ober im laˆzen wolde / des künec Tampenteires parn. / s t o l z l ˆı c h e r k o m g e v a r n , / niwan als dez ors den walap / vor der rabbıˆne gap. ‘Wigalois’ v. 9126–9134 D a r k o m v r o u w e Eˆ l a m ˆı e g e r i t e n , / durch die der helt heˆt gestriten, / her Gwıˆgaˆlois, der werde man, / der er daz pfärt wider gewan, / als ich daˆ vor haˆn geseit. / d i u k o m m i t g r oˆ z e r r ˆı c h e i t / g e v a r e n u n d m i t g r oˆ z e r k r a f t . / vil werde geselleschaft / vuorte diu maget rıˆche:
Hat sich der Graf Oringles v. 6125 ebenso beeilt, wie in den beiden ‘Lanzelet’Belegen und dem zweiten ‘Parzival’-Beleg der Fall ist? Auch in Chre´tiens ‘Erec 52 Im folgenden zitiere ich aus Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, 2. Aufl., Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‘Parzival’-Interpretation von Bernd Schirok (de Gruyter Texte), Berlin / New York 2003 [1. Aufl. 1998]; dem ‘Wigalois’-Zitat lege ich die von mir maschinenlesbar gemachte Fassung des Kapteynschen Textes (Wigalois, der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von J[ohannes] M[arie] N[eele] Kapteyn, 1. Bd. Text (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), Bonn 1926, jetzt auch Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach (de Gruyter Texte), Berlin / New York 2005) zugrunde: Lemmatisierte Konkordanz zu Wirnts von Grafenberg ‘Wigalois’. Bearbeitet von Yoshihiro Yokoyama unter Mitarbeit von Ute Recker-Hamm (Indices zur deutschen Literatur 39), Tübingen 2006, dabei Unterpungierung des Originals nicht wiedergegeben. Sperrungen in allen drei Belegzitaten von mir.
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et Enide’ v. 4638 f. (ed. Roques) bzw. 4676 f. (ed. Foerster) kam der Graf mit vielen Rittern grant aleüre, d. h. »schnellen Rittes« (Übersetzung von Kuttner [Anm. 9], S. 27);53 Kuttner setzt voraus, dass »Oringles [...] offenbar eigens zu Enites Rettung durch den Wald reitet«.54 Den Anfangspunkt des Rittes des Grafen erwähnt Chre´tien nicht; in ‘Erec et Enide’ finden sich keine Entsprechungen für Hartmanns Verse 6125–6131.55 Es würde aber nicht nur logisch sein, sondern auch zu Hartmanns Konzeption passen, in diesem Passus, in dem erwähnt wird, dass der Graf im Wald unterwegs war (v. 6126), zuerst zu erklären, woher sein Weg dorthin führte, denn Hartmann macht aus Chre´tiens 15 Versen, ‘Erec et Enide’ v. 4632– 4646 (ed. Roques) bzw. 4670– 4684 (ed. Foerster), nicht weniger als 50 ‘Erec’-Verse von v. 6110– 6159: »Die dreifache Länge der Erzählung kommt nicht allein durch Hinzufügung des Kommentars zustande, auch die pure Aktion ist bei Hartmann ausführlicher referiert.«56 Wer ‘Erec’ v. 6125 – nicht zu Unrecht – weiterhin mit Haupt er kom/kam von sıˆnem huˆs gevarn lesen möchte, sollte sich schließlich auch einmal überlegen, ob es nicht gut angebracht ist, seine heute in Vergessenheit geratene Konjektur von v. 6120 huˆs wiederzubeleben. 53 Chre´tien de Troyes, Erec et Enide / Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch. Übersetzt und hg. von Albert Gier (RUB 8360), Stuttgart 1987 [ed. Roques]; Chre´tien de Troyes, Erec und Enide. Übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979 [ed. Foerster]. Bei Mohr [Anm. 37] wird am Rande der Versübersetzung von Hartmanns ‘Erec’ auf die entsprechenden Stellen von ‘Erec et Enide’ nach Foersters Verszählung verwiesen. 54 Kuttner [Anm. 9], S. 29. Von der Annahme, dass v. 6125 mit gevarn das Reiten mit hoher Geschwindigkeit gemeint ist, hat mich Ralf Plate (E-Mail vom 25. November 2010) abgebracht, indem er unter Hinweis auf ‘Erec’ v. 6127 und 6133 von geschihte sowie auf Scholz zu v. 6115– 6137 [Anm. 17] gegen Kuttners Voraussetzung argumentiert und ferner darauf hinweist, dass die akustische Wahrnehmung Enides / Enites durch den Grafen, die diesen bei Chre´tien (v. 4640 f. [ed. Roques] bzw. 4678 f. [ed. Foerster]) zum schnellen Ritt veranlasst, bei Hartmann erst nachher in v. 6140 f. erfolgt; »erst als Oringles sieht, dass Enite sich töten will (6150 f.), und vom Pferd steigt, um sie davon abzuhalten, ist ausdrücklich von Eile die Rede (6152)«. Christoph Gerhardt (E-Mail vom 7. November 2010) hat mir u. a. mitgeteilt: »Ein Jagdausritt ist m. E. an der bewussten Erecstelle die naheliegendste Motivation des Grafen und seiner Begleiter«, wobei er mich auf ‘Erec’ v. 7130–7187 und Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, 2., vermehrte und verbesserte Aufl., 2 Bde., Leipzig 1889, Bd. 1, S. 448 ff. (S. 468 Erwähnung von ‘Erec’ v. 7124–7187 [Y. Y.]) hingewiesen hat. Wenn es stimmt, dass der Graf mit seinen Rittern (v. 6132) auf die Jagd in den Wald (v. 6126) ritt, dürfte eine weitere ‘Erec’-Stelle für Haupts Rekonstruktion von v. 6125 sprechen: Gärtner [Anm. 1], v. 4629.8–13 [. . .] in einen schœnen walt, / dar in der künec Artuˆs / von Tintajoˆl sıˆnem huˆs / was geriten durch jaget, / alse uns Crestiens saget, / mit schœner massenıˆe. 55 Vgl. Mohr [Anm. 37], S. 147 und Kuttner [Anm. 9], S. 28 mit Belegzitat ‘Erec’ v. 6125 (Wortlaut von Haupt nicht eingeklammert!) bis 6137. 56 Kuttner [Anm. 9], S. 30; vgl. ferner Scholz zu v. 6115– 6137 [Anm. 17], S. 848.
Erzählter Wahnsinn Zur Narration der Irrationalität in Chre´tiens ‘Yvain’ und Hartmanns ‘Iwein’ von Wolfgang Haubrichs*
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, mitten in jener literarischen Blüte, die uns in Lyrik und Epik eine europäische, zum ersten Mal zur Schrift gelangte, selbstbewusste adlige, höfische und ritterliche Laienkultur und Selbstformulierungen von nichtklerikalen und dennoch litteraten, schriftkundigen Gruppen bringt, entsteht auch der Artusroman, den in seiner profiliertesten, später klassisch genannten Form ab 1170 der in Frankreich, aber auch in England arbeitende Chre´tien de Troyes in mehreren Anläufen schuf, gewissermaßen ein mustersetzender Flaubert des Hohen Mittelalters. Organisierendes Prinzip dieses Romantyps ist die sens, »Bedeutung« generierende belle conjointure, d. h. die ästhetisch anspruchsvolle »Zusammenfügung« der Komposition von einzelnen Szenen und Erzählmustern zu einer narrativen Gesamtstruktur.1 Diese besteht – holzschnittartig vereinfacht – aus einem dreiteiligen Schema, das um die Mitte einer Krisis zwei einander reflektierende Cursus von Abenteuern und Heldentaten gruppiert, die vom Hofe des Königs Artus, dem normensetzenden, verhaltensorientierenden und musterprägenden Zentrum der Erzählwelt adliger Kultur, ihren Ausgang nehmen und wieder dorthin zurückführen.2 Zur Verdeutlichung: Wir haben also – den initialen Cursus: Ein scheinbar schon vollendeter Ritter des Artushofes gewinnt in einer ersten Abenteuerserie Ruhm, Ansehen, Frau und Herrschaft über ein Land, so dass seiner inneren Perfektion die äußere Vollendung zu entsprechen scheint; * Zuerst gehalten als Vortrag am 14. 02. 2009 an der Universität Wuppertal. Der Geehrte möge es nicht als despektierlich empfinden, wenn der leichte Ton des Vortrags auch in dieser Neufassung durchscheint. Immerhin mag dies dem Text doch auch angemessen erscheinen, den man schon einmal als ›Komödie‹ bezeichnet hat: Walter Haug, Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von ‘Yvain’ / ‘Iwein’, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 99–118. 1 Vgl. Chrestien de Troyes: Erec und Enide. Übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979, S. 12, v. 14; Chre´tien de Troyes, Erec et Enide – Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987, S. 4, v. 14. 2 Am Modell des ›doppelten Cursus‹ ist Kritik geübt worden; jedoch bleibt er als Chiffre für die Grundstruktur der frühen Artusromane Chre´tiens und Hartmanns weiterhin tauglich und sinnvoll.
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– eine Krise, z. B. hervorgerufen durch das Fehlverhalten der Protagonisten, entlarvt zunächst die innere Perfektion des Helden als hohlen Schein und zerstört dann auch seinen äußeren Status; – den finalen Cursus: In einem Zyklus von auf Konversion und Bewährung angelegten Abenteuern gewinnt die chevalerie, das Rittertum des Helden, oft auch die Kohäsion des Paares eine neue Qualität, die perfectio, eine gewisse Vollkommenheit signalisiert. Nun, was wäre Literatur ohne Krisen und Katastrophen, zumal wenn dahinter die Vollkommenheit winkt? Es ist auch keine neue Einsicht, dass die Negation der Perfektion in ihren chaotischen Varianten den Leser oder Hörer leichter anzuziehen vermag als die immer gleiche quasi paradiesische, in ihrer Statik kaum noch zu erzählende Vollkommenheit. So folge man mir bitte mitten in die Krise, in die Katastrophe des Herrn, des chevalier Yvain oder Iwein, eines dieser scheinperfekten Artusritter, dessen istoire der große Franzose um 1180 (1178/81) in ihrer conjointure komponierte, und die der aus dem deutschen Südwesten, dem Oberrheinraum stammende Hartmann von Aue um 1200 übersetzte, neu formte und mit neuem »Sinn« versah. Chre´tien erzählt eine eigenartige und eigentlich ganz unwahrscheinliche Geschichte. Der Artushof, der in seiner stets gleichen Vollkommenheit schon etwas vor sich hindöst, erfährt – und mit ihm erfährt es Iwein – von einem märchenhaften Abenteuer in einem Lande weit hinter den Wäldern, in dem es eine Quelle gibt, die zauberhafte Eigenschaften hat. Wenn man aus dieser Quelle Wasser schöpft und es auf einen danebengelegenen Stein aus Smaragd gießt, erscheinen alsbald Sturm, Blitz und Donner und danach der Herr des Landes, der den Eindringling in einen mörderischen Kampf verwickelt. Iwein siegt, versetzt dem Herrn der Quelle eine tödliche Wunde, verfolgt den Todwunden bis in seine Burg, wo hinter ihm die Gatter der Tore herunterrasseln – wird unsichtbar und heiratet die Witwe. Wie das? Nun, die eben ins Unglück gestürzte Herrin und Frau Laudine hat eine kluge Dienerin namens Lunete, die zunächst den heftig gesuchten Täter Iwein mittels eines Zauberrings verschwinden lässt und dann die Herrin von der prekären Lage des unwettergefährdeten Landes überzeugt, das dringend eines neuen Verteidigers bedarf. Iwein und Laudine heiraten, man könnte denken in einer Art politischen Vernunftehe, aber nein, der Erzähler vergisst nicht, anzudeuten, dass sich zwischen dem kraftvollen und vollkommenen Ritter und der belle dame auch eine die Herzen bewegende und vereinende erotische Bindung entwickelt. Doch das neue Glück hält nicht lange. Schon in der ersten Woche kommt unglücklicherweise der vollkommenste (man möge mir diese unerlaubte Steigerung nachsehen) aller Artusritter, wenn man auf Kampf und Turnier sieht, Gawan nämlich, vorbei und erinnert den Ehegatten an die Krisis eines Kollegen unter den Artusrittern, Erec mit Namen, der nach Heirat mit seiner schönen Enite buchstäblich nicht mehr aus dem Bette herauskam – der deutsche Adaptor
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auch dieses Romans schildert die Situation deutlich und prägt den Ausdruck »sich verliegen« (v. 2770–2798) – und darüber seine ritterlichen Pflichten und die des Landesherrn, des Fürsten und Herrschers, versäumt.3 Die Ermahnung wirkt. Iwein bittet seine frischerworbene Frau schweren Herzens um Urlaub, den sie schweren Herzens gewährt – mit einer Auflage: sie stellt bis zur Rückkunft des Landesherrn und Beschützers eine Frist von einem Jahr; kehrt Iwein bis dahin nicht zurück, hat er Land und Frau verwirkt. Diese Pünktlichkeitsklausel, die uns pedantisch vorkommen mag, hat doch ihren festen, juristischen Sinn: Nach »Jahr und Tag« vermag ein fremder Gewalthaber, ein warlord etwa, das ungeschützte, herrenlose Land in Besitz zu nehmen. Wir ahnen schon, und Chre´tien, der als Autor ja die Ritterlust, die Turnierlust, die Kampfeslust seines Helden am besten kennt, sagt es ausdrücklich, dass er glaube, dass die Sache nicht gut geht. Sie geht nicht gut und es kommt zur Krisis des Romans, die in eine wahre Katastrophe führt. Diese Krise, das Zentralstück des Romans, wird in fünf Szenen ausgefaltet:4 I. Iwein, der, am Artushof weilend, bereits dessen einsichtig geworden ist, dass er sein Wort gebrochen hat und Scham empfindet, wird nahezu gleichzeitig von der herbeigerittenen Dienerin Lunete, die einst die Heirat gestiftet hatte und deshalb besonders betroffen ist, verflucht und öffentlich vor Artus beschimpft – als »Treubrüchiger«, als »Verräter«, als »Lügner« und »Schwätzer« in der Liebe. Als Zeichen der gelösten Verbindung fordert sie den Ring der Herrin Laudine zurück, ja reißt dem sprachlosen, sinnverstörten Ritter den Ring vom Finger und verlässt den Hof des König Artus (v. 2639–2780). II. Äußere und innere Flucht des Helden: Iwein in seiner Qual und seinem Leid flieht in eine terre sauvage, in »ein wildes, einsames Land«, wo niemand Nachricht von ihm geben könnte, ganz, »als wäre er vom Boden verschlungen« worden. Dies ist der Wald, die unkultivierte, der Kultur entbehrende Gegenwelt der Zeit. Iwein »hasst nichts mehr als sich selbst« und sucht sich selbst zu bestrafen – durch die zweite, die innere Flucht ins »wilde Land« des Wahnsinns: »er eilt fort« vom Hof ... »Da steigt ihm 3 Vgl. Silvia Ranawake, verligen und versitzen: Das Versäumnis des Helden und die Sünde der Trägheit in den Artusromanen Hartmanns von Aue, in: Chre´tien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, hg. von Martin H. Jones und Roy Wisbey, Cambridge 1993, S. 19–35. 4 Als Textgrundlage und Übersetzung wurde genommen Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962. Als Textgrundlage für den mhd. Text dient: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann. 7. Aufl. neu bearbeitet von Ludwig Wolff, Berlin 1968; ferner: Hartmann von Aue, Iwein. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Max Wehrli, Zürich 1988.
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plötzlich ein so gewaltiger Wirbel ins Hirn, dass er den Verstand verliert, und er reißt seine Kleider in Fetzen und flieht nackt querfeldein in den Wald«. Seine Kleider zu zerreißen, ist seit alters ein konventioneller Ausdruck der Verzweiflung und der Trauer; Nacktheit gilt der Zeit dort, wo Kleidung soziales Zeichen ist, als Signum des Wahnsinns, der somit als ein »Aus der Gesellschaft Fallen« aufgefasst wird, wie es ja hier in der doppelten Flucht auch real vollzogen wird.5 Dem sozialen Tod der ritterlichen Person Iweins entspricht wiederum der Trauergestus der Kleider-Zerreißung (v. 2781–2813).6 III. Leben in Wald und Wahnsinn: Der »Yvain furioso«7 raubt einem garc¸on, einem Knappen, Bogen und Pfeile und erbeutet Waldtiere, deren Fleisch er als hon forsene´ et sauvage (v. 2828), als »vernunftloser Wilder« roh, also cru, verzehrt (v. 2826). Interpreten hat diese Rohfleischesser-Episode nicht ganz zu Unrecht an des Ethnologen Claude Levi-Strauss Arbeiten zu den Kulturen des »Rohen und des Gekochten« (Le cru et le cuit ) erinnert, die bei ihm systematisch Differenzen zwischen Völkern und Kulturzuständen begründen.8 Es ist auch mit Händen zu greifen, dass Chre´tien uns den allmählichen Wiederaufstieg des aus der Kultur gefallenen Helden vom Rohfleischesser zum gastronomischen Minimal-Wesen schildert, das dennoch mit nichts anderem beschäftigt ist als mit der Stillung seiner einfachsten Bedürfnisse: Er trifft einen Einsiedler, der ihn »aus Barmherzigkeit« mit Brot und Wasser versorgt, dann das von ihm erjagte Wildbret in Empfang nimmt und brät, die daraus gewonnenen Felle verkauft, um davon besseres Brot zu kaufen. Man ist also bei der Tauschwirtschaft gelandet (v. 2814–2884). IV. Drei Damen bringen die Peripetie der Krise und damit die Heilung: Eines Tages findet eine adlige Dame zusammen mit zwei Dienerinnen den nackten Iwein schlafend im Walde. Eine der Dienerinnen, die Iwein früher oft gesehen hatte, erkennt ihn nach langer Betrachtung an einer Narbe im Gesicht, 5 Zum Wahnsinn im Mittelalter vgl. generell Muriel Laharie, La Folie au Moyen Age. XI e –XIII e sie`cles, Paris 1991 (speziell zur ‘Yvain’-Szene S. 227–230). Zu Iweins Wahnsinn vgl. u. a. Wolfgang Mohr, Iweins Wahnsinn. Die Aventüre und ihr »Sinn«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 100 (1971), S. 73–94; Ranawake [Anm. 3], S. 24 f.; Jacques Le Goff, Le´vi-Strauss in Broce´liande: Skizze zur Analyse eines höfischen Romans, in: Ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990, S. 171–200, hier S. 172–177; Sylvia Huot, Madness in Medieval French Literature. Identity Found and Lost, Oxford 2003, S. 29–31; Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung, Frankfurt a. M. 1996, S. 122–139. 6 Vgl. zu den Kleiderzeichen im ‘Yvain’ Henning Krauss, Kleiderzeichen und Arbeit in der mout bele conjointure. Ein Vergleich zwischen Chrestiens ‘Erec et Enide’ und ‘Yvain’, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 29 (2005), S. 183–196, hier S. 191 f. 7 Jean Frappier, Etude sur ‘Yvain ou` le Chevalier au lion’ de Chre´tien de Troyes, Paris 1969, S. 19. 8 Claude Le´vi-Strauss, Mythologiques I: Le cru et le cuit, Paris 1964.
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verwundert sich ob seiner, dass sie ihn so povre et nu, so »arm und entblößt« findet, bekreuzigt sich, klagt und weint. Natürlich erkennt sie selbst am Schlafenden die Zeichen des Wahnsinns, der Tollheit und Wirrnis. Doch ihre Herrin tröstet sie: sie hat auf ihrer nahegelegenen Burg noch eine Salbe zauberischen Ursprungs, die ihr »die weise Morgana« – dies ist eine Fee aus dem keltischen Urgrund der Artussage – gab, »und sie (Morgana) versicherte mir dabei, das keine Tollheit im Hirn wütet, die diese Salbe nicht daraus vertriebe« (v. 2946–2955). Man reitet zur Burg und just jenes Fräulein, das Iwein erkannt hatte, wird damit beauftragt, ihn zu salben und zu heilen. Ganz in Kongruenz mit zeitgenössischer Medizin erlässt die Herrin Therapievorschriften: »nur Schläfen und Stirn solle sie« mit der wertvollen Salbe »einreiben und sich keine Mühe geben, sie woandershin zu streichen. Sie möge nur die Schläfen salben«, wiederholt die Herrin, »und ihr den Rest gut aufheben, jener sei ja nirgends sonst krank als im Gehirn.« Doch auch der mangelhafte Outfit, das Äußere des Ritters wird nicht vergessen. Man gibt ihr ein »vortreffliches Reitpferd« und beste Kleidung mit, die genau beschrieben werden: »Ein pelzgefüttertes Oberkleid (robe), Wams und Mantel aus scharlachfarbener Seide, ferner ein Hemd und feingewebte Beinkleider und schöngeschnittene neue Schuhe« (v. 2974–2980). Die Wichtigkeit der vestimentären Ausstattung ist augenscheinlich. Die Dienerin ist freilich eine Anhängerin des therapeutischen Prinzips »Viel hilft viel« und kümmert sich nicht um das Salbungsgebot ihrer Herrin, was sogar Chre´tien als töricht tadelt. »Schläfen und Stirn reibt sie ihm ein und den ganzen Leib bis zu den Fußspitzen«. Und noch einmal: »Sie rieb ihm in der heißen Sonne die Schläfen und den ganzen Leib, bis ihm die Tollheit und die Melancholie (la rage et la melancolie) aus dem Hirn wich«. Man hat fast den Eindruck, dass sich die dameisele von dem bloßen Leib, dem »nackten Elfenbein« des Ritters nicht zu trennen vermag. Dann tut sie’s doch und versteckt sich aus Diskretion und wartet, bis er geheilt aufwache »und Verstand und Gedächtnis (son san et son memoire) zurückgewonnen hätte« (v. 2885–3019). V. Die frischen Kleider: Diese hatte die Dienerin neben den Gesalbten gelegt. Als er nun aufwacht, geheilt, »ist er wegen seiner Nacktheit bestürzt«, legt jedoch die neuen Kleider an. Er versucht sich zu erheben, kann jedoch nicht gehen. Erst jetzt zeigt Chre´tien, dass er sich offenbar wie ein Tier im Wald auf allen Vieren bewegt hatte: »Er bedarf des Beistands und der Stütze, um sich fortzuhelfen. Denn seine schwere Krankheit hat ihn so entkräftet, dass er sich kaum aufrecht zuhalten vermag«. Die demoiselle hilft ihm, tut jedoch so, als ob sie zufällig vorbeigekommen sei: das ist, wie Chre´tien sagt, »klug und höfisch«. Iwein besteigt das mitgebrachte zweite Pferd, und reitet zu ausgiebiger Rehabilitation zur Burg: dort pflegen sie »Herrn Yvain, so gut sie es wissen und können, und sie baden ihn und waschen ihm das Haupt und lassen ihn scheren und barbieren, denn der Bart stand ihm eine Faust lang im Gesicht. Man liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab: wenn er
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Waffen will, so legt man sie ihm an, wenn er nach einem Pferd verlangt, so hält man ihm ein schönes, stattliches, starkes und kühnes bereit« (v. 3020–3241). Iweins Adel ist wiederhergestellt. Wie geht die Geschichte weiter? Nun, sie kann hier nicht weitererzählt werden, aber für Liebhaber von happy endings sei doch preisgegeben, dass sich ganz am Ende Laudine, die Herrin, und Iwein, der Herr, versöhnen. Der finale Cursus von Abenteuern widmet sich der Bewährung von Iweins neuem Rittertum in Hilfe und Rettung von Verfolgten, darunter auch der fälschlich der Untreue und der Falschheit angeklagten Dienerin Lunete. Denn auch der geheilte Ritter ist erst ein projektierter conversus, durch seine Flucht in Wahnsinn und Wildnis fehlte ihm die Erinnerung an seine Verfehlung, wie Chre´tien ausspricht (v. 2822 f.), und damit auch die Möglichkeit zu ihrer Bewältigung durch contritio, Reue und Buße. Chre´tiens ritterliche Welt ist eine Welt der Ordnung, die sozial auf Herrschaft und Hof, in der individuellen Partnerschaft zwischen adliger Frau und adligem Mann auf Liebe und Vertragstreue gegründet ist. Gegen beide verstößt Iwein: er verspielt die Herrschaft, indem er gegen das gegebene Versprechen, gegen den Vertrag von Partner und Partnerin verstößt. So fällt er folgerichtig aus der höfischen Ordnung in ein doppeltes Chaos, in eine höfische Gegenwelt der Unkultur (in der rohe Subsistenz, Konzentration auf das Kreatürliche, allenfalls primitive Tauschwirtschaft herrscht). Er fällt äußerlich in Wald und Wildnis, innerlich aber in die Gegen-Welt, die terre sauvage des Wahnsinns, die zugleich den sozialen Tod bedeutet. Die Errettung aus der Gegenwelt kann nicht von ihm selbst geleistet werden, sie kommt von außen, von der über quasi wunderbare Therapie-Instrumente verfügenden Außenwelt. Sie ist nicht im Sinne einer – etwa durch Reue, Einsicht, Umkehr – personalen Logik motiviert, sondern sie ist pragmatisch motiviert: seine Retterinnen erwarten Hilfe gegen einen sie bedrängenden Grafen vom geretteten und in seinem Adel auch äußerlich durch Kleidung und Bewaffnung rekonstituierten Ritter. Wie hat eigentlich der Übersetzer und Umsetzer Chre´tiens, Hartmann von Aue um 1200 die alte Geschichte vom liebes- und vertragsvergessenen Artusritter aufgefasst? Erstaunlicherweise hat die Forschung bisher kaum eine vergleichende, auf der Grundlage gleicher Struktur der histoire aufbauende, detaillierte Analyse der narrativen Versionen Chre´tiens und Hartmanns, des französischen und des deutschen Autors vorgelegt.9 Dabei sind die Differenzen der 9 Ansätze finden sich allerdings bei Alois Wolf, Erzählkunst und verborgener Schriftsinn. Zur Diskussion um Chre´tiens ‘Yvain’ und Hartmanns ‘Iwein’, in: Sprachkunst 2 (1971), S. 1– 42, hier S. 27– 41; Johannes Frey, Spielräume des Erzählens. Zur Rolle der Figuren in den Erzählkonzeptionen von ‘Yvain’, ‘Iwein’ und ‘Ivenssaga’, Stuttgart 2008, S. 52 f. Ausnahme ist die auch methodologisch wichtige Arbeit von Peter Kern, Text und Prätext. Zur Erklärung einiger Unterschiede von Hartmanns ‘Iwein’ gegenüber Chre´tiens ‘Yvain’, in: Chevaliers errants, demoiselles et l’autre: höfische und
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narrativen Oberflächen so stark, dass man für die Gestaltung des erzählerischen Zentrums, der Krise, bei Hartmann durchaus von einer neuen Sinngebung sprechen kann. Er nimmt seine Neuinterpretation vor allem mittels zweier Instrumente vor: – durch Verstärkung und Restrukturierung der Handlungsmotivierung; – durch den Rekurs auf die Exemplarität der Handlung, in der zugrundeliegende Normen und Muster der dargestellten sozialen Welt explizit gemacht werden. Dies lässt sich an den wichtigeren Änderungen Hartmanns gegenüber seiner Vorlage gut aufzeigen: Nehmen wir einmal die Wende des Geschehens, als Iwein selbst seines Vergehens inne wird und die Botin Lunete ihn explizit vor der höfischen Artusgesellschaft anklagt. Hartmann streicht zunächst einmal die intensive Autorvorausdeutung auf kommendes Unheil, die sich bei Chre´tien findet, und erhält so länger die narrative Spannung der histoire. Bei Hartmann ist es der Held selbst, der in wiedererwachender Liebe und Sehnsucht das kommende Unheil, das ja in Gestalt von Lunete wirklich kommt, vorausahnt. Schon an dieser Stelle wird auf den kommenden Verstandesverlust durch Formulierungen wie »seiner selbst vergessen« (daz er sıˆn selbes vergaz: v. 3091) und »wie von Sinnen«, als er ein toˆre wære (v. 3095), vorausverwiesen. Während Chre´tien das von der Botin formulierte Verbrechen als Liebesvergehen, als unberechtigtes »Stehlen des Herzens« akzentuiert, verlegt der deutsche Adaptor das Motiv der zerstörten Liebe und g l e i c h w o h l erhaltenen Sehnsucht ganz in das Innere des Helden, psychisch zweifellos stimmiger. Lunete dagegen konzentriert ihre Anklage auf die soziale Qualität des Vergehens (v. 3111–3196): – Iwein ist t r e u l o s ; – er hat S c h a n d e über seine Gemahlin gebracht; – über die Tötung des ersten Gatten seiner Frau hinaus hat er ihr auch ihre E h r e und vielleicht sogar das L e b e n nehmen wollen; – schließlich hat er S c h a n d e und L e i d über Lunete, die Anklägerin, selbst gebracht, da sie ja die missliche Heirat arrangiert hatte. So ist für Lunete die logische Folgerung das Verlangen nach der sozialen Ächtung des Verbrechers. Es »sollen Euch alle verabscheuen, die Treue und Ehre lieben und sich dessen bewusst sind, dass ohne Treue keiner ein wirklich rechter Mann sein kann« (v. 3175–3180). Diese ja inzwischen bis in die bürgerliche Gesellschaft hinein gesicherte Forderung wird mehrfach wiederholt und damit überdeutlich markiert. Die Artusgesellschaft, so heißt es, soll ihn fortan als »treulosen Mann ansehen«. Der König selbst, also Artus »möge sich fortan schämen, haˆt er iuch meˆre in rıˆters namen, hält er Euch länger für zum Ritterstand gehörig, wenn ihm Treue und Ehre lieb sind (v. 3187–3189)«. Ja selbst der magisch helfende, Bindung ausdrückende, von seiner Gattin als Unterpfand geschenkte Ring wird ihm entrissen, weil er nicht an »untreuer Hand verbleiben nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift Xenja von Ertzdorff, hg. von Trude Ehlert, Göppingen 1998, S. 363–373.
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darf« (v. 3194 f.). Es sind also die Normen von E h r e und Tr e u e , die in der Krisis gerade durch ihre Verletzung manifest werden.10 Konsequenterweise wird auch der Wahnsinn Iweins anders als bei Chre´tien, wo er aus Leid und Verlust hervorgeht, als ein Ritus der Entehrung inszeniert und zugleich multiperspektivisch motiviert (v. 3201 ff.). Daz s m æ h e n daz vrou Luˆnete den herren Iweinen tete, daz gæhe wider keˆren, der s l a c s ˆı n e r eˆ r e n , daz sıˆ soˆ von im schiet daz sıˆ in entroˆste noch enriet, daz s m æ h l ˆı c h e u n g e m a c h , dazs im an die triuwe sprach, diu versuˆmde riuwe und sıˆn groˆze triuwe sıˆnes stæten muotes, diu verlust des guotes, der jaˆmer nach dem wıˆbe, die benaˆmen sıˆnem lıˆbe vil gar vreude und den sin.
Es ist der slac sıˆner eˆren in der Schmähung durch eine Frau, die Zerschlagung seiner Ehre, die schmähliche Kränkung durch den Nachweis seiner Treulosigkeit, die ihn niederwirft. Aber es ist auch die versäumte Reue, die ihm noch lange nachgehen wird, die auch einhergeht mit der im Grunde seines beständigen Herzens noch bewahrten Treue, die Sehnsucht nach der Frau, die ihn zerstört! Es ist bezeichnend, da dies den Doppelaspekt der E h r e bezeichnet, die aus Amt und Ethik, aus Macht und Gesinnung für den mittelalterlichen Menschen besteht, es ist bezeichnend, dass in die Entehrung vom Autor auch der Verlust des guotes, des Besitzes, der Herrschaft miteinbezogen wird. Es wird so deutlich, dass ihn die Entehrung um jede vreude, das höfisch-ritterliche Hochgefühl und den sin, den Verstand bringt. Der Wahnsinn ist eine außengeleitete, gesellschaftliche Waffe, die ihn aus der Gesellschaft der Ritter fallen lässt.11 10 Vgl. zur impliziten Normenkonstruktion bei Hartmann Wolfgang Haubrichs, Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen. Das Beispiel ‘Erec’, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 415– 433. 11 Zu dieser Struktur der Desozialisierung im Gegensatz und zugleich dialektischer Transformation von höfischer Kultur und bäurischer Unzivilisiertheit, von kultivierter Ritterwelt und wildem Wald vgl. Le Goff [Anm. 5]; W. H. Jackson, Knighthood in ‘Iwein’: Voices of the Characters, in: Ders., Chivalry in Twelfth-Century Germany. The Works of Hartmann von Aue, Cambridge 1994, S. 210–234, hier S. 214–217; Matejovski [Anm. 6], S. 134–139; Bruno Quast, Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns ‘Iwein’, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. 2001, S. 111–128; Andreas Hammer, Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im ‘Tristan’ Gottfrieds von Straßburg und im ‘Iwein’ Hartmanns von
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Zugleich aber muss Iwein noch deutlicher als bei Chre´tien seine eigene Schuld anerkennen. »Sein eigenes Schwert hat ihn erschlagen«, wie Hartmann sagt (v. 3224), hat ihm den sozial tödlichen, ehrvernichtenden Schlag gegeben. Er denkt nur noch »an sein eigenes Selbst« (v. 3225 f.: ern ahte weder man noch wıˆp, / niuwan uˆf sıˆn selbes lıˆp), er hat die hulde seiner selbst, die »Zuneigung« zu sich selbst verloren. Da geht es um Identität und Identitätsverlust, wie man gerne feststellt, aber diese Identität ist verloren, weil er das Außen, die Gesellschaft, verloren hat, so auf sich selbst zurückgeworfen ist.12 Das ist der Wahnsinn. Der ie ein rehter adamas (Edelstein) rıˆterlıˆcher tugende was (v. 3256–3258), gerät in die Kehre (verkeˆrte sinne unde lıˆp). So, als Verlust der gesellschaftlichen Ehre, nicht als Verlust des Selbst, sondern als Rückzug auf das kleine, kleine Selbst motiviert Hartmann die dann folgende Flucht nach innen, in den Wahnsinn, und nach außen, in die Wildnis des Waldes und die Stufen der kruden Kreatürlichkeit, in zorn, tobsuht, Nacktheit und den Bruch mit höfischem Anstand und höfischem Verhalten.13 Diese Entgesellschaftung des Seins, torheit, Wahnsinn genannt, hat Folgen. Anders als bei Chre´tien wird das Moment des kulturellen Neuanfangs im Walde durch Rohfleischessen und Tauschhandel bei Hartmann zurückgedrängt.14 Dies Aue, Stuttgart 2007, S. 242–247; ders., Nacktheit an der Grenze. Narrative Umschreibungen der rites de passage, in: »Und sie erkannten, dass sie nackt waren« – Nacktheit im Mittelalter, hg. von Stefan Bießenecker, Bamberg 2008, S. 321–336, hier S. 322–326. 12 Zum Problem des Identitätsverlusts im ‘Iwein’ vgl. Timothy McFarland, Narrative Structure and the Renewal of the Hero’s Identity in Iwein, in: Hartmann von Aue – Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985, hg. von Timothy McFarland und Silvia Ranawake, Göppingen 1988, S. 129–157; Klaus Speckenbach, Rıˆter – geselle – herre. Überlegungen zu Iweins Identität, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 115–146, hier S. 123–131; Haiko Wandhoff, Iweins guter Name. Zur medialen Konstruktion von adliger Ehre und Identität in den Artusromanen Hartmanns von Aue, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart / Leipzig 1999. Vgl. auch Jürgen Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt 2007, S. 85. 13 Zur mittelalterlichen Symptomatik des Wahnsinns vgl. Wolfram Schmitt, Der ›Wahnsinn‹ in der Literatur des Mittelalters am Beispiel des ‘Iwein’ Hartmanns von Aue, in: Psychologie in der Mediävistik, hg. von Jürgen Kühnel, Hans-Dieter Mück, Ursula Müller und Ulrich Müller, Göppingen 1985, S. 197–214; Heinz-Günter Schmitz, Iweins zorn und tobesucht. Psychologie und Physiologie in mittelhochdeutscher Literatur, in: Sandbjerg 85. Dem Andenken von Heinrich Bach gewidmet, hg. von Friedhelm Debus und Ernst Dittmer, Neumünster 1986, S. 87–111; Torsten Haferlach, Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991, S. 39– 47. Auf das Problem der Identität reduzieren besonders die Nacktheit und den Kleiderverlust des Helden Andreas Kraß, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen / Basel 2006, S. 117–121; Silke Winst, Iwein und Wigalois. Vollständige männliche Nacktheit als Marker einer Identitätskrise, in: »Und sie erkannten . . . « [Anm. 12], S. 337–354, hier S. 348–350. 14 Dies wird in der von der Vorlage Chre´tiens allzu oft absehenden deutschen Forschung
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ist bei ihm nur Folge der gesellschaftlichen Entäußerung, der Konzentration auf das eigene, törichte Ich: Es ist Symptom des Toren, dass er nur noch an die Notdurft des Leibes denkt, und so spielt es keine Rolle, ob das Fleisch cru ou cuit ist, »roh oder gekocht«, die Not des Hungers – sagt Hartmann – »briet und sott es ihm, dass es eine süeziu spıˆse wurde« (v. 3279–3282). Gleichzeitig wird das Gegenweltliche zum höfischen Sein noch dadurch an ihm gesteigert, dass Iwein als weitere Folge des Wahnsinns die weiße Farbe des Adels verliert; er wird schwarz, ein höfisches Antiwesen: unz daz der edele toˆre / wart gelıˆch einem moˆre (v. 3347–3349).15 Diese Motivverstärkung wird sogleich nochmals eingesetzt beim zur Rettung und Heilung führenden Treffen der drei Damen auf den nackten, schlafenden Helden. Wie erkennt man ihn als Artusritter, und das noch namentlich, trotz seiner Nacktheit, Verhaarung, Vertierung und Schwärze? Bei Chre´tien schafft dies cicatrix ex machina, eine charakteristische Narbe, ein vorher nie genanntes Allerweltsmotiv.16 Hartmann führt zusätzlich eine Art gesellschaftliche Providentialität ein. Iweins Verschwinden ist »eine bekannte Nachricht im ganzen Land«. Man e r w a r t e t ihn geradezu in der höfischen Welt. Und behutsam wird das Motiv des allmählichen Wiederhinübergeleitens in die höfische Welt verstärkt. Wenn die therapeutisch ausführende Dame den ganzen, nackten Körper des Wiedergefundenen mit der Salbe bestreicht, so ist dies nicht Übereifer, den man noch als Autor tadeln muss, sondern es ist die höfische Grundkraft des Eros, die ihr die Hand führt (v. 3478–3480): ir wille was so süeze / daz sıˆ daz alsoˆ lange treip / unz in der bühsen niht beleip. Es ist eine ironisch gebrochene Erotik, die der Autor evoziert. Und wenn die Dame sich versteckt, um nicht bei Iweins Erwachen von ihm erblickt zu werden, so ist es ihr »höfischer Sinn« (höfscher muot), der will, dass der geheilte Iwein sich nicht schämen muss und erneut einen Ehrverlust erleidet (v. 3489–3493). Gerade der heikle Moment des Erwachens wird bei Hartmann gegen seine Vorlage breit ausgearbeitet. Der Autor nutzt für die Schilderung das alte Motiv vom »Leben als Traum«: Der wiederkehrende Verstand, die neu erwachte Erinnerung ruft in ihm die Momente seines ehemals rıˆchen, machtvollen Lebens, seiner Ehre, seiner adeligen Geburt, seiner Jugend, seines Reichtums, seines höfischen Wesens, seiner Klugheit, seiner Ritterschaft wach und schließlich spiegelbildlich zur Szene des Verlustes auch das Bild der vrouwe und des rıˆchen häufig übersehen: Vgl. z. B. Christoph Cormeau / Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, S. 210 f.; Matejovski [Anm. 6], S. 134 f. Zu weit zu gehen scheint mir die Hypothese einer religiös-sakramentalen Konnotation der Tauschbeziehung von Brot, Wasser und erjagtem Fleisch bei Andreas Kraß und – ihm folgend – Jürgen Wolf [Anm. 13], S. 85. 15 Die Schwärze gehört zu den Symptomen der melancolia. Vgl. Ranawake [Anm. 3], S. 24, Haferlach [Anm. 14], S. 125. 16 Vgl. Wolf [Anm. 13], S. 34 der für die Rettung und Heilung Iweins durch die drei Damen vom »märchenhaften deus ex machina-Prinzip« spricht.
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lant, das er durch sie erwarb, hervor.17 Dies kann, im Ansehen seiner jetzigen Erscheinung, nur ein Traum sein.18 In Wahrheit ist er bestenfalls »ein struppiger Bauer«. Aber obwohl es ein Traum war, hat er doch in ihm den schönen Vo r schein der Ritterschaft: er ist überzeugt, dass er, wäre er nur »bewaffnet und beritten«, wohl mit der Chevalerie umzugehen wüsste (v. 3556– 3562). Es fehlt ihm nur noch die Übereinstimmung zwischen Traum und Gegenwart, die Identität. Hartmann kommentiert diese noch andauernde Selbstentfremdung mit einem wunderbaren Bild (v. 3563 f.): Alsus was er sıˆn selbes gast, / daz im des sinnes gebrast (»So war er sein eigener Gast und verstand sich doch selbst nicht«). Es fehlt ihm Eines, damit er sein Selbstverständnis wiedergewinnt; die Übereinstimmung zwischen dem Innen, dem ritterlichen Sinn, und dem Außen, der gesellschaftlichen Erscheinung. Es fehlt ihm die Kleidung des Hofes, die Signum der Gesellschaft und der in ihr fundierten Ehre des adligen Menschen ist. Das Wiederfinden des gesellschaftlichen Seins, der Kulturform der Chevalerie, das ist der von Hartmann deutlich gemachte Sinn des Findens der vrischen cleider. »Als er seinen schwarzen Körper bedeckt hatte, da war er wieder wie ein Ritter« (v. 3595 f.). Mit Hilfe der Damen wird er körperlich gepflegt, erhält Kleider, Rüstung, Essen, Bad, verliert sogar die Schwärze, diu wilde varwe ... und war als eˆ ein schœne man, und wurde – wie es sich für den Adligen gehörte – wie vordem »ein schöner Mann« (v. 3695 f.).19 Genug des Wahnsinns. Er ist erlöst, der Held – oder? Hartmanns Interpretation des ‘Iwein’ ist ein Roman vom Wert der Integration in die Gesellschaft, und zwar einer Integration, die falsche Fremdbestimmtheit aufzuheben vermag und Eigenbestimmtheit durch das Andere, das Gegenüber definiert. Und wenn der Held so vielleicht noch nicht e r löst ist – das zeichnet sich erst am Ende des Romans ab –, so ist er doch g e löst.
17 Zur Szenerie des Erwachens vgl. schon früh Max Wehrli, Iweins Erwachen, in: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts, hg. von Maria Bindschedler und Paul Zinsli, Bern 1969, S. 64–78; Mohr [Anm. 5], S. 84 (mit Betonung der Freiheit von der Vorlage); Jutta Goheen, Bistuz Iwein, oder wer? Hartmanns letztes Epos als Spätwerk, in: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 7 (1974), S. 47–83, hier S. 63; Jackson [Anm. 12], S. 214–217. 18 Vgl. Steven R. Fischer, The Dream in the Middle High German Epic. Introduction to the Study of the Dream as a Literary Device to the Younger Contemporaries of Gottfried and Wolfram, Bern / Frankfurt a. M. 1978, S. 103–108. 19 Vgl. zur Funktion der Wiedereinkleidung Kraß [Anm. 14], S. 119 f.; Wolf [Anm. 13]. Es sei auch an die höfische Freude schaffende und den Wiedereintritt in die Gesellschaft indizierende Einkleidung der Witwen im Schluss des ‘Erec’ mit höfischer waˆt erinnert. Vgl. dazu Haubrichs [Anm. 11], S. 431 f.
Die ‘Iwein’-Handschrift a (Mscr. Dresd. M.175) – ein Zeugnis jüdischer Rezeption der mhd. Artusepik? von Werner J. Hoffmann
I. Forschungslage Die Handschrift a des ‘Iwein’ Hartmanns von Aue (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. M.175) gilt in der altgermanistischen Forschung als »ein bemerkenswertes Zeugnis deutschjüdischen Literaturtransfers«.1 In seiner verdienstvollen Arbeit zur spätmittelalterlichen Rezeption der mhd. höfischen Epik gibt Peter Jörg Becker eine recht plastische Charakterisierung von Textgestalt und Schreiber der Hs.: Die Hs steckt voller Fehler, Irrtümer, Auslassungen und willkürlicher Änderungen. Dafür ist jedoch nicht nur die Unfähigkeit des Schreibers verantwortlich. In einer bewussten Umarbeitung sind die Namen Christus, Heiliger Geist und die der Heiligen ausgemerzt und christliches Gedankengut systematisch verdrängt. Wortreklamanten in hebräischer Schrift und hebräische Buchstaben zur Markierung der nachzutragenden Lombarden beweisen, dass die Hs von einem Juden kopiert und redigiert wurde. Einem anderen Schreiber dieser Zeit ist die Kenntnis der hebräischen Schrift nicht zuzutrauen. Die Eliminierung der einem Juden anstößigen Hinweise auf das Christentum dürfte bedeuten, dass die Hs für jüdischen Gebrauch und nicht in adligem Auftrag verfertigt wurde.2
Beckers Bemerkungen zur jüdischen Provenienz der Hs. fassen – in etwas zugespitzter Form – die Ergebnisse zweier Arbeiten vom Ende des 19. Jahrhunderts zusammen: eines Aufsatzes von Emil Henrici aus dem Jahr 1881 und einer 1899 publizierten Dissertation von Heinrich Römheld.3 Der Titel »Die Dresdner Iweinhandschrift«, den Henrici dem im Rahmen der Vorbereitung seiner ‘Iwein’-Ausgabe4 entstandenen Aufsatz gegeben hat, ist etwas irreführend, denn im ersten Teil des Aufsatzes (S. 123–125) geht es um zwei Dresdner ‘Iwein’-Hss. und deren Wechselbeziehungen, die hier interessierende 1 Achim Jäger, Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‘Widuwilt’ (‘Artushof’) und zum ‘Wigalois’ des Wirnt von Gravenberc (Conditio Judaica 32), Tübingen 2000, S. 154. 2 Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, S. 64. 3 Emil Henrici, Die Dresdner Iweinhandschrift, in: ZfdA 25 (1881), S. 123–127; Heinrich Römheld, Über die Nibelungenhandschrift h und die Iweinhandschrift a, Diss. Greifswald 1899, S. 43–88 (online: http://dds.crl.edu/CRLdelivery.asp?tid=11647 [15. 03. 2011]). 4 Hartmann von Aue, Iwein, der Ritter mit dem Löwen, hg. von Emil Henrici, 1. Teil Text, 2. Teil Anmerkungen (Germanistische Handbibliothek 8), Halle a. S. 1891/1893.
Die ‘Iwein’-Handschrift a
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Hs. a (Mscr. Dresd. M.175) und die Hs. f (Mscr. Dresd. M.65). Im zweiten Teil (S. 125–127) handelt Henrici dann über »das alter und den schreiber« der Hs. a. Aus der Datierung einer am Anfang der Hs. eingeklebten Urkunde schließt er auf die Entstehungszeit der Hs. um 1390. Dezidiert vertritt er die Meinung, der Schreiber der Hs., der auch gleichzeitig Textbearbeiter gewesen sein soll, sei ein Jude gewesen. Henrici geht dabei von der Beobachtung aus, dass der Wortlaut des ‘Iwein’ in a einige auffallende Änderungen aufweist, wie Tilgungen und Ersetzungen von bestimmten christlichen Textelementen, aus denen sich ergebe, dass der Bearbeiter »ein gegner des christentums« (S. 126) gewesen sei. Von entscheidender Bedeutung für die These von einem jüdischen Schreiber ist Henricis Entdeckung, dass in der Hs. Reklamanten in hebräischer Schrift vorkommen. Diese Reklamanten zusammen mit der am Anfang der Hs. eingeklebten, angeblich von demselben Schreiber stammenden Urkunde, in der jüdische Rechtsgeschäfte behandelt werden, führen Henrici zu dem Schluss, dass »der schreiber ein bei irgend einem fürsten als hofkanzlist dienender jude« (ebd.) gewesen sei. Aus einem am Ende der Hs. eingetragenen Einnahmeverzeichnis schließt Henrici, dass sie sich noch einige Jahrzehnte nach Entstehung in jüdischem Besitz befunden habe. Heinrich Römheld bietet in seiner 1899 abgeschlossenen Greifswalder Dissertation eine systematische Untersuchung der Textänderungen, die die ‘Iwein’Handschrift a im Vergleich zur übrigen Überlieferung aufweist (S. 43–88). Dabei führt er weitere Stellen an, die belegen sollen, dass in der Hs. ein jüdischer Redaktor am Werk war (S. 54–56). Nach Römhelds Ansicht habe sich dessen Arbeit jedoch nicht darauf beschränkt, christliche Textelemente zu eliminieren, sondern sei insgesamt gekennzeichnet durch »Nachlässigkeit ... bei der Entzifferung der Vorlage« (S. 57), »Teilnamslosigkeit« (S. 62), und mangelndes »Interesse für die ritterliche Erzählung« (S. 70). Ein Hauptverdienst Römhelds besteht in der Klärung wichtiger kodikologischer Einzelheiten: So weist er nach, dass an der Abschrift des ‘Iwein’-Textes mehrere Kopisten beteiligt waren (S. 51). Außerdem ist ihm die Entzifferung des Wortlauts der hebräischen Reklamanten zu verdanken (S. 52, Anm. 2).5 Die auf Henrici zurückgehende und von Römheld mit weiterem Material begründete These, die ‘Iwein’-Hs. a stamme aus jüdischem Besitz und ihr Text sei von einem Juden redigiert worden, scheint opinio communis der Forschung zu sein. Außer Peter Jörg Becker folgen ihr auch Werner Fechter (1935),6
5 Römheld hatte neben deutscher Philologie auch Religionswissenschaft und Hebräisch studiert. 6 Werner Fechter, Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung (Deutsche Forschungen 28), Frankfurt a. M. 1935, Nachdr. Darmstadt 1966, S. 55: Die Hs. wurde »in der Hauptsache von einem Juden geschrieben«; es sei »wahrscheinlich, daß die Handschrift nicht beim Adel, sondern in Kaufmannskreisen und zwar bei Juden entstand und gelesen wurde.«
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Ludwig Wolff (1968)7 und Lambertus Okken (1974)8 sowie zuletzt Robert G. Warnock (1990),9 Achim Jäger (2000)10 und Martin J. Schubert (2002).11 Wirklich überprüft wurde sie aber von keinem der genannten Forscher. Sollte diese Annahme tatsächlich zutreffen, so läge in der Dresdner Hs. ein einzigartiges Zeugnis jüdischer Rezeption mittelhochdeutscher Literatur vor.12 Bei der wissenschaftlichen Beschreibung des Mscr. Dresd. M.175,13 die ich im Zuge der Neukatalogisierung der Dresdner mittelalterlichen deutschen Hss. angefertigt habe,14 ergaben sich für mich allerdings erhebliche Zweifel, ob in der Hs. wirklich ein jüdischer Schreiber und Redaktor am Werk war. Vor der Überprüfung der Argumente für eine angebliche jüdische Provenienz gebe ich zunächst eine Beschreibung der Hs., in der der Schwerpunkt auf der Eingrenzung von Zeit und Ort der Abschrift (anhand von Wasserzeichenanalyse und Schreibsprachenbestimmung) sowie der Scheidung der beteiligten Schreiberhände liegt (II ). Danach wird auf die hebräischen Reklamanten und deren Charakter einzugehen sein sowie auf die Frage, von wem diese stammen und zu welchem 7 Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. v. G. F. Benecke / K. Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, 7. Ausg., Bd. 2 Handschriftenübersicht, Anmerkungen und Lesarten, Berlin 1968, S. 7: »Der größte Teil stammt von einem jüdischen Schreiber, der Christliches beseitigt und auch sonst vieles willkürlich geändert hat.« 8 Lambertus Okken, Hartmann von Aue, ‘Iwein’. Ausgewählte Abbildungen und Materialien zur handschriftlichen Überlieferung (Litterae 24), Göppingen 1974, S. XV . 9 Robert G. Warnock, The Arthurian Tradition in Hebrew and Yiddish, in: King Arthur Through the Ages, hg. von Valerie M. Lagorio und Mildred Leake Day, Bd. 1, New York / London 1990, S. 189–208, hier S. 190 und S. 202, Anm. 8. 10 Jäger [Anm. 1], S. 152–154. Merkwürdigerweise ignorieren sowohl Warnock als auch Jäger die grundlegende Arbeit Römhelds zur Dresdner Hs. und stützen sich nur auf den – vor allem in kodikologischer Hinsicht – sehr oberflächlichen und fehlerbehafteten Aufsatz von Henrici. 11 Martin J. Schubert, Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, in: Das Mittelalter 7 (2002) 2, S. 125–144, hier S. 138 f. 12 Als Beispiele für mhd. Hss. in jüdischem Besitz führt Jäger (Anm. 1, S. 151–166) neben der Dresdner ‘Iwein’-Hs. nur noch zwei Codices des 15. Jh.s mit dem Exlibris des bayerischen Geschlechts Jud von Pruckberg an (Berlin, Staatsbibl., mgo 483 [Wirnt von Gravenberg, ‘Wigalois’] und mgf 1464 [Konrad von Megenberg, ‘Buch der Natur’]). Bei den Jud von Pruckberg handelt es sich jedoch um eine schon lange vorher konvertierte Familie, die zum städtischen Patriziat gehörte. 13 Vgl. die vorläufige Beschreibung online unter: http://www.manuscripta-mediaevalia. de/obj31600051.html [10. 03. 2011]. Ein Digitalisat der gesamten Hs. ist zu finden unter der permanenten URL : http://digital.slub-dresden.de/ppn276882938. 14 Die Katalogisierung erfolgt im Rahmen des von der DFG geförderten und am Handschriftenzentrum Leipzig durchgeführten Projekts »Tiefenerschließung und Digitalisierung der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB ) Dresden« (http://www.ub.unileipzig.de/site.php?page=projekte/handschriften/7 [10.03.2011]). Die Beschreibungen werden zunächst zeitnah bei Manuscripta Mediaevalia publiziert (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ Menüpunkt: »Projekte« [10. 03. 2011]) und nach Abschluss des Projekts in Buchform veröffentlicht.
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Zeitpunkt der Herstellung der Hs. sie eingefügt wurden (III ). Als drittes sollen die in der Hs. enthaltenen urkundlichen Schriftstücke (eine eingeklebte Urkunde und eine Namensliste am Schluss) hinsichtlich ihres Aussagewertes zu Schreiber und Besitzer der Hs. betrachtet werden (IV ). Abschließend geht es dann um die Textänderungen, die angeblich auf einen jüdischen Bearbeiter schließen lassen (V).
II. Zeit und Ort der Entstehung der Handschrift. Die beteiligten Schreiber Die Papierhandschrift mit einem Format von 20 × 14 cm enthält nur Hartmanns ‘Iwein’, der 159 Blätter einnimmt (davon ist Bl. 9 eine Ergänzung aus dem 18. Jh.). Die Größe des einspaltigen, mit Tintenlinien begrenzten Schriftraums beträgt 15,7–16,0 × 10,3–10,6 cm. Die Zeilenzahl pro Seite schwankt zwischen 21 und 32. Die Verse sind abgesetzt, an den Versanfängen stehen Majuskeln, die ab Bl. 15r, Z. 9 in einer eigenen, ca. 0,8 cm breiten, vorgezeichneten Spalte ausgerückt sind (ohne Ausrückung sind die Versanfangsmajuskeln danach nur noch auf Bl. 23r). Der Text ist nicht rubriziert, an Abschnittsanfängen ist Raum für ein- bis vierzeilige Lombarden freigelassen. Zur Markierung der einzufügenden Abschnittslombarden wurden am Rand dicht neben dem Freiraum Repräsentanten (Kleinbuchstaben) angebracht, die allesamt noch erhalten sind. Die Hs. wurde – wie viele andere Dresdner Hss. – 1945 durch Wassereinwirkung schwer geschädigt. Die Schrift ist dadurch stellenweise ausgewaschen und stark verblasst, aber noch überall lesbar. Bl. 18v –20r hat sich die Tinte blau verfärbt. Über die Entstehungszeit der Hs. herrschte bislang Unsicherheit: Während die ältere Forschung die Hs. allgemein ins 15. Jahrhundert setzte,15 vertrat Henrici (Anm. 3, S. 125 f.) die Ansicht, dass sie Ende des 14. Jh.s entstanden sei. Römheld (Anm. 3, S. 51) widerlegte zwar dessen Argument für eine solche Datierung (Identität des Schreibers mit dem einer Urkunde von 1390, s. o.), meinte aber auch, dass die Hs. »um das Jahr 1400« anzusetzen sei. Römhelds Datierung wurde dann von der nachfolgenden Forschung in mehr oder weniger modifizierter Form (»zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts«,16 »um 1400«,17 »Ende 14. oder Anfang 15. Jahrhundert«,18 »14. Jahrhundert«19) übernommen. 15 Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching, Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert, Berlin 1812, S. 122; Karl Falkenstein, Beschreibung der Königlichen Öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Dresden 1839, S. 391; Franz Schnorr von Carolsfeld, Katalog der Handschriften der Königl. Öffentlichen Bibliothek zu Dresden [. . .], Bd. 2, Leipzig 1883. Nachdr. Dresden 1979, S. 480. 16 Fechter [Anm. 6], S. 55. 17 Wolff [Anm. 7], S. 7. 18 Okken [Anm. 8], S. XV . 19 Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue, Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968, S. 175.
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Einen Versuch, durch die Untersuchung der Wasserzeichen die Entstehungszeit der Hs. präziser zu bestimmen, unternahm Peter Jörg Becker (Anm. 2, S. 64). Aufgrund von zwei in der Hs. vorkommenden Ochsenkopfwasserzeichen gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Hs. »um 1410–1415« geschrieben worden sei. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass Becker die in der Hs. auftretenden Wasserzeichen zum einen teilweise falsch identifiziert,20 zum andern nur sehr unvollständig erfasst hat. Das Papier der Hs. enthält nicht nur zwei, sondern insgesamt sechs deutlich unterscheidbare Ochsenköpfe. Bei allen Zeichen handelt es sich um einen Ochsenkopf mit Augen und einkonturiger Stange mit Stern. Bei deren Identifizierung wird im Folgenden neben Piccards gedrucktem Repertorium (PiccOK; vgl. Anm. 20) auch die Internet-Datenbank (PiccardOnline)21 zitiert. Die sechs Ochsenköpfe lassen sich zu drei Formenpaaren ordnen, die sich folgendermaßen auf die einzelnen Lagen verteilen: 1) Lagen 1–3 und 11–14: beide Zeichen zu Typ PiccOK VI 315 (1377–1390), ein Zeichen sehr ähnl. Piccard-Online 67711 (Wesel 1389/90) bzw. ähnl. Piccard-Online 67712 (Arnhem 1389/90) und 67715 (Frankfurt a. M. 1390); 2) Lagen 4– 6: beide Zeichen zu Typ PiccOK VIII 171–175 (1388–1396), das eine Zeichen entfernt ähnl. Piccard-Online 78968 (Allendorf an der Weser 1389), das andere entfernt ähnl. Piccard-Online 78957 (Wesel 1390) bzw. 78976 (Straßburg 1391); 3) Lagen 7–10: beide Zeichen zu Typ PiccOK VI 140 (1384–1390).
Aufgrund des Wasserzeichenbefunds kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Hs. um 1390 geschrieben wurde. Sie ist damit die älteste der Papierhandschriften des ‘Iwein’.22 Von Bedeutung für die Datierung ist vor allem das am genauesten übereinstimmende, als ›sehr ähnlich‹ klassifizierte Zeichen Piccard-Online 67711 (s. o. Nr. 1); gestützt wird der zeitliche Ansatz aber auch durch alle anderen aus Piccards Repertorium angeführten Vergleichsbelege, wenn diese auch nur als ›ähnlich‹, ›entfernt ähnlich‹ oder ›vom gleichen Typ‹ zu klassifizieren sind.23 Außerdem stimmt eine solche Datierung 20 Er bestimmt die beiden Zeichen mit Hilfe des Wasserzeichenrepertoriums PiccOK (Gerhard Piccard, Die Ochsenkopf-Wasserzeichen. Findbuch II ,1–3 der Wasserzeichenkartei Piccard im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart 1966) als A) PiccOK VI 259 (1411–1414) und B) PiccOK VI 190 (1408–1415) oder VI 192 (1410–11). Die Identifizierung von Zeichen A ist mit Sicherheit unzutreffend, denn keiner der sechs Ochsenköpfe der Hs. (s. u.) besitzt auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit PiccOK VI 259. Bei dem Vergleichsbeleg zum Zeichen B (vgl. unten Formenpaar 1) handelt es sich nur um eine Typengleichheit, keineswegs um ein besonders ähnliches Zeichen, das eine genauere Datierung erlauben würde; zudem gibt es noch ein weiteres entfernt verwandtes Wasserzeichen in Piccards Repertorium, PiccOK VI 315, das man mit gleichem Recht als Vergleichsbeleg anführen könnte, das aber viel früher datiert ist (1377–1390). 21 Wasserzeichensammlung Piccard, online unter: http://www.piccard-online.de/. 22 Zu den übrigen ‘Iwein’-Hss. vgl. Becker [Anm. 2], S. 54–77; Jürgen Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt 2007, S. 69 f.; Handschriftencensus: http://www.handschriftencensus.de/werke/150 [25. 2. 2011]. 23 Dass es zu den meisten der in der Hs. vorkommenden Wasserzeichen keine genauer übereinstimmenden Vergleichsbelege gibt, dürfte kein Zufall sein, sondern hängt wohl
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zu der Jahreszahl in einer einst in die Hs. eingeklebten Urkunde, auf deren Verhältnis zur ‘Iwein’-Abschrift unten noch näher eingegangen werden soll. Die Schreibsprache der Hs. ist zweifellos ostmitteldeutsch, wie Ludwig Wolff (Anm. 7, S. 7) erstmals anhand von verschiedenen Merkmalen genauer nachwies. Allgemein ostmitteldeutsche Kennzeichen sind u. a.:24 1) Durchführung der nhd. Monophthongierung; 2) i-Schreibungen in den Nebensilben; 3) Verdumpfung des mhd. aˆ zu o; 4) Vorsilbe vor- (für ver-); 4) Personalpronomen her neben er. Becker (Anm. 2, S. 64) lokalisiert die Hs. innerhalb des ostmitteldeutschen Raums nach Sachsen und bezeichnet die Sprache (ohne Begründung) als »obersächsisch«.25 Meines Erachtens ist jedoch eine Entstehung weiter westlich, also in Thüringen, viel wahrscheinlicher. Folgende in der Hs. auftretenden Graphien sind nämlich typisch für die thüringische Schreibsprache:26 1) n-lose Infinitive (selten: man wolle denn mercke vnd gedagen [v. 250, Bl. 4r], sy sprach wol da czu, / daz sy daz gerne wolte thu [Bl. 53v, Änderung nach v. 2914], do er sich nicht mocht lenger gespar [: gar; v. 3766, Bl. 72r], wy sülte ich daz wip ... vmmer geprise [v. 5473, Bl. 108r], nu sehent yr, ab ich von dem tage / nyt großer kummer muge geclage [v. 7404, Bl. 145v]); 2) a für mhd. o (sehr häufig: nach/dach ‘noch/ doch’, wachin ‘Woche’, czubrachin ‘zerbrochen’, ras ‘Ross’, galt ‘Gold’, walcken ‘Wolken’, salde /walde ‘sollte, wollte’, beslaßen); 3) Senkung von i zu e (ganz vereinzelt: brengin, brenget, bez ‘bis’); 4) ss für mhd. hs (wassende, gewassen, das [= dahs, Prät. zu dehsen] : vlas [v. 6203 f.; 123r/v], seste, nestin, wessil). Wie bereits Römheld festgestellt und im einzelnen begründet hat (Anm. 3, S. 51), waren an der Herstellung der Hs. mehrere Schreiber beteiligt. Unterschieden damit zusammen, dass die Hs. im ostmitteldeutschen Raum entstanden ist, einem Gebiet, dessen Wasserzeichen-Material kaum aufgearbeitet ist, weil Gerhard Piccard für die Sammlung seiner Wasserzeichen die Archive und Bibliotheken der DDR nicht bereisen konnte. Vgl. dazu Christoph Mackert, Wasserzeichenkunde und Handschriftenforschung. Vom wissenschaftlichen Nutzen publizierter Wasserzeichensammlungen. Beispiele aus der Universitätsbibliothek Leipzig, in: Piccard-Online. Digitale Präsentation von Wasserzeichen und ihre Nutzung, hg. von Peter Rückert, Jeannette Godau und Gerald Maier, Stuttgart 2007, S. 91–118, hier S. 117 f. 24 Die im Folgenden aufgeführten Schreibsprachenmerkmale beziehen sich auf den vom Hauptschreiber H1 geschriebenen Text. Zu den orthographischen und sprachlichen Besonderheiten der von zwei anderen Händen (H2, H3) stammenden Teile s. u. 25 Detaillierte Schreibsprachenbestimmungen der übrigen vor 1400 entstandenen ‘Iwein’Hss. bietet Thomas Klein, Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 110–167, hier S. 148–156. Die Hs. a untersucht Klein nicht näher und übernimmt (S. 155) sowohl die Datierung (»um 1410– 1415«) als auch die Lokalisierung Beckers (»obersächsisch«). 26 Vgl. die Merkmalliste zum Thüringischen in: Der ostmitteldeutsche Traktat Welch furste sich vnde syne erbin wil synem furstethum festin nach Aegidius Romanus, ‘De regimine principum’ [. . .] hg. von Uta Störmer, in: Zwei ostmitteldeutsche Bearbeitungen lateinischer Prosadenkmäler (DTM 76), Berlin 1990, S. 227.
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werden können eine Haupthand (H1), von der der weitaus größte Teil des Textes (Bl. 1r –18r und 23v –159r) stammt, und zwei Nebenhände (H2, H3), die nur kleinere Stücke (insgesamt ca. 300 Verse) geschrieben haben: H2 den Text der Blätter 18v –23r (v. 1077–1357), H3 nur wenige Zeilen am Ende von drei Seiten (Bl. 7v, Z. 20–28 [=v. 449– 457]; Bl. 15v, Z. 27–32 [=v. 907–912]; Bl. 24r, Z. 22–26 [= v. 1405–1409).27 Die beiden Nebenschreiber unterscheiden sich von dem Hauptschreiber nicht nur durch den Duktus ihrer Schrift, sondern auch durch bestimmte orthographische und schreibsprachliche Eigenarten: Auffällig bei der Sprache von H2 sind 1) einige westmd. Schreibungen wie: ich sagen (v. 1107, Bl. 18v), czwuschen (v. 1128, Bl. 19r), e für mhd. ie (vorlesen ‘verlieren’ v. 1170, Bl. 20r), o für mhd. u/uo/üe (korcze v. 1220/1266, Bl. 20v/21v; großet [=gruoztet] v. 1194, Bl. 20v; borge tor v. 1259, Bl. 21v; vor [=vür] v. 1356, Bl. 23r);28 2) das Präfix her- für mhd. er- (neben dem auch die von H1 gebrauchten Formen er- und der- vorkommen) in herslagen (v. 1159, Bl. 19v) und herkenne (v. 1198, Bl. 20v); 3) das Fehlen der für das Ostmd. typischen und im Bereich von H1 und H3 häufig vorkommenden i-Schreibungen in den Nebensilben (einzige Ausnahme adir ‘oder’ v. 1274, Bl. 21v). Eine recht eigenwillige Orthographie zeigt der Schreiber H3, der nur 20 Verse kopiert hat: Bemerkenswert sind v. a. die Fälle, in denen er ein i als Sprossvokal einfügt: czorin (v. 451), münyt [=munt] (v. 452), starig [=starc] (v. 455), wolit [= wolte] (v. 910), nymanit (v. 1406). Auffällig ist ferner, dass er – im Gegensatz zu H1 und H2 – fast durchgehend i für e in den unbetonten Nebensilben gebraucht, in zwei Wörtern sogar in der in dieser Stellung sonst in der Hs. nie vorkommenden Schreibung mit y: angenümyn (v. 909), kümyn (v. 910). Die Tatsache, dass an der Abschrift des ‘Iwein’-Textes mehrere Kopisten beteiligt waren, lässt auf die Entstehung in einer größeren Schreibwerkstatt oder Kanzlei schließen. Die von Henrici aufgestellte (und vom überwiegenden Teil der Forschung übernommene) These, der gesamte Text sei von einem einzigen Schreiber kopiert und bearbeitet worden, ist damit widerlegt. Der Hauptschreiber beschließt seine Abschrift des ‘Iwein’ mit dem Verspaar Explicit, expliciunt,29 / sprach dy kacze wider den hunt. Dieser scherzhafte Nonsens-Spruch ist in mehreren weiteren literarischen Hss. als Textabschluss belegt, gewöhnlich besteht er aus 3 Versen und hat am Ende zusätzlich noch den Vers Dy worste sint dir vngesunt o. ä.30 Danach folgen nach zwei Leerzeilen 27 Römheld unterscheidet zwar 4 Hände (a1 –a4), hält es aber für möglich, dass Hand 3 und 4 identisch sind. Römhelds Hand a1 entspricht H1, a2 entspricht H3, a3 (v. 1077– 1305; Bl. 18v –22r) und a4 (v. 1306–1357, Bl. 22v –23r) entsprechen H2. 28 Vgl. zu diesen Merkmalen, die auch im Westen des ostmd. Raum belegt sind, Störmer [Anm. 26], S. 213, 214 und 227. 29 Bei Henrici (Anm. 3, S. 126) falsch transkribiert: Explicit explicuit. Die fehlerhafte Transkription auch in: Hartmann von Aue, Iwein. Text der 7. Ausg. von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolf. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, 2. Aufl., Berlin / New York 1974, S. 225.
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folgende Verse: Der dicz buch geschriben hat, / dez sell (oder sele?) werde numer e rat / und werde kurczlich erhangen (›Derjenige, der dieses Buch geschrieben hatte, dessen Seele sei auf ewig verdammt, und er möge in Kürze aufgehängt werden‹). Darunter ist dann noch eine Verszeile ausgekratzt. Umstritten ist, auf wen sich die Verse beziehen, auf den Schreiber der Hs. oder auf den Autor, also Hartmann von Aue. Henrici nimmt letzteres an und glaubt, dass der (angeblich jüdische) Schreiber hier »seinem ärger über die unangenehme beschäftigung ausdruck« gegeben habe (Anm. 3, S. 126). Da auszuschließen sei, »dass der schreiber mit dem, der dies buch geschrieben hat, sich selbst meinte,« sei es »wol unzweifelhaft dass er dem armen Hartmann noch lange nach seinem tode den strick gewünscht hat« (S. 127); bei der nicht mehr lesbaren Verszeile habe es sich wohl »um eine grobe lästerung der christen« gehandelt, »die ein späterer besitzer der hs. tilgte« (ebd.). Die Ausführungen Henricis gehen von der irrigen Annahme aus, dass alles von einem Schreiber stamme. In Wirklichkeit sind die zitierten Zeilen jedoch, wie Römheld bemerkt (Anm. 3, S. 54), von einer anderen Hand mit einer ganz abweichenden Schrift eingetragen worden. Römheld glaubt, diese Hand sei mit einer der an der Abschrift beteiligten Händen, nämlich H2, identisch. Ein Schriftvergleich ergibt allerdings, dass es sich bei dem Schreiber der angefügten Schlusszeilen mit Sicherheit nicht um H2 handelte, sondern um eine sonst in der Hs. nicht vorkommende Hand. Die Verwünschungen am Schluss des Textes stammen also von einem späteren Benutzer, der wohl Anstoß an den zahlreichen Fehlern und unverständlichen Stellen der Abschrift nahm. III. Die Reklamanten in hebräischen Schriftzeichen Die hebräischen Reklamanten der Hs. stellen das zentrale Argument für die These von einem jüdischen Schreiber dar. Die Entdeckung, dass die Lagen mit hebräischen Schriftzeichen gekennzeichnet sind, ist Emil Henrici zu verdanken, der sie folgendermaßen beschreibt: 30 Zitat aus: Brigitte Pfeil, Katalog der deutschen und niederländischen Handschriften des Mittelalters in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale) (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt 89/1), Halle (Saale), 2007, S. 74 und 513, Abb. 6 (Halle, Universitäts- und Landesbibl., cod. Ye 2° 63, Bl. 139ra). Weitere Belege: München, BSB , cgm 3967, Bl. 102vb: Explicit, expliciunt, / sprach dy kacz czu dem hunt, / dy fladen sein dir ungesunt; ebd., clm 5680, Bl. 281: Explicit, expliciunt, / sprach dy kacze wedir den hunt, / worste dy sint ungesunt; Göttingen, Staats- und Universitätsbibl., Ms. jurid. 214, Bl. 28v: Explicit, expliciunt, / sprach die katz zu dem hund, / biszt du mich, / so kratz ich dich; Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, cod. Bodmer 91, Bl. 381vb: Explicit, expliciunt, / sprach dy kacz czw dem hunt, / dye wüerst seind dir nicht gesunt. Vgl. Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, 3. Aufl. Leipzig 1896, S. 520; Rene´ Wetzel, Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, Cologny-Gene`ve 1994, S. 142 (mit weiterer Lit.).
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die lagen der hs. sind zum teil mit hebräischen characteren (quadratschrift) signiert und zwar so, dass stets das letzte blatt einer lage und das erste der folgenden dasselbe zeichen tragen. was diese zeichen bedeuten, kann ich nicht feststellen, ich glaube, sie sind willkürlich gewählt, denn zahlen oder ziffern stellen sie nicht dar. (Anm. 3, S. 126.)
Römheld gelang dann der Nachweis, dass die hebräischen Schriftzeichen keineswegs »willkürlich gewählt« sind, sondern hebräische Transkriptionen der mhd. Schlusswörter der Lagen darstellen, also als Reklamanten fungieren.31 Römheld bietet zwar eine ausführliche und erschöpfende Analyse der in hebräischen Buchstaben geschriebenen Reklamanten und gibt auch an, auf welche ‘Iwein’-Verse diese sich jeweils beziehen; unerwähnt lässt er jedoch, dass in der Hs. außer den hebräischen Reklamanten noch weitere Lagenkennzeichnungen vorkommen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, vermag eine nähere Betrachtung dieser Markierungen durchaus neue Erkenntnisse zu der zentralen Frage zu liefern, von wem die hebräischen Schriftzeichen in der Hs. stammen. Henrici behauptet, ohne dafür eine Begründung zu geben, dass Textschreiber und Schreiber der hebräischen Reklamanten ein und dieselbe Person gewesen seien, während Römheld auf dieses Problem überhaupt nicht eingeht. Die Hs. besitzt eine ursprünglich ganz regelmäßige Lagenstruktur, sie besteht aus 14 Sexternionen, von denen nur der erste und der letzte Unregelmäßigkeiten aufweisen, die durch Blattverluste, -vertauschungen und -einfügungen entstanden sind.32 Am Beginn jeder Lage (abgesehen von der ersten Lage, in der die beiden Anfangsblätter fehlen), jeweils etwa in der Mitte des oberen Rands der ersten Rectoseiten, findet sich eine Lagenzählung; bis zu Lage 4 sind bei der Zählung arabische Zahlen (2– 4) verwendet, danach römische (v-xiiii). Höchstwahrscheinlich wurde die Lagenzählung von dem Textschreiber H1 angebracht; dafür sprechen jedenfalls Tintenfarbe und Schriftform. Die Reklamanten in hebräischen Schriftzeichen erstrecken sich nicht über die ganze Hs., sondern reichen nur bis zum Übergang von Lage 9 zu 10 (Bl. 106v/107r). Wie Römheld im einzelnen dargelegt hat, handelt es sich bei den Reklamanten um hebräische Transkriptionen des Schlusses des letzten Verses der vorangehenden Lage.33 Sie erscheinen im gleichen Wortlaut sowohl am unteren rechten Rand des letzten Blatts dieser Lage als auch am oberen Rand des 31 Römheld [Anm. 3], S. 52, Anm. 2, mit Zitierung aller Reklamanten. 32 Die Lagenformel lautet: (VI -3+1)10 + 12VI 154 + (VI -3)163. In der ersten Lage fehlen die ersten beiden Blätter, von denen eines den Textbeginn des ‘Iwein’ enthielt, außerdem das vorletzte Blatt, für das im 18. Jh. ein Blatt mit Text nach einer anderen ‘Iwein’-Hs. ergänzt wurde (der Hs. f). In der letzten Lage sind die drei ersten Bll. (155–157) Einzelblätter, die Bll. 155 und 156 sind bei der Bindung vertauscht worden, so dass sich die letzte Lagenzahl xiiii auf dem jetzigen Bl. 156 befindet. Der ‘Iwein’-Text endet auf Bl. 159r, so dass die letzten Blätter – bis auf spätere Eintragungen auf Bl. 163v – leer geblieben sind. 33 In einem Fall (Übergang von Lage 7 zu 8, Bl. 82v/83r) wird der Schluss des ersten Verses der nachfolgenden Lage (morgin, v. 4260) als Reklamante genommen und nicht der Schluss des letzten Verses der vorangehenden Lage (sorgin, v. 4259).
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ersten Blatts der nachfolgenden Lage. Auffällig ist, dass hier die Reklamanten auf eine Art eingesetzt werden, die stark von dem normalen Usus, wie er sonst aus mittelalterlichen deutschen Hss. bekannt ist, abweicht: Ungewöhnlich ist sowohl der Gebrauch des l e t z t e n Worts einer Lage als Wortreklamante als auch – damit eng zusammenhängend – deren W i e d e r h o l u n g auf dem Anfangsblatt der nächsten Lage. Die normale Form der Reklamanten in abendländischen Hss. sieht so aus, dass nur der Textanfang der nächstfolgenden Lage unten rechts auf dem letzten Blatt der vorangehenden Lage eingetragen ist.34 Weder Henrici noch Römheld erwähnen, dass eine solche ›normale‹ Reklamante auch einmal in der Dresdner Hs. vorkommt: Sie steht am Ende von Lage 9 auf dem unteren rechten Rand von Bl. 106v, als einzige Reklamante in der ganzen Hs. ist sie in lateinischer Schrift geschrieben und gerahmt. Sie besteht aus den zwei Wörtern daz er, die den Anfang von v. 5420, mit dem die nächste Lage beginnt, vorwegnehmen. Von größtem Interesse ist nun, dass über dieser in lateinischer Schrift aufgezeichneten Reklamante deren hebräische Transkription erscheint, die dann – wie bei den anderen hebräischen Reklamanten – oben auf der nächsten Seite (Bl. 107r) wiederholt wird. Hier haben wir das einzige Beispiel vor uns, bei dem eine hebräische Reklamante den Wortlaut des Anfangs der folgenden Lage wiedergibt, und nicht wie sonst denjenigen des Endes der vorangehenden. Zweifellos war hier das Vorbild der in lateinischen Buchstaben geschriebenen Reklamante ausschlaggebend. Merkwürdig ist, dass nach dieser doppelten Reklamante (in lat. und hebräischen Buchstaben) in den letzten vier Lagen keine weiteren Reklamanten mehr vorkommen. Ein Grund dafür lässt sich nicht erkennen; recht unwahrscheinlich ist ein Verlust durch Beschneiden des Buchblocks, denn die erhaltenen Reklamanten sind alle recht weit vom Blatt- und nahe am Schriftrand plaziert, die hebräischen Reklamanten auf den oberen Rändern stehen alle auf Höhe der Lagenzählung, die nirgendwo abgeschnitten ist. Feststehen dürfte damit, dass die Eintragung der hebräischen Reklamanten zeitlich nach derjenigen der einzigen in lateinischen Buchstaben geschriebenen Reklamante erfolgte: Dort, wo keine lateinischen Reklamanten vorgegeben waren, folgte der jüdische Schreiber bei seinen Lagenmarkierungen einem ganz eigenen Schema, nur an der Stelle, an der er eine Reklamante in lateinischer Schrift vorfand, weicht er von diesem Schema ab und richtet sich nach deren Vorgabe. Die Stelle auf Bl. 106v unten, an der die Reklamante daz er sowohl in lateinischer als auch in hebräischer Schrift erscheint, ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob der Textschreiber H1 für die hebräischen Reklamanten verantwortlich ist. Zunächst einmal lässt sich aufgrund von Übereinstimmung in 34 Vgl. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, 2., überarbeitete Aufl. Tübingen 2009, S. 124 f.
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Tintenfarbe und Schriftduktus feststellen, dass die gerahmte Reklamante in lateinischen Schriftzeichen mit absoluter Sicherheit von diesem Schreiber stammt. Die darüberstehende hebräische Reklamante dagegen zeigt eine ganz andere Tintenfarbe und dürfte somit von anderer Hand stammen; dies stimmt auch zu der oben getroffenen Feststellung, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt eingetragen wurde. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Hand H1, die den allergrößten Teil des ‘Iwein’-Textes kopiert hat, auch für die Lagenzählung sowie für eine Wortreklamante auf Bl. 106v verantwortlich ist. Nichts spricht jedoch dafür, dass dieser Schreiber auch die hebräischen Reklamanten eingetragen haben könnte, was wiederum beweisen würde, dass er Jude gewesen wäre. Die hebräischen Reklamanten wurden erst nachträglich von einer anderen Hand geschrieben. Sie dürften wohl in einer jüdischen Buchbinderwerkstatt angebracht worden sein, als Hilfe für den Buchbinder zusätzlich zu der vom Textschreiber stammenden Lagenzählung. Peter Jörg Becker behauptet, dass die Hs. »hebräische Buchstaben zur Markierung der nachzutragenden Lombarden« enthalte (Anm. 2, S. 64). Wenn dies stimmen würde, wäre natürlich ein unumstößlicher Beweis für die Identifizierung des Textschreibers als Jude gegeben. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass Beckers Angabe gänzlich unzutreffend ist. Als Repräsentanten, mit denen am Rand die einzufüllenden Abschnittsinitialen vorgeschrieben wurden, fanden ausschließlich Kleinbuchstaben in lat. Schrift Verwendung. IV. Urkundliche Schriftstücke in der Handschrift Eine wichtige Rolle bei seiner Identifizierung des Schreibers sowie für seine Datierung der Hs. spielte für Henrici ein vorne in der Handschrift eingeklebtes Bruchstück einer deutschsprachigen Pergamenturkunde. Da das Urkundenfragment nach 1945 verloren ging, ist Henricis Beschreibung (Anm. 3, S. 125) die einzige Quelle35 zu dessen Inhalt: auf eins der vorgebundenen blätter [...] ist ein bruchstück von einer urkunde geklebt, welche deutlich die jahreszahl trägt ... Crysti geburt dryczehen hundert jar yn deme ...nczigisten jare an deme nesten . . . ostern. das fehlende ist durch das darüber gedrückte siegel zerstört. nach deme hat entweder czweinczigisten oder niunczigisten gestanden, ich glaube das letztere, und dann wäre 1390 das jahr der urkunde.
In dem Schriftstück geht es Henrici zufolge um eine »verfügung, dass vorbenante juden (die namen fehlen) die nicht eingelösten pfänder verkaufen dürfen«. 35 Römheld beschäftigt sich bei seinen Ausführungen zur Urkunde nur mit dem Vergleich ihrer Schrift mit der des ‘Iwein’ (s. u.). In der Akademiebeschreibung von Kurt Matthaei aus dem Jahr 1911 ist das Fragment nur ganz kurz erwähnt: »auf der Vorderseite des 4. Blattes aufgeklebt ein wurmstichiges Bruchstück einer deutschen Perg.-Urkunde des 14. Jhdts.« (http://dtm.bbaw.de/HSA/Dresden 700328070000.html [15. 03. 2011]).
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Henrici glaubt, Schreiber der Urkunde und Kopist des ‘Iwein’-Textes seien ein und dieselbe Person gewesen, und begründet dies damit, dass die Urkunde »dieselbe tinte und schrift« wie der ‘Iwein’ zeige und »auch der gebrauch gewisser Buchstaben [...] genau zu der schreibweise der hs.« stimme (ebd.). Da Henrici ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass dieser Schreiber auch die hebräischen Reklamanten geschrieben habe (s. o.), steht für ihn fest, dass er »ein bei irgend einem fürsten als hofkanzlist dienender jude« gewesen sei, »der auch in der angenehmen lage war den schutzbrief für seine landsleute selbst mundieren zu können« (ebd., S. 126). Bei seiner Untersuchung der Schreiberhände (s. o.) geht Römheld (Anm. 3, S. 51) auch auf den Schreiber des Urkundenfragments ein. Nach einem genauen Vergleich der Buchstabenformen gelangt er zu dem gesicherten Ergebnis, dass keiner der ‘Iwein’-Kopisten die Urkunde geschrieben haben kann. Wenn es auch keine Schreiberidentität gibt, so bestehen doch wohl Beziehungen zwischen der Urkunde und der ‘Iwein’-Abschrift. Die Urkunde ist nämlich in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe der ‘Iwein’-Abschrift entstanden: Ihre Datierung auf das Jahr 1390 stimmt auffällig genau zu der aus dem Wasserzeichenbefund abzuleitenden Entstehungszeit der Hs. Außerdem ist die Schreibsprache der Urkunde, ebenso wie die des ‘Iwein’-Textes, ostmitteldeutsch (Gebrauch von i statt e in Nebensilben, Wortform nesten). An welcher Stelle in der Hs. das Urkundenfragment sich ursprünglich befand, lässt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit ermitteln, da der mittelalterliche Einband verloren ist. Bis 1945 war das Fragment auf Bl. 4*r aufgeklebt. Dieses Blatt wiederum gehört zu einer Lage, die erst Mitte des 18. Jh.s von dem früheren Besitzer der Hs., Johann Ludwig Anton Rust, bei der Neubindung eingefügt wurde.36 Heute ist von dem Urkundenfragment nur noch ein Abklatsch auf Bl. 3*v erhalten, auf dem nur einzelne Wörter und Wortteile, aber keine zusammenhängenden Textstücke mehr lesbar sind.37 Erkennbar ist aber immerhin, welche Form und Größe das Urkundenfragment hatte. Die ursprüngliche Höhe der Urkunde (ca. 8,5 cm) war in dem Bruchstück, das um 90 Grad gedreht in die Hs. eingeklebt war, wohl erhalten; auf dem Abklatsch sind nämlich ein schmaler oberer Rand, 9 Zeilen Text und ein breiter unbeschriebener unterer 36 Wie Rust auf den eingefügten Blättern am Anfang der Hs. (Bl. 1*r –2*v) mitteilt, erwarb er den Codex 1750 in Dresden »von einem Bücherkrämer«. »Weil der Band sehr schlecht beschaffen war«, ließ er ihn »nachher wieder von neuem [. . .] einbinden.« Nach Matthaeis Akademiebeschreibung [Anm. 35] handelte es sich bei dem neuen Band um einen »Pappeinband mit braunem Lederbezug«. Um 1955 wurde der Einband unter Verwendung der Originalbezüge restauriert. Bei einer erneuten Restaurierung im Jahr 2007 erhielt die Hs. einen ganz neuen braunen Lederband (Reste des Vorgängerbandes von 1955 [Vorderdeckel, Rücken und Vorsatz] liegen der Hs. jetzt in einer separaten Mappe bei). 37 Lesbar ist am Schluss noch geb . . . dryc . . .der . . . . . .nczigisten . . . nesten . . .stern (s. o. Henricis Beschreibung), außerdem u. a. in Z. 2: bekennen jnden (?) vor (?) und in Z. 4: czu den juden.
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Rand mit Spuren eines Siegels zu erkennen. Die Breite des Fragments (ca. 19,5 cm) entsprach in etwa der Höhe der Handschriftenseite; wie es scheint, war es am linken und rechten Rand etwas beschnitten. Die Beschneidung auf Höhe des Buchblocks deutet auf eine ursprüngliche Funktion als Einbandspiegel. Dafür spricht auch ein auf dem Abklatsch noch deutlich zu erkennendes großes Wurmloch am oberen Rand der Urkunde. Als Indiz gegen eine Verwendung als Spiegel könnte allerdings der Umstand gelten, dass das Fragment nur etwa zwei Drittel der Breite des Buchdeckels abgedeckt hätte. Da aber kaum anzunehmen ist, dass die Urkunde ohne irgendeine Zweckbestimmung in die Hs. eingelegt und dazu auch noch auf die passende Größe beschnitten wurde, ist wohl davon auszugehen, dass es sich bei ihr um Buchbindermakulatur handelt; außer als Spiegel könnte sie auch als Einbandverstärkung oder Teil der Einbanddecke gedient haben. Allerdings wäre eine solche Übernahme von Buchbindermakulatur in einen neuen Einband eher ungewöhnlich. Falls das Fragment wirklich Bestandteil eines alten Einbands war, würde es aufgrund seines Inhalts, der Rechtsgeschäfte jüdischer Personen betrifft, neben den hebräischen Reklamanten einen weiteren Anhaltspunkt für die Entstehung des Einbands in einer jüdischen Buchbindewerkstatt bieten. Dieser muss nicht unbedingt der ursprüngliche um 1390 anzusetzende Band gewesen sein; denkbar ist auch, dass es sich bei der mit den hebräischen Reklamanten in Zusammenhang zu bringenden Bindung um eine spätere, sekundäre Bindung handelt und dass die Übereinstimmung von Datierung der Urkunde und Entstehungszeit der Hs. um 1390 somit dem Zufall zu verdanken wäre. Auf Bl. 163v, einer der am Ende der Hs. freigelassenen Seiten, findet sich ein Einnahmeverzeichnis aus dem Jahr 1433, das nach Henricis Meinung beweist, dass die Hs. in späterer Zeit »in den händen eines juden war« (Anm. 3, S. 126). Bei der folgenden Transkription des Verzeichnisses, dessen Schrift aufgrund von Wassereinwirkung stellenweise etwas verblasst und schwer lesbar ist, werden Groß- und Kleinschreibung sowie Zeilenumbruch der Eintragungen beibehalten; unsicher Lesbares ist mit Fragezeichen gekennzeichnet:38 Anno domini mo cccco tricesimo tercio Item ich han Ingenumen von hansen then wegin (?) Item von clasen beyer iiij gulden Item von hansen Symon von brent iij gulden vnd vi b an gelde39 Item von hansen salczung zcubrent iij gulden wert an gelde vnd xiii b Item ich han jngenumen von then (?) selber (?) iiij gulden wert b Item auch als balde xxi gulden wert an galde vnd an gelde jn die blasn (?) 38 Eine Transkription des Textes, allerdings ohne die drei letzten Zeilen, findet sich auch bei Becker [Anm. 2], S. 64. 39 Vor an gelde ein Wort getilgt.
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Henrici begründet seine Behauptung, das Verzeichnis stamme von einem Juden, mit den in ihm enthaltenen Namen: »die hier als zahler aufgeführten scheinen mir sämmtlich juden zu sein, einige sind es gewis. dass aber mehrere juden e´inem Deutschen zahlung geleistet hätten, ist ausgeschlossen« (ebd.). Einen Beweis, warum es sich bei Personen mit so wenig auffälligen Namen wie Clas Beyer, Hans Symon, Hans Salzung oder Hans Then um Juden handeln soll, bleibt er allerdings schuldig. Aus dem Verzeichnis lässt sich lediglich erschließen, dass sich die Hs. knapp ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung wohl im Besitz eines Kaufmanns befand.
V. Textgestalt des ‘Iwein’ in der Handschrift a Neben den kodikologischen Argumenten für eine jüdische Provenienz der Hs., die sich allesamt als wenig stichhaltig bzw. abwegig erwiesen haben, führen Henrici und Römheld noch einige Verse an, in denen spezifisch christliches Gedankengut getilgt worden sei und aus denen hervorgehe, dass der Redaktor des Textes ein Jude gewesen sein müsse. Am auffälligsten sind fünf Verse, an denen das jeweils im Reim stehende Wort Krist ersetzt wurde. In vier Fällen geht es um die Beteuerungsformel wizze Krist: Für ez schıˆnet wol, wizze Krist, / daz disiu rede naˆch ezzen ist (v. 815 f.)40 schreibt a: Er sprach ez schinet wol daz dis / Redde nach wyne ist (Bl. 14r); für ez schıˆnet wol, wizze Krist, / daz mıˆn vrouwe ein wıˆp ist (v. 3127 f.): Ez schynet wol an diser frist / Daz myn frauw eyn wyp ist (Bl. 58r); Flickreim an diser frist für wizze Krist ebenfalls v. 4786 (Bl. 94r) und v. 5485 (Bl. 108r). Die fünfte Ersetzung von Krist findet sich in v. 8062, der in der Edition lautet: ez wolde unser herre Krist, in a dagegen: Nu walt vnser herre got diz (Bl. 155v). Die viermalige Ersetzung des wizze Krist könnte sich dadurch erklären, dass diese der Bekräftigung einer Aussage dienende Formel (›weiß Gott, fürwahr‹) gegen Ende des 14. Jh.s schon stark veraltet und nicht mehr gebräuchlich war. Darauf deuten sowohl die Belege in den mhd. Wörterbüchern, die nur bis zum Ende des 13. Jh.s reichen,41 als auch die Tatsache, dass sich in den betreffenden Versen in anderen jüngeren ‘Iwein’-Hss. zahlreiche Varianten finden, die zeigen, dass deren Schreibern der Ausdruck wizze Krist nicht mehr geläufig war.42 Als weiteres Beispiel für Tilgungen christlicher Textelemente führt Henrici eine Stelle an, an der vom Heiligen Geist die Rede ist: 40 Den ‘Iwein’-Text zitiere ich im Folgenden nach der Ausgabe von Ludwig Wolff [Anm. 7]. 41 Vgl. Georg F. Benecke, Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1866 [BMZ ], Bd. I, Sp. 883a: Die jüngsten Belege stammen aus den Dichtungen Konrads von Würzburg. 42 Vgl. Ludwig Wolffs Lesartenapparat [Anm. 7] zu den Versen, bes. die Lesarten zu v. 3127: weister christ l, wise crist p, weise er ist d, wiß er ist z.
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Hs. a, Bl. 131r:
Morgen, doˆ ez tac wart unde er sıˆne eˆrste vart dem heiligen geiste mit einer messe leiste
Des morgins do ez tag wart Vnd er syne erste wort Dem heiligin gotte leiste Mit gebete vnd mit geheißte
Anlass für diese Änderung könnte der wenig gebräuchliche Ausdruck eine vart leisten 43 gewesen sein – ebenso gut wie die von Henrici angeführte Erwähnung des Heiligen Geistes oder die von Römheld (S. 55) vermutete Ablehnung der Messe durch den Schreiber als »christliche[r] Einrichtung«44. Zudem fügt sich die Ersetzung von vart durch wort recht gut zu den zahlreichen Fällen, in denen eine Verwechslung von v und w der Ausgangspunkt für Änderungen in a war.45 Schließlich verweist Henrici noch auf einen von a ausgelassenen Vers, in dem es um Heiligenverehrung geht. Der Vers steht am Ende einer Eidesformel: 7933–7936:
Hs. a, Bl. 154r:
ich bite mir got helfen soˆ daz ich iemer werde vroˆ, und dise guote heiligen [: verswigen]
Ich bit got myr helffin so Daz ich vmmer werde fro Vnd46
Ein Grund, warum der Schreiber an der Stelle eine Lücke gelassen hat, ist wohl zunächst in Verständnisproblemen zu suchen: Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen, dass dise guote heiligen zusammen mit got das Subjekt des Satzes bilden: ›So wahr mir Gott helfe ... und diese gnädigen Heiligen.‹47 Vielleicht nahm der Schreiber aber auch Anstoß an dem Reim einer Nebensilbe (in heiligen) auf eine Hauptsilbe (in verswigen).48 Diese wenigen Stellen, die Henrici zu der Feststellung veranlassen, »dem schreiber wollten weder Christus noch die heiligen aus der feder hervorkommen« (S. 125), ergänzt Römheld (S. 55) noch um einige weitere, an denen Ausdrücke, »die sich auf Christliches und Theologisches und Mythologisches beziehen«, geändert sind. Es handelt sich dabei durchgehend um Ersetzungen von Einzelwörtern: Ersatz von an sant Johannes naht (v. 901) durch an der sunnacht 43 BMZ [Anm. 41], Bd. III , Sp. 251a, belegt die Verbindung vart leisten nur für diese ‘Iwein’-Stelle. 44 In v. 4821 kommt das Wort messe ein zweites Mal vor; hier ist es in a nicht ersetzt. 45 759 wille Ed.] vil a; 1077 vuoren] warn; 1707 uˆzvart] musse wart; 1766 vüer] wer; 3742 von dem vurte] von der wart; 3902 veizt] wiz; 5230 vorhten] wortin; 6288 unerværet] nyt erwert; 6429 envant] enwont; 6496 wonte] vant; 7013 vıˆentlıˆche] wunneclich, 7090 vellen] willigin. – Die Änderung von vart zu wort könnte auch zusammenhängen mit der Unsicherheit beim Gebrauch von a- und o-Schreibungen im Ostmd., bes. im Thüringischen (s. o. Schreibsprachenbestimmung). 46 Rest der Zeile freigelassen. 47 Vgl. die Übersetzung in den zweisprachigen Ausgaben von Cramer [Anm. 29] und Mertens (Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. und übersetzt von Volker Mertens [Bibliothek des Mittelalters 6], Frankfurt a. M. 2004). 48 v. 4447 f. wird in a allerdings ein gleichartiger Reim (verswigen : sæligen) beibehalten.
Die ‘Iwein’-Handschrift a
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(Bl. 15v), marter (v. 1665) durch not (Bl. 29r), ein unsihtic geist (v. 1391) durch ein vnreyner geist (Bl. 24r), vil manigen segen (v. 6424) durch yrn segin (Bl. 127v) und diu gotinne Juˆnoˆ (v. 6444) durch dy gottine do (Bl. 128r).49 Römheld meint, diese »Abweichungen lassen sich ziemlich bestimmt dem jüdischen Schreiber zuweisen« (S. 56); seine Begründungen dafür bei den Einzelstellen sind jedoch alles andere als überzeugend: So vermutet er als Motiv für die Änderung v. 1391: »Die unreinen Geister entsprechen seiner jüdischen Anschauung mehr«; bei der Abweichung v. 6424 fühlt er sich an »die Sprache des alten Testamentes erinnert«; und zur Tilgung des Namens Juˆnoˆ v. 6444 bemerkt er gar: »Es ist für den Juden recht bezeichnend, dass er den vermeintlichen Lügenpropheten [Christus] und die heidnische Göttin auf eine Stufe stellt«. In ihrer Gesamtheit besitzen weder die von Römheld angeführten Einzelwortersetzungen noch die schon von Henrici aufgezählten, etwas auffälligeren Stellen besonders große Aussagekraft als Belege für einen jüdischen Textredaktor/Schreiber. Praktisch alle Stellen lassen sich auch auf andere Weise erklären als durch die Annahme, der Schreiber habe versucht, Christliches im Text zu beseitigen. Die Aussagekraft dieser Belege relativiert sich noch weiter, wenn man die Textgestalt der Hs. a insgesamt betrachtet: Die Hs. zeichnet sich durch eine außergewöhnlich große Zahl sowohl von Verderbnissen als auch von absichtlichen Änderungen aus.50 Beide Arten von Varianz sind wohl in den meisten Fällen dadurch zu erklären, dass ein Schreiber bestimmte Textstellen und Wörter nicht oder nur unvollkommen verstand bzw. missverstand, sei es dass seine Vorlage schwer lesbar war oder aber dass der Text ihm aufgrund seines Alters oder bestimmter stilistischer Eigenarten Schwierigkeiten bereitete. Bei der ganz überwiegenden Zahl der Abweichungen der Hs. a von dem ›Original‹ handelt es sich um Einzellesarten, die sich in der übrigen Überlieferung nicht finden.51 Trotzdem ist es denkbar, dass die Änderungen nicht alle von einem einzigen Redaktor/Schreiber stammen, sondern dass sie auf mehrere Überlieferungsstufen zurückgehen.52 49 Daneben verweist Römheld noch auf »die zweimalige absichtliche Unterdrückung der Schwurformel weizgot« in v. 338 und 887, die sich erkläre »aus der dem Juden eigenen ängstlichen Beobachtung des Gebots ›du sollst nicht schwören‹« (S. 55). Allerdings kommt die Formel weizgot noch in 7 weiteren Versen des ‘Iwein’ vor (v. 2062, 4647, 5918, 6582, 7419, 7464, 7832), in denen sie in a jeweils bewahrt ist. 50 Vgl. Römheld, S. 45–88. 51 Stemmatisch am engsten verwandt ist a wohl mit der westmd. Hs. p (Wolff [Anm. 7], S. 7 u. 10; vgl. z. B. Lesarten zu v. 4539). 52 Aus Streichungen und Korrekturen in der Hs. lässt sich ersehen, dass zumindest einige Textänderungen auf den Hauptschreiber H1 selbst zurückgehen (vgl. Römheld, S. 54 f.). Römheld schreibt diesem Kopisten, in dem er einen Juden sehen will, die meisten Verderbnisse, sinnwidrigen Lesarten und Auslassungen zu und begründet dies mit dessen »Unlust«, »Nachlässigkeit ... bei der Entzifferung der Vorlage« und »Teilnamslosigkeit« (S. 56–62). Darüber hinaus habe es zumindest einen früheren Bearbeiter gegeben, der für einige höfisierende Eingriffe verantwortlich sei (S. 62–68). Den weitaus größten Teil der Änderungen bezeichnet Römheld als »unbestimmten Ursprungs«, da sie keine Rückschlüsse auf die Eigenart des Bearbeiters zuließen (S. 68–88).
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Werner J. Hoffmann
Zu den Textverderbnissen zählen u. a. Auslassungen von Einzelwörtern, Verspaaren oder ganzen Versgruppen, Verlesungen von einzelnen Wörtern und Verballhornungen von Namen. An bewussten Änderungen finden sich vornehmlich Reimänderungen (Einfügung von Flickversen oder Ersetzung der Reimwörter), Zusätze des Titels her bei Personenbezeichnungen (z. B. v. 6700 myn herre her Yweyn) sowie Wortersatz. Die auffälligsten (und häufigsten) Eingriffe von a in die Textgestalt des ‘Iwein’ stellen die lexikalischen Änderungen dar. Wie aus Römhelds Liste der ersetzten Lexeme hervorgeht (S. 78–83), zielen diese Änderungen überwiegend auf eine Modernisierung des Wortschatzes ab.53 Betrachtet man die von Henrici und Römheld ins Feld geführten Beweisstellen für einen jüdischen Redaktor vor dem Hintergrund der sonstigen Änderungen in der Hs. a, so ist zweierlei zu bemerken: Zum einen lassen sich diese Stellen gut auch unter den für die Hs. a insgesamt charakteristischen Aspekten ›Beseitigung von veraltetem Sprachmaterial‹ und Reim-›Besserungen‹ fassen. Zum andern ist ihre Zahl im Verhältnis zu den übrigen Textänderungen in a verschwindend gering. Die Hs. bietet etwa in jedem zweiten bis dritten Vers kleinere oder größere Abweichungen vom ›Original‹,54 die Änderungen dürften in die Tausende gehen, so dass die wenigen Stellen, an denen angeblich christliches Gedankengut beseitigt ist, in keiner Weise ins Gewicht fallen.55 Ausgangspunkt für Henricis und Römhelds Argumentation war die Annahme, dass die hebräischen Reklamanten von dem Textschreiber stammten und dass dieser deshalb Jude gewesen sein müsse. Erst wenn man dies als gegeben ansieht, erhalten die angeführten Belegstellen überhaupt einiges Gewicht: Wenn man von einem Juden als Schreiber ausging, mussten sich unter der Unzahl von Textänderungen zwangsläufig auch einige finden, die man in Richtung eines Versuchs, Christliches zu eliminieren, interpretieren konnte. Nachdem nun aber – wie oben nachgewiesen – feststeht, dass der (Haupt-)Schreiber des ‘Iwein’ nicht für die hebräischen Reklamanten verantwortlich war, entfällt die Voraussetzung für eine solche Interpretation. Für sich genommen, besitzen die angeblich anti-christlichen Texteingriffe keinerlei Beweiskraft für einen jüdischen Schreiber oder Bearbeiter.56 53 Zu Wortersatz in der spätmittelalterlichen Überlieferung von mhd. Texten vgl. die von Christoph Gerhardt, Der ‘Willehalm’-Zyklus. Stationen der Überlieferung von Wolframs ›Original‹ bis zur Prosafassung (ZfdA Beiheft 12), Stuttgart 2010, S. 79 f., zusammengestellte Literatur. Die lexikalische Varianz in den ‘Iwein’-Hss. ist – leider aufgrund des (für die Hs. a) lückenhaften Lesartenapparats von Henricis Ausgabe – behandelt in Alice Vorkampff-Laue, Zum Leben und Vergehen einiger mittelhochdeutscher Wörter, Halle a.S. 1906, Tabellen I–XXVI . 54 Genauer verglichen habe ich a (Bl. 127v –135r) für die Verse 6407–6798. In diesem knapp 400 Verse umfassenden Bereich bietet a in ca. 150 Versen abweichende Lesarten. 55 Ablesbar ist dieses quantitative Verhältnis auch an der Untersuchung Römhelds, in der die Besprechung der angeblichen Belege für einen jüdischen Schreiber gerade einmal eine Seite (S. 55) einnimmt, die der übrigen Änderungen der Hs. dagegen über 40 Seiten (S. 45–88). 56 Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise danke ich Christoph Mackert (UB Leipzig) recht herzlich.
Nichterzählte Geschichten Zur Minnelyrik Hartmanns von Aue von Jens Haustein
Die Lyrik Hartmanns von Aue – ein überforschter Gegenstand? Das Œuvre von 17, vielleicht 18 Liedern1 ist jedenfalls vielfach Gegenstand philologischer, überlieferungshistorischer oder gattungstypologischer Untersuchungen gewesen.2 Auch die in älterer Forschung beliebte Zyklusbildung als Beitrag zur inneren und äußeren Biographie des Autors hat ihre Verfechter (wie Gegner) gefunden.3 1 Ich zitiere mit (römischer) Nummer des Liedes und (arabischer) Strophenzahl sowie Versangabe: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I: Texte. 38., erneut revidierte Auflage, Stuttgart 1988. Dankbar habe ich ferner benutzt: Hartmann von Aue: Lieder. Mhd./Nhd. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Ernst von Reusner (RUB 8082), Stuttgart 1985, dort im Kommentar jeweils detaillierte Hinweise auf die Echtheitsdiskussion, vor der ja kaum eines der Lieder gefeit war. 12 Lieder auch in: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn (Bibliothek des Mittelalters 3), Frankfurt 1995, S. 200– 231 (Text und Übersetzung), S. 711–747 (Kommentar). 2 Vgl. Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling. Untersuchungen, Leipzig 1939; im Anschluss daran die Hinweise von Reusners [Anm. 1] auf neuere Beiträge. Ferner den wichtigen Beitrag von Nikolaus Henkel, Wer verfaßte Hartmanns von Aue Lied XII ? Überlegungen zu Autorschaft und Werkbegriff in der höfischen Liebeslyrik, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 101–113; und Gisela Kornrumpf, Hartmann oder Walther? Aspekte von Zuschreibungsdivergenzen im Überlieferungskontext, in: Der achthundertjährige Pelzrock [Anm. 11], S. 251–271, bes. S. 260–271. Zu ›Echtheitsfragen‹ nehme ich keine Stellung, halte mich aber mit Blick auf meinen Ansatz bei der Diskussion in der Zuweisung unsicherer Lieder / Strophen an Hartmann zurück. 3 Ekkehard Blattmann, Die Lieder Hartmanns von Aue. Ein Zyklus, Diss. phil., Freiburg 1966. Dazu wie zu der von 1963 stammenden und auf C beruhenden Liederzyklus-These Richard Kienasts kritisch Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 21993, S. 95 f. Eine modifizierte Variante schon (und noch in der 5. Aufl. von 1972) bei Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, Stuttgart 21964: »Ihre [der Lieder Hartmanns, J. H.] Thematik erlaubt es nicht, aus ihnen einen biographischen Zyklus zu knüpfen, wohl aber zeichnet sich in ihnen eine Folge seelischer Entwicklung ab, die man auf vier Stufen sich entfalten sieht. Diese Stufen haben die Deutlichkeit etwa von Jahresringen, das heißt, sie heben sich voneinander ab wie sie ineinander übergehen« (S. 30). Aber auch jüngere Beiträge beschäftigen sich immer wieder, besonders bezogen auf die Kreuzlieder, mit der Frage einer biographischen Anbindung. Bekanntlich spielt dabei Lied XVII (2, v. 7) mit seinem ›Kommaproblem‹ (MF 218, 19) eine zentrale Rolle. – In welcher Weise auch heute noch Zyklus-Vorstellungen, aber bezogen auf die Corpus-
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Einen besonders intensiv erörterten, wenngleich stets methodisch prekär bleibenden Zusammenhang bildet die Nähe zahlreicher Motive und wörtlicher Wendungen zu den – mit wenigstens relativer Sicherheit – datierbaren Erzählwerken. Die Übereinstimmungen sind gelegentlich frappierend: Die Reflexion des Ich in Lied I über sich selbst: Wolte ich den hazzen, der mir leide tuot, / soˆ moht ich wol mıˆn selbes vıˆent sıˆn / [...] / michn sleht niht anders wan mıˆn selbes swert (2, v. 1 f. u. 5, v. 9) zeigt eine auffällige Nähe zu dem, was der Erzähler über Iwein berichtet: Er verloˆs sıˆn selbes hulde: [.. .] / in hete sıˆn selbes swert erslagen (v. 3221–24). Reusner spricht sogar von einer »Gruppe der um die [...] Thematik des ‘Iwein’ kreisenden Lieder (I, VII , VIII )«4 und vermutet, dass die dem Minnesang strukturfremden Motive in den Liedern Hartmanns als Substitutionsphänomene erklärbar seien: »[...] so daß sich auch hier [in Lied VIII , J. H.] dem Kenner des ‘Iwein’ die Meinung aufdrängt, Ha[rtmann] habe anstelle der gewöhnlichen, im Grunde sehr unspezifischen Rollen des Minnesangs die epischen Figuren Iwein und Laudine in sein Lied gesetzt, allerdings wohl kaum im Sinn einer Parodie – denn dann hätte er die ‘Iwein’-Kenntnis der Hörer voraussetzen und entsprechende Zeichen im Text bringen müssen – als vielmehr einfach als Materie, inhaltliche Ausfüllung des formalen Schemas der Minne, die ihn als solche vielleicht nicht mehr interessierte« (S. 123). Methodisch prekär wird diese Position dann, wenn sie unterstellt, (der späte) Hartmann habe sich »nicht mehr« für den Minnesang als eher ›formaler‹ Reflexion über triuwe und stæte interessiert. Förderlich dürfte sie hingegen für die relative Datierung der Lieder heranzuziehen sein. Denn die zahlreichen Versuche, Parallelen zu anderen Werken Hartmanns aufzuzeigen, verweisen doch immer wieder mit Nachdruck auf die Vorrangstellung des ‘Iwein’ in dieser Hinsicht. Dies zeigen die von Carl von Kraus und dann mit großer Sensibilität von Leslie Seiffert5 zusammengestellten Similien: Der ‘Erec’ spielt für die Motivik der Lyrik als Referenzwerk keine Rolle, allenfalls noch die ‘Klage’.6 Schon der Bezug, den Seiffert zwischen Lied XV und der Thematik des ‘Armen Heinrich’ aufbaut, dürfte auf dünnem Eis stehen (S. 7 f.). – Die voranstehenden Bemerkungen haben im Rahmen meiner Thematik die Funktion, zu unterstreichen, dass die Lieder Hartmanns wenn nicht ganz, so doch zu großen Teilen von einem Autor stammen, der im Erzählen erfahren war. Konzeption der Redaktoren, also als mediales Phänomen in der Schrift, fruchtbar gemacht werden können, zeigt jetzt Cordula Kropik, Strophenreihe und Liebesroman. Überlegungen zu zyklischen Tendenzen bei Meinloh von Sevelingen, in: PBB 131 (2009), S. 252–276; dort auch Überlegungen zu ›generischen Interferenzen‹: »Die Ich-Aussagen erzählen damit zwar keine Geschichte, doch sind sie Ausdruck einer solchen. Sie ergeben als Erfahrungen eines bestimmten Subjekts nur dann einen Sinn, wenn sie auf einen bestimmten Ereigniszusammenhang verweisen« (S. 257). 4 [Anm. 1], S. 132. Ferner ders., Hartmanns Lyrik, in: GRM NF 34 (1984), S. 8–28 mit zahlreichen Hinweisen auf ältere Literatur. 5 Leslie Seiffert, Hartmann von Aue and his Lyric Poetry, in: Oxford German Studies 3 (1968), S. 1–29. 6 Vgl. Seiffert [Anm. 5], S. 17 sowie die Anmerkungen von Reusners [Anm. 1].
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Denn dass Hartmann auch in seinen Liedern erzählt, ist immer wieder mit Blick auf einzelne Lieder bemerkt worden. Im Zentrum stand dabei stets das sujethaft angelegte, die Semantik des Minnesangs aufbrechende und narrativ – mit einem namentlich benannten ›Erzähler‹ Hartmann – entfaltete Lied XV (s. u.).7 Die ältere Literatur hat bekanntlich vor dem Hintergrund dieser Tendenz, aber v. a. des reflexiven Charakters der Lieder, der relativen Bildlosigkeit und der semantischen Abweichungen von der Tradition des Minnesangs (im Vergleich mit Hausen, Rugge u. a.) negative Urteile über Hartmanns Lyrik gefällt: »Hartmann von Aue ist kein Lyriker; die Empfindung quillt ihm nicht unmittelbar aus der Seele, und seine Darstellung ist zu glatt, zu kalt, zu hell, als dass sie die tieferen, leidenschaftlichen und verborgenen Regungen des Herzens erreichen könnte« – so Konrad Burdach.8 Mit dieser Einschätzung steht Burdach keineswegs allein. Im Anschluss an eine Zusammenstellung vergleichbarer Zitate (von Gervinus über Bech und Ehrismann bis zu Kienast) kommt noch Brackert zu der Einschätzung: »Man möchte diesen Urteilen spontan beipflichten und angesichts ihrer Übereinstimmung an der Möglichkeit und an der Berechtigung von Einwänden zweifeln«,9 relativiert diese Position dann aber mit dem Hinweis auf die methodisch und historisch unangemessene Orientierung solcher Urteile am Erlebnisbegriff. Am Ende der die Vorstellung der Forschung von Lied I (MF 205, 1) bis heute prägenden Studie10 kommt Brackert zu einem Urteil, dass im Grunde schon dem momentanen Stand der mediävistischen Gattungsreflexion vorgreift, wenn er seine Beobachtung, dass Hartmanns Lieder »in einem neuzeitlichen Sinne weniger lyrisch sind als die Morungens oder Walthers« (S. 183) mit der Frage verbindet, ob man dann nicht »dem Begriff ›Lyrik‹, wollte man ihn hier weiter verwenden, einen anderen Inhalt geben und zum entscheidenden Maßstab der Bewertung machen [müsste, JH ], wie kunstvoll der Reflexionsgang in die sprachliche Textur eingegangen ist und mit welcher Kraft und Intensität die im Phänomen ›Minnedienst‹ enthaltenen Spannungen dichterisch gefaßt sind« (ebd.).
* 7 Vgl. etwa L. Peter Johnson, Vom hohen zum späten Mittelalter. Teil 1: Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II /1), Tübingen 1999, S. 150: »Hartmann erzählt (MF 216,31 ff.) – tatsächlich erzählt dieses Lied –, wie Freunde zu seinem Leidwesen zu ihm sagen [. . .]. Er erklärt [. . .]. Die letzte Strophe blickt zurück [. . .]«. Zum Sujet-Begriff Armin Schulz, Sujet, in: 2RL 3 (2003), S. 544–546. 8 Konrad Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Zweite berichtigte Auflage [. . .], Halle / Saale 1928, S. 52. Burdach sieht Hartmanns Leistung daher auch v. a. in den Kreuzliedern (S. 53). 9 Helmut Brackert, Hartmann von Aue: Mich haˆt beswæret mıˆnes herren toˆt. Zu MF 205,1, in: Interpretationen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. von Günther Jungbluth, Bad Homburg / Berlin / Zürich 1969, S. 169–184; weitere negative Urteile S. 182. 10 Das betrifft nicht zuletzt die Frage der Strophenreihenfolge.
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An der hier geforderten Notwendigkeit, den Lyrik-Begriff wenn schon nicht zu verabschieden, so doch mindestens zu differenzieren, setzt die aktuelle mediävistische Gattungsdiskussion an. Ein besonderes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang Hartmut Bleumer zu, der mehrfach mit Nachdruck auf die ›generischen Interferenzen‹ zwischen Epik und Lyrik als Voraussetzung eines historisch adäquaten Verständnisses von Texten der Vormoderne hingewiesen hat.11 Auch wenn man nicht die Auffassung teilt, dass literarische Gattungen im Vorfeld der Institutionalisierung von Literatur »nicht taxonomisch zu denken, sondern als offene Felder zu konzipieren« (S. 1) sind, sondern im Gegenteil immer wieder über ein doch sensibles Bewusstsein für Gattungsgrenzen auf allen Ebenen von Produktion und Rezeption in einer Zeit ohne volkssprachige Gattungspoetik staunen möchte,12 fordern doch Formen des Sprechens gattungstheoretische Reflexion heraus, in denen sich »narrative Zeitaneignung durch die Erzählung und die zeitintensiven Präsenzeffekte lyrischer Formen« (S. 2) miteinander verbinden. Bleumer/Emmelius verweisen dabei im zweiten Abschnitt ihrer Einleitung13 mit Nachdruck auf die neugermanistische Gattungsdiskussion, die, obwohl sie es mit ›Texten im Zeitalter der Literatur‹ – die Kieningsche Wendung aufgegriffen14 – zu tun hat, gerade aus narratologischer Perspektive auf diese ›generischen Interferenzen‹ blickt. Maßstabsetzend und eine bestimmte Blickrichtung favorisierend sind in diesem Rahmen Arbeiten von Peter Kühn und Jörg Schönert mit dem speziellen Fokus auf ›Narrativität‹, 11 Vgl. etwa Hartmut Bleumer, Gottfrieds ‘Tristan’ und die generische Paradoxie, in: PBB 130 (2008), S. 22– 61; ders.: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. von Helmut Birkhan (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 721), Wien 2005, S. 83–102 und ders., Caroline Emmelius, Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik, in: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Hartmut Bleumer u. Caroline Emmelius (Trends in Medieval Philology 16), Berlin / New York (im Druck). Ich danke Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius sehr dafür, dass sie mir eine Kopie ihrer Einleitung vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt haben. Ich zitiere daraus i. F. mit den Seitenzahlen des Manuskripts. 12 Es liegt auf der Hand, dass diese Auffassung historisch und medial zu differenzieren ist, stets Übergangsformen und literarische Experimente zu bedenken hat und sich im Grunde nur auf die historische Rekonstruktion von Werkreihen gründen kann (vgl. Klaus Grubmüller, Gattungskonstitution im Mittelalter, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193–210; speziell S. 209 f.). 13 »2. Narratologie und Lyriktheorie« [Anm. 11]. 14 Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003.
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die sie durch ›Sequentalität‹, die zeitliche Vermittlung von Ereignissen, und ›Medialität‹, die Vermittlung, Präsentation und Interpretation aus einer bestimmten Perspektive, bestimmt sehen.15 Lyrische Texte im engeren Sinne »teilen potentiell mit Prosa-Erzählungen wie Romanen oder Novellen neben der fundamentalen Kategorie des Äußerungsaktes auch die speziellen narratologischen Kategorien der Sequentalität und der Möglichkeit zu einer komplexen Medialität«.16 Ich hebe hier diesen ›Zweig‹ der Interferenz-Diskussion hervor, weil er für meinen Untersuchungsgegenstand eine zentrale Bedeutung hat (s. u.). Formen der Interferenz haben freilich ein sehr viel komplexeres Spielfeld und ihre Analyse hat eine Geschichte vor der Narratologie.17 Stärker auf die Lyrik bezogen ist dann, allerdings durchaus im produktiv-kritischen Anschluss an ältere Modelle mit ihrer Vorstellung einer lyrischen Präsenz im Gegensatz zur Mimesis der Erzählung, Bleumers/Emmelius’ dritter Abschnitt über Performativität und Medialität. Er führt auf eine Diskussion des Fiktionalitätsstatus von Lyrik in der performativen Situation: »Im performativen Akt gewinnt der Text eine eigene sinnliche Realität durch die Stimme des Sängers. Diese sinnliche Realität lässt sich durch die textuellen Fiktionen nicht aufheben, sie macht dafür umgekehrt die Fiktionen zu ästhetischen Objekten. Auch eine ästhetische Erfahrung ist aber eine wirkliche Erfahrung, auch wenn sie auf sprachlichen Fiktionen beruht. Damit wird der Begriff der Fiktionalität für die Aufführungssituation des Minnesangs unangemessen« (S. 29). Und noch weiter pointierend: »Die mögliche Fiktionalität der lyrischen Texte ist eine schriftlich konzeptualisierte Vorstellung, ihr Begriff ist im Prozess der vokalen Medialisierung unzutreffend, denn Lyrik ist kein Text, sondern eine ästhetische Praxis. In der ästhetischen Erfahrung aber ist der Begriff der Fiktionalität aufgehoben« (ebd.).18 Auch wenn man mit Blick auf den Begriff der Fiktionalität so weit nicht gehen möchte – zumal sich so wieder Dichotomien zwischen Gattungen einschleichen, um deren Interferenzen es geht – und mit eher graduellen Modellen arbeitet,19 bleibt doch richtig, dass die Lyrik in der Aufführung nicht nur gegen die Fiktionalitätssignale des Textes, sondern auch gegen die Ritualisierung der Aufführung, 15 Peter Hühn und Jörg Schönert. Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse, in: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Jörg Schönert, Peter Hühn und Malte Stein (Narratologie 11), Berlin / New York 2007, S. 1–13, spez. S. 2; S. 14–18 weitere Literatur aus diesem Kontext: etwa die Beiträge von Bernhart (1993), Hühn (2002), Hühn (2005), Hühn / Schönert (2002), Wolf (2003 u. 2005). 16 Hühn / Schönert [Anm. 15], S. 2. 17 Dazu die Einleitung Bleumers / Emmelius’ in ›Lyrische Narrationen – narrative Lyrik‹ [Anm. 11] mit Hinweisen auf Staiger, Hamburger, Stanzel und Genette u. a. 18 Die Skepsis gegenüber dem Fiktionalitätsbegriff dann, wenn er auf Lyrik angewendet wird, auch in Bleumer 2005 [Anm. 11], S. 84, Anm. 3. 19 Jens Haustein, Minne und Wissen um 1200 und im 13. Jahrhundert, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von Alexander Löck und Jan Urbich (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature 24), S. 345–370, bes. S. 349–352.
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die einen Fiktionalitätskontrakt voraussetzt, um ihre Präsenzeffekte ringt – wie umgekehrt gelegentlich die Fiktionalität des Erzähltextes zurücktreten kann vor den Präsenzeffekten des Lyrischen. Das gilt etwa für Wolframs ‘Titurel’ wie für die ›lyrischen‹ Romane der Romantik. Das Phänomen lyrisch-narrativer Interferenzen ist nun bezogen weder auf die moderne noch auf die vormoderne Literatur neu. Es erscheint mir dabei nicht zentral, ob man mit Bleumer in solchen Übergangsphänomenen eine Bestätigung dafür sieht, dass eine vormoderne Gattungssystematik, so historisch differenziert und relativiert sie angelegt sein mag, stets anachronistisch bleibt, oder ob man in solchen Interferenzformen, egal ob in vor- oder in moderner Literatur, jene dichterische Freiheit am Werke sieht, die im Spiel mit den Gattungen deren Ordnung bestätigt. Wichtiger dürfte bei diesem durch die moderne Narratologie inspirierten Ansatz sein, dass er eine höhere Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten des Lyrischen wie des Narrativen und ihre Kontaktzone schafft. Dies führt auf eine Analyse generischer Formen ohne jene wertenden Implikationen der älteren Literatur. Man muss dem Begriff ›Lyrik‹ keinen anderen Inhalt geben (s. o.), sondern die Realisierungsmöglichkeiten, die er bietet, analytisch schärfer herausheben. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellen die Beiträge in Bleumers u. Emmelius’ Sammelband (wie einige ihm voraufgehende Beiträge) dar, in denen Interferenzphänome als zentrale Momente der Textkonstitution im Vordergrund stehen. Das gilt etwa – und ich ziele nicht auf Vollständigkeit – für Wolfram, der sich ausgerechnet die ›narrativste‹ Form der Lyrik, das Tagelied,20 ausgesucht und diese noch in ihrem narrativen Potential durch die Erweiterung des Personensets (Wächter) ausgebaut hat; und, wie schon häufiger analysiert, für seinen ‘Titurel’, der zwischen der histoire, die auf den ‘Parzival’ verweist, und der eigenen ›Sujetlosigkeit‹ changiert;21 das gilt auch für zahlreiche narrative Elemente in der Minnekanzone,22 für die Biographisierungstendenzen in den sogenannten Erzählliedern von Johannes Hadlaub bis zu Oswald 20 Zum Tagelied s. den Beitrag von Katharina Philipowski in ›Lyrische Narrationen – narrative Lyrik‹ [Anm. 11]. – Wenn man Reinmar und Morungen als ›lyrische‹ Lyriker versteht, dann ist es bezeichnend, dass beide die narrative Gattung Tagelied auf je für sie eigene Weise lyrisch abgewandelt haben: Der eine hat sie auf die handlungslose Leidreflexion, der andere auf die subjektive Erinnerungsleistung umgebogen. Wenn man so will, handelt es sich dabei um zwei Lyrikinterferenzen. 21 Dazu Manuel Braun in ›Lyrische Narrationen – narrative Lyrik‹ [Anm. 11], mit zahlreichen Literaturhinweisen. Ich danke Herrn Braun dafür, dass er mir sein Manuskript vorab zur Verfügung gestellt hat. – Wolfgang Achnitz (Wolfram als Minnesänger. Intertextualität und Autoreferentialität der Liebeslyrik um 1200, in: ZfdA 139 [2010], S. 277–298) geht anderen Fragen nach. 22 Manfred Eikelmann, wie sprach sie doˆ? War umbe redte ich doˆ niht meˆ? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone, in: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider, Heidelberg 1996, S. 19– 41.
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von Wolkenstein23, für die sogenannte (Dichter-)Ballade des 14. und 15. Jahrhunderts, für erzählende Texte, die – wie Ulrichs von Liechtenstein ‘Frauendienst’ – Gattungsinterferenzen explizit24 oder – wie der ‘Moriz von Crauˆn’ – implizit umspielen, indem dieser beispielsweise minnesängerische Problemlagen auserzählt25, oder für die (Frauen-)Mystik, die etwa mit Mechthilds Werk geradezu auf der Grenze zwischen Erzählung und Lyrik angesiedelt zu sein scheint.26
* Im Folgenden geht es mir darum, an einigen Beispielen zu zeigen, dass Hartmanns Lyrik nicht, wie die ältere Literatur konstatierte, ›unlyrisch‹ ist, sondern dass in ihr die narrativen Möglichkeiten des Lyrischen einen auffallend breiten Raum einnehmen. Ganz ohne Zweifel gibt es solche Tendenzen auch bei anderen Autoren, bei Friedrich von Hausen oder bei Walther von der Vogelweide und selbst bei einem so ›lyrischen‹ Lyriker wie Heinrich von Morungen, dessen ›fragmentierte Narration(en)‹ jüngst Volker Mertens herausgestellt hat.27 Es geht also nicht um absolute, sondern um relative Differenzen, die den Rahmen dessen, was wir sowohl bezogen auf vormoderne wie moderne Literatur als Lyrik bezeichnen, nicht etwa sprengen, sondern je neu austarieren. Hartmanns Lieder erzählen ›unfertige‹, ja abbreviierte Geschichten, die in Zeit- (1.) und Raumstrukturen (2.) 23 Etwa Volker Mertens, ›Biographisierung‹ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter [. . .], hg. von Ingrid Kasten u. a. (Beihefte der Francia 43), Sigmaringen 1998, S. 331–344; ders., Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 200– 210; Wolfgang Haubrichs, Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik, in: ebd., S. 129–147; Rüdiger Schnell, Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. von Ursula Peters (Germanistische Symposien – Berichtsbände, 23), Stuttgart / Weimar 2001, S. 96–149. 24 Dazu jetzt: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, hg. von Sandra Linden und Christopher Young, Berlin / New York 2010, darin v. a. den Beitrag von Hartmut Bleumer (»Der Frauendienst als narrative Form«, S. 358–397). 25 Z. B. Jens Haustein, Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-hist. Kl. 139, Heft 6), Stuttgart / Leipzig 2006, S. 9–12; Katharina Philipowski, Aporien von dienst und loˆn in lyrischen und narrativen Texten am Beispiel von Mauritius von Crauˆn und Heidin, in: GRM NF 59 (2009), S. 211–238. 26 Dazu Bleumer / Emmelius in der Einleitung zu ›Lyrische Narrationen – narrative Lyrik‹ [Anm. 11], S. 6 f. mit Anm. 15–17. 27 Volker Mertens, Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch u. a., Königstein / Taunus 2005, S. 34–55, spez. S. 38, und Haustein [Anm. 19], S. 356–358.
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eingespannt sind und in denen die lyrischen Figuren des Ich und der Dame über Zusammenhänge reflektieren, die im Roman den Erzähler interessieren (3.). Die Dominanz dieser drei Faktoren in der Lyrik Hartmanns hat ihren Grund darin, so meine These, dass diese Texte von einem Erzähler stammen. (1.) Schon über Lied I spannt sich ein Zeithorizont auf, der von der frühesten Jugend (3, v. 3 u. 9) des Ich nicht nur bis in die Gegenwart, sondern auch bis in die Zukunft, ins Alter (4, v. 5), reicht. Das Lied setzt also aus der Perspektive der Gegenwart Anfang und Ende des ›Helden‹ als Fixpunkte einer nichterzählten, aber zugrundeliegenden Geschichte voraus. Sequentialität erhält diese Zeitstruktur zudem dadurch, dass sie mit dem Motiv des Wandels verbunden wird: vil wandels haˆt mıˆn lıˆp unde ouch der muot (2, v. 3); groˆz was mıˆn wandel (4, v. 6). Nicht erzählt wird freilich, welcher Art dieser Wandel war, der zur Ablehnung durch die Dame führte und damit zum Verlust an Zeit: wan ich vil gar an ir versuˆmet haˆn / die zıˆt (1, v. 6 f.). Hineingeschoben oder angedeutet wird eine andere Geschichte – diejenige vom Tod des Herren (Str. 3), ohne dass deutlich würde, in welchem Verhältnis die beiden Geschichten zueinander stehen.28 Str. 5 fasst abschließend die Minnereflexion, zu der das Lied in der von Brackert vorgeschlagenen Strophenreihung zurückfindet, »in einem beinahe erzählenden Ablauf zusammen«.29 – Schon von Reusner hat gesehen, dass sich durch Lied III das Motiv der Zeit wie »ein roter Faden zieht«30: 1: iemer ... nuˆ .. .eˆ der tage ...sıˆner jaˆre ...dise zıˆt ...; 2: was ...nuˆ; 3: ie ... manic jar ...; 4: manic jaˆr . ..; 5: diu jaˆr . .. sıˆn ende; 6: daˆ her ... sıˆner jaˆre vil ...niemer. In diese Geschichte vom Versuch, sich zur stæte zu überzeugen, ist eine nicht auserzählte Geschichte vom Wankelmut hinein angedeutet: nu wolte ich ungetriuwe sıˆn (2, v. 2). Sequentalität kommt bei diesem Lied übrigens auch darin zum Ausdruck, dass es in einem bestimmbaren Zeitverhältnis zu einem anderen Lied steht: Der Vers Ich sprach, ich wolte ir iemer leben (III , 1, v. 1) setzt Lied III in ein Verhältnis von jetzt und früher zu Lied II : daˆ habe ich mich vil gar ergeben / und wil dar iemer leben (1, v. 9 f.). – In Lied VII , 1 wird ein zukünftiges Glück angekündigt (schiere kumet, daz dir vrumet, v. 6 f.), Str. 2 ›erzählt‹ andeutend eine kleine Geschichte von Untreue, die in Str. 3, merkwürdig genug, als Voraussetzung des in Str. 1 angekündigten Glücks verstanden wird. Ein ›Kleinstroman‹! – Auf textinterner Ebene geschieht Vergleichbares, wenngleich mit unterschiedlicher Perspektive auf das Geschlechterverhältnis, in Lied XV , das in der Gegenwart des Erzählers Hartmann beginnt, in Str. 2 in die Zukunft blickt (mit der offenen Frage des Gelingens) und in der dritten Strophe eine kleine Geschichte aus der Vergangenheit berichtet, um zum Ende hin alle drei Zeitebenen miteinander zu verquicken: die Schlussfolgerung aus dem vergangenen Geschehenen (des wil ich ... v. 6), die Gegenwart mit Blick auf die performative 28 Dazu auch der Forschungskommentar von Kasten [Anm. 1], S. 714 f. 29 Cormeau / Störmer [Anm. 3], S. 84. 30 Von Reusner [Anm. 1], S. 104 f.
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Situation (des sıˆ iu bejehen, v. 6) und die Zukunft, mit der Absicht von nun an andere wıˆp (v. 7) aufzusuchen.31 – Egal, ob XVI nun eine Toten- oder Trennungsklage32 ist – vieles spricht für ersteres –, Zeit dominiert auch dieses Lied im Bezugsetzen von früherem Glück, jetzigem Schmerz und der Aussicht auf eine traurige Zukunft. Auf der Schwelle von früher, jetzt und immer steht die nicht erzählte Geschichte vom Tod oder Abschied des Geliebten, die der Forschung soviel Kopfschmerzen macht. (2.) Erzähltes in der Zeit ereignet sich im Raum.33 Gerade die Lieder mit geschichteter Zeitstruktur arbeiten auch mit einer – oft nur angedeuteten – Raumstruktur. Das gilt für Lied IV , in dessen Verlauf Str. 1 zeitliche und Str. 2 räumliche Relationen ( joch mohte ich eteswar/entwıˆchen 2, v. 6 f.) stiftet,34 sowie v. a. für Lied VIII , in dem das Moment der Ferne explizit mit Gegenwart und Zukunft verbunden und auf mögliche Geschichten einer drohenden unstæte bezogen wird: soˆ ist unser sumelıˆcher beiten alze lanc, Daz ein wıˆp ir stæte an uns erzeigen mac. gedenke ein vrowe, daz unstæte sıˆ ein slac. gewinne ich naˆch der langen vrömede schœnen gruoz, wie seˆre ich mit dienste daz iemer meˆ besorgen muoz. (VIII , 2, v. 4–8)
Auch für das problematisch überlieferte und deshalb hier zurückstehende Lied XII gilt dies,35 wenn Str. 1 das Motiv der Ferne mit dem Dienst verbindet, der diesen sumer stattfinden soll. Die Strophen sind bekanntlich in der Überlieferung (A/C – E) divergent zugewiesen und deshalb ist die Frage, ob sie von Hartmann oder Walther stammen, strittig. Jedenfalls erzählt Str. 3 (anders als die eher begrifflich orientierte Str. 5 und auch anders als die ›Leidensstrophe‹ 4) ganz in der Anlage der anderen Hartmann-Lieder eine Geschichte vom wandel (zehant bestuont si ein ander muot, v. 4), die in eine Zeit- (eˆrste rede ...ie ... zehant .. . nien . .. iemer ... ) und Raumstruktur (naˆhen ... in mac von ir niht komen) eingebunden ist.36 – Und auch das zwischen hie und dort, zwischen vart 31 Zum Lied allgemeiner Leslie Seiffert, Hartmann and Walther: Two Styles of Individualism. Reflections on armiu wıˆp and rıˆterlıˆche vrouwen, in: Oxford German Studies 13 (1982), S. 86–103. 32 Dazu Kasten [Anm. 1], S. 740 f. und so knapp wie treffend Olive Sayce, The Medieval German Lyric 1150–1300. The Development of its Themes and Forms in their European Context, Oxford 1982, S. 159 f., die allerdings ausgehend von der Nähe von Lied XVI zur Reinmarschen ‘Witwenklage’ beide Autoren dicht zusammenrückt. 33 Dazu in weiterem Kontext Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin / New York 2007. 34 Vgl. auch von Reusner [Anm. 1], der davon spricht, dass in 1, v. 10 »Zeit zugleich als Inhalt und als sprachliche Geste realisiert ist« (S. 107), man könnte mithin sagen, hier fallen narrative und lyrische Zeit zusammen. 35 Vgl. dazu die Beiträge von Henkel und Kornrumpf [Anm. 2]. 36 Diese Beobachtung über Str. 3 aus der Perspektive meines Beitrags korrespondiert mit der Namenszuweisung innerhalb der Überlieferung von A/C bzw. E; vgl. Kornrumpf [Anm. 2]: »So läßt sich aus den Beobachtungen zum Überlieferungskontext keine
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und heime situierte, einstrophige Lied VI deutet vor dem Hintergrund der anderen Lieder eine möglichweise drohende Geschichte an, die von wandel und untriuwe erzählt. (3.) Die immer schon beobachtete und vielfach kritisierte Neigung des Ich in Hartmanns Liedern, Momente lyrischer Präsenz mit Reflexionen über unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zu verbinden, korrespondiert aus der Perspektive ›generischer Interferenzen‹ nicht nur erzählerischem Kommentieren, sondern eröffnet auch der Phantasie einen Raum auf Handlungsmöglichkeiten, die außerhalb des Liedes angesiedelt sind. Sie führen also ins Erzählerische. Lied I erzählt die Geschichte vom wandel, ohne uns über die Hintergründe aufzuklären. – Lied IX 37 erledigt in einem Vers (1, v. 4) eine kleine Verführungsgeschichte durch list, deutet in Str. 2 die Macht des Wortes in Liebesdingen an und isoliert in Str. 3 die räsonierende Dame dadurch, dass sie den Blick auf andere Handlungsoptionen frei gibt: Diu [die andere Dame, JH ] haˆt sich durch ir schœnen sin / gesellet sæleclıˆche (3, v. 5 f.). – Lied XIV erzählt die Geschichte einer Reflexion über eine dilemmatische Situation, in der unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten andeutend erörtert werden. Freilich geht es gerade nicht um ein Dilemma, das auf den Minnesang und seine Wertwelt hin zugespitzt ist, sondern um das Problem, wie das Ich durch list die Normen der Gesellschaft unterlaufen kann. Die Eingangsstrophe setzt in der Vorstellung davon, dass ein lustiger, kurzer Winter kommen wird (Sus wil ouch ich den winter lanc /mir kürzen, 1, v. 5 f.), das Ergebnis des Reflexionsprozesses bereits voraus. Die Dame wird die rigiden Normen ihrer vriunde unterlaufen, indem sie ihnen zu gehorchen scheint, tatsächlich aber ein Liebesverhältnis beginnen will. Die Voraussetzung dafür ist, und das erörtert das Lied, die Diskretion des Mannes und die Klugheit der Frau, mit der die Dame genau der Zwickmühle entkommen wird, mit der auch Enite und Iwein bedenkend umgehen lernen müssen, dem geteilten spil (‘Erec’ v. 3153–55; ‘Iwein’ v. 4872 f.).38 – Umgekehrt vertraut sich in Lied XIII das männliche Ich einer Frau an, dessen wıˆplichen sin (1, v. 3) es als Voraussetzung dafür akzeptiert, dass dem herze auch dann kein Leid zugefügt wird, wenn der lıˆp in der Ferne ist. Diese erzählte Reflexion mündet unversehens in eine kleine Genreszene von Abschied und Erhörtwerden ein, in der im Entscheidung für Hartmann gegen Walther oder für Walther gegen Hartmann begründen, auch nicht für eine Beteiligung oder ein Zusammenwirken beider oder für die Mitwirkung von Anonymi. Konstatiert werden kann nur: Der eine Name, Hartmann, wird für drei Strophen von dem Überlieferungsstrang weitergetragen, dessen Ausgangsbasis, *AC , sich als gemeinsame Vorstufe der Liederhandschriften A und C umrißhaft abzeichnet. Der andere Name ist mit einem fünfstrophigen Ensemble verbunden, von dem zumindest vier Strophen vermutungsweise bereits in das Walther-Corpus *EU integriert waren« (S. 271). 37 Zur Frage der Echtheit, die ja seit von Kraus gelegentlich und wohl auf Grund der Parallelen zur ‘Klage’ zu Unrecht bestritten wurde, s. Kasten [Anm. 1], S. 730 f. 38 Zum möglichen Hintergrund des dilemmatischen Streitgedichts s. Kasten [Anm. 1], S. 735.
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Grunde alle narrativen Elemente, die dem Lyriker zur Verfügung stehen, zusammengeführt werden: Erinnert wird aus der Ferne (2.) ein narrativ angedeutetes (»als ich von ihr schied ...«), aber nicht auserzähltes Erlebnis (3.), das zeitlich zurückliegt (1.).
* Wenn Helmut Brackert als Charakteristikum Hartmannscher Lieder festhält, dass »die im Phänomen ›Minnedienst› enthaltenen Spannungen dichterisch gefaßt sind« (s. o.), würde ich eher so formulieren: Die bis zu Hartmanns Zeit hin entwickelten minnesängerischen Konstellationen werden bei ihm gerade nicht im Hinblick auf ihren ästhetischen Effekt vertieft, sondern narrativ angereichert. Das ist der Grund dafür, warum Hartmanns Lieder in der älteren Literatur als ›kühl‹ galten. Seine Lieder haben selbst im performativen Akt einen erzählerischen Überschuss, der – und ist das ist nicht ihr Manko, sondern macht ihren Reiz aus – die »performative Rollenästhetik«39, die ihnen ja auch eigen ist, stets wieder auf die Fiktionalität des Erzählens in Raum und Zeit hin öffnet – nicht nur auf der Ebene des schriftlich fixierten und so rezipierten Textes, sondern auch im Moment ihrer performativen Realisierung. Sie sind damit ein Musterfall für generische Interferenzen.
39 Bleumer / Emmelius in der Einleitung zu ›Lyrische Narrationen – narrative Lyrik‹ [Anm. 11], S. 30.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede als Mittel der Charakterisierung in der Soltane-Episode im III . Buch des ‘Parzival’ von David Yeandle
In diesem Beitrag gilt es, die Verwendung von Redebericht, direkter und indirekter Rede samt der dazugehörigen Redeeinleitung als Mittel der Charakterisierung in der Soltane-Episode im III . Buch des ‘Parzival’ zu untersuchen.1 Da Redeverse im ‘Parzival’ häufig vorkommen,2 musste für den Aufsatz ein stellvertretender Abschnitt gewählt werden. Die Soltane-Episode wurde gewählt, weil die Charakterisierung Herzeloydes und die Erziehung ihres Sohns einen strittigen Punkt in der ‘Parzival’-Forschung darstellen. Die Handlungen der Charaktere sollen mit ihren Aussagen und dem Erzählerkommentar verglichen und eingehend geprüft werden.3 Eine Analyse des Texts im Hinblick auf die Reden gewährt einen besonderen Einblick sowohl in die Charakterisierung Herzeloydes, deren Handlungen im III . Buch oft im negativen Licht erscheinen, als auch in das Verhalten und somit die Charakterisierung des jungen Parzival. Mittelalterliche Autoren beziehen sich oft auf die Wahrhaftigkeit ihrer Geschichten durch Hinweise auf ihre Quellen (vgl. z. B. Parz. 123,14 f.). Analog dazu, wenn sie die Aussage eines Charakters wörtlich wiedergeben, sollte man davon ausgehen können, dass im Rahmen der Erzählfiktion dies ein zuverlässiges Zitat ist, das an und für sich die ›genauen Worte‹ des Charakters wörtlich 1 In meinen früheren Arbeiten zum III . Buch des ‘Parzival’ habe ich öfters auf die Bedeutung für die Charakterisierung vor allem der direkten Rede hingewiesen. Dieser Aufsatz soll ein Versuch sein, einen Passus besonders im Hinblick darauf durchgehend zu analysieren. Vgl. David Nicholas Yeandle, Herzeloyde: Problems of Characterization in Book III of Wolfram’s ‘Parzival’, in: Euphorion 75 (1981), S. 1–28 und David Nicholas Yeandle, Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s PARZIVAL (116,5–138,8), Heidelberg 1984, beide passim. Das Thema ist von einem teilweise anderen Standpunkt aus für den ganzen ‘Parzival’ in weniger detaillierter Form in Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), Bern u. a. 2002 (auch Diss. phil. Zürich 2000) behandelt worden. 2 Eine frühe Arbeit zu diesem Thema innerhalb des Korpus der mittelalterlichen germanischen Literatur bietet Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach (Palaestra 74), Berlin 1909. 3 Für Literatur zur Figur und Charakterisierung Herzeloydes siehe David Nicholas Yeandle, Stellenbibliographie zum ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach für die Jahrgänge 1753–2004, bearbeitet von Carol Magner unter Mitarbeit von Michael Beddow, John Bradley, David Powell, Harold Short und Roy Wisbey, http://wolfram.lexcoll.com, Thematisches Register, s. v. Herzeloyde.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede
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wiedergibt. Urscheler, in Anlehnung an Leech/Short, spricht von einem »linguistic thumbprint«, der durch die direkte Rede entsteht und danach bestehen bleibt.4 Insofern sollten die Worte eines Charakters dem Kriterium der Plausibilität entsprechen, d. h. zum Beispiel, dass ein Kind anders sprechen sollte als ein Erwachsener, ein Leibeigener oder Bauer anders als ein Ritter oder König, ein Mann anders als eine Frau. Dies geschieht bei Wolfram aber nur in begrenztem Maße.5 Jedoch bleibt das Kriterium des genauen wörtlichen Zitats auch unter diesen Umständen gültig: ein Zitat ist, wenn auch nicht immer plausibel, doch vom Inhalt her immer wörtlich aufzufassen. In der direkten Rede mögen die Figuren gelegentlich wie der Erzähler sprechen, aber das, was sie sagen, gilt noch als getreue Wiedergabe ihrer Rede. So bleibt kein Platz für eine ›entstellte‹ Perspektive offen. Bei der Wiedergabe von direkter Rede hat der Erzähler nur einen gewissen Spielraum in der Kürze oder Länge des jeweiligen Zitats, bzw. in dem vom ihm selektierten Ausschnitt aus der Rede. Bei indirekter Rede dagegen können die Worte des Charakters aus der Perspektive des Erzählers bzw. des Autors vermittelt werden. In beiden Fällen kann der Autor/Erzähler einen Kommentar zur Rede hinzufügen, der die Rede eventuell in einem anderen Licht darstellt. Humoristische Kommentare kommen in diesem Kontext bei Wolfram nicht selten vor. Idealisierende Kommentare werden ebenso einem Charakter eingeräumt, besonders wo es sich um eine Zusammenfassung oder Gesamteinschätzung des Charakters handelt. Wir wenden uns nun dem zu analysierenden Abschnitt zu (116,5–129,4). Er enthält 390 Verse.
* Das erste Beispiel der Rede im III . Buch des ‘Parzival’ kommt in einer sentenziellen Aussage des Erzählers vor, eingeleitet durch genuoge sprechent:6 116,15 genuoge sprechent, armuot, / daz diu sıˆ ze nihte guot. Auf diese Weise vermag er sich von dem Spruch zu distanzieren: er gibt die Aussage in indirekter Rede mittels des Konjunktivs wieder. In den darauffolgenden Versen kann er dann Aspekte der Aussage verneinen: 116,17
swer die durch triwe lıˆdet, hellefiwer die seˆle mıˆdet. die dolte ein wıˆp durch triuwe: des wart ir gaˆbe niuwe ze himel mit endeloˆser gebe.
4 Urscheler [Anm. 1], S. 30 f. 5 Vgl. Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 208; Urscheler [Anm. 1], S. 33, 186. 6 Der Text des ‘Parzival’ wird nach der Ausgabe von Karl Lachmann zitiert: Karl Lachmann, Wolfram von Eschenbach. 5. Auflage besorgt von Karl Weinhold mit Unterstützung von Gotthold Bötticher, Berlin 1891.
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Danach kann er seine Vermutung, die wir hier als indirekte Rede auffassen, nahelegen, dass nur wenige Leute (›fast gar keine‹) nun lebten, die in jungen Jahren auf irdischen Reichtum für den himmlischen Lohn verzichten würden: 116,22 ich wæne ir nu vil weˆnic lebe, / die junc der erden rıˆhtuom / liezen durch des himeles ruom. Diese Erörterungen des Erzählers lassen sich in den Kontext der Erzählverse gut integrieren. Der Erzähler gibt dadurch seine persönliche Meinung bekannt und lobt im Voraus die Handlungen von frou Herzeloyd diu rıˆche (116,28). Die Hinweise auf Herzeloydes Frömmigkeit und Selbstverleugnung führen dazu, dass die Rezipienten vorbestimmt sind, sie wie eine Art Heiligenfigur zu betrachten, bevor sie Soltane erreicht.7 Indirekte Rede bereitet die Handlung vor, sowohl hier durch den Erzähler als auch am Ende seiner Erzählung von dem Umzug nach Soltane: 117,7
Sich zoˆch diu frouwe jaˆmers balt uˆz ir lande in einen walt, zer waste in Soltaˆne; niht durch bluomen uˆf die plaˆne. ir herzen jaˆmer was soˆ ganz, sine keˆrte sich an keinen kranz, er wære roˆt oder val. si braˆhte dar durch flühtesal des werden Gahmuretes kint. liute, die bıˆ ir daˆ sint, müezen buˆwn und riuten. si kunde wol getriuten ir sun. eˆ daz sich der versan, ir volc si gar für sich gewan: ez wære man oder wıˆp, den geboˆt si allen an den lıˆp, daz se immer ritters wurden luˆt.
Bevor Herzeloyde ihr Gebot erlassen kann, muss sie ihre Leute zusammenrufen (lassen). Diesen Vers könnte man eventuell als Redebericht auffassen (117,20).8 Die Einleitung des Erzählers (117,7 ff.) zeigt sowohl die verwirrte Psyche Herzeloydes9 als auch die Strenge ihres Temperaments: nicht nur ›entführt‹ sie das Kind des noblen Gahmuret, sondern sie befiehlt, wie es scheint, den ihr unterstellten Bauern, dass sie schwere körperliche Arbeit für sie ausführen.10 Zwischendurch wird die ›liebevollere‹ Seite ihres Charakters gezeigt, indem der Erzähler uns erklärt, wie sie es versteht, ihren Sohn zu liebkosen. Die Hinterlistigkeit ihrer Handlungen wird sowohl durch flühtesal als auch durch eˆ daz 7 Vgl. Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 8. 8 Zum Redebericht siehe Urscheler [Anm. 1], S. 22. Stellen, die nicht eindeutig als Redebericht aufzufassen sind, so wie hier und 117,7, werden für spätere statistische Zwecke nicht mitgezählt. 9 Vgl. Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 8 f. 10 Man könnte müezen buˆwn und riuten eventuell als Redebericht auffassen.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede
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sich der versan angedeutet. Schon hier bei der ersten Vorstellung Herzeloydes in der waste in Soltaˆne sieht man die Widersprüchlichkeit ihrer Charakterzüge. Bei der darauffolgenden direkten Rede wird das noch unterstrichen. Zwar gilt ihre erste ›Aussage‹ weder als indirekte noch direkte Rede im engen Sinn, aber sie lässt alle ihre Leute vor ihr versammeln, ein Ereignis, das nur durch das einfache Verb gewan berichtet wird. Als zweites erlässt sie ein zu befolgendes Gebot, dessen Wichtigkeit und Strenge durch die Totalität (man oder wıˆp) der betroffenen Menschen, die Radikalität der ›Todesstrafe‹ im Falle eines Verstoßes und die Permanenz der Gültigkeit (immer) unterstrichen werden. Das Wort ›Ritter‹ solle nie erwähnt werden, so beginnt die berichtete Rede. Nun aber schaltet der Dichter ohne Vorankündigung in direkte Rede um,11 wobei die emotionale Belastung Herzeloydes deutlicher zum Vorschein kommt und Mitleid gewissermaßen durch die Worte daz wurde mir vil swære bei den Rezipienten erweckt wird. Die Strenge des Gebots scheint in diesen abschließenden Worten etwas nachgelassen zu haben. Herzeloyde wirkt weniger als Tyrann denn als besorgte Mutter und gestrenge Herrin: 117,24
›wan friesche daz mıˆns herzen truˆt, welch ritters leben wære, daz wurde mir vil swære. nu habt iuch an der witze kraft, und helt in alle rıˆterschaft.‹
Der Dichter versteht es, durch einen humorvollen Erzählerkommentar die Spannung und den Ernst der Situation aufzulockern: 117,29 der site fuor angestlıˆche vart. Im Darauffolgenden entfaltet sich die humorvolle Geschichte des jungen Parzival, der kleine Bögen und Pfeile schnitzt, mit denen er Vögel erschießt.12 Der Ton wird trotz der Tränen des sensiblen jungen Jägers leichter, bis Parzival weinend zur Mutter läuft und sie ihn in direkter Rede fragt, wer ihm etwas angetan habe: 118,18 al weinde er lief zer künegıˆn. / soˆ sprach si ›wer haˆt dir getaˆn? / du wære hin uˆz uˆf den plaˆn.‹ Obwohl die Annahme, dass jemand ihm etwas angetan hat – sie befürchtet vielleicht sogar, dass er der ritterlichen Welt schon begegnet ist –, falsch ist, vermutet Herzeloyde richtig, dass ihr Sohn auf der Wiese gewesen ist. Die knappe direkte Frage (118,19) zeigt Herzeloydes Besorgnis um ihr Kind. Aber die lakonische, prägnante direkte Rede (118,19 f.), eingeleitet durch ein einfaches sprach,13 scheint eine beklemmende Wirkung auf Parzival zu haben, dessen Schweigen der Erzähler nun im Redebericht wiedergibt:14 11 Vgl. dazu Werner Schröder, Übergänge aus oratio obliqua in oratio recta bei Wolfram von Eschenbach, in: Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, hg. von Dietrich Schmidtke und Helga Schüppert (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Sonderheft 95), Tübingen 1973, S. 70–92; auch in: Werner Schröder, Kleinere Schriften 1956–1987. Bd. 1: Wolfram von Eschenbach I. Spuren und Werke, Stuttgart 1989, S. 99–121. 12 Vgl. Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 12–18. 13 Vgl. dazu Urscheler [Anm. 1], S. 51 f.
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118,21 ern kunde es ir gesagen niht, / als kinden lıˆhte noch geschiht. Parzivals befangenes Verstummen lässt Herzeloyde über längere Zeit nach der Ursache seiner Traurigkeit suchen, bis sie eines tages feststellt, dass es die Vögel sind, die ihn beunruhigen.15 Es handelt sich hier um die Reaktion des ›kleinen Gahmuret‹, dessen Brust sich ausdehnt, wenn er den Gesang der Vögel hört;16 etwaige Trauer für die toten Vögel spielt hier keine Rolle. Herzeloydes Reaktion bezieht sich auf die Verknüpfung mit ritterschaft im ›kleinen Gahmuret‹. Der Erzähler berichtet vom hasserfüllten Vorhaben Herzeloydes, das in ihren neuesten Befehl (vgl. 117,22), die Vögel zu fangen und zu töten, mündet, jedoch handelt es sich hier weder um indirekte noch direkte Rede, sondern um Erzählverse sowie einen Redebericht: 118,29 119,1
frou Herzeloyde keˆrt ir haz an die vogele, sine wesse um waz: si wolt ir schal verkrenken. ir buˆliute unde ir enken die hiez si vaste gaˆhen, vogele würgn und vaˆhen.
Es ist anzumerken, dass die negativen Wörter, die Herzeloyde hier charakterisieren, diejenigen des Erzählers sind. würgn und vaˆhen sind nicht unbedingt die Wörter, die sie selbst benutzt hat. Humor lockert den Ton des grimmigen Ernsts in den nächsten Versen, als der Erzähler das Ergebnis des ›Vogelmordversuchs‹ beschreibt: 119,5
die vogele waˆren baz geriten: etslıˆches sterben wart vermiten: der bleip daˆ lebendic ein teil, die sıˆt mit sange wurden geil.
Die direkte Rede des jungen Parzival an seine Mutter, erneut eingeleitet durch ein einfaches sprach, zeigt, dass er nicht unbedingt verstanden hat, dass Herzeloyde die Urheberin des Vogelmordversuchs ist. Es ist das erste Mal, dass Parzival im Roman spricht, damit leitet er den ersten ›Lehrdialog‹ zwischen Parzival und Herzeloyde ein.17 Es wird deutlich, dass Parzivals erste Rede eine Frage ist,18 die in diesem Fall mit dem hypokoristischen Diminutiv das Kriterium der Plausibilität erfüllt. Das Pronomen man deutet an, dass er die Bauern eventuell für schuldig hält. Wie dem auch sei, ersucht Parzival einen sofortigen Waffenstillstand für die 14 Durch Parzivals Schweigen entsteht ein Halbdialog (vgl. Urscheler [Anm. 1], S. 49 f., 184). Vgl. weiter zu diesem Abschnitt Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 15. 15 Vgl. Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 15; Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 60 f.; Urscheler [Anm. 1], S. 175. 16 Vgl. Yeandle 1981 [Anm. 1], S. 15 f. 17 Vgl. dazu Urscheler [Anm. 1], S. 175 f. 18 Vgl. Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 71.
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Vögel, wie der Erzähler berichtet; dieser Vers (119,11) wirkt rekapitulierend für diesen Teil der Handlung. Die unmittelbare eilige Reaktion des Jungen wird durch saˆ zestunt hervorgehoben, wodurch er auch später in der Episode charakterisiert wird:19 119,9 Der knappe sprach zer künegıˆn / ›waz wıˆzet man den vogelıˆn?‹ / er gert in frides saˆ zestunt. Darauf folgt eine der prägnantesten Stellen im ganzen Roman: Herzeloyde zeigt ihre Liebe zu ihrem Sohn durch einen Kuss auf den Mund, wonach sie in direkter, durch sprach eingeleiteter Rede sagt: 119,13 ›wes wende ich sıˆn gebot, / der doch ist der hœhste got? / suln vogele durch mich freude laˆn?‹ Wichtiger als die ganze Episode mit den Vögeln ist nun der Hinweis auf Gott. Anstatt den Dialog mit Parzival fortzuführen, gibt Herzeloyde eine ›monologische Selbstanklage‹ von sich.20 Hier, in starkem Kontrast zu ihren eigenen menschlichen Geboten, die nur berichtet wurden, wie wir eben gesehen haben, erkennt Herzeloyde, dass sie das Gebot des Allmächtigen missachtet und pervertiert. Die Geschichte mit den Vögeln hat nicht nur dazu gedient, Aspekte der Charaktere von Herzeloyde und Parzival zu beleuchten, sondern sie führt eines der wichtigsten Themen der Perceval-Enfances-Geschichte ein, nämlich die Ignoranz des Helden in Sachen Gott und Religion. Die Erwähnung Gottes durch Herzeloyde führt zu womöglich dem berühmtesten Vers des ganzen Romans: 119,17 ‹oˆweˆ muoter, waz ist got?‹ 21 Parzivals wörtlich wiedergegebener Ausruf, dessen Dringlichkeit durch die Redeeinleitung (119,16 der knappe sprach zer muoter saˆn) ausgedrückt wird,22 weist auf das größte Versäumnis der Erziehung Parzivals durch Herzeloyde hin, nämlich das Fehlen religiösen Unterrichts. Durch die direkte Rede zeigt Wolfram präzise, was gesagt wurde, so dass sich die Zuhörer ein genaues, unmittelbares Bild von der Situation machen können. Herzeloydes Antwort auf die Frage ihres Sohns erfolgt sofort, ohne Redeeinleitung, in direkter Rede: 119,18 ›sun, ich sage dirz aˆne spot ...‹ Die Unmittelbarkeit der Reaktion zeigt, dass Herzeloyde nicht über ihre Antwort nachgedacht haben kann, zumindest nicht im Kontext des aktuellen Dialogs. Die direkte Rede erlaubt den Zuhörern wieder, die genauen Worte Herzeloydes wahrzunehmen und sie eventuell zu gewichten. Hier bereitet Herzeloyde in direkter Rede ihre eigene Rede vor (ich sage dirz), während sie auch noch die Ernsthaftigkeit (aˆne spot) und Glaubwürdigkeit ihrer nachfolgenden Aussage beteuert.23 19 Vgl. auch 116,9; 121,1; 123,9. Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 72; Urscheler [Anm. 1], S. 175. 20 Vgl. Urscheler [Anm. 1], S. 175 f. 21 Zur raffinierten Motivierung der Handlung auf diese Art siehe Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 83. 22 Urscheler [Anm. 1], S. 51 f. weist darauf hin, dass es sich bei einfachem sprach immer um ›reaktive‹ Rede handelt. 23 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 74 f.
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Die Mangelhaftigkeit der religiösen Unterweisung, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen,24 zeigt sich in der wörtlichen Rede: 119,19
›er ist noch liehter denne der tac, der antlitzes sich bewac naˆch menschen antlitze. sun, merke eine witze, und fleˆhe in umbe dıˆne noˆt: sıˆn triwe der werlde ie helfe boˆt. soˆ heizet einr der helle wirt: der ist swarz, untriwe in niht verbirt. von dem keˆr dıˆne gedanke, und och von zwıˆvels wanke.‹
Zwar enthält die Lehre nichts Falsches und Irreführendes, jedoch stellt sie kein adäquates Bild der christlichen Religion für ein Kind in Parzivals Alter dar.25 Besonders interessant an dieser Stelle für die Charakterisierung Herzeloydes ist die Aussage des Erzählers:26 119,29 sıˆn muoter underschiet im gar / daz vinster unt daz lieht gevar. Der Sinn dieses Redeberichts ist m. E., die Worte der direkten Rede kurz und bündig zusammenzufassen: eine Rekapitulation, die die Episode erzähltechnisch geschickt zu Ende führt. Es hieße dann, wörtlich genommen, dass Herzeloyde das Finstere und das Helle vollständig unterschieden habe, was tatsächlich in der direkten Rede gerade passiert ist. Andere haben im Kontext der Charakterisierung Herzeloydes behauptet, dass underschiet im gar .. . darauf hinweist, dass Herzeloyde ›hinter den Kulissen‹ viel mehr über die christliche Religion berichtet habe, als man in der direkten Rede wahrnimmt, so dass ihr Unterricht keinesfalls als mangelhaft anzusehen sei. Wenn wir andere Textstellen von ähnlichen Erzähleraussagen untersuchen, finden wir in Vers 122,24 doˆ sim underschiet den liehten schıˆn, das sich auf 119,19–28 bzw. 119,29 f. bezieht. Da der Kontext deutlich macht, dass Parzival aufgrund der Lehre Herzeloydes Karnahkarnanz für eine Art von Gott hält, ist anzunehmen, dass hier auch nicht auf eine vollständigere Unterweisung hingewiesen wird. 169,29 er saget im gar die underscheit kommt in der Gurnemanzepisode vor, wo der Erzähler erklärt, wie Parzival ›die ganze Geschichte‹ von seinen Abenteuern mit Jeschute und Ither erzählt, so dass Gurnemanz u. a. erkennen kann, dass es sich um den ›Roten Ritter‹ gehandelt hat. Bei 178,28 kommt fast die gleiche Aussage 24 Herzeloydes religiöse Unterweisung ist in der Forschung erneut zur Diskussion gekommen. Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 83–98; vgl. auch Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ‘Parzival’ (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), Frankfurt am Main u. a. 2002 (auch Diss. phil. Bonn 2000), S. 240–242. 25 Vgl. Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 84 f. 26 Für einen Vergleich mit der Lichtmetaphorik des Prologs siehe Alexandra Katharina Stein, ›wort unde werc‹. Studien zum narrativen Diskurs im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach (Mikrokosmos 31), Frankfurt a. M. u. a., 1993 (gekürzte Fassung der Diss. phil. München 1991), S. 240; Schu [Anm. 24], S. 241.
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wie 119,29 vor: 178,27 der gast nams wirtes jaˆmer war, / wand erz im underschiet soˆ gar. Hier handelt der Kontext von dem Abschied Parzivals von Gurnemanz, nachdem dieser ihm sein Leid – den Tod seiner drei Söhne – in direkter Rede ausführlich erklärt hat. Hier heißt es wieder, offensichtlich rekapitulierend, dass sogar Parzival mit seinem unterentwickelten Verstand (vgl. 178,29 doˆ sprach er ›heˆrre, in bin niht wıˆs ...‹) imstande ist, das Leid des Gurnemanz zu begreifen, weil er es ihm so vollständig erklärt hat. Ähnliches findet man bei: 203,4 Gurnemanz im ouch underschiet, / man und wıˆp wærn al ein. Der Sinn aller dieser Aussagen ist es klarzumachen, dass etwas unmissverständlich gezeigt oder erklärt worden ist, nicht dass wesentlich mehr hinter den Kulissen passiert ist, als die Zuhörer direkt beobachten durften. Somit schließt die Episode des Vogelsangs und der religiösen Unterweisung. Der Erzähler beschreibt nun den Alltag in Soltane (120,1–10), wo Parzival die Pirschjagd mit dem Jagdspieß (gabiloˆt ) lernt, und weist sowohl auf seine unhöfische Jagdweise als auch auf seine ungeheure Stärke hin. Dies bereitet nun den neuen Erzählabschnitt (die Begegnung mit Karnahkarnanz und seinen Vasallen) vor, der durch eins tages eingeleitet wird. Wie im Falle der Unterweisung über Gott (118,24) hebt der Erzähler wieder einen Tag unter vielen hervor. Es ist nicht zu erkennen, wie viel Zeit seit der letzten Episode vergangen ist. Urscheler meint »mehrere Jahre«,27 was vielleicht durch 120,5 ez wære æber oder sneˆ angedeutet wird. Wenn es tatsächlich mehrere Jahre sind, ist es kurios, dass Parzival keinen weiteren religiösen Unterricht in der Zwischenzeit erhalten zu haben scheint, denn er kennt in der Begegnung mit Karnahkarnanz nur das, was in der vorigen Episode gezeigt worden ist. Die Beziehung zwischen Herzeloydes religiösem Unterricht und Parzivals religiösen Kenntnissen lässt eher auf eine wesentlich kürzere Zeit von nur einigen Wochen schließen. Als Parzival die Hufschläge von Karnahkarnanz und seinen Vasallen hört, fragt er sich, was er gehört habe, was darauf hinweist, dass das Geräusch für ihn etwas Ungewöhnliches ist. Es handelt sich hier um einen Monolog Parzivals, nicht einen inneren, sondern einen vor sich hin gesprochenen. Der Grund für die Verwendung von direkter, (laut) gesprochener Rede ist nicht unbedingt ausreichend zu erklären – vielleicht spricht Parzival laut, um zu zeigen, dass er keine Angst hat –, jedenfalls tragen die gesprochenen Worte mehr zur Spannung der Szene bei, als wenn Parzival dies nur für sich gedacht hätte; es wirkt wie eine Art Herausforderung an den Teufel: 120,17
doˆ sprach er ›waz haˆn ich vernomn? wan wolt et nu der tiuvel komn mit grimme zorneclıˆche! den bestüende ich sicherlıˆche. mıˆn muoter freisen von im sagt: ich wæne ir ellen sıˆ verzagt.‹
27 Urscheler [Anm. 1], S. 178.
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Es ist festzuhalten, dass Parzival nicht denkt, dass die Hufschläge bedeuten, dass der Teufel kommt.28 Beim Schall der Hufschläge wünscht sich Parzival, dass der Teufel mit grimmigem Zorn käme, damit er die Chance hätte, ihn zu besiegen. Hier sieht man, dass Parzival direkt gegen die Lehre seiner Mutter handelt, denn sie hatte ihm auferlegt, seine Gedanken vom Teufel und vom Zweifel abzuwenden. Zwar hat Herzeloyde das Wort tiuvel in ihrem Unterricht nie benutzt, doch kann man davon ausgehen, dass die Verwendung des Worts durch Parzival nur ein Fall von inkonsequenter Wahl der Vokabeln seitens des Dichters ist (quandoque bonus dormitat Homerus). Parzival hätte das Wort tiuvel eigentlich nicht kennen sollen, denn Herzeloyde hat nur von der helle wirt gesprochen und auf sein schwarzes Aussehen hingewiesen. Das Übrige, das Parzival vom Teufel erzählt, ist direkt aus der Unterweisung Herzeloydes herzuleiten. Hier ist noch zu merken, dass Parzival wenig Ahnung von der Beschaffenheit des Teufels hat, da er ihn für ein leibhaftes Wesen zu halten scheint, den man mit menschlichen Waffen bekämpfen könne. Also steht Parzival kampfbereit in der Hoffnung, dass er dem Teufel begegnen wird: 120,23
alsus stuont er in strıˆtes ger. nu seht, dort kom geschuˆftet her drıˆ ritter naˆch wunsche var, von fuoze uˆf gewaˆpent gar.
Der Erzähler macht die Zuhörer auf die kommende Erscheinung durch eine Art ›Bühnenanweisung‹ aufmerksam, in der er die Zuhörer direkt anspricht und sie um augenblickliche Aufmerksamkeit bittet. Auf diese Art sehen sie die Geschehnisse aus der Sicht der Handelnden.29 Die Zuhörer sind vor der Anwesenheit von Rittern schon gewarnt (120,25). Indirekte ›innere Rede‹, eingeleitet durch waˆnde erlaubt den Zuhörern, dem Gedankengang des jungen Helden schnell zu folgen. Es handelt sich in diesem Fall um einen Vorgang, der sich schwerlich in direkter Rede hätte ausdrücken können. Die indirekte Rede bereitet uns auf den Dialog mit den Rittern vor: 120,27 der knappe waˆnde sunder spot, / daz ieslıˆcher wære ein got. Hier benutzt der Erzähler sunder spot, wie auch an anderen Stellen,30 um den Ernst der Situation bzw. die Logik des Gedankengangs zu unterstreichen. Dass Parzival jeden der Ritter für einen Gott hält, ist ein Beispiel seiner ›Überinterpretation‹ der Lehren. Herzeloyde sprach nur von (einem) Gott (119,14), und Parzival hat das auch so begriffen (119,17). Die Tendenz zur Überinterpretation kommt besonders in seiner Reaktion auf Herzeloydes vierte weltliche Lehre über Ring und Kuss vor. 28 Die meisten Forscher scheinen davon auszugehen, dass Parzival glaubt, der Teufel komme. Vgl. etwa Stein [Anm. 26], S. 236; Schu [Anm. 24], S. 243; Urscheler [Anm. 1], S. 178. Weiter dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 114. 29 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 117 f.; Urscheler [Anm. 1], S. 61 f., 69. 30 Im Reim zu got vgl. im III . Buch: 119,18 ›sun, ich sage dirz aˆne spot . . . ‹ ›allen Ernstes‹; 122,25 doˆ rief er luˆte sunder spot.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede
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Eine weitere Inkonsequenz zeigt sich, als Parzival auf die Knie fällt, um Karnahkarnanz/Gott anzuflehen, denn von einer besonderen Körperstellung beim Gebet war in Herzeloydes Unterweisung auch nicht die Rede:31 120,29 121,1
doˆ stuont ouch er niht langer hie, in den phat viel er uˆf sıˆniu knie. luˆte rief der knappe saˆn ›hilf, got: du maht wol helfe haˆn.‹
Die direkte Rede hier bestätigt die indirekte (120,27 f.) und stellt dar, wie konsequent Parzival die Ratschläge seiner Mutter ausführt. Die Redeeinleitung enthält das Verb rief, das auf die Aufgeregtheit Parzivals hindeutet, verstärkt durch das Adverb luˆte.32 Von nun an wird die Verwendung der direkten Rede häufiger, beispielsweise als Parzival einen Dialog mit den Rittern beginnt. Der vordere Ritter bemerkt, nach kurzem Redebericht (121,3 f.), der auch redeeinleitend wirkt, zornig in direkter Rede: 121,5 ›dirre tœrsche Waˆleise / unsich wendet gaˆher reise.‹ Daraufhin führt Wolfram den berühmten Autorenkommentar über die Bayern ein, der für mehr Humor sorgt und die Stimmung der Szene um einiges heiterer macht.33 Die Vorstellung von Karnahkarnanz selbst (121,13 ff.) ist ziemlich ernsthaft, was zu seiner Berufung als Ritter und zu seiner besonderen Aufgabe gut passt. Vers 121,20 den helt ez duˆhte schande könnte als innerer Redebericht aufgefasst werden. Karnahkarnanz drückt sich in direkter Rede meist knapp und präzise aus: 121,28 er sprach ›wer irret uns den wec?‹ In dieser etwas ärgerlichen Gemütsverfassung reitet Karnahkarnanz zu Parzival: 121,29 sus fuor er zuome knappen saˆn. / den duˆhter als ein got getaˆn: / ern hete soˆ liehtes niht erkant. Das Verb dünken stellt eine Art von Redebericht dar, ist jedoch stille Rede. Auffällig ist die potentielle Doppeldeutigkeit der Aussage. In Anbetracht der Lehre Herzeloydes vermutet man, dass Parzival Karnahkarnanz für einen Gott hält, weil er noch nie so etwas Helles gesehen hat, aber die Möglichkeit besteht, dass Karnahkarnanz Parzival in Anbetracht seiner besonderen Schönheit genauso für ein ›göttliches‹ Wesen hält. Eine ähnlich verwirrende Aussage folgt auf die Beschreibung der eleganten Ausrüstung von Karnahkarnanz (122,2–12), wo die Phrase 122,13 Aller manne schœne ein bluomen kranz auf Karnahkarnanz bezogen zu sein scheint, jedoch in Wirklichkeit ein nominativus pendens ist, der sich auf Parzival bezieht.34 Wolfram scheint seine Zuhörer absichtlich irreführen zu wollen, indem er den Glanz der beiden Charaktere und den von Parzival vermuteten Glanz Gottes miteinander ›konkurrieren‹ lässt. Auf diese Weise wird die nächste direkte Rede von Karnahkarnanz eingeleitet: 122,13 Aller manne schœne ein bluomen kranz, / den vraˆgte Karnahkarnanz. 31 32 33 34
Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 121 f. Zum Gebrauch von Adverbien in Redeeinleitungen siehe Urscheler [Anm. 1], S. 54. Vgl. Urscheler [Anm. 1], S. 181 f. Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 149–153.
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Die Rede selbst ist sachlich und relativ kurz, was zu Karnahkarnanz’ Situation passt. Von Interesse ist die höfliche Anrede ( juncheˆrre – ir ), die Karnahkarnanz anfangs für Parzival benutzt. Die Worte Karnahkarnanz’ müssen Parzival teilweise unverständlich bleiben, denn er weiß nichts von Rittern und dürfte logischerweise wenig Ahnung von zunft, noˆtnunft und werdekeit haben; dies wird durch den Erzählerkommentar swaz er sprach verstärkt. Parzival interessiert sich nicht für die problematischen Worte, jedoch macht die glänzende physische Erscheinung des Ritters einen starken Eindruck auf den Knaben: 122,21
der knappe waˆnde, swaz er sprach, ez wære got, als im verjach frou Herzeloyd diu künegıˆn, doˆ sim underschiet den liehten schıˆn.
Die indirekte Rede bezieht sich auf den inneren Gedankengang Parzivals, wobei sein Wahrnehmungsprozess vom Erzähler dargestellt wird. Dieser Passus enthält auch drei Verben des Sprechens: sprach, verjach, underschiet, wodurch die Rezipienten auf die Wichtigkeit verbaler Kommunikation aufmerksam gemacht werden; das Gleiche wird nach wenigen Versen wieder vorkommen, als Parzival die Verben nennest und sage benutzt (123,4.6). Die Wiederholung von underscheiden (vgl. 119,29) und der Hinweis auf Herzeloyde verknüpfen die beiden Stellen miteinander und lassen die Zuhörer die Abhängigkeit der zweiten von der ersten erkennen. Mit anderen Worten: Herzeloyde wird vom Erzähler zur Urheberin von Parzivals logischem Denkfehler erklärt. Direkte Rede, eingeleitet durch rief und luˆte sunder spot, was auf die völlige Ernsthaftigkeit des aufgeregten Jungen hindeutet (vgl. luˆte rief 121,1), zeigt wieder die logische Verknüpfung von Parzivals Gedankengang mit Herzeloydes Lehre und erinnert besonders an 119,18 ›sun, ich sage dirz aˆne spot ...‹ und 119,24 sıˆn triwe der werlde ie helfe boˆt. Die wörtlichen Anklänge in beiden direkten Reden lassen die Verknüpfung besonders stark wirken: 122,25 doˆ rief er luˆte sunder spot / ›nu hilf mir, hilferıˆcher got.‹ Der Erzähler lockert nun den Ton durch Humor in einem »Redebericht von wiederholten Äusserungen [sic]«,35 aber er weist gleichzeitig darauf hin, dass sich Parzival, als Sohn des Königs Gahmuret, unbewusst und unverschuldet lächerlich macht: 122,27 vil dicke viel an sıˆn gebet / fil li roy Gahmuret. Es folgt nun ein Redewechsel zwischen Karnahkarnanz und Parzival, den der Erzähler in direkter Rede wiedergibt.36 Obwohl sich die Reden etwas knapp und nicht immer natürlich anhören, müssen wir davon ausgehen, dass es sich wenigstens inhaltlich um die wirklich gesprochenen Worte der Figuren handelt. Die verschiedenen Verben der Redeeinleitung sowie die anderen Verben des Sagens fallen hier auf: sprach, fraˆgte, nennest, sage. 35 Urscheler [Anm. 1], S. 39 f. 36 Es handelt sich hier auch um einen Lehrdialog (Urscheler [Anm. 1], S. 180).
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede 122,29
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der fürste sprach ›ich pin niht got, ich leiste ab gerne sıˆn gebot. du maht hie vier ritter sehn, ob du ze rehte kundest spehn.‹ der knappe fraˆgte fürbaz ›du nennest ritter: waz ist daz? haˆstu niht gotlıˆcher kraft, soˆ sage mir, wer gıˆt ritterschaft?‹ ›daz tuot der künec Artuˆs. juncheˆrre, komt ir in des huˆs, der bringet iuch an ritters namn, daz irs iuch nimmer durfet schamn. ir mugt wol sıˆn von ritters art.‹
Auffällig ist, dass Karnahkarnanz anfängt, Parzival zu duzen. Der Grund dafür dürfte sowohl in der Weiterverwendung von Parzivals Anredeform, die natürlich für Gott angemessen ist (122,26), als auch in seinem kindlichen Benehmen zu suchen sein.37 Parzival duzt Karnahkarnanz im ganzen Dialog weiter, obwohl er es wenig später versteht, Jeschute höflich anzureden und die irForm bei ihr zu benutzen (132,16). Die Verwendung von gotlıˆcher kraft und vor allem des Abstraktums ritterschaft durch Parzival dürfte als wenig plausibel erscheinen. Parzival hat gerade erst von Rittern erfahren, so dass es unwahrscheinlich ist, dass er schon imstande wäre, daraus zu schließen, dass es das Abstraktum ritterschaft gibt und dass einer sie ›gibt‹.38 Man könnte vielleicht behaupten, dass trotz seiner tumpheit seine Intelligenz zum Vorschein kommt, und vielleicht, angeregt von Karnahkarnanz’ Verwendung von Abstrakta einige Verse früher,39 sich daran erfreut, das Abstraktum zu ritter zu bilden! Auf diese Weise vermag Wolfram sowohl die Intelligenz als auch die tumpheit seines Helden durch die direkte Rede gleichzeitig zu zeigen. Die Rede des intelligenten Jungen, der sich offensichtlich für Ritterschaft interessiert, bewegt Karnahkarnanz dazu, ihn wieder zu ihrzen und ihn erneut mit juncheˆrre anzureden,40 denn er hat Parzivals ritterliche Herkunft und eventuelle Tauglichkeit möglicherweise gespürt. Der Erzähler ist noch bestrebt, auf Parzivals Eignung zum Ritter weiter hinzuweisen; sie kommt besonders in der erstaunlichen, einmaligen Schönheit des jungen Helden zum Vorschein. Hier wird ein Redebericht verwendet, um über Wolframs ›Quelle‹,41 die aˆventiure, zu informieren, und dadurch für die Wahrheit im Hinblick auf Parzivals Schönheit zu bürgen: 37 Vgl. Gustav Ehrismann, Duzen und Ihrzen im Mittelalter. Das höfische Epos, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 5 (1903/04), S. 127–220 (148 f.); Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 153. 38 Vgl. Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 163; Urscheler [Anm. 1], S. 181. 39 Vgl. 122,17 ritterlıˆcher zunft; 122,18 noˆtnunft; 122,19 werdekeit. 40 Weiter zur Asymmetrie der Anrede siehe Urscheler [Anm. 1], S. 181. 41 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 169 f. und passim.
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David Yeandle 123,12
von den helden er geschouwet wart: Doˆ lac diu gotes kunst an im. von der aˆventiure ich daz nim, diu mich mit waˆrheit des beschiet. nie mannes varwe baz geriet vor im sıˆt Adaˆmes zıˆt. des wart sıˆn lob von wıˆben wıˆt.
Der Hinweis auf gotes kunst zeugt von der Auserwähltheit Parzivals. Auffällig ist die Häufigkeit der Hinweise auf got in der Soltane-Episode, die sich nach der ersten Erwähnung durch Herzeloyde stark vermehren.42 Die eifrige direkte Rede des jungen Helden wird nun fortgesetzt, eingeleitet durch sprach ... saˆn, und gleichzeitig kommentiert der Erzähler wohlwollend und gutmütig, dass seine Aussage Anlass zu Humor gewesen sei:43 123,19 aber sprach der knappe saˆn, / daˆ von ein lachen wart getaˆn. Bekanntlich bietet diese Stelle eine textliche Schwierigkeit. Obwohl sich Lachmann in Anlehnung an Handschrift D für ritter guot entschieden hat, schließen sich die meisten Forscher der alternativen Lesart der G-Handschriften an, wo es ritter got heißt.44 Zwar weiß Parzival, dass Karnahkarnanz nicht Gott ist – eben dies hat er aus Karnahkarnanz’ eigenem Mund in direkter Rede gehört (122,29) –, jedoch sagt er hier nicht, Karnahkarnanz sei Gott, sondern er spricht ihn mit ritter got an, was für ihn ein neuer Begriff ist, den er sich selbst ausgedacht hat; dies bestätigt sich durch waz mahtu sıˆn?, das soviel bedeutet wie »was bist du denn für ein Ding?«, mit anderen Worten: »He! Rittergott, was bist du denn für ein komisches Wesen?« Parzival hält ihn also für einen ›Rittergott‹, und dies ist wohl eher der stärkere Anlass zum Lachen als der Hinweis des jungen Helden auf die ›Fingerringe‹, die Karnahkarnanz laut Parzival an seinen Körper gebunden hat: 123,21
›ay ritter g[u]ot, waz mahtu sıˆn? du haˆst sus manec vingerlıˆn an dıˆnen lıˆp gebunden, dort oben unt hie unden.‹
Nachdem Parzival Karnahkarnanz’ Rüstung abgetastet hat, fährt er mit seiner direkten Rede ohne weitere Einleitung fort, indem er von den Jungfrauen seiner Mutter erzählt, die ihre Ringe anders tragen. Der junge wissbegierige Parzival setzt seine Fragen über Karnahkarnanz’ Rüstung fort, eingeleitet durch sprach durch sıˆnen muot, das sowohl seine Eigensinnigkeit als auch die Eigenart seines weltfremden unerfahrenen (tumben) Charakters darstellt:45 42 119,14; 119,17; 120,28; 121,2; 121,30; 122,22; 122,26; 122,29; 123,13; 124,17; 124,19; 124,21; 126,10; 128,11. 43 Vgl. Urscheler [Anm. 1], S. 33. 44 Bezüglich der Pro- und Contra-Argumente siehe Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 175–178. 45 Vgl. dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 182; Urscheler [Anm. 1], S. 182 f.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede 124,1
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der knappe sprach durch sıˆnen muot zem fürsten ›war zuo ist diz guot, daz dich soˆ wol kan schicken? ine mages niht ab gezwicken.‹
Karnahkarnanz antwortet höflich, indem er ihm sein Schwert zeigt und ihm dessen Funktion – ohne weitere Redeeinleitung – erläutert (124,6–10). Daraufhin erklärt Parzival, in direkter Rede, eingeleitet durch aber sprach der knappe snel (124,11), dass die Hirsche, wenn sie solche Rüstung trügen, sicher vor seinem Gabilot wären. Die Begleiter von Karnahkarnanz ärgern sich, dass der unerfahrene Junge sie aufhält. Ein möglicher Redebericht geht dann in eine Schilderung des knappen über, in der der Erzähler das erste Mal Parzivals tumpheit kommentiert, statt sie anhand seiner Handlungen und Aussagen erkennen zu lassen: 124,15 Die ritter zurnden daz er hielt / bıˆ dem knappen der vil tumpheit wielt. Karnahkarnanz, angesichts des Potentials, das er in Parzival erkennt, spricht wieder in direkter Rede zu ihm, eingeleitet durch der fürste sprach, indem er ihn wieder duzt und gleichzeitig seine Schönheit preist, die auf seine ritterliche Karriere hinzudeuten scheint, seine scheinbar mangelnde Intelligenz jedoch bedauert: 124,17
der fürste sprach ›got hüete dıˆn. oˆwıˆ wan wær dıˆn schœne mıˆn! dir hete got den wunsch gegebn, ob du mit witzen soldest lebn. diu gotes kraft dir virre leit.‹
Die erneute Anrede mit du ist sowohl als freundlich wohlwollend als auch als angemessen für den vermeinten geistigen Zustand des Jungen aufzufassen.46 Somit endet die Begegnung der Ritter mit dem jungen Parzival im Wald. Nach dem Lehrdialog des Karnahkarnanz folgt ein Erzählabschnitt, in dem die Ritter die Bauern von Herzeloyde treffen (124,22–30). Als die Ritter bei den Bauern ankommen, erklärt der Erzähler, wie Karnahkarnanz sie grüßt und sie fragt, in indirekter Rede, ob sie eine Jungfrau in Not gesehen hätten (125,2 f.). Danach folgt eine Aussage (Redebericht) des Erzählers, die auf die Vollständigkeit der Antwort der Bauern hinweist: 125,5 swes er vraˆgt daz wart gesagt. Dies alles sorgt für einen schnellen Fortgang der Erzählung. Die Bitte um Auskunft, die in indirekter Rede anfängt, fährt dann in direkter Rede weiter (Halbdialog):47 125,6
›zweˆne ritter unde ein magt daˆ riten hiute morgen. diu frouwe fuor mit sorgen: mit sporn si vaste ruorten, die die juncfrouwen fuorten.‹
46 Zum Abschied siehe Urscheler [Anm. 1], S. 43. 47 Vgl. Urscheler [Anm. 1], S. 144 f.
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Die direkte Rede dient dazu, knapp und präzise sowohl Karnahkarnanz als auch die Zuhörer über die Situation zu informieren. Es handelt sich um eine Chorrede der Bauern.48 Danach erklärt der Erzähler ergänzend Näheres über die Identität der Handelnden (125,11–16). Es sind böse Ritter, die durch Raub und Vergewaltigung motiviert sind und somit einen Kontrast zu Karnahkarnanz und den seinen darstellen.49 Von Karnahkarnanz und Imane ist nachher nicht mehr die Rede – auf geschickte Art schließt Wolfram die Karnahkarnanz-Handlung durch diese epische Vorausdeutung und durch den Hinweis auf die große Eile der Rittergruppe.50 Gleich darauf erfahren die Zuhörer vom Schrecken der Bauern, eingeleitet durch si spraˆchen, die von ihrem Versagen in einer monologischen Chorrede in direkter Rede berichten:51 125,19
si spraˆchen ›wiest uns sus geschehen? haˆt unser juncheˆrre ersehen uˆf disen rittern helme schart, sone haˆn wir uns niht wol bewart. wir sulen der küneginne haz von schulden hœren umbe daz, wand er mit uns daˆ her lief hiute morgen doˆ si dannoch slief.‹
Die relativ lange kollektive Rede der Bauern (8 Verse) führt in einen kurzen Erzählabschnitt über, worin der vorletzte Halbvers ein Redebericht ist und der letzte den Schreck Herzeloydes wiedergibt: 125,27
der knappe enruochte ouch wer doˆ schoˆz die hirze kleine unde groˆz: er huop sich gein der muoter widr, und sagt ir mær. doˆ viel si nidr:
Parzivals Gedanken fokussieren nicht mehr auf den Alltag in Soltane mit seinem Pirschgang;52 er geht direkt zur Mutter und erzählt ihr von den Ereignissen.53 Die erstaunliche Wirkung dieser Aussage wird durch die Knappheit des Berichts über seine Rede – ein einziger Vers – umso prägnanter gezeigt. Nach der kurzen Beschreibung der Ohnmacht von Herzeloyde vermag Parzivals Mutter nur zwei 48 Zu den verschiedenen Arten von Chorrede siehe Schwartzkopff [Anm. 2], S. 14–27. Hier sprechen mehrere Bauern nacheinander. 49 Vgl. dazu Stein [Anm. 26], S. 236; Schu [Anm. 24], S. 247. 50 Meljahkanz taucht im VII . Buch auf der Seite von Meljanz wieder auf; dazu Urscheler [Anm. 1], S. 267. 51 Vgl. Anm. 48 und Urscheler [Anm. 1], S. 145. 52 Ebenso wie 124,4 ine mages niht ab gezwicken auf die Itherszene (156,17) vorausdeutet, erinnert 125,27 der knappe enruochte ouch wer doˆ schoˆz an Parzivals Achtlosigkeit in der Jeschuteszene 131,12 ern ruochte waz si sagte und 132,1 Ern ruochte waˆ diu wirtin saz. 53 Zum unterschiedlichen Informationsstand von Parzival und Herzeloyde siehe Urscheler [Anm. 1], S. 145 u. 184.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede
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stockende Fragen in direkter Rede hervorzubringen:54 126,6 doˆ sprach si ›sun, wer haˆt gesagt / dir von ritters orden? / waˆ bist dus innen worden?‹ Parzival antwortet in direkter Rede ohne Redeeinleitung: 126,9
›muoter, ich sach vier man noch liehter danne got getaˆn: die sagten mir von ritterschaft. Artuˆs küneclıˆchiu kraft sol mich naˆch rıˆters eˆren an schildes ambet keˆren.‹
Die direkte Rede enthält zum Teil wörtliche Anklänge sowohl an Herzeloydes religiöse Lehre (119,18–30) als auch an Karnahkarnanz’ Rede (123,7–11). Jedenfalls lässt der Erzähler keinen Zweifel an der Quelle von Parzivals Gedanken und deren logischer Entstehung bestehen. Hier zeigt sich eine Steigerung der Ausdrucksweise Parzivals, in der Verwendung sowohl des grammatischen Komparativs als auch von Abstrakta.55 Auf diese Weise zeigt Wolfram, wie Parzival schon an seine Zukunft als Ritter denkt und entsprechend Pläne schmiedet.56 Potentielle Ausdrücke der Kommunikation fallen im nächsten Abschnitt auf, als der Erzähler von Herzeloydes Versuch, Parzival von seinem Vorhaben abzubringen, und von Parzivals fester Entschlossenheit berichtet (vgl. huop ... jaˆmer, enwesse, list erdæhte, von dem willen bræhte, iesch, klagn): 126,15
sich huop ein niwer jaˆmer hie. diu frouwe enwesse rehte, wie daz si ir den list erdæhte unde in von dem willen bræhte. Der knappe tump unde wert iesch von der muoter dicke ein pfert. daz begunde se in ir herzen klagn.
In jedem Fall gelingt es dem Erzähler durch Redebericht bzw. indirekte Rede, die Umstände knapp zu skizzieren, bevor davon eventuell ausführlicher (in direkter Rede) erzählt wird. Hier verlangt Parzival ein pfert, und zwar gleich mehrmals (dicke). Der Redebericht ermöglicht das Erzählen von wiederholten Äußerungen auf günstige, sparsame Weise.57 Urscheler macht darauf aufmerksam, dass es sich um ein pfert, handelt, nicht ein ors, obwohl Parzival das Wort ors in der Ither-Episode kennt und benutzt (163,24 ine kum von disem orse niht).58 Diese scheinbare Inkonsequenz lässt sich eventuell dadurch erklären, dass es in Soltane keine Streitrosse gegeben hätte, zumal Herzeloyde alles Ritterliche vor Parzival 54 Vgl. zum dramatischen Enjambement, wodurch Herzeloydes stockende Rede hervorgehoben wird, Yeandle [Anm. 1], 1981, S. 21 und 1984, S. 206. 55 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 207 f. 56 Zur mangelnden Plausibilität der Ausdrucksweise der Figurensprache siehe Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 208; Urscheler [Anm. 1], S. 186 f. 57 Urscheler [Anm. 1], S. 40. 58 Urscheler [Anm. 1], S. 187.
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verbergen will. Darüber hinaus ist pfert als Gattungsbegriff zu verstehen, obwohl es im Grunde ein einfaches Reitpferd kennzeichnet; darüber hinaus wüsste Parzival zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ein ors/ros spezifisch zum Ritter gehört.59 Ein kurzer innerer Monolog wird durch si daˆhte eingeleitet:60 126,22 si daˆhte ›in wil im niht versagn: / ez muoz abr vil bœse sıˆn.‹ Auf diese Art zeigt der Erzähler den negativen Gedankengang Herzeloydes, ohne ihn selbst negativ einschätzen zu müssen. Ähnliches gilt für die Fortsetzung der verwerflichen Gedanken von Parzivals Mutter: 126,24
do gedaˆhte meˆr diu künegıˆn ›der liute vil bıˆ spotte sint. toˆren kleider sol mıˆn kint ob sıˆme liehten lıˆbe tragn. wirt er geroufet unt geslagn, soˆ kumt er mir her wider wol.‹
Der Erzähler kommentiert, bevor er die Anfertigung der Torenkleider beschreibt, oˆweˆ der jæmerlıˆchen dol! (126,30). Aus diesem Ausruf ist nicht deutlich zu erkennen, ob er auf Herzeloydes oder Parzivals dol (›Leiden, Schmerz‹) bezogen ist (eventuell auf beides), wodurch man für die Einschätzung der Handlungsmotive auf die Aussagen in direkter Rede angewiesen ist.61 Eine ähnliche doppeldeutige Erzähleraussage folgt nach der Anfertigung der Torenkleider: daˆ wart groˆz jaˆmer niht vermitn (127,10). Zwei Verse leiten nun die weltliche Lehre Herzeloydes ein, obwohl es keine Redeeinleitung als solche ist, sondern ein Redebericht, bezogen auf das Bleiben Parzivals für noch eine Nacht: 127,11 diu küngıˆn was alsoˆ bedaˆht, / si bat belıˆben in die naht. / ›dune solt niht hinnen keˆren, / ich wil dich list eˆ leˆren ...‹ Der lange Abschnitt von 28 Versen, in dem Herzeloyde ihrem Sohn Ratschläge bzw. Informationen für seinen Umgang mit der Welt außerhalb von Soltane erteilt, wird wortgetreu in direkter Rede wiedergegeben. Der Grund dafür ist sowohl, dass man die Zulänglichkeit von Herzeloydes Ratschlägen unmittelbar einschätzen kann, als auch dass man deren Auswirkung auf Parzival genau verfolgen kann. Es ist zu merken, dass Herzeloyde Parzival vier Ratschläge erteilt und ihm danach weitere Informationen über Lähelin, den Feind seiner Dynastie, gibt.62 Die vier weltlichen Lehren sind: 1. Parzival soll Furten auf nicht befahrenen Straßen vermeiden; 2. er soll jeden grüßen; 3. er soll die Ratschläge eines erfahrenen Mannes im Hinblick auf zuht annehmen; 4. wie er sich mit Frauen zu verhalten hat. Herzeloydes weltliche Lehren sind vielfach untersucht worden: Viele Forscher sind der Meinung, dass die Lehren an sich deutlich und vollständig 59 Siehe Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 212 f. 60 Laut Urscheler [Anm. 1], S. 187 stellt diese Gedankenrede eine Zäsur im Dialog dar. Zur Redeeinleitung bei Monologen siehe Schwartzkopff [Anm. 2], S. 35. 61 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 220 f. 62 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 230–236; 237–238; 240; 250–257; 258–264.
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genug sind, dass Parzival sie jedoch falsch auslegt.63 Andere behaupten, dass Parzival die Lehren ›buchstabengetreu‹ ausführt.64 In Wirklichkeit handelt es sich um eine feine Mischung von beidem: besonders aufschlussreich ist die direkte Rede in diesem Kontext. Im ‘Perceval’65 sieht man unzweideutig, wie der junge Held die kategorisch vollständige und unmissverständliche Lehren der Veve Dame falsch ausführt und etwa die pucele im Zelt gegen ihren Willen und gegen die Lehre der Mutter küsst und ihren Ring wegnimmt (vgl. Perc. 541–556 und 687–780). Auch im Perceval wird die Lehre der Veve Dame wörtlich in direkter Rede wiedergegeben, so dass man die Diskrepanz zwischen der Lehre und ihrer Ausführung deutlich verfolgen kann, wodurch Perceval umso deutlicher als nices erscheint (vgl. 681, 701), d. h., dass er als Tölpel bzw. Dümmling deutlich charakterisiert wird, und zwar mit Recht. Im ‘Parzival’ dagegen ist die in direkter Rede wiedergegebene Lehre Herzeloydes wortkarg und zum Teil zweideutig. Dies trifft am ehesten im Falle der vierten Lehre (über den Umgang mit Frauen) zu. Ein Vergleich mit Chre´tien lohnt sich hier besonders: 533 Se vos trovez ne pres ne loing 127,25 sun, laˆ dir bevolhen sıˆn, Dame qui d’aı¨e et besoing, swaˆ du guotes wıˆbes vingerlıˆn Ne pucele desconseilliee, mügest erwerben unt ir gruoz, La vostre aı¨e apareilliee mügest erwerben unt ir gruoz, Lor soit, s’eles vos an requierent; daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. Que totes enors i afierent. du solt zir kusse gaˆhen Qui as dames enor ne porte, und ir lıˆp vast umbevaˆhen: La soe enors doit estre morte. daz gıˆt gelücke und hoˆhen muot, Dames et puceles servez, op si kiusche ist unde guot. Si seroiz partot enorez; Et se vos aucune an proiiez, Gardez que vos ne li enuiiez; Ne feites rien qui li despleise. De pucele a mout qui la beise; S’ele le beisier vos consant, Le soreplus vos an desfant, Se lessier le volez por moi; Et s’ele a anel an son doi Ou a sa ceinture aumosniere, Se par amor ou par proiiere Le vos done, bon m’iert et bel Que vos an portoiz son anel: De l’anel prandre vos doing gie´, Et de l’aumosniere congie´. 63 Siehe Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 254 f. u. 256, Anm. 14. 64 Vgl. z. B. Urscheler [Anm. 1], S. 188. 65 Der Percevalroman (Li contes del graal) von Christian von Troyes. Unter Benutzung des von Gottfried Baist nachgelassenen handschriftlichen Materials hg. von Alfons Hilka (Christian von Troyes: Sämtliche erhaltene Werke nach allen bekannten Handschriften hg. von Wendelin Foerster. Band 5), Halle (Saale) 1932.
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Wie aus den Texten deutlich hervorgeht, ist der französische dreimal so lang (24 Verse) wie der deutsche (8 Verse). Deutsche ›Bearbeitungen‹ von französischen mittelalterlichen Texten sind in der Regel länger und ausführlicher. Die besondere Knappheit im Wolframschen Text – da sie dieser allgemeinen Regel zuwiderläuft – muss also wohlbegründet sein. Erstens merken wir, dass die Lehre der Veve Dame eine lange Präambel von 13 Versen enthält über Frauen in Not und die Notwendigkeit, ihnen zu helfen, wenn sie um Hilfe bitten, sowie den höfischen Umgang mit Frauen, insbesondere, dass man ihnen dienen, Ehre zeigen muss und nichts tun darf, was ihnen missfällt. Als die Veve Dame die Vorteile des Küssens hervorhebt, macht sie ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Einwilligung der jungen Dame vorhanden sein muss. Alles, was ›darüber hinausgeht‹, verbietet sie ausdrücklich. Zuletzt spricht sie metaphorisch wohl von Heirat, indem sie vom Erwerb des Rings und des Geldbeutels (wohl als ›Aussteuer‹ aufzufassen) der Dame spricht, vorausgesetzt, dass sie sie ›durch Liebe oder Bitte‹ bereitwillig gibt. Die Bedingungen sind sehr deutlich umschrieben: nicht nur muss Perceval sehr vorsichtig sein, dass er der jungen Dame nichts tut, was ihr missfällt, sondern sie muss in jedem Fall ihre Einwilligung geben. Perceval missachtet oder überschreitet alles, was ihm befohlen wurde, als er nachher im Zelt mit der Jungfrau ringt. Wolframs Version dagegen ist lakonisch und eventuell zweideutig; darüber hinaus enthält sie wieder mehrere abstrakte und minnespezifische Ausdrücke, die Parzival nicht unbedingt verstehen kann.66 Dies führt dazu, dass Parzival alles, was ihm aufgetragen wurde, fast wörtlich ausführt. Die direkte Rede erlaubt den Zuhörern, Parzivals Motivation genau zu verfolgen. Man kann Parzival für seine Behandlung von Jeschute somit teilweise entschuldigen, denn sein Bestreben scheint es ganz und gar zu sein, die Lehre seiner Mutter in die Praxis umzusetzen, worauf sowohl der Erzähler als auch er selbst aufmerksam machen: 130,26
der knappe ein vingerlıˆn daˆ vant, daz in gein dem bette twanc, da er mit der herzoginne ranc. doˆ daˆhter an die muoter sıˆn: diu riet an wıˆbes vingerlıˆn.
und 132,23 iedoch sprach er ›got hüete dıˆn: / alsus riet mir diu muoter mıˆn.‹ Wenn man jedoch die genauen Worte Herzeloydes untersucht, sieht man, dass Parzival doch potentiell die Grenzen der mütterlichen Lehre überschreitet. Herzeloyde spricht von erwerben, ein Wort, das eventuell Minnedienst voraussetzt, obwohl es auch die allgemeine Bedeutung von ›bekommen‹ in sich trägt.67 Fast die gleichen Worte hatte Gahmuret im I. Buch verwendet, als er von der Möglichkeit sprach, um die Hand einer guten Frau zu werben. Im Gegensatz aber zu Herzeloyde weist er ausdrücklich auf den damit verbundenen Dienst: 66 Laut Urscheler [Anm. 1], S. 193 sind die Abstrakta für Parzivals ›beschränkte Lebenswelt‹ nicht geeignet. Dazu auch Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 252–255. 67 Dazu Yeandle 1984 [Anm. 1], S. 244 f.
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ob mich gelücke wil bewarn, so erwirbe ich guotes wıˆbes gruoz. ob ich ir dar naˆch dienen muoz, und ob ich des wirdec bin, soˆ rætet mir mıˆn bester sin daz ichs mit rehten triwen phlege.
Die Verknüpfung sowohl von vingerlıˆn als auch von gruoz mit erwerben durch Herzeloyde verstärkt die Annahme einer höfisch-ethischen Interpretation.68 Herzeloyde sagt zu Parzival, dass er mit Eile auf den Kuss der Dame zugehen müsse, was voraussetzt, dass die Dame zu dem Kuss an erster Stelle bereit sein muss bzw. sie muss den Kuss zuerst anbieten. Zwar macht der Erzähler nicht auf den Zusammenhang zwischen den Küssen im Zelt und der Lehre Herzeloydes aufmerksam, wie er das ausdrücklich im Falle des Rings macht, jedoch will er hier, dass die Zuhörer selbst erkennen, dass Parzival die Buchstaben der Lehre missachtet, indem er nicht nur den Kuss ohne Erlaubnis nimmt, sondern sich einen zweiten Kuss danach gönnt – gegen die ausdrückliche Lehre Herzeloydes. Ebenso überschreitet er den Wortlaut der Lehre im Hinblick auf den Ring, indem er auch noch die Spange von Jeschute nimmt. Das Nehmen der Spange, die Zugang zum Busen bietet, deutet sowohl auf eine gewisse Raubgier und Ruchlosigkeit des jungen Parzival als auch auf sexuelle Motive hin, die zwar nicht vorhanden sind, jedoch den Verdacht und Zorn des Orilus später steigern. In alledem ist es die direkte Rede, die den Zuhörern erlaubt, die Motivation Parzivals und seine Gedankengänge beim Ausführen der Lehre zu verfolgen. Wie oben besprochen, gibt Herzeloyde ihrem Sohn vier Ratschläge, wonach sie ihn über die Streitigkeiten von Lähelin mit seiner Dynastie aufklärt: 128,3
du solt och wizzen, sun mıˆn, der stolze küene Lähelıˆn dıˆnen fürsten ab ervaht zwei lant, diu solten dienen dıˆner hant, Waˆleis und Norgaˆls. ein dıˆn fürste Turkentaˆls den toˆt von sıˆner hende enphienc: dıˆn volc er sluoc unde vienc.‹
Herzeloydes Information dazu ist genauso lang (8 Verse) wie ihre Lehre über Liebe und den Umgang mit Frauen. Es ist auffällig, dass Parzival auf die vier Ratschläge an dieser Stelle gar nicht reagiert, jedoch greift er das Thema von Streit und Ungerechtigkeit sofort auf, indem er unmittelbar Rache verspricht: 128,11 ›diz rich ich, muoter, ruocht es got: / in verwundet noch mıˆn gabyloˆt.‹ Parzival zeigt hier wieder in direkter Rede sowohl den Eifer, mit dem er die Taten eines Ritters ausüben will, als auch seine Unerfahrenheit, als er von seinem Gabilot spricht. Durch die direkte Rede gewinnen wir wieder einen besonderen Einblick in die Psyche des jungen Helden. 68 Zum Zeugma siehe Urscheler [Anm. 1], S. 192.
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Die Soltane-Episode schließt mit einem längeren Erzählabschnitt (128,13– 129,4), der größtenteils dem Tod Herzeloydes und einer Lobrede auf sie gewidmet ist, wo sie, wie am Anfang des III . Buches, wie eine Art Heilige dargestellt wird und ihr das ewige Leben zugesichert wird. Danach ruft der Erzähler getriwiu wıˆp dazu auf, dem jungen Helden Heil zu wünschen.
* Die Soltane-Episode enthält 390 Verse, wovon 196 (50,3%) Erzählverse sind. Die restlichen 194 Verse (49,7%) bestehen aus 146 Versen (37,4%) direkte Rede, 19 Versen (4,9%) indirekte Rede und 29 Versen (7,4%) Redebericht.69 Direkte und indirekte Rede zusammen ergeben 165 Verse (42,3%). Schwartzkopff hat für die Bücher I bis VII vom ‘Parzival’ 7571 Erzählverse und 4298 Redeverse gezählt, was einen Prozentsatz von Redeversen von 36,4 ergibt.70 Für die ‘Eneit’ hat er 36% errechnet, für den ‘Iwein’ 52,2%, für das ‘Nibelungenlied’ 36,7 %, für ‘Tristan’ 26%, für ‘Keiser Otte’ 43,2% und für ‘Meier Helmbrecht’ 59,5%. Der Prozentsatz in der Soltane-Erzählung lässt sich ziemlich gut mit dem der Bücher I bis VII vergleichen,71 wird aber vom ‘Iwein’ und ‘Helmbrecht’ übertroffen, während Gottfrieds ‘Tristan’ auffallend weniger Redeverse enthält. Redeverse verleihen der Dichtung Spontaneität und Lebhaftigkeit, wogegen Erzählverse mehr zur Reflexion und Analyse führen können. Wenn man den Anteil der einzelnen Charaktere in der Soltane-Erzählung betrachtet, sieht man, dass Herzeloyde die meisten direkten Redeverse hat mit 60 (41,1 %); Parzival hat mit 43 (29,5%) etwas mehr als die Hälfte; an dritter Stelle kommt Karnahkarnanz mit 28 (19,2%); die restlichen haben 15 (10,3 %). Es fällt also auf, dass rein zahlenmäßig die direkte Rede eine sehr wichtige Rolle in der Episode spielt. Der Hauptzweck dieser Untersuchung war es, wichtige Aspekte der Charakterschilderung von Herzeloyde und Parzival zu beleuchten. Wir haben gesehen, wie die Schilderung von Herzeloyde in den Erzählabschnitten überwiegend positiv, ja sogar teilweise ekstatisch lobend ist. Der Dichter/Erzähler erlaubt sich diese Art von Charakterschilderung, weil er nicht nur die ›Selbstaufopferung‹ der Mutter seines Helden für die Sicherheit Parzivals beschreibt, sondern weil er ihren ›Treuetod‹, der Nachwirkungen für Parzivals künftiges Leben hat, darstellt. Desgleichen passiert nicht im Falle von Parzival innerhalb der Soltane-Episode, weil Parzival seinen allmählichen Werdegang im III . Buch beginnt, der erst am Ende des Werks vollendet wird, also werden ihm an dieser Stelle keine ausführlichen Lobreden gewidmet, obwohl 69 Bei diesen Statistiken schließt direkte Rede die Redeeinleitungen mit ein. Bei indirekter Rede zählt der ganze Ausdruck, wie z. B. 117,21–23 ez wære man oder wıˆp,/ den geboˆt si allen an den lıˆp,/ daz se immer ritters wurden luˆt (drei Verse). 70 Siehe Schwartzkopff [Anm. 2], S. 13. 71 Wie Schwartzkopff [Anm. 2] gezählt hat, ist nicht genau zu erkennen.
Redebericht, Redeeinleitung, direkte und indirekte Rede
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hin und wieder zumeist positive Erzählerkommentare zu seiner Person vorkommen. Da die Charakterschilderung von Herzeloyde unmittelbar auf Parzival wirkt, und zwar meist in negativ hinderlicher Hinsicht, müssen ihre Handlungen im negativen Licht dargestellt werden. Da sie der Autor nicht zu direkt und offen kritisieren will, geschieht dies vorwiegend durch direkte Rede, die von den Rezipienten meist im Hinblick auf ihre Auswirkung auf Parzival erwogen und evaluiert werden muss. Wir haben gesehen, wie indirekte Rede dem Erzähler durch die Wortwahl erlaubt, Kritik auszuüben, ohne dass er sie zu krass ausdrücken muss (vgl. z. B. 117,21–23 ez wære man oder wıˆp, / den geboˆt si allen an den lıˆp, / daz se immer ritters wurden luˆt ). Indirekte Rede kann also aus der Sicht des Autors/Erzählers lenkend wirken. Sonst wird sie vorbereitend verwendet: der Erzähler macht durch indirekte Rede auf etwas aufmerksam, was er später in direkter Rede ausführlicher oder genauer behandeln will (vgl. ebd.; auch 120,27 f.). Indirekte Rede wird auch benutzt, um komplizierte Angelegenheiten gerafft wiederzugeben (vgl. z. B. 125,2 f.). Sie kann auch spontaner wirkende direkte Rede einleiten (vgl. ebd.). Redebericht wirkt in vieler Hinsicht wie indirekte Rede. Hierdurch kann der Erzähler die Aufmerksamkeit des Rezipienten auch auf den Verlauf der Geschichte und die Darstellung der Figuren lenken und dadurch die Aufnahme der Erzählung durch seine Rezipienten beeinflussen. Der Redebericht erlaubt dem Erzähler, eine Aussage (oder Nichtaussage) eventuell mit Kommentar gerafft wiederzugeben (vgl. z. B. 118,21 f.; 126,15 ff.). Der Erzähler kann Worte verwenden, um die Rede zu berichten, die anders sind als die tatsächlichen Worte der Charaktere, wie z. B. 118,2 ff., wo er starke Ausdrücke benutzt (würgn und vaˆhen), um eventuell die negativen Aspekte zu unterstreichen. Dies wirkt auch umgekehrt, wo er mildernde Ausdrücke benutzen kann (vgl. 122,27). Redebericht kann oft rekapitulierend verwendet werden, besonders wo ein Abschnitt in direkter Rede zum Abschluss gebracht wird durch eine bündige Zusammenfassung, die die Bedeutung des Passus unterstreicht, wie z. B. 119,29 sıˆn muoter underschiet im gar / daz vinster unt daz lieht gevar. Redebericht wirkt auch redeeinleitend (vgl. 127,11 f.), indem er auch den Ton der Rede andeuten kann (vgl. 121,3 f.). Redebericht mit dünken weist auf ›stille Rede‹ hin (vgl. 121,20.30). Redebericht kann direkte Rede (124,15 f.) wie auch indirekte Rede (125,21) einleiten. Er kann auch mit indirekter Rede und direkter Rede zusammen benutzt werden (vgl. 125,2 ff.), um Aspekte der Rede kurz zu erhellen. Redebericht kann für sehr kurze Aussagen benutzt werden, die eine sehr wichtige und prägnante Wirkung haben, wie 125,30. Die Redeeinleitung, die vorwiegend bei direkter Rede vorkommt, weil diese am häufigsten ist, hat verschiedene Formen und kann mit Adverbien und Adverbialsätzen verbunden werden, die vom Autor richtungsweisend eingesetzt werden können. In der Soltane-Episode findet man folgende Beispiele:
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David Yeandle Mit indirekter Rede 116,15 125,2 117,22 116,22 122,21 120,27 126,16
sprechen fraˆgen gebieten + Adverbialsatz wænen wænen + Adverbialsatz wizzen + Adverb
genuoge sprechent, armuot . . . und fraˆgte se, op si sæhen noˆt . . . den geboˆt si allen an den lıˆp . . . ich wæne ir nu vil weˆnic lebe . . . der knappe waˆnde, swaz er sprach . . . der knappe waˆnde sunder spot . . . diu frouwe enwesse rehte, wie . . .
Mit direkter Rede sprechen
sprechen + Adverbien /Adverbialsatz
denken denken + Adverb fraˆgen fraˆgen + Adverb ruˆfen + Adverb /Adverbialsatz
119,9 119,13 121,28 122,29 124,17 125,19 118,19 119,16 120,17 123,19 124,1 124,11 126,6 126,22 126,24 122,14 123,3 121,1 122,25
Der knappe sprach zer künegıˆn . . . diu sprach ›wes wende ich sıˆn gebot . . . ‹ er sprach ›wer irret uns den wec?‹ der fürste sprach ›ich pin niht got . . . ‹ der fürste sprach ›got hüete dıˆn . . . ‹ si spraˆchen ›wiest uns sus geschehen? . . . ‹ soˆ sprach si ›wer haˆt dir getaˆn? . . . ‹ der knappe sprach zer muoter saˆn . . . doˆ sprach er ›waz haˆn ich vernomn? . . . ‹ aber sprach der knappe saˆn . . . der knappe sprach durch sıˆnen muot . . . aber sprach der knappe snel . . . doˆ sprach si ›sun, wer haˆt gesagt . . . ‹ si daˆhte ›in wil im niht versagn . . . ‹ do gedaˆhte meˆr diu künegıˆn . . . den vraˆgte Karnahkarnanz . . . der knappe fraˆgte fürbaz . . . luˆte rief der knappe saˆn . . . doˆ rief er luˆte sunder spot . . .
Ohne Redeeinleitung (unmittelbar nach indirekter Rede) (unmittelbar nach direkter Rede)
(nach vorangehendem Redebericht)
(nach vorangehenden Erzählversen)
117,24 119,18 123,7 126,9 128,11 121,5 125,6 127,13 123,28 124,6
›wan friesche daz mıˆns herzen truˆt . . . ‹ ›sun, ich sage dirz aˆne spot . . . ‹ ›daz tuot der künec Artuˆs . . . ‹ ›muoter, ich sach vier man . . . ‹ ›diz rich ich, muoter, ruocht es got . . . ‹ ›dirre tœrsche Waˆleise . . . ‹ ›zweˆne ritter unde ein magt . . . ‹ ›dune solt niht hinnen keˆren . . . ‹ ›mıˆner muoter juncfrouwen . . . ‹ ›nu sich, swer an mich strıˆtes gert . . . ‹
Die Erzählabschnitte, die wir nicht eingehend untersucht haben, mit denen die Redeeinleitungen zu vergleichen sind, werden aus der Sicht des Autors bzw. des Erzählers dargestellt, die nicht immer im Einklang mit der der Figuren ist. Die Rezipienten werden dadurch eventuell in ihrer Einschätzung der Charaktere gelenkt. Direkte Rede ist am wichtigsten für die Charakterisierung überhaupt. Dies gilt hier spezifisch für die direkte Rede von Parzival und Herzeloyde. Nur durch eine sorgfältige Analyse der direkten Rede, im Vergleich mit den Handlungen der Figuren und im Kontext der Erzählerkommentare, Redeeinleitungen und des Redeberichts, lässt sich die Komplexität der Charakterschilderung erklären. Direkte Rede gibt, wie wir gesehen haben, die ›genauen Worte‹ der
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Charaktere wieder, wenn auch diese manipuliert werden können, indem sie nur ausschnittweise vorgeführt werden bzw. nicht plausibel dargestellt werden. Charaktere zeigen nicht immer die angemessene Redeweise für ihr Alter, ihren Stand, ihr Bildungsniveau u. a. Auch wenn Charaktere Implausibilitäten in der direkten Rede aufweisen, so dass sie eher wie der Erzähler zu sprechen scheinen, gilt die Regel, dass der Sinn bzw. Inhalt der Aussage wahrheitsgemäß sein muss. Hinweise auf direkte Rede der Charaktere durch den Erzähler in einem späteren Kontext, die Verknüpfungen der Handlungen der Charaktere mit vorangegangener direkter Rede anstellen (vgl. z. B. 130,29 f.), sind nicht immer für absolut zuverlässig zu halten: die Handlungen der Charaktere müssen auch im Hinblick auf ihre Motivation mit den genauen Details der direkten Rede verglichen werden. Wenn direkte Rede unmittelbar auf indirekte folgt, wirkt sie ergänzend und erklärend. Einzelne Aspekte können hervorgehoben werden, wie in 117,24– 28. Kurze direkte Rede wirkt oft einprägsam, sowohl bei den Figuren in der Geschichte als auch bei den Rezipienten (vgl. 118,19 f.; 119,9 f.; 119,13 ff.; 119,17). Direkte Rede (oft von längerer Dauer) erlaubt den Rezipienten vornehmlich, die Charakterzüge und Emotionen der redenden Figuren unmittelbar zu erkennen. Besonders von Belang ist ihre Auswirkung auf das Handeln anderer, wie vornehmlich in den Lehr- und Informationsepisoden Herzeloydes (119,18–28 und 127,13–128,10). Durch die Lehren Herzeloydes erklärt sich das spätere Handeln Parzivals in der Begegnung mit Karnahkarnanz und den Rittern und im Zelt mit Jeschute usw., wie wir schon im Detail beobachtet haben. Auf diese Weise erscheint Herzeloyde teilweise in negativem Licht, was sogar vom Erzähler unterstrichen wird, wenn er auf die Verknüpfung der Handlung mit der Lehre aufmerksam macht; Parzivals Benehmen dagegen wird teilweise durch die mangelhafte Lehre entschuldigt. Jedoch lassen die Zweideutigkeit der Lehre, die auch teilweise positiv ausgelegt werden kann, und das Überschreiten des Wortlauts der Lehre durch Parzival Herzeloyde z. T. entschuldigen und Parzival teilweise belasten. An anderen Stellen sieht man durch die direkte Rede negative Charakterzüge, Gedanken oder Handlungen (wie z. B. Herzeloydes Pläne für Parzivals Rückkehr 129,22–29). Sowohl Parzivals tumpheit als auch seine Intelligenz werden durch die direkte Rede oft gezeigt. Vor allem die Intelligenz zeigt sich in Parzivals Fähigkeit, Dinge sofort zu begreifen und logisch zu denken. Dies führt aber gleichzeitig wegen seines eingeschränkten Lebenshorizonts zu Fehleinschätzungen und tumben Missverständnissen. Das letzte Wort zum Thema der Worte soll Parzival selbst haben, indem er eine alte alliterierende Redewendung verwendet,72 die auf die Wichtigkeit des verbalen Ausdrucks aufmerksam macht: 268,1 Merc diu wort, unt wis der werke ein wer.
72 Siehe dazu Karl Bartsch, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. 3 Bde. 4. Auflage, bearbeitet von Marta Marti (Deutsche Classiker des Mittelalters 9–11), Leipzig 1927/32, zur Stelle.
Vivianz, der reuige Schächer und das gute Sterben im ‘Willehalm’ Wolframs von Eschenbach von Martin H. Jones
In den zwei großen Schlachten, die Wolfram im ‘Willehalm’ darstellt, kommen Tausende von christlichen und sarazenischen Rittern ums Leben. Nur ein einziges Mal wird aber dem Hinscheiden eines Gefallenen eine Sterbeszene vorangestellt. Dass diese Auszeichnung gerade dem christlichen Ritter Vivianz zufällt, ist ohne weiteres gut zu verstehen: Als Neffe Willehalms ist Vivianz das prominenteste christliche Opfer der ersten Schlacht, auf Grund seines Märtyrertods wird er zum Symbol aller christlichen Gefallenen des ersten Kampfs, und sowohl vor als auch während der zweiten Schlacht wird die Rache für seinen Tod wiederholt als dominierendes Kampfmotiv angegeben. Dem Gedächtnis der epischen Figuren entfällt Vivianz nie; bei den Rezipienten soll er auch lebhaft in Erinnerung bleiben, wozu die ausführliche Schilderung seiner Sterbestunde wesentlich beiträgt. Über die Bedeutung hinaus, die der Darstellung von Vivianz’ Tod in erzählstrategischer Hinsicht zuzumessen ist, verdient seine Sterbeszene unsere Aufmerksamkeit vor allem, weil sie Einblicke in ein hervorstechendes Beispiel christlichen Sterbens gewährt. Im ‘Willehalm’ wird viel vom Tod und vom jenseitigen Schicksal der Gestorbenen gesprochen, aber allein in dieser Szene haben wir die Möglichkeit, die letzten Lebensstunden eines Christen im Detail zu verfolgen. Die Szene wird in der Sekundärliteratur oft erwähnt, ist aber selten eingehend behandelt worden. In der hier gebotenen Kürze wird es nicht möglich sein, allen Aspekten, die der näheren Betrachtung wert wären, nachzugehen, einige neue Erkenntnisse lassen sich aber hoffentlich durch die hier vorgelegte knappe Untersuchung der Szene gewinnen.
* Die Darstellung von Vivianz’ Kampf mit dem Tod erstreckt sich – mit Unterbrechungen – über mehrere hundert Verse, angefangen mit seiner tödlichen Verwundung in der Tjost mit Noupatris (v. 24,16–25).1 Trotz dieser Verletzung kämpft er weiter, bis Halzebier ihn endgültig außer Gefecht setzt (v. 46,24–29). Geleitet von dem Engel Kerubin verlässt Vivianz das Schlachtfeld und gelangt zu einer Quelle und einigen Bäumen, in deren Schatten er sich niederlegt.2 Auf 1 Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, ‘Willehalm’. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle (Bibliothek des Mittelalters 9), Frankfurt a. M. 1991. 2 Zum Schauplatz der Sterbeszene siehe John Greenfield, Vivianz. An Analysis of the
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seinen im Gebet geäußerten Wunsch, so lange am Leben bleiben zu dürfen, bis er Willehalm um Verzeihung bitten kann, sollte er sich in irgendeiner Weise gegen ihn vergangen haben, versichert ihm Kerubin, er werde seinen Onkel noch sehen (v. 49,15–26). Darauf fällt Vivianz in Ohnmacht. In diesem Zustand findet Willehalm ihn auf und ergeht sich in Klagen über den vermeintlich Toten, bis Vivianz ein Lebenszeichen von sich gibt. Damit beginnt Vivianz’ Sterbeszene (v. 65,1–69,16). Die Szene wird durch eine Erzählerbemerkung eingeführt, die uns daran erinnert, dass Vivianz’ Begegnung mit seinem Onkel vom Engel Kerubin verheißen wurde (als in der engel Keˆrubıˆn / troˆste an der selben stat, v. 65,8 f.). Vivianz ist durch diesen himmlischen Eingriff eine außerordentliche Gnade zuteil geworden, denn er kann dem Tod entgegensehen in der Zuversicht, dass er die Gelegenheit haben wird, sich zuvor mit den Mitmenschen zu versöhnen. Wie aus seinem Gebet (v. 49,15–22) hervorgeht, bewegt Vivianz ganz besonders die Sorge, er habe sich gegenüber seinem Onkel schlecht verhalten. Diese Sorge mag unbegründet sein, dennoch beschäftigt sie Vivianz vor allem anderen. Sie wird ihm durch Kerubin vertrieben, dessen Aufgabe es ist, seine Seele vor dem Teufel zu schützen – vor dem tievel nam der seˆle war / der erzengel Kerubıˆn (v. 49,10 f.). Willehalm eröffnet das Gespräch mit Vivianz, indem er drei Fragen stellt (v. 65,10–16): Hat Vivianz empfangen, womit seine Seele freudig vor den dreieinigen Gott treten kann? (D. h., hat er die letzte Kommunion, das Viatikum, empfangen?) Hat er gebeichtet? Hat ein Christ ihm Beistand geleistet? Die Fragen haben einen eindeutigen Zweck: Willehalm will feststellen, inwiefern Vivianz auf den kommenden Tod vorbereitet ist. Wie Erich Happ bemerkt, ist die »natürliche reihenfolge« der Fragen hier auf den Kopf gestellt,3 wobei man hinzufügen muss, dass »natürlich« im Sinne von ›im Einklang mit den kirchlichen Sterberiten‹ zu verstehen ist.4 In der Tat muss der letzten Kommunion die Beichte vorausgehen und beide setzen das Beisein eines Christen, normalerweise eines Priesters, voraus, der die Beichte hört, Buße erteilt und dem Sterbenden die Kommunion reicht. Ein weiteres Kernstück der Sterberiten – die Salbung – wird hier nicht erwähnt; das dürfte dadurch zu erklären sein, dass die Salbung der Priesterschaft vorbehalten war,5 während im Notfall ein Sterbender seine Beichte vor einem Laien ablegen und die Kommunion von einem Laien empfangen konnte.6
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Martyr Figure in Wolfram von Eschenbach’s ‘Willehalm’ and in his Old French Source Material (Erlanger Studien 95), Erlangen 1991, S. 140–143. Erich Happ, Kommentar zum zweiten Buch von Wolframs ‘Willehalm’, Diss. München 1966, S. 74. Zu den mittelalterlichen Sterberiten siehe Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 664–676; Frederick S. Paxton, Christianizing Death. The Creation of a Ritual Process in Early Medieval Europe, Ithaca / London 1990. Siehe Angenendt [Anm. 4], S. 667. Zur Laienbeichte, bei der die Bußerteilung und die Absolution notwendigerweise
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Die umgekehrte Reihenfolge der an Vivianz gestellten Fragen schreibt Happ »Willehalms überraschung und sein[em] staunen über das erwachen des totgeglaubten« zu,7 sie lässt sich aber vielleicht eher als eine für Willehalm bezeichnende Priorisierung verstehen. Höchste Priorität hat für Vivianz seine Beichte. Das Bekenntnis seiner sünden (v. 65,24), das Vivianz nun ablegt, fasst er als Vorbereitung für die letzte Etappe seines Lebensweges auf: herre und oeheim, ich wil jehen / uˆf die vart, dar ich keˆren muoz (v. 65,22 f.). Was ihm vor allem auf der Seele lastet, ist das Gefühl, sich nicht genügend erkenntlich gezeigt zu haben für die Fürsorge und Großzügigkeit, die ihm Willehalm und vor allem Giburc erwiesen haben. Dabei erinnert er an seine Schwertleite in Termis und an das Gelübde, das er damals ablegte, nie vor einem Sarazenen zu fliehen (v. 66,24– 67,2); in der Quelle, dem altfranzösischen ‘Aliscans’, spielt das Motiv des Gelübdes eine bedeutende Rolle, wird aber von Wolfram heruntergespielt: »Für Wolfram ist das Gelübde nur eine willkommene Gelegenheit, Vivianz’ kindliche Unschuld und Reinheit zu beleuchten.«8 In der Tat ist in Vivianz’ Beichte keine Spur von sündhaftem Verhalten im religiösen Sinne zu finden. Um das Publikum in die Bewertung der Beichte einzubeziehen, greift der Erzähler in diesem Augenblick mit der Frage ein, wie Willehalm auf das Bekenntnis einer so nichtigen Schuld anders hätte reagieren sollen als mit schmerzhafter Trauer (v. 67,3–7).9 Diese Meinung des Erzählers über die Gegenstandslosigkeit von Vivianz’ Selbstanklagen teilt Willehalm. In der Klage, in die er jetzt ausbricht, ist nirgends von einer Schuld, die auf Vivianz lastet, die Rede. Im Gegenteil, wenn Schuld hier vorliegt, ist sie Willehalm alleine zuzuschreiben: diu schulde ist von rehte mıˆn (v. 67,27). Er hätte seinen Neffen, so jung und unerfahren wie er noch war, nie in den Krieg führen sollen und ist selber für sein frühzeitiges Ableben verantwortlich: ich sol vor gote fortfallen, siehe Anton Sattler, Die religiösen Anschauungen Wolframs von Eschenbach (Grazer Studien zur deutschen Philologie 1), Graz 1895, S. 78–80; Hans-Joachim Koppitz, Wolframs Religiosität. Beobachtungen über das Verhältnis Wolframs von Eschenbach zur religiösen Tradition des Mittelalters (Abhandlungen zur Kunst-, Musik-, und Literaturwissenschaft 7), Bonn 1959, S. 314–316; Heinzle [Anm. 1], S. 886. Zur Spendung der Sterbekommunion durch Laien, deren Zulässigkeit umstritten war, siehe Peter Browe, Die Sterbekommunion im Altertum und Mittelalter, in: ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer (Vergessene Theologen 1), 4. Auflage, Berlin u. a. 2009, S. 115–172, hier S. 116–124; Angenendt [Anm. 4], S. 668. 7 Happ [Anm. 3], S. 74. 8 Joachim Bumke, Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit, Heidelberg 1959, S. 21, Anm. 24. Bei Wolfram flieht Vivianz nicht vor den Sarazenen (v. 41,10–16). Das Nötigste zu diesem Thema hat Bumke ebenda gesagt. 9 Die Wiedergabe des Ausdrucks soˆ kleine[r] schulde (v. 67,5) durch »so nichtige Schuld« ist der Übersetzung Heinzles entnommen. Zur Auffassung von kleine hier als Negation (»keine Schuld«) siehe Heinzle [Anm. 1], S. 887.
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gelten dich: / dich ensluoc hie niemen meˆr wan ich (v. 67,21 f.). Willehalm ist voller Selbstvorwürfe, aber er denkt nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch an das, was Vivianz unmittelbar bevorsteht, und daran, wie er ihm in den letzten Lebensminuten noch helfen kann. Willehalm rekurriert auf seine erste Frage an Vivianz, spricht aber jetzt ausführlicher über das Brot, das Vivianz als letzte Kommunion dienen soll: [...] ein broˆt, / daz guot ist vür der seˆle toˆt (v. 68,7 f.). Dieses Brot – so Willehalm – wird in Frankreich jeden Sonntag von den Priestern geweiht (v. 68,4 f.). Ob Wolfram seine Quelle missverstanden hat, wie verschiedentlich behauptet wurde, indem er den in ‘Aliscans’ mehrmals erwähnten pain als konsekrierte Hostie auffasste, wohingegen der französische Text pain im Sinne einer Eulogie gebraucht, d. h. gesegnetes (aber nicht konsekriertes) Brot, das nach der Messe an Nichtkommunizierende verteilt wird, ist für die Interpretation dieser Stelle unerheblich. »Wolfram denkt eindeutig an konsekriertes, in Christi Leib gewandeltes Brot (vgl. 68,23).«10 Willehalm teilt seinem Neffen jetzt mit, dass er in der Tasche eine Hostie trägt, die in einer in Paris gefeierten Messe geweiht und ihm von einem Abt gegeben wurde. Wie in der Quelle besteht eine Verbindung mit Sankt Germanus,11 aber beide Texte verschweigen die näheren Umstände der Übergabe der Hostie. Unklar ist auch, ob es zu Wolframs Zeit oder früher gebräuchlich war, für den Fall, dass man auf dem Schlachtfeld tödlich verwundet würde, eine konsekrierte Hostie bei sich zu tragen; aus Willehalms Frage, ob Vivianz eine Hostie bei sich hat (v. 68,4 f.), ist nicht ohne weiteres zu schließen, dass es allgemeiner Brauch war.12 Trotz dieser Ungewissheiten ist Willehalms Absicht ganz deutlich: Er will, dass Vivianz sich des Sakraments der Eucharistie bedient, um seine Seele auf der ihr bevorstehenden angstvollen Fahrt vor Gottes Richterstuhl zu schützen: daz enpfaˆch durh dıˆner seˆle heil! des geleites wirt si geil, ob si mit angest vür sol geˆn und ze urteile vor gote steˆn (v. 68,13–16). 10 Heinzle [Anm. 1], S. 888 mit weiterer Literatur. Ausführlich zur Geschichte der Eulogie im Mittelalter: Adolph Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 1, S. 230–262. Es ist allerdings nicht sicher, ob die Bedeutung von pain in ‘Aliscans’ so eindeutig festzustellen ist, wie oft behauptet wird; vgl. v. 851 f., wo vom wahren Leib Gottes gesprochen wird, mit v. 936 f. und v. 958 f. Zitierte Ausgabe: ‘Aliscans’, hg. von Claude Re´gnier, 2 Bde. (Les Classiques franc¸ais du moyen aˆge 110–111), Paris 1990. 11 ‘Aliscans’, v. 959; ‘Willehalm’, v. 68,10. 12 Eine detaillierte Übersicht über die Militärseelsorge im Früh- und Hochmittelalter bietet David S. Bachrach, Religion and the Conduct of War, c. 300–1215, Woodbridge 2003. Geistliche, die christliche Heere begleiteten, hatten unter anderem die Aufgabe, Sterbenden Beistand zu leisten und ihnen die letzte Kommunion zu reichen (siehe ebd., S. 59, 82, 96, 139); die Ausstattung einzelner Kämpfer mit einer Hostie zum Gebrauch als Viatikum ist aber nicht bezeugt.
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Erstaunlicherweise und im Gegensatz zu Vivien in ‘Aliscans’ ergreift Vivianz nicht sofort diese Gelegenheit, die Hostie zu empfangen.13 Er will vielmehr auf seine unschuldeclıˆch[e] Beichte (vergiht) vertrauen, die ihn aus diesem Leben in die himmlische Ruhe führen soll: mıˆn unschuldeclıˆch vergiht sol mir die seˆle leiten uˆz disen arbeiten, aldaˆ si ruowe vindet (v. 68,18–21).
Seit der Studie Karl Stackmanns wissen wir, dass das Adjektiv unschuldeclıˆch die Bedeutung »von Schuld reinigend« haben kann; das ergibt einen besseren Sinn als die bis dahin vorherrschende (und in sich problematische) Auffassung des Ausdrucks als »meine unschuldige Beichte«.14 Vivianz bleibt aber nicht bei seiner anfänglichen Position, er besinnt sich eines Besseren und verlangt nach der Hostie, dem Leib Christi: doch gebt mir sıˆnen lıˆchnamen her (v. 68,23). Vivianz nennt Jesus vorerst nicht, evoziert aber die Szene seiner Kreuzigung,15 zu deren Gedächtnis die Kommunion, die Vivianz jetzt begehrt, als Sakrament eingesetzt wurde und in der die christliche Hoffnung auf das Seelenheil gründet. Von den zahlreichen Personen, die bei der Kreuzigung eine Rolle spielten, erwähnt Vivianz nur zwei außer Jesus: den Soldaten, der Jesus einen Speer in die Seite stieß, und den reuigen Schächer, der neben Jesus gekreuzigt wurde. Der Soldat des Evangeliums (Joh 19,33 f.) verbirgt sich hinter dem Blinden, der Jesus mit einem Speerstoß tötete: des mennischeit von des blinden sper / starp [. . .] (v. 68,24 f.). Mit dieser Figur folgt Wolfram einer in der apokryphen Evangelienliteratur entstandenen und im Mittelalter weit verbreiteten Tradition, nach der der Soldat – entgegen dem Johannesevangelium16 – Jesus mit dem Speerstoß tötete, um seiner Qual ein Ende zu machen; in derselben Tradition war der Soldat blind, gewann aber das Sehvermögen wieder, als das Blut aus der Wunde Christi ihm in die Augen floss; seit dem apokryphen Nikodemus-Evangelium trug dieser blinde Soldat den Namen Longinus.17 Im Nikodemus-Evangelium erhielt auch der reuige Schächer zum ersten Mal einen Namen. Dismas ist die bekannteste Form, zu der Wolframs Tismas eine auch sonst bezeugte Variante darstellt.18 Im Übrigen beruht das, was Vivianz 13 Vivien begrüßt den ihm angebotenen pain eifrig: Dist Vivı¨ens: «Forment l’ai desirre´; / Or sai ge bien que Dex m’a visite´» (‘Aliscans’, v. 952 f.). 14 Karl Stackmann, mıˆn unschuldeclich vergiht. Ein lexikalisches Problem in Wolframs ‘Willehalm’, in: Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag, hg. von Alfred Ebenbauer (Philologica Germanica 7), Wien 1984, S. 462– 468. Die interpretatorischen Implikationen dieser neuen Auffassung werden unten diskutiert. 15 Happ [Anm. 3] beschreibt diese Evokation treffend als »eine in einzelheiten ausgeführte miniatur des todes Christi inmitten des gemäldes vom tod des Vivianz« (S. 90). 16 Siehe Erich Happ, Die Rechtfertigung des Longinus. Zu ‘Willehalm’ 303,26 f., in: Euphorion 58 (1964), S. 186–188. 17 Zur Longinuslegende siehe Happ [Anm. 3], S. 90–93 mit weiterer Literatur. 18 Über die Namensform siehe Happ [Anm. 3], S. 96.
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über den reuigen Schächer sagt, auf dem Bericht des Lukasevangeliums (23,39– 43), vornehmlich auf der Bitte des Schächers: »Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst«, und auf Jesu Antwort: »Ich sage dir die Wahrheit: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« In Vivianz’ Wiedergabe dieser Stelle bleibt dem Schächer wegen seiner Gemeinschaft mit Jesus am Kreuz die Hölle erspart: der gesellekeite Tismas / der helle nie bekorte (v. 68,26 f.).19 Jesus hörte seinen Ruf und verstand ihn als Zeugnis, dass der Schächer sich zu ihm bekannte; er rettete ihm die Seele: Jeˆsus an im wol hoˆrte, / daz in sıˆn wuoft erkande: / der seˆle noˆt er wande (v. 68,28–30). Vivianz will sich die Bitte des Tismas zu Eigen machen: nuˆ rüefe ouch ich den selben ruof (v. 69,1). Dieser Ruf richtet sich an seinen Schöpfer, der Vivianz die Kraft gegeben hatte, ihm im Kampf zu dienen (v. 69,2– 4). Ob Willehalm auf Vivianz’ Bitte eingeht, ihm jetzt mit einem Kuss zu vergeben, wenn er sich irgendwie gegen ihn vergangen habe, wird nicht berichtet. Es wurde aber vorhin schon deutlich, dass Willehalm seinen Neffen als frei von jeder Schuld ihm gegenüber betrachtet. Vivianz spürt, wie seine Seele davoneilt; Willehalm soll ihm ohne Verzug das Viatikum reichen, wenn er seiner Seele noch helfen will (v. 69,7–9). Sobald er die Hostie empfangen hat, stirbt Vivianz. Seine Beichte hatte er aber noch ablegen können, versichert der Erzähler: [. . .] sıˆn bıˆhte ergienc doch eˆ (v. 69,11). Als die Seele sich vom Leib trennt, verbreitet sich ein Wohlgeruch, der Geruch der Heiligkeit: sıˆn hinvart alsus geriet (v. 69,16).
* Sıˆn hinvart alsus geriet – aber was für eine hinvart ist das eigentlich? Was für ein Sterben hat Wolfram hier geschildert? In seinem ‘Willehalm’-Buch von 1959, das die erste ausführliche Interpretation der Szene vorlegte, vertritt Joachim Bumke einen eindeutigen Standpunkt:20 Wolfram habe Vivianz’ Tod durchaus als Märtyrertod gestaltet. Da er sein Leben für den christlichen Glauben opfere, erwarte Vivianz sein Ende mit der Zuversicht eines Märtyrers, dass »er nicht ze urteil vor gote geleitet wird, sondern ohne Gericht ins Paradies kommt«.21 Eine »fraglose Heilsgewißheit« erfülle ihn. In seiner Beichte wisse er keine Sünde zu nennen und betrachte seine unschuldeclıˆch vergiht als »Bürge für seine Erlösung«.22 Er empfange das konsekrierte Brot der bloßen Form wegen, nicht aus der Überzeugung, dass es ihm besonders nützen könne. Er »steht [...] über den kirchlichen Institutionen«, für ihn haben die Heilsmittel der Kirche (hier insbesondere die letzte Kommunion) »nur sekundäre Bedeutung«. 19 20 21 22
Zur Interpunktion und Deutung dieser Zeilen siehe Heinzle [Anm. 1], S. 889 f. Bumke [Anm. 8], S. 23–34. Dieses und die weiteren Zitate in diesem Absatz, Bumke [Anm. 8], S. 30 f. Bumke schrieb freilich ohne Kenntnis der Interpretation Stackmanns, die erst im Jahre 1984 erschien.
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Zur Bekräftigung dieses Standpunktes kann Bumke sich auf Aussagen berufen, die vor der Sterbeszene auf Vivianz’ Tod vorausdeuten und ihn als Martyrium hinstellen. Als Halzebier Vivianz niederstreckt, überlegt der Erzähler, wie er zu beklagen wäre: Er müsste erzählen, wie Vivianz sich für das Heil aller Christen opferte: wie Vıˆvıˆans, der lobes rıˆch / sich selben verkouft umb unseren segen (v. 48,10 f.), und er könnte sich darüber freuen, dass Vivianz durch seinen Tod der seˆle werdekeit erwarb (v. 48,30). Als Vivianz sich vom Schlachtfeld entfernt, wird er als der junge helt vor got erkant beschrieben (v. 49,1); seine Seele ist nicht zum ewigen Tod bestimmt: niht der seˆle veige (v. 49,3). Aus der Perspektive der Erzähl- und Vortragssituation ist Vivianz schon unter den Nothelfern im Himmel; jeder Ritter kann sich vor Gott auf sein Martyrium berufen, wenn er in Bedrängnis gerät: Vıˆvıˆans, der marter dıˆn / mac ieslıˆch rıˆter manen got, / swenn er sich selben siht in noˆt (v. 49,12–14). Neben diesen Aussagen, die sich ausschließlich auf Vivianz beziehen, gibt es vor und während der ersten Schlacht mehrere Hinweise auf das Schicksal aller christlichen Ritter, die dort sterben, auf ihr himmlisches Ziel und den ewigen Lohn, den sie erlangen. Kurz nachdem Vivianz in die Handlung eingeführt wird, hören wir, dass die vielen Christen, die an diesem Tag sterben, einen besonderen Glanz im Himmel entstehen lassen, wenn sie von Engeln dorthin gebracht werden (v. 14,8–11). Ihr Seelenheil ist sicher: ir saelekeit si weˆnic trouc, / die durh Willelm nuˆ striten (v. 14,12 f.). Vier prominente Christen fallen, erwerben aber großen Ruhm und sint nuˆ dort in dem pardıˆs (v. 14,28). Die Christen ziehen in den Kampf, um die stuol ze himel zu verdienen (v. 16,24); sie streben naˆch dem eˆweclıˆchem prıˆse (v. 19,28; vgl. unendeloˆsen solt, v. 31,13; den solt des eˆwigen lebens, v. 37,21; der seˆle sigenunft, v. 37,30). Die Gefallenen hören den Gesang der Engel, ze himele der engel klanc (v. 31,19); sie leiden den Tod des Körpers, gewinnen aber Frieden für die Seele: des lıˆbes toˆt, der seˆle vride / erwurben Franzoisaere daˆ (v. 32,6 f.). Alle diese Aussagen über den Tod des Vivianz und anderer christlicher Ritter stammen vom Erzähler, der damit einen Kernpunkt der Kreuzzugsideologie für die christlichen Teilnehmer am Konflikt auf einprägsame Weise geltend macht: Indem sie den Kampf gegen die Heiden aufnehmen, erklären sich die christlichen Ritter bereit, ihr Leben für ihren Gott, ihren Glauben und ihre Mitgläubigen zu opfern; wenn sie in diesem Kampf sterben, erlangen sie den Märtyrerstatus und haben die Gewissheit, unmittelbar in den Himmel aufgenommen zu werden.23 Dieser vom Erzähler beglaubigte Grundsatz dürfte die christlichen Ritter zur ›fraglosen Heilsgewißheit‹ im Angesicht des Todes berechtigen, und von Vivianz ist wohl zu erwarten, dass er mit der gelassenen Zuversicht, die Bumke ihm zuschreibt, dem Tod entgegensieht. 23 Vgl. Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6), Stuttgart 1935, S. 317; James A. Brundage, Medieval Canon Law and the Crusader, Madison u. a. 1969, S. 21–28; Christoph Maier, Crusade Propaganda and Ideology. Model Sermons for the Preaching of the Cross, Cambridge 2000, S. 59– 61; Bachrach [Anm. 12], S. 109–111, 117, 128, 148.
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Erste Zweifel an diesem Verständnis von Vivianz’ Sterben meldete Werner Schröder in seiner Besprechung von Bumkes Buch. Er findet »in den Worten des Sterbenden nichts von ›fragloser Heilsgewißheit‹«.24 Vivianz’ Tod mag zwar »als Martyrium stilisiert« sein, aber »es existiert nicht die geringste Andeutung, daß er ihn subjektiv als solches empfunden hätte«.25 Mit dieser Beobachtung eröffnete Schröder die Möglichkeit, dass man bei der Interpretation dieser Szene mit zwei verschiedenen Perspektiven zu rechnen hat. Hier setzte dann Stackmann in seinem oben zitierten Aufsatz an. Stackmann geht davon aus, dass es nötig ist, »mit Schröder einen stärkeren Unterschied zu machen zwischen der Deutung des Geschehens aus der Sicht des Erzählers und derjenigen aus der Sicht des redend auftretenden Helden«.26 In der Frage der Beichte des Vivianz – eine von Schuld reinigende, nicht schuldlose Beichte – kommt die Doppelung der Perspektive besonders zum Tragen: »Beim Hörer oder Leser kann keinen Augenblick die Meinung entstehen, Vivianz habe einen objektiven Grund für seine Beichte. Dafür hat Wolfram durch die ganze Führung der Erzählung gesorgt. Zugleich aber läßt er seiner Figur das subjektive Gefühl der Sündhaftigkeit.«27 Stackmann will die Interpretation Bumkes nicht aufheben, er schränkt sie aber insofern ein, als er sie mit nur einer der beiden Perspektiven identifiziert: »Objektiv, aus der Perspektive des Erzählers gesehen, beichtet hier wirklich ein Märtyrer, der seines Heils gewiß sein darf.«28 Aus der Perspektive des Vivianz dagegen geht es darum, sich vom Gefühl der Sündhaftigkeit zu befreien, weshalb er »vollkommen in Übereinstimmung mit den Lehren der mittelalterlichen Kirche«29 seine Beichte ablegt, um seiner Seele den Weg in den Himmel zu ebnen. Mit seiner Perspektivierung der Szene tut Stackmann gewiss einen bedeutenden Schritt über Bumke hinaus, aber man darf wohl fragen, ob er weit genug geht. Denn weder er noch Bumke stellt die Rolle der zweiten Figur in dieser Szene besonders in Rechnung. In Willehalm sind wir aber mit einer dritten Perspektive konfrontiert. Diese dritte Perspektive ist mit der letzten Kommunion und der Idee des guten Sterbens zu assoziieren. Willehalm führt das Thema ›Empfang des Viatikums‹ ganz konkret in Form der Hostie in die Szene ein, wichtiger ist natürlich, dass er Vivianz trotz seiner anfänglichen Indifferenz dazu bringt, das Viatikum zu empfangen. Mit dem Wunsch, Vivianz die letzte Kommunion zu reichen, bemüht sich Willehalm offensichtlich darum, die kirchlichen Sterberiten zugunsten seines Neffen zu vollziehen, so weit das unter den gegebenen Umständen möglich ist. Nachdem Vivianz gebeichtet hat, ist der Empfang der letzten Kommunion geboten. 24 25 26 27 28 29
Werner Schröder, in: Euphorion 55 (1961), S. 91–97, hier S. 92. Schröder [Anm. 24], S. 92. Stackmann [Anm. 14], S. 464. Stackmann [Anm. 14], S. 466. Stackmann [Anm. 14], S. 467. Stackmann [Anm. 14], S. 466.
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Warum ist es aber für Willehalm so wichtig, dass Vivianz die letzte Kommunion erhält? Er weiß doch, dass Vivianz einen Märtyrertod erleiden wird, der zur unmittelbaren Aufnahme in den Himmel führt. Er hat selber zum Katalog heilsversprechender Zusicherungen, die die christlichen Ritter in den Kampf begleiten, beigetragen: Vor der ersten Schlacht ermuntert Willehalm seine Ritter, um zwei Arten Lohn zu kämpfen: um die Liebe der Frauen, falls sie mit dem Leben davonkommen, und um den Engelgesang im Himmel, falls sie sterben (v. 16,25–17,2); vor der zweiten Schlacht wird er seine Truppen wieder mit ähnlichen Motiven anspornen und ihnen versichern, dass sie zu den zum Heil Erwählten gehören (v. 322,1–26). Aus diesen öffentlichen Ansprachen, die Willehalm als Heerführer hält, spricht ganz deutlich die Heilsgewissheit, die auf dem Martyriumsgedanken basiert, hier aber im Beisein seines sterbenden Neffen wird sie mit keinem Wort erwähnt. Statt sich auf das besondere Privileg des ritterlichen Märtyrers zu berufen, um Vivianz in seinen letzten Lebensminuten Zuversicht einzuflößen, drängt Willehalm darauf, dass die kirchlichen Heilsmittel, die für jedermann bereitgestellt sind, in Anspruch genommen werden – Vivianz soll ein gutes Sterben erleben. Der Standpunkt, den Willehalm vertritt, ist nicht einfach dadurch zu erklären, dass er sich als treuer Sohn der Kirche erweisen will, indem er die kirchlichen Vorschriften für das gute Sterben erfüllt. Im Vordergrund steht vielmehr für ihn der Gedanke an den Weg, den Vivianz jetzt gehen muss. In der Vorstellung Willehalms ist dieser Weg kein sorgenfreier Übergang in das Jenseits mit freudigem Empfang im Himmel, sondern eine gefahrvolle, angsterregende Fahrt zu einem Gericht, dessen Entscheidung über das ewige Schicksal der Seele noch aussteht (v. 68,13–16).30 Statt Heilsgewissheit kommen in Willehalms Worten im Angesicht des Todes Furcht und Ungewissheit zum Ausdruck.31 Das sind Emotionen, die mit dem Todeserlebnis immer verbunden sein können, und gerade weil sie aus diesem Erlebnis nicht wegzudenken sind, wurden die kirchlichen Sterberiten entworfen und in vielfachen Variationen über die Jahrhunderte tradiert.32 Bei allen Unterschieden im Einzelnen ist den Riten das Ziel gemeinsam, die mit dem Tod verbundenen Ängste zu mindern oder gar zu beseitigen, und in diesen Riten nimmt die letzte Kommunion eine Schlüsselrolle ein. »Gerade beim Sterben eine Stärkung und ›gute Wegspeise‹ mitzubekommen, ist von jeher ein Wunsch und eine Sehnsucht der Menschen gewesen. Für die Christen, die in der Eucharistie ›das Leben‹, das Leben der Seele und des Körpers sahen, lag es nahe, 30 Es sei an die Mehrdeutigkeit erinnert, die sowohl angest (v. 68,15) – Angst/Furcht und Gefahr/Bedrängnis – als auch geleite (v. 68,14) – Leitung und Schutz – inhärent ist. 31 ‘Willehalm’ gehört leider nicht zu den Quellen, die ausgewertet werden in Wolfgang Haubrichs, Emotionen vor dem Tode und ihre Ritualisierung, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten (Trends in Medieval Philology 1), Berlin / New York 2003, S. 70–97. 32 Vgl. Paxton [Anm. 4].
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mit ihr im Mund und Herz[en] die letzte Reise anzutreten und sich gegen die kommenden Gefahren zu schützen. Die Dämonen lauern ja der Seele auf, wenn sie aus dem Körper scheidet, und wollen sie in ihr Reich zwingen. Da war das Sakrament ein Schutz, ›ein treuer Reiseführer‹.«33 Genau in diesem Sinne will Willehalm, dass Vivianz nicht auf seinen Märtyrerstatus oder auf seine Beichte vertraut, sondern sich mit der Hostie, dem Leib Christi, wappnet. Dämonen, die der Seele auflauern, werden zwar von Willehalm nicht angesprochen, es darf aber daran erinnert werden, dass es dem Engel Kerubin aufgegeben war, Vivianz’ Seele vor dem Teufel zu schützen (v. 49,10 f.). Damals ging es darum, ihm die Sorge um seine Beichte zu vertreiben, die leicht zur Todsünde der Verzweiflung geführt hätte, wenn ihm das Treffen mit Willehalm nicht verheißen worden wäre. Indem Willehalm jetzt seinen Neffen dazu bringt, den Schutz der letzten Kommunion in Anspruch zu nehmen, vollendet er, so könnte man sagen, ein Werk, das Gott selber durch seinen Boten in Gang setzte, um Vivianz in seinen letzten Lebensminuten gegen die Anfechtungen des Teufels zu wappnen und ihm ein gutes Sterben zu sichern. Zum besseren Verständnis der Position, die Willehalm in der Sterbeszene einnimmt, darf man als Pendant dazu eine frühere Szene heranziehen, in der er, wie hier im Beisein seines Neffen, eher als Privatperson denn als repräsentative Figur auftritt. Als ihm klar wird, dass sein Heer fast total vernichtet und die Schlacht verloren ist, wendet er sich an Gott mit der Bitte, ihm den Trost zu geben, dass er über die Christen, die dort tot auf dem Feld liegen – swaz der getouften hie besteˆ – ein gnädiges Urteil sprechen wird – daz der dinc vor dir ergeˆ / aˆne urteillıˆchen kumber (v. 39,27–29). Willehalm bezeichnet sich im Anschluss daran als arm und tump – des ger ich armer tumber (v. 39,30). Egal wie man diese Selbstbezeichnung im Einzelnen interpretiert,34 ist es ganz deutlich, dass Willehalm weit davon entfernt ist, auf der Basis des Martyriums seiner Kameraden ihr Seelenheil als Selbstverständlichkeit anzusehen. Für Willehalm ist das Schicksal des Einzelnen im Jenseits in Unwissenheit gehüllt und der Weg dorthin ungewiss; deswegen betet er als Heerführer für seine gefallenen Ritter, deswegen drängt er als Onkel Vivianz, die Hostie als Schutz und »Reiseführer« auf dem Todesweg zu empfangen. Es ginge zu weit, wollte man Willehalm eine Skepsis gegenüber dem Martyriumsgedanken zuschreiben, aber der Standpunkt, den ihm Wolfram in der Sterbeszene zuweist, lässt eine Diskrepanz zwischen der Gewissheit und Unreflektiertheit, mit denen dieser Gedanke propagiert wird, und den Gegebenheiten 33 Browe [Anm. 6], S. 125. Das Zitat »ein treuer Reiseführer« ist der ‘Vita s. Brandani’ entnommen. 34 Dieter Kartschoke übersetzt ich armer tumber mit »ich armer, unwissender Mensch« (Wolfram von Eschenbach, ‘Willehalm’. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Völlig neubearbeitete Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, Berlin / New York 1989, S. 26), wohingegen Heinzle [Anm. 1] tump im Sinne von »hilflos« versteht und das Demutsvolle in Willehalms Haltung betont (S. 861 f.).
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des realen Todeserlebnisses durchblicken. Dass es eine solche Diskrepanz zwischen den öffentlichen Äußerungen eines Heerführers, der die Moral seiner Truppen vor dem Kampf zu stärken versucht, und seinen privaten Äußerungen geben kann, ist kaum verwunderlich.35 Aber in diesem Fall hebt sich die Perspektive Willehalms vor allem von der des Erzählers ab, dessen Kommentare den Grundton der Schlachtdarstellung bestimmen.36 Wenn das den Martyriumsgedanken in etwa relativiert und ihm etwas von seinem Glanz nimmt, dann wäre das natürlich keine Besonderheit in diesem Text, der viele Positionen, über die ein christlicher Konsens zu erwarten wäre, in Frage stellt und für den in Joachim Heinzles treffender Formulierung die »Darstellungsfigur der zwei Stimmen« charakeristisch ist.37 Willehalms Bemühungen um die letzte Kommunion lassen Vivianz anscheinend zunächst unberührt – er will noch auf seine (inzwischen abgelegte) Beichte vertrauen –, aber es tritt dann plötzlich ein Umschwung ein – er verlangt dringlich nach der Hostie. Zu diesem Gesinnungswandel wird kein Kommentar geliefert, aber aus dem Gedankengang, den Vivianz anschließend entwickelt, ist zumindest zu schließen, dass er auf den Rat seines Onkels doch gehört hat und sich weiter auf den Tod vorbereiten will. Das tut er auf seine eigene Art und Weise, indem er nicht nur die Hostie empfängt, sondern sich auch auf das Vorbild des Dismas beruft, mit dem er sich identifiziert und dessen am Kreuz gesprochene Worte er übernimmt. Zur Figur des reuigen Schächers kommt Vivianz über seine Evokation der Kreuzigungsszene, die völlig konsequent aus der Identifizierung der Hostie mit dem Leib Christi folgt (v. 68,23) und die ein weiteres Element der kirchlichen Sterberiten – die Kontemplation des Kreuzes – in die Szene einführt, wenn auch nur in der Imagination.38 Der stark komprimierte Hinweis auf das Mysterium der Kreuzigung, bei der Jesus in seiner menschlichen Natur starb, aber in seiner göttlichen Natur noch lebte (v. 68,24 f.), deutet situationsgerecht auf das Versprechen des ewigen Lebens hin. Es wird dabei auch auf den Gnadenakt angespielt, der zur Heilung und Bekehrung des blinden, des Longinus, führte, bevor Vivianz den Gnadenakt, der dem guten Schächer zuteil wurde, in Erinnerung ruft. 35 Vgl. Maier [Anm. 23], S. 61 f., der beobachtet, dass die Kreuzzugspredigten, die er untersucht, den möglichen Tod der Kreuzfahrer selten thematisieren. 36 Die Frage ist legitim, auch wenn sie wegen mangelnder Evidenz unbeantwortbar ist, wie es anderen christlichen Opfern der Schlacht auf Alischanz in der Todesstunde gegangen ist – was für ein Sterben haben diejenigen erlebt, die den Weg ins Jenseits, den Willehalm beschreibt, ohne die tröstlichen und stärkenden Heilsmittel der Kirche – Sterbebeistand, Beichte, Viatikum – gegangen sind? 37 Joachim Heinzle, Die Heiden als Kinder Gottes. Notiz zum ‘Willehalm’, in: ZfdA 123 (1994), S. 301–308, hier S. 306. 38 Vgl. Angenendt [Anm. 4]: »Eine gesonderte Bedeutung erhielt das Kreuz, das man seit dem Hochmittelalter [. . .] dem Sterbenden zur Betrachtung von Jesu Leid und Tod in die Hand gab oder vor Augen stellte« (S. 664).
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Die Frage, warum gerade Dismas als Vorbild genannt wird, hat in der Forschung wenig Beachtung gefunden.39 Das tertium comparationis zwischen Vivianz und Dismas sieht Bumke in ihrer Sündlosigkeit, Schröder dagegen in der Unbedingtheit ihres Glaubens, ohne dass diese Stellungnahmen näher begründet werden.40 Weiterführend ist Erhard Dorns Hinweis darauf, dass Dismas »das ganze Mittelalter hindurch [...] als eines der großen unverwechselbaren Vorbilder des reuigen und begnadigten Sünders« galt.41 Unter den Belegen, die Dorn dafür anführt, findet sich Vivianz’ Sterbeszene: »Auf Tismas, dessen Bitte bei Christus Erhörung fand, beruft sich auch der sterbende Vivianz [...], um so Hoffnung und Trost in seiner letzten Stunde zu gewinnen.«42 Insoweit noch ein subjektives Gefühl der Sündhaftigkeit auf Vivianz lastet – es ist nicht zu übersehen, dass er trotz seiner ihn von Schuld reinigenden Beichte Willehalm bittet, ihn als Zeichen der Vergebung zu küssen (69,5 f.) – könnte man schlussfolgern, dass sich Dismas bestens als Vorbild empfiehlt, auf das sich ein reuiger Vivianz in der Hoffnung auf Begnadigung beruft. Ob das den eigentlichen Kern der Sache trifft, ist aber zweifelhaft, denn weder in dem, was er über Dismas sagt, noch in dem, was er über sich selbst im Zusammenhang mit Dismas sagt, erwähnt Vivianz die Sündhaftigkeit. Dismas’ Glauben bezeugende Bitte an Jesus bewirkte, so Vivianz, dass ihm die Hölle erspart blieb und seine Seele gerettet wurde (v. 68,26–30). Vivianz will nun dieselbe Bitte an seinen Schöpfer richten, der ihn mit einer ›kampfbereiten Hand‹ ausstattete, damit er in seinem Dienst kämpfen konnte: nuˆ rüefe ouch ich den selben ruof hin ze dem, der mich geschuof und der mir werlıˆche hant in sıˆnem dienste gap bekant (v. 69,1– 4).
Vivianz stellt sich also als Gottesritter dar, der in den Fußstapfen Dismas’ den Weg in den Himmel gehen will. Dismas war die erste Frucht der Erlösung, der erste Mensch, dem auf Grund des Erlösungswerks Christi der direkte Zugang 39 Zur Figur des Dismas im weiteren Rahmen siehe: Jean Joseph Gaume, Histoire du bon larron, de´die´e au XIX e sie`cle, Paris 1868; Albert Bessie`res, Le Bon Larron Saint Dismas. Sa vie, sa mission d’apre`s les E´vangiles, les Apocryphes, les Pe`res et les Docteurs de l’E´glise, Paris 1937. Die ikonographische Darstellung von Dismas vor allem im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit behandelt Mitchell B. Merback, The Thief, the Cross and the Wheel. Pain and the Spectacle of Punishment in Medieval and Renaissance Europe, London 1999. Eine breit angelegte Studie über Dismas ist ein Desiderat der Forschung. 40 Bumke [Anm. 8], S. 30 f.; Schröder [Anm. 24], S. 92. Greenfield [Anm. 2] registriert diese Standpunkte ohne Kommentar und sieht in der Erwähnung von Dismas (wie auch von Longinus) lediglich den Wunsch, »to establish clearly a link between the death of this Christian soldier [d. h. Vivianz] and that of Christ« (S. 203). 41 Erhard Dorn, Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters (Medium Aevum. Philologische Studien 10), München 1967, S. 107. 42 Dorn [Anm. 41], S. 107, Anm. 10.
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zum Himmel gewährt wurde; das ist ein Privileg, das die Kirche im Rahmen des heiligen Krieges und der Kreuzzüge auf diejenigen, die im Glaubenskrieg sterben, übertrug. Dismas firmiert hier also nicht so sehr als reuiger Sünder denn als Vorläufer der christlichen Ritter, die ihr Leben im Dienst Gottes opfern und als Märtyrer unmittelbar in den Himmel gehen werden. Wie weit verbreitet dieser Gedanke war, ist unklar. In einer Musterpredigt, die er zum Gebrauch in der Kreuzzugswerbung verfasste, bringt aber der Franziskaner Gilbert von Tournai (ca. 1200–1284) den Gedanken auf den Punkt: Crux enim clavis est celi, que portas paradisi quinque milibus annorum clausas aperuit crucesignato et crucifixo bono latroni. Et eodem tempore duo beneficia immo tria Dominus exhibuit: nam paradisum patefecit, latronem primum ante omnes homines in ipsum introduxit et crucesignatis maximam spem dedit, quando cherubin custodientibus paradisum cum flammeo gladio latro paradysum intravit.43
Auch hier beruht die Assimilation von Rittern, die im Zeichen des Kreuzes sterben, an den guten Schächer nicht auf gemeinsamer bereuter Sündhaftigkeit,44 sondern darauf, dass die Kreuzigung Christi ihnen gemeinsam den Weg ins Paradies öffnete. Es liegt auf der Hand, dass an eine Beeinflussung Wolframs durch Gilbert (oder umgekehrt) nicht zu denken ist, wertvoll ist aber der Beweis, dass im Rahmen der mittelalterlichen Kreuzzugspropaganda der reuige Schächer Dismas in Gestalt eines Vorläufers der Kreuzfahrer, als Modell, das zur Teilnahme am Kreuzzug inspirieren sollte, herangezogen werden konnte. Indem Vivianz sich als Gottesritter mit Dismas identifiziert, wird der Martyriumsgedanke, auf den Willehalm ein relativierendes Licht geworfen hat, zum Schluss wieder zur Geltung gebracht. Das geht mit keiner Herabminderung der kirchlichen Heilsmittel einher. Im Gegenteil: dank des Eingriffs Willehalms empfängt Vivianz die letzte Kommunion und erlebt ein gutes Sterben, wie es sich jeder Christ nur wünschen könnte. Gleichzeitig stirbt er aber im Bewusstsein seines Status als ritterlicher Diener Gottes, der die Hoffnung auf eine privilegierte Aufnahme ins Jenseits hegen darf. Dass diese Hoffnung nicht unbegründet ist, beweist der Geruch der Heiligkeit, der sich bei Vivianz’ Hinscheiden verbreitet. 43 Maier [Anm. 23], Gilbert von Tournai, Sermo III , 20 (S. 208). Übersetzung von Maier (S. 209): »The cross is in fact the key to heaven, that opened the gates of paradise, which were closed for five thousand years, to the crusader and the good thief who was crucified [with Christ]. At that time God offered two or even three favours: he opened up paradise, he brought the thief into it first before all other people and he gave the greatest hope to crusaders when, while the cherubs guarded paradise with the sword of flames, the thief entered paradise.« Zu Gilbert von Tournai, der womöglich am ersten Kreuzzug des Königs Louis IX . teilnahm, siehe ebd., S. 10 f. Die Musterpredigt lässt sich nicht genau datieren. 44 In einer weiteren, von Maier edierten Musterpredigt liegt der Schwerpunkt eines Vergleichs zwischen Kreuzfahrern und dem reuigen Schächer in der Vergebung der Sünden; siehe Maier [Anm. 23], Eudes von Chaˆteauroux, Sermo IV , 13 (S. 164).
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In seiner Darstellung der letzten Lebensstunden des Vivianz inszeniert Wolfram das Zusammenspiel mehrerer einander zum Teil widerstreitender Perspektiven auf das Todeserlebnis. Die Szene gipfelt in einer Bestätigung jenes Kernpunktes der Kreuzzugsideologie, der dem christlichen Ritter den Lohn des unmittelbaren Eingangs in das ewige Leben verspricht, aber nicht ohne die menschlich-kreatürlichen Besorgnisse, die den Tod umgeben, auch in Rechnung zu ziehen. Vivianz’ Sterben ist somit, so könnte man sagen, eine hinvart auf echt Wolframsche Art. Ebenso Wolframisch wäre wohl auch der Gedanke, der eine weitere, bislang außer Acht gelassene Perspektive auf die Sterbeszene einbezieht, nämlich die Perspektive des Rezipienten oder vielmehr des den Text nochmals Rezipierenden. Denn wer den ganzen Text als Hörer oder Leser einmal aufgenommen hat, wird unweigerlich für die Frage der Heilsmöglichkeiten der Heiden sensibilisiert und wird wohl einen Sinn haben für die Ironie, die darin liegt, dass sich Vivianz in seinen allerletzten Lebensminuten auf das Vorbild eines Mannes beruft, der bis zu seinen allerletzten Lebensminuten ebenso heidnisch war wie die Sarazenen, bei deren Bekämpfung Vivianz sein Leben opfert.
Verlorene Erzählwelten Zum poetologischen Ort fragmentarischer Artusromane am Beispiel der Neufunde zu ‘Manuel und Amande’ von Wolfgang Achnitz
I. Zufall ist es vermutlich nicht, dass fragmentarische Werke und Texte des Mittelalters ausgerechnet zu einer Zeit verstärkt Forschungsgegenstand der Literatur- und Kulturwissenschaft werden, in der wir uns zunehmend daran gewöhnen, aus einem Überangebot medialer Reize nur noch häppchenweise und individuell das für uns Konsumierbare auszuwählen. Wachsenden Informationsmengen und neuartigen technischen Möglichkeiten verdanken wir veränderte Lese- und Rezeptionsweisen, die uns in die Lage versetzen, anders mit fragmentarisch Erhaltenem umzugehen, als es lediglich als zerstört, bruchstückhaft und defekt wahrzunehmen. Bei dem, was wir Lektüre nennen, geht es heute weniger um Entzifferung von ganzen Texten, als um die Zusammenstückelung von Fragmenten, mehr um Dezentration statt um Konzentration.1 Wir sind es inzwischen gewohnt, in einem unüberschaubar gewordenen Geflecht von Informationen auch elementarsten Teilchen vor dem Hintergrund, dem wir sie zuordnen, einen Sinn zuzuweisen. Fragmentarisch, oder besser lückenhaft, ist auch unser Bild von der mittelalterlichen Dichtung. Ganz abgesehen davon, dass wir über Produktion und Rezeption literarischer Werke erstaunlich wenig erfahren, weil dies in Schrift und Bild offenbar kaum für aufzeichnungswert befunden wurde, sind wir auch über den Bestand an volkssprachiger Dichtung im Mittelalter nur unzureichend informiert. Horst Brunner hat einmal zusammengestellt, von welchen Autoren und Werken wir auf indirekten Wegen Nachrichten besitzen, etwa weil sie in den Literaturexkursen erwähnt werden, ohne dass uns auch nur eine einzige Zeile erhalten wäre,2 und beinahe monatlich werden neue Textzeugen zu 1 Vgl. Ulrich Schmitz, ZAP und Sinn. Fragmentarische Textkonstitution durch überfordernde Medienrezeption, in: Textstrukturen im Medienwandel, hg. von Ernest W. B. Hess-Lüttich, Werner Holly und Ulrich Püschel (Forum angewandte Linguistik 29), Frankfurt / M., Berlin, Bern u. a. 2000, S. 11–29. 2 Horst Brunner, Dichter ohne Werk. Zu einer überlieferungsbedingten Grenze mittelalterlicher Literaturgeschichte (Mit einem Textanhang: Die Dichterkataloge des Konrad Nachtigall, des Valentin Voigt und des Hans Folz), in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geb., hg. von Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell (Texte und Textgeschichte 31), Tübingen 1989, S. 1–31.
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mittelalterlich-volkssprachigem Schrifttum entdeckt, zumeist als Einbandmakulatur aus Büchern der Frühen Neuzeit. Gerhard Eis hat dabei schon 1962 beobachtet, dass die Mehrzahl neu aufgefundener Bruchstücke aus bereits bekannten Dichtungen stammt, was darauf hinweist, dass der Verlust an Werken mittelalterlicher Literatur vermutlich nicht allzu hoch anzusetzen sein dürfte: »Wir kennen wahrscheinlich 96 bis 98% jener Literaturwerke, die entdeckbar sind«, denn die meisten neuen Bruchstücke gehören zu Werken, die sich bereits durch eine reiche Überlieferung auszeichnen.3 Seine These hingegen, dass die Mehrzahl der mittelalterlichen Überlieferungsträger verlorengegangen sei, dass wir für jedes erhaltene Manuskript mit tausenden von Verlusten zu rechnen haben, dürfte längst als widerlegt gelten, zumal sich ja auch auf dem Gebiet der Fragmentüberlieferung inzwischen zeigt, dass viele Neufunde zu bereits bekannten Codices gehören. Über die Präsenz und die Beliebtheit literarischer Werke sagt dies zumindest für das 12. und 13. Jahrhundert wenig, denn für die höfische und späthöfische Zeit haben wir darüber hinaus mit einer weitaus stärker mündlichen Rezeption zu rechnen, als es die relativ hohe Zahl erhaltener Handschriften suggeriert, die bekanntlich vorwiegend aus spätmittelalterlicher Zeit stammen. Möglicherweise sind viele Werke bei ihrer Anfertigung und in ihrem Entstehungsumfeld zunächst gar nicht aufgezeichnet, sondern vorwiegend mündlich tradiert worden, vielleicht mit Hilfe schriftlicher Gedächtnisstützen. In der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts mussten die Wege der schriftlichen Überlieferung vielleicht erst entstehen, von denen später so zahlreich erhaltene Werke wie der ‘Iwein’ oder der ‘Parzival’ profitierten.4 Auch für die hier anzuzeigenden und erstmals publizierten Fragmente gilt, dass sie nicht nur zu einem vor ihrer Entdeckung bereits bekannt gewesenen Werk gehören, sich mit den bisher bekannten Überlieferungsträgern dieses Werkes sogar teilweise überschneiden, sondern dass sie trotz ihres fragmentarischen Erhaltungszustandes aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein im 13. Jahrhundert zumindest mündlich vollständig bekanntes Werk verweisen. Die auf verschiedenen Pergamentblättern erhaltenen Verse sind Teil einer Erzählung über das Liebespaar Manuel und Amande, und bei dieser Erzählung handelt es sich wiederum um einen Teil der Gattungsgeschichte des Artusromans im Mittelalter. Die nachfolgenden Überlegungen und Untersuchungen gehen von der Annahme aus, dass sich durch den intensiven Blick auf die Teile auch unsere Sicht auf das Ganze, zu dem sie gehören, verändert, obwohl die Geschichte 3 Gerhard Eis, Vom Werden altdeutscher Dichtung. Literarhistorische Proportionen. Berlin 1962, S. 11. Vgl. dazu Friedrich Neumann, Literarhistorische Proportionen. Gedanken zu ›Arbeitshypothesen‹ von Gerhard Eis, in: PBB (Tüb.) 86 (1964), S. 83–106. 4 Vgl. dazu beispielsweise Wolfgang Achnitz, Die Bedeutung der Drei- und Vierreime für die Textgeschichte des ‘Erec’ Hartmanns von Aue, in: Editio 14 (2000), S. 130–143, oder Sonja Glauch, Zweimal ‘Erec’ am Anfang des deutschen Artusromans? Einige Folgerungen aus den neugefundenen Fragmenten, in: ZfdPh 128 (2009), S. 347–371.
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des deutschsprachigen Artusromans im Mittelalter längst geschrieben zu sein scheint. Nachdem seit Beginn des 19. Jahrhunderts alle Texte ediert, die Gattungsmerkmale einschließlich der Symbolstruktur beschrieben,5 und im Anschluss an die wegweisenden Arbeiten von Bernd Schirok, Peter Kern und Walter Haug seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die späteren Versromane vom Verdikt des Epigonentums befreit worden waren, entdeckte die Germanistische Mediävistik die rund zwölf vollständig erhaltenen Werke längst als Experimentierfeld für jedweden methodischen Neuansatz,6 bevor zuletzt, nach einer kurzen Pause, eine Phase der Neuedition vieler Werke einsetzte. Diese zwölf Artusromane gehören zum Kanon der deutschsprachigen Dichtung des Mittelalters und haben sich ihre Plätze in den Literaturgeschichten längst erobert. Doch selbst grundlegende Studien zur gut erforschten Gattung des paargereimten Artusromans vernachlässigen, dass ihren bekannten Vertretern von Hartmanns ‘Erec’ bis zum ‘Gauriel von Muntabel’ des Konrad von Stoffeln mindestens zehn weitere Werke an die Seite zu stellen sind, die nur fragmentarisch überliefert sind.7 Lägen auch sie vollständig vor, würden sich unsere Vorstellungen von der Entwicklung der Gattung wohl erheblich verändern, denn diese lebt ja wesentlich von der Intertextualität ihrer Erzählwelten: Wer einen Artusroman verfasst, schreibt seinen Helden in die bereits in voraufgehenden Werken konstituierte Welt ein, und er markiert, dass er und sein Held sich in dieser Welt auskennen. Anspielungen auf ältere Stoffe und Erzählungen sind geradezu ein gattungskonstituierendes Merkmal des mittelalterlichen Artusromans. Sie finden sich schon innerhalb der fünf Romane Chre´tiens, und deren 5 Hugo Kuhn, Erec, in: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Gewidmet zu ihrem 60. Geb., hg. von ihren Tübingern Schülern. Tübingen 1948, S. 122-147; Hans Fromm, Doppelweg, in: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur (Hugo Kuhn zum 60. Geburtstag), hg. von Ingeborg Glier u. a., Stuttgart 1969, S. 64–79. 6 Beeindruckend dokumentieren dies unter anderem die Tagungsbände der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft. Vgl. demnächst Wolfgang Achnitz, Einführung in die deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters (de Gruyter Studium), Berlin / New York, erscheint 2012. 7 Zusammenfassend nur Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur. Schlussband. Nachdruck der Ausgabe München 1935 (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen. Bd. 6, Teil 2, Abschnitt 2,2), München 1955 (u. ö.), S. 96–100; HansJochen Schiewer, Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 222–278, und Matthias Meyer, Intertextuality in the Later Thirteenth Century: Wigamur, Gauriel, Lohengrin and the Fragments of the Arthurian Romances, in: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature, hg. von William H. Jackson und Silvia Ranawake (Arthurian Literature in the Middle Ages), Cardiff 2000, S. 98–114.
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werkübergreifende Diskursebene übernehmen Hartmann und Wolfram mit ihren Übertragungen ins Deutsche. Um diesen Diskurs für eine Interpretation einzelner Werke fruchtbar zu machen, ist es aber notwendig, möglichst genaue Kenntnis der Erzählwelt zu besitzen, auf die er sich bezieht. Vielleicht ist so manche Stelle in den späthöfischen Artusromanen uns heute auch deshalb nicht verständlich, weil wir sie nicht als Verweis auf bestimmte Prätexte erkennen, die vollständig oder bis auf wenige Fragmente verloren sind. Als ›Fragment‹ soll hier ein zufällig entstandenes, d. h. kontingentes und nicht fingiertes, Bruchstück mittlerer Proportion und Größe gelten, das durch seine Bruchstellen auf eine spezifische (enigmatische) Weise auf ein ehemals Ganzes verweist. Zu unterscheiden sind fragmentarische Medien (ausgerissene oder zerschnittene Pergamentblätter), Texte (markiert durch syntaktisch unvollständige und abgebrochene Sätze sowie grammatische und narrative Vor- und Rückverweise, die ins Leere laufen) sowie Werke (Ausschnitte aus umfangreicheren Erzählungen, die auch oder sogar vorwiegend im Vortrag existierten).8 Zu den nur fragmentarisch und zumeist anonym erhaltenen Artusromanen zählen neben dem hier zu behandelnden ‘Manuel und Amande’ der mitteldeutsche ‘Erec’, der niederfränkische ‘Tristan’, der mittelfränkische ‘Parcheval’, ‘Der Mantel’, ‘Segremors’, ‘Edolanz’ und das Fragment aus Loccum, hinzu kommt der von Konrad Fleck und Ulrich von Türheim bearbeitete ‘Clige`s’. Daneben existieren weitere fragmentarische Werke aus dem 13. Jahrhundert, die zwar ebenfalls als Relikte vollständiger Werke gelten, aber entweder nicht zu den höfischen Versromanen zählen (wie ‘Der rheinische Merlin’ oder ‘Tirol und Fridebrant’ bzw. ‘König von Tirol’) oder keine unmittelbaren Hinweise auf eine Zugehörigkeit zum Stoffkreis der matie`re de Bretagne (mehr) enthalten, wie es bei ‘Abor und das Meerweib’, ‘Ainune’, ‘Blanschandin’ oder ‘Tybalt von Portimunt’ der Fall ist. Hinzu träten einige Erzählungen aus Ulrich Füetrers ‘Buch der Abenteuer’, wenn diese, wie bisweilen angenommen wird, auf uns nicht anders erhaltene Romane des 13. Jahrhunderts zurückgehen: der ‘Seifrid de Ardemont’, der ‘Persibein’, der ‘Poytislier’ und der ‘Flordimar’. Betrachtet man die Gruppe der höfischen Versromane unter Einbeziehung dieser und der nicht vollständig erhaltenen Werke, so verdoppelt sich die Anzahl der zwischen etwa 1185 und 1300 entstandenen Vertreter der Gattung ›Artusroman‹ nahezu. Diese verlorenen Dichtungen stammen aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet, aus dem oberdeutschen, bairisch-österreichischen, ebenso wie aus dem niederdeutschen, vor allem aber aus dem west- und ostmitteldeutschen Raum. Die geringe Beachtung, die diese Werke bislang gefunden haben, mag auch dadurch bedingt sein, dass die Germanistik sich lange Zeit ausschließlich auf die mittelalterliche Dichtung des oberdeutschen Sprachraums konzentriert hat. 8 Vgl. den Tagungsband: Fragmentarität als Problem der Kultur-, Kunst- und Textwissenschaften, hg. von Kay Malcher, Katharina Philipowski und Antje Sablotny (Mittelalter-Studien), München 2011.
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II. Der Versroman ‘Manuel und Amande’, um den es im folgenden geht, könnte nach Stil und Reimtechnik bereits im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden sein, auch wenn sich in ihm einige Wörter finden, die den Wörterbüchern zufolge sonst erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, etwa bei Konrad von Würzburg, belegt sind. Da ein stilistischer Einfluss der Werke Konrads auf ‘Manuel und Amande’ aber sonst nicht feststellbar ist, kann es durchaus sein, dass in all diesen Fällen jeweils ‘Manuel und Amande’ die ältesten Belege bietet. Die Basis solcher Überlegungen ist aber eine gründliche Auswertung der fragmentarisch erhaltenen Medien. Insgesamt sind heute in mehreren Bruchstücken zweier verschiedener Textzeugen über fünfhundert Verse dieser paargereimten Erzählung erhalten, davon sind 66 Verse sogar doppelt überliefert. Die Bruchstücke des einen Textzeugen verwahrt das Konventarchiv des Franziskanerklosters in Schwaz/Tirol (Lade O, Frag. germ. 1). Dabei handelt es sich um ein Einzelblatt [=A1] und drei Doppelblätter [=A3/4], die wohl von P. Gerold Bickel (1880–1896 Professor am Gymnasium in Hall, † 1916 in Bozen) oder von dem Historiker und Provinzarchivar P. Max Straganz (ab 1890 Professor am Gymnasium in Hall, † 1936 ebd.) gefunden und 1882 von Oswald Zingerle publiziert wurden, sowie um ein weiteres, erst später aufgefundenes Einzelblatt [=A2] aus demselben Codex, welches Hans-Hugo Steinhoff 1984 bekannt machte.9 Die Pergamenthandschrift aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts ist nur 150 × 110 mm groß und weist damit ein für die Überlieferung von Versepik eher ungewöhnliches Kleinformat auf, das sich sonst vor allem bei Gebets- und Andachtsbüchern findet (vgl. Abb. 1– 4).10 Der Schriftraum misst nur 102 × 65 mm bei meist 20 einspaltig abgesetzten Versen pro Seite (A3 enthält fol. 2v nur 18, A4 fol. 6v nur 14 Zeilen), durchgehend von der Hand eines Schreibers. Die Anfangsbuchstaben der jeweiligen Anverse eines Reimpaares sind als Majuskeln ausgeführt und vor die 9 Oswald Zingerle, Manuel und Amande. Bruchstücke eines Artusromans, in: ZfdA 26 (1882), S. 297–307 (wieder abgedruckt bei Heinrich Meyer-Benfey, Mittelhochdeutsche Übungsstücke. Halle / S. 1909, S. 151–154 [2. Aufl. 1920, S. 160–163]); HansHugo Steinhoff, Ein neues Fragment von ‘Manuel und Amande’, in: ZfdA 113 (1984), S. 242–245. 10 Schiewer [Anm. 7] verzeichnet mit der ‘Wigalois’-Handschrift K (Nr. 52) nur ein weiteres Manuskript zum Artusroman (aus etwa derselben Zeit und demselben Sprachraum), das ähnlich kleinformatig (140 × 110 mm) und einspaltig mit abgesetzten Versen eingerichtet ist, Gisela Kornrumpf macht mich auf die ‘Iwein’-Handschrift B aus dem 2. Viertel des 13. Jh.s aufmerksam, die bei 26 Versen pro Seite eine Blattgröße von weniger als 130 × 90 mm aufweist (Gießen, UB , Hs. 97). Kleinformatige Gebetbücher mit mehr als 200 Blättern verzeichnet beispielsweise Peter Ochsenbein, Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400, in: Deutsche Handschriften 1100–1400 [Anm. 7], S. 379–398; vgl. Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea 115), Tübingen 2008, S. 75 f. und S. 257–278.
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Zeile ausgerückt (das ist bei Schiewer [Anm. 7] der ›Anlagetyp‹ C). Zweizeilige Initialen sind abwechselnd rot (A1 v. 13, A3 v. 39 und 111, A4 v. 5) und blau (A2 v. 13, A3 v. 3 und 61),11 daneben findet sich eine langgestreckte rote J-Initiale über fünf Zeilen hinweg (und weiter bis unter den Schriftspiegel) mit einfachen, ehemals blauen Fleuronne´e-Verzierungen (A2 v. 37), für die der Schreiber keinen Freiraum gelassen hatte (Abb. 2). Ihre größere Ausdehnung außerhalb des Schriftspiegels dürfte durch die Form des Buchstabens bedingt sein. Die Schreibsprache ist nordbairisch-ostfränkisch und weist in die Gegend nördlich von Nürnberg als Ort der Niederschrift. Überliefern A1 40 und A3/4 232 Verse, bietet das Einzelblatt A2 nur 20 Verse auf seiner Rückseite (Abb. 2), während seine Vorderseite bis auf vereinzelte Majuskeln zu Versbeginn sowie eine blaue E-Initiale, die auf der Rückseite durchscheint, vollständig abgerieben und damit unleserlich ist.12 Das Einzelblatt A1 diente als Umschlag für einen Kölner Druck im DuodezFormat aus dem Jahr 1615: Expositio F. Hieronymi A Politio Siculi, Generalis Ordinis Fratrum Minorum Cappuccinorum. Cum dubiis excussis in Regulam Seraphici Patriarchae S. Francisci eiusdem Ordinis Fundatoris. Editio tertia ... Coloniae Agrippinae Apud Ioannem Kinckium, sub Monoc. Anno M.DC.XV (=VD17 23:241318N). Das Blatt A2 klebte ebenfalls auf dem Einband eines Kölner Druckes im Duodez-Format, welcher das Werk ‘De frequenti communione libellus cum dialogo’ des Luis de Granada enthält: Lodoici Granatensis, De freqventi communione libellus cum dialogo. Item Hieronymi Cacciaguerrae de eadem frequenti communione Libri III. Colonia. Apud Godefridum Kempensem. M. D.LXXXVI (= VD16 L 3225). Steinhoffs Angabe, dass dieser Band von 1586 »in Schwaz heute nicht mehr nachweisbar« sei,13 ist zu korrigieren, denn er befindet sich nach Auskunft von Bruder Simon unter der Signatur R5/13–007 wie die anderen Trägerbände weiterhin im Bestand der Klosterbibliothek, der er auch durch die kopfstehend auf dem Fragment angebrachte ältere Signatur 11 Im roten Fleuronne´e-Stab der A-Initiale in A3 (v. 3) finden sich links neben dem Schriftkörper fünf senkrecht angeordnete, kassettenartige Quadrate mit jeweils einem hineingezeichneten Ornament, wie sie seit dem 2. Viertel des 14. Jh.s in Erscheinung treten. Falls es sich dabei um Buchstaben handelt, könnte sich die Folge A – C – O [?] – C – A ergeben; in diesem Fall wären die Zeichen wohl weder mit der Entstehungssituation des Textes (Autor, Auftraggeber usw.) noch mit der Handlung des Romans, sondern eher mit der Anfertigung des Manuskripts in Zusammenhang zu bringen (s. Abb. 1). 12 Zu den misslungenen Versuchen, die Fragmente mit Chemikalien zu behandeln, vgl. die Anmerkung bei Zingerle [Anm. 9], S. 300. 13 Steinhoff [Anm. 9], S. 242. Zingerle und Steinhoff bedanken sich bei P. Gerold Bickel und P. Siegfried Staudinger; ich bin P. Simon Maria Czerwenka OFM aus dem Konventarchiv im Kloster Schwaz für Digitalfotografien und geduldige Auskünfte zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus danke ich Rudolf Gamper (St. Gallen), Gisela Kornrumpf (München), Margit Krenn (Frankfurt), Martin Roland (Wien) und Christine Sauer (Nürnberg) für Korrekturen und Hinweise.
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L.Pc.s4 zugeordnet werden kann. Die Doppelblätter A3/4 schließlich dienten als Einbandumschläge der drei kleinformatigen Bände der Predigtsammlung ‘Agricultura Spiritualis, Oder Geistliches Feldtbaw / Das ist: Sonn-Tag-Predigen’ von Franz Settelin, gedruckt als Bd. 1, 2 und 8 in Salzburg zwischen 1676 und 1686 (= VD17 12:639754V).14 Mit Schiewer ist davon auszugehen, dass die kontinuierliche Makulierung ein und derselben ‘Manuel und Amande’-Handschrift im Oktav-Format für drei zu verschiedenen Zeiten gedruckte Duodez-Bände direkt in der Klosterbibliothek zu Schwaz vorgenommen worden sein muss, was dann natürlich nicht vor dem Erscheinen des jüngsten Druckes im Jahr 1686 geschehen sein kann. Reste einer zweiten Handschrift [=B1/2] sind heute im Besitz der Kantonsbibliothek Vadiana in St. Gallen (VadSlg Ms. 462a, Fragment 1). Es handelt sich um zwei schmalere und zwei höhere Querstreifen aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts, die zu einem Pergamentdoppelblatt gehören, welches unter minimalem Textverlust zerschnitten worden ist. Die ursprüngliche Blattgröße betrug mindestens 190 × 141 mm, die Größe des mit Tinte vorliniierten Schriftraums beträgt etwa 165 × 108 mm. Die Seiten sind zweispaltig zu je 32 Zeilen mit abgesetzten Versen pro Spalte eingerichtet (Abb. 5 und 6). Zu Versbeginn finden sich abwechselnd rubrizierte Majuskeln und nichtrubrizierte Minuskeln (auch wenn dieses Prinzip bisweilen in Vergessenheit gerät),15 außerdem gelegentlich zweizeilige rote Initialen mit blauen Schmuckelementen (B1 v. 41, 71, 89, 117, B2 v. 23, 63, 87, 107), zu Beginn des Doppelblattes einmal eine blaue B-Initiale mit rotem Schmuck (B1 v. 1). Die Fragmente stammen aus demselben Trägerband wie die ältesten Fragmente (G) von des Pleiers ‘Tandarios und Flordibel’, aufgrund ihrer Größe, ähnlichen Einrichtung und derselben Schreibsprache möglicherweise sogar aus demselben Manuskript, aber, wegen einiger individuell verschiedener Buchstabenformen, wohl von einem anderen Schreiber.16 14 Vgl. Schiewer [Anm. 7], S. 238, mit leicht zu korrigierenden Angaben. Zu den Beständen vgl. jetzt auch Nathanael Busch und P. Oliver Ruggenthaler OFM , Handschriftenfunde im Franziskanerkloster Schwaz / Tirol, in: ZfdA 139 (2010), S. 299–307. 15 Das entspricht Schiewers Typ D, der innerhalb der Artusromane sonst nur noch in der Fragmentüberlieferung zu Konrads von Stoffeln ‘Gauriel von Muntabel’ (M und m) und in der zu Pleiers ‘Tandarios und Flordibel’ (Fragment D) nachzuweisen ist, vgl. Schiewer [Anm. 7], S. 243 mit Anm. 85; darüber hinaus weist mich Gisela Kornrumpf auf das alem. Fragment w zu Gottfrieds ‘Tristan’ vom Anfang des 14. Jh.s hin (Wien, ÖNB , Cod. 2707, Bl. II ). 16 Briefliche Mitteilung von Dr. Karin Schneider (München) vom 28. 08. 2007. Vgl. Wolfgang Achnitz, Die ältesten Fragmente zu ‘Tandarios und Flordibel’, in: ZfdA 138 (2009), S. 185–196 (dort ist S. 186 die irrtümliche Angabe »3. Drittel des 14. Jh.s« zu »2. Drittel des 14. Jh.s« zu korrigieren). Bei dem Trägerband, dem Ms. 462 der St. Gallener Kantonsbibliothek Vadiana, handelt es sich um eine Papierhandschrift aus dem 3. Viertel des 15. Jh.s mit 255 Blättern. Er enthält in mitteldeutscher Schreibsprache ‘Das Buch der Beispiele der alten Weisen’ in der frühneuhochdeutschen Bearbeitung des Geistlichen Anton von Pforr und wurde vermutlich im Umfeld des
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Dennoch sind auch sie dem fränkisch-bairischen Grenzgebiet zuzuordnen und dürften ebenso in der Gegend zwischen Nürnberg und Würzburg entstanden sein wie die Bruchstücke A. Dort darf man vielleicht auch den Verfasser von ‘Manuel und Amande’ vermuten (siehe dazu unten). Da die beiden Hälften des Doppelblattes B1/2 keinen fortlaufenden Text bieten, fehlen zwischen ihnen weitere Blätter. Auf fol. 1r befindet sich oberhalb des Schriftspiegels der rechten Spalte der abgeschnittene Rest eines Eintrags: Es könnte sich dabei um den unteren Rand einer römischen Zahl handeln (XII?), die möglicherweise auf eine Kapitel-, Blatt- oder Lagenzählung im ursprünglichen Codex verweist. Wenn es sich um eine Lagenzählung handelt, dann läge uns in B wohl das äußere Doppelblatt mit dem Beginn und dem Ende einer Lage vor. Dazwischen könnten also (etwa zur Bildung eines Quinternios) vier weitere Doppelblätter fehlen, was bei 32 Versen pro Spalte dem Verlust von 1024 Versen entspräche. Geht man nach dem Vergleich mit A davon aus, dass höchstens eine weitere Lage folgte, und rechnet man auf dieser Basis hypothetisch einen Gesamtumfang aus (13 Lagen zu je 1280 Versen), dann ergäbe sich für den ehemals vollständigen Roman eine Größenordnung von 16 640 Versen. Wenn die abgeschnittene Zahl auf eine (später angebrachte) Blattzählung verweist, dann fehlen vorweg elf Blätter und es liegt mit der ersten Hälfte (B1) des St. Gallener Doppelblattes eine Passage aus dem Anfangsteil des Romans vor (nach etwa 1408 Versen). Nach B1 fehlen dann etwa drei oder vier weitere Doppelblätter (mit weiteren 768–1024 Versen), dann folgt die zweite Hälfte des Doppelblattes B2 (das wäre dann Blatt XIX oder XX ), mit dessen Ende wir uns dann etwa bei den Versen 2400 bis 2700 des Romans befinden. In diesen Bereich gehört dann die Überschneidung mit A1/A2, während A3 und A4 Text vom Ende des Romans mit dem Epilog überliefern. In diesem Fall fehlt zwischen A1/A2 und A3/4 also der größte Teil des Romans mit unkalkulierbarem Umfang.
III. Nach dieser Auswertung der Medien in bezug darauf, was die Fragmente über das ehemals Ganze aussagen, sind nun die in ihnen fragmentarisch erhaltenen Texte zu beschreiben. Insgesamt enthält B heute noch 256 (zum Teil verstümmelte) Verse. Diese stimmen im Bereich der vv. B2 1–26 mit den vv. 15– 40 aus A1 und im Bereich der vv. B2 47–66 mit den vv. 21– 40 aus A2 überein, woraus sich schließen lässt, dass sich auf der heute nahezu unleserlichen Vorderseite von A2 die 20 Verse von B2 27– 46 befunden haben müssen: Die neuen Fragmente erweisen somit erstmals die alten als zusammengehörig, und das Erhaltene kann demzufolge nun in die nachstehende Reihenfolge gebracht werden: Heidelberger Hofes angefertigt. Der ursprüngliche, zeitgenössische Rindsledereinband, der innen mit den ausgelösten Fragmenten verstärkt war, deutet auf eine Zweckbestimmung als Reiselektüre hin.
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B1, v. 1–128
* Lücke unbestimmter Größe, etwa 3– 4 Doppelblätter (768–1024 Verse) * A1, v. 1–14 v. 1–26 = A1, v. 15– 40 v. 27– 46 = A2, v. 1–20 (unlesbare Vorderseite) v. 47–66 = A2, v. 21– 40 (Rückseite) v. 67–128 * Lücke unbestimmter Größe * A3, v. 1–118 * Lücke unbestimmter Größe: etwa ein Blatt oder Doppelblatt (40 bzw. 80 Verse) * A4, v. 1–114. B2, B2, B2, B2,
Nach dieser erst durch die Neufunde erkennbaren Reihenfolge stellt sich der Inhalt der überlieferten Passagen wie folgt dar: In B1 bedankt sich eine Königin, bei der es sich um Ginover handeln dürfte, bei einem Mann namens Blier17 für die von ihm geleistete Hilfe, indem sie ihm für das Abwenden ihres Kummers Lohn (mite) anbietet. Sie kündigt die Ankunft Amandes an und bittet die Anwesenden darum, der Ankommenden gegenüber ihren Unmut darüber zu verheimlichen, dass ausgerechnet einer ihrer Vasallen Amandes Freund ( fridel) ist. Nachdem Amande eingetroffen ist, begleitet diese die Königin und ihr Gefolge nach Karidol, wo ein so freudenreiches Fest stattfindet, dass jedem dort selbst der Liebeskummer verfliegt. Während dessen macht sich Herr Jonas mit dem Pferd (von dort aus?) auf den Weg zu Manuel, den die Sehnsucht nach seiner Geliebten quält. Er trifft ihn in Traurigkeit versunken vor seinem Zelt. Jonas weist ihn auf die fröhlich stimmende Schönheit der Natur hin und fragt Manuel angesichts der vielen schönen Frauen, unter denen er doch die freie Wahl (die vrien wele) habe, nach seinem Kummer. Manuel bedauert, nicht die selbenkure, die freie Entscheidung, darüber zu haben, in wen er sich verliebt, und er klagt darüber, sich gerade auf der absteigenden Seite des Rades der Fortuna zu befinden, während Jonas obenauf sitze. 17 Der sonst nicht bekannte Name erinnert entfernt an den Artusritter Plıˆopleherıˆn aus Hartmanns ‘Erec’ (v. 1651 Bliobleherim), der im ‘Iwein’ von Meljaganz (v. 4705) und in Wolframs ‘Parzival’ von Orilus besiegt wird (v. 134,28 Plihopliherıˆ). In der ‘Croˆne’ erscheint dieser als Bleos von Blieriers (v. 2304), in Chre´tiens ‘Erec’ als Bliobleheris, Blioberis (v. 1714). Bei dem ‘Perceval’-Fortsetzer Gauchier de Dourdan ist Blihos Bleheris ein Ritter, der von Gawein besiegt und an den Artushof geschickt wird, wo er sich als geschickter conteur erweist – auch Blier wird von der Königin gleich zu Beginn des Fragments für seine geschickte Sprachverwendung gerühmt: ›Blier‹, sprach die kunigin, / ›din zunge muze geret sin, / Die ie daz beste gerne sprach. / [. . .] man inkonde an allen buchen / Bezzers nicht han irlesen (v. 1–11). Im ‘Wigamur’ tritt der Artusritter Plıˆopleerin (von Aratuˆn) auf (v. 2064 u. ö.), der von Wigamur besiegt wird, vgl. A Catalogue of Names of Persons in the German Court epics [. . .] by Frank W. Chandler. Ed. with an Introduction and an Appendix by Martin H. Jones (King’s College London Medieval Studies Series 8), London 1992, S. 54.
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Im Anschluss an die erste Lücke berichtet in A1/A2 und B2 ein Ritter, bei dem es sich um Manuel handeln könnte, im Gespräch mit einer Dame von seiner Geliebten, die wie Arznei (Tyriacke) seine Wunden heile. Im Dienst dieser Dame will er (erfolgreicher als der König von Navarre) eine erlittene Schmach rächen, und erhält von ihr dafür eine Gewandschnur als cleinote. Als Ginover hinzutritt, verabschiedet er sich und trifft auf Jonas, den er mit den am kommenden mittewochen öffentlich bevorstehenden Anschuldigungen der Dame konfrontiert, ihr die triuwe gebrochen zu haben, und als partiere (‘Betrüger’) bezeichnet. Jonas nimmt die Herausforderung an, und beide verabreden sich für ein (wohl am folgenden Tag stattfindendes) Turnier. Am Ende von B bittet Manuel König Artus, noch immer im Vorfeld des eigentlichen Turniers (vesperie), um eine Tjoste, die dieser ihm nicht verwehren kann. Insgesamt haben sie neun Speere gegeneinander verstochen, als Fragment B2 abbricht. Nach einer weiteren, in ihrer Größe nicht bestimmbaren Lücke überliefern die ersten sechs Seiten der hier als A3 bezeichneten Doppelblätter dann den Schluss der Erzählung: Mit minnenclicher samenvnge werden Manuel von Griechenland und die spanische Königstochter Amande zueinander geführt. Der Artushof sendet Boten in die Heimatländer des Brautpaares, um zur Hochzeit nach Karidol einzuladen. Amandes Vater reist aus Spanien an, und Manuel führt abschließend seine Braut heim nach Griechenland, wo beide bis an ihr seliges Ende mit grozen vrevden leben. Mit dem Abschluss der Narratio beginnt in A3 mit v. 61 der umfangreiche Epilog zu diesem Werk, der zunächst vom späteren Tod des Königs Artus und von den Gerüchten um seine von manchen erwartete Wiederkehr nach 25 Jahren erzählt, von der daz buch berichte. Der Erzähler teilt mit, dass er noch viele Geschichten von diesem wunderere erzählen könne, wenn ihn nur jemand darum bäte: ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme (v. 88 f.). Hans-Jochen Schiewer sieht darin zu Recht einen »Hinweis auf die vorlagenunabhängige Verfügbarkeit des Artusstoffes und die fast unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten« der dichterischen Gestaltung.18 Die verwendete Metapher erinnert einerseits an Gottfrieds von Straßburg Bild vom Baum der Dichtung, an den Heinrich von Veldeke als erster einen deutschsprachigen Zweig gepfropft habe (‘Tristan’, v. 4589– 4974), andererseits weist sie voraus auf Ulrich Füetrers ‘Buch der Abenteuer’, in der die Erzählungen vom Gral als Stamm der Sage und die einzelnen Artusromanstoffe als Zweige dieses Stamms beschrieben werden.19 In ‘Manuel und Amande’ verweist die Metapher darüber hinaus auf eine Selbstreflexion des Autors, der sich mit diesem Bild seines Erzählers in die Tradition der Gattung stellt und zugleich um weitere Aufträge wirbt. 18 Schiewer [Anm. 7], S. 225. 19 Vgl. Hans-Joachim Behr, Von der aventiure zum abenteur. Überlegungen zum Wandel des Artusromans in Ulrich Füetrers ‘Buch der Abenteuer’, in: IASL 11 (1986), S. 1–21.
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Der Epilog fährt fort damit, dass es ebenso viele Gerüchte wie Geschichten auch um das Ende des Königs Artus gebe, und manche würden sogar behaupten, die Wahrheit darüber zu kennen. Es folgen drei fragmentarische, syntaktisch unvollständige und daher rätselhafte Verse (116–118), die offensichtlich auf die Frühgeschichte des Artusstoffs anspielen: ein visch wurde vf gerizzen, / Des der kvnic sere engalt, / als ein katze gestalt.20 Nach ihnen fehlt mindestens ein Blatt (= 40 Verse), vermutlich sogar mindestens ein Doppelblatt (= 80 Verse) im Inneren der Lage. Die sechs Schlussseiten von A4 führen den Epilog fort, setzen mit einem Lob der eˆre ein (swer ere minnet der ist wis) und beklagen dann den Tod der Königin (Ginover): Sie sei, nachdem sie elf Jahre lang vergebens auf die Wiederkehr des Königs Artus gewartet habe, später vor Kummer an gebrochenem Herzen gestorben und zu St. David begraben worden.21 Jeder, der etwas über Artus, Ginover und die Tafelrunde wisse, möge sich deren Normen und Werte zum Maßstab nehmen:
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swer den akker wil er ieten Von allem vnkrvte wilde, der neme artuses bilde Vnde an sinem reinen wibe. man sol in disem libe Nach gelucke niht leben.
Am Schicksal der Tafelrunde lasse sich nämlich die Armseligkeit der Welt, aber auch ihre ordenvnge, ablesen. Das Exempel von König Artus und seiner Gattin sei daher als ein spigel für alle tugendhaften Männer und Frauen gedacht, die steter minne phlegen (A4 v. 51). Abschließend folgt eine Reihe von Sentenzen, in denen die rechte Art und Weise thematisiert wird, auf die man die Liebe einer Frau erringen und bewahren sollte.22 Für zwei Sentenzen über gute Freundschaft beruft sich der Erzähler auf Seneca sowie auf Tullius (Cicero) – von 20 Zum Kampf des Königs mit der Katze, der u. a. im afrz. ‘Livre d’Artus’ erzählt wird, vgl. ausführlich Emile Freymond, Artus’ Kampf mit dem Katzenungetüm. Eine Episode der Vulgata des ‘Livre d’Artus’, die Sage und ihre Lokalisierung in Savoyen, in: Beiträge zur Romanischen Philologie. Festgabe für Gustav Gröber, hg. von Philipp August Becker, Dietrich Behrens u. a., Halle / Saale 1899, S. 311–396; Walter Haug, Das Mosaik von Otranto. Darstellung, Deutung und Bilddokumentation, Wiesbaden 1977, S. 31–35. 21 Die Kathedrale von St. Davids in der walisischen Grafschaft Pembrokeshire, an die Zingerle [Anm. 9, S. 298] dachte, gehört zu den ältesten Anlagen dieser Art in Großbritannien. Es dürfte hier aber wohl eher das Kloster Glastonbury gemeint sein, in dem man seit 1191 behauptete, das Grab des Königs Artus und seiner Gemahlin entdeckt zu haben: Das Kloster besaß einen Erweiterungsbau, der nach Wilhelm von Malmesbury vom Waliser Schutzheiligen David gestiftet worden sein soll. 22 Vgl. zu ihnen den Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, 13 Bde., Berlin / New York 1995–2002 (z. B. Lachen 2.4 oder Liebe 2.2.1).
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beiden sind mit ‘De amicitia’ und ‘Laelius de amicitia’ einschlägige Schriften schon im Mittelalter weithin bekannt, in denen sich ähnliche Formulierungen finden.23 Das Textende greift noch einmal den freien Willen (mhd. selpküre) aus dem Gespräch zwischen Jonas und Manuel auf: ein ietslich hertze daz wil ie Haben ein frie selpkvre. tusent libe man verlvre 105 E man daz hertze vber strite daz ez die selpkvre vermite.
Der Erzähler beendet das Werk mit dem Wunsch, dass er denjenigen, der seine Frau mit schlechten Sachen (argen dingen) zur Gegenliebe bewegen kann, stets als seinen man (Vasallen) an seiner Seite wissen möchte – vermutlich handelt es sich dabei um Wortspiele mit der komplexen Semantik sowohl von mhd. arc als auch von man. IV. Von diesen Beobachtungen zu den überlieferten Texten ausgehend, lässt sich nun einiges über das nur fragmentarisch erhaltene Werk aussagen. Nach nur 14 (statt wie sonst meist 20) Versen blieb etwa ein Drittel der letzten Seite unbeschrieben. Man darf daher annehmen, dass der Schluss von ‘Manuel und Amande’ vollständig erhalten ist. Obwohl die kleinformatige Oktavhandschrift A nur eine begrenzte Anzahl von Blättern umfasst haben kann, ist wegen des sehr ausführlichen Epilogs wohl von einem recht umfangreichen Werk auszugehen. Im Anschluss an Oswald Zingerle schließt Edward Schröder zwar einen Artusroman »größern Umfangs von vornherein aus«, spekuliert über einen historischen Roman und spricht schließlich von einer »historischen Novelle«.24 Tatsächlich aber wäre es ganz einzigartig, wenn die Protagonisten eines Minneund Aventiureromans ihr Hochzeitsfest am Hof des König Artus begehen würden. Das kleine Format spricht jedenfalls nicht gegen die Annahme, dass es sich bei ‘Manuel und Amande’ um Bruchstücke eines längeren Artusromans handelt: Bei nur 40 Zeilen pro Blatt hätten 10 000 bis 12 000 Verse (das entspricht dem Umfang von ‘Erec’, ‘Iwein’ oder ‘Wigalois’) etwa 250 bis 300 Blätter gefüllt, die 23 Grundlegend dazu Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (MTU 90), München 1988, und speziell ders., Seneca d. J., Lucius Annaeus, in: 2VL Bd. 8 (1992), Sp. 1080–1099; Peter Ochsenbein, Der wise heidenische meister Seneca sprichet. Seneca-Dicta in der deutschen Literatur des Spätmittelalters, in: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen, hg. von Kaspar Elm (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), Wiesbaden 2000, S. 25–37; Christoph Fasbender, Et non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur. Kleine Gebrauchsgeschichte eines Seneca-Zitats. Antrittsvorlesung Universität Chemnitz 2010 [im Druck]. 24 Edward Schröder, Manuel und Amande, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (Jg. 1925), phil.-hist. Klasse, Berlin 1926, S. 166–168.
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sich auf etwa 30 bis 35 Quaternionen verteilen konnten, was buchtechnisch kein Problem darstellt. Falls es sich bei den oben erwähnten Resten einer römischen Zahl in B um eine XII handelt und diese auf eine Lagenzählung verweist, dann hätte ‘Manuel und Amande’ dort, geht man durchgängig von Quaternionen oder von Quinternionen aus, wohl etwa 13 300 bis 16 600 Verse umfasst. Für einen solchen Umfang – auch Pleiers ‘Tandarios’ besteht beispielsweise aus rund 18 350 Versen – wäre für die kleinformatige Handschrift A darüber hinaus eine Aufteilung auf mehrere Oktavbände vorstellbar. Und wenn im Inneren der Lagen von A3/4 tatsächlich noch e´in Doppelblatt mit 80 Versen fehlt, bestünde der Epilog aus rund 250 Versen (der kurze Epilog zum ‘Tandarios’ besteht aus 36 Versen) und wäre damit für einen höfischen Versroman ungewöhnlich lang: Auch dies spricht dafür, dass das Werk nicht zu den kürzeren Artusromanen gehörte. Trotz der Liebesthematik und der Einbeziehung mediterraner Orte und Länder und trotz des anzunehmenden Umfangs handelt es sich bei ‘Manuel und Amande’ aber wohl kaum um einen sogenannten Minne- und Aventiureroman in den Bahnen des pseudo-historischen Romans, den Konrad Fleck mit ‘Flore und Blanscheflur’ und Rudolf von Ems mit dem ‘Wilhelm von Orlens’ in der deutschsprachigen Dichtung begründet hatten,25 sondern um einen Artusroman in der Nachfolge von Chre´tiens ‘Clige`s’, der ja ebenfalls in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt worden war. Für die von Gaston Paris geäußerte Vermutung, es habe für ‘Manuel und Amande’ eine französische Vorlage gegeben, ließ sich bislang, trotz einer Berufung des Erzählers auf daz buch als Quelle (A3 v. 73), kein Beleg beibringen.26 Vermutlich gehört diese Angabe, die sich ohnehin nur auf die vermeintliche Wiederkehr des Königs Artus bezieht, daher zu den im höfischen Versroman weit verbreiteten, topischen Quellenfiktionen. Geht man davon aus, dass ‘Manuel und Amande’ auch sonst nach den dort geltenden poetologischen Konventionen gestaltet ist, dann lassen sich über den erhaltenen Text hinaus einige Vermutungen über den Inhalt der verlorenen Handlung anstellen. Am Ende kehrt Manuel, dessen Name auf einen griechischen Herrscher des 12. Jahrhunderts verweist, mit seiner Ehefrau, bei der es sich um die Tochter des Königs von Spanien handelt, zurück nach Griechenland, in das Königreich seines Vaters.27 Von dort dürfte er also zuvor auch an den Artushof gekommen 25 So mit Teilen der älteren Forschung Steinhoff [Anm. 9], S. 244. 26 Gaston Paris, Manuel et Amande, in: Histoire litte´raire de la France 30 (1888), S. 218– 220. Zu dem dort gegebenen Hinweis auf Ulrichs von dem Türlin ‘Arabel’ (um 1261/69), in der in den Versen 255 ff. die Geschichte von Prinel (= Manuel?) und Amande(r) erwähnt wird, in der auch ein Ritter Junalet (= Jonas?) vorkommt, vgl. auch Paul Gerhardt Beyer, Die mitteldeutschen Segremorsfragmente. Untersuchung und Ausgabe, Marburg 1909, S. 119–121. 27 Das Interesse des deutschsprachigen Publikums an Griechenland ist keineswegs so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint: Immerhin hat Berta von Sulzbach, die
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sein, ebenso wie Amande aus ihrer Heimat. Schon Chre´tien, der in seinen fünf Versromanen mit dem Erzählen an den Rändern der neuen Gattung experimentiert, führt in seinem zweiten Artusroman gleich zwei aus Griechenland stammende Helden ein, die nach Britannien reisen, um den Artushof aufzusuchen: Alexander, der ältere von zwei Söhnen des Kaisers von Griechenland und Konstantinopel, zieht mit zwölf adligen Jünglingen über das Meer nach Großbritannien, um am Artushof Ruhm und Ritterschlag zu erwerben. Als er König Artus auf einer Reise in die Bretagne begleitet, verliebt er sich dort in Soredamors mit dem goldenen Haar, die Schwester Gauvains. Beide heiraten und bekommen einen Sohn, der auf den Namen Clige`s getauft wird. In Konstantinopel, wo der legitime Thronerbe Alexander als verschollen gilt, ist inzwischen Alis, der jüngere Sohn, nach dem Tod seines Vaters zum Kaiser gekrönt worden. Als Alexander in die Heimat zurückkehrt und alles aufklärt, verpflichtet sich Alis, unverheiratet zu bleiben, damit der Thron später an seinen Neffen Clige`s fallen und die reguläre Erbfolge wieder hergestellt werden kann. Nach dem überraschenden Tod Alexanders bricht Alis sein Versprechen und wirbt um Fenice, die Tochter des deutschen Kaisers, die eigentlich bereits dem Herzog von Sachsen versprochen war. Auf einer Fahrt nach Köln steht ihm Clige`s als Brautwerber zur Seite und Fenice ist sich sofort sicher, dass dieser der für sie bestimmte Mann ist. Sie besorgt sich von ihrer Erzieherin Thessala einen Zaubertrank, mit dem sie ihren Ehemann nachts von sich fernhält. Der Trank bewirkt, dass Alis glaubt, Fenice in seinen Armen zu halten, während er in Wahrheit bewegungsunfähig neben ihr liegt. Auf der Rückreise rettet Clige`s die junge Frau aus der Gewalt des Herzogs von Sachsen, den er im Zweikampf besiegt. Bevor Clige`s Konstantinopel wieder verlässt, um am Artushof Abenteuer zu erleben, gesteht er Fenice seine Liebe. In England beteiligt er sich dann unerkannt an einem viertägigen Turnier in Oxford, wobei der Kampf gegen seinen Onkel Gauvain unentschieden bleibt, weil Artus ihn abbricht. Schließlich kehrt der von Sehnsucht geplagte Clige`s zu Fenice zurück. Diese setzt sich lange gegen seine Bemühungen zur Wehr, weil sie nicht das Schicksal Isoldes erleiden will, willigt dann aber ein, mit ihm zu fliehen. Sie verständigen sich heimlich darüber, dass Fenice durch einen Trank in einen leblosen Zustand versetzt wird, so dass man sie für tot hält und in einem Mausoleum beisetzt, aus dem Clige`s sie befreit. Gemeinsam fliehen beide an einen geheimen Ort, an dem sie einige Monate in großer Liebe zusammen leben. Als ein Ritter sie dort zufällig entdeckt und dem Kaiser darüber berichtet, entziehen sie sich der Verfolgung und fliehen an den Artushof, von dem sie sich Unterstützung erhoffen. In Britannien aber erfahren sie, dass Alis inzwischen vor Zorn und Schmerz Schwägerin des Stauferkönigs Konrad III ., 1146 in Konstantinopel den griechischen Kaiser Manuel I. Komnenos (1118–1180) geheiratet, und diese dynastische Verbindung wurde durch die Heirat von Manuels Nichte Theodora mit Konrads Neffen Heinrich von Babenberg 1148 noch verstärkt.
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gestorben ist, so dass der griechische Thron frei ist. Clige`s wird nach Konstantinopel zurückgerufen und dort gekrönt. Einer Heirat mit Fenice steht nun ebenfalls nichts mehr im Weg. V. Unter Einbeziehung des kaum beachteten ‘Manuel und Amande’ sind schließlich auch die Vorstellungen zu modifizieren, die sich die Germanistische Mediävistik bislang von Inhalt und Entwicklung der Gattung ›Artusroman‹ gemacht hat. Schon mit seinem zweiten Werk nach ‘Erec et Enide’ erweitert der Gattungsbegründer die Topographie der arthurischen Welt in Britannien um mediterrane Schauplätze (was gewiss in einem Zusammenhang mit den Ausführungen über die translatio studii im Prolog steht),28 und dieses Erzählmodell ist mit der Übertragung des Romans durch Konrad Fleck seit Beginn des 13. Jahrhunderts auch in der deutschsprachigen Dichtung präsent. Dieses Muster aufgreifend erzählt rund hundert Jahre nach Chre´tien noch der Pleier in seinem an die Struktur des spätantiken Liebes- und Abenteuerromans angelehnten Werk die Geschichte des Knappen Tandarios, einem Verwandten von König Artus und Königin Ginover, der an der Tafelrunde zum Ritter heranwachsen will, und der aus Indien an den Artushof gekommenen Prinzessin Flordibel, die sich schon als Kinder ineinander verlieben. Nach ihrer Flucht vom Artushof und der anschließenden Befreiung der Prinzessin trennt König Artus das junge Paar, weil er das Ansehen Flordibels zu schützen versprach, aber nach einer komplexen und ausführlich erzählten Trennungshandlung, in deren Mitte sich der Held mit dem König aussöhnt, finden beide doch noch zueinander. Weil er glaubt, dass Tandarios nicht widerstehen kann und sich an der Tafelrunde einfindet, lässt Artus in der Hoffnung auf dessen Teilnahme jeden Monat ein Turnier ausrichten. Tandarios, der zur selben Zeit von Kandalion im Hungerturm Malmort gefangengehalten wird, kann mit der Unterstützung von Kandalions Schwester an dreien dieser Turniere anonym als schwarzer, roter und weißer Ritter teilnehmen, wobei er anschließend jeweils unbemerkt nach Malmort zurückkehrt. Nachdem Flordibel in dem roten Ritter längst ihren Geliebten erkannte, wird Tandarios an den Artushof geführt und man überlässt ihm die Wahl, welche der ihm begegneten Frauen er denn nun heiraten möchte (v. 16124–16346). Im Einvernehmen mit dem Artushof wählt er natürlich Flordibel und tritt mit ihr abschließend die Herrschaft in seiner neuen Heimat Malmontan an. Am Schluss der Handlung hat Tandarios demnach, was Manuel sich wünscht, nämlich die freie Wahl (selpküre) zwischen gleich drei verschiedenen Frauen. Noch an anderen Stellen mag der Pleier, der auch sonst »jede sich bietende 28 Vgl. zusammenfassend Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung (Germanistische Einführungen), 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 91–117.
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Gelegenheit« ergreift, »stereotype Erzählelemente des Artusromans einzufügen und auf diese Weise die Fabel mit gattungsüblichen Motiven zu durchsetzen«,29 dem älteren ‘Manuel und Amande’ manches entnommen haben. Im Zentrum seiner nur fragmentarisch erhaltenen Handlung hat vermutlich ebenfalls die Liebe zwischen dem am Artushof befindlichen Paar Manuel und Amande gestanden; der Epilog und insbesondere die zahlreich darin enthaltenen Sentenzen legen nahe, dass es dabei unter anderem um männliches Misstrauen gegenüber der Verlässlich- und Beständigkeit (triuwe) der eigenen Frau ging – und zwar möglicherweise sowohl bei Manuel und Amande als auch bei Artus und Ginover (z. B. A4 v. 77–82). Am Ende wird das Königspaar vielleicht gerade wegen einer solchermaßen überstandenen Krise als das perfekte Vorbild präsentiert: swer den akker wil er ieten / Von allem vnkrvte wilde, / der neme artuses bilde / Vnde an sinem reinem wibe (A4 v. 42– 45). Auch die nachfolgende Sentenz greift auf die fragmentarisch überlieferte Handlung zurück: Die Empfehlung, man sol in disem libe / Nach gelucke niht leben (A4 v. 46 f.), verweist auf die in den Versen B1 v. 122–128 verwendete Metapher vom Rad der Fortuna, der auch in anderen Artusromanen der Zeit, zum Beispiel in der ‘Croˆne’ Heinrichs von dem Türlin oder in Wirnts von Grafenberg ‘Wigalois’, eine gewichtige Rolle zukommt. VI. Schon Oswald Zingerle vermutete »Mitteldeutschland als Heimat« von ‘Manuel und Amande’, und auch nach Edward Schröder weist die Sprache in das Rheinfränkische.30 Für eine solche Bestimmung ist die Schreibsprache der Überlieferungsträger methodisch unerheblich. Aussagen über die mundartliche Herkunft des Verfassers lassen sich allein aufgrund der Reimgrammatik treffen, und bei deren Untersuchung stellt man fest, dass die weitaus meisten der über 200 Reimpaare nahezu keine dialektale Färbung aufweisen, sondern der seit Ende des 12. Jahrhunderts verwendeten höfischen Dichtersprache entsprechen, der mit ihrer Mischung von alemannischem und fränkischem Lautstand vielleicht die Verkehrssprache des alemannisch-fränkischen, staufischen Adels zugrunde liegt. Nur an wenigen Stellen finden sich überhaupt Abweichungen vom Prinzip des reinen Reims nach dem Lautstand des normalisierten Mittelhochdeutschen. Auffallend sind in dieser Hinsicht lediglich die Reime von mhd. /e/ : /e¨/ ( phert : swe¨rt B1 89 f., vielleicht auch verschemen : ne¨men B2 25 f. bzw.˙ A1 39 f.),˙ die, ˙ wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, auf das Mitteldeutsche verweisen, 29 Peter Kern, Die Artusromane des Pleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation (Philologische Studien und Quellen 100), Berlin 1981, S. 223 (auf den S. 217–221 vergleicht Kern den Handlungsverlauf des ‘Tandarios’ ausführlich mit dem des ‘Wilhelm von Orlens’ des Rudolf von Ems). 30 Zingerle [Anm. 9], S. 298; Schröder [Anm. 24], S. 167; ebenso Hans-Hugo Steinhoff, ‘Manuel und Amande’, in: 2VL Bd. 5 (1985), Sp. 1225–1226.
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ebenso wie der Reim ich richen (1. Sg. Präs. zu rechen) : beswichen (Part. Prät. zu beswıˆchen ›betrügen‹) in B2 19 f. bzw. A1 33 f., der allerdings auch im (West-) Alemannischen vorstellbar ist. Und schließlich finden sich noch das eher mitteldeutsche saˆn statt saˆ im Reim auf staˆn (A3 47 f.), das allerdings auch Wolfram von Eschenbach und Wirnt von Grafenberg im Ostfränkischen verwenden, sowie das vorwiegend mitteldeutsche, aber ebenfalls auch bei Wirnt anzutreffende Adverb al(be)gater ›insgesamt‹ (A3 23).31 Aus der Reimgrammatik lassen sich somit kaum eindeutige Erkenntnisse über die sprachliche Herkunft des anonymen Dichters gewinnen. Nur wenige Indizien, in denen sich Elemente des Alemannischen mit denen des Fränkischen und des Mitteldeutschen mischen, verweisen auf den mitteldeutsch-oberdeutschen Grenzbereich. Es fällt jedoch auf, dass beide Überlieferungsträger, die Fragmente in Schwaz ebenso wie die in St. Gallen, etwa in der Mitte des 14. Jahrhunderts in derselben Schreibsprache aufgezeichnet wurden, einem Mischprodukt, welches auf das Grenzgebiet zwischen dem fränkischen, dem nordalemannischen (schwäbischen) und dem bairischen Sprachraum verweist, mithin auf die Gegend zwischen Nürnberg, Heilbronn und Würzburg.32 Im Dreieck dieser Städte erstreckt sich heute zwischen Kocher, Tauber und Jagst die Hohenloher Ebene, die seit dem 12. Jahrhundert das Herrschaftszentrum der edelfreien Herren von Hohenlohe bildet. Diese sind seit 1178 im Besitz der namengebenden Burg Hohlach bei Uffenheim, welche die Handelsstraße Augsburg-Frankfurt kontrollierte. Aufgestiegen im Gefolge der Staufer, erwarben sie 1232/35 Langenburg, um 1250 Öhringen (Grablege), nach 1300 auch Waldenburg, Möckmühl und Neuenstein. Trotz mächtiger Nachbarn, mehrfacher Erbteilungen und Schenkungen, besonders an den Deutschen Orden, beherrschten die Hohenloher ausgangs des Mittelalters ein beträchtliches Territorium und wurden 1450 in den Reichsgrafenstand erhoben.33 Auch im 13. und 14. Jahrhundert verfügten sie bereits über 31 In den Versen B1 69 f. reimen möglicherweise -ære : -eˆre aufeinander, allerdings ist dort der Text nur sehr lückenhaft und unsicher zu entziffern (auch möglich ist we¨re : seˆre oder ähnliches); in B1 121 f. reimt begriffen auf geslichen, wobei es sich vermutlich um einen Schreiberfehler handelt und begriffen : (abe) gesliffen ›(hinunter) gefallen, sinkend hinab bewegt‹ heißen muss. 32 Dort entstand in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s übrigens auch der anonym überlieferte ‘Wigamur’, vgl. Wigamur. Kritische Edition – Übersetzung – Kommentar, hg. von Nathanael Busch. Berlin / New York 2009, S. 1 f. 33 Alfred Wendehorst, Hohenlohe, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991) Sp. 82; Karl Weller, Geschichte des Hauses Hohenlohe Bd. 1, Stuttgart 1903; Gerhard Lubich, Der Aufstieg der Hohenlohe zu Territorialherren im Taubergrund. Die Herrschaftsbildung eines Edelfreiengeschlechts im 13. Jahrhundert, in: Hochmittelalterliche Adelsfamilien in Altbayern, hg. von Ferdinand Kramer und Wilhelm Störmer (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 20), München 2005, S. 563–590; Wolfgang Adam, Bibliothek des Fürstlichen Hauses Hohenlohe-Langenburg, in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 8: Baden-Württemberg und Saarland, hg. von Bernhard Fabian, Hildesheim 1994, S. 117–124. In Würzburg war
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bemerkenswerte Machtpositionen, stellten zum Beispiel zwei Hochmeister des Deutschen Ordens und je einen Bischof in Bamberg und Würzburg. In ihrem Herrschaftsbereich könnten zu Beginn des 14. Jahrhunderts durchaus auch die beiden Handschriften von ‘Manuel und Amande’ angefertigt worden sein. Und vielleicht bewahrten die Herren von Hohenlohe damit sogar das literarische Werk eines ihrer Vorfahren für die Nachwelt, denn wahrhaftig präsentiert Rudolf von Ems in seinem Literaturexkurs im ‘Wilhelm von Orlens’ (um 1225/1230)34 einen uns sonst nicht als Dichter, sondern nur als Landesfürsten bekannten Gottfried von Hohenlohe als den Verfasser eines Artusromans: 2235
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die werden ritter über al, die bıˆ Artuˆses jaˆren in sıˆnem hove waˆren für die werdesten erkant, die haˆt wıˆslıˆchen genant ein Gotfrid von Hoˆhenloˆch; der kunde iuch haˆn gemacht hoˆch, ob er iuch gerne wolde haˆn soˆ wol soˆ jenen dort getaˆn.
Graf Gottfried I. von Hohenlohe ist von etwa 1219 bis nach 1250 vornehmlich im Fränkischen urkundlich bezeugt.35 Wie Rudolf von Ems gehört er in diesem Zeitraum zum engeren Umfeld des staufischen Hofes,36 an dem 1235 in Worms immerhin die Hochzeit zwischen dem römisch-deutschen Kaiser Friedrich II . und Isabella (Elisabeth) von England aus dem Hause Plantagenet († 1241) stattfand. Im Dienst des Stauferhofes tritt Gottfried als consiliarius curiae, als Schiedsrichter sowie als Erzieher des jungen Konrad, hervor und ist nach 1225 wiederholt an kriegerischen Unternehmungen Friedrichs II . in Italien beteiligt. Aber auch in Deutschland ist er immer wieder im Umfeld von Friedrichs Söhnen Michael de Leone als Protonotar auch noch kurze Zeit unter dem Bischof Albrecht von Hohenlohe († 1372) tätig; in seinem Hausbuch findet sich fol. 212vb ein panegyrischer Text auf die Brüder Hohenlohe. Aus dem 16. Jh. sei noch das ‘Rossarzneibuch’ (1564) des Grafen Wolfgang II . von Hohenlohe erwähnt. 34 Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk (DTM 2), Berlin 1905, hier zitiert nach: Mittelalter. Texte und Zeugnisse, hg. von Helmut de Boor, Bd. 1.2, München 1988, S. 1204. Vgl. auch Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150– 1300. München 1979, S. 442, der den bei Rudolf genannten Gottfried von Hohenlohe allerdings für einen Dichter »gleichen Namens« hält. 35 Vgl. Christine Michler, Gottfried von Hohenlohe, in: 2VL Bd. 3 (1981), Sp. 141 f.; Edward Schröder, Der Dichter Gottfried von Hohenlohe, in: Festschrift Georg Leidinger zum 60. Geb. am 30. Dezember 1930, München 1930, S. 241–248; Bumke [Anm. 34], S. 286 f. 36 Dazu Cord Meyer, Die deutsche Literatur im Umkreis König Heinrichs (VII .). Studien zur Lebenswelt spätstaufischer Dichter (Kultur, Wissenschaft, Literatur 17), Frankfurt / M. u. a. 2007.
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Heinrich VII . und Konrad IV . anzutreffen. Am 5. August 1240 kämpft er für Konrad in der Schlacht bei Frankfurt. Verheiratet war er mit Rich(en)za von Krautheim (urkundlich nachzuweisen von 1224–1263), aus der Ehe ging Kraft I., der Erbe der Hauptlinie hervor.37 Die Skepsis der älteren Forschung darüber, dass ein vielbeschäftigter Adeliger auch gedichtet haben soll, lässt sich zwar nachvollziehen, aber man denke nur an den etwa zeitgleichen Ulrich von Liechtenstein oder an die Lieder Kaiser Heinrichs VI . oder Konradins. Vielleicht wäre das Konzept des Mäzenatentums im Mittelalter ohnehin einmal grundsätzlich dahingehend zu überdenken, ob die Zuschreibung von Autorschaft an einen hohen Adeligen nicht lediglich bedeutet, dass ein Werk an seinem Hof, ›in seinem Namen‹ eben, angefertigt worden ist. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts waren die Herren von Hohenlohe unter anderem mit den Andechs-Meraniern verwandt, in deren Umgebung Wirnt von Grafenberg vermutlich den ‘Wigalois’ dichtete.38 Auch zu mehreren schwäbischen Minnesängern, wie dem Schenk von Limburg, Gottfried von Neifen oder Ulrich von Winterstetten, dürfte Gottfried persönlichen Kontakt gehabt haben. Rudolf von Ems, der ja ebenfalls im Umfeld des staufischen Hofes tätig war, entwickelt in seinem Exkurs zu Beginn des zweiten Buches (v. 2143–2334) nach dem Vorbild Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach eine kleine Literaturgeschichte des Artusromans in deutscher Sprache bis zu seiner Zeit. Im Gespräch mit Frau Aventiure erwähnt der Erzähler in einigermaßen chronologischer Folge Hartmanns ‘Erec’ und ‘Iwein’, Wolframs 37 Nach einer Aufteilung des hohenlohischen Herrschaftsgebiets, das sich vom Fränkischen bis in das Schwäbische hinein erstreckte, war Gottfrieds Stammburg um 1230 die Burg Hohlach bei Uffenheim im Grenzgebiet zwischen dem alemannischen und dem südrheinfränkischen Sprachraum. Sein jüngerer Bruder Konrad erhielt die Burg Brauneck, nach der sich die von ihm ausgehende Linie des Hauses Hohenlohe nannte, bis sie 1390 erlosch. Auch Konrad, bei dem es sich um ›den von Brauneck‹ handeln könnte (vgl. Walter Blank, Der von Brauneck, in: 2VL Bd. 1, 1978, Sp. 1005 f.), war in Italien für Friedrich II . tätig, begleitete denselben aber auch auf dem Kreuzzug von 1228/29, bei dem er vom Kaiser zum Lehensmann des Königreichs Jerusalem angenommen wurde. Heinrich von Hohenlohe, 1218 Würzburger Domherr, trat 1219/20 mit seinen Brüdern Andreas und Friedrich in den Deutschen Orden ein und schuf dadurch die personelle und finanzielle Grundlage für die Kommende und den späteren Hochmeistersitz Mergentheim. Er wurde dort erster Komtur, 1232 Deutschmeister, 1244 Hochmeister, und starb als solcher 1249 oder 1250 (vgl. Udo Arnold, Heinrich von Hohenlohe, in: 2VL Bd. 3, 1981, Sp. 757 f.). Das Wappen der Familie ist erstmals auf einem Siegel an der ältesten hohenlohischen Urkunde aus dem Jahr 1207 belegt: Es zeigt im silbernen Feld übereinander zwei nach rechts schreitende schwarze Leoparden mit niedergeschlagenen Schweifen. 38 Vgl. Wirnt von Gravenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin / New York 2005, S. 268–275, und zuletzt Christoph Fasbender, Der ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung (de Gruyter Studium), Berlin / New York 2010, S. 18–24.
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‘Parzival’ (und ‘Willehalm’), Gottfrieds ‘Tristan’, den berühmten (uns unbekannten) ‘Umbehanc’ Bliggers von Steinach, den ‘Lanzelet’ Ulrichs von Zatzikhoven, den ‘Wigalois’ Wirnts von Grafenberg, und weiter unter anderem Konrad Fleck, Strickers ‘Daniel von dem blühenden Tal’, Gottfried von Hohenlohe, Albrecht von Kemenaten sowie Ulrich von Türheim mit seiner Übersetzung des ‘Clige`s’. Handelte es sich bei ‘Manuel und Amande’ tatsächlich um den bei Rudolf von Ems erwähnten Artusroman des Gottfried von Hohenlohe, dann wäre er wohl wie die anderen genannten Werke bereits im zweiten oder dritten Jahrzehnt und nicht erst im späten 13. Jahrhundert entstanden, wie die Forschung bislang glaubt. Wie die philosophischen Diskurse über die Selbstbestimmtheit des freien Willens und das Rad der Fortuna sowie die zahlreichen Sentenzen und die Berufung auf Cicero und Seneca zeigen, präsentiert sich ‘Manuel und Amande’ auf einem vergleichsweise hohen Bildungs- und Reflexionsniveau. Auch Sprachverwendung, Stil, Versbau und Reimtechnik deuten auf eine Entstehung noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hin, etwa im zeitlichen Umfeld des ‘Wigalois’ und der ‘Croˆne’. Der Artusstoff scheint in diesem Versroman, in der Nachfolge des ‘Clige`s’ und im Anschluss an ‘Flore und Blanscheflur’, mit den mediterranen Schauplätzen der sogenannten Minne- und Aventiureromane (wie dem späteren ‘Wilhelm von Orlens’) verknüpft worden zu sein. Eine ähnliche Verschmelzung unternimmt kurze Zeit später der Pleier in ‘Tandarios und Flordibel’, sodass es nicht verwundert, wenn ausgerechnet diese beiden Werke, wie die Fragmente aus St. Gallen bezeugen, in der Mitte des 14. Jahrhunderts in einem Codex vereint waren.39 VII. Alle Textzeugen von ‘Manuel und Amande’ sind nachstehend buchstabengetreu ediert. Das Schwazer Fragment A ist mit leichten Korrekturen nach Zingerle wieder abgedruckt, das Fragment B aus St. Gallen hier erstmals publiziert. Dabei wurden die üblichen Abbreviaturen aufgelöst. Während sich in A nahezu keine Kürzungszeichen finden (Ausnahmen sind gelegentliches dc für daz, vn¯ für vnd in A3 v. 99 und verschem ¯¯ in A1 v. 39), weist B ungewöhnlich viele Abkürzungen auf. Im einzelnen handelt es sich um Nasalstriche für m und n (sowie vn¯ für vnd), hochgestellte Haken für -er- oder -re-, auch als Abbreviation für -ur-, Wellenlinie über p für -ra- in sprach, über g für -ra- in tragen, das Hochstellen von o über p, g, u, v oder w für -ro- in gesprochen, grozer, uro, vro(i)den, vrowen 39 Für anregende Gespräche über Fragmente danke ich den Freund(inn)en an der TU Dresden, insbesondere auch den Teilnehmer(inne)n an meinem dortigen Seminar über ‘Verlorene Erzählwelten’ im Wintersemester 2009/2010. An ‘Manuel und Amande’ arbeiteten mit mir Anka Broßio, Peggy Froese und Susanne Nüchter, denen dieser Beitrag manche Anregung verdankt.
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usw., von v über w für -ru- in truwen, i über c für -ri- in scriben, außerdem (wie in den ‘Tandarios’-Fragmenten G aus demselben Trägerband, s. o, Anm. 16) k mit Haken für künec (in B1 25 und B2 15) sowie durchgängig(!) dc für daz (als Kennzeichen des Alemannischen). In B1 9 steht ein (nicht sicher lesbares) Zeichen vielleicht als nicht auflösbare Abkürzung für einen Eigennamen. Für die verschiedenen Formen von s, z und r werden einheitlich s, z und r wiedergegeben, während i/j und u/v strikt nach den Handschriften transkribiert sind. Besonderheiten sind in den Anmerkungen im Anhang kommentiert. Soweit dies möglich war, wurde eine sparsame Interpunktion eingeführt. Edition der Texte 1. B1 [B1,1ra] ›Blier‹, sprach die kunigin, ›din zunge muze geret sin, Die ie daz beste gerne sprach. du hast nun groz vngemach 5 Mir so licht gemachet, daz mir daz herze lachet, Wan ich bin arme irfrowet. nv ist mir vngedrowet, Sit ich den : mac versuchen. 10 man inkonde an allen buchen Bezzers nicht han irlesen. ein mite die sal din wesen, Die du mit eren macht nemen vnd mir zu gabe mac gezemen. 15 Nv sit des alle vore gemant: amande kume iw zu hant, Daz ir belibe vngesaget, daz ich von ir han geclaget, Daz ir fridel ist min man. 20 des andern ich ir wol gan Zu wizzene vngerochen. swaz her blier hat gesprochen, Ich wil den brief herze scriben. Her wer:e der sal hie beliben 25 vnd den künec aber speen. Ich furchte, wurd ich hie gesen, E diz mere vz gesprunge, Daz mich der herzoge twunge Mit siner minneclichen bete, 30 daz ich, als ich wilen tete, Mit artuse muste ligen. Het ich iu ichtes gezigen, [1rb] Daz must ich varen lazen. wi suln vnse straze 35 Riten gegen Caridol.
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der disen brief tragen sol, der sage, her liese mich dort Vnd habe so ge : : ige wort, daz man kiese alzuhant, daz ich in vz habe gesant.‹ Nv hat amande genumen vrlop vnd ist wider kume Mit froide an die legers : : : vnd ist geschen an eim b : : Der vunt, de blier da vant, der ist zu : : : : re gesant. Hie vert die kunigin zu lande, Die massenie vnd amande, vnd ist der bote wol gezogen Kumen an den herzogen Vnd hat irworbe¯ swaz her s : : : : ich sin die mere vberal, Mit schalle vz ir sprungen : : : : alden vnd iungen. Des wart die kunigin gelobet. vor vroden wart da getobet, Getanzet vnd gesprungen, mit grozer schoy gesungen. Maniger, der nach minnen ranc vnd vil dinstes ane danc An sin vrowen verlos, der wart der mere ha:::los, Den duchte daz ein michel trost vnd ob her nimm wurde irlo)t Von der helfe siner vrowen, daz sie doch muste schowen So sie : : : : : g k in : : : : ige ob sie si : : : : : : : : : : ige Daz sie die schuldige were vnd misseriete : : : : it : : : sere.
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Do marcte wol her Jonas, Daz gar durch in irhaben was, Daz ime her manuel was verborgen. der wiste wol daz mit sorgen Die kunigin was bevangen. do begonde ouch in irlangen, Daz die minneclichen sa : : : wan ime zoch : : s gens : : : : D : si : : : bote so vberkumen als har : : hete vernumen, Daz her mit : eheinen listen : : ch nicht konde gevristen. Her muste kvmen schire zur harten riuiere Vnd einen brief da gewinnen vnd sie damite brengen : nnen, Weder her lebete oder intete vnd sin minne were stete. Do saz her vf sin phert. s : : ten ane svert Reit her zu Manvele, Den sin herze vnd sin sele nach der iuncfrowen qual. Jr aller frode vnd ir schal wac hie harte cleine. Mit zwein rittern eine Fur s : : : e gezelte her sta : : , sin hobet lac ime in der hant Als ofte sorgen tvt.
100 ›waz sal daz truren, helt gut‹, Sprach der herre Jonas, ›war vme iettet ir da gras Mit vwerme vngemute? sint dirre wurzeblute 105 Gegen vch so lachent, die manige vroide machent Den vogeln vnd den luten? v : : : de ich vch verbuten, Daz ir die minnende sit 110 ob dichein truwe lit An vnser geselleschaft. Nu lat sen hat sie craft. Sit uro so iunges libes vnd maniges schonen wibes, 115 Der ir die vrien wele hat. waz i)t daz uch so nahe gat?‹ Her sprach ›het ich die )elbenkure, Ich wene ich nimmer verlure die froide als ie verlorn han. 120 Jr sult mich spottes irlan, ob ir den wuns hat begriffen, So bin ich aber geslichen rechte nidene an daz rat. Fortvne git mir eine stat 125 da ich verenden sol min leben. Nu lat mich also cleben, Jr sizzet hoe amme rade daz is uwer frume vnd min schade.‹
[Lücke unbestimmter Größe]
2. Synopse von B2 mit A1/A2
[B2, 2ra] I : : : : : botschefte hat
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[A1, 1r] Ein : : : : vnge : : : : : : : : ist : : : frevde riche gvnst, Aller gvte ein vber gvlde, ein svnne frevntlicher hvlde, 5 Ein Tyriacke miner wunden. die mich so gar gesvnden Hat gemachet dvrch ir ere, die mvze ovch immer mere Sin in der Engele hvte. 10 die reine svze gvte o Mvze ovch immer selich wesen, ich bin vor : : : : : : U ::: ::: 15 J : : : : : :
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Wolfgang Achnitz der selbe gap mir den rat, der selbe gab : : : : : Daz ich stach also bloz, Daz ich da stach : : : : : Wen daz ich doch genoz, wan daz ich ie doch genoz Daz ich mich truwen dar versach, Daz ich mich truwen da versach, der mir leider vil gebrach, 20 leider der mir vil gebrach, Wen daz nun phlac der gots segen, [1v] : : : : : : : : : : : : : : : : : : : tes segen, so wer ich tot da gelegen. so wer ich tot da gel : : : n. Ich wil vch an ime rechen Daz wil ich an im rechen, vnd wil in an sprechen ich wil in an sprechen Kemphlichen vmme daz, 25 Kemphlichen vmbe daz, daz her ime truc grozen haz. ich han vf in grozen haz. Wie sol ichs ime verswigen, Wie solt ichz in verswigen, her vindet mich an wigen ern vindet mich so ane wigen Nicht also den künec von nav : : re, Niht so den kvnic von Nauarre, kvme ich zu ime an die barr: 30 kvme ich zv zim in die barre. Dannoch pinet mich m : : : Dannoch pinet mich mer miner vrowen svere. miner vrowen hertze ser. Ist daz ich daz nicht richen, Ist daz ich daz niht rechen daz her vch hat besvichen daz er ivch hat beswechen Vnd mir verriet minen lip, 35 Vnde mir verriet minen lip, so bin ich blode als ein wip,‹ so bin ich blode als ein wip.‹ Sie sprach ›nv varet, daz ist zit, Sie sprach ›nv wart, iz ist ez zit, ich wil daz ir min ritter sit. ich wil daz ir min ritter sit. Ich muz mich gegen v verschemen, Ich mvz mich gegen ivch verschemen, ir sult min cleinote nemen, 40 ir sult min cleinote nemen Durch minen willen furen daz, [A2, 1r] D : : : : : vnd wapent vch baz, ::::: Daz kumet vch zu gute, D::::: vnd vart in ringem mute.‹ ::::: Sie brach do her : : nen vur 5 Si : : : : vz ir hemede einen snvr, ::::: Vil minnecliche her die nam Vi : : : : zu hand do Ginouere quam ::::: : : : so v : : : : : under scoip. D::::: Her nam im vrowen urloip 10 : : : : : und fur da her Jonas V::::: Nu : : : : : e : : was. ::::: her sprach ›ir sit gezigen hie, E::::: Daz ein gut ritter nie ::::: Von vrowen wirs gezigen wart. 15 V : : : : : ob ir sit von hoer art ::::: Vnd hat ir dicheine werdicheit, V::::: daz uf vch ist geleit, d:::: D: ::rt ir vch intschulden vone, D::::: sit ir aber des gewone, 20 s : : : : Daz ir daz laster trinket [1v] Daz ir daz laster trinket Vnd an frumikeit hinket, vnde an frvmekeite hinket, So rat ich, daz ir hinnen vart So rat ich, daz ir hinnen vart vnd den lip wol bewart. vnd den lip wol bewart. Ir werdet an gesprochen¯ 25 Ir werdet ane gesprochen an dirre mittewochen an dirre mittewochen
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Von einer vrowen wol geborn, daz ir die truwe hat verlorn. Ich horte sprechen hute vil warhafte lute, Daz ir ein partiere sit. dar vmme hat ir einen strit Vnd einen kampf an der hant, irne wollet dan daz lant Rumen lesterlichen vnd hinnen intwichen.‹ Ionas der was vnervorcht, Her sprach ›het ich verworcht Mine ritterliche truwe, Des het ich groze ruwe. Ich solte sin inwec geriten. daz iz bezzer nv vermiten, Biz daz volc min:: :chult r::: vil : : ch iv : : : : : : : : nt Die clage sie insprungen Mit der hant und mit der zungen. Ich sol n : : : : : wol : : : : : : : : und mich des : alsche : ent : : ren : : rede : : ch vil den : : ge swer durch loss : : : : : : : : : liget Dise vesperie s : : : : : : : der wil : : : : : : : : : : : olz ›Man sa : : : der dinge : : ch bewegen: dort ritet manic iunger tegen, Bi den sol man uns finden. Vnd si Joster : : : : zu der : : : : : : Ein teil disit des baches. Wir han des gemaches Alzu lange gephlegen, Iz intochte lenger : n : : : : legen.‹ Zv den selben st : : : en Die heberne sie : : : : Sie riten von den cle : : Da was blumen vnd reine, Den an deme himele sterne si. Man sa da vrowen vnd bi Mani : es stolzen : : : spon : : Die : : : swer : : : g : e : : : : Den : : : : w : : : : : : : : : er : : J : : : : : : : : : : : : : : : :kerten Als iz behegelichen zam, ir igelich der war nam. Allez svmen sie vermiten, Do sie des morgens vzriten, Manic ioste da geschach. : : : ac d : wie will : : : : Ein ander reit den viant ane.
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Von einer vrowen wol geborn, Daz ir die triuwe habt verlorn. Ich horte sprechen hivte 30 vil warhafte livte, Daz ir ein partirere sit. dar vmbe habt ir einen strit vnde einen kamph an der hant, Ir enwollet danne daz lant 35 Rvmen lesterlichen vnde hinnen abe entwichen.‹ Jonas der wart vnervorcht, er sprach ›vnde het ich verworcht Mine ritterlichen truwe, 40 des het ich groze ruwe
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An irn spern was nicht vanen. 105 : : : : : het warten sie vnd sleht daz was der vesperie recht. Manvel Artusen bat Jostern an der selben stat, : : : chn durch rechten pris. 110 Die bete inmochter dicheine wis Versagen in mit fugen. Die sporn sie do slugen Zun siten vnd riten so. Nieman sint noch do 115 Daz Jostern ie gesach, Jr itslicher sper zu brach. Sie namen andere zuhant Die wurden harte wol : : : : : : :az dritte furten sie baz, 120 daz vierte schunfierte daz. Ich lobete wol daz funfte, wen daz mit lobelicher cvnfte Daz sexte wart gemezzen. Des wart idoch vergezzen 125 Von dem sibenden stiche. Des achten wart mit geriche zu der bukerese beide gedacht. Daz nunte wart so vollenbraht
[Lücke unbestimmter Größe]
3. A3/A4 [A3, 1r] Ez duchte sie alle gemeinlich, daz sie ane kvs versvnten sich. Amande liez do ir clagen. do wart ze samene getragen 5 Mit minnenclicher samenvnge, daz Manuel der jvnge Sich der megde vnder want. des man gvten willen vant Vnde gvnst an in beiden. 10 daz geschach mit eiden Daz er immer hete nach elicher stete. Do wurden boten vz gesant ze kriechen vnd ze spaniern lant, 15 Daz die frowe vnd der degen mit samene heten gelegen Vnd daz der kvnic artus ze karidol in sinem hus Die brvtloft wolte enden.
20 do mvste man im senden [1v] An aller slahte werwort von beiden landen richen hort. Ovch quam dar al begater der frowen Amanden vater 25 Mit harte werder ritterschaft, die chriechen mit herskraft. Waz sol ivch mer da von geseit? da was groze richeit, Vrevde lop vnde ere 30 vnd dannoch frevntschefte mere Zwischen zwein vnde zwein, den ein ja vnd ein nein Was ein lovgen vnde ein giht mit geselliclicher phliht e 35 Vnde ein frvntliches leben. varndem volke wart gegeben Da mit harte richer hant silber ors vnde ovch gewant.
Verlorene Erzählwelten Nv der brutlovfte feste 40 was keinem gebreste: [2r] Da was alles genvc des die erde ie getrvc Vnde daz wazzer vnde der luft, dar zv gvt wibe mit der gvft. 45 Nv die hochzit ergienc, mit der hant do gevienc Manuel Amanden san, sie giengen fvr den kvnic stan, Dar zv sie groze zvcht twanc. 50 gnade sagten sie ime vnde danc Maniger gvt tete die er in erboten hete. Sie namen vrlovp vber lvt. zv criechen fvrte er sine brvt. 55 Da sazen sie an ir ende ane alle missewende, Daz in niht:: gebrach. nv sehet wie sie ir vngemach Mit grozen vrevden vber quame, 60 ein selic ende sie namen. [2v] Nv horet von artuse mer. der kvnic riche vnde her Hielt aber sinen hof do. des was die Massenie fro, 65 Daz sie der Tavelrvnden herren heten fvnden. Sie swuren mit gemeiner phliht, si enwolten des gelovben niht, Daz er immer ersturbe, 70 sint er niht verturbe So lange so er bare phlac, da er fvr tot allez lac. Daz buch saget vns fvrwar, daz er fvnf vnd zweinczic jar 75 Dar nach, sint er wider qvam, so sinen eren wol gezam, Die Tavelrvnde hielte vnd zv Britanie wielte [3r] Nach vil grozem lobe. 80 er lac allen den obe, Die sin ellenthafte hant ie mit vrlevge ane gewant. Ich mohte iv fremede mere von deme wunderere 85 Vil vnde ane mazen sagen, wan ime ofte in sinen tagen Aventivren vil geschach. ein ris ich dar vmbe abe brach Von sinem wunder bovme,
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90 ob man des niht engovme Vnde ob ieman iehe, daz er daz gerne sehe, Daz ich der este breche mer. ach leider welch ein hercze ser 95 Geschach der Massenie do, daz sie in verlvrn so Als er hivte ist verlorn. ez ist vil eide gesworn [3v] Vmb sinen tot vnd vmb sin leben. 100 idoch en ist vns gegeben Rechtes vrkvndes niht wan ein mislich giht. Die do lebten an der zit, die heten alle den strit, 105 Er queme wider als er wolte so daz wesen solte, Als er wilent tete. si sprachem ime hete Got die selde gegeben, 110 daz er mohte leben. Swelch sin ende were, da von ist manic mere. Sin livte spellent, die daran gehellent, 115 Daz sie iz fvr war wizzen, ein visch wurde vf gerizzen, Des der kvnic sere engalt, als ein katze gestalt [Lücke unbestimmter Größe] [A4, 4r] Der hie niht eren beiaget, der wirt schiere verclaget, So ist er tot alle wis. swer ere minnet der ist wis. 5 Nu iamert mich der kvniginne, wan sie groze minne Hete an ir man gewendet vnde sin so wart gephendet, Daz si nimmer mer vernam, 10 war der tvgentriche qvam. Da von leit sie groze not vnd zv jvngest den tot Von seneclichen ruwen, wan sie in an den truwen 15 So rechte stete ie vant. die minne sie so vberwant, Daz ir daz herze enzwei brach. nach eilf iaren daz geschach.
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Do sie keine zvversiht 20 zv siner kvnfte hete niht, [4v] Sie rach mit sterbende ir leit. nach kvniclicher werdikeit Zv sente Dauit wart sie begraben. die rechte nv vernvmen haben, 25 Als ich ivch vor han getzalt, die grozen ere vnd den gewalt, Die man zv der Tavelrvnde sach, vnde wie schiere der gebrach, So wizzen daz zv langer vrist 30 niht in dirre werlt ist An siner ordenvnge state. der werlt vngerete Mac man dar an kiesen. wir mvgen wol verliesen 35 Swaz wir gesewen vnde gern, ob wir den dorn niht wern, Die zu dem herczen springent: so die gedancke ringent Vnde lovfent an der rvre 40 nach vil vpeclicher fvre, [5r] So wirt der weitze vertreten. swer den akker wil er ieten Von allem vnkrvte wilde, der neme artuses bilde 45 Vnde an sinem reinem wibe. man sol in disem libe Nach gelucke niht leben. dirre spigel ist gegeben Allen mannen vnde frowen, 50 daz sie sich dar inne schowen Vnde steter minne phlegen. die sich des han bewegen Vnde ir leben so gestellent, daz sie niht megen noch enwellent 55 Sich vntz an ir tot gescheiden, den sol vaste leiden Brodes herzen irrekeit. ir kevsche habe ein vbercleit Von frevden gar gemachet. 60 wibes mvnt der gerne lachet [5v] Vnde doch ein stete hertze treget, ist dar zv gvte geleget, Ze wizzenheit, fvge vnde sin, da ist ane groz gewin 65 Vnde aller wer : : : : : : : : :::::
70
75
80 [6r]
85
90
95
100 [6v]
105
110
::::: ::::: ::::: : : sch : : : : : : : : : Da der tvgende ist so vil. ein dinch ich ime raten wil, Daz er ir willen var vnde so mit ir gebar, Daz sich die vorchte in ir sinne niht scheide von ir minne. Swer sin wip niht eret vnde alle ir dinch verkeret Die wile daz sie rechte tvt, wirt da daz ende niht gvt, Daz hat sin missetruwen vnde sin vnzvht gebruwen. Man wirt selten erfrewet der liebe der man vz erdrewet. Da von sprichet alsus ein wise meister der hiez Tullius: ›Wiltu gvte vrevnt gewinnen, so solt dv tvgent minnen.‹ Er twinget sanphte wibes mvt der gerne tvgentlichen tvt. So sprichet aber anderswa der wise meister Seneca: ›Dv salt den getruwen, mit den dv wolles buwen.‹ An vntriwe iz gezivhet swer al die livte schivhet. Man hat vil cleine truwe dar da man der tvcke wirt gewar. Die frowen mvet sere, daz ieman vmb ir ere Mer gesorget danne sie. ein ietslich hertze daz wil ie Haben ein frie selpkvre. tusent libe man verlvre E man daz hertze vber strite, daz ez die selpkvre vermite. Ich enspreche niht vmbe daz. swen nv dvnke daz er baz Sin wip gewaltigen mvge, der sehe waz sin erge tvge. Mac er mit argen dingen die libe ir vz ertwingen, So rvme er sich des danne. ich wil in haben zv einem manne.
Verlorene Erzählwelten
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Anmerkungen zu den abgedruckten Texten B1 v. 8 B1 v. 9 B1 v. 22 B1 v. 23 B1 v. 24 B1 v. 27 B1 v. 34 B1 v. 46 B1 v. 54 B1 v. 55 B1 v. 87 A1 vv. 12–17 A1 v. 12
A1 vv. 13 ff. A1 v. 30 A1 v. 37 A2 vv. 1–20
B2 v. 32
B2 B2 B2 B2
vv. 35 f. v. 74 v. 88 vv. 93 ff.
Den Wörterbüchern zufolge findet sich das Partizipial-Adjektiv ungedröuwet im 13. Jh. beim Dürner (KLD 9, Str. 1,8), bei Rumelant von Sachsen (HMS IV , Str. 6,3) und in Ulrichs von dem Türlin ›Arabel‹ (v. 140,24). Zwischen den und mac steht ein einzelnes Zeichen, bei dem es sich entweder um einen getilgten Großbuchstaben oder um ein nicht auflösbares Kürzel (für einen Eigennamen?) handelt. Knick im Pergament. den oder dem. Her werre? Vielleicht ein Eigenname? uˆz springen ist im Findebuch erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s belegt. Md. wıˆ = mhd. wir. Bei : : : : re handelt es sich wohl um einen Orts- oder Personennamen. Knick im Pergament. Die letzte Silbe von gelobet steht unterhalb der Zeile. Vgl. Gottfrieds ›Tristan‹, v. 9154 ob er lebete oder entæte. Zu den verheerenden Versuchen, das Pergament mit Chemikalien zu behandeln, vgl. Zingerle [Anm. 9], S. 300. Schröder [Anm. 24], S. 168, schlägt als Ergänzung vor: ich bin vor [leide genesen]. Soweit seine Konjekturvorschläge jetzt an B überprüft werden können, sind sie jedoch haltlos und sie werden daher im folgenden nicht mehr mitgeteilt. Loch im Pergament. Das st. Femininum barre ‘Turnierschranke’ ist den Wörterbüchern zufolge (und anders als noch von Schröder [Anm. 24], S. 167, behauptet) auch schon vor Konrad von Würzburg gut belegt. Das ez ist nachgetragen. Die Schrift ist nahezu vollständig abgeschabt worden, weil das makulierte Blatt als Palimpsest der Beschriftung des Einbandrückens diente. Zu lesen ist unterhalb der alten Signatur L.Pc.s4 von der kopfstehenden Wiederbeschriftung noch Ludovici Granat. de / frequenti Co¯munione / Libri :::::: 1586. Mhd. snuor ist in den Wörterbüchern nicht als Mask. belegt (anders als mnd. snoˆr ), aber der unbest. Artikel lautet sicher eine¯. Nach DWB (15,1396) ist das Mask. nhd. vereinzelt gebräuchlich. Vgl. aber in v. 33 den bestimmten Artikel im Femininum. für /ou/ ist ein Kennzeichen des Schwäbischen. Das Wort am Zeilenende lautet e¯t : : re¯. Im Text steht heb’ne. Loch im Pergament.
Abb. 2: Schwaz, Konventarchiv des Franziskanerklosters, Lade O, Frag. germ. 1, A2 fol. 1 v
Abb. 1: Schwaz, Konventarchiv des Franziskanerklosters, Lade O, Frag. germ. 1, A3 fol. 1 r (vergrößerter Ausschnitt aus Abb. 3)
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Abb. 3: Schwaz, Konventarchiv des Franziskanerklosters, Lade O, Frag. germ. 1, A4 fol. 6 v / A3 fol. 1 r
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Abb. 4: Schwaz, Konventarchiv des Franziskanerklosters, Lade O, Frag. germ. 1, A4 fol. 4 v / A3 fol. 3 r
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Abb. 5: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 462a, Fragment 1, B2 fol. 2 v / B1 fol. 1 r
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Abb. 6: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 462a, Fragment 1, B1 fol. 1 v / B2 fol. 2 r
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Die Eckhart-Handschrift M 1 (Cgm 133) von Karin Schneider
»Die handschrift ist alt, leicht gleichzeitig« (d. h. mit Meister Eckhart) urteilte Franz Pfeiffer 18621 völlig zu Recht über Cgm 133 der Bayerischen Staatsbibliothek zu München. Das unscheinbare kleinformatige Bändchen ist ein seit der Mitte des 19. Jh.s in der Mystikliteratur bekannter und in den früheren Editionen dieser Texte benutzter Überlieferungsträger, der u. a. Predigten Meister Eckharts, die ‘Glosse vom Überschall’, den Johannes Franke zugeschriebenen ‘Zweiwegetraktat’ und den Traktat ‘Schwester Katrei’ enthält. Wegen ihrer unterschiedlichen Datierung und ihrer als westmitteldeutsch-hessisch bezeichneten Schreibsprache2 hatte ich die Handschrift zunächst unter den westmd. Schriften eingeordnet und einer späteren Bearbeitung des Schriftwesens dieses Sprachraums vorbehalten; offensichtlich fehlte bisher eine fundierte paläographische und sprachliche Untersuchung der Handschrift. Sie hätte bei näherer Betrachtung in meinen ‘Gotischen Schriften in deutscher Sprache’ Bd. II erwähnt werden können, was ihr wegen ihrer Bedeutung als früher Textzeuge zugestanden hätte und hier nachgeholt werden soll. Das nur 10,8 × 7,7 cm messende Bändchen ist aus 12 Quaternionen zusammengestellt, umfasst also 96 Bll., das Pergament ist intakt bis auf einen ehemals vernähten Riss am Innenrand von Bl. 25 und zwei kleine Löcher auf Bl. 63. Die Bll. sind einspaltig mit 22 Zeilen pro Seite auf vorgezeichneten Tintenlinien beschrieben in einfacher Textualis von einer einzigen Hand. Der Text ist rubriziert mit der üblichen Strichelung der Satzanfänge und mit einfachen zweizeiligen roten Lombarden zu Textbeginn,3 die auf Bl. 24r, 65r und 70v mit schlichter Fleuronne´e-Umrandung und kurzen Randstäben verziert sind.4 Rote Textüberschriften auf Bl. 24r, 63r und 93v sowie Textergänzung an den Blatträndern von 63v – 64r wurden von einer 2. Hand in bairischer Schreibsprache wenig später nachgetragen und heben damit den Traktat ‘Schwester Katrei’ und zwei Predigten, davon eine eckhartische, optisch hervor. Die Überschriften waren vom Textschreiber nicht vorgesehen, der dafür keinen Platz ausgespart hatte. 1 In einem Brief Pfeiffers an M. Ch. Schmidt vom 10. Juli 1862, zitiert bei A. Jundt, Histoire du panthe´isme populaire au moyen aˆge et au seizie`me sie`cle, Paris 1875, Nachdruck Frankfurt / M. 1964, S. 69 Anm. 1. 2 So bei E. Petzet, Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1–200 der Staatsbibliothek in München (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,1), München 1920, S. 245; danach B. Hernad, Die gotischen Handschriften deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, Teil 1 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 5), Wiesbaden 2000, S. 183 Nr. 253. 3 28v ein spiegelverkehrtes N. 4 Abb. 579 bei Hernad [Anm. 2], Tafelband.
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Karin Schneider
Über ursprüngliche Besitzer gibt die Handschrift keine Auskunft. Leserspuren finden sich nur im Text der ‘Schwester Katrei’: einzelne Stellen sind an der Außenrändern zwischen Bl. 29r und 60r durch flüchtig notierte Kreuze mit schrägen Querbalken gekennzeichnet.5 Sorgfältiger hat eine 2. Leserhand wohl im 15. Jh. einige Textstellen an den Rändern von 34r, 35r, 53r, 54r und 55r durch einen Längsstrich mit drei übergesetzten Punkten markiert. Möglicherweise von dieser Hand stammen auch einige Korrekturen: 34r ist wesen durch darunter geschriebenes waysen ersetzt, 54r gebrechen durch sünde, 35r ist am Rand her sprach nachgetragen. Ein Paragraphenzeichen kennzeichnet 34r am Rand einen neuen Textabschnitt. Die bis zur Unleserlichkeit abgegriffene und verschmutzte erste und letzte Seite lässt erkennen, dass die Handschrift längere Zeit ohne schützenden Einband war. Flecken und Abrieb beeinträchtigen auch stark den Text auf Bl. 77v – 78r. Dass sich das Konvolut frühestens um die Mitte des 14. Jh.s im bairischen Sprachraum befand, ist aus Schrift und Schreibsprache der Nachträge zu schließen. Aus dem 15. Jh. stammt die Federprobe auf der leergebliebenen unteren Blatthälfte von 64v Ich Lemhardus 6 ... cuius qualitatis eines Lesers oder Vorbesitzers, vielleicht eines Tegernseer Laienbruders; im bayerischen Benediktinerkloster Tegernsee wurde die Handschrift zu Ende des 15. Jh.s katalogisiert und erhielt von der Hand des Bibliothekars Ambrosius Schwerzenbeck7 1r den Titel Ayn subtils guets puech und die Signatur P. 61. 2°. Wohl im Zusammenhang mit dieser Inventarisierung wurde sie mit einem viel jüngeren Papiercodex ähnlichen Formats (Hymnen und Gebete, z. T. von 1488) zusammengebunden, nach der säkularisationsbedingten Aufstellung in der Münchner Hofbibliothek aber wieder von ihm getrennt; die jüngere Papierhandschrift behielt als Cgm 858 den alten Einband mit dem Bibliothekseintrag Schwerzenbecks,8 während die ältere Pergamenthandschrift die Signatur Cgm 133 und einen schlichten Pappeinband erhielt.9 5 Ähnliche Nota-Kreuze stehen auch in der Oxforder Hs. des ‘Paradisus anime intelligentis’, Bodl. Ms. Laud Misc.479 (2. Viertel / Mitte des 14. Jh.s), vgl. N. F. Palmer, In kaffin in got, in: ‘Paradisus anime intelligentis’. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts, hg. von B. Hasebrink, N. F. Palmer und H.-J. Schiewer, Tübingen 2009, S. 69–131, hier S. 107; auch im Schwabenspiegel in Zürich UB Z XI 302 (schwäbisch um 1300), Abb. 63 bei K. Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache II , Wiesbaden 2009, Tafelband. 6 Petzet [Anm. 2] liest Einhardus. 7 Zu Schwerzenbeck vgl. G. Glauche, Bistum Freising (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz IV,2), München 1979, S. 743. Im Katalog der deutschen Hss. des Bibliothekars Konrad Sartori 1500–1504, abgedr. von Glauche S. 849–863, ist die Hs. nicht identifizierbar. 8 Dicz püechel ist des closter ze Tegernsee, in Cgm 858 auch Hinweise der Münchner Bibliothekare Bernhard Joseph Docen und Johann Andreas Schmeller zur Trennung der beiden Handschriftenteile. 9 Als Eckhart-Handschrift mit der Sigle M 1 ist Cgm 133 in der Literatur mehrfach meist kurz erwähnt: F. Pfeiffer, Deutsche Mystiker des 14. Jh.s Bd. 2: Meister Eck-
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Die Eckhart-Handschrift M1
Inhalt 1r unleserlich ...in mir lebt daz ist Xpc ...minnet der mensch ...sinen nehsten in got ... 1. 1v – 6v Glosse ‘Vom Überschall’ Daz rehte vollenkomenste wesen des geistes wer ob helle noch hymel vnwere daz her doch got minnen solte . . . – 6r Daz ist vnser hoste selikait. Daz vns (6v) daz gescheh dez helf vns drieinikeit. – Abgedr. aus Einsiedeln Cod.277 von Pfeiffer II , Traktate Nr. 12 S. 517–520; dazu Spamer, PBB 34, S. 391–393 mit dieser Hs.; K. Ruh, Seuse Vita c. 52 und das Gedicht und die Glosse ‘Vom Überschall’, in: Seuse Studien, hg. von E. Filthaut, Köln 1966, S. 191–212, wieder abgedr. in: K. Ruh, Kleine Schriften II , Berlin / New York 1984, S. 145–168; P. Schmitt, 2VL 9, 1201 f.
2. 6v –14r aus dem ‘Liber positionum’ Die bildenreiche forme gotes die einveltich aller dinge bilde in ir beslozzen hat . . . – alsus machet die gute di einnvnge. – Enthält die Texte bei Pfeiffer II Nr. 120, 158–160, 1– 4, 143–144, 137, 148, 145–146; Überlieferung vgl. Spamer PBB 34, S. 408– 418, diese Hs. 416.
3. 14v –23v ‘Von zweierlei Wegen’, Johannes Franke zugeschrieben Sant Paulus spricht: ich bit vnsern herren Jhm Xpm vnd sinen hymlischen vater daz her vch gebe sinen heiligen geist . . . 15r vnser herre Jhc Xpc spricht: Ich bin der wech . . . Eya nv merket mit vliz dise wort . . . Zweier hande wege svllen wir verstan . . . – da daz bekante vnd der bekenner ein sint. diser einvnge helf vns der gute got amen. – Einleitung 14v –15r aus dieser Hs. abgedr. von W. Preger, Kritische Studien zu Meister Eckhart, in: Zs. für histor. Theologie 36 (1866), S. 488; Traktat ab 15r abgedr. von F. Pfeiffer, Predigten und Sprüche deutscher Mystiker, in: ZfdA 8 (1851), Nr. VIII S. 243–251; vgl. F. Jostes / K. Ruh, Meister Eckhart und seine Jünger, Berlin / New York 1972 (Neudruck der Ausgabe Fribourg 1895), S. 208 Nr. 18–19; K. Morvay / D. Grube, Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters (MTU 47), München 1974, T 94; V. Honemann, 2VL 2, 800–802 mit dieser Hs.
4. 24r – 63r ‘Schwester Katrei’ v
(Nachgetragener Titel, nur in dieser Hs.: Daz ist swester Katrei maister Ekhartes tochter e von Strazburch). Gelobt vnd geeret si der nam vnserz herren Jhu Xpi daz her vns daz bilde der warhait hat vorgetragen . . . – Globt vnd geert si der svze nam vnsers herren Jhv Xpi. amen. – Abgedr. von Pfeiffer II Traktat 6, S. 448– 475 aus dieser Hs.; von A. Birlinger, hart, Leipzig 1857, S. VIII (zitiert: Pfeiffer II ); O. Simon, Überlieferung und Handschriftenverhältnisse des Traktates ‘Schwester Katrei’. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, Diss. Halle 1906, S. 8 f.; A. Spamer, Zur Überlieferung der Pfeifferschen Eckharttexte, in: PBB 34 (1909), S. 307– 402, hier: S. 319 Nr. 8; ders., Über die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten, Diss. Giessen 1910, S. 308; E. Petzet [Anm. 2], S. 244–249; J. Quint, Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eckharts, Bonn 1932, S. XLIII und 932; F.-J. Schweitzer, Der Freiheitsbegriff der deutschen Mystik (Europäische Hochschulschriften I, 378), Frankfurt/M. / Bern 1981, S. 192–195; B. Hernad [Anm. 2], Kat. Nr. 253; F. Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999, S. 76.
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Karin Schneider
Tractate Meister Eckharts, in: Alemannia 3 (1875), S. 15– 45 aus Straßburg UB cod. 2080; vgl. O. Simon [Anm. 9] S. 8 f.; F.-J. Schweitzer [Anm. 9], S. 192–195, 305, 373 f. diese Hs. (Mü), S. 304– 455 Neuausgabe auf der Grundlage von Karlsruhe St. Peter pap. 19 v. J. 1472.
5. 63r – 64v Zwei Sprüche, Albertus Magnus zugeschrieben a. 63r – 64r ‘Die 9 bzw. 12 Punkte’ e
(Nachgetragener Titel: Daz sint bischolf Albrechtes spruch). Iz sint . XII . (aus ursprünglich IX korrigiert) guter stuke. Daz erste ist . wer git einen phenninch in der liebe vnsers herren in disem leben . . . Von der Nachtragshand an den Blatträndern von 9 auf 12 Punkte erweitert: 64v [Daz] czehent ist daz ob du heiligev werch vnd ander rain tu[gent] siechst . . . – ob du selb ewichleich vertampt w erdest. – Aus dieser Hs. abgedr. von Pfeiffer, ZfdA 8 (oben Nr. 3), S. 217 f. Nr. 3; die ‘9 Punkte’ auch in der Spruchsammlung des Ps.Engelhard von Ebrach, hg. von K. Schneider, Das Buch der Vollkommenheit (DTM 86), Berlin 2006, Nr. 27 S. 14 mit dieser Hs. b. 64r–v Zwelf sache sint die aim gaistlichen mensch hindern van (aus ursprünglich wan korrigiert) aim geistlichen leben. Daz erste ist der sich zv vil bekvmmert mit vzzerlichen dingen . . . – den guten willen zv got. 64v auf leergebliebener unterer Blatthälfte jüngere Federproben, vgl. oben.
6. 65r –70v Predigt über Rm 11,36 Ex ipso et per ipsum et in ipso . . . Sant Paulus spricht: vs im durch ime vnd in im dem si ere. Drev dinc sint zv merken an disen worten nah sant Paulus lere der da in der warhait verstendich waz aller gotlicher sache . . . – daz der vater vnd der svn vnd der heilige geist ist ein ere vnd ein lob vnd ein welde der wir ewiclich mit vrevden gebrvchen mvzen. Amen. – Aus Clm 28917 (ehem. ‘Hardenberg-Hs.’), 107v –111v abgedr. von J. Zacher, Bruchstücke aus der Sammlung des Frh. v. Hardenberg, in: ZfdPh 14 (1882), S. 74–80; vgl. Morvay / Grube (oben Nr. 3), T 90 S. 101; auch in Nürnberg StB Cent. VI 56, 123v –134r, vgl. J. Quint, Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung der deutschen Werke Meister Eckharts und seiner Schule. Ein Reisebericht (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Untersuchungen I), Stuttgart / Berlin 1940, S. 156; G. Steer, Hugo Ripelin von Straßburg (Texte und Textgeschichte 2), Tübingen 1981, S. 347 erwähnt Cgm 133 als bisher unbekannte Überlieferung dieser Predigt.
7. 70v –74r Meister Eckhart: Predigt über Eccli 24,11 In omnibus requiem quesivi. Dise wort stent geschriben in dem bvch der wisheit, di wellen wir nv zv disem male bedvten . . . – daz wir daz glichnvsse gotlicher rvwe svchen vnd vinden mvzen an got dez helf vns got. – Pfeiffer II , Nr. 45, S. 152–154; J. Quint, Meister Eckhart, Die deutschen Werke III , Berlin 1976, Predigt Nr. 60, S. 10–29, mit dieser Hs. S. 4; die Predigt ist auch überliefert im ‘Paradisus anime intelligentis’, hg. von Ph. Strauch (DTM 30), 2Berlin 1998, Nr. 36 S. 81–83; vgl. G. Steer, Die dominikanische Predigtsammlung ‘Paradisus anime intelligentis’, in: Paradisus anime intelligentis [Anm. 5], S. 20 mit dieser Hs.
8. 74r –77r Meister Eckhart?: Predigt über ‘Ego ex ore altissimi’ (Eccli 24,5) Daz wort daz ich gesprochen han an latin daz mvgen wir sprechen in der person dez ewigen wortes . . . – daz wir zv diser einvnge komen als verre als is vns mvglich ist des helf vns got. – Abgedr. von Pfeiffer II , Nr. 103, S. 335–337 nach dieser Hs.; vgl. Quint, Überlieferung [Anm. 9], S. 896–905; auch in den Postillen Heinrichs und Hartungs von Erfurt.
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Die Eckhart-Handschrift M1
9. 77r –79v Predigt über ‘Indica mihi quem diligit anima mea’ (Ct 1,6) Den min sel minnet zeig dich mir . . . den min sel minnet mit alsus getaner minne di da ist ein gnadenrich leben . . . – da alle creatur in got rast vnd got in allen creaturen rastet. Amen. Teilweise Textverlust auf Bl. 77v –78r.
10. 79v –88r Io 13–17, dt. Vor dem heiligen ostertage do vnser herre Jhc weste daz sin stvnde queme . . . – daz di liebe ain an in si vnd ich an in. Amen.
11. 88v –93v Meister Eckhart?: Predigt über ‘Expedit vobis’ (Io 16,7) Man list in dem heiligen ewangelio daz vnser herre . . . Is ist vch nvtze daz ich von vch gen . . . Auch ist daz von drier hande hindernvsse . . . – vnd minnet sich mer zv der sele. – Pfeiffer II , Nr. 761, S. 238–243 nach Berlin mgq 125 mit Zuziehung von Cgm 133; Quint, Überlieferung [Anm. 9], S. 659– 681 mit Abdruck nach den Basler und Kölner Taulerdrucken; F. Löser [Anm. 9], S. 75–77.
12. 93v –96v Dicta über Armut o
(Nachgetragener Titel: Minor regula paupertatis): Seneca spricht: armvt ist ain gut daz o man hasset . . . 94r Sant Gregorius spricht: Armvt ist ain beraitunge zv geistlichem strite ... v 94 Sant Gregorius spricht Daz man hymelreich mit armvte kaufet, ere mit smahait, ruwe mit arbait. Dis armvte ist ein winkamere geistlichez trostes vf ertreich vnd ist ein balsemschrein ewiger vreuden in hymelrich . . . Textschluss unleserlich, darunter in Textura Jhc amor meus. Zitiert werden Bernhard, Gregor, Beda, Augustinus, ein philosophus, der propheta.
Schreibsprache Der Sprachstand der Handschrift, bisher in der Literatur als md., speziell westmd. bezeichnet und von E. Petzet auf das Hessische eingegrenzt, ist nicht leicht zu definieren und erfordert eine detaillierte Untersuchung. Es handelt sich um eine Sprachmischung aus offensichtlich als gleichberechtigt empfundenen md. und oberdt. Formen, die einheitlich durch die gesamte Handschrift hindurch vom Schreiber verwendet werden. Pfeiffers Textabdrucke aus Cgm 133 sind nach dem seinerzeit üblichen Usus zu normalisiertem Mhd. geglättet, das kaum mehr mundartliche Schreibungen erkennen lässt. Der Lautstand stellt sich wie folgt dar: Neben den überwiegend undiphthongierten ıˆ und uˆ stehen nicht selten zu 〈ei〉 und 〈au〉 diphthongierte Schreibungen. Für ıˆ steht 〈ei〉 häufig in reich und Ableitungen: in himelrich oder in ertreich, reichen, drei (neben drierlaie), vrei, daz man sei gezogen. Öfter ist uˆ zu 〈au〉 diphthongiert: auz, ausser neben vzzen; auf herauf neben hervf; gebrauchen neben gebruchet; häufig lauter, tausent, traurig; iu wird überwiegend durch 〈u, iw〉 wiedergegeben: vch, lute, beduten, verluset, sluzet, getriwen, daneben steht vereinzelt freunde neben frunde,
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getreulich, creuze, euch, rewen;10 auf das Bairische weisen die gelegentlich diphthongierten Personalpronomina deu, seu sowie dreu.11 Unter den Diphthongen fällt besonders die durchgehend sehr häufig und ständig mit 〈ei〉 wechselnde Schreibung 〈ai〉 für altes ei auf. 〈ai〉 gehört der bairischen Schreibtradition und ihren Randgebieten an, kommt aber im md., so auch im westmd. Raum nicht vor.12 Vor allem steht es in den Endsilben -hait, -kait: warhait, ainvnge der hailigen drivaltikait; ain, vnderschaide, vierlai, gaistlich, czaichen. ie ist meist monophthongiert in den Pronomina di, si neben die, sie,13 sonst überwiegen die Diphthonge: neben ieman, nieman, ieclich, hie, dienst stehen seltener Formen wie niman. Der Diphthong ou wird regelmäßig durch 〈au, aw〉 wiedergegeben: auch, augen, gelauben, kaufen, vrawen, schawen, selten durch 〈o, ow〉: globen, schowen; umgelautet gilt 〈eu, ew〉: vreuden, vrewen, gestrewet. o Zur Wiedergabe der Diphthonge uo und üe wechselt 〈u〉 undifferenziert mit unbezeichnetem 〈u, v〉; wie im Md. üblich haben die Superskripte wohl keinen Lautwert. Für den Umlaut von a steht ausschließlich 〈e〉. Eine Kennform des Md. ist sal; es überwiegt in den meisten Texten des Cgm 133 vor dem daneben gebrauchten südlichen sol. Doch steht wohl vorlagenbedingt vor allem im Traktat ‘Schwester Katrei’ fast gleichwertig und abwechselnd sal, du salt neben sol, soltu, 24v vnd solt in getreulich bitten ...hie salt du im vfo tvn din hercze .... Auch svl wechselt mit sal, sol, z. B. in der Eckhartpredigt 71v ... wi di sele svl sin ...si sol sin ... 14 Noch häufiger wechselt md. gen, sten mit den südlichen Formen gan, stan und Ableitungen. 10 Vereinzelte Diphthongierung von ˆı, uˆ und iu in den südlichen Randgebieten des Thüringischen (z. B. Arnstadt, Saalfeld und den südlichen vogtländischen Kanzleien) weist G. Feudel nach: Das Evangelistar der Berliner Hs. Ms. germ. 4° 533 (Deutsche Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23 II), Berlin 1961, § 9c, 10b, S. 203. 11 Vgl. I. Reiffenstein, Zur Schreibsprache des Runtingerbuches (1383–1407), in: Regensburger Deutsch, hsrg. von S. Näßl (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B Untersuchungen 80), Frankfurt / M. 2002, S. 201–224, hier: S. 213 f.; bairische Belege bei K. Weinhold, Bairische Grammatik, Berlin 1867, § 258, 361, 363. 12 Zu 〈ai〉 im Bairischen und Schwäbischen vgl. O. Reichmann / K. P. Wegera (Hg.), Frühnhd. Grammatik (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A Hauptreihe Nr. 12), Tübingen 1993, § L 27; 〈ai〉 war auch in Nürnberg und im 14. Jh. im nördlichen Böhmen, z. B. in Eger gebräuchlich, vgl. K. Gleißner, Urkunde und Mundart auf Grund der Urkundensprache der Vögte von Weida, Gera und Plauen (Mitteldeutsche Studien 9), Halle 1935, S. 71. 13 Monophthongiertes ie speziell in den Pronomina di, si ist auch in bairischen, z. B. Regensburger Texten häufig, vgl. Reiffenstein [Anm. 11] S. 207 f.; Belege in böhmischen und ostfränkischen Hss. vgl. Schneider [Anm. 5], Textbd. S. 40, 45, 51, 112, 117. 14 Zu sal, sol, svl vgl. A. Bernt, Die Entstehung unserer Schriftsprache (Vom Mittelalter zur Reformation 11), Berlin 1934, S. 377–379 mit vielen ostobd. Belegen; nach K. Gleißner [Anm. 12], S. 38 und Karte 5 verläuft die Grenze zwischen sal / sol in den verschiedenen Kanzleien der Vögte von Weida zwischen Greiz und Weida; vgl. auch Feudel [Anm. 10], § 78 f., S. 182, 208.
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〈i〉 für e steht überwiegend im Pronomen iz, is neben seltenerem ez,15 nie aber für unbetontes e in Vor- und Endsilben, im Gegensatz zum Md. wird durchgehend er-, -en, -es, -et geschrieben. Vereinzelt erscheint md. brengen für bringen.16 Md. ist die Verdumpfung von oˆ zu 〈u〉, in Cgm 133 wortgebunden vor allem in hoˆren und Ableitungen: nu hure mich, zvgehvret, daz ir von mir hvrt; o vereinzelt auch in getvdet, daz allerhuhste, erlvst, in nvten.17 Selten steht 〈u〉 für o in georsprvncheit (sonst stets vrsprvnch), profen (sonst prvfen). Im Konsonantismus finden sich nur ganz vereinzelte bairische Schreibungen, wohl als Übernahme aus Vorlagen: b ist sehr selten zu 〈p〉 verhärtet z. B. in enpluzet, entplibe; für anlautendes k steht nur zweimal 〈ch〉 im ‘Zweiwegetraktat’: 16r churczlich, 22r chain. Doch wird auslautendes -c, -g, -k alternierend als 〈-c〉 oder südlicheres 〈-ch〉 wiedergegeben: dinc/dinch, werc/werch, wec/wech, o mac /mach, vrsprvnc/vrsprvnch, auch genvch, wenich, ewich. Nicht zu 〈t〉 verschobenes d erscheint nur in der Kombination 〈ld〉: wolde, solde neben solte, behaldet neben behalten, drivaldikait neben drivaltikait; an- wie auslautend steht immer 〈t〉: trakait, tvn, grvntveste. Westmd. 〈f〉 für b findet sich einmal in of (7r), sonst durchgehend ob. h-Ausfall ist vereinzelt z. B. in hoste, gesen festzustellen. 〈mb〉 wechselt mit 〈mm〉: darvm/darvmbe. Unverschobenes 〈p〉 kommt nicht vor: phant, phliht, pfaffe. Auslautend wechselt 〈z〉 mit 〈s〉: daz/das, iz/is/es, dis, manchmal steht 〈z〉 für s im Genitiv: sin selbez, heiligen geistez,18 anlautendes z ist oft 〈tz〉 geschrieben. Für zz werden unterschiedliche Schreibungen gebraucht: beslozzen, vervlozzen, bese**en, glichnu**e, auch 〈z)〉: besloz*en, vliz*e. Selten kommt md. Praefix zur- für zer- vor: 63v zursluge, auch die md. Form quam, queme ist nicht häufig. Auffällig ist aber die fast durchgehend gebrauchte Schreibung her vor weniger häufigem er.19 Zweifellos ist das Mitteldeutsche eine starke Komponente dieser Mischsprache. Speziell die dominierenden sal und her waren wohl die dem Schreiber geläufigen Formen, doch ist auch der Einfluss des Bairischen unübersehbar, das in den durchgehend und abwechselnd gebrauchten südlicheren Schreibungen 15 Bairische Belege für iz bis ins 15. Jh. bei Weinhold [Anm. 11], § 360; Bernt [Anm. 14], S. 369. 16 Feudel [Anm. 10], S. 209: thüringisch gilt allgemein brengen; Belege auch bei Bernt (Anm. 14), S. 363. 17 Ostmd. Belege bei Bernt [Anm. 14], S. 350, 365; E. Ska´la, Die Entwicklung der Kanzleisprache in Eger 1310–1660 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 25 Reihe B, Bausteine zur Sprachgeschichte des Nhd. 1), Berlin 1967, S. 27 § 4. 18 Beispiele aus Kanzleien der Vögte von Weida bei U. Schulze, Studien zur Orthographie und Lautung der Dentalspiranten s und z (Hermaea NF 19), Tübingen 1967, S. 276 f. 19 Im Ostmd. verläuft die gleiche Grenze zwischen her / er zwischen Greiz und Weida wie für sal / sol, vgl. Gleißner [Anm. 12], S. 38; vorwiegend westmd. Belege bei Th. Klein, He, her – de, der. Zu den r-Pronomina im Md., in: Nd. Studien 44 (1999), S. 141–155; Palmer [Anm. 5], S. 104 f.
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zum Ausdruck kommt und die Lokalisierung der Schreibsprache des Cgm 133 in den westmd.-hessischen Raum wenig wahrscheinlich macht. Zum Vergleich wurden unter anderem zwei etwa gleichzeitige Handschriften geistlichen Inhalts herangezogen, deren Sprachstand als hessisch identifiziert worden ist: die ‘Hessischen Reimpredigten’ in Hamburg SUB cod. in scrin. 9920 und die Oxforder Hs. Bodl. MS Laud misc. 479 des ‘Paradisus anime intelligentis’.21 Der Vergleich lässt erkennen, dass der Schreibsprache von Cgm 133 die hauptsächlichen westmd.hessischen Merkmale durchweg fehlen: im Hessischen bleiben ıˆ, uˆ und iu undiphthongiert; altes ei erscheint nie als 〈ai〉, aber vereinzelt als 〈e〉; kurzes e in Vorund Nachsilben wird zu 〈i〉, Längungs-〈i〉 bezeichnet häufig Langvokale; p und t sind nicht oder selten zu 〈ph, pf〉 und 〈z〉 verschoben, d im Anlaut nicht zu 〈t〉 lenisiert, 〈b〉 steht für f. Auch westmd. Formen wie ur, eme/ume für ir, ime oder nut für nicht fehlen in Cgm 133. Wahrscheinlicher als Hessen ist daher als Entstehungsgebiet des Cgm 133 ein Sprachraum zwischen dem nördlichen Ostfränkischen, nördlichsten Bairischen bis hin zum Vogtländischen und Nordböhmischen, abgegrenzt im Norden gegen das Thüringisch-Obersächsische.22 Angesichts der Sprachmischung muss auch der Einfluss einer Vorlage in Betracht gezogen werden, die dann wohl weiter südlich anzusetzen wäre. Eindeutig bairisch ist dagegen die Schreibsprache der kurzen Nachtragstexte mit durchgehend diphthongiertem ıˆ: dein, himelreich, ewichleich, lobleich; der a-Umlaut wird durch 〈æ〉 wiedergegeben: bræchtest, næsten; altes ei ist stets 〈ai〉: maister, rain, ainleft, waist; 〈ch〉 steht für k in bechennest, bairische Formen sind v bischolf, hietest. Weniger gut einzuordnen sind die Superskripte in tochter, e Strazburch. Einordnung der Schrift Wichtiger als die Lokalisierung der Schreibsprache ist die Datierung der Schrift des Cgm 133. Die Entstehungszeit der Handschrift ist in der Literatur kontrovers beurteilt worden, die Datierungsvorschläge reichen vom frühen 14. Jh.23 über die 1.24 und 2. Hälfte25 bis zum Ende des 14. Jh.s.26 20 B. Lenz-Kemper, Zur Überlieferung der Hessischen Reimpredigten, in: ZfdA 134 (2005), S. 336–362, zum Sprachstand S. 341–343. 21 N. F. Palmer [Anm. 5], S. 101–107 zur Schreibsprache. 22 Z. B. im ostthüringischen Beichtspiegel des Cunrad Merbot, Jena UB Ms. El. f. 48, 267ra –268va, Weida 1399, hg. von H. Mettke, Die Beichte des Cunrad Merbot von Weida, Halle 1958; oder im Evangelistar des Henricus von Landishut 1340, Berlin mgq 533, von G. Feudel [Anm. 10] hg. und sprachlich untersucht. 23 Beurteilung des Buchschmucks von B. Hernad [Anm. 2]. 24 So im Marburger Repertorium. 25 Petzet [Anm. 2]. 26 So bei Schweitzer [Anm. 9] und K. Ruh (vgl. oben Text Nr. 1).
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Der schlichten unprätentiösen Gebrauchshandschrift entspricht die zur Aufzeichnung der Texte verwendete einfache, oft ungleichmäßig in absoluter Größe schwankende und leicht linksgeneigte Textualis, die dennoch auf einen geübten Schreiber oder eine Schreiberin schließen lässt. Alle zeitraubenden Schriftelemente fehlen: auf Verzierungen jeglicher Art wurde verzichtet, die Oberschäfte beginnen gerade, nur vereinzelt mit durchgezogenen Schleifen, sämtliche Verbindungen zwischen einander zugekehrten Bögen, selbst zwischen d und e fehlen. Unter den Buchstabenformen fällt das stets einbogige a auf, das nur als Majuskel die zeitgemäß zweistöckige Form hat; altertümlich wirken auch die langen Striche auf dem i und das fast ausschließlich gebrauchte lange Schluss-). Keine näheren Hinweise auf die Entstehungszeit können die seit dem Ende des 13. Jh.s üblichen Formen des kurz und meist rund auf die Zeile hochgezogenen g-Unterbogens, der nicht mehr auf die Zeile reichende Bogenteil des k, rundes r nach o, d, b, p, v und h, das geschwänzte z und die tt-Ligatur mit hohem zweitem Schaft geben. Auch die Majuskeln weisen keine neuen Formen auf. Runde, altertümlich anmutende Zirkumflexe stehen gelegentlich, am häufigsten im Traktat ‘Schwester Katrei’, auf eˆ. Trennungsstriche am Zeilenende fehlen ganz. Abbreviaturen werden reichlich verwendet, die den Schreiber wie die Rezipienten als geübt in der Lektüre dieser Art von Literatur ausweisen: neben den üblichen Nasalstrichen und r-Häkchen auch die für ein theologisches Vokabular typischen Kürzungen, sp’, sp a für spricht, sprechen, sprach, creat, nat, natlich, ìsonlich, sb’til, ew m oder Autorennamen wie Dyo 9, Aug 9. Die Buchstabenformen dieser einfachen Textualis sind in den Jahren um 1300 und noch im 1. Viertel, höchstens 1. Drittel des 14. Jh.s gebräuchlich gewesen. Vergleichshandschriften zur zeitlichen Einordnung entstanden im nämlichen Raum, in den bereits die Schreibsprache gewiesen hatte: der Schrifttyp wurde z. B. in dem nordböhmisch-oberfränkisch-südvogtländischen Skriptorium gepflegt, in dem der Kalocsa-Codex der Bodmeriana und seine Schwesterhandschrift cpg 341 entstanden,27 wenn auch diese als literarische Repräsentationscodices ein sorgfältigeres Niveau mit stärker verzierten Buchstaben aufweisen. Gut vergleichbar ist auch die Textualis der ‘Sächsischen Weltchronik’ in Wolfenbüttel 23.8 Aug. 4°, vielleicht im Nürnberger Raum im 1. Viertel des 14. Jh.s geschrieben,28 einen ähnlichen Schrifttyp verwendet ein Johannes de Opwerden in einer lateinischen medizinischen Sammelhandschrift, die er 1321 für einen Propst Arnold in Bamberg schrieb.29 Diese zum Vergleich mit der eher altertümlichen Textualis des Cgm 133 herangezogenen Handschriften lassen sich sämtlich dem ersten Jahrhundertviertel 27 Zu Cologny, Cod. Bod. 72 und Heidelberg UB cpg 341 vgl. Schneider, Got. Schriften [Anm. 5], S. 41– 44 und Abb. 32. 28 Schneider, Got. Schriften [Anm. 5], S. 48 f., Abb. 37. 29 Basel UB D I 17, Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, Bd. I, Dietikon / Zürich 1977, Tafelband Abb. 4.
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bzw. -drittel zuordnen. Cgm 133 ist wohl in den zwanziger Jahren entstanden, und damit ist dem Ansatz noch zu Lebzeiten Meister Eckharts († 1328), den Pfeiffer äußerte, durchaus zuzustimmen. Es ist nicht der einzige frühe erhaltene Textzeuge der deutschen Predigten Eckharts: das Fragment in Nürnberg GNM 1853730 stammt ungefähr aus der gleichen Zeit, wohl ein Jahrzehnt älter ist das neu identifizierte Göttinger Fragment (Georg-August-Universität, Diplomat. Apparat, 10 E IX Nr. 18). Für die in Cgm 133 überlieferten nicht-eckhartischen Texte ist die Handschrift der älteste erhaltene derzeit bekannte Textzeuge. Kurt Ruhs Vermutung,31 der Verfasser der ‘Glosse vom Überschall’ habe Cap. 52 von Seuses 1362/63 redigierter ‘Vita’ benutzt, ließ sich nur halten, solange der Einsiedler Cod. 277 aus dem 3. Viertel des 14. Jh.s als älteste Handschrift der ‘Glosse’ galt; Ruh datierte jedoch Cgm 133 um die Jahrhundertwende, d. h. um 1400, und setzte die gesamte erhaltene Überlieferung der ‘Glosse’ zwischen ca. 1370 und 1450 an. Vom ‘Zweiwegetraktat’ sind bisher keine in der ersten Hälfte des 14. Jh.s entstandenen Handschriften bekannt geworden, die ältesten Textzeugen (Basel UB B XI 10, Berlin mgq 1486, mgo 12, mgo 4 und Nürnberg StB Cent. IV 40) gehören der 2. Hälfte des 14. Jh.s an. Der Traktat ‘Schwester Katrei’ ist nach Schweitzers32 Untersuchungen im Zusammenhang mit der Beginenverfolgung in Straßburg frühestens 1317 verfasst worden. Stimmt man diesem Ansatz zu, dann kann der Text in Cgm 133 kaum vor ca. 1320 bzw. in den zwanziger Jahren niedergeschrieben sein; in diesen Zeitraum weist auch die Schrift. Nicht zutreffen kann dagegen Schweitzers Schlussfolgerung, Cgm 133 und die verbrannte Straßburger Hs. A 98 seien »relativ späte Fassungen des Traktats, die etwa gegen Ende des 14. Jh.s entstanden sein mögen«.33 O. Simon sah in der Darstellung des Handschriftenverhältnisses34 die Fassung des Cgm 133 zusammen mit Straßburg A 98 den jüngeren Handschriften der Unterklasse 1 vorausliegend, da sie deren spätere Einfügungen nicht hat. Ungeachtet seiner Textfassung bleibt Cgm 133 der älteste bekannte Textzeuge des Traktats; kaum viel jünger, d. h. um Mitte/ 3. Viertel des 14. Jh.s dürfte Straßburg, Bibl. nat. et univ. 2080 zu datieren sein,35 die Abschrift in Stuttgart WLB cod. brev. 88 stammt aus dem 3. Jahrhundertviertel. 30 Schneider, Got. Schriften [Anm. 5] S. 58 und Abb. 50; vgl. G. Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften, Tübingen 2002, S-209–302, hier S. 248 f. und Abb. 10. 31 Vgl. oben Text Nr. 1. 32 Vgl. oben Text Nr. 4. 33 Schweitzer S. 193. Den Inhalt der vernichteten Straßburger Hs. A 98, von der leider keine Abbildung als Datierungshilfe existiert, rekonstruierte O. Simon S. 9 f. aus Pfeiffers Nachlass; sie gehörte nach Pfeiffers Urteil »zweifellos zu den ältesten und für die ältere deutsche Mystik wichtigsten Dokumenten«. 34 Simon [Anm. 9], S. 50. 35 Abgedr. von A. Birlinger, Tractate Meister Eckharts, in: Alemannia 3 (1875), S. 15– 45; die Hs. war zu dieser Zeit in seinem Besitz.
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In der Forschung wird allerdings einhellig die schlechte Überlieferung der in Cgm 133 enthaltenen Texte betont. J. Quint sprach vom »unzuverlässigen Text« des Cgm 133, der zusammen mit Basel A V 41 den »relativ schlechtesten Text« bietet.36 Der Schreiber von Cgm 133 war wahrhaftig kein sorgfältiger Kopist. Verderbte Texte mögen zum Teil bereits aus der Vorlage übernommen sein, doch sind hier ihre Abschriften auch zusätzlich ziemlich fehlerhaft. Nicht nur unverständliche, weil wohl unverstandene Textstellen, sondern auch bloße Schreibfehler sind häufig. Hat der Schreiber selbst solche Fehler bemerkt, so nahm er Korrekturen der betreffenden Stellen durch einfache rote Durchstreichungen vor, doch sind auch viele Fehlschreibungen unkorrigiert geblieben, häufig Wortwiederholungen (Mange lute sagent sagent von aht hymeln; daz ist daz daz ewige wort ). In dem äußerlich schlichten, inhaltlich aber anspruchsvollen Erbauungsbüchlein liegt trotz der recht fehlerhaften Darbietung die älteste bekannte Aufzeichnung der meisten enthaltenen Texte vor; durch die Entstehungszeit wohl in den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts ist Cgm 133 ein wichtiger, in seiner Bedeutung für die Abfassung und frühe Überlieferungsgeschichte der aufgezeichneten Texte bisher verkannter Textzeuge.
36 Quint, Überlieferung [Anm. 9], S. 670 zu Predigt 60 Meister Eckharts.
München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 133, Bl. 23 v–24 r
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Neues vom Österreichischen Bibelübersetzer Proverbia, Ecclesiastes und die Verteidigung der Laienbibel in der ‘Vorrede I’ von Freimut Löser
I. Es »dürfte dieser Übersetzer von seiner Intention her den Vollübersetzern nicht so fernstehen oder zumindest doch der erste Bibelübersetzer sein, der ein umfassend angelegtes Bibelwerk schuf. Ihn dürfte man daher mit einigen Einschränkungen sogar den Schöpfer einer ›ersten deutschen Bibel‹ nennen.«1 Diese Einschätzung des sogenannten Österreichischen Bibelübersetzers durch Kurt Gärtner hat die Forschung befruchtet; sie hat unter anderem dazu geführt, dass ihm in der letzten Festschrift zwei Beiträge gewidmet wurden, die sich mit diesem Thema befassten.2 Aber es geht immer weiter mit dem Österreichischen Bibelübersetzer, dessen Corpus weiter wächst, mit der Forschung, die weiter vorankommt, und mit den Festschriften für Kurt Gärtner. Sein Dictum gibt immer wieder zu denken: »Der Österreichische Bibelübersetzer eröffnet in der religiös bewegten Zeit Ludwigs des Bayern, vermutlich unterstützt von den Franziskanern, eine neue Epoche der deutschen Bibelübersetzung. Mit seiner Verteidigung der ›Laienbibel‹ in den programmatischen Vorreden steht dieser erste Bibelübersetzer von Rang am Anfang einer Reihe, die über den niederländischen Bijbelvertaler, über Wyclif und Hus zu Luther führt.«3 Als wir auf diese 1 Kurt Gärtner, Die erste deutsche Bibel? Zum Bibelwerk des Österreichischen Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Mit zwei neuen Handschriftenfunden zum ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ und zum ‘Psalmenkommentar’, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter. Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg / Eichstätt 13), hg. von Horst Brunner und Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993, S. 273–295, hier S. 289. 2 Gisela Kornrumpf, Das ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ des Österreichischen Bibelübersetzers. Bemerkungen zur Erstfassung anhand von Wülckers Fragment, in: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag, hg. von Va´clav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S. 677– 688; Freimut Löser, Heinrich von Mügeln und der Psalmenkommentar des ‘österreichischen Bibelübersetzers’, ebd., S. 689–708. 3 Gärtner [Anm. 1], S. 289. Zum Vergleich mit dem Bijbelvertaler, mit Wyclif, Hus und Luther schon: Freimut Löser und Christine Stöllinger-Löser, Verteidigung der Laienbibel. Zwei programmatische Vorreden des Österreichischen Bibelübersetzers der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell (FS Kurt Ruh zum 75. Geburtstag = Texte und Textgeschichte 31), Tübingen 1989, S. 245–313, hier S. 256–259.
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Bedeutung und diese europäischen Vergleichsmöglichkeiten erstmals hinwiesen, ging es meiner Frau und mir dabei vor allem um die genannten programmatischen Vorreden und um die Verteidigungsstrategien, die deren Verfasser anwandte. Denn offensive Verteidigung hatte er offensichtlich deshalb besonders nötig, weil er an zwei Fronten gleichzeitig in Auseinandersetzungen verstrickt war: bei eigenen Angriffen gegen zeitgenössische Ketzerbewegungen und bei Abwehrkämpfen gegen die eigene Orthodoxie. Das Werk dieses Mannes war seit der grundlegenden Arbeit Alfred Bergelers4 durch Arbeiten Kurt Gärtners,5 F. W. Ratcliffes,6 Fritz Peter Knapps,7 besonders Gisela Kornrumpfs8 und bescheidene Beiträge meinerseits9 zwar überschaubar geworden, weil man die Werke einordnen und übersichtlich gruppieren konnte; andererseits war es immer weiter angewachsen, weil man immer mehr Handschriften und Werke identifizierte. Nachdem teilweise der Name Wolfhart (vielleicht doch nur des Schreibers einer Handschrift) erwogen worden war,10 hat man sich jetzt auf den 4 Alfred Bergeler, Das deutsche Bibelwerk Heinrichs von Mügeln, Berlin 1938; Ders., Kleine Schriften Heinrichs von Mügeln im Cod. Vind. 2846, in: ZfdA 80 (1944), S. 177–184. 5 Kurt Gärtner und Bernhard Schnell, Die Neisser Handschrift des ‘Klosterneuburger Evangelienwerks’, in: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters, hg. von Heimo Reinitzer (Vestigia Bibliae 9/10 [1987/1988]), Bern u. a. 1991, S. 155–171; Va´clav Bok und Kurt Gärtner, Fragmente des Heinrich von Mügeln zugeschriebenen Psalmenkommentars in Krumau, in: PBB 114 (1992), S. 288–305; Kurt Gärtner, Zur neuen Ausgabe und zu neuen Handschriften der ‘Kindheit Jesu’ Konrads von Fußesbrunnen, in: ZfdA 105 (1976), S. 11–53; Kurt Gärtner, Zur Herkunft der Psalmenübersetzung im ‘Psalmenkommentar’ Heinrichs von Mügeln, in: Reinitzer 1991 [s. o.], S. 97–106; Kurt Gärtner, ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’, in: 2VL 4 (1983), Sp. 1248–1259. 6 F. W. Ratcliffe, The Psalm Translation of Heinrich von Mügeln, in: Bulletin of the John Rylands Library 43/2 (1961), S. 426– 451; Ders., Die Psalmenübersetzung Heinrichs von Mügeln: die Vorrede, der ‘schlichte’ Psalmentext und Probleme einer Herausgabe, in: ZfdPh 84 (1965), S. 46–76. 7 Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1493, I. Halbband (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2/1), Graz 1999, S. 215–233. 8 Gisela Kornrumpf, ‘Das Klosterneuburger Evangelienwerk’ des österreichischen Anonymus. Datierung, neue Überlieferung, Originalfassung, in: Reinitzer 1991 [Anm. 5], S. 115–131; Gisela Kornrumpf, Österreichischer Bibelübersetzer, in: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. von Walther Killy u. a., Bd. 8, S. 492 f.; vgl. dazu Freimut Löser, ‘Schlierbacher Altes Testament’, in: 2VL 8, Sp. 720–726. 9 Freimut Löser, Ein zweiter Textzeuge des ‘Schlierbacher Alten Testaments’. Zur Laienmissionierung des 14. Jahrhunderts in Österreich, in: Reinitzer 1991 [Anm. 5], S. 132–154; Löser [Anm. 8]; Freimut Löser, Deutsche Bibelübersetzungen im 14. Jahrhundert. Zwölf Fragen, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 311–323. 10 Gisela Kornrumpf, ‘Wolfhart’, in: 2VL 10, Sp. 1361–1363; dort auch weitere Literatur, insbesondere: Max Siller, ‘Die Krainer Marienklage’. Fragmente des ‘Klosterneuburger Evangelienwerks’ im Nationalarchiv von Laibach (Collectanea I), in: Jugoslawien –
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von meiner Frau und mir vorgeschlagenen Notnamen ›österreichischer Bibelübersetzer‹ geeinigt. Immer noch aber gilt Kurt Gärtners Postulat von 1993: »Die versprengten Teile dieses Werks, die bis jetzt anhand von Vergleichen der Vorreden und der Selbstzitate zusammengebracht wurden, [...] bilden wohl noch nicht die vollständige Summe dessen, was er alles übersetzt hat. Das Aufspüren und Zusammenbringen weiterer Texte, die Prüfung ihrer Überlieferung und die Erarbeitung ihrer Textgeschichte gehören zu den vorrangigen Forschungsaufgaben, die in Editionen des Bibelwerks zu münden hätten.«11 All dies ist im Gang. In Augsburg arbeitet man, dank der Förderung durch die DFG , an der Edition des sogenannten ‘Schlierbacher Alten Testaments’. Und das »Aufspüren« hat zu neuen Ergebnissen geführt: Nach weiteren Funden von Fragmenten,12 von Handschriften und im Fall von Gisela Kornrumpfs sensationell zu nennenden Funden auch von Texten13 stellt sich das Gesamtwerk, zuletzt präzise zusammengefasst ebenfalls von Kornrumpf,14 so dar:15 Von der oben erwähnten Ausnahme des Schreibers(?) Wolfhart abgesehen, ist das Werk anonym und zu sehr großen Teilen erst im 15. Jahrhundert überliefert. Es umfasst im Wesentlichen zwei Gruppen von Texten. 1. Traktate, vor allem eschatologische und häresiologische Traktate: ‘Vom Antichrist’, ‘Vom jüngsten Tag und Gottes Gericht’, ‘Vom Irrtum der Juden und dem Unglauben der Philosophen und Ketzer’ u. ä. Die Texte waren lange (und sind teils heute noch) nur aus einer Handschrift bekannt: Wien ÖNB , cod. 2846 (erst vom Jahr 1478).16 Dabei handelt es sich nur zum Teil um gekürzte, teils erweiterte
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Österreich. Literarische Nachbarschaft, hg. von Johann Holzner und Wolfgang Wiesmüller (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 28), Innsbruck 1986, S. 219–232, bes. S. 277 f. Gärtner [Anm. 1], S. 289. Freimut Löser, ‘Lucidarius’, Walther von der Vogelweide und der Österreichische Bibelübersetzer. Einige Handschriftenfunde in Tschechien, in: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, hg. von Ralf G. Päsler und Dietrich Schmidtke. Heidelberg 2006, S. 427– 450, hier S. 438– 450. Gisela Kornrumpf, Nova et vetera. Zum Bibelwerk des österreichischen Laien der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung ‘Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter’, hg. von Ralf Plate und Andrea Rapp (Vestigia Bibliae 24/25 [2002/2003]), Bern 2004, S. 103–121. Gisela Kornrumpf, ‘Österreichischer Bibelübersetzer’, in: 2VL 11, Sp. 1097–1110. Ich folge meiner Darstellung in der Gärtner-Festschrift von 2003 [Anm. 2] und in der Veröffentlichung von 2006 [Anm. 12], ergänzt um die Beobachtungen Kornrumpfs [Anm. 13 und 14]. Titel nach Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek Bd. I, Berlin 1960, S. 417– 419. Zur Zuordnung der Werke zum Œuvre des Österreichischen Bibelübersetzers: Bergeler 1944 [Anm. 4]; zum ‘Antichrist’: Paul-Gerhard Völker, Vom Antichrist. Eine mittelhochdeutsche Bearbeitung des Passauer Anonymus (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 6), München 1970.
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und ins Deutsche übertragene Exzerpte aus dem lateinischen Sammelwerk des sogenannten Passauer Anonymus über Antichrist, Juden und Ketzer aus der Mitte des 13. Jahrhunderts.17 Der Befund zur Überlieferung der genannten Werke konnte in der letzten Zeit ebenso erweitert werden wie (durch Neuzuschreibungen) der Traktatkomplex selbst: Gisela Kornrumpf hat auf zwei Contra Judaeos-Traktate in anderen Handschriften aufmerksam gemacht.18 Ich konnte ein früher verlorenes, abschriftlich aber erhaltenes Fragment aus Tepl identifizieren, das bei der Beschreibung der Tepler Bestände ins 14. Jahrhundert datiert worden war und das inzwischen wieder aufgetaucht ist.19 Für diesen, nicht nur kultur- und mentalitätsgeschichtlich hochinteressanten Komplex fehlten lange – vom ‘Antichrist’ teilweise abgesehen – inhaltliche Untersuchungen. Sie sind inzwischen für die judenfeindlichen Texte durch Manuela Niesner vorgelegt worden.20 Aus textgeschichtlicher und intertextueller Warte besteht darüber hinaus dringender Klärungsbedarf, was den genauen Zusammenhang zwischen den Traktaten und den Bibelübersetzungen und -glossierungen (s. u.) betrifft. Unsere Kommentierung der kritischen Ausgabe der Verteidigungsschriften hat Beziehungen (zum Teil wörtliche Zitate) zwischen Traktaten und Verteidigungsschrift sichtbar gemacht, wie sie auch für weitere Werke des Verfassers zu erwarten sind. Insbesondere wäre auch der mögliche Zusammenhang zwischen dem Traktat ‘Vom jüngsten Tag ...’ und der unten genannten ApokalypseÜbersetzung zu klären. Eine genaue Zusammenstellung aller Einzeltitel und der Hinweis auf weitere (auch zu erwartende) Textzeugen der Traktate finden sich jetzt bei Kornrumpf.21 2. Übersetzung, Bearbeitung und Glossierung biblischer Texte a) Das ‘ S c h l i e r b a c h e r A l t e Te s t a m e n t ’ [SAT ] hat seinen Namen von dem früher einzig bekannten Textzeugen aus dem österreichischen Schlierbach. Dazu kam vor etlichen Jahren eine Handschrift aus Melk,22 die älter und vollständiger 17 Vgl. Alexander Patschovsky, Der Passauer Anonymus. Ein Sammelwerk über Ketzer, Juden, Antichrist aus der Mitte des 13. Jahrhunderts (Schriften der MGH 22), Stuttgart 1968, S. 13–15, Anm. 54. 18 Kornrumpf 1991 [Anm. 8], vgl. insbesondere Kornrumpf [Anm. 2] mit Hinweis auf Manuela Niesner, Die Juden in den Teichnerreden, in: ZfdA 129 (2000), S. 38–96, hier S. 51 f. 19 Freimut Löser und Dietrich Schmidtke, »Suchet ihr, so suchet«, in: Ruperto Carola. Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 3 (1998), S. 26–30, hier S. 28 und Löser [Anm. 12]. 20 Manuela Niesner, »Wer mit juden well disputiren«. Deutschsprachige AdversusJudaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (MTU 128); vgl. dazu auch Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin / New York 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61 [295]), S. 133, 138, 180, bes. 255 f., 283. 21 Vgl. Kornrumpf [Anm. 14]. 22 Melk, Stiftsbibl. Cod. 329 (v. J. 1421); vgl. Löser 1991 [Anm. 9]; Löser / StöllingerLöser [Anm. 3], S. 261.
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ist als die Schlierbacher. Auf die Existenz eines dritten, noch älteren und noch vollständigeren Textzeugen hat Kornrumpf inzwischen hingewiesen (Citta` del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Ross. 694, olim X, 74).23 Diese Teilübersetzung des Alten Testaments, die gerade ediert wird, entstand mit Sicherheit geraume Zeit nach dem ‘Evangelienwerk’ und enthält ‘ G e n e s i s ’ , ‘ E x o d u s ’ , ‘ To b i a s ’ , ‘ D a n i e l ’ und – nach Ausweis der Melker wie der zuletzt entdeckten Handschrift – ursprünglich auch das Buch ‘ H i o b ’ , das bis dato nur aus den Handschriften der Historienbibel-Gruppe III bekannt war.24 Die Übersetzung enthält nur eine Auswahl aus dem biblischen Buch Iob, stellt stellenweise um, paraphrasiert und glossiert. Ein vergleichbares Verfahren prägt die gesamte Teilübertragung aller vorliegenden Bücher des Alten Testaments: Eingriffe kürzender Natur sind zahlreich, die Glossierung ist sehr viel sparsamer als im ‘Evangelienwerk’ (s. u.). b) Der P s a l m e n k o m m e n t a r , der in der ältesten datierten Handschrift dem e getrewen Mann Hainreichen vom Mugellein und deshalb in der Forschung dem bekannten Dichter Heinrich von Mügeln zugeschrieben wurde, ist mit einer Reihe von Problemen verbunden: Die Gültigkeit dieser Zuweisung an Mügeln wurde sowohl aus Gründen der Chronologie25 als auch aus anderen Erwägungen bestritten, zuletzt von Kurt Gärtner stark in Zweifel gezogen.26 Die Forschung ist diesem Urteil weitgehend gefolgt.27 Andererseits bestand eine gewisse Unsicherheit fort: Fritz Peter Knapp hat beispielsweise in seiner Literaturgeschichte darauf verzichtet, unter den Werken des österreichischen Anonymus auch den Psalmenkommentar zu behandeln.28 Dabei sind die Zusammenhänge evident: Schon Bergeler (wie bereits vor ihm Friedrich Maurer) hatte enge inhaltliche, zum Teil wörtliche Parallelen29 zwischen den beiden Verteidigungsschriften und der sogenannten ›erweiterten Vorrede‹ (Vorrede C) des Psalmenkommentars bemerkt. Der Psalmenkommentar ist breit überliefert. Die Zuschreibung an Heinrich von Mügeln kann sich nur auf das Kolophon einer einzigen – allerdings sehr alten – Handschrift stützen. Man hat den Text in die 60er Jahre des 14. Jahrhunderts, später auch etwa um 1355 datiert. Gesichert ist 23 Vgl. Kornrumpf [Anm. 13], S. 109. 24 Vgl. zu den Einzelheiten Löser 1991 [Anm. 9]; Löser/Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 247. 25 Vgl. den Kommentar zur Edition: Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 250, Anm. 18; Karl Stackmann, Heinrich von Mügeln, in: 2VL 3, Sp. 815–827; Ders., Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958. 26 Gärtner 1991 [Anm. 5]. 27 Vgl. etwa Arno Mentzel-Reuters, Oufsliessen deiner schrifte tor. Mitteldeutscher Biblizismus und die Wenzelsbibel, in: Wolfram-Studien 13 (1994), S. 174–206, hier S. 181, Anm. 14. 28 Knapp [Anm. 7]. 29 Vgl. Bergeler 1938 [Anm. 4], S. 30–33 und Friedrich Maurer, Studien zur mitteldeutschen Bibelübersetzung vor Luther, Heidelberg 1929, S. 19.
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die Entstehung nach 1326 (Abschluss des lateinischen Psalmenkommentars des Nikolaus von Lyra, der über weite Strecken als Vorlage diente) und vor 1372 (älteste datierte Handschrift des deutschen Textes). Zu dem deutschen Psalmenkommentar sind drei verschiedene Vorreden überliefert (A, B, C).30 Die unbestreitbaren Parallelen zu den beiden Verteidigungsschriften (s. u.) finden sich dabei nur in einem einleitenden, apologetischen Teil der Vorrede C.31 Ratcliffe aber hielt die kürzeste Vorrede (A) für die ursprüngliche, Vorrede C hingegen für eine »erweiterte« Kompilation; er nahm an, dass der Kompilator der Vorrede C die beiden Verteidigungsschriften des Anonymus benutzt hat, um dem Mügel’schen Kommentar eine neue Verteidigung voranzustellen; damit konnte Heinrich von Mügeln weiter als Verfasser des Psalmenkommentars gelten. Kornrumpf32 freilich denkt das Verhältnis der Vorreden mit Recht exakt umgekehrt (C nicht erweitert, sondern älter, A gekürzt). Schließlich habe ich (in der letzten Festschrift für Kurt Gärtner) den Psalmenkommentar – aus philologischen und inhaltlichen Gründen – Mügeln abgesprochen und eindeutig dem Werk des Österreichischen Bibelübersetzers zugeordnet. Es war Kurt Gärtner, der enge Beziehungen zwischen der Psalmenübersetzung des Psalmenkommentars und den Psalmenzitaten des ‘Klosterneuburger Evangelienwerks’ (s. u.) nachgewiesen hatte.33 Gärtner war dabei zu dem Ergebnis gelangt, »daß die Zitate im ‘Evangelienwerk’ unverkennbar die gleiche Übersetzung bieten wie der Psalmenkommentar und daß diese mit keiner anderen Psalmenübersetzung verwandt ist.«34 Das bedeutete, »daß die Psalmenübersetzungen in beiden Werken von einem einzigen Bibelübersetzer herrühren müssen. Wegen der Datierung des ‘Klosterneuburger Evangelienwerks’ auf 1330 kann auch aus chronologischen Gründen Heinrich von Mügeln als Psalmenübersetzer kaum mehr in Betracht kommen.«35 Aus allen genannten Gründen hat der gesamte Psalmenkommentar samt seiner Vorreden als Werk des österreichischen Bibelübersetzers zu gelten. Er ist – anders als die Bücher des ‘SAT ’ – nicht spärlich, sondern reichhaltig kommentiert, geht dabei Vers für Vers vor und folgt in den Kommentaren Nikolaus von Lyra. Ich zitiere ihn hier nach der ältesten Handschrift aus Rein. c) Weil die Verteidigungsschriften des Anonymus (s. u.) sehr häufig aus P r o v e r b i a u n d E c c l e s i a s t e s zitieren und weil die Zitate z. T. wortwörtlich mit der Zitation dieser Bibelbücher im sogenannten Wiener ‘Fürstenspiegel’36 übereinstimmen, hatten meine Frau und ich vermutet, dass der Verfasser in beiden 30 Gedruckt bei Ratcliffe 1965 [Anm. 6]. 31 Vgl. Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3], Kommentar zu I,8–10; 10–12; 13; 14 f.; 47; 50; 51 f.; 210 f.; 238–240; II ,4 f.; 8–10. 32 Kornrumpf [Anm. 14], Sp. 1101–1103; dort auch detailliert zur Überlieferung. 33 Gärtner 1991 [Anm. 5]. 34 Ebd., S. 101. 35 Ebd., S. 103. 36 Thematisch geordnete und glossierte Auszüge aus den Salomonischen Weisheitsbüchern und Jesus Sirach, die in Wien, ÖNB , cod. 2846 auf die oben unter Nr. 1
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Fällen aus einem eigenen Ecclesiastes-Kommentar zitiert und dass er die Proverbia ebenfalls übersetzt und kommentiert hat.37 Diese Proverbia- und Ecclesiastes-Fassung scheint mit der durch Kornrumpf inzwischen entdeckten weiteren Handschrift des ‘Schlierbacher Alten Testament’ vorzuliegen: Sie enthält nach weiteren Texten des Anonymus (darunter eine lateinische Verteidigung) auch die Geleichnuzz vnd pedeutnuzz Salomons und Ecclesiastes;38 man kann also Kornrumpf zustimmen: »Eine glossierte Übersetzung der ‘Proverbia’ und des ‘Ecclesiastes’ ist mit dem Codex Rossianus [...] ans Licht gekommen, dort 123ra –197vb. Ein Fragment des 14. Jahrhunderts hat Gerold Hayer identifiziert (Veröffentlichung in Vorbereitung). [Schon Wilhelm] Walther kannte die [gleiche] Übersetzung, [freilich] ohne glosa aus Dresden, LB-SB u. UB , Mscr. M 208 (15. Jh.), 1r –102v (mit Lücken) und hat [diese Übersetzung mit Recht] für ›viel älter‹ gehalten als die einzige ihm bekannte Handschrift.39 [...] Vollständige Übersetzungen von ‘Sapientia’ und ‘Jesus Sirach’ bleiben noch aufzufinden.«40 Zu vermuten sind auch diese wegen der zahlreichen Zitate im Traktatkomplex der Wiener Handschrift. Damit deutet sich – nach den sukzessiven Funden der jüngsten Zeit – ein Komplex biblischer Bücher an, der mit Sicherheit noch umfangreicher war, als wir heute sehen können. d) »An eine P r o p h e t e n ü b e r s e t z u n g dachte Bergeler. Das ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’-Florileg im Codex Rossianus 68ra –123ra und 197vb –203rb kommt zumindest einem glossierten ‘Prophetenauszug’ nahe, da der Redaktor die Weissagungskapitel bevorzugte.«41 e) Bei dem gerade genannten ‘Klosterne uburger Evangelienwerk’ [KEW ]42 handelt es sich um eine harmonisierte und in Perikopen eingeteilte Prosaübersetzung der Evangelien (einschließlich Act 1–5 und des apokryphen ‘Evangelium Nicodemi’ unter Verwendung weiterer, auch volkssprachlicher Quellen, in einigen Handschriften aufgefüllt durch weitere Texte des Anonymus). Die
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erwähnten Traktate folgen und deren bisherige Einordnung als ‘Fürstenspiegel’ so nicht zu halten ist. Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 248. Etwa zeitgleich mit dem Fund durch Gisela Kornrumpf (bekanntgemacht seinerzeit ohne Angabe des Fundortes und der Hs.-Signatur) war unabhängig davon auch meine Frau, Christine Stöllinger-Löser, auf diese Handschrift gestoßen. Uns liegt eine ältere Beschreibung vor und wir haben die Handschrift einsehen können. Dem Fundbericht Kornrumpfs sollte nicht vorgegriffen werden. Details bei Kornrumpf [Anm. 13]. Textproben aus dem Cod. Ross.: Kornrumpf [Anm. 13]; Prv 1,1–10 und Eccl 1,1– 6 nach der Dresdener Hs.: Wilhelm Walther, Die deutsche Bibelübersetzung des Mittelalters, 3 Bde., Braunschweig 1889–1892 (Nachdruck Nieuwkoop 1966), S. 542, vgl. Sp. 541–545 (28. Zweig); H. Vollmer, in: BdK 10 (1940), S. 45*. Nachweise und Zitat bei Kornrumpf [Anm. 14], Sp. 1103. Ebd. Ebd. Vgl. Gärtner 1983 [Anm. 5].
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Überlieferung des Werks umfasst mehr als 23 Textzeugen;43 es handelt sich also um einen außerordentlich wirkmächtigen Text. Die Version des ältesten und prächtigsten Codex (Schaffhausen, StB , Gen. 8, um 1340) hat sich, den Forschungen Kornrumpfs zufolge, bereits als Bearbeitung erwiesen: Das Werk lag in einer Erstfassung bereits 1330 oder früher vor.44 Dazu Kornrumpf: Untersuchungen zur Gesamtkomposition und zu Quellenfragen müssten von der Erstfassung ausgehen. Seinen Evangelientext hat der Österreichische Bibelübersetzer selbstständig erstellt [. . .], der lateinischen Verteidigungsschrift [. . .] zufolge secundum concordancias Ewangelistarum; und für die Glossierung las er multas omelias et glosas exposicionesque sanctorum et doctorum [. . .]. Auch die vorangegangene Arbeit an den Traktaten vom Antichrist und vom Jüngsten Gericht [. . .] und die Beschäftigung u. a. mit dem Sammelwerk des Passauer Anonymus [. . .] wirkten sich hier aus. Im Hinblick auf die zahlreichen Contra-Judaeos-Äußerungen hat jetzt Niesner die Erstfassung gründlich analysiert (mit mehreren Inhaltsübersichten). Die ergänzende Benutzung von Apokryphen und Legenden begründet der Österreichische Bibelübersetzer schon im Prolog zum ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ (in der Erstfassung außerdem zu Beginn des Passionsteils). Dass er z. T. eine deutsche Reimfassung zugrunde legt (Gundacker von Judenburg [...], Konrad von Fußesbrunnen [...]), sagt er nicht explizit; Vertrautheit mit deutscher Dichtung bekundet er aber durch seine Berufung auf Wolfram von Eschenbach [...], Konrad von Würzburg und Frauenlob in der lateinischen Verteidigungsschrift [...] und eine Reimpaarrede über die huote der Frauen im Daniel des ‘Schlierbacher Alten Testaments’.45
Das ‘KEW ’ wird zitiert nach der Handschrift K2 (cod. 51, 15. Jh.) aus Klosterneuburg. f) Die Frage, ob auch die p a u l i n i s c h e n B r i e f e in diesen Kontext gehört haben können, wird ebenso zu erörtern sein wie die nach weiteren Traktaten. Der Hinweis der Überlieferung sollte aber ernstgenommen werden.46 g) Mehrere Kapitel aus der A p o k a l y p s e , mit Glosse, die in der Handschrift München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 273 in den ‘Antichrist’-Traktat eingeschoben sind,47 und die zahlreichen Zitationen aus der Apokalypse im ‘Antichrist’-Traktat lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass der Verfasser auch über eine eigene glossierte Fassung der Offenbarung verfügte.48 h) »Eine l a t e i n i s c h e Ve r t e i d i g u n g s s c h r i f t , die den Codex Rossianus eröffnet [...] (1ra –9rb), ist in ihrem ersten Teil [...] Reaktion auf Angriffe, denen das ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ und sein Laien-Autor seitens einer kleinen Gruppe von Theologen ausgesetzt war, und sie ist ganz auf diesen Kreis 43 Vgl. Kornrumpf [Anm. 10], Sp. 1361; Löser [Anm. 12], S. 450. e 44 Das ‘Evangelienwerk’ nimmt auf das puchlein von dem anticrist und daz puchlein von dem vrteylleichen gerichte Bezug (vgl. Löser/Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 246, Anm. 3), was für die Chronologie von Bedeutung ist. 45 Kornrumpf [Anm. 14], Sp. 1104. 46 Vgl. Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 263, Anm. 58 (zu den Briefen), Kornrumpf [Anm. 14], Sp. 1104 oben zu weiteren Traktaten. 47 Vgl. Völker [Anm. 16], S. 27. 48 Dazu Kornrumpf [Anm. 14], Sp. 1105.
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berechnet. Auf neuerliche Anfeindungen geraume Zeit später antwortet der Österreichische Bibelübersetzer dezidiert nur noch mit der Heiligen Schrift (divine auctoritatibus pagine ... cupio respondere). Adressaten sind neben den gelehrten Gegnern die Herren, deren Beifall sein Übersetzungswerk findet, und dessen Zielpublikum im weiteren Sinn.«49 i) D e u t s c h e Ve r t e i d i g u n g s s c h r i f t e n : »Der Österreichische Bibelübersetzer hat sich im Prolog des ‘Klosterneuburger Evangelienwerks’ über Anlaß und Anlage seiner Übersetzung geäußert und die Laienbibel programmatisch in Vorrede C zum ‘Psalmenkommentar’ [...], im Prolog und Epilog zum Tobias des ‘Schlierbacher Alten Testaments’ verteidigt. Seine Übersetzungsprinzipien erörtert er dabei nicht. Die beiden mit dem ‘Schlierbacher Alten Testament’, jedoch siebenmal auch separat bzw. in fremdem Zusammenhang überlieferten Verteidigungsschriften sind als Vorreden konzipiert; unsicher bleibt, für welche Übersetzungen sie ursprünglich bestimmt waren. ‘Vorrede II ’ ist anlässlich der Wiederaufnahme des Übersetzungstätigkeit nach längerer Pause verfaßt, ‘Vorrede I’ offenbar erst nach dem ‘Psalmenkommentar’. Erst, als der Österreichische Bibelübersetzer bereits ettleich tayl der Hl. Schrift für die Laien ze deutsch pracht hatte, hat er Vorrede C zum ‘Psalmenkommentar’ [...] und den Prolog zum Tobias des ‘Schlierbacher Alten Testament’ (Löser 1991, S. 136) formuliert.«50 Als einziger Teil des Bibelwerkes liegen diese beiden deutschen Verteidigungsschriften (‘Vorrede I und II ’) des Anonymus in einer kritischen Ausgabe51 vor; sie sind in drei (von insgesamt zehn) Handschriften dem ‘Schlierbacher Alten Testament’ als Vorreden vorangestellt. Hier verteidigt der Verfasser vehement sein Recht, die Bibel in die Volkssprache zu übersetzen und sie einem Laienpublikum zugänglich zu machen. Diese Verteidigungsschriften nennen rückblickend auch die Evangelienverdeutschung des Verfassers, sind also nach dem ‘Evangelienwerk’ entstanden. Sie zitieren zudem aus einer Reihe anderer Werke des Verfassers;52 der erste der beiden Texte bezieht sich besonders ausgeprägt auf Proverbia und Ecclesiastes. Und darum soll es jetzt gehen. II. Die These, der Österreichische Bibelübersetzer könnte auf diese Weise auf eine eigene kommentierte Proverbia- und Ecclesiastes-Übersetzung zurückgegriffen haben, könnte durch die mit den Vorreden gemeinsam überlieferte kommentierte deutsche Proverbia- und Ecclesiastes-Version (Codex Rossianus) bestätigt werden. Um das zu überprüfen, sollen im Folgenden alle Zitate dieser Bücher in ‘Vorrede I’ mit dem eigentlichen Text verglichen werden. Zitiert werden die 49 50 51 52
Ebd. Ebd. Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3]. Vgl. den Kommentar zur Edition, ebd., S. 296–313.
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‘Vorreden’ nach der Edition,53 die biblischen Bücher Proverbia und Ecclesiastes nach der künftigen Edition des ‘Schlierbacher Alten Testaments’ durch Freimut Löser und Klaus Wolf (erscheint 2013). Der Proverbia- und der EcclesiastesText folgen in der Handschrift der Ordnung der Bibelverse. Ich habe sie hier zur besseren Vergleichbarkeit in die Reihenfolge der Zitate, wie sie in der Verteidigungsschrift stehen, gebracht. Der Österreichische Bibelübersetzer benutzt für die Kommentierung der Proverbia die ‘Glossa ordinaria’, für Ecclesiastes eine eigene Glossierung.54 Ich teile diese Glossen, wenn vorhanden, in den Anmerkungen mit. Um Zusammenhänge nicht zu zerreißen, wird zunächst immer ein Abschnitt der Vorrede geboten (von mir als A bis F bezeichnet). Dem schließen sich die vergleichbaren Stellen aus Proverbia und Ecclesiastes nebst einer Bewertung an. A. Vorrede I, 32– 45 Von den vnste¨ten an irer red sprichtt kunig Salomon [Iac 1,8!]: »Ein man, der zwiualtiges wörttes ist, der ist vnste¨t an allen seinen wegen«. Auch spricht kunig Salomon [Prv 14,30] e von dem neid: »Neid ist ein feül des gepains«. Dabey ist ze merkchen, das neid dem wırser tüt, der jn tre¨t, denn dem, den man neidet. Das ward auch an Sathan wol bewert. Von hochfart sprichtt kunig Salomon [Prv 11,2]: »Wo hochuart ist, da ist auch widere red«; vnd sprichtt aber [Prv 13,10]: »Von den hochuerttigen werdent krieg geubt«; vnd sprichtt aber [Prv 28,25]: »Wer sich rümt vnd praittett, der wekcht vnred«. Nu sprichtt aber kunig Salomon von den hochuerttigen, das merkche mit fleizz [Prv 16,18/18,12?]: »Ee der e hochuerttig gediemutiget werd, so erhebt sich sein hercz vnd sein geist«. Aber sprichtt kunig e Salomon [Iac 4,6!]: »Got ist den hochuerttigen wider, aber den diemutigen geit er gnad«; vnd sprichtt aber [Prv 16,5]: »Ein yeslicher hochferttiger ist got widercze¨m«. Secht, nemt war: Solichen geniezz emphahen die hochferttigen mit sambt jrm maister, dem tieul. [. . .]
Proverbia-/Ecclesiastes-Text: Prv 8,13: Hochuart vnd v¨bermüet vnd den posen wech vnd den munt mit zwiliher zung sint mir widertzäem. ¶ Glosa: 55 Di sint auf dem posen weg, die öffenleich v¨bel tüent. Der hat ein zwilich zung, der nicht stäet an den güten dingen, di er redt, vnd chert seine wört nach der willen, di in hörnt.
Weder der Text von Prv 8,13 noch die Glosse stimmen mit dem entsprechenden Exzerpt in der Vorrede überein. Das hat folgenden Grund: Joseph Klapper56 identifizierte das Zitat (der Text beruft sich auf Salomon!) zwar als Prv 8,13 (timor Domini odit malum arrogantiam et superbiam et viam pravam et os bilingue 53 Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3]. 54 Deren Nachweis im Einzelnen und die Textgestalt, in der die Glosa hier wiedergegeben ist, sind Klaus Wolf zu verdanken. 55 Gl. ord. (1506, 317ra): Uiam prauam in eis / qui aperte mala faciunt: Os bilingue in eis qui in bonis que loquuntur stabile quippiam non habent sed iuxta auditorum libitum sua verba commutant. 56 Joseph Klapper, Im Kampf um die deutsche Bibel. Zwei Traktate des 14. Jahrhunderts, Breslau 1922, S. 2.
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detestor); tatsächlich aber handelt es sich um Iac 1,8 (vir duplex animo inconstans est in omnibus viis suis). Eine scheinbare Ungenauigkeit der Übersetzung lässt sich also erklären, wenn man annimmt, dass der Verfasser assoziativ beide Zitate verband. Ursprünglich könnten sogar beide Bibelverse vollständig nebeneinander gestanden haben; der Verfasser könnte beim Exzerpieren seiner Quelle das eigentliche Salomon-Zitat vergessen und so unwillentlich das Jacobus-Wort zu einem Salomon-Wort gemacht haben; vielleicht ist aber auch dem Schreiber des Archetyps ein Fehler unterlaufen (Homoioteleuton?). Ein vergleichbarer Fall begegnet beim vorletzten Zitat dieses Abschnitts (Iac 4,6, s. u.). Prv 14,30: Des hertzen gesunthait ist des fleizsches leben. So ist neit ein feül des gepains. 57
¶ Glosa: Pey dem fleisch, daz auswendich ist, verstet man des menschen werch. Sint die gerecht, daz ist dem hertzen, daz ist der sel ein gesunthait hintz got. So ist neit ein fäeul des gepains, daz ist der güten werch. Wand neit feült güte werich.
Die Texte von Prv 14,30 in Vorrede und deutscher Proverbia-Fassung sind wörtlich gleich. Die kurze Auslegung in der Vorrede rekurriert aber nicht auf die Glosa zu Prv 14,30, sondern auf Sprichwörtliches: Vgl. L. Zatocˇil, Cato a Facetus, Brünn 1952, S. 232, Buch II d. 13: Invidiam nimio cultu vitare memento, Quae si non laedit, tamen hanc sufferre molestum est; ebd. insbesondere die deutsche Fassung G (S. 170): Weych mit fleiß zu aller zeit / Des herczen pein ist der neyt / wann der niemant mer schaden tut / Dem, der in tregt in seynem müt. Vgl. auch die Fassung des Clm 3059: Im allein mer schaden tütt / Der jn treytt in seinem herczen müett. 58 Dass der Verfasser der Verteidigungsschriften die ‘Disticha Catonis’ benutzt hat, geht auch aus Z. 230 f. der Edition hervor (dort namentliche Zitation, vgl. unten Abchnitt F, Prv 27,2). Berufung auf den maister Cato begegnet auch im ‘KEW ’ (vgl. K2, f. 127ra–rb). Prv 11,2: Swo hochuart ist, da ist auch vngerechtichait. Swa aber diemüetichait ist, da ist auch weishait. 59 ¶ Glosa: 60 Hochuart: Aintweder si versmäecht ander leüt vnczeitleich oder si erchennet nicht czücht vnd hebt sich da hin, da si nicht schol. Da von wirdet si genidert.
Die Übersetzung ist syntaktisch ähnlich, semantisch besteht ein Widerspruch: contumelia ist einmal als widerred, einmal als vngerechtichait wiedergegeben. Prv 13,10: Zwischen den hochuertigen ist ze aller czeit chrieg. 61 Die aber alle ir sache mit rat tüent, di richtet vnd weiset weishait. ¶ Glosa: Di sint hochuertig, die geistleicher zuecht nicht achtent vnd rechter ler. Di aber ir sache mit ler vnd mit red gotz wört petrachtent, die laet gocz lieb nicht chriegen.
57 Prv 14,30 (vita carnium sanitas cordis) putredo ossium invidia. 58 Zitiert nach Nikolaus Henkel, Beiträge zur Überlieferung der ‘Disticha Catonis’ in deutscher Übersetzung [I], in: ZfdA 107 (1978), S. 298–318, hier S. 306. 59 Prv 11,2 ubi fuerit superbia ibi erit et contumelia (ubi autem humilitas ibi et sapientia). 60 Gl. ord. (1506, 319va): Superbi / vel contumeliose se gerunt per contemptum / siue per ignorantiam discipline. 61 Prv 13,10 inter superbos semper iurgia sunt.
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Prv 28,25: Der sich mit rüem auf wırfet vnd praittet, der v¨bet chrieg. 62 Der aber an got e
gedinget, der wırt gehailt. Prv 16,18: Hochuart get vor der rewe, vnd vor dem valle höchet sich der geist. − Prv 18,12: e e Des menschen hertz wırt gehöcht, e daz es genidert werde, vnd wırt auch gediemütigt, e ez 63 geeret werde. ¶ Glosa: Des menschen hertz höcht sich in diser werlde, e daz ez dört, in e der helle, genidert werde vnd wırt auch hye auf diser werlde e genidert mit diemütichait vnd mit armchait, e daz ez in dem ewigen leben gehöcht werde. Iac 4,6: Es handelt sich nicht um ein Salomon-Zitat, sondern um Iac 4,6: Deus superbis resistit humilibus autem dat gratiam.
Klapper64 identifizierte fälschlich mit Prv 29,23 (Superbum sequitur humilitas et humilem spiritu suscipiet gloria)65 und sprach dem Übersetzer das Verständnis der Stelle ab. Bergeler wies auf den ‘Psalmenkommentar’ zu Ps 83,12 hin, wo dasselbe Iac-Zitat in wörtlich gleicher Übersetzung und in Verbindung mit einem Wort Salomons (und zwar mit dem 2. Halbvers von Prv 29,23) begegnet (hier zitiert nach Rein, f. 150r): vnser herre gibt genad vnd ere Genad in diser e werlt ere in dem himelreich. daz muez alles mit diemutichait ab got erpeten e e werden. Sprichet Chunich Salomon der diemuetiges geistes ist der enphecht ere vnd sand Jacob sprichet Got der ist den hochuertigen wider. aber den diemu˚tigen gibt er genad. Daraus kann man schließen, dass der Verfasser der Verteidigungsschriften beim Exzerpieren aus dem ‘PsK’ (oder dessen Quellen) das SalomonWort und das einleitende vnd sand Jacob sprichet vergaß. Vergleichbar ist der Fall oben Prv 8,13. Prv 16,5: Ez ist vnserm herren ein widerczaemung 66 ein ysleich an czukchunder, ob halt ein
hant zder andern sei. Er ist nicht vnschüldig. Aneuanch des güten wegs ist rechtichait zetüen, vnd ist vor got mer genäem dann opfer ze opfern.
Fazit zu Teil A: Die Textstellen der Vorreden berühren sich nur teilweise mit der Proverbia-Übersetzung des Codex Rossianus. Stärkere Berührungen zeigen sich, insbesondere in der Kontamination aus den Iac- und Prv-Zitaten, zwischen Vorrede und Psalmenkommentar. Die Proverbia-Glossen aus der ‘Glossa ordinaria’ werden für die Vorrede, die eigene Ziele verfolgt, nicht benutzt. Der Verfasser wendet sich mit den Proverbia gegen seine Gegner. Er verbindet dazu (assoziativ oder, modern gedacht, über ein ›Stichwortregister‹?) Proverbia-Zitate zu unstet, neid und hochfart, ohne sie eigens zu glossieren. 62 Prv 28,25 qui se iactat et dilatat iurgia concitat. 63 Prv 16,18 contritionem praecedit superbia et ante ruinam exaltatur spiritus. Vgl. auch Prv 18,12 antequam conteratur exaltatur cor hominis. In der ‘Vorrede’ (z. B. hercz und geist ) scheint eine Kontamination aus den beiden Bibelversen vorzuliegen. 64 Klapper [Anm. 56], S. 2. 65 Cod. Ros. Prv 29,23: Dem hochuertigen volget diemütichait, vnd der diemütigs gaistes ist, den enphaecht ere. ¶ Glosa: Also sprichet auch vnser herre Iesus Christus [Lc 14,11]: e »Der sich höcht«, daz ist mit hochuart vnd mit v¨ber müt, »der wırt genidert in der e helle, vnd der sich diemütigt in dem hertzen, der wırt gehöcht in dem hymelreich.« 66 Prv 16,5 abominatio Domini omnis arrogans . . .
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B. Vorrede I, 65–105 Dis sach vnd noch ettlicher mer, die an dem heiligen ewangely sind geschriben, sol mich der durch seinen lob webeisen, der sich so hoher chunnst hat furgegeben. Dauon sprichtt kunig Salomon [Prv 18,21 und Prv 15,4]: »Jn der zung hannden ist des menschen leben vnd e sein rat [!]«. »Wann die geuellichleich zung ist ein pawm des lebens«. Auch sprichtt vnser e e herr: »Von deinen wortten wirstu gerichtt, vnd von deinen wortten wirstu verdambt«. e Secht, wie selig ist der, der seiner zungen hutten chan. Dauon sprichtt kunig Salomon e [Prv 26,27 und Eccl 10,8a]: »Wer die gruben grebt, der veltt darjn«. Das ist: Wer dem andern e an seinem lew ¨ nt oder an seinem gut durch sein hochfart schaden gern teet, der wirt offtt selben schaden vnd sme¨ch emphahen. Aber sprichtt kunig Salomon [Eccl 10,8b]: »Wer den zawn zustort, den peisst die nater«. Glosa: Der zerfurt den zawn der heiligen krisstenhait, der gotes wort jrret geoffent werden, da die krisstenhait mit vmbczewnt ist vnd wefridt vor den keczern vnd vor e andern vngelaubhe¨fftigen dieten. Denselben storer den peisset die nater, das ist der teufel, mit der ebigen martter in der pittern hell. Als vnser herr selb beczeügt, der gesprochen hat: »Da stirbt ir würm nicht vnd ir fewr erlischtt nicht«. Aber sprichtt kunig Salomon [Eccl 10,9]: »Wer den stain vberwirfftt, der wirt von jm verseret«. Glosa: Der stain beczaichent die glaubhe¨fftigen kristen, da die heilig krisstene hait mit erpawn ist, als sannd Pauls sprichtt. Wer die selben stain vberwırfftt, das er durch geittikait vnd durch vnchunst mit argem vorpild von gutem fürsacz vnd von rechtter andacht schaitt, dem wirt das wort »Wee euch« nachuolgunden, als vnser herr Jesus Kristus zu der juden maistern, zu den phariseos vnd gleichsne¨rn sprach: »We euch maistern, gleichsne¨rn, jr versliesst den lew ¨ ten das himelreich vor mit argem vorpild vnd ir get selb hin jn nicht, vnd die hin jn gen woltten, die lat jr hin jn nicht geen«. Da sprichtt auch kunig Salomon von [Prv 27,17 und Eccl 10,10]: »Eisen wirt mit eisen e gespiczet vnd we¨chs gemachet«. »Jst aber, das es wider stozzen wırt vnd also pullwe¨chs weleibet, das es also zuhant nicht wirt wider gemachet, so wirt es hinnach mit uil arbait chaum widerbracht«. Glosa: Bey dem eysen ist gots wort beczaichent. Das ist vesst vnd ste¨t, als Kristus selb gesprochen hat: »Himel vnd erd zergennt, aber meine wort zergent nicht«. Nu wirt eisen mit eisen we¨chs gemachet, wenn der glaubhafften hercz mit gots wort zu got vnd des ne¨chsten lieb in grozzer andacht bracht werdent. Jst aber das das gots e e wort gejrret wırt zuhorn vnd also widerstossen wırt von den tumben, so wirt es slebich vnd e e pullwe¨chs in der gemut, die es horn, vnd ob es zuhant nicht widerredt wirtt, so wirt es hynnach mit uil arbait chaum widerbracht. Das bedenkchen die tumben irrer gots wort vnd widerredent, das sew vnweisleich offenleich geredt habent, oder sew werdent geseret von den ainuoltigen krissten, die sew von irer andacht geczogen habent.
Proverbia-/Ecclesiastes-Text: Prv 18,21: Der tot vnd zleben sint in der züng handen. Di sei lieb habent, di werdend ir frücht ezzend. 67 ¶ Glosa: Von der frucht des menschen munde, daz ist von seinen worten, e wırt er erfüllet mit güt oder mit v¨bel. Pey dem rogen ist di menig der wört peczaichent, e wand vnser herre sprichet [Mt 12,37]: »Von deinen worten wırdest du gerichtet, vnd von e deinen worten wırdest du verdampnet.« Daz ist di sattung. − Prv 15,4: Die geuellich czung ist ein paüm des lebens. Deu aber vnmaezzig ist, di verderbet den gaist. 68 ¶ Glosa: Die züng des christenleichen lerer pringet den menschen zdem ewigen leben. Di aber weder mazz nach chünst des christenleichen gelaubens vnd lebens nicht habent, den verderbet die sel.
67 Prv 18,21 mors et vita in manu linguae qui diligent eam comedent fructus eius. 68 Prv 15,4 lingua placabilis lignum vitae . . .
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Die Stelle, für Prv 15,4 wörtlich gleich und für Prv 18,21 in der Glosa mit dem selben Zitat aus Mt 12,37, ist eindeutig dem Proverbia-Kommentar verpflichtet. Prv 26,27: Swer ein grüben grebt, der vellet dör in. Vnd swer den stain chügelt, der chümt wider zü im. – Eccl 10,8: Der di grüben grebt, der vellet drin. ¶ Glosa: Daz ist: Swer e ains schaden trachtet an sel oder an leibe, der wırt ofte von den selben sachen schadhaft. Daz ist wol.
Die Stelle der Verteidigungsschrift erlaubt eine doppelte Identifizierung: Prv 26,27 oder (wörtlich gleich) Eccl 10,8 qui fodit foveam incidet in eam. In der Folge werden in der Verteidigungsschrift die unmittelbar anschließenden EcclVerse (8b, 9, 10) zitiert. Die Auslegung in der Verteidigungsschrift folgt zwar nicht wörtlich, so doch der Sache nach der Ecclesiastes-Glosse. Eccl 10,8b: Vnd der den zaun zerfürt, den peizzet di nater. 69 ¶ Glosa: Daz ist: Der gotz gepot stört vnd zeprichet, da di christenhait mit vmbczeunt ist, den peizzet di nater. Daz e ist der tyefel. Der wırt in marternt.
Wir hatten schon im Kommentar zur Edition der Vorreden70 bemerkt: »Die anschließende Auslegung wird mit dem Wort Glosa eingeleitet, wie dies auch bei den beiden folgenden Eccl-Zitaten geschieht. Damit kann wohl nur ein bestimmter Ecclesiastes-Kommentar (desselben Verfassers?) gemeint sein. Die ‘Glossa ordinaria’, die Klapper [...], S. 3 heranzieht, bietet kaum Einschlägiges.« Der vermutete Kommentar ist jetzt gefunden. Gerade an dieser Stelle begegnen nicht nur wörtliche Anklänge, sondern auch Berührungen der Sache nach: zaun ... da die christenhait mit vmb czeunt ist; nater teuffel marter. e
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Eccl 10,9: Der stain fürder treit, der wırt von in geseret. Vnd der holcz chleubet, der wırt da
von verwundet. ¶ Glosa: Di gerechten vnd guten leüt haizzent stain, da di christenhait mit erpowen ist. Swer di fürder treit mit pöser ler, als di chetzer vnd auch ander, di den e leuten pöz vorpilde tragent, der wırt von in ewichleich geseret. Das ist vmb di sünde, di si an in pegent. Daz selb ist auch, der die christen hin dan chleubet von dem rechten e gelauben zü pösen dingen. Der wırt dar vmb ewichleich verwundet. 71
In der Übersetzung begegnen Unterschiede: den stain vberwirfftt – stain fürder treit; von jm – von in. Sie ließen sich heilen, wenn man sich in der Edition der ‘Vorrede’ für die Gruppe x statt y entschiede und den Eingriff rückgängig machte (Plural statt Singular). Jedenfalls gibt es in der Auslegung wieder eine wörtliche Übereinstimmung: stain, da die christenhait mit erpowen ist. Die Zielrichtung der Glossierung ist freilich verändert: Die Ecclesiastes-Glosse zielt gegen die Ketzer, die Vorrede wendet sich jetzt langsam gegen die orthodoxen Gegner der Bibelübersetzung. e
Prv 27,17: Eysen wırt mit eysen gewaechset vnd gespitzet. Vnd der mensch spitzet seins
freündes antlütz. ¶ Glosa: 72 Mit tröst vnd getrewer rät der weisen, den si an ein ander
69 Eccl 10,8 et qui dissipat sepem mordebit eum coluber. 70 Löser / Stöllinger-Löser [Anm. 3], S. 301. 71 Eccl 10,9 qui transfert lapides adfligetur in eis.
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erczaigent, da wırt eysen mit eysen wäechs gemachet. − Eccl 10,10: Ob eysen wider plowen e e e wırt vnd nicht wider als vor, sunder ez wırt slebich vnd pulwäechs, daz wırt mit vil aribait 73 wider wäechs. Vnd nach pesichtichait get weishait. ¶ Glosa: Pey dem eysen ist di heylig schrift peczaichent. Di ist vest vnd stäet. Swer di wider stözzet mit valschleiher vnd e chetzerleicher red vnd maisterschaft, wırt daz nicht zehant widerredt vor den leüten, di ez hörnt, so stikchent si auf di valschen ler vnd werdent dar nach mit grozzer aribait chaum widerpracht. Daz schüllen auch di merchen, die durich ir maisterschaft mit der phylosophey di heyligen schrift wider redent. Vnd chunnen siz nicht zehant her wider pringen, so vallent di leüt in vngelauben.
Das Zitat der selben Stelle in den Traktaten der Wiener Handschrift 2846 (f. 130rb) ist anfangs durch den Schreiber, der das Wort eisen auslässt, entstellt: Er sprichet aber ob[!] wider ploben wirt vnd nicht wirt wider als vor wächs gemachet vnd slebich weleibent das wirt mit vil arbait wider wachs gemachet (vnd nach wesichtigkait get weishait). Die Glosa der Verteidigungsschrift zu Eccl 10,10 bezieht Klapper74 wieder auf die ‘Glossa ordinaria’: ferrum = acumen ingenii usw.; Bergeler75 verweist dagegen wieder auf den ‘Psalmenkommentar’, Glosse zu Ps 44,4 (hier nach Rein, e f. 89r): Umbgurte dich mit deinem swerte ... Man verstet pei dem swert an der schrift gotz wort als sand Paul sprichet des gaistes swert hat Christ genützzet . . . Man könnte zu dieser Gleichung (eysen = heylig schrift ) auch das ‘KEW ’ (K2, f. 144va–vb) sowie die im ‘PsK ’ unmittelbar folgende Stelle vergleichen, die den Begriff waechs mit dem des wort gotes verbindet: Dein geschozz sint waechs ... das man dicz wort aber völlichleich verste muez man es also chern dein scharfeu e geschozz das sint deineu wort die werdent vallend in die hertzz dez chuniges veinden daz ist der vngelaubhaften hertzz die sint da von bechert ze rechtem gelauben. Die engste – auch wörtliche – Parallele zur hier vorliegenden Auslegung bietet freilich wieder die Wiener Traktat-Handschrift 2846 (f. 130rb–va) ebenfalls im Anschluss an Eccl 10,10: pey dem eysen ist dy heilig geschrift weczaichet Dew ist veste vnd stat Wer dy wider stosset mit valschlicher vnd keczerlicher red vnd maisterschaft wirt das nicht zehandt wider redt von den selben lewten die es horent so stickent sy awff dy valschen ler vnd werdent darnach [130va] mit grosser arbait kawmb wider pracht. Die Übereinstimmungen im Wortlaut von Bibelübersetzung und Auslegung sind in allen drei Fällen (Vorrede, Traktate, Ecclesiastes) evident. Im Fall des Ecclesiastes-Kommentars und des Traktats der Wiener Handschrift kehrt sich die Auslegung (wörtlich gleich!) gegen die Ketzer, in der Vorrede freilich drohend(!) gegen die Gegner des Übersetzungswerkes. Der Bibelübersetzer verwendet überall 72 Gl. ord. (1506, 335ra): Bona consolatio / consilium sapientum: qui dum se inuicem consolando instruunt: ferrum ferro acuitur. 73 Prv 27,17 ferrum ferro acuitur (et homo exacuit faciem amici sui). Eccl 10,10 si retunsum fuerit ferrum et hoc non ut prius sed habetatum erit multo labore exacuatur (et post industriam sequitur sapientia). 74 Klapper [Anm. 56], S. 4. 75 Bergeler 1938 [Anm. 4], S. 38.
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die gleiche Übersetzung und Glossierung, setzt sie argumentativ, aber unterschiedlich bzw. mit veränderter Angriffsrichtung ein. C. Vorrede I, 106–117 e
Nü hort auch von den, die durch geittikait gots wort jrren furczebringen, das sew dester mer geniesses von den lew ¨ ten emphahen. Sprichtt kunig Salomon [Prv 11,26]: »Wer das getraid verpirigtt, der wirt verflücht vnder dem volkch«. Bey dem getraid ist beczaichent gots wort, als Kristus selber sprach: »Der sam ist gots wort«. Vnd aber sprach vnser herr zu sannd Petter: »Wer we¨nst, der ain so getrewer vnd weiser knecht ist, den sein herr vber sein gesind gesaczt hat, das er jn die speis des waiczes enczeit geb?« Also bedew ¨ tt auch die mazz des waiczes gots wort, da der glaubhafftten sel mit gespeist werdent zu dem ebigen leben. Welich speiser, das ist welich lerer dicz getraid gotes, das ist gots wort, pirget vnd es e behaltt auf tewrung, als ein furkauffer, das ers nach seinem willen vmb welttlichen lob vnd genies hin verkauffen mug, der wirt verflu˚cht vnder dem volkch der heiligen kristenhait. [. . .]
Proverbia-/Ecclesiastes-Text: Prv 11,26: Der getraid verpirget, der wirt verflücht vnder dem volche. 76 Aber gotz segen ist auf der haupt, di es verchauffent.
Eine ähnliche Auslegung der wörtlich gleichlautend übersetzten Stelle Prv 11,26 (auch in Verbindung mit Mt 25,21 und 25,30 wie oben) begegnet wieder in Wien 2846, f. 155rb–va: Wer getraid verpirget der wirt verfluecht vnter dem volicke ... Das ist leipleich leicht zw versten wann dy jr getraid awff tewrumb wehaltent vnd nicht verkawffen nach der armen lewt duerffte die sein verfluecht ... Geistlich zw versten so beczaichent [155va] das getraid gotz wort welich lerer das wehaltet awff tewrumb Das ist Das er nicht lernt Nuer durich lob vnd durich geniesz so werdent die armen versaw ¨ mpt Do von sein die selben lerer verfluecht Sprichet crist selb den trägen vnnuczen lerer werifet die gepunden in die aw ¨ sser vinster das ist in die helle. Auch hier stimmt die Übersetzung von Prv 11,26 in Vorreden, Traktat-Handschrift und Proverbia-Kommentar wörtlich überein. Der Zusammenhang erschließt sich, wenn man im Proverbia-Kommentar Prv 11,25–27 nebst Glossierung berücksichtigt: e
Prv 11,25: Die sel, di da segent, di wırt vaist. Vnd der trunchen machet, der wirt auch
trunchen gemachet. ¶ Glosa: Der ander leüt speist vnd trenchet mit ler vnd mit predig, der wirt auch dort gespeiset mit vnczelleihem lön. Prv 11,26: Der getraid verpirget, der wirt verflücht vnder dem volche. Aber gotz segen ist auf der haupt, di es verchauffent. Prv 11,27: Er stet wol früe auf, der güteu dinch süecht. Der aber v¨beln dingen nach get vnd e süecht, der wırt von in erdrukchet. ¶ Glosa: Der daz getraid der ler verpirget vnd versaumet zelern, der wirt verflüecht vmb die, di er versaumt hat zelernen vnd dar vmb mit samt im v¨bel geuarnt.
Die Glossen des Proverbia-Kommentars, die sich nicht aus der ‘Glossa ordinaria’ speisen, bringen also zu Prv 11,25 und nach Prv 11,27 die gleiche 76 Prv 11,26 qui abscondit frumenta maledicetur in populis.
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Angriffsrichtung zum Vorschein wie die Vorrede mit dem Exzerpt aus Prv 11,26: falsche Lehrer, die die Lehre (=Heilige Schrift) unterdrücken und deren Verbreitung verhindern. D. Vorrede I, 128–155 e
Auch sprichtt kunig Salomon von den geittigen [Eccl 5,9]: »Der geittig wirt nymmer gutes uol. Wann wer reichttu˚m lieb hat, der emphecht nicht frucht dauon«; wann, [Eccl 5,14] »als er nakchater von seiner mu˚ter gepornn ist, also ku˚mt er von diser weltt vnd furt nichts nicht mit jm«. Als auch sand Johannes an der taugen pu˚ch sprichtt: »Se¨lig sind die, die in got sterbent, wann ire werich volgent jn nach«. Dabey ist zuuersten, das nyemant sein e reichttu˚m nachuolgt, nur seine werich. Sprach vnser herr zu seinn jungern: »Hutt euch vor aller geittikait, wann chains menschen leben leit an der vberflussichait des gu˚ts«. Auch sprach Kristus zu seinen jungern: »Lieben chind, wie vnmugleich ist das, das die in das e e himlreich kömen, die irn gedingen an das gut legen«. Nu secht, wie schedleich es der sel ist der reichttu˚m lieb hat, wann da kümt geittikait von. e Sprichtt kunig Salomon [Eccl 5,9, s. o.?]: »Es ist nicht vnrechtter dann der gut lieb hat«. [Eccl 1,2] »Wann es ist eitelchait aller eitelchait vnd alle ding sind eitelchait«. Das ist: Alle ding sind zerge¨nkchleich vnd vnste¨t; also mues auch ein yegleich mensch sterben, als kunig e Dauid sprichtt: »Wer ist der mensch, der nu lebt vnd nicht stirbet?« Sam ob er spre¨ch: Ot 77 nyemant wirt des tods uber. Also sprichtt auch kunig Salomon [Eccl 9,4]: »Es ist chain mensch, das ste¨t leb«. Auch sprichtt kunig Dauid: »Der mensch ist eitelchait geleich e e worden, sein tag vergennt als der schad tut«. 78 Auch sprichtt Job: »Der mensch, der von e e e dem weib geporen wırt, der lebt kurcze zeit vnd wırt erfultt mit uil armchait. Er get herfür e als ein plum vnd wirt zeriben vnd fleucht als der schad vnd weleibt nymmer an der ainn e e ste¨tichait«. Nu secht: zu we ist dann nucz, das der mensch gut zu sammen leg, wann allain e die es zu lanndes not vnd zu beschirmen armer lew ¨ t bedürffen. Aber sust mugen sew nyemant wider des todes krafftt gefrummen, als kunig Salomon sprichtt [Prv 11,4]: »Nichts e nicht frumbt die reichttüm an dem tag der rach«. Vnd [Prv 11,28]: »Swer an seim reichtum gedingen hat, der wirt vallund«, das ist in die ebigen verdampnu˚zz.
Proverbia-/Ecclesiastes-Text: e
Eccl 5,9: Der geitig wırt gütes nicht vol. Vnd der reichtum lieb hat, der enphäecht nicht frücht der vön. Vnd da von ist daz ein eytelchait. 79 ¶ Glosa: Sam ob er spräeche: Der geitig ist stäet arm vnd getar halt im selb nicht gütz der mit getüen. – Eccl 5,14: Er gepar einen
77 Ps 88,49 quis est homo qui vivet et non videbit mortem. Vgl. PsK zu Ps 88,49 (Rein, f. 157v): Er sprichet Wer ist der mensch der lebt vnd wirt des todes nicht sehend. Daz ist der nicht stirbet. Sam ob er spræche Ot niemd wann den leuten allen ist gesaczt ains ze sterben. Nu rette sei seine [!] sel von der helle handen. Sam ob er spræche Seit die leut e alle sterben müezzen so ist ze disen zeiten niemd der hell vber werden mu˚ge. Der Text in der Vorrede ist also wohl eine verkürzte Wiedergabe der betr. Stelle des PsK . Vgl. auch K2, f. 229rb: Sprichet der Salter wer ist der mensch der lebt vnd den tot nicht sicht das ist der nicht stirbet. 78 Ps 143,4 homo vanitati similis factus est dies eius sicut umbra praetereunt. Vgl. PsK zu Ps 143,4 (Rein, f. 218r): Der mensch ist eitelchait geleich worden Secht also vernichte sich dauid mit grozzer diemu˚ticheit vnd sprach dez menschen tag vergent als der schatte (Hinweis Bergeler 1938 [Anm. 4], S. 12). 79 Eccl 5,9 avarus non implebitur pecunia et qui amat divitias fructus non capiet ex eis et hoc ergo vanitas.
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sün, der in der öbristen armüt wırt, als er pechömen ist nakchter von seiner müter leibe, also chümt er hin wider vnd nimt mit im nichtz von seiner aribait. 80
Man vergleiche wieder Wien 2846, f. 157va–vb: an disen sachen ist gross eytelkait [. ..] es ist aw ¨ ch zw versten von den die der heyligen geschrift guete puecher habent vnd vngelert lerer sein vnd kunnen ir nach sell haill nicht nuczen vnd helent sew ¨ doch vor anderen lewten Das ist ein vnsalig geitigkait zw der sell verdampnuss Da von sprichet Salomon Der geitig wirt güecz nicht vol vnd der reichtumb lieb hat der entphächt nicht frucht da von [. ..] Das [157vb] ist awch ein michel eytelkait Davon sprichet Salomon Ess ist nicht pösers dann der geyttig mensch vnd nicht ist vnrechter dann der guet lieb hat. Vergleichbar ist auch das ‘KEW ’, zitiert nach K2, f. 75va (Glosa zu Mc 10,25): Sprichet Chunich Salomon wer den reichtum lieb hat der nymt nicht frucht noch nüczz davon. Die Übersetzung, insbesondere von Eccl 5,9, ist wörtlich gleich. Die Absicht, dieses Bibelzitat den Gegnern der Bibel in der Volkssprache ›entgegenzuschleudern‹, erscheint im Traktat der Wiener Handschrift deutlicher als in den Vorreden: es ist aw ¨ ch zw versten von den die der heyligen geschrift guete puecher habent vnd vngelert lerer sein vnd kunnen ir nach sell haill nicht nuczen vnd helent sew ¨ doch vor anderen lewten. Klappers Identifizierung81 als Eccl 5,9 trifft nicht genau zu. Zum zweiten Zitat vgl. auch Eccl 1,2 vanitas vanitatum omnia vanitas und – nahezu gleichlautend – Eccl 12,8. Eine wörtlich gleiche Übersetzung begegnet wieder in Wien 2846, f. 157va; dort folgt sie auf Eccl 5,9. Vgl. auch ‘KEW ’, K2, f. 111ra: Vnser herre lert sein Jungern chain guet mit in tragen wann man sol das himelreich durch der sel hail predigen vnd nicht durch geniez Sprichet Chunich Salomon Ez ist nicht vnrechter danne der guet lieb hat. Eccl 1,2: »Eytelchait aller eytelchait«, sprach Ecclesiastes: »Eytelchait aller eytelchait vnd alle dinch eytelchait.« ¶ Glosa: 82 Swaz ist vnd nicht werden mach, daz mach eytelchait gesein oder eytelchait gehaizzen, wand ez mag verwandelt werden. Aber der almaechtig got alain, der ist ymmer vnuerwandeleich. Swaz sich aber verwandelt, daz verswindet ettleich mazze vnd ist danne nicht, daz es e waz. Vnd da von gegen dem vnuerwandee leihem schepfer, so ist alleu geschepfe ein eytelchait vnd wırt für nicht geachtet. Also stet auch an dem psalter: »Alleu dinch sint eytelchait ein ysleich lebentiger mensch.« Ist der
80 Eccl 5,14 sicut egressus est nudus de utero matris suae sic revertetur et nihil auferet secum de labore suo. 81 Klapper [Anm. 56], S. 6. 82 Gl. ord. (1506, 342ra): Uanitas etc. Uanitas omnis homo vivens quanto magis cetera: Unde: Uanitati subiecta est creatura non volens: [. . .] Quicquid enim non esse potest vanitas dici potest quid mutari potest. Solus deus semper idem est quid est. Quod autem mutatur quodammodo euanescit: et non est quod erat: ad comparationem creatoris / omnis creatura vanitas potest dici: [. . .] Similiter in psalmo. Uniuersa vanitas omnis homo viuens. Si viuens vanitas: ergo mortuus vanitas vanitatum. Sed possumus celum / terram et cetera / bona [. . .] sed recogitans omnia transire: et suo sine senescere: solumque deum idem semper [. . .] non semel sed bis dicere: Uanitas vanitatum et omnia vanitas.
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lebentig mensch eytelchait, so ist der tot ein eytelchait aller eytelchait da von, daz alleu dinch verwandeleich sint, an der almaechtig got alain. Der ist ymmer, daz er ye waz. Vnd da von sprichet chünich Salomon czwier »eytelchait aller eytelchait vnd elleu dinch eytelchait.« – Eccl 12,8: »Eytelchait aller eytelchait«, sprach Ecclesiastes. Eccl 9,4: Wand nyemd ist, der stäet leb vnd der ze leben gedinge hab. 83 ¶ Glosa: Sam ob er
sprache, daz von daz dem gerechten vnd dem gutem als wol lait vnd vngemach widervert als dem sünder nach der leüt. Wand nyemd des menschen hertz erchennet, nür alain got. e Da von werdent sich die leüt nicht fürichtent zesünden vnd peharrent halt vntz an ır tot in den sünden vnd werdent also ewichleich verlörn. Auch ist, nyemd gedingen haben müg, daz er ymmer leb. Prv 11,4: Es früment reichtum nicht an dem täg der rache / aber di rechtichait erledigt von dem töde. 84 – Prv 11,28: Swer sein czueuersicht an reichtum setzet vnd seinen gedingen, der e wırt vallend. Aber di gerechten früchtent als ein grüend plat. 85 ¶ Glosa: Der sein gemüt vnd sein hertz an reichtum läet vnd setzet, der verdirbet an der sel. Wand er vellet von dem ewigem leben.
Die Kombination beider, fast wörtlich gleich übersetzter Verse begegnet wieder in Wien 2846, f. 158ra: Es frument reichtumb nichtes nicht an dem tage der rache aber die Rechtigkait die erledigt von dem tode An dem tag der rache wann hincz dem menschen richtet so helfent in aller diser welde reichtumb nichtesnicht Der aber rechte nach gocz gepot gelebt hat Der wirt erledigt von dem ebigen tode Da von sprichet Salomon Wer seinen gedingen an reichtumb seczet der wirt vallend aber die gerechten die fruchten als ein grüen plat. E. Vorrede I, 176–194 e
e
Dauon ist ir tumphait vnd ir vnweistu˚m weisen lew ¨ ten kunt worden, die vor irn vnweise tum so wol nicht erchannten, dieweil sew weisleich swigen. Dauon wont man, das sew weis vnd wol gelert we¨rn, als kunig Salomon sprichtt [Prv 17,28]: »Ist das der tump sweiget, so e wirt er weis geachttet, vnd ob er sein lebs zusamen dwingt, so hat man in fur kunssttig«. e Wer aber hochferttig vnd tump sey, das bedeutt kunig Salomon vnd sprichtt [Prv 21,24]: »Hochfarttig vnd tumb haisset der vngelert man, der in zorn hochfart begeet«, vnd sprichtt aber [Eccl 10,13]: »Des vnweisen mannes wort anfang ist tumbphait, vnd die lessten wort seins mundes ist poser jrrsal«. Vnd sprichtt aber [Prv 29,11]: »Der tumb bringt e allen seinn geist mit worten fur. Aber der weis man scheubet auf vnd enthabt sich furbas«. Aber sprichtt er [Prv 29,22]: »Der tumb man stifftt krieg, vnd der ander lew ¨t e e leicht vnwırdet, der wirt genaiget zu sunden«. Vnd sprichtt aber [Prv 29,20]: »Hastu gesehen den man, der snell ist zureden? An demselben ist mer tumphait denn refsung e zuuersten«. Das ist hie scheinper, wenn meiner widerreder neid vnd vnwırd vnd hoche fart hat jn nicht gestattet, das sy mich zwischen vns selb oder mit irer geschrifftt gemont vnd gerefset hieten. Dauon sprichtt kunig Salomon [Eccl 7,9]: »Pesser ist der gedultig dann der hochferttig«. Dauon so leid ich meiner widerwehen neid vnd encziehung, so ich aller geduldichleichist mag. [. . .] 83 Eccl 9,4 nemo est qui semper vivat. 84 Prv 11,4 non proderunt divitiae in die ultionis (iustitia autem liberabit a morte). 85 Prv 11,28 qui confidet in divitiis suis corruet (iusti autem quasi virens folium germinabunt ).
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Proverbia-/Ecclesiastes-Text: Prv 17,28: Vnd ob der tumb sweiget, der wirt weiz geachtet. Vnd ob er sein lebs czesamne
twinget, so wirt er chünstich geachtet. 86 ¶ Glosa: Es ist nicht guet, daz man dem gerechten an leib oder an güt schaden tüe vnd daz den fürsten, der gerechtichait lieb hat, yemd slach mit worten oder mit werchen. Des habent di iuden nicht geachtet. Di slugen den rechten fürsten, vnsern herren Iesum Christum.
Prv 21,24: Der hochuertig vnd hochtragend, der haizzet vngelert, der in czörn hochvart
peget.87 Eccl 10,13: Der anevanch seiner wort sint tumphait, vnd daz leste seins mundes ist der e e wırsist ırrsal. 88 ¶ Glosa: Ez ist ein grozz genad, der weisleich von der rechtichait redt. Wand da pesiczet man daz hymelreich von. So vellet des tumben, daz ist dez chetzer vnd des vngerechten christen czüng, di sel in di helle. Wand an dem anevang ist irrsal vnd an dem ende der töt. Swer daz nicht petrachtet vnd merchet, der ist tumber danne tumb. Prv 29,11: Der tumb pringet allen seinen gaist her füer. Aber der weis, der scheübet auf vnd
pehaltet hin fürbaz. 89 ¶ Glosa: 90 Daz ist, swenne dem tumben icht gepriestet, so offent er mit red alles, daz im ze müt ist. Wand ez ist weder chünst noch weistum in im. Also ist dem tyefel, der tumb vnd vnweis ist. Der erczaiget alle sein vnsäelde den menschen, swa im sein e stat wırt. Aber der weiz, daz ist Iesus Christus, der ist gedultig vnd wartet vnd peitet pezzrüng. Er läet aber doch nichtz vngepüezzet. e
Prv 29,22: Der czornig man, der stiftet chrieg. Vnd der zu vnwırdet ander leüt perait ist, der e
wırt dest genaigter zden sünden. ¶ Glosa: Swer von chinthait seinen leip, daz ist der e chnecht, in zarte vnd in wollust czeühet, der wırt der nach von im peswert, wand er im e dann vngehorsam wırt vnd im nicht gevoligen mach güte werch ze würichen. Da von sprichet Ieremyas: »Ez ist güt dem manne, daz erz ioch von chinthait trage mit güter gewonhait.« Swa die heilig schrift den man nennet, do verstet man auch die weip. 91
92
Prv 29,20: Hastu du gesehen einen snellen menschen ze reden, daz ist mer tumhait ze getrowen danne pezzrüng. 93 ¶ Glosa: 94 Ez ist ein swäerer mistat, der gechläeftich ist. Wand ez ist ofte geschehen, daz ein mensch, der da lützel gelert ist, der wört der pezzrüng war
86 Prv 17,28 stultus quoque si tacuerit sapiens putabitur et si conpresserit labia sua intellegens. 87 Prv 21,24 superbus et arrogans vocatur indoctus qui in ira operatur superbiam. 88 Eccl 10,13 initium verborum eius stultitia et novissimum oris illius error pessimus; vgl. Wien 2846, f. 130va–vb: Der anefanck seinner worte ist tumphait vnd die lesten wart seines [130vb] Mundes ist der wiersist jrrsal. 89 Prv 29,11 totum spiritum suum profert stultus sapiens differt et reservat in posterum. 90 Gl. ord. (1506, 336va): Impatientia impellete: totus spiritus foras prorumpit: quem nulla intus disciplina sapientie concludit. 91 Prv 29,22 vir iracundus provocat rixas et qui ad indignandum facilis est erit ad peccata proclivior. 92 Gl. ord. (1506, 336va): Qui delitiatur a pueritia sua seruus erit: nouissime autem contristabitur. Sero enim malorum poenitet qui in tenera etate noluit. 93 Prv 29,20 vidisti hominem velocem ad loquendum stulti magis speranda est quam illius correptio. (Eine Reihe von Vulgata-Hss. tradiert stultitia statt stulti.) 94 Gl. ord. (1506, 336va): Graue quidem vitium stultitie: [. . .] Nam sepe contingit: vt idiota aliquis citius verba correctionis accipiat: quam qui sua que nouit / vel nosse putat / magis iactat quam aliorum monita audiat.
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nem vnd enphach, danne ainer, der wäenet, er chunne, dez er nicht chan, vnd daz er halt chan, des erchennet er nicht. Eccl 7,9: Pezzer ist der gedultig dann der hochuertig. 95 ¶ Glosa: Also ist der gedultig Iesus christus pezzer vnd nützer allem menschleihem gesläechte dann der hochuertig antichrist.
F. Vorrede I, 226–234 Das merkchen die, die sich selb aufwerffen, wie hoch gelert sew seinn, vnd wellent nicht wissen, wer sich selben lobt, der sich vnbreiset. Sprichtt kunig Salomon [Prv 27,2]: »Dich sol e e ein fromder loben vnd nicht dein mund, vnd der ausser mensch sol dich loben, vnd nicht e dein lebs«. Die aber wider dis ler tunt, zwar, die sind tumpb. Sprichtt Katho: »Du solt dich e selben nicht loben, wann das tu˚nt die tumben, die die vppig er mut«. Vnd künig Salomon sprichtt [Eccl 5,2]: »An uil red wirt tumbphait erfunden«. Secht, bey disen sachen ist wol e erchannt, das sew tumb vnd vnweis sind, das sew mein bedewtnuzz den getrew ¨ n krissten laiden woltten.
Proverbia-/Ecclesiastes-Text: Prv 27,2: Der frömde munt lobe dich, vnd nicht der dein, der frömde vnd auzzer mensch,
vnd nicht dein lebs. 96 e
Eccl 5,2: Vil sorgen gent traum nach. Vnd an vil red wırt tumphait fünden. 97 ¶ Glosa: 98 Daz
ist gaistleich: Swer vil nach gotz taugen trachtet ze wizzen, der mach daz allez wenich mit e warhait ervarn, als dem von einem sachen traumt. Wand sand Pauls sprichet: »Wır 99 sehen e ze diser zeit als in einen spiegel oder mit geleichnüzz. Aber dört werd wır sehend als ain antlütz anz ander. Daz ist mit voller erchantnüzze.«
Ergebnisse 1. Die im Codex Rossianus vorliegenden Proverbia- und Ecclesiastes-Übersetzungen berühren sich eindeutig mit den Zitaten dieser Bücher in der Vorrede. Insbesondere im Ecclesiastes-Bereich sind die Übereinstimmungen häufig wörtlich. 2. Im Einzelnen ergeben sich dort, wo in den Traktaten oder im Psalmenkommentar Proverbia- oder Ecclesiastes-Zitate zu finden sind, ebensolche Übereinstimmungen. Im Fall der Traktate der Wiener Handschrift sind sie geradezu frappant. 3. Auch Übereinstimmungen mit dem ‘Psalmenkommentar’ und dem ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ sind zu finden. 4. Ein Modell der zeitlichen Abfolge der einzelnen Texte ist daraus nicht zwingend abzuleiten. Nach dem gegenwärtigen Stand der Beobachtungen ist davon 95 96 97 98
Eccl 7,9 . . . melior est patiens arrogante. Prv 27,2 laudet te alienus et non os tuum extraneus et non labia tua. Eccl 5,2 . . . in multis sermonibus invenitur stultitia. Gl. ord. (1506, 347va): Sicut qui multa cogitat: ipsa frequenter somniat sic in stulticiam recidit: qui vltra se de deo disputat. [...] quia modo videmus per speculum et in enigmate: quasi per somnium extimamus no tenere quod non habemus: et tamen nihil habemus. 99 1. Cor. 13,12: videmus nunc per speculum in aenigmate tunc autem facie ad faciem nunc cognosco ex parte tunc autem cognoscam sicut et cognitus sum.
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auszugehen, dass mindestens der fertige Ecclesiastes-Kommentar für Vorreden und Traktate exzerpiert wurde. Für die Proverbia scheint das Verhältnis komplexer. Wörtliche Übereinstimmungen verstärken sich hier erst ab den Zeilen 106–117 der Edition (Abschnitt C), vielleicht schon ab 65–105 (Abschnitt B). Im ersten Teil (A) sind die Zitate der Vorreden und der Proverbia-Text im Wortlaut differenter. Das lässt eventuell eine komplexe Entstehungsgeschichte vermuten (Vorrede während der Arbeit an den Proverbia?). 5. Die Glossierung der Proverbia speist sich aus der ‘Glossa ordinaria’. Für die Vorrede wird diese nicht – oder nur in Ansätzen – verwendet. 6. Die eigenständige Ecclesiastes-Kommentierung fließt dagegen in die ‘Vorrede’ ein. 7. Während sich jedoch der Ecclesiastes-Kommentar gegen die Ketzer wendet (›Frontlinie 1‹ des Bibelübersetzers) kehrt sich die Auslegung der gleichen Stellen in der ‘Vorrede’ gegen die Gegner der Bibelübersetzung (›Frontlinie 2‹). 8. Die Struktur der biblischen Verse ist oft zweiteilig adversativ: Prv 11,2: Swo hochuart ist, da ist auch vngerechtichait. Swa aber diemüetichait ist, da ist auch weishait. Prv 13,10: Zwischen den hochuertigen ist ze aller czeit chrieg. Die aber alle ir sache mit rat tüent, di richtet vnd weiset weishait. e Prv 28,25: Der sich mit rüem auf wırfet vnd praittet, der v¨bet chrieg. Der aber an got e gedinget, der wırt gehailt.
Bei dieser zweigeteilten Struktur wird in den Salomonischen Büchern stets das falsche, moralisch verwerfliche Verhalten dem richtigen konfrontiert.100 Die Gegner des Bibelübersetzers finden sich dann stets mit diesem Fehlverhalten bezeichnet. Die zweite Hälfte der Sätze wird – getreu dem auch zitierten Lehrsatz: Der frömde munt lobe dich, vnd nicht der dein, der frömde vnd auzzer mensch, vnd nicht dein lebs (Prv 27,2) – nicht explizit vom Bibelübersetzer für sich reklamiert, wohl aber implizit; er ist stets auf der Seite des Richtigen (syntaktisch gesprochen: auf der Seite des zweiten Halbverses), dort, wo weishait, heil, segen und rechtichait zuhause sind. Die Vorwürfe an die Gegner (tumphait, neid, hochuart) werden deutlich vorgetragen. Nicht explizit, aber implizit wird erkennbar, was der Verfasser für sich eigentlich in Anspruch nimmt, wenn er sich auf die ›rechte‹ Seite stellt: Eccl 7,9: Pezzer ist der gedultig dann der hochuertig. ¶ Glosa: Also ist der gedultig Iesus christus pezzer vnd nützer allem menschleihem gesläechte dann der hochuertig antichrist.
Die Glosse, auch wenn sie nicht übernommen wird und oft gerade dann, zeigt die Denkstruktur des Bibelübersetzers: Die Gegner werden mit dem antichrist, gar dem Satan assoziiert, der Gerechte hingegen mit Christus selbst.101 100 Vgl. auch Prv 11,4: Es früment reichtum nicht an dem täg der rache / aber di rechtichait erledigt von dem töde; Prv 11,28: Swer sein czueuersicht an reichtum setzet vnd e seinen gedingen, der wırt vallend. Aber di gerechten früchtent als ein grüend plat.
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9. Auf diese Weise lässt der Bibelkenner den Text selbst für sich sprechen. Selten ergreift er selbst das Wort. Das tut er besonders prononciert im Schluss der ‘Vorrede’ (Z. 235–256), die auf das letzte Salomon-Zitat aus Eccl 5,2 im oben abgedeckten Abschnitt F (in der Edition Z. 226–234) unmittelbar folgt: Die Bibelzitate haben den Gegnern besonders Hochfahrt und Neid vorgeworfen. Das wird jetzt noch einmal aufgegriffen. Sind die Vorreden bis dahin weitgehend ›Montagen‹ aus selbst übersetzten und kommentierten Bibelstellen, so ergreift der Verfasser jetzt selbst das Wort: e
Vnd sprechent auch ettlıch aus hochfart vnd aus neid, ich sey zu krankch an der kunst zu disen sachen, wann ich sey in hochen schuelen nicht gestannden. Das ist war. Was aber geprestens an mir ist, das mag der heilig geist mit seinen genaden vnd mit wol gelertter lew ¨ t hilff vnd rat wol erfullen. Doch hab ich manigen erchannt, der in hochen schuelen e gestannden ist vnd ist in der ainualt herwider komen vnd er aus fuer, er hab dann gelernet e schırmen oder herphen oder die gugel maisterleich stellen, vnd lassent die heilig chunnst e der heiligen schrifftt vnderwegen. Der aber gelert lew ¨ t gern hort vnd mit fleizz von jn lernet, der mag an seinem haymad pas an rechtter chunnst geuarn dann ettlicher, der sich ruemt, das er in hochen schuelen vnuczleich gestanden ist, das auch wol scheinper ist; wann ettleich ainuoltig layn sind, die die heiligen ewangely, vnd halt ander heilig schrifftt, vollichleicher vnd aigenleicher an allen orten verstent, dann ettleich, die des wenten, sy e chunnen das, das sy noch nye gehortten. Seind aber sich derselben widerred ettlich so e kunstig machent, das wil ich gern horn von jn, ob si mir geru˚chent bedewtten die sach, die an dem heiligen ewangely, vnd die ich alhie hernach gesaczt han. Doch pitt ich mit andacht, das vnsers herrn Jesu Kristi frid, der allen syn vbermag, jr hercz geruch zu pessern, das sew von aller neydlicher hochfart lassen, vnd das wir miteine ander verdienen, das wir in das himlreich zu den ebigen frew ¨ den komen, da alles laid ain e ennde hat. Das geruch vns zu uerleichen got von himel, vatter, sun vnd heiliger geist. Amen.
101 Vgl. die Glosse zu Prv 29,11: Also ist dem tyefel, der tumb vnd vnweis ist. Der e erczaiget alle sein vnsäelde den menschen, swa im sein stat wırt. Aber der weiz, daz ist Iesus Christus, der ist gedultig vnd wartet vnd peitet pezzrüng.
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift Vergleichende Edition von Niels Bohnert
In einem im Jahr 1992 veröffentlichten Aufsatz machte Hans Ulrich Schmid, anknüpfend an eine Entdeckung, über die Erminnie Hollis Bartelmez im Jahr 1972 berichtet hatte, eine »spätmittelalterliche bairische Übersetzung des Hohen Liedes« bekannt. Die von ihm aufgestellte Liste von dreizehn Textzeugen ergänzte Gisela Kornrumpf im Artikel ‘Salomonische Schriften’ des Verfasserlexikons (Sp. 1364) um sechs weitere; seither wurden noch mehrere Handschriften des Textes im Verzeichnis des Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ werke/5296) erfasst. In einem ans Ende seines Aufsatzes angefügten Nachtrag konnte Schmid seinen dreizehn Handschriften, die sämtlich dem 15. Jahrhundert angehörten, einen Codex des 14. Jahrhunderts an die Seite stellen, der aus dem böhmischen Zisterzienserstift Ossegg (heute: Osek) in die Tschechische Nationalbibliothek überging und dort unter der Signatur Osek 18 aufbewahrt wird. Diese Handschrift überliefert nicht nur den lateinischen Teil von Willirams von Ebersberg ‘Expositio in cantica canticorum’ in leoninischen Hexametern, sondern damit verbunden auch eine mit Schmids bairischer eng verwandte südböhmische (so Kornrumpf a.a.O.) Übersetzung, die vereinzelte Gemeinsamkeiten mit derjenigen Willirams aufweist. Nachdem so die spätmittelalterliche bairische Übersetzung, wie es bereits Bartelmez vermutet hatte, als WilliramAbkömmling erwiesen war, hat sich, wie es scheint, nur Gisela Kornrumpf näher mit dem Komplex beschäftigt; sie hat auch die vorliegende Edition angeregt. Der folgende Textabdruck versteht sich freilich nur als eine Vorarbeit für die weitere Erforschung der Übersetzung, die vielleicht einmal zu einer überlieferungskritischen Ausgabe führen mag. Ausgewählt wurde die Oseker Handschrift als die älteste des Komplexes und eine weitere Handschrift der Prager Nationalbibliothek, mit der Signatur I.C.15, als Vertreterin der jüngeren, bairischen Überlieferung des 15. Jahrhunderts. Weil der Oseker Codex am Ende defekt ist, ermöglicht die zweite Handschrift den Abdruck eines vollständigen Textes. – Im folgenden wird die Oseker Handschrift ausführlicher beschrieben. Für I.C.15, eine Papierhandschrift aus dem Dominikanerkloster Budweis, die die Hohelied-Übersetzung auf fol. 358va –362rb überliefert, sei auf die Beschreibungen von Truhla´rˇ (Nr. 106, S. 36 mit Datierung: »saec. XV (cca 1462)«) und Dolch (Nr. 3, S. 4: »XV. Jhh.«) verwiesen. Für ihre Unterstützung möchte ich Milosˇ Dosta´l und Veronika Ra´kocy von der Tschechischen Nationalbibliothek danken, ebenso Hans Ulrich Schmid, der mir Mikrofilmabzüge mehrerer Handschriften zur Verfügung stellte, und
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besonders Karin Schneider für die freundliche Bereitschaft, einige Abzüge der Oseker Handschrift paläographisch zu beurteilen. Bereits während der Drucklegung des Bandes gab John L. Flood mir freundlichst Kenntnis von seinem aufschlussreichen Beitrag über die Inkunabel GW 6002, die ich daher in Abschnitt 3 noch berücksichtigen konnte; dafür danke ich ihm recht herzlich. 1. Beschreibung der Handschrift ˇ eske´ republiky, MS Osek 18 Praha, Na´rodnı´ knihovna C Die Papierhandschrift in Quartformat umfasst 159 Folia ohne Wasserzeichen. Den Einband bilden mit beigefarbenem Leder überzogene Holzdeckel (Höhe 19,4 cm; Breite vorne 13,4 cm, hinten 14 cm), von denen sich das Leder teilweise gelöst hat. Beide Holzdeckel zeigen innen einen Abklatsch mit Schriftspuren einer alten, jetzt abgerissenen und nicht mehr mit dem Codex verwahrten Beklebung von Makulaturpergament. Der vordere Einbanddeckel trägt innen ein neues Signaturschild mit dem Aufdruck Na´rodnı´ knihovna CˇR odd. rukopisu˚ a stary´ch tisku˚, neben dem von Hand die Signatur Osek 18 eingetragen ist. Oben auf dem Umschlag des Einbandleders steht mit Blei No 18. Auf dem hinteren Einbanddeckel stecken am linken Rand mittig zwei rostige Nägel, vielleicht Teile einer alten Schließe, doch findet sich am vorderen Deckel keine Spur eines Gegenstücks. Am Rücken des Codex sind drei Bünde. Oberhalb des ersten Bundes ist das Leder abgerissen, so dass die Lagenrücken freiliegen. Zwischen dem ersten und zweiten Bund klebt mittig ein Papierschild mit der Signatur S. Unterhalb des dritten Bundes ist das Leder abgelöst, darunter befindet sich Pergamentmakulatur mit Schriftresten; auf die Außenseite des Leders ist ein Papierschildchen mit der aufgedruckten Signatur 18 geklebt. Die Handschrift setzt sich aus sechzehn Lagen zusammen: 5 × IV40 + 4 × VI88 + 2 × 104 IV + VI116 + (IV+1)125 + VI137 + V147 + VI159. Alle Lagen sind innen, die erste und letzte auch außen mit Pergamentstreifen verstärkt. Abmessungen der Seiten: ca. 19,2 cm × 14 cm (fol. 1–125 und 138–159) bzw. 13 cm (fol. 126–137). Die Handschrift scheint unten um ein Weniges beschnitten zu sein; auf fol. 53v ist dadurch die zweite Zeile eines Scholiums halb weggeschnitten. Der mit Linien eingegrenzte Schriftraum misst in der Höhe zwischen 12,4 und 12,9 cm (fol. 1–105 und 126–159) bzw. 14,5 cm, in der Breite zwischen 8,5 und 9,7 cm. Die Liniierung ist mit Tinte gezogen; an den Außenrändern der Seiten sind die für das Liniieren gestochenen Löcher erhalten. Liniiert sind 28–30 Zeilen (fol. 1–125r) bzw. 27–31 Zeilen (fol. 126–159) je Seite; der Zeilenabstand beträgt ca. 4–5 mm (fol. 1–104 und 126–159) bzw. ca. 5– 6 mm (fol. 105–125r). Die jeweils erste Zeile jeder Seite ist nicht beschrieben. Auf fol. 138–159 (mit Ausnahme weniger Seiten) sind zusätzlich zu den Randlinien des Schriftspiegels weitere senkrechte Linien gezogen, deren Zweck unklar ist. Die Handschrift besteht aus zwei Hauptteilen A und B: A, fol. 1–125, enthält auf fol. 1r –125r den Hoheliedkommentar des Honorius Augustodunensis (PL 172, 347– 496), die Kommentare zu den einzelnen Kapiteln des Hohen Liedes beginnen auf fol. 10r (Ct 1), 29r (Ct 2), 43r (Ct 3), 53r (Ct 4), 69v (Ct 5), 82r (Ct 6), 90v (Ct 7) und 104v (Ct 8). Fol. 125v vacat. A zerfällt wiederum in zwei Teile: A1, fol. 1–104: elf Lagen, mit Ausnahme der ersten gezählt mit römischen Ziffern auf dem jeweils letzten Blatt verso unten links innerhalb des Schriftspiegels: II 9, III 9 bis IX 9, X, XI; bei der dritten und vierten Lage tritt eine Angabe mit arabischen Ziffern am linken unteren Seitenrand hinzu: 3 9, 4 9, bei der fünften Lage ist die Angabe unmittelbar nachstehend in Rot wiederholt. Auf fol. 1r am linken oberen Rand die Signatur S., dahinter von junger Hand: Ex Bibliotheca Minori, darunter eine unleserliche Textzeile, vielleicht ein durch Reagenzanwendung beschädigter Besitzvermerk? Die Textgliederung wird durch
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drei- und einzeilige rote Initialen und gerötelte Versalien am Satzanfang bezeichnet. Incipit (PL 172, 347 C ): Donum sapientie cum salomone poscente a uero pacifico postulata consequi § Quia predecessori tuo beate memorie venerando alberti § librum dauid vtcunque explanaui poscis a me a´nnuo [PL : immo] iubendo exigis successor eius librum salomonis tibi explicaui [PL : explanari]. iustum asserens ut qui patri [PL : patri patris] opus magno [korr. aus mago] sudore elaboratum obtuli tibi quasi filio [PL : filio filii] opus stilo elucidatum debeam offerre. Explicit (PL 172, 473AB ): Quis michi det te fratrem meum hoc est quis de sanctis patriarcha vel propheta potest michi conferre vt inveniam te foris hoc est ut videam te in carne cum hominibus conuersantem ex scripturis docentem miracula facientem sicud te olim viderunt quorum oculi beati fuerunt Anno domini MoC oC oC o. XXXVII o in vigilia beate katherine finitus est liber iste Aue caro xp¯i, der Rest von fol. 104v ist nur liniiert, nicht beschrieben. In der ersten Hälfte (bis fol. 54) mehrere, teils umfangreichere Randscholien sowie Korrekturen, in der zweiten Hälfte nur noch ganz vereinzelte Glossen. A2, fol. 105–125: zwei Lagen ohne Lagenzählung. Fortsetzung des Kommentars des Honorius Augustodunensis von anderer Hand als fol. 1–104 bis zum Schluss. Es gibt keine farbige Hervorhebungen, mehrfach ist Platz gelassen für nicht ausgeführte Initialen, wobei teilweise der erforderte Buchstabe für den Rubrikator klein angegeben ist. Incipit (PL 172, 473AB ): 〈Q〉uis [dreizeilige Initiale nicht ausgeführt] michi det te fratrem meum hoc est quis de sanctis patriarcha uel propheta potest michi conferre ut inveniam te foris i. ut videam te in carne cum hominibus conuersantem ex scripturis docentem miracula facientem sicut te olym uiderunt quorum oculi beati fuerunt et deosculor te sicut Symeon et anna et alij quam plures et audiam ex ore tuo uerba pacis per te reddita hominibus et me nemo ex infidelibus despiciat sicut hactenus fecit dicens me excecatam et reprobatam te dico christus rex glorie existentem fratrem meum [. . .]. Explicit (PL 172, 496 BC ): Sicut patrem Dauid patre deo opitulante explanauimus Ita filium salomonem filio dei [PL : Deo] adiuuante elucidauimus Ideo omnes spiritui sancto compositori usque [PL : utriusque] operis gratias agamus Amen Explicit super cantica canticorum. Keine Glossen. B, fol. 126–159, enthält die Cantica canticorum mit einer deutschen Übersetzung und Willirams von Ebersberg lateinischem Kommentar in leoninischen Versen. Die Verseinteilung des Hohen Liedes stimmt mit jener Willirams überein, wobei aber dessen Verse 3 und 4, 6 und 7, 24 und 25 zusammengefasst sind (eine mögliche Erklärung gibt Schmid S. 206, Anm. 11), und das Miteinander der verschiedenen Texte ist ähnlich wie in Willirams ‘Expositio in cantica canticorum’ geregelt, indem sich aus einem Hoheliedvers (V), dessen deutscher Übersetzung (D) und dem zugehörigen lateinischen Verskommentar (L), die in dieser Reihenfolge aufeinander folgen, je ein »Kapitel« zusammensetzt; nur in den Kapiteln 42 und 43 ist die Reihenfolge gestört: 43V, 43D, 42L, 42V, 42D, 43L (im Textabdruck ist die richtige Abfolge hergestellt). Der Text ist unvollständig, es fehlen nach Willirams Zählung die Verse 138–149 (Ct 8,6b–14) samt den zugehörigen Übersetzungen und Kommentaren (108 Hexameter). Das Fehlende kann nach Maßgabe des Überlieferten nicht mehr als sechs Folia gefüllt haben, am Ende der Handschrift fehlt also wahrscheinlich ein Ternio, falls nicht auf den Williram-Teil noch andere Texte folgten. Teil B besteht aus drei Lagen, gezählt mit römischen Ziffern auf dem jeweils letzten Blatt verso unten links innerhalb des Schriftspiegels: I 9, II 9, III 9. Vereinzelt ist Text ohne Linien auf den Seitenrand geschrieben; am oberen Rand ist fol. 126v die Übersetzung der Hoheliedverse 6–10 (Ct 1,3b-5a) und fol. 149v die der von Williram nicht bearbeiteten Verse Ct 6,4b– 6 nachgetragen; am unteren Rand stehen fol. 128v Willirams Kommentarhexameter 24L1–25L5, fol. 136r die Übersetzung von Vers 54, fol. 138r und 154r der Schluss der Übersetzungen von Vers 59 bzw. 119. Es gibt keine farbigen Hervorhebungen, zur Textgliederung dienen ein-, anderthalb- oder zweizeilige Initialen am Beginn der Vulgataverse sowie am Beginn von Willirams Verskommentar. Den Beginn der Vulgataverse
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bezeichnet am linken Rand ein Paragraphenzeichen, den Beginn des Verskommentars ein Kürzel für versus, doch ist beides nicht konsequent durchgeführt: Paragraphenzeichen stehen nur für Kapitel 2–52 und auch in diesem Bereich nicht vor jedem Vulgatavers; das versus-Zeichen steht in den Kapiteln 1–11 meist zweimal, sowohl am Ende des CanticaTextes bzw. der deutschen Übersetzung als auch vor der ersten Zeile des Verskommentars, von Kapitel 12 an nur noch am Beginn des Verskommentars, wo es aber auch vereinzelt fehlt. Anscheinend hat der Schreiber zuerst den Vulgatatext und die Hexameter geschrieben und dazwischen für die deutsche Übersetzung Platz freigelassen. Die Übersetzung folgt häufig ohne Zeilenwechsel, nur durch einen feinen Doppelstrich abgetrennt, auf den Vulgatatext. Wo der Freiraum nicht ausreicht, wird das Ende der Übersetzung gelegentlich, durch Linien abgetrennt, rechts von den Hexametern (die in je einer Zeile abgesetzt geschrieben sind) untergebracht, z. B. fol. 136r, 139r, 144v, 158r. Fol. 157v steht das letzte Wort der Übersetzung von Vers 130, vorsme, zwei Zeilen unter dem vorangehenden nimant, offenbar weil es in der darunterstehenden Zeile hinter dem Hexameter 130L1 Qvis dabit hoc frater ut lactet te mea mater (vor te ist me durchgestrichen) keinen Platz mehr fand. Dreimal ist eine Zeile leergeblieben: fol. 128r hinter den Hexametern zu Vers 18, fol. 149v hinter der Übersetzung von Vers 103; fol. 141v ist die für die Übersetzung von Vers 70 vorgesehene Zeile freigelassen, da jene irrtümlich bereits zu Vers 69 geschrieben war. Fol. 128v neben Vers 22 eine Glosse über die Taube. Die Schrift von Teil B ist uneinheitlich, neben einer älteren gotischen Kursiven (z. B. fol. 126rv) ist auch Textualis verwendet, vereinzelt gemischt mit Formen der Halbkursiven (z. B. fol. 133r); teilweise ist Halbkursive für die lateinischen, Textualis für die deutschen Texte verwendet (z. B. fol. 149v). Teil A1 ist datiert auf die Vigil St. Katharina, d. h. den 24. November des Jahres 1337; A2 dürfte nur geringfügig jünger sein. Der Williram-Teil B ist der Schrift nach »kaum viel später als der erste, auf 1337 datierte Teil der Hs., aber wohl nicht über ‘um Mitte 14. Jh.s’ hinaus« zu datieren (Karin Schneider brieflich vom 11. Dezember 2010). Eine eingehende paläographische Untersuchung der ganzen Handschrift wäre wünschenswert. Vorhandene Beschreibung: Wohlmann S. 127; vgl. auch Gärtner S. 27 (Nr. 37).
2. Die Übersetzung der Oseker Handschrift Der deutsche Text ist dem lateinischen Bibeltext aufs engste verpflichtet und im wesentlichen von Williram Übersetzung unabhängig; doch kann aufgrund geringfügiger Reminiszenzen angenommen werden, dass dem Übersetzer eine vollständige Handschrift der ‘Expositio’ vorlag, auch wenn Willirams deutschlateinischer Prosakommentar der Handschrift völlig abgeht (vgl. Schmid S. 206– 208). Die zusammengefassten Hoheliedverse (3/4, 6/7 und 24/25), einige Korrekturen sowie der Umstand, dass der zwischen dem Cantica-Text und den Hexametern freigehaltene Platz teilweise zu gering bemessen war, lassen vermuten, dass die Übersetzung dem Schreiber nicht bereits fertig vorlag, sondern dass er seine Vorlage, möglicherweise eine dreispaltig geschriebene WilliramHandschrift (vgl. Schmid S. 206 Anm. 11), während des Abschreibens bearbeitete. Im folgenden seien einige auffällige Befunde zusammengestellt; in der Liste sind die Textstellen nach Willirams Verszählung und in Klammern nach der modernen Kapitel- und Verszählung bezeichnet; die Siglen sind in der Liste auf S. 221 erklärt; der Doppelpunkt trennt lateinischen Text und Übersetzung.
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Zur Laut- und Formenlehre: 26 (2,1) conuallium : der tale (Williram de´ro te´lero). 43 (2,14) in foraminibus : in der i holern. 47 (2,17) Capree : d(er) Rechkalben. 93 (5,14) eburneus : helfenbein, dagegen 116 (7,4) eburnea : helfinbeyni(n). 112 (7,1) Ivncture feminum : Da sic die huffe e o zusamme(n) wugen, 119 (7,5) iuncta : ge wuget. 119 (7,5) Caput : haub und come capitis: v v v hop har, dagegen 133 (8,3) sub capite meo : vndir meinim hobte (davor hote durchgev strichen). 121 (7,7) palme : den palmen. bome – statt dem p. b. 124 (7,9) dilecto meo : meinin leyben – statt meinim l. 125 (7,10) her (Wr. e´r ) – h-Prothese, dagegen 51 (3,7) ern salomonis. 135 (8,5) affluens : zu vlisindie – s statt mhd. z (vliezen). 137 (8,6) emulacio : vor vli〈ss〉inkeyt – wenn das Wort richtig ergänzt ist, steht ss statt mhd. zz.
Zur Lexik: e
14 (1,7) Edos : zikkel. 35 (2,8) colles : di hubıl (Wr. dıˆe bu´hela). 43 (2,14) macerie : der moure ane khalch. 50 (3,6) per desertum : durch di wustenunge, ebenso 135 (8,5) de deserto : von der wstinnu(n)ge. 50 (3,6) vniuersi pulueris pigmentarij : allerhande puluers des apotekeres (Wr. uo´ne demo stu´ppe a´llersla´hto pıˆmenton), 90 (5,13) a pigmentarijs : von e den klareten (Wr. uo´n de´n ku´nstigen pıˆmentaren). 52 (3,10) purpureum : pellelın, 119 (7,5) purpura: phellel. 54 (4,1) und 57 (4,3) latet : loschet. 55 (4,2) sterilis : galcz, 102 e (6,5) sterilis : geltz. 56 (4,3) coccinea : seydın. 66 (4,11) distillans : trorendem, ebenso 91 (5,13) distillancia : di da troren – vgl. 80 (5,5) stillauerunt : tropphilten. 88 (5,11) elate : di o e sumerlaten. 89 (5,12) riuos : den riuiren. 89 (5,12) fluenta : den . . . vloumen. 103 (6,7) und 105 (6,8) concubine : amyen. 110 (7,1) choros castrorum : di ekke d(er) strit. 122 (7,8) apprehendam : ich . . . werd er wizsen, 131 (8,2) Apprehendam te : Ich wil dich erwizsen. 124 (7,9) ad ruminandum : zu andirwedene (Pr zu anderwaiden ).
Williram-Reminiszenzen (vgl. Schmid S. 207 f.): 11 (1,5) Filii : khint, darüber sune (Wr. kı´nt ). 14 (1,7) ignoras (Wr. i. te) : Weiztu nicht, aber in der marginalen zweiten Übersetzung: erkennestu dich nicht. 16 (1,9) gene : e wangenhuffel (Wr. huˆfelon), 57 (4,3) gene : huffelwangen (Wr. huˆffelon), 90 (5,13) Gene : hufwengel (Wr. hvˆffelon). 81 (5,6) Pessulum hostij aperui dilecto meo : Den rigel meiner tuer zoch ich abe daz ich auftete meynem lieben (Wr. De´n grı´ntel mıˆner tu´re na´m ´ıh a´ba. daz ´ıh mıˆnemo vuı´ne intaˆte). 108 (6,11) propter quadrigas : durch di waginrete (Wr. du´rh da´z gereˆite). 113 (7,2) crater : koph, davor nap durchgestrichen (Wr. na´ph). 122 (7,8) et erunt vbera tua sicud botri vinee : von Wr. nicht übersetzt, Os übersetzt stattdessen Vers 29 (Ct 2,3) – dagegen wurden die von Wr. fortgelassenen Verse Ct 6,4b– 6 in Os nachträglich übersetzt (s. u. Vers 102 mit Anm.). 131 (8,2) precepta domini : di gebot di(n)s hern – zu diesem Zusatz zum Hohen Lied s. u. 3 i. 136 (8,5) suscitaui te : hab ich din ge wart (Wr. irquı´chta ´ıch dı´ch, in Os könnte ein Missverständnis des bei Wr. folgenden ueruua´rtit vorliegen) – dagegen vgl. 33 (2,7) und 49 (3,5) suscitetis : erwekt. [Die von Schmid S. 207 unter Nr. 6 mitgeteilte Korrektur bezieht sich in Wirklichkeit auf Wr.s Hexameter 110L2 (fol. 152r), Quid nisi forte sonos (Wr. choros) castrorum sane (durchgestrichen, am Rand mit Einfügezeichen swaue) sonoros.]
Alternativen, Mehrfachübersetzungen, Kontextglossen (Schmid S. 207): e
20 (1,12) Fasciculus : Ein gebundelin od(er) puschelın (Wr. eˆin gebu´ntelin). 31 (2,5) e langweo : ich . . . sochche. vn(d) sıche. 68 (4,13) Emissiones tue : Dein auzleze. dein sprozze(n) (Wr. vˆzphla´nza ). 92 (5,14) iacinctis : iacincten daz sint iachande.
Zusätze der Übersetzung: e
e
48 (3,2) per uicos et plateas : durch die enge(n) gazzen vn(d) durch die wıten strazen. 126 (7,11) dilecte mi : mey(n) herzcen lip. 131 (8,2) cubiculum : daz heineliche slaf gadim.
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Auslassungen der Übersetzung: 54 (4,1) oculi tui columbarum. 86 (5,9) ex dilecto 2. 101 (6,3) Terribilis – dagegen 106 (6,9) terribilis : vreyzsam. 106 (6,9) pulcra. 109 (6,12) re〈uertere〉 re〈uertere〉2. 117 (7,4) filie. 126 (7,12) si flores fructus parturierunt si floruerunt. 120 (7,6) amica mea (fehlt Vulg. Wr.). 127 (7,12) o sponse.
Lateinischer Text fehlt, ist aber übersetzt: 62 (4,8) de capite amana (fehlt Os) : vo(n) de(m) houbte amana. 85 (5,8) filie¸ iherusalem e (so Wr. Vulg., iherusalem fehlt Os) : tochter von iherusalem. 91 (5,13) lilia (fehlt Os) : lylyen. 91 (5,13) primam (fehlt Os) : ersten. 105 (6,8) Viderunt illam. filie ( filie syon Pr In) : Die tochter von syon sahen sie.
Falscher lateinischer Text – falsche Übersetzung: e
28 (2,3) inter filias (Wr. Vulg. filios) : vnder den tochtern.
Falscher lateinischer Text – richtige Übersetzung: 77 (5,2) vnica (statt Vulg. Wr. amica) : vrundinne. 101 (6,3) filia (statt Vulg. Wr. sicut ) : als. 108 (6,11) Nesciuit (statt Vulg. Wr. Nescivi ) : Ich wustes nicht. 112 (7,1) super (statt Vulg. Wr. sicut ) : als. 114 (7,2) eius (statt Vulg. Wr. tuus) : Dein. 128 (7,13) suis (statt Vulg. Wr. nostris) : vnsen. 136 (8,5) incorrupta (statt Vulg. Wr. ibi corrupta) : do ist vor terbit. 136 (8,5) inviolata (statt Vulg. Wr. ibi violata) : ge notzoogit – allerdings ist ibi nicht übersetzt.
Lateinischer Text folgt Williram, aber übersetzt ist der Wortlaut der Vulgata: 135 (8,5) super dilectum meum (Vulg. suum) : vf iren lieben.
Ungenauigkeiten und Fehler der Übersetzung: 14 (1,7) pulcra : pulchra – die marginale zweite Übersetzung hat schonne. 39 (2,12) e putacionis : des wınlesen (Wr. des re´besnı´tes). 51 (3,8) omnes tenentes gladios et ad bella doctissimi vniuscuiusque ensis super femur suum propter timores nocturnos : alle halde(n) e e sei ir swert / uf ir huf durch die nachtvorcht / vn(d) sint ze strıte wol gelart – anscheinend wurde zuerst et – ensis übersprungen und dann die Übersetzung von et – doctissimi hinten angehängt. 52 (3,10) Reclinatorium aureum. ascensum purpureum : den auf ganch e e pellelın. Die lene guldın – Reihenfolge vertauscht. 63 (4,9) mea 2 mit der Vulgata gegen Wr. zugesetzt, aber nicht übersetzt. 64 (4,10) soror mea sponsa : braut mein swester. 67 (4,12) signatus : gezeychinter. 68 (4,13) cum pomorum fructibus : mit d(er) epfil frucht (Wr. mı´t a´llersla´hto o´beze), ebenso 73 (5,1) pomorum : epfel (Wr. o´bezes), aber 107 (6,10) poma : daz obez. 84 (5,7) tulerunt : trugen (Wr. naˆmon mı´r ). 95 (5,15) electus : auz erwelt – das Adjektiv scheint. fälschlich noch auf das vorangehende species bezogen (vgl. Wr. e´r ´ıst oˆuh se´lbo eruue´let. sa´mo ceˆderboˆum ). 99 (6,1) in ortis : in dem gartin. 104 (6,8) electa genitricis sue : ir vzerwelte gebererrinne – richtig wäre vzerw. ir geb. 106 (6,9) sicud aurora consurgens pulcra ut luna : als ein morgenroet / mit eynander aufgende als d(er) maen – der Übersetzer hat pulcra ausgelassen und consurgens fälschlich auf luna bezogen. 107 (6,10) mala punica : die boum d(er) volkurnigen epphel – gemeint sind aber die Früchte (vgl. Wr.). 133 (8,3) Leua eius : Dein linke hant – im gleichen Vers folgt richtig dextera illius : sein rechte hant.
Einzelnes Bemerkenswerte: 30 (2,4) ordinauit in me karitatem : Er ordintte in mir die minne. 101 (6,3) castrorum acies : spizcze des streytes, 106 (6,9) castrorum acies : spitze der st〈r〉eyter. 109 (6,12)
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Reuertere re〈uertere〉: Kere widir / kere dich vmme. 112 (7,1) Ivncture feminum: Da sic die e huffe zusamme(n) wugen – nominale Fügung in Nebensatz aufgelöst. 125 (7,10) ad me conuersio eius: her hat sich zu mir gekart – nominale Fügung verbal übersetzt. 132 (8,2) Et dabo tibi poculum : Vnd werd dich trenken – poculum verbal übersetzt (mit erspartem Subjekt ›ich‹). 135 (8,5) affluens : zu vlisindie – dem Lateinischen nachgebildet.
Die Indersdorfer Williramhandschrift zeigt einzelne Übereinstimmungen mit den beiden Prager Handschriften (vgl. Verf. S. 173–175): 81 (5,6) hostij Os Eb Br Vulg.] ostij mei Pr In Vulg.var. 101 (6,3) filia Os Pr In] sicut Eb Br Vulg. 105 (6,8) filie et Os Eb Br Vulg.] filie syon et Pr In (syon steht in In über et ) – Übersetzung: Die tochter von syon Os, dy to˝chter von syon Pr. 108 (6,11) conturbauit : bi trubte Os, betru˝ebet Pr, getruˆobet In, erfloˆiget Eb Br. 124 (7,9) illius Os In Vulg.] suis Pr, eius Eb Br. 135 (8,5) et Os Pr In Vulg.] fehlt Eb, expungiert Br (laut Schützeichel / Meinekes Ausgabe).
3. Zu den Überlieferungsverhältnissen Ein weiterer, bisher unbekannter Textzeuge des lateinisch-deutschen Hohen Liedes, die im Jahr 1479 gedruckte Inkunabel GW 6002 (D), wird von John L. Flood in seinem Beitrag in diesem Band ediert und untersucht. Anhand des ältesten (Os) und dieses jüngsten bekannten Textzeugen sowie der zeitlich dazwischenliegenden Prager Handschrift I.C.15 (Pr) wird somit dieser Überlieferungskomplex zum ersten Mal deutlicher fassbar. Eine textgeschichtliche Untersuchung ist auf dieser Basis zwar noch nicht möglich; immerhin erbrachte ein Vergleich der in diesem Band vorgestellten Texte unter punktueller Einbeziehung einiger weiterer Handschriften folgende mitteilenswerte Ergebnisse (zu den Siglen s. u. S. 221; für die Williram-Handschriften Br Eb In steht, wo sie übereinstimmen, Wr.; der Doppelpunkt trennt lateinischen Text und Übersetzung; geringfügige lautliche und orthographische Abweichungen der Lesarten sind nicht verzeichnet). i. Ein bedeutendes Merkmal, das den Text des lateinisch-deutschen Hohen Liedes mit Williram verbindet, ist neben der Verseinteilung der bekannte Zusatz zum Vulgatatext: 131 (8,2) precepta domini Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D Wr., fehlt Vulg. : di gebot di(n)s hern Os, die gepot ( pot Pr) des herren G2 Pr G1 M1 M2 S2 S3 D, dy gepot meins h(er)rn S1 W1, tro´htines gebo´t Wr. Derselbe Zusatz erscheint in einer Antiphon zu Mariae Himmelfahrt und Mariae Geburt: Corpus Antiphonalium Officii, ed. a RenatoJoanne Hesbert, Rom 1963–1979, Vol. III, Nr. 2224 Dilecte mi, apprehendam te . . .; vgl. CANTUS: A Database for Latin Ecclesiastical Chant (http://cantus.gregorian-chant.org), Nr. 002224; Gregorius Magnus, Liber responsalis, PL 78, 800A; Das St. Trudperter Hohelied, hg. von Friedrich Ohly (Bibliothek des Mittelalters 2), Frankfurt a. M. 1998, Kommentar zu 127,30.
ii. In den meisten Handschriften fehlen zudem wie bei Williram Text und Übersetzung der Cantica-Verse 6,4b–6: [102] (6,4b– 6) capilli tui . . . absque occultis tuis D Vulg., fehlt Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 e S3 W1 Wr. : Din har . . . an daz dar inne vorborgen loschet Os(teilweise als marginaler
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Nachtrag), Dein hor . . . an dein verborgen czir D, fehlt Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 Wr. G1 hat im lat. Text Ct 6,4b–5: Capilli tui sicut greges caprarum qui apparuit ad galaad Dentes tui sicut grex ouium que ascenderunt de lauacro (cro über exp. ro) omnis gemellis fetibus et sterilis non est in eis, darauf folgt (aufgrund der Ähnlichkeit von Ct 4,1b–3 und 6,4b– 6) Ct 4,3: Sicut vitta coccinea labia tua et eloquium tuu〈m〉 dulce und schließlich Ct 6,5: sicut cortex mali punici sic gene tue absque oc(u)l(t?)is tuis; die Übersetzung lautet: Dein lokch sein als dy hert der gaysse dy do erschaynn sind auff perig galaad dein zend sind als dy hert der schoff(e)n dy do gegang(e)n sind auf der fleug(n) sew sind alle e e czwilli(n)g der purt vnd chain vnfruchtperigew ist vnder yn nicht Dein lebs sind als ein seydeinew reyss(e)n vnd dein red ist suezze als ein rintt(e)n eins rott(e)n wolfinekuder(?) apph(e)l also sein dein weinglein an das das do v(er)parig(n) ist.
iii. An folgenden beiden Stellen dürfte der Archetyp des lateinisch-deutschen Hohen Liedes gegenüber Williram und der Vulgata einen Fehler aufgewiesen haben: 77 (5,2) vnica Os Pr G2 M1 M2 S1 S2 W1(korr. aus vinea) D, amica G1 Wr. Vulg., fehlt S3 : vrundinne Os(im Text) Wr., eynige Os(am Rand) Pr G2 M1 M2 S1 S2? S3 W1 D [in G1 ist amica mea columba mea nicht übersetzt]. 89 (5,12) opulentissima Os Pr G1 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D, plenissima Wr. Vulg. [G2 auf Filmabzug nicht lesbar].
iv. In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Stellen bemerkenswert: 105 (6,8) filie Os M2 W1 Eb Br Vulg., filie syon Pr G1 G2 M1 S1 S2 D In(syon über dem nächsten Wort ergänzt), felicem(?) filie syon S3 : Die tochter von syon Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D, Dıˆe dıˆerenon Wr. 122 (7,8) odores (et odor oris Pr G1 D, et odoris M1, odoris M2, et odores S1 S2, et odor odi oris S3) tui sicud malorum Os Pr G1 G2? M1 M2 S1 S2 S3 W1 D, et odor oris tui sicut malorum. Guttur tuvm sicut uinum optimum durchgestrichen Eb, fehlt Br In Vulg. : vnd der gesmachen (rukch G1 G2 S1 S2 S3[dahinter ein Wort ausgestrichen] W1) deins munds als der ru˝kh (gesmach S3) der o˝pfel Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D, Os abweichend, fehlt Wr. − Dieser Satz, nach Willirams Einteilung Vers 123a, nach der Langton-Zählung Ct 7,8b, ist im lat.-dt. Hohen Lied an Willirams Vers 122 (= Ct 7,8a) angehängt; die meisten Textzeugen bringen ihn ein zweites Mal in der nächsten Übersetzungseinheit, Willirams Vers 123 entsprechend, zusammen mit Ct 7,9a, dort mit folgenden Varianten: 123 (7,8) Odor (et odor Vulg.) oris tui sicud malorum Os Pr G1 M1 M2 W1 D Wr. Vulg., fehlt G2 S1 S2 S3 : Der ruch deines mundes als der ruch der ephele Os, Der gsmach deins munds als (ist als M1) d(er) o˝phell Pr G1 M1 M2 D, Der sta´nk dıˆnes mu´ndes ´ıst sa´mo der suˆozen e´pfelo Wr., fehlt G2 S1 S2 S3 W1.
v. In welchem Verhältnis die Oseker Handschrift zu den übrigen Textzeugen des lateinisch-deutschen Hohen Liedes steht, lässt sich ohne vollständige Kollationen weiterer Handschriften nicht mit Sicherheit sagen. Zudem ist die Argumentation mit Binde- und Trennfehlern bei der Übersetzung eines biblischen Textes mit gewissen Einschränkungen behaftet, weil man damit rechnen muss, dass die Überlieferung im Lateinischen durch (bewusste oder unbewusste) Rückgriffe auf die Vulgata und im Deutschen durch Kontrolle am Lateinischen und gegebenenfalls selbständige Neuübersetzung beeinflusst wurde. Daher ist es fast in jedem Fall grundsätzlich denkbar, dass ein aufmerksamer Abschreiber einen Fehler entdecken und beseitigen konnte. Bedenkt man den zeitlichen Abstand zwischen der Oseker Handschrift, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschrieben wurde, und der um 1400 mit der Wiener Handschrift W1 einsetzenden jüngeren Überlieferung, so ist eine derartige »Textevolution« nicht auszuschließen.
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vi. Deutlich erkennbar ist dagegen eine nähere Verwandtschaft der Handschrift Pr mit dem Druck D, die folgende Lesarten belegen: 58 (4,4) omnis Os G1 G2 S1 S2 S3 Wr. Vulg., om ¯¯ i W1, cum omni Pr D, ante cum omni M1 M2 : aller leyge Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1, a´llersla´hto Wr., mit allerlay Pr D. 66 (4,11) sponsa Os G1 G2 S2 S3 W1 Wr. Vulg., fehlt Pr M1 M2 S1 D : mein braut Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1, gema´hela Wr., fehlt Pr D. 70 (4,14) vngentis Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 Wr. Vulg., vngentis mirre et aloe Pr D : salben Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 Wr., salbn des mirren vn(d) aloes Pr, salben des mirre & aloe D. 72 (4,16) aquilo . . . auster Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D Wr. Vulg. : norden ... sauden Os G2 W1, narde ... sude S1, narde ... send(e)n S2, no(r?)tt ... sund vnd S3, aquilo ... auster Pr D, Freiräume gelassen M1, aquilo ... vnd M2, wintt(er)taill ... sumertaill G1, no´rtuuint ... su´ndene uuı´nt Wr. 90 (5,13) aromatum Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 W1 Wr. Vulg., arm tu¯ S3, aromate Pr D. 109 (6,12) sunamitis Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D Wr. Vulg. : du sunamitis Os G2 S2 W1, dw sunamit S3, sunamitis M1 M2, du suntige sel S1, du gevange sell G1, uerhu´ndeta Wr., du sunamite od(er) du suezze tocht(er) Pr, suse tochter D. 134 (8,4) ne Os G1 G2 M2 S1 S2 S3 W1 Wr. Vulg., ut ne Pr D, neque M1. 136 (8,5) suscitaui Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 Wr. Vulg., exspectaui S3, Suscita¯ W1, sustentaui Pr D. 143 (8,11) pacifica Pr D, pacificata G1, pacifico G2? M2 W1 Wr. Vulg., pacifice M1, pacificato¯ S1, pacifica o S2 S3 [ Textverlust Os].
vii. Pr und D wiederum haben eine Reihe von Lesarten mit M1 und M2 gemeinsam: 49 (3,5) dilectam . . . ipsa Os G2 S1 S2 Wr. Vulg., dilectam ipse G1(dazwischen fehlt donec), dilectum meum . . . ipse Pr, dilectum . . . ipse M1 M2, dilectum . . . ipsa D : di liebe . . . sei selb Os G1 G2 S1 S2, meinen (mein D, den M1 M2) lieben . . . er selber Pr M1 M2 D [Vers 49 fehlt W1, lat. Text unvollständig und ohne Übersetzung S3]. 55 (4,1) Capilli tui sicud grex (greges Pr G1 S1 S3 Vulg.) caprarum Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D Wr. Vulg. : e e Dın har ist als ein hert d(er) Cygen (hert tzige(n) G2 S2 S3) Os G2 S1 S2 S3, Dein har ist als d(er) czig(e)n W1, Dein hart ist hert(er) (hertt M1 M2) als ein schar d(er) gaiss Pr M1 M2, Das har ist hert als ein scar der geiß D, Dein har ist hert hert als der gays G1, Dıˆn va´hs ´ıst sa´mo geˆizzeco´rter Wr. 65 (4,10) Pulcriora Os Br(korr. aus Pulchra) Vulg., Pvlchra Eb, e Meliora Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D : Schoner Os G2 S1 S3 W1, schener S2, pezz(er) Pr G1 M1 M2 D Wr. 74 (5,1) vinum meum Os G1 G2 W1 Wr. Vulg., vinum Pr M1 M2 S1 S2 S3(meum am Rand?) D : meynen weyn Os G1 G2 S1 S2 S3 W1 Wr., den wein Pr M1 D, dein wein M2. 79 (5,4) ad tactum eius Os G1 G2? S1 S3 W1 Wr. Vulg., atactu(?) eius S2, contactum eius Pr M1 M2 D : von seym angriffe (angfriff S1) Os Pr G2 M1 M2 S1 S2 S3 D, vo(n) angriff G1, vo(n) sein angriffen W1, ze sıˆnemo a´nagrı´ffe Wr. 110 (7,1) videbis Os G1 G2 S1 S2 S3 Wr. Vulg., videbitis Pr M1 M2 D, videtis W1 : wirstu sen Os S2 W1, wirst du ansehen G2 S1, sichstu S3, gesı´hest du´ Wr., wert ir sech(e)n Pr G1 M1 M2 D.
viii. Dagegen, dass Pr die direkte Quelle des Drucks D war, ließe sich folgender Fehler anführen: 128 (7,13) odorem Os G1 G2 S1 S2 S3 D Wr. Vulg., fehlt Pr M1 M2 W1 : ruech Os G2 S2 W1, gesmach G1, gesmach(e)n S1 S3, schmack D, fehlt Pr, Wr. abweichend, Vers nicht übersetzt M1 M2. 128 (7,13) portis Os G1 G2 S2 S3 D Wr. Vulg., p(ar)tis S1, p(or)tul(is) e W1, poculis Pr M1 M2 : phortin Os G2 S3 W1, porten D, po´rton Wr., parten S1 S2, turn G1, tra(n)chen Pr, Vers nicht übersetzt M1 M2.
ix. Einzelne bemerkenswerte Stellen: e
28 (2,3) filias Os G1 G2 M1 M2 S2 S3? W1, filios Pr D Wr. Vulg. : den tochtern Os G1 G2 M1 M2 S2 S3 W1 D, den su˝nn Pr, a´nderen luˆiten Wr. [Vers 28 fehlt S1]. 84 (5,7) qui
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
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circueunt (circum- Wr. Vulg.) ciuitatem Os G2? Wr. Vulg., ciuitatis Pr G1 M1 M2 S3? W1 D, ciuitatis que circuerunt ciuitatem S1, qui (korr. aus ciui ) custodiunt ciuitatem S2 : di da gy´gen (gieng(e)n G1 G2 M1 M2 S1 S2 W1) vmb di stat Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 W1, dıˆede bu´rg u´mbegeˆnt Wr., d(er) stat Pr S3 D. 110 (7,1) castrorum Os Pr G1 G2 S1 S2 S3 D Wr. Vulg., fehlt M1 M2 W1 : d(er) strit Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1, d(er) streiter Pr D, de´ro geze´lto Wr. − Die Handschriften, in denen hier castrorum fehlt, fügen es am Ende des folgenden Verses hinzu, lassen es aber unübersetzt; Pr hat es an beiden Stellen mit Übersetzung: 111 (7,1) filia principis Os G1 G2 S1 S2 S3 D Vulg., filia principis castrorum e Pr M1 M2 W1, filia principis vel aminadab Wr. : du (dw M1 S3) vorstin tochter Os G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1, des fursten tochter D, des fu˝rsten tocht(er) d(er) streitt Pr, heˆrtuˆomes do´hter Wr. 112 (7,1) Ivncture (Iunctura Br D, Iuncta r` G1?) feminum ( femorum Pr G1 M1 M2 S1 S3 W1 D Wr., fomorum S2) tuorum Os Pr G1 G2? M1 M2 S1 S2 S3 W1 D Wr. e Vulg. : Da sic die (dein Pr S3) huffe zusamme(n) (zcu ein ander M1) wugen Os Pr G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1, Di glenck deiner huf D, Da´z gechnu´pfe dıˆnero dıˆeho Wr.
4. Zur Edition Im Mittelpunkt des folgenden Abdrucks des lateinisch-deutschen Hohen Liedes steht der Text der Oseker Handschrift, deren Verseinteilung auch übernommen ist. Die Vulgataverse sind mit halbfetten Ziffern entsprechend Willirams Einteilung numeriert, daneben bezeichnen hochgestellte Ziffern Kapitel und Vers der modernen, auf Stephan Langton zurückgehenden Zählung. In jeder Übersetzungseinheit (»Kapitel«) folgen auf den lateinischen, nach dem Wortlaut der Oseker Handschrift wiedergegebenen Vulgatavers die Übersetzungen der beiden Prager Handschriften Osek 18 (Os) und I.C.15 (Pr) sowie zum Vergleich in Kleindruck Willirams Übersetzung nach der Ebersberger Handschrift (Eb). Um den Paralleldruck der drei Übersetzungen zu vereinfachen, wurde die gelegentlich von Os bzw. Eb abweichende Verseinteilung von Pr ignoriert. Bei der Transkription sind verschiedenene Formen desselben Buchstaben (besonders d r s) gleich wiedergegeben, Zeilenumbrüche der Handschriften nicht beachtet; Seitenwechsel sind nur für Os durch marginale Zählung angegeben, in Pr kann man alle Textstellen anhand der dort vorhandenen roten Kapitelüberschriften capitulum primum, secundum usw. sowie rot unterstrichenen Versanfänge leicht auffinden, von Eb bietet die Ausgabe von Schützeichel/Meineke einen seitengetreuen Abdruck. Abkürzungen sind im Lateinischen ohne Kennzeichnung, im Deutschen in runden Klammern aufgelöst, die Interpunktion der Handschriften ist beibehalten. Auf jedes Textstück folgt gegebenenfalls ein Apparat mit Angaben zu Korrekturen, sonstigen Besonderheiten und abweichenden Lesarten. Für den Vulgatatext sind neben den Handschriften Pr und Eb auch die Breslauer (Br) und die – Os am nächsten verwandte (vgl. Verf. S. 173 ff.) – Indersdorfer (In) Williramhandschrift sowie die Vulgata-Ausgabe von Weber verglichen. Wo die Lesart von Os bei Weber nicht im Text steht, aber im Apparat belegt ist, ist dies vermerkt, dabei ist aber zu beachten, dass Weber nur einen Auswahlapparat bietet. Zu Willirams Übersetzung sind die Varianten von Br und In verzeichnet.
210
Niels Bohnert
Benutzt wurden für Os ein Mikrofilm, vollständig geprüft durch Autopsie der Handschrift am 27. und 29. Oktober 2010, für Pr digitale Abbildungen der Tschechischen Nationalbibliothek, für In ein Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek (http://daten.digitale-sammlungen.de/∼db/0002/bsb00022220/images/), für Eb und Br die Ausgabe von Bartelmez, durchweg verglichen mit jener von Schützeichel/Meineke. Stellenangaben zu Williram beziehen sich auf Bartelmez’ Ausgabe.
Literatur Erminnie Hollis Bartelmez (Hg.), The “Expositio in Cantica Canticorum” of Williram, abbot of Ebersberg 1048–1085. A Critical Edition (Memoirs of the American Philosophical Society 69), Philadelphia 1987. − Williram’s Text of the Song of Solomon and its Distribution, in: Manuscripta 16 (1972), S. 165–168. Niels Bohnert, Zur Textkritik von Willirams Kommentar des Hohen Liedes mit besonderer Berücksichtigung der Autorvarianten (Texte und Textgeschichte 56), Tübingen 2006. Walther Dolch, Katalog der deutschen Handschriften der k. k. öff. und Universitätsbibliothek zu Prag, I. Teil. Die Handschriften bis etwa z. J. 1550, Prag 1909. Kurt Gärtner, Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Willirams von Ebersberg, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 1–34. Honorius Augustodunensis, Expositio in Cantica canticorum, in: PL 172, Sp. 347– 496. PL = Patrologiae cursus completus. Series Latina, ed. Jacques Paul Migne, Parisiis 1841– 1864. Gisela Kornrumpf, Salomonische Schriften (deutsch), B. ‘Cantica canticorum’, in: VL 2 11 (2004), Sp. 1364–1367. Hans Ulrich Schmid, Eine spätmittelalterliche bairische Übersetzung des Hohen Liedes, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 199–208. Rudolf Schützeichel / Birgit Meineke (Hgg.), Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition. Übersetzung. Glossar. Redaktionelle Gestaltung: Dieter Kannenberg (Studien zum Althochdeutschen 39), Göttingen 2001. Joseph Truhla´rˇ, Catalogus codicum manu scriptorum Latinorum qui in C. R. bibliotheca publica atque universitatis Pragensis asservantur, Pars prior. Codices 1–1665 forulorum I−VIII , Pragae 1905. VL 2 = Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Aufl., unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. von Kurt Ruh [. . .], Berlin / New York 1978–1999. Vulg. = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem [. . .] recensuit et brevi apparatu critico instruxit Robertus Weber, editionem quartam emendatam cum sociis [. . .] praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 1994. Bernhard Wohlmann, Verzeichniss der Handschriften in der Bibliothek des Stiftes Ossegg, in: Die Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienser-Stifte. 2. Band (Xenia Bernardina II,2), Wien 1891 S. 115–164.
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
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Siglen Lateinisch-deutsches Hohes Lied: ˇ eske´ republiky, cod. Osek 18 Os = Prag (Praha), Na´rodnı´ knihovna C ˇ eske´ republiky, cod. I.C.15 Pr = Prag (Praha), Na´rodnı´ knihovna C In der Einleitung sowie an einzelnen Textstellen wurden zum Vergleich herangezogen (Siglen Schmids, S. 201, außer W1): G1 G2 M1 M2 S1 S2 S3 W1 D
= = = = = = = = =
Graz, Universitätsbibliothek, cod. 969 Graz, Universitätsbibliothek, cod. 1132 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 5377 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 12723 Seitenstetten, Stiftsbibliothek, cod. 121 Seitenstetten, Stiftsbibliothek, cod. 172 Seitenstetten, Stiftsbibliothek, cod. 221 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2907 Inkunabel Dietfurt (Oberpfalz), Bibliothek des Franziskanerklosters; Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke Nr. 6002: ‘Canticum canticorum lat. und deutsch’ (vgl. den Beitrag von John L. Flood)
Williram: Br = Breslau (Wrocław), Biblioteka Uniwersytecka, cod. R 347 (verschollen) Eb = München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 10 In = München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 77 Abkürzungen und Zeichen im Apparat Einl. = siehe Einleitung erg. = ergänzt exp. = expungiert Korr., korr. = Korrektur, korrigiert Txkr. = Verf., Zur Textkritik von Willirams Kommentar des Hohen Liedes Vulg. = Text der Vulgata nach Webers Ausgabe (Stuttgart 1994) (Vulg.) = wie Vulg.; zusätzlich steht die Lesart von Os in Webers Apparat Vulg.var. = in Webers Apparat verzeichnete Lesart + = hinzugefügt (z. B. filie] + syon Pr, d. h. Pr hat filie syon) = Spaltenwechsel von Os, wo dieser nicht mit dem Beginn des Hoheliedverses (im Lateinischen oder in der Übersetzung) zusammenfällt 〈 〉 = Ergänzungen des Herausgebers ( ) = Auflösung von Kürzeln Hochgestellte Ziffern (z. B. grex 1, grex 2) bezeichnen das so und sovielte Vorkommen eines Wortes im Text
212
Niels Bohnert
Edition 1
1,1
〈O〉sculetur me osculo oris sui /.
126
r
〈O〉sculetur] kleines o am Rand für den Initialenschreiber, davor Assit principio sancta maria meo Incipiuntur cantica canticorum salomonis Os, davor capitulum primum Pr. Os
e
Er gruze mich mit dem kuss sınes mundes. gruze] darüber kusse Os.
Pr
Er chu˝sset mich mit dem chus seines mundes.
Eb
Cv´sser mı´h. mı´t de´mo cu´sse sıˆnes mu´ndes. de´mo fehlt Br (Txkr. 109 Anm. 91).
Os
2 1,1 Quia meliora sunt vbera tua vino / 2 fraglancia vngentis optimis e wann dıne brustel bezzer seint den d(er) win baz richende de(n)ne die besten salben. den d(er)] den korr. aus dem, darüber d’ Os. win] korr. aus wine Os. e Zeile Os. de(n)ne] de¯n Os. die über der Zeile erg. Os.
baz über der
Pr
we(n)n dein pru˝st sind pezzer den d(er) wein paz riechund den dy pesten salben
Eb
Wa´nta be´zzer sı´nt dıˆne spu´nne de´mo uvıˆne: sıˆe stı´nchente. mı´t den be´zzesten sa´lbon. stı´nchent In.
3
1,2
Oleum effusum / nomen tuum /. 4 Ideo adolescentule dilexerunt te
Oleum – te] davor durchgestrichen Trahe me post te / Curremus in odore vngentorum tuorum (= Vers 5, Ct 1,3) Os. tuum] darüber ist Os. e
Os
e
e
i
Eyn Vz gegozzen ol ist dein nam / dar vmb dı junge(n) megdelin habn dich liep gehabt. Eyn] vor der Zeile erg. Os.
ist] über der Zeile erg. Os.
Pr
Dein nam ist ein ausgozzens ol daru(m)b habent dich lieb gehabt die iungen maidlein
Eb
Dıˆn na´mo. ´ıst uˆz gego´zzenaz o´le. Uo´ne dı´u mı´nnont dih dıˆe iu´nkfro´uvon: iu´nkfro´uvon] seˆla In (auf iu´nkfro´uvon folgt Willirams Kommentar: daz sint dıˆe seˆla. dıˆeder . . . Eb Br). iu´nkfro´uvon] f aus u korr. Eb Br.
5
1,3
Trahe me post te / Curremus in odore vngentorum tuorum
in odore – tuorum fehlt (Vulg.). Os
e
e
Zeu mich nach dir. so werd wir loufen / in dem ruchche dıner salben. so werd wir] am Seitenende unter durchgestrichenem wir beginne¯ Os.
Pr
Zeuch mich nach dir so wer wir lauffen in den gsmachen od(er) rauchen deiner salbm
Eb
Zvˆich mı´h naˆh dir. so loˆfon uuı´r in de´mo sta´nke dıˆnero sa´lbon. naˆh] davor naˆh durchgestrichen In.
126
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Os
213
6 1,3 Introduxit me rex in cellaria sua /. 7 Exultabimus et letabimur in te /. memores vberum tuorum / super vinum. D(er) kunnig vurtte mich in sinen keler. wir w(er)den vns vreuwen vnd gemeit sien in dir / wenne wir gedenken diner bruste vber den win / D(er) – win am oberen Seitenrand, davor ist wiederholt: Introduxit me rex. Os.
Pr
Der chunig fu˝rt mich in sein cheller wir w(er)den vns frolokhen vnd frewen in dich od(er) in dir. gedenchund dein(er) pru˝st v˝ber dy wein
Eb
Der ku´ning. leˆitota mı´h in sıˆne gega´deme. Wı´r spru´ngezen. unte fre´uuen u´nsih an dı´r. nals an u´ns se´lbon: uuı´r gehu´htige dıˆnero spu´nne. u´ber den uuıˆn. leˆitotota In.
Os
a´ls (n ausradiert vor a) In.
an u´ns] a´nnuns In.
den fehlt Br (Txkr. 109 Anm. 91).
8 1,3 Recti diligunt te. die gerechten habn dich liep die – liep folgt am oberen Seitenrand auf die Übersetzung der Verse 6–7, durch Virgel abgetrennt Os.
Pr
dy grecht(e)n habent dich lieb
Eb
Dıˆe re´hton mı´nnont dı´h.
9 1,4 Nygra sum sed formosa filie ierusalem / sicut tabernacula cedar sicut pellis salomonis. tabernaculum In. Os
pelles Eb Br In Vulg.
salemonis Pr.
Swartz pin ich / vn(d) doch suberlich / Ir tochter von ier(usa)l(e)m / als die gezelt cedar als die huet salem〈on〉is. Swarz – salem〈on〉is folgt am oberen Seitenrand auf die Übersetzung von Vers 8, eine neue Zeile beginnend, davor Paragraphenzeichen Os.
Pr
Swarcz pin ich vnd pin doch sa˝wb(er)leich ir to˝cht(er) vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m. als dy czel cedar als dy hawt sale(m)o(n)is
Eb
I´h bı´n sa´lo. sa´mo dıˆe he´reberga cedar: unte bı´n a´bo uuaˆtlıˆch. sa´mo dı´u geze´lt salemonis.
Os
10 1,5 Nolite me considerare quod fusca sim / quia decolorauit me sol. Merkt mich nicht / daz ich broun bin / wan die sun(n)e hat entverwet mich! Merkt – mich2 folgt am oberen Seitenrand auf die Übersetzung von Vers 9 Os.
Pr
Merkt mich nit das ich prawn pin wen dy su(n)n hat mich enpferbt
Eb
Ne tvˆont des nıˆet uua´ra. daz ´ıh so sa´lo sıˆ. ´ız tuˆot mir mı´chel noˆt. uua´nta dıˆu heˆizza su´nna. haˆt mı´r mıˆne scoˆne beno´man.
Os
11 1,5 Filii matris mee pugnauerunt contra me. Meiner muet(er) khint stritten wid(er) mich khint] darüber sune, dahinter am rechten Rand habn gestritte(n) Os.
127
r
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Niels Bohnert
Pr
Mein(er) mut(er) su˝n habent gstritt(e)n gegen mir
Eb
Nu uerne´met. uua´nnan sı´h daz leˆit bu´rete. Mıˆner muˆoter kı´nt. uu´hton vuı´der mı´r. uua´nne Br.
Os
12 1,5 Posuerunt me custodem in uineis. vineam meam non custodiui e Sie satzten mich zu huter in den weingarten /. Meine(n) weingarte(n) behuet ich nicht mich über der Zeile Os.
Pr
Sy saczt(e)n mich ze hu˝ttn in den weinga˝rt(e)n. mein weingart(e)n hab ich nit behuet
Eb
Sıˆe sa´zton mı´h zehuˆotare in den uuıˆngarton: mıˆnen eˆigenen uvıˆngarton nemo´ht ´ıh behuˆotan.
13 1,6 Indica mihi quem diligit anima mea /. Vbi pascas. vbi cubas in meridie Ne uagari incipiam post gregem sodalium tuorum. cubes Eb Br Vulg. Os
post] per Eb Br In (Vulg.).
Zeige mir. den mein sele liep hat. wo weidestu / wo hutestu ze mittage /. daz ich e icht irre nach diner schiltgeuerten nach d(er) hert dıner geselleschaft Zeige] davor vor der Zeile: tu mir ku(n)tt Os. davor zwei durchgestrichene Buchstaben Os. Einfügezeichen erg. Os.
Pr
Eb
greges Pr Eb Br In Vulg.
hutestu ze] darüber ruest tu Os. icht] nach diner schiltgeuerten] am Rand mit
Tue mir chund den mein sel lieb hat wo waidestu wo ruebstu in de(m) mitte(n) tag das ich nicht an heb irr zugen nach den hertten dein(er) gesellen ´ mbe Sa´ge mir uuı´ne mıˆn. uua du´ dıˆne scaˆph uueˆidenes: uuaˆ du´ ruˆouues u´mbe mı´tten dag. U uua´z bı´ten ´ıh des? Daz ´ıh nıˆet ´ırre nebegı´nne geˆn u´nter den co´rteron dıˆnero gese´llon.
14 1,7 Si ignoras o pulcra inter mulieres / egredere et abi post vestigia gregum. et pasce Edos tuos iuxta Tabernacula pastorum / ignoras] + te Pr Eb Br In Vulg. Os
o pulcherrima mulierum Pr.
gregum] + tuorum Pr.
Weiztu nicht o pulchra vnder den vrowen. greit vz / vn(d) ge abe / nach den e tritten d(er) herde / vn(d) weide dıne zikkel / bi der hyrtten gezelt Weiztu – gezelt] alternative Übersetzung am oberen Seitenrand: O schonne vndr allen vrowen. erkennestu dich nicht so ge vz. vnd ge abe / nach den slagen d(er) hertten. vnd weide dine zikkelin bi den gezelden d(er) hirtten. Os.
Pr
Eb
O du scho˝nste vnd(er) allen frawn erchenstu dich nicht so ge aws vnd gee nach den fuzsparn dein(er) herttn vnd waid deine chu˝zl pey den czellen der hertter ´ be dv´ dıˆn se´lbes nıˆenebeke´nnes uuıˆbo scoˆnesta: ga´ng uˆz. u´nte ua´r naˆh de´mo spo´re de´ro O ko´rtare. u´nte uueˆidene dıˆne kı´zzin bıˆden he´rebergon de´ro hı´rto. zı´kkin auf Rasur Br (Txkr. 41 Anm. 23).
15
1,8
Equitatui meo in curribus pharaonis assimilaui te amicam meam
amica mea Eb Br In Vulg.
127
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Os
Pr Eb
Os
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Meynem ryten / vf dem wagenern pharaonis /. hab ich geglichet dich mein vreundinne Meinen reitern in den wa˝gen pha(ra)o〈n〉(is) hab ich dich zu˝ gleicht mein frew ˝ nttin I´h ha´bo dı´h fruˆintin mıˆn gee´benmaˆzzot mıˆnemo reˆitgesı´nde. an de´n reˆit uua´genon pharaonis.
16 1,9 Pulchre sunt gene tue sicut Turturis. e Deine wangenhuffel sint schon als d(er) Turteltauben Deine] das erste e stark verblasst Os.
Pr
Scho˝n sind dein augenwe˝ngel als d(er) gu˝rttltauben
Eb
Dıˆne huˆfelon. sint sa´mo tu´rtultuˆbon.
Os Pr
17 1,9 Collum tuum sicut monilia. e o Dein hals ist als dı vurspan. dein hals als die zierspangen.
Eb
Dıˆn ha´ls. de´r ´ıst sa´mo smıˆdezıˆereda. de´r fehlt Br (Txkr. 109 Anm. 91).
18
1,10
Murenulas aureas faciemus tibi et vermiculatas argento
128
r
et fehlt Pr Eb Br In Vulg. Os Pr Eb
Os Pr
Eb
Guldin orringe / werd wir dir machn / vnde gewurmelt mit silber. gu˝ldein o˝rring wer wir dir machen gewu˝rmelt mit silb(er) Nv´ uernı´m o´ sponsa. uue´lihe ha´lszıˆereda. ´ıh u´nte mıˆne doctores dı´r uuo´llen ma´chon. Waˆhe go´ltke´tenon in la´ntfrıˆde uuıˆs gebroˆihta. ma´chen uuı´r dı´r. in uvu´rme uuıˆs gebla´chmaˆlot mı´t sı´lbere.
19 1,11 Cum esset rex in accubitu suo / Nardus mea dedit odorem suum e e Do de Chunnich was / an siner ru / do gab mein nardus sinen ruch Do d(er) chunig was in sein(er) ru˝e do gab mein nard(us) sein gsmach(e)n od(er) rauch(e)n Do´ der ku´ning gesa´z uˆffe sıˆnemo stuˆole: do bego´nda mıˆn sa´lbuvu´rz meˆr u´nte meˆr zestı´nkene.
Pr
20 1,12 Fasciculus mirre dilectus meus mihi inter vbera mea commorabitur e Ein gebundelin od(er) puschelın mirren ist mein liep tzwischen meinen brusten sol er wonen. Ein pu˝nttel mirren ist mir mein lieb(er) zwisch(e)n meinen pru˝sten wirt er wanen
Eb
Mıˆn vvı´ne ´ıst mı´r also eˆin gebu´ntelin mı´rron: inzuı´scon mıˆnen bru´sten uuo´net e´r.
Os
21
1,13
Botrus Cypri dilectus meus mihi in uineis Engadi
mihi über der Zeile erg. Os, fehlt Pr.
128
v
216
Niels Bohnert
Pr
Eyn kyppir wintrubl ist mein liep mir in den wingarten Engadi. Ein ciper trewbel ist mein lieb in den weinga˝rtn engadi
Eb
Mıˆn vvı´ne ´ıst mı´r uuo´rdan e´dele uuıˆntruˆbo uone cipro. in de´n uuıˆngarton engaddı´;
Os
in] a´n In.
Os
22 1,14 Ecce tu pulcra es. amica mea. ecce tu pulcra oculi tui columbarum e Sich du bist schone vrundın mein. sich du bist schone din ougen der tauben. Ecce] daneben am linken Rand Glosse: Columba in petra nidificat. alienos pullos pascit pura gratia eligit felle caret rostro non ledit juxta fluenta habitat g(re)gatim volat Os.
Pr
Siech du pist scho˝n mein fraw ˝ nttin siech du pist scho˝n dein augen als d(er) tawben
Eb
Sı´no. scoˆne bı´st du fruˆintin mıˆn: sı´no. scoˆne bı´st tu. dıˆn oˆugon. sı´nt tuˆbon oˆugon. bı´st] bı´sti In.
23
1,15
Ecce tu pulcher es dilecte mi et decorus.
mi] + ecce tu pulcher Pr. Os Pr
Sich du bist schone min liber vn(d) wol geschikt Siech du pist scho˝n mein lieb(er) siech du pist scho˝n vnd wolgeczierrtt vnd] davor et durchgestrichen Pr.
Eb
Sı´no. scoˆne bı´st tu uuı´ne mıˆn: u´nte eˆrlich.
24 1,15 Lectus noster floridus / 25 aria eius Cypressina.
16
Ligna domorum nostrarum Cedrina Laque-
Lectus – floridus fehlt Pr. Lectulus Eb In Vulg. Tigna Pr Eb Br In Vulg. eius] nostra Eb Br Vulg., fehlt In (Bartelmez, Williram’s Text 168). Cypressina] + lectus noster floridus Pr. Os
Pr
Eb
e
e
Vnser bette ist geblumt / Dı sparren vnser heuser seint Cedrın. Die trakken sint e Cypressın. Dy sperre vnser(er) ha˝ws(er) sind cedrein dy tra˝wm sind cipressein. Vnser pet ist geplu˝emet ´ nser be´tte ´ıst uuo´la gebluˆomet. Dıˆv gespe´rre u´nser huˆsero. sı´nt ceˆdrin: dıˆu geta´uele. sı´nt U a´bo cipressin. a´bo fehlt Br (Txkr. 97).
26
2,1
Ego flos campi et lylium conuallium.
Ego] davor Capitulum secundum Pr. Pr
Ich bin ein blume des veldes / vn(d) ein lylie der tale Ich pin ein veldpluem vnd ein liligen d(er) tal
Eb
I´h bı´n ue´ltbluˆoma. u´nte lı´lia de´ro te´lero.
Os
129
r
217
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Os
27 2,2 Sicut lilium inter spinas. sic amica mea inter filias. e e Als ein lilie vnder den dornen. also ist mın vrundın vnder den tochtern. Als] dahinter ein unleserlicher Buchstabe Os.
Pr
Als dy liligen ist vntt(er) den do˝rn also ist mein frew ˝ nttin vnd(er) den to˝chtern
Eb
´ lso dıˆv lilia ´ıst u´nter de´n do´rnon. sa´mo bı´st tu frıˆuntin mıˆn. u´nter a´nderen do´hteron. A
28
2,3
Sicut malus inter ligna siluarum. sic dilectus meus inter filias
malum Eb Br In (Vulg.).
filios Pr Eb Br In Vulg. (Einl. 3 ix). e
Pr
Als der apfelboum vnd(er) den waltboumen / also ist mein liep vnder den tochtern. Als der aphelpawm ist vntt(er) den waldpawmen also ist mein lieb vntt(er) den su˝nn
Eb
Mıˆn vvı´nne ´ıst u´nter a´nderen luˆiten. sa´mo a´ffaltera u´nter a´ndereˆmo uua´ltho´lza.
Os
29 2,3 Sub umbra illius quem desiderabam sedi / et frvctus eius dulcis gutturi meo. quam Eb Br In (Vulg.). Os
Pr
Eb
desideraui Pr, desideraueram Eb Br In (Vulg.).
eius] illius Eb In.
e
e
e
Vndir sinen schaten / des ich begertte saz ich / vnde sıne frucht ist suze mıner e kele. Vnd(er) dem schad des ich begert hab pin ich gesezzen vnd sein frucht ist suezz mein(er) chell I´h sa´z u´nter sıˆnemo sca´te. des ´ıh ˆıe ge´rota: u´nte sıˆnes o´bezes nıˆetet mı´h.
30
2,4
Introduxit me rex in cellam vinariam / ordinauit in me karitatem.
129
v
rex fehlt Vulg. (Bartelmez, Williram’s Text 167). e
e
Pr
Der kvnnich furte mich in den wınkeller / Er ordintte in mir die minne. Der kunig fu˝rt in dy weinczel vnd o˝rdent in mir dy lieb
Eb
Der kv´ning leˆitota mı´h in sıˆnen uuıˆnke´llare: unte uuıˆsta mı´h. uuıˆe ´ıh mı´nnan su´le.
Os
Os
Pr
Eb
31 2,5 Fulcite me floribus. stipate me malis / quia amore langweo e e Vnder stıuelt mich / mit blumen. Bestecket mich mit Eppheln / wenne ich vor e liebe sochche. vn(d) sıche. Vntt(er)stiuelt vnd stre˝t mich mit pluemen westekht mich mit o˝ppheln wen ich vor lieb soch od(er) siech pin ´ nter le´get mı´h mı´t bluˆomon. u´mbe le´get mı´h mı´t e´pfelen. uua´nta ´ıh mıˆnes uuı´nes U mı´nnon sıˆechon.
32
2,6
Leua eius sub capite meo / Et dextera illius amplexabitur me
illius] eius Pr. Os Pr
e
e
e
Sın linke hant vnd(er) mınem houbte / vnd sın rechte hant wirt mich vmbvahen. Sein lenke hant vntt(er) meinem haupp vnd sein rechte hant wirt mich vmbuahen
130
r
218 Eb
Niels Bohnert
So ´ıh in su´lihemo be´tte gelı´gon mı´t mıˆnemo uvı´ne. so´ ´ıst sıˆn uuı´nstra u´nter mıˆnemo hoˆibete. u´nte sıˆn ze´seuua u´mbegrıˆffet mih. mıˆnemo] mıˆne Br.
33 2,7 Adiuro uos filie iherusalem per capreas ceruosque camporum / vt non suscitetis neque euigilare faciatis dilectam / quousque velit ipsa. vt non] ne In Vulg. Os
Pr
Eb
non] nec Pr.
quoadusque Eb Br In Vulg.
ipsa uelit Pr Eb Br In Vulg.
e
e
Ich beswere euch Tochter von iherusalem / bı den Reychkalben / vn(d) bı den hirzzen der velde /. Daz ir nicht erwekt / noch erwekken lazet / mein vrune dinn / wie lange sı selbe wil. Ich beswer euch ir to˝cht(er) vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m bey den rechalben vn(d) hirssen d(er) ve˝ld(er) das ir nit entwekht noch enttwach(e)n haisset mein lieb vncz das sy selbs will I´h besve´ron ´ıuvich iu´nkfroˆuvon. bıˆ den reˆion. u´nte den hı´rzon: daz ´ır mıˆne uuı´nion neuue´cchet. no´h nemu´nteret. u´nze sıˆu se´lba uuo´lle. iu´nkfro´uvon (f auf Rasur) Br (Txkr. 41 Anm. 23).
reˆion] re´hen In.
Pr
34 2,8 Uox dilecti mei. Die stimme meines lyeben Dy stym meins lieben
Eb
Dı´z ´ıst dıˆu stı´mma mıˆnes uuı´nes.
Os Pr
35 2,8 Ecce iste uenit saliens in montibus / transiliens colles e Secht dirre chumpt springende vb(er) die Berge vn(d) di hubıl. Siech der ku(m)bt sp(ri)ngu(n)d in den pergen geund v˝b(er) dy pu˝hel
Eb
Sı´no. der mıˆn uuı´ne uerit a´l in spru´ngen an den be´rgon. u´nte e´r u´ber sprı´nget dıˆe bu´hela.
Os Pr
36 2,9 Similis est dilectus meus capree / hynnuloque Ceruorum e Mein lieber ist glıch d(er) Reychkalben d(er) hirzzen Mein lieb ist gleich d(er) rechalben vn(d) den hinden d(er) hirsen
Eb
Mıˆn vuı´ne ´ıst gelıˆch de´ro reˆion. u´nte de´mo hı´ntka´lbe;
Os
37 2,9 En ipse stat post parietem nostrum / respiciens per fenestras prospiciens per Cancellos. respiciens] despiciens Vulg. Os
Pr
Eb
e
Sich er steit vnd(er) vnser want / Er sicht durch di venster Er luget durch di gegeterr. Siech er stet nach vnser(er) want sa˝hund durch dy venster. luegund durch dy ga˝ter Sı´no. uua e´r se´lbo steˆt hı´nter u´nser uue´nte. u´nte sı´het uˆz de´n ue´nstron. u´nte uua´rtet vˆz uon den lı´nebe´rgon.
130
v
219
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
38 2,10 Dilectus meus loquitur mihi. surge propera amica mea / Columba mea /. formosa mea et ueni. En dilectus Pr Vulg.var., Et dilectus Eb Br In (Vulg.). fehlt (Vulg.). Os
Pr
Eb
mea1 fehlt In.
131
r
Columba mea
Mein liep spricht mir zu Stant auf nehende dich vreundine mein. mein toube o Mein schone vnde chum. Siech mein lieb sp(ri)cht zu mir Ste˝e auf na˝hen zueher mein freuntin mein tauben mein scho˝ne vnd chu˝m Unte mıˆn uvı´ne sbrı´hchet su´s zemı´r. Sta´nt uˆf fruˆintin mıˆn ˆılego: mıˆn tuba. mıˆn scoˆna. u´nte ku´m.
39 2,11 Iam enim hyemps transijt. ymber abijt et recessit terra nostra. Tempus putacionis aduenit.
12
flores apparuerunt in
nostra fehlt (Vulg.). Os
Pr
Eb
Wenn d(er) wint(er) ist vorgangen / d(er) reygen ist hin wek. die blumen ere e schınen / in vnserm lande /. Die zeit des wınlesen / ist nu kvmen We(n)n nu˝ ist der wintt(er) v(er)gang(e)n. der regen ist abgang(e)n vn(d) ist hin dy pluemen habent sich geaugent in vnserm erdreich dy czeit der schneydu(n)g ist cho˝mn Der vvı´nter ´ıst hı´na. der re´gan ´ıst uv´re: dıˆe bluˆomon schıˆnent in a´lle de´mo la´nte: des re´besnı´tes zıˆt ´ıst hıˆer.
Pr
40 2,12 Vox turturis audita est in terra nostra e Der turteltuben stim ist gehort in vnserm lande. Dy stym d(er) gu˝rtltauben ist geho˝rt ward(n) in vnserm landt
Eb
Tv´rteltvˆbo stı´mma. ´ıst uerno´man in u´nsermo lante;
Os
41
2,13
131
Ficus protulit grossos suos.
suas Eb Br In. e
Pr
Der viekboum / hat bracht / sıne erste vrucht. Der fa˝wgenpawm hat pracht sein vestew frucht
Eb
〈Der vıˆgboum haˆt uu´rebraˆht sıˆne bı´tteruıˆgon.〉
Os
Der vıˆgboum – bı´tteruıˆgon fehlt Eb, erg. nach Br (Txkr. 204).
42
2,13
bı´tteren uıˆgen In.
Vinee florentes odorem dederunt.
Die Reihenfolge der Verse 42 und 43 ist in Os umgekehrt (siehe S. 212). dederunt odorem suum Eb Br, dederunt odorem Vulg. e
e
florent (Vulg.).
Pr
Die blunde wıngarten gabn iren ruch dy plueund(n) weinga˝rten habent geben irn rauch(e)n od(er) gsmachen
Eb
Dıˆe vvinga´rton bluˆoient: unte dıˆu bluˆod ma´chet suˆozen sta´nk.
Os
v
220
Niels Bohnert
43 2,13 Surge amica mea. sponsa mea. cauerna macerie. sponsa] speciosa Pr (Vulg.). Os
Pr
Eb
columba mea in foraminibus petre in
mea2] + et ueni Br (Txkr. 178 Anm. 273) Vulg.
Stant auf mein vreundinn. mein brout. mein taube. in der holern des steines in o den lukken der moure ane khalch. Ste˝e auf mein fra˝wnttin mein wol gestalte mein tauben in der ho˝ln des stains in den luegern d(er) mawr an chalch Sta´nt uˆf mıˆn fruˆintin. mıˆn gema´hela. u´nte ku´m: mıˆn tuba. du´ der nı´stes in den steˆinlo´cheron. u´nte in den he´ggeho´leron. mıˆn fehlt In.
Os
14
den fehlt Br (Txkr. 109 Anm. 91).
44 2,14 Ostende michi faciem tuam. Sonet uox tua in auribus meis. Vox enim tua dulcis. et facies tua decora. e e e Zeyge mir dın antlutz / Deine stimme erklinge in meinen oren. Wenne dien e e e stimme ist suze / vnde dien antlutz ist wol gezıret.
132
r
e
antlutz] davor durchgestrichen: anlu Os. Pr
Zaig mir deinen antlucz. dein stym erchling in meinen o˝rn we(n)n dein stym ist suezz vn(d) dein antlucz wolgestalt od(er) wolcziert mir] davor mein exp. Pr.
Eb
Zoˆige mı´r dıˆn a´ntlu´zze: dıˆn stı´mma sche´lle in mıˆnen oˆron. uua´nte dıˆn stı´mma ´ıst suˆoze. u´nte dıˆn a´ntlu´zze scoˆne. ˆ ige Br, O ˆ uge auf Rasur In (Txkr. 44). Zoˆige] O
´ıst scoˆne In.
45 2,15 Capite nobis wlpeculas paruas. que demoliuntur vineas. vinea enim nostra floret. uulpes Eb Br In Vulg.var., vulpes vulpes Vulg. vinea enim] nam uinea Br (Txkr. 181) Vulg. Os
Pr
Eb
e
paruas fehlt Pr, paruulas Eb Br In Vulg. floruit Pr Eb Br In Vulg. e
Vahet uns / die kleinen vuschselın. di da vorderben den wıngarten. wan vns(er) e e wıngart hat gebluet. Vacht vns dy chlain fu˝chslein die do v(er)derben dy weinga˝rten wenn vns(er) weingart(e)n hat pluet Faˆhent u´ns dıˆe lu´zzelon uo´hon. dıˆede uuıˆnga´rton ha´rto gea´rgerent. o´be sıˆe meˆr uue´rdent: u´nser uuıˆnga´rto ´ıst in bluˆode. dıˆe de (vor de Zeilenwechsel und Lücke [Rasur?] von etwa 5 Buchstaben) In.
me´roro In.
46 2,16 Dilectus meus mihi et ego illi. qui pascitur inter lylia 17 donec aspiret dies et inclinuntur vmbre dies] davor deus exp. Pr. Os
e
inclinuntur] inclinetur Pr, inclinentur Eb Br In Vulg. e
Mein lyp mir vn(d) ich im. d(er) da weydet vnd(er) den lylien biz d(er) tag auf geit. vn(d) sich di schaten geneygen.
132
v
221
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Pr
Mein lieb mir vnd ich ym d(er) do waidet vntt(er) den liligen vncz das d(er) tag aufgeet vnd sich dy schaden naigent
Eb
Mıˆn vvı´ne ´ıst mı´r hold. u´nt ´ıh ´ımo: u´nte e´r uueˆidenot u´nter lı´lion. u´nze der ta´g ku´me. u´nte dıˆe na´htsca´ta hı´neuvıˆchen. h
u´nter] + de´n In.
na´ht sca´ta hı´ne wıˆche In.
47 2,17 Reuertere dilecte mi. similis esto Capree aut hynnulo Ceruorum super montes Bethel. similis esto dilecte mi Vulg. Text 167). Os
aut hynnulo] hinuloque Pr Vulg.var. (Bartelmez, Williram’s
e
i
Kere wider mın lieber. wis gleich d(er) Rechkalben vn(d) den hyrskelbelin. auf den bergen Betel. hyrskelbelin] aus -bern korr. Os.
Pr
Kher wid(er) mein lieber piz gleich den rechalbn auf den pergen bethel
Eb
Keˆre uvı´dere zemı´r uuı´ne mıˆn: uuis gelıˆch dero reˆion. unte de´mo hı´ntka´lbe. in de´n gebı´rgon bethel. mıˆn wı´ne In.
in – bethel fehlt In.
48 3,1 In lectulo meo per noctem quesiui. quem diligit anima mea. Quesiui illum et non inueni. 2 Surgam et circuibo per ciuitatem. per uicos et plateas queram quem diligit anima mea. Quesiui illum et non inueni. 3 Inuenerunt me uigiles / qui custodiunt ciuitatem Num quem diligit anima mea uidistis. 4 Paululum cum pertransissem eos inueni quem diligit anima mea. Tenui eum nec dimittam. donec introducam illum in domum matris mee et in Cubiculum genitricis mee. In] I vom Rubrikator am Rand erg. Pr. per noctem] über der Zeile Os, per noctes Eb Br In (Vulg.). circuibo ciuitatem Pr Eb Br In Vulg. Num quem diligit] num quem dilexit (Vulg.). pertranssissem Os. dimittam] das -m ist undeutlich Os. Os
Pr
e
e
e
e
e
In meinem bettelın bı den nechten / han ich gesucht den meine sele lıp hat. Ich e suecht in vn(d) vant sein nicht Ich wil auf sten. vn(d) vmb die stat gen. durch die e e e enge(n) gazzen vn(d) durch die wıten strazen / sucht ich den mein sele liep hat / ich e e e sucht in / vn(d) vant sein nicht Mich fundin die wechter di da huten der stat. Eya e vn(d) habt ir icht gesehn / den mein sele liep hat / Ein weink do ich vor sei q(ua)m / e do vant ich den mein sele liep hat / Ich hielt in / vn(d) wil in nicht lazen. biz ich in e e e gefure i(n) mıner muter hous / vn(d) in daz slaefgadem meiner gebererın. In meinem pettlein bey d(er) nacht han ich gesuecht den mein sel lieb hat Ich su˝cht in vnd vand sein nicht Ich wil auf stan vn(d) vmb dy stat gen durch dy engen gazzen vnd durch dy weitten strazz sue〈c〉hen den mein sel lieb hat Ich su˝cht den vnd vand sein nicht Mich habe(n)t funden dy wachtter dy d(er) stat hu˝tten habt ir icht den mein 〈sel〉 lieb hat gesehen Ein wenig do ich fuer sew cham do vand ich den. den mein sel lieb hat Ich hielt in vnd will sein nicht lazzen vncz ich in fuer in das haws mein(er) muet(er) vnd in das slafgadm mein(er) pererin In] davor Capitulum 3m Pr.
sue〈c〉hen] sue- hen Pr (Virgel = Zeilenwechsel).
133
r
222 Eb
Niels Bohnert
De´s na´htes an mıˆnemo be´tte. uo´rderota ´ıh mıˆnen uuı´ne: ´ıh uo´rderota ´ın. u´nte neua´nt sıˆn nıˆet. Nu´ vuı´l ´ıh uˆf sten. u´nte uuı´l ´ın suˆochan a´fter de´ro bu´rg. in ga´zzon u´nte in straˆzon. Iˆe no´h. neha´bon ´ıh sıˆn nıˆet uu´ndan. An de´mo uue´ge da ´ıh ´ın suˆohta. uu´ndon mı´h dıˆe bu´rguua´htela: de´n sbra´h ´ıh su´s zuˆo. Saˆhet ´ır ˆıergen mıˆnen uuı´ne? Eˆin lu´zzel dar naˆh. do ´ıh sıˆe a´lle du´rchstreˆih. uua´z ´ıro a´ller ˆıegelıˆch mı´r uo´ne ´ımo ko´nde gesa´gan: do ua´nd ´ıh mıˆnen uuı´ne. I´h na´m ´ın zemı´r: u´nte nelaˆzzen ´ın oˆuh uo´ne mı´r. eˆ ´ıh ´ın uuı´dere brı´ngon in mıˆner muˆoter huˆs. u´nte in ´ıro gega´deme. uu´ndon] -n über der Zeile erg. Eb.
bu´rg wa´hte´ra In.
uo´ne ´ımo mı´r In.
49 3,5 Adiuro uos filie iherusalem per capreas ceruosque camporum. ut non suscitetis neque euigilare faciatis dilectam donec ipsa uelit.
134
r
ceruosque] davor h exp. Pr. ut non] ne Vulg. dilectam] dilectum meum Pr (Einl. 3 vii). donec] quoadusque Eb Br In. ipse Pr (Einl. 3 vii). Os
e
Ich beswere euch tochter von iherusalem bi den rehkalben vn(d) hirzzen d(er) velde. daz ir nicht erwekt di liebe denne so sei selb wil. wil] dahinter: Hic iteratur quod supra expositum est. Verba loquor vobis. et cetera. Os (Verba loquor vobis: Anfang von Willirams Paraphrasehexameter 33L1).
Pr
Ich beswer euch ir to˝cht(er) vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m bey den rechalbn vn(d) pey den hiers(e)n d(er) veld(er) das ir nicht entbekht noch wekh(e)n haist meinen lieben vncz das er selber will
Eb
Daz se´lba ue´rs steˆt oˆuh da uora. ad tale signum. Daz – signum] Versvs qvi svpra In. 152).
Os
signum] daneben am rechten Rand ein Asterisk Br (Txkr.
50 3,6 Que est ista que ascendit per desertum sicut uirgula fumi. ex aromatibus mirre et thuris et vniuersi pulueris pigmentarij. e Wer ist dise. di da aufstıget durch di wustenunge /. als ein striem des rouches / von den richenden wurtzen mirren vn(d) weyrouches vnde allerhande puluers des apotekeres. von] davor vn¯ durchgestrichen Os.
Pr
W(er) ist dy die do aufsteyget durch dy wuest. als ain ga˝rttel des rauchs aus den wolgesmachen mirrens vn(d) weirochs vnd all(er)lay puluers des apotekers
Eb
Vve´r ´ıst dı´siu. dı´u da uˆffe´rit du´rch dıˆe uuoˆste. a´ls eˆin cleˆiniu roˆihgerta uo´ne mı´rron. unte uo´ne uuıˆroche: u´nte uo´ne demo stu´ppe a´llersla´hto pıˆmenton?
51 3,7 En lectulum salomonis sexaginta fortes ambiunt ex fortissimis israel 8 omnes tenentes gladios et ad bella doctissimi vniuscuiusque ensis super femur suum propter timores nocturnos lectum Eb Br. Os
a
sexaginta] lx Os.
Secht daz bettelein ern salomonis / habn sechcik starkke vmmeringet / vz der e aller sterkesten vo(n) israhel. alle halde(n) sei ir swert / uf ir huf durch die e nachtvorcht / vn(d) sint ze strıte wol gelart
134
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
223
Pr
Secht das pettl h(er)n sal(om)onis habent 60 starkh vmb beringt aus den aller sta˝rkisten vo(n) isr(a)h(e)l die all habent ire swert vnd sind czu streit all(er) pest gelernt Eins yeglich(e)n swert auf sein(er) hu˝ff durch dy nacht vorchtt
Eb
Sı´no. daz be´tte des ku´niges salomonis. daz u´mbe geˆnt des na´htes se´zzoch bı´derba gne´hta. der a´llero bı´derbeston in israel. I´r a´ller ıˆegelıˆh ha´bet sıˆn sue´rt in ha´nton: cu´nnon a´lle ma´htigen ue´htan. u´nte ´ır necheˆin nelaˆzet sıˆn sue´rt uo´ne sıˆnemo dıˆehe. du´rh dıˆe na´htuo´rhta. des na´htes fehlt In.
52 3,9 Ferculum fecit sibi Rex Salomon de lignis lybani. 10 Columpnas eius fecit argenteas. Reclinatorium aureum. ascensum purpureum. media karitate constratum propter filias iherusalem.
135
r
constrauit Pr Eb Br In Vulg. Os
e
Der chunnk Salomo(n) hat gemacht ein ezzenhaus von lybanischem holtze / e e silberein seulen den auf ganch pellelın. Die lene guldın / Daz mittel bestrewet er e mit d(er) minne / durch der tochter wille von Ierusalem. auf ganch] korr. über durchgestrichenem symz Os.
Pr
Ein ezzenhaws hat ym gemacht d(er) chu(n)ig sal(om)on von libanischem holcz. die seiln macht er silbrein. dy lien guldein. den aufga(n)kh p(ur)purein. das mitter gestra˝t mit lieb durch d(er) to˝cht(er) willen vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m
Eb
Der cv´ning salemon. ma´chota ´ımo se´lbemo eˆinan dı´sk. des ho´lzes uo´ne libano. Dıˆe suˆle. ´ bo dı´v lı´neberga dı´u uua´s gu´ldin: u´nte dı´u ste´ga da der dı´sk uˆffela´g. dıˆe uuaˆron sı´lberin. A ´ bo daz mı´tteloˆde des dı´skes. daz uua´s sa´mfto u´nte mı´nlıˆcho gegraˆdet. du´rh uua´s roˆth. A dıˆe iu´nkfrouuon: daz sıˆe lıˆhto zede´mo dı´ske uˆf getre´tan mo´hten. suˆle] fu´ze (u korr.?) In.
sa´fto u´nde mı´nneglıˆcho In.
53 3,11 Egredimini et videte filie syon. regem salomonem in dyademate quo coronauit eum mater sua in die sponsionis illius et in leticia cordis eius desponsacionis Pr Vulg.var., disponsionis Vulg. Os
e
in die leticie Pr Eb Br In Vulg. o
Get auz ir tochter von syon / vn(d) sechet den kunink salomo(n) i(n) siner e e chrone. da mit in gech(ro)n(et) hat sein mut(er) i(n) de(m) tage sıner vortreuwunge. vn(d) an de(m) tage der vreuden sienes hertzen. e
sechet] secht Os. Pr
Get aus ir to˝cht(er) von syon vnd secht den kunig sal(om)onem in sein(er) kron da mit in kro˝nt hat sein muet(er) an dem tag sein(er) verma˝chlung vnd an dem tag d(er) frewd(n) seins herczen
Eb
Geˆt vˆz ´ır iu´ncfro´uuon. ı´r da buˆiuvet in syon: tuˆot uua´ra des cu´niges salemonis. u´nte der coroˆnon. da ı´n sıˆn muˆoter mı´t haˆt gezıˆeret in sıˆnemo ma´hel tage: u´nte in de´mo ta´ge sıˆner fre´uue. fre´uue] froˆude In.
54 4,1 Quam pulchra es amica mea quam pulchra es oculi tui columbarum absque eo quod intrinsecus latet
136
r
224 Os
Niels Bohnert e
O wie schone bistu vrundinne mein. wie schone bistu / ane daz / da loschet inwendik. O – inwendik] am unteren Seitenrand ohne Linien geschrieben Os.
Pr
Wie scho˝n pistu mein frewnttin wie scho˝n pistu dein aug(e)n sind als d(er) tauben an das. das inwendig verpo˝rgen leytt Wie] davor capitulum quartum Pr.
Eb
Uvıˆe scoˆne du´ bı´st fruˆintin mıˆn: vuıˆe scoˆne du bı´st. Dıˆn oˆigon. sı´nt tuˆbon oˆigon. aˆne daz. daz an dı´r ´ınlachenes uerho´lan ´ıst. ´ınlachenes] ı´nwa´rtes In.
55 4,1 Capilli tui sicud grex caprarum que ascenderunt de monte galaad 2 Dentes tui sicut grex tonsarum ouium que ascenderunt de lauachro omnes gemellis fetibus et sterilis non est in eis. grex1] greges Pr Vulg. grex2] greges Pr (Vulg.). ouium fehlt Eb In Vulg. inter eas Vulg. eis] davor es durchgestrichen Os. Os
e
e
136
v
in eis]
e
Dın har ist als ein hert d(er) Cygen / di da auf sınt gangen. von dem berge galaat e e Dein tzene als die herte sınt. d(er) geschoren schaef / di da auf seint gange(n) vo(n) d(er) wasche. alle habn sei tzwillinge / vn(d) ein galcz ist nindert vnder in galcz] cz teilweise vom Falz verdeckt Os.
Pr
Dein hart ist hert(er) als ein schar d(er) gaiss die aufgang(e)n sind von dem perg galaad. dein czend sind als dy he˝rrt d(er) gescho˝rnen schaf dy auf sind gangen vo(n) d(er) wasch(e)n vnd sich habent all zwiueltigt vnd ain gealcz ist nyndert vntt(er) in hart ist hert(er)] Der Schreiber von Pr kopierte wohl einen Text ähnlich jenem von Os und verwechselte bair. hert ‘Herde’ und hert ‘hart’ (Einl. 3 vii; Schmid 203 f.).
Eb
Dıˆn va´hs ´ıst sa´mo geˆizzeco´rter. da´zder geˆt uˆffe de´mo be´rge galaad: u´nte sı´nt a´bo dıˆne ze´ne. sa´mo daz co´rter de´ro gesco´renon scaˆffo: dıˆeder uˆf geˆnt uo´ne uua´ske. a´l mı´t zuı´nelero zu´ihte: u´nte ´ıro necheˆin ´ıst u´nbaˆrig.
Pr
56 4,3 Sicut vitta coccinea labia tua et eloquium tuum dulce. e e e e Als ein rote seydın binde / sınt dın lyppen / vn(d) dien rede ist suze. Als ain rot seydenein pintt(e)n sind dein lebs vnd dein red ist suezz
Eb
Dıˆne le´fsa. sı´nt sa´mo eˆin roˆta bı´nta: u´nte dıˆn gekoˆse. ´ıst suˆozze.
Os
Os
Pr
57 4,3 Sicud fragmen mali punici ita gene tue absque eo quod intrinsecus latet e e Dıne huffelwangen sınt als ein stukke / gebrochen / eins rote(n) apfels ane daz loschet i(n)nwendik Deine wang sind als ein stukh das prochn ist von ainem rotn volku˝rnigem apphel an das das inwendig v(er)porgen leytt
137
137
r
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Eb
225
Dıˆne huˆffelon. sı´nt sa´mo der bru´ch des roˆten a´pfeles: aˆne da´z. daz no´h ´ınlachenes an dı´r uerho´lan ´ıst. da´z1 fehlt In. ´ınlachenes] inww ´ arthes In. am linken Rand ist Vers 57L16 nachgetragen: 〈Ho〉s in fi〈n〉e manet. 〈n〉on hoc 〈i〉n tempo〈re〉 paret. In.
58 4,4 Sicut turris dauid collum tuum que edificata est cum propugnaculis Mille clypei pendent ex ea. omnis armatura forcium. Mille – forcium fehlt Eb In (Txkr. 160). Os
138
r
omnis] cum omni Pr (Einl. 3 vi).
e
Dien hals ist als der turn dauidis / der gebawet ist / mit Erkern. tausent schilde hangen auf ym /. aller leyge wapen der starken. Erkern. tausend] korr. aus tausend Erkern. durch Umstellungszeichen Os.
Pr
Dein hals ist als d(er) tu˝rn h(er)n dauids d(er) pawt ist mit tausent ekk(e)n schilt hangent an im mit allerlay wappen der starkchen
Eb
Dıˆn ha´ls. ´ıst sa´mo dauıˆdis uvıˆghuˆs. da dı´v uue´re oˆbena a´negeuuo´rht ´ıst. Duˆsent skı´lte ha´ngent an de´ro uue´re. u´nte a´llersla´hto uvıˆggeuuaˆffene. oˆbena fehlt In.
59 4,5 Dvo vbera tua sicut duo hynnuli capree gemelli qui pascuntur in lylys 6 donec aspiret dies et inclinentur vmbre. sicut] + sicut In. Os
Pr
Eb
hinula Pr.
gemelle Pr.
pascantur Pr.
e
dies] + dies In. e
Diene tzwey brustel sınt / Als tzwey tzwillinge rebokkelın / di da weiden e e vnd(er) den lylyen / biz daz d(er) tag auf geit / vn(d) sich neygen die schaten. Dein zway pru˝stl sind als zway recha˝lbell dy czwinling sind dy do waiden vntt(er) den liligen vncz das d(er) tag auf get vnd sich dy schaden naige(n)t Zueˆne dıˆne spu´nne. sı´nt sa´mo zueˆi zuı´nele kı´zze der reˆion: dıˆeder uueˆidenent u´nter den lilion. u´nze der ta´g uˆfgeˆ: u´nte der na´htsca´to hı´nauuıˆche. zuı´lene zı´kken Br (Txkr. 41 Anm. 23).
60
4,6
Vadam ad montem mirre et ad colles turis.
collem Eb Br In Vulg.
138
turis] turris Os. e
Pr
Ich wil gen ze dem mirren b(er)ge / vn(d) ze den hubeln des weyrouches Ich wirt gen zu dem perg des mirrens vnd czu den tall des weyrochs
Eb
I´h vvı´l ua´ran zede´mo my´rrebe´rge. unte zede´mo uuıˆroˆchbu´hele.
Os Pr
61 4,7 Tota pulchra es amica mea et macula non est in te e e Zemal schone bistu vreundın mein / vnd keyn mistelle ist an dir. Allent halbn pistu schon mein frewnttin vnd chain mail ist an dir
Eb
Mı´t da´llo bı´st tu scoˆne fruˆintin mıˆn: u´nte necheˆin meˆila ´ıst a´n dı´r.
Os
v
226
Niels Bohnert
62 4,8 Ueni de lybano sponsa veni de ly〈bano〉 veni coronaberis de vertice sanyr et hermon de cubilibus leonum de montibus pardorum
139
r
sponsa] + mea Eb Br In Vulg.var. de vertice] de capite amana (ama´n Eb Br In). de vertice Pr Eb Br In Vulg. sanyr] saphiro Pr. Os
o
o
o
kum uon dem berge lybano braut / kum von dem b(er)ge lybano / kum du scholt gechonet werden vo(n) de(m) houbte amana / vo(n) d(er) scheitel sanir v(nd) ermo(n) / vo(n) den largern d(er) lewen vo(n) de(n) bergen d(er) lebarten largern] wohl für luegern verschrieben Os.
Pr
Chu˝m von dem libano prawt ku˝m vo(n) dem libano. chu˝m du solt kro˝nt w(er)den vo(n) dem haupp amana vo(n) d(er) schaittl saphiro vn(d) hermon vo(n) den luegern d(er) leben von den pergen d(er) liephart(e)n
Eb
Ku´m mı´r uo´n libano mıˆn gema´hela: ku´m mı´r uo´n libano. ku´m mı´r. Du uvı´rdest gezıˆeret uon de´ro spı´zzon de´ro hoˆhon be´rgo. amana´. u´nte sanı´r. u´nte hermon: an de´n der sı´nt leˆuuon luˆoger. u´nte pa´rdon ho´ler; de´n] am linken Rand mit Einfügezeichen In.
luˆoger] le´ger In.
63 4,9 Uvlnerasti cor meum soror mea sponsa mea wlnerasti cor meum in vno oculorum tuorum aut in vno crine colli tui mea2 fehlt Eb Br In (Vulg.). Os
Pr
Eb
aut] et Vulg.
e
e
Du hast mein h(er)tz vorwunt / swestir mein braut du hast mein h(er)tz vore wunt / mit eyme dıner ougen vnd mit eyme hare dienes halses. Du hast mein h(er)cz v(er)wundt mein swester mein prawt du hast mein h(er)cz v(er)wundt mit aine(m) dein(er) augen oder mit ainem har deins hals Geseˆret ha´best du´ mı´r mıˆn he´rza. sue´ster mıˆn gema´hela: geseˆret ha´best du´ mı´r mıˆn he´rza. in eˆinemo dıˆner oˆigon. o´der in eˆinemo uahsstre´non dıˆnes ha´lses. mı´r2 fehlt In.
64
4,10
Qvam pulchre sunt mamme tue soror mea sponsa.
Qvam] Qavam Os. pleue Os.
pulchre] am Rand für im Text durchgestrichenes plene, korr. aus
e
Pr
Wie suberlich seint dein brustil braut mein swester. Wye sa˝wb(er)leich sind deine pru˝stel swester mein prawt
Eb
Uvıˆe scoˆne sı´nt dıˆne spunne. sue´ster mıˆn gema´hela;
Os
139
65 4,10 Pulcriora sunt vbera tua vino et odor vngentorum tuorum super omnia aromata. rio
Pvlchra Eb, Pulchra Br (Txkr. 162), Meliora Pr (Einl. 3 vii; Bartelmez, Williram’s Text 168). sunt fehlt (Vulg.). odor] korr. aus ordo Os. Os
e
e
e
Schoner seint dıne brustil wenne d(er) wein vn(d) d(er) ruch dıner salben vb(er) alle edel wurtze. wein] nach Korr.? Os.
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
227
Pr
Deine pru˝stl sind pezz(er) dan d(er) wein vnd d(er) rauch dein(er) salben vber all edl wu˝rczen
Eb
Bezzer sı´nt dıˆne spu´nne. da´nne der uuıˆn: u´nte der sta´nk dıˆnero sa´lbon. der ´ıst u´ber a´lle sta´nkuvu´rze;
66 4,11 Fauus distillans labia tua sponsa mel et lac sub lingua tua. odor uestimentorum tuorum sicud odor thuris sponsa fehlt Pr (Einl. 3 vi). Os
Pr
Eb
140
r
tua2] + et Pr Eb Br In Vulg. e
Dein lyppen seint geleich eym trorendem honige mein braut honik vn(d) milch e e ist vnd(er) dıner zungen / vn(d) d(er) ruch diener cleyder als der ruech des wyrouches. Mit ho˝nigsam sind getrophen den lebs. ho˝nig vn(d) milch ist vntt(er) dein(er) czung vnd d(er) rauch od(er) gsmach(e)n dein(er) chlaid(er) als d(er) rauch od(er) gsmach(e)n des weyrochs Dıˆna le´fsa gema´hela sı´nt trıˆeffenter uua´bo. Ho´nig u´nte mı´loh. ´ıst u´nter dıˆner zu´ngon: u´nte der sta´nk dıˆner uuaˆte. ´ıst a´lso uvıˆroˆiches sta´nk.
67
4,12
Ortus conclusus es soror mea sponsa ortus conclusus fons signatus
es fehlt Eb Br In Vulg. Os
Eyn beclusenter garte bistu mein swest(er) eyn gezeychinter brunne. beclusenter] über u ein unleserliches Superskript oder Korr. Os.
Pr
Ein beslosna˝r gartn pistu swester mein prawt ain beslosner garttn ain gecziertt(er) pru˝nn
Eb
Dv´ bı´st vuo´le slo´zha´fter ga´rto. suester min gema´hela: ga´rto slo´zha´fter. bru´nno besı´geleter.
Os
68 4,13 Emissiones tue paradysus malorum punicorum cum pomorum fructibus. Dein auzleze. dein sprozze(n) seint eyn paradeys / d(er) volkurnigen rote(n) epfil / mit d(er) epfil frucht epfil2] f korr.? Os.
Pr
Dein auslassung sind ein paradis d(er) ro˝tn volku˝rnig(e)n o˝pphel mit alles obs frucht
Eb
Dıˆne vˆzphla´nza. daz ´ıst boˆmga´rto roˆter e´pfelo: mı´t a´llersla´hto o´beze.
69 4,13 Cyprus cum nardo 14 nardus et crocus fistula et cynamomum cum vniuersis lignis lybani cypri Vulg. (Bartelmez, Williram’s Text 167). Os. cymomum Eb. Os
nardo] dahinter croc durchgestrichen
Cypres mit dem Nardo / Nardus vn(d) safran / fistl vn(d) Cynemein mit allym lybanischem holtze / mirre vn(d) aloe / mit allen ersten salben. mirre – salben] siehe zum folgenden Vers.
140
v
228
Niels Bohnert
Pr
Der ciper mit dem nardo nard(us) vnd saffran fistula vnd cinamei mit allem libanischem holcz
Eb
In dı´nemo ga´rten sı´nt geuua´ssen aromatice˛ arbores: u´nte a´llersla´hto boˆuma. dıˆe uˆffen libano geuua´ssen sı´nt.
70
4,14
Mirra et aloe cum omnibus primis vngentis
141
v
Mirra] hinter i ist ir durchgestrichen Os. vngentis] dahinter eine Zeile leergelassen; die Übersetzung ist an den vorangehenden Vers angehängt und daher hier nicht wiederholt Os, + mirre et aloe Pr (Einl. 3 vi). Pr
Mirren vn(d) aloe mit alln erstn salbn des mirrens vn(d) aloes
Eb
In dıˆnemo ga´rten ´ıst mirra u´nte aloe´: mı´t a´llen den heˆresten sa´lbon.
71
4,15
Fons ortorum puteus aquarum viuencium que fluunt impetu de lybano
ortorum] dahinter ein einzelner Buchstabe (a?) ausgestrichen Os. Os
Pr
Eb
Eyn sprinch der garten. ein schepfbrunne d(er) lebendigen wazzer / di da o vliezent ruschende vo(n) dem Berge lybano Ein prun d(er) ga˝rtn ein tu˝mpfel d(er) lebentig(e)n wazz(er) dy do fliezzent snel vo(n) dem libano Dv´ bı´st ga´rtbru´nno: du´ bı´st pu´zza de´ro que´kkon vua´zzero. dıˆe mı´t tuˆihte flıˆezzent uo´ne libano. de´ro] der Br.
72
4,16
Svrge aquilo et veni auster perfla ortum meum et fluent aromata illius
fluant Vulg. Os
Pr
Stant auf norden vliezen sein edeln Stee auf aq(ui)lo fliezz(e)n sein edl
v
vnd kom sauden. durch wehe meynn garten / so werden ruchche. vnd chu˝m auster. durchwa˝ee meinen gartten so werdent wu˝rczen
aq(ui)lo . . . auster] Einl. 3 vi. Eb
Bv´re dı´h no´rtuuint. u´nte ku´m du´ su´ndene uuı´nt: du´rhuuaˆie mıˆnen ga´rton. de´sde draˆhor stı´nkent sıˆne pıˆmenton. su´nth wı´nt In.
73 5,1 Veniat dilectus meus in ortum suum vt conmedat fructus pomorum suorum / vt] et Vulg. Os
fructum Vulg.
Mein lieber chom in seinen garten daz er ezze die frucht seiner epfel. die] dahinter seiner durchgestrichen Os.
Pr
Mein lieber cho˝m in seinen gart(e)n vnd ezz d(er) frucht seins obs Mein] davor capitulum quintum Pr.
142
r
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Eb
229
I´h ge´ron. daz mıˆn uuı´ne ku´me in sıˆnen ga´rton: daz e´r da e´zze daz uuˆocher sıˆnes o´bezes. sıˆnes] sıˆnes eˆiginen Br (Txkr. 146).
74 5,1 Ueni in ortum meum soror mea sponsa messui mirram meam cum aromatibus meis Conmedi fauum cum melle meo et bibi vinum meum cum lacte meo. melle fehlt In. (Einl. 3 vii). Os
Pr
Eb
meo et] am Rand erg. Os, meo Pr Eb Br In Vulg.
142
v
meum2 fehlt Pr
Swester mein braut kom in meynen garten / ich han gemehet meyn mirr / mit e e meynen rıchenden wurtzen /. Ich az den seym mit mınem honige vnd tranch meynen weyn / mit meyner milch. Ich pin cho˝men in meinen gart(e)n swester mein prawt ich hab gema˝t mein mı˝rren mit meinn edln wurczen Ich hab geezzen den saym mit meine(m) ho˝nig vnd hab trunkhen den wein mit mein(er) milch I´h bı´n dı´cco ku´man in mıˆnen ga´rten sue´ster mıˆn gema´hela: ´ıh sneˆit daˆ mıˆne mı´rron. mı´t mıˆnen pıˆmenton: ´ıh a´z da uua´bon mı´t mıˆnemo ho´nige: ih tra´nk oˆuh da mıˆnen uuıˆn. mı´t mıˆnero mı´liche:
75
5,1
Conmedite amici mei bibite et inebriamini karissimi
143
r
mei fehlt Vulg., mei et Vulg.var. e
Pr
Ezzet meine vrunt trinket vn(d) werdet trunken mein aller liebesten. Ezt mein frewnt t(ri)nkt vn(d) werdt tru(n)kh(e)n mein all(er)liebst
Eb
E´zzet mıˆne fruˆinta: trı´nchet. u´nte uue´rdet tru´nkan mıˆne lıˆebeston.
Os Pr
76 5,2 Ego dormio et cor meum vigilat e Ich slafe vnde mein hertz wachchet. Ich slaf vnd mein hercz wachtt
Eb
I´h slaˆfon. mıˆn he´rza uua´chot.
Os
77 5,2 Uox dilecti mei pulsantis apperi mihi soror mea vnica mea columba mea inmaculata mea quia caput meum. plenum est rore et cyncinni mei guttis noccium vnica] amica Eb Br In Vulg. (Einl. 3 iii). Os
et fehlt Eb.
cyncinni] crini Pr.
Die stimme meines klopphenden lieben / tue mir auf mein swest(er) mein vrundinne /. mein taube / mein vngeflecte / wan mein haubt ist vol tauwes / vnd mein lokkel vol nacht tropphen. vrundinne] am linken Rand: eynige (vgl. lat. Text) Os.
Pr
Dy stym meins liebs chlokh(e)ndes tue mir auf mein swester. ainige mein. mein taub(e)n vnu(er)mailigte mein wan(n) mein haubt ist vol des taubs vnd mein lokh vol nacht tropfen.
Eb
Mı´r becnvˆodelet mıˆnes uuı´nes stı´mma. Intuˆo mı´r mıˆn sue´ster. mıˆn fruˆintin. mıˆn tuba. mıˆn scoˆna: uua´nte mıˆn hoˆibet ´ıst fo´l toˆiuues. u´nte mıˆne lo´cca fo´l de´ro na´httro´ffon.
143
v
230
Niels Bohnert
78 5,3 Expoliaui me tunica mea quomodo induar illa laui pedes meos quomodo inquinabo eos. eos] illos In Vulg. Os
Pr
Eb
e
Ich han auz gezogen meinen rok / wi schol ich denn wider angezıhen. Ich han e getwagen meine fuze. wi sol ich wid(er) vnrein machen. Ich hab mich beraubt meins rokhs wie sol ich den wid(er) an cziechen ich hab gwasch(e)n mein fuezz wie sol ich dew wid(er) vnrainn I´h bı´n uˆze mıˆnemo ro´cche geslo´ffan: uuıˆe sca´l ´ıh ´ın uvı´dere a´negetuˆon? I´h ha´bon mıˆne fuˆoze gedua´gan: sca´l ´ıh sıˆe a´bo beuue´llan?
79 5,4 Dilectus meus misit manum suam per foramen et uenter meus contremuit ad tactum eius. intremuit Eb Br In Vulg. Os
Pr
Eb
144
r
ad tactum] contactum Pr (Einl. 3 vii).
Mein liber liez sein hant durch ein hol / vn(d) von seym angriffe erbibte mein bouch. Mein lieb(er) hat lazzen sein hant durch ein ho˝ll vnd mein pauch erpidmet vo(n) seinem angriff Mıˆn vvı´ne ra´chta sıˆne ha´nt ´ın zemı´r. ze eˆinemo fe´nstre: u´nte mıˆn uua´mba erbı´beneta ze sıˆnemo a´nagrı´ffe;
80 5,5 Svrrexi vt apperirem dilecto meo manus me〈e〉 stillauerunt mirram digiti mei pleni mirra probatissima distillauerunt Br Vulg.var. Os
Pr
mirram] murra (Vulg.), + et Pr Eb Br In Vulg.var.
Ich stunt auf / daz ich auftete meym lieben / meine hende tropphilten mirre / vn(d) meine vinger waren vol /. der aller besten mirren. Ich stu˝nd auf das ich auf ta˝t meinem liebn. mein hen(n)t truffen mirren vn(d) mein ving(er) warden vol d(er) all(er)bertisten mirren all(er)bertisten] = -wert-.
Eb
Ih stvˆont uˆf. daz ´ıh mıˆnemo uuı´ne intaˆte: mıˆne he´nte tro´ffezoˆton mı´rron: u´nte mıˆne uı´ngera uvu´rdon vo´l de´ro que´kkeston mı´rron.
81
5,6
Pessulum hostij aperui dilecto meo at ille declinauerat atque transierat.
hostij] + mei Pr In Vulg.var.. Os
Pr
Eb
Den rigel meiner tuer zoch ich abe daz ich auftete meynem lieben / do hat er sich hin wek geneyget vnde was vorgangen. Das gslo˝z mein(er) tu˝r hab ich auf tan meine(m) lieben do het er sich wekh gmacht vnd was fu˝rgangen De´n grı´ntel mıˆner tu´re na´m ´ıh a´ba. daz ´ıh mıˆnemo vuı´ne intaˆte: er uua´s abo hı´na geuvı´hhan. uua´s da´na geua´ran.
144
v
231
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
82
5,6
Anima mea liquefacta est ut dilectus locutus est.
dilectus fehlt Br Vulg. e
e
Pr
Mein sele ist vlızende worden / als mein liep gesprochen hat. Mein sel ist hinfliezzen waren als mein lieb(er) gredt hat.
Eb
Also mıˆn uvı´ne zemı´r sbra´h: do uua´rt mıˆn seˆla zere´nnet.
Os
83
5,6
Qvesiui illum et non inveni vocaui et non respondit michi.
illum et non inveni] et non inveni illum Pr Vulg.
vocaui] + illum Eb Br In.
e
Pr
Den sucht ich / vn(d) vant sien nicht / ich rief vn(d) antwort mir nicht ich su˝cht in vn(d) vandt sein nit. ich rueft im vnd er anttwurt mir nicht
Eb
I´h svˆohta ´ın. ´ıneua´nt sıˆn nıˆet: ´ıh rıˆef ´ımo. e´r nea´ntuvu´rteta mı´r nıˆet.
Os
145
r
84 5,7 Invenerunt me custodes qui circueunt ciuitatem percusserunt me et wlnerauerunt me tulerunt palium meum custodes murorum. qui – ciuitatem] ciuitatis Pr (Einl. 3 ix). tulerunt] + michi Eb Br In Vulg.var. Os
circumeunt Eb Br In Vulg.
et fehlt (Vulg.).
e
Mich funden di hueter. di da gy´gen vmb di stat. sei slugen mich / vn(d) wunten mich / sei trugen meine(n) mantel / die hueter der moure. gy´gen] = gy(n)gen? Os.
Pr
Do funden mich dy huett(er) d(er) stat dy slueg(e)n mich vn(d) wundtt(e)n mich vnd die huett(er) der ma˝wr namen mir mein mantt(e)l
Eb
In de´n so´rgon. uu´ndon mı´h dıˆe uua´htare. dıˆedıˆe bu´rg u´mbegeˆnt: sıˆe sluˆogon mı´h. sıˆe seˆroton mı´h: dıˆe muˆrhuˆotela naˆmon mı´r mıˆn la´chan. seˆroton] wu´ndoton In.
muˆrhutera In.
85 5,8 Adiuro vos filias si inveneritis dilectum meum nuncciate ei quia amore eius langweo filias] filie iherusalem Pr Eb Br In Vulg. nuncciate] annuncciate Pr, ut annuncietis Eb Br In, ut nuntietis Vulg. eius fehlt Pr Eb Br In Vulg. Os
Pr
Eb
e
Ich beswere euch tochter von iherusalem / ob ir vindet meinen lieben daz ir im kuntuet / wenn ich vor liebe sochche. Ich beswer euch ir tocht(er) vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m ob ir vindet meinn lieb(e)n tu˝t im chu(n)d das ich vor lieb soch I´h besve´ron ´ıvuih iv´nkfro´uuon zeiherusalem: o´bir mıˆnen uuı´ne uı´ndet. daz ´ır ´ımo ku´ndet. daz ´ıh sıˆnero mı´nno sıˆechon. -fro´uuon] n über der Zeile erg. Eb.
86 5,9 Qvalis est dilectus tuus ex dilecto O pulcherrima mulierum 〈q〉valis est dilectus ex dilecto quia sic adiurasti nos 〈q〉valis] am Zeilenanfang unter Qvalis, dessen Initiale doppelt gilt Os. + tuus Pr Eb Br In Vulg. adiuras In.
dilectus2]
145
v
232 Os
Pr
Eb
Niels Bohnert
Wie ist dein lieber auz dem lieben. O schonste aller vrawen / wie getan ist dein e e liep / wann du hast vns also besworn. Wie getan ist dein lieb aus dem lieben o du scho˝niste all(er) weiber wie getan ist dein lieb. aus dem lieben das du vns also beswert hast Uue´lich ´ıst der dıˆn truˆt uo´ne truˆte. a´ller uuıˆbo scoˆnesta? We´lich ist der dıˆn truˆt uo´ne trute. uua´nte du´ u´nsih u´mbe ´ın soˆ besuo´ran hast? dıˆn1] korr. aus dıˆu In.
Pr
87 5,10 Dilectus meus candidus et rubicundus electus ex milibus o Mein lieb(er) ist weiz vnd roet. erwelet auz tusenten Mein lieb ist weis vnd rot auserbelt aus tausent
Eb
Mıˆn vuı´ne. ´ıst uuıˆz u´nte roˆt: ´ıst eruue´let uo´ne ma´nigen duˆsonton.
Os
Os
Pr
Eb
88 5,11 Capud eius aurum optimum Come eius sicud elate palmarum nigre quasi coruus e o Sein haubt ist daz aller beste golt / sein haubt har / als di sumerlaten d(er) palmen / swartz als ein rabe. Sein haupp ist das all(er)pest gold sein scho˝pph sein als die ausgeschoss(e)n palm vnd swarcz als d(er) rab
146
r
Sıˆn hoˆibet. ´ıst aller go´ldo be´zzesta: sıˆn haˆr. ´ıst a´lso pa´lme vuı´pfela: sua´rz sa´mo eˆin ra´ban. palme˛ Br In.
89 5,12 Oculi eius sicud columbe super riuos aquarum que lacte sunt lote et resident iuxta fluenta opulentissima riuulos Eb Br In Vulg. aquarum] am linken Rand In. sima Os, plenissima Eb Br In Vulg. (Einl. 3 iii). Os
opulentissima] opulentis-
Sein ougen als d(er) tauben / di da sitzet auf den riuiren d(er) wazzer / di mit e e milch seint gewaschen / vn(d) sitzent bi den aller rıchisten vloumen Sein] davor Hvic und ein begonnenes o durchgestrichen (vgl. Vers 89L1 Huic oculi pulchris similes super amne columbis Eb Br In] Hvic oculi pulcris similes sunt anne columbis Os) Os.
Pr
Sein augen sind als d(er) taubn auf den v˝rspru˝ng d(er) wazzer dy gewasch(e)n sind mit milch vn(d) siczent bey den fliezz(e)nden reichisten wazzer
Eb
Sıˆne oˆigen. sı´nt sa´mo tuˆbon. bıˆ den rı´nnenten ba´chen: dıˆeder mı´t mı´leche sı´nt geba´dot. u´nte sı´zzent a´lliz a´na bıˆ den rıˆchon uua´zzeron. geba´dot – rıˆchon] am rechten Rand In.
90
5,13
Gene illius sicut areole aromatum que consite sunt a pigmentarijs
Gene] daneben am linken Rand: Nota. Os. illius] eius Pr. aromate Pr (Einl. 3 vi). quae – sunt] consitae Vulg. pigmentarijs] pi(n)gme(n)tarijs Os.
146
v
233
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Os
Pr
Eb
Siene hufwengel seint als die bettelin / d(er) edlen wurtze / di da gepflantzet seint / von den klareten Seine wang sind als die pettlein d(er) edln wu˝rczen die gepha˝lczt sind vo(n) den claretn Sıˆne hvˆffelon. sı´nt sa´mo uvv´rzbe´tte: dıˆeder gese´zzet sı´nt uo´n de´n ku´nstigen pıˆmentaren.
91
5,13
Labia illius distillancia mirram
illius] eius (Vulg.), + lilia Eb Br In Vulg. + primam Eb Br In Vulg.
147
distillancia] korr. aus -stall- Os.
Pr
Sein lyppen seint lylyen / di da troren die ersten mirren. Sein lebs sind liligen die do trieffe(n)t mirren
Eb
Sıˆne le´fsa. sı´nt lı´lion: dıˆede que´kkeston mı´rron tro´ffezent.
Os
92
5,14
r
mirram]
Manus eius tornatiles auree plene iacinctis
eius] illius Vulg. Os
Sein hende gedrehet guldein / vol iacincten daz sint iachande. gedrehet] dahinter aı (begonnenes aur- ?) durchgestrichen Os.
Pr
Sein hentt sind gedra˝t vnd sind guldein. vol iaci(n)cten
Eb
Sıˆne he´nte sı´nt gu´ldin. sa´mo sı´neuuel. a´lse sıˆe gedraˆt sıˆn: beˆde uo´l ie´chando.
Os Pr
93 5,14 Uenter eius eburneus distinctus saphiris e Sein bouch helfenbein. vnd(er)scheiden mit saphyren Sein pauch ist hellffenpainen vmbgeben mit saphiren
Eb
Sıˆn bvˆch ´ıst he´lphentbeˆinin. a´l u´nterskeˆidan mı´t saphiris.
Os
94 5,15 Crura eius columpne marmoree que fundate sunt super bases aureas. e e Seine bayn sınt sulen mermelein / di da gesatzt seint auf guldine symzze
147
v
e
sınt] Superskript nicht eindeutig Os. Pr
Seine pain sind ma˝rbelein sewln die do gesaczt sein auf guldein wasen
Eb
Sıˆniv beˆin. sı´nt ma´rmorine suˆle: dıˆeder gesezzet sı´nt uˆffe gu´ldine fuˆozze.
Os Pr
95 5,15 Species eius ut lybani electus ut cedry Sein gestalt als des lybans / auz erwelt / als des cederboumes / Sein gstalt als d(er) libani auserwelt als der zederpawm
Eb
Sıˆn bı´lide ´ıst a´lse des be´rges libani: e´r ´ıst oˆuh se´lbo eruue´let. sa´mo ceˆderboˆum.
96
5,16
Gvttur illius suauissimum et totus desiderabilis
suauissimus Pr.
148
r
234 Os
Niels Bohnert e
Sein kel ist aller susist. vnd her ist alzumal bigerlich e
susist] Superskript nicht eindeutig Os.
alzumal] alzu. mal Os.
Pr
Sein chel ist allersu˝ezzist vnd ist allzumal begierleich
Eb
Sıˆn che´la ´ıst uı´lo suˆoze: unte a´ller ´ıst e´r nıˆetsam; ´ıst e´r] über der Zeile nachgetragen In.
Pr
97 5,16 Talis est dilectus meus et ipse est amicus meus filie iherusalem. e So getan. ist min lieber / vnd er ist mein vrunt ir tochtir vo(n) iherusalem. So getan ist mein lieber vnd ist mein frewnt ir to˝cht(er) von ih(e)r(usa)l(e)m
Eb
Sv´lich ´ıst mıˆn truˆt. unte er ´ıst oˆuh mıˆn fruˆint: da´z uuı´zzent ´ır iu´nkfro´uuon.
Os
98 5,17 Qvo abijt dilectus tuus O pulcra mulierum Quo declinauit dilectus tuus et querimus eum. tecum
148
v
a
Qvo – tuus] daneben Capitulum sextum Pr. pulcra] pulc Os, pulcherrima Pr Eb Br In Vulg. mulierum] rum Eb tuus2] dahinter ein Fragezeichen? Os. queremus In (Vulg.). Os
Pr
Eb
Wo ist hin gegangen. dein lieber O schonste vor allen vrowen. wo hat sich hin ge nayget din lip / daz wir in mit dier suchen. Wo ist hin gangen dein lieber o du scho˝nistew der weiber. wo hat sich hin genaigt dein lieber vnd wir su˝ch(e)n in mit dir Uva´ra ´ıst dıˆn uuı´ne geua´ran. a´ller uuıˆbo scoˆnesta? Sa´ge u´ns. uua´ra ´ıst dıˆn uuı´ne intuu´ıchan? V´nte uuı´r suochen ´ın mı´t dı´r;
99 6,1 Dilectus meus descendit in ortum suum ad areolam. aromatis ut pascatur in ortis et lylya colligat aromatum Pr Vulg.var. Os
Mein lip ist nider ge gangen. i(n) seinen garten. zu dem bettelin der edelin wrce. a a daz h(er) weyde in dem gartin vnd lylien lese der] korr. aus den Os.
Pr
Mein lieb ist nid(er) ga(n)g(e)n in seinn gart(e)n zu dem petlein d(er) edln wu˝rczn das er waid in den ga˝rtn vnd lilig(e)n le˝s
Eb
Mıˆn trvˆt ´ıst nı´der gega´ngan. zesıˆnemo ga´rten. zede´mo uvu´rzbe´tte: da´z e´r uueˆidene in de´n ga´rten. u´nte e´r dıˆe lı´lion zesa´mene le´se.
100
6,2
Ego dilecto meo et dilectus meus michi qui pascitur inter lylya
pascatur Pr. Os Pr Eb
Ich meinim liebe vnd mein liebir mir der do weydet vndir den lylyen. Ich meinem lieben vnd mein lieb mir der do waidet vntt(er) den liligen Mıˆnemo truˆte leˆist ´ıh truˆivua: u´nte mıˆn uuı´ne leˆistet mı´r gnaˆda: de´rda ˆıe uueˆidenet u´nter de´n lı´lion.
149
r
235
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
101 6,3 Pvlcra es amica mea suauis et decora filia iherusalem Terribilis ut castrorum acies ordinata. filia] sicut Eb Br Vulg. Os
acies ordinata] am rechten Rand In.
Schone pistu vreundin min suze vnd wol gezciret als iher(usa)l(e)m als ein ge schikte spizcze des streytes v
vreundin] vrendin Os. als] evtl. Fehllesung sicut statt filia? Os. Terribilis nicht übersetzt Os.
als] davor ist
Pr
Schon pistu frewnttin mein su˝ezz vnd wolgeschikt tochter vo(n) ih(e)r(usa)l(e)m. forchtsam als ein geornter spicz der he˝r
Eb
Scoˆne bı´st du´ mıˆn frıˆuntin. mı´teuuaˆre. u´nte zıˆere a´lse hierusalem: e´gilıˆch. a´lse uuo´le gedra´ngetiv ze´ltsca´ra. ge
102
ze´lt sca´ra In. 6,4
Averte oculos tuos a me quia ipsi me auolare fecerunt.
oculos] oclos Os. Os
a] dahinter d exp. Os.
Wende din ougen von mir / wenn si habn mich / wekvligen getan. Din har ist als e ein h(er)te zcigen. di sıch geauge(n)t habn von galaat. Din zcene sint als ein hert e d(er) schafe di da auf seint gegangen von d(er) wasche Alle habn sei tzwillinge vn(d) kein geltz ist nicht vnd(er) in Als ein rinde / eyns roten volkurnegen e e apphels / sint dıne wangen an daz dar inne vorborgen loschet. Din har – loschet] Übersetzung der von Williram übergangenen Verse Ct 6,4b– 6 (ed. Weber: capilli tui sicut grex caprarum quae apparuerunt de Galaad 5dentes tui sicut grex ovium quae ascenderunt de lavacro omnes gemellis fetibus et sterilis non est in eis 6 sicut cortex mali punici genae tuae absque occultis tuis); Din har – galaat im Text (daneben am linken Rand Nota defectum quere supra), Din zcene – loschet am oberen Seitenrand (davor am linken Rand Nota) Os. Einl. 3 ii und vgl. Bartelmez, Williram’s Text 168.
Pr
Wen(n)t deine augen von mir wen(n) sy habent mich bechlinget gmacht bechlinget] vgl. wegfligund S2, gechlinget M1, pechlinget M2.
Eb
Uue´nte dıˆne oˆigon uo´ne mir: uua´nte sıˆe ha´bunt mı´h hı´neflu´kke gema´chot.
103 6,7 Sexaginta sunt regine et octoginta concubine et adolescentularum non est numerus. et1 fehlt Pr. Os
Pr
Eb
octoginta] lxxx Os.
est fehlt Br (Txkr. 59).
Sechcik sint d(er) kuniginne / vn(d) achcik d(er) amyen. vn(d) d(er) iungen meydelin ist kayn czal. Sechczig sind d(er) kunigin vnd achczig sein der slaffrawn vnd d(ie) jungen maidlein sind an czall Se´zzo´ch sı´nt der ku´ningı´nno: a´hzoch sı´nt der ke´bese: der dıˆerenon nı´st nıˆeth za´la.
149
v
236 104
Niels Bohnert 6,8
Una est columba mea perfecta mea vna matris sue electa genitricis sue
perfecta] nach Korr. Os. Os
Pr
Eb
vna] + est Eb Br In Vulg.
r
genetrici Vulg.
Eyne ist meyn taube. meyn vollenkumene eyne ist ir mueter / ir vzerwelte gebererrinne Aine ist mein tauben mein volko˝menew. aine ist ir(er) mu˝t(er) auserbelte irer gepererin Eˆinig ´ıst dı´u mıˆn tuba. mıˆn du´rchna´htiga: eˆinig ´ıst sıˆu ´ıro muˆoter. eruue´leta ´ıro muˆoter.
105 6,8 Viderunt illam. filie et beatissimam predicauerunt regine et concubine laudauerunt eam. filie] + syon Pr (Einl. 3 iv). concubine] + et Vulg. Os
150
et1] darüber syon In.
150
v
predicauerunt] + et Pr.
Die tochter von syon sahen sie / vn(d) sageten sie die aller seligesten / die kvniginnen vn(d) die amyen lobeten sey. von] dahinter nach Zeilenwechsel von Os.
Pr
Sey sahen dy to˝chter von syon vnd predigten sey dy allersa˝ligist(e)n dy kunigin vnd slaffrawn lobten sey
Eb
Dıˆe dıˆerenon saˆhon sıˆe. u´nte za´lton sie zea´llero uuıˆbo saˆligı´ston: ku´niginna u´nte ke´bese. lo´boton sıˆe;
106 6,9 Qve est ista que progreditur sicud aurora consurgens pulcra vt luna. electa ut sol terribilis vt castrorum acies ordinata. sicud] quasi Pr Vulg. Os
Pr
Eb
castrorum fehlt (Vulg.).
Wer ist di da vert / als ein morgenroet / mit eynand(er) aufgende als d(er) maen. auz erwelt als di sunne / vreyzsam als eyn geschicte spitze der st〈r〉eyter./ Wer ist disew die do auf geet als die morgenro˝t die da auf steigt. scho˝n als der man. auserbelt als dy su˝nn forchtsam als ein geo˝rndter spicz der streitt(er) Uve´r ´ıst dı´siv. dı´u da´ uv´regeˆt sa´mo der uˆfgeˆnte mo´rgonroˆt: sa´mo scoˆne soˆ der maˆno. eruue´let sa´mo dıˆv su´nna: e´gelıˆch. sa´mo dıˆu uuo´la gedra´ngetiv ze´ltsca´ra? uv´regeˆt] Rasur von etwa 4 Buchstaben zwischen uu´ und regeˆt In.
geze´lt sca´ra In.
107 6,10 Descendi in ortum nucum vt viderem poma conuallium et inspicerem si floruisset vinea et germinassent mala punica in] ad (Vulg.). Os
Pr
convallis (Vulg.).
floruissent vinee Pr.
et1] ut (Vulg.).
Ich trat nider in den nuzgarten. daz ich daz obez der getale beschoute. vn(d) ansehe / ob di wingarte gebluet hetten / vn(d) die boum d(er) volkurnigen epphel hetten auz gelazen Ich gieng nider in den nu˝ssgart(e)n das ich sa˝ch das obs der tall vnd das ich an schawet ob die weinga˝rten hieten plu˝eet vnd ob die pawm der volku˝rnigen ro˝ten o˝phel hieten ausgeprossenn
151
r
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Eb
237
I´h gıˆenk in de´n nu´zga´rton. daz ı´h besaˆhe uuıˆe daz o´baz in de´re ta´lasla´hte uuo´rdan uuaˆre: u´nte ı´h uua´re taˆte. o´be de´r uuıˆnga´rto in bluˆode uuaˆre: u´nte dıˆe roˆton e´pfele uvaˆren in gesca´ffede.
108
6,11
Nesciuit anima mea conturbauit me propter quadrigas aminadab
151
v
Nesciui Pr Eb Br In (Vulg.). Pr
Ich wustes nicht Mein sele bi trubte mich durch di waginrete aminadabs Ich we˝sst sein nicht mein sel betru˝ebet mich durch dy wegen aminadab
Eb
I´ne vvı´stes nıˆeth: mıˆn geda´nk haˆt mı´h erfloˆiget du´rh da´z gereˆite aminadab;
Os
erfloˆiget] getruˆobet In.
Os Pr
109 6,12 Reuertere re〈uertere〉 su〈namitis〉 re〈uertere〉 re〈uertere〉 ut. intueamur te Kere widir kere dich vmme du sunamitis daz wir dich an sehen. Cher wid(er) cher wid(er) du sunamite od(er) du suezze tocht(er). cher wid(er) cher wid(er) das wir dich sechen
152
r
suezze] Einl. 3 vi. Eb
Keˆre vvı´dere. keˆre uvı´dere uerhu´ndeta: keˆre uvı´dere. keˆre uvı´dere: daz uvı´r dı´h a´nase´hen muˆozen. uerhu´ndeta] ue´rhe´reta In.
110
7,1
Qvid videbis in sunamite nisi choros castrorum
videbis] videbitis, daneben capitulum septimum Pr (Einl. 3 vii). Os
castrorum] Einl. 3 ix.
Was wirstu sen. an der sunamiten. an alleyne di ekke d(er) strit strit] im Text aus Platzmangel undeutlich geschrieben, am Rand mit Einfügezeichen wiederholt Os.
Pr
Nu˝n was wert ir sech(e)n in der sunamiten nu˝r dy cho˝r d(er) streiter
Eb
Uva´z gesı´hest du´ in der uerhu´ndeton. aˆne daz sa´ngleˆich de´ro geze´lto? uerhu´ndeton] ue´rhe´reton In.
111
7,1
Qvam pulcri sunt gressus tui in calciamentis filia principis
principis] + castrorum Pr, + vel aminadab Eb Br In (Einl. 3 ix). e
Pr
Wi schone sint dine genge. in deynen schun du vorstin tochter Wie scho˝n sind dein geng in deinen schuechen des fu˝rsten tocht(er) d(er) streitt
Eb
Vvıˆe lv´ssam dıˆne ge´nge sı´nt heˆrtuˆomes do´hter: in dıˆnemo geschuˆohe.
Os
112 7,1 Ivncture feminum tuorum super monilia que sunt fabricata manu artificis Iunctura Br (Txkr. 74) (Vulg.). feminum] fenninum Os, femorum Pr Eb Br In Vulg.var. super] sicut Pr Eb Br In Vulg. fabricata sunt Eb Br In Vulg. Os
e
Da sic die huffe zusamme(n) wugen. do bistu. gestalt als di vorspan. di von. meystiris he(n)de(n) sint ge smidit e
Da – wugen] Einl. 3 ix. ein Os.
zusamme(n)] zu-samme¯ Os.
di1] über durchgestrichenem
152
v
238
Niels Bohnert
Pr
Do sich dein hu˝f zu sam fuegen do pistu gestalt als die zierspangen die mit maisters hannt gesmidt sind
Eb
Da´z gechnu´pfe dıˆnero dıˆeho. da´z sı´nt ha´lszıˆereda: dıˆeder gesmı´dot sı´nt mı´t geleˆrtes lı´stmeˆistres ha´nt. Da´z – ha´lszıˆereda] Dıˆu gefuoˆgede dıˆnero hu´fo dıˆe sı´nt -a´ls zıˆereda In.
113
7,2
Umbilicus tuus sicud crater tornatilis numquam indigens poculis
sicud fehlt Pr Eb Br In Vulg. Os
poculis] davor vor Zeilenwechsel po Os.
Dein nabil ist als ein ge dret koph dem do nu(m)m(er) trankes ge bricht koph] davor nap durchgestrichen Os. Zeichen, d(er)? Os.
153
r
trankes] dahinter ein einzelnes unleserliches
Pr
Dein nappel ist als ain gedra˝ter koph d(er) nymm(er) tranks du˝rftig wirt
Eb
Dıˆn na´belo ´ıst gedraˆter na´ph: nıˆeuva´nne drı´nchenes aˆnig. newa´nne In.
114
7,2
Uenter eius sicud aceruus tritici vallatus lylyis
eius] tuus Pr Eb Br In Vulg. e
Pr
Dein puch ist als ein hufe dez weyzes. der bi stakket ist mit lylien. Dein pauch ist als ein hauff waicz bestekht mit liligenn
Eb
Dıˆn vua´mba ´ıst sa´mo uueˆizzes huˆffo: de´rder u´mbeste´cchet ´ıst mı´t lilion.
Os
115
7,3
Dvo vbera tua sicud hynnuli capree
vbera] davor hynnul und begonnenes ca durchgestrichen Os. hynnuli] + gemelli Pr Eb Br In, duo hinuli gemelli Vulg. capree] dahinter nach Zeilenwechsel: vbera bina t〈ui〉 t〈urgentia〉 l〈acte〉 Istud capitulum require supra Os. Pr
Deine zway pru˝stl sind als zway rechelbel die zwiling sind
Eb
Zueˆne dıˆne spu´nne. sı´nt sa´mo zueˆi zuı´nele khı´zze der reˆion. zı´kkin Br (Txkr. 41 Anm. 23).
Pr
116 7,4 Collum tuum sicud turris eburnea Dein hals ist als ein helfinbeyni(n) turm. Dein hals ist als ein helffenpainer(er) tu˝rn
Eb
Dıˆne doctores o sponsa. dıˆe sint he´lfentbeˆinıˆnaz uuıˆghuˆs.
Os
Williram vermischt Übersetzung und Auslegung (Txkr. 126).
Os Pr
Eb
117 7,4 Oculi tui sicud piscine in esebon que sunt in porta filie multitudinis Din ougen sint als di teyche zu esebon. di do. sten. in der phortin der menige Deine aug(e)n sind als dy weyr in ebson die do stend an der portn d(er) to˝cht(er) der menig Dıˆne oˆigvn sı´nt sa´mo vuıˆaˆre ze esebon: dıˆeder sue´bent uo´r de´ro po´rto. to´hter de´ro me´nige.
153
v
239
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
118
7,4
Nasus tuus sicud turris lybani que respicit contra damascum
154
r
tuus sicut mit Einfügezeichen am Ende der vorangehenden Zeile nachgetragen In. Pr
Dein nase ist als der lybanizse turm. der do ge puwet ist kegen. dem. damasco Dein nas ist als der libanisch tu˝ern d(er) pawt ist geg(e)n dem damasco
Eb
Dıˆn na´sa ´ıst sa´mo uvıˆghvˆs uˆffen libano: daz der gekeˆret ´ıst in ge´gen damasco;
Os
uˆffen libano fehlt In.
119 7,5 Caput tuum vt carmelus et come capitis tui ut purpura regis iuncta canalibus ut2] sicut (Vulg.) Os
iuncta] uincta Eb Br In Vulg.
o
v
Dein haub ist als der carmelus vnd dein hop har als des kunges phellel d(er) do ge wuget ist zu den ri(n)nen. har] davor hal durchgestrichen Os. Os. ri(n)nen] r¯inen Os.
kunges] davor ein Buchstabe (k?) durchgestrichen
Pr
Dein haupp ist als der carmelus vnd die lo˝kh deines haupps als p(ur)per des kunigs der do zuegefuegt ist zu den riennen
Eb
Dıˆn hoˆibet ´ıst sa´mo getaˆn. a´lso der be´rg carmelvs: u´nte ´ıst a´bo dıˆn ua´hs getaˆn. a´lso ku´ninges purpura: dıˆvder zesa´menegebu´ntenıˆv. no´h ta´nne sue´bet in de´n zaˆuuetru´gelıˆnen. a´bo] ouˆh In.
120
7,6
Quam pulchra es amica mea et decora karis〈sima〉 in delicijs
Quam] Q ist normalgroß, keine Initiale Os. + quam Vulg.
154
amica mea fehlt Pr Eb Br In Vulg.
et]
e
Pr
Eya wi schone vnd wi wol ge zciret bistu mein aller libisti in den wollustin Ey wie scho˝n pistu vnd wolgecziertt mein allerliebste in deinen wollu˝stn
Eb
Uıˆe scoˆne. u´nte uuıˆe zıˆere du´ bı´st: unte uuıˆe lu´ssam. in dıˆnen za´rtlu´sten;
Os
v
121
7,7
Statura tua assimilata est palme et vbera tua botris
155
r
Statura] das erste t aus e korr. Os. Os
v
e
Deine lenge ist glichet den palmen. bome. vnd din bruste den. wintrumilin den.] dahinter den. wiederholt Os.
Pr
Dein leng ist geleichtt Dem palmpawm (vnd) dein pru˝sst den weinpern
Eb
Dıˆn gevva´st ´ıst glıˆch de´ro pa´lmon: u´nte dıˆne spu´nne. sı´nt glıˆch de´n uvıˆntruˆbon;
122 7,8 Dixi ascendam in palmam et apprehendam fructus eius et erunt vbera tua sicud botri vinee. odores tui sicud malorum conscendam Pr. et1 fehlt In (Vulg.). et2 – vinee fehlt Br (Txkr. 80 Anm. 143). sicud botri vinee] aus b. v. s. durch Umstellungszeichen korr. Pr. odores – malorum] et odor oris tui sicut malorum. Guttur tuvm sicut uinum optimum durchgestrichen Eb,
155
v
240
Niels Bohnert
fehlt Br In Vulg., gehört nach Willirams Einteilung zu Vers 123 (Einl. 3 iv, Txkr. a. a. O.). odores] et odor oris Pr. Os
Ich sprach ich werd steygen. vf den palmen bovm. vnd werd er wizsen. sein e vrucht vnd sin vruchte w(ir)d suze minir kel bovm] davor ein einzelner Buchstabe, wohl p, durchgestrichen Os. vnd2 – kel] e übersetzt Vers 29, Ct 2,3. suze] davor sm oder sui durchgestrichen Os.
Pr
Eb
Ich hab gsproch(e)n ich wirt steigen in den palmpawm vnd wirt begreiffen sein fruchtt vnd dein pru˝sst w(er)dent gleich als die trew ˝ bel des weingart(e)n vnd der gesmachen deins munds als der ru˝kh der o˝phel I´h ha´bo mı´h geeˆinot uˆffen de´n pa´lmboˆum zestıˆgene: daz ´ıh zıˆtegez o´baz daˆ ne´me. pa´lboˆum Eb In (Txkr. 172).
123
7,8
Odor oris tui sicud malorum. 9 guttur tuum sicud vinum optimum
Odor – malorum] Einl. 3 iv.
et odor Vulg. (vgl. zum vorangehenden Vers).
Pr
Der ruch deines mundes als der ruch der ephele din kel ist als der beste win Der gsmach deins munds als d(er) o˝phell dein chel ist als d(er) allerpest wein
Eb
Der sta´nk dıˆnes mu´ndes ı´st sa´mo der suˆozon e´pfelo: dıˆn che´la. sme´kket sa´mo der tuˆiristo uvıˆn.
Os
124 7,9 Dignum dilecto meo ad potandum et labijs et dentibus illius ad ruminandum et labiis] labiisque Eb Br In Vulg. Os
Pr
illius] suis Pr, eius Eb Br.
156
r
ad2 fehlt (Vulg.).
Der win ist artik meinin leyben zu trinkene vnd sin lippe(n) vnd sin zcen. zu andirwedene d(er) da wirdig ist meinem lieb zu tri(n)chen vnd seinen lebsen vnd zenden zu anderwaiden Die Verse 123 und 124 sind zusammengefasst, der Relativsatz bezieht sich auf das in Pr unmittelbar vorangehende wein. anderwaiden] vgl. yedrokch(e)n S1.
Eb
Der vvıˆn de´n du´ meˆinest. der zı´met mıˆnemo truˆte ze trı´nkene: u´nte sıˆnen le´fson u´nte sıˆnen ze´nen zeı´tdru´kkene. zeı´tdru´kkene] zei am Zeilenanfang vor dru´kke´ne erg. In.
Os
125 7,10 Ego dilecto meo et ad me conuersio eius. Ich mime liben. vnd her hat sich zu mir gekart liben] davor li durchgestrichen Os.
Pr
Ich meinem lieb vnd zu mir hat er sich chert
Eb
Mıˆnemo uuı´ne bı´n ´ıh ho´ld: u´nte e´r keˆret sı´ch zemı´r;
126 7,11 Ueni dilecte mi egrediamur in agrum conmoremur in villis 12 mane surgamus ad vineas videamus si floruit si flores fructus parturierunt si floruerunt mala punica Ueni] Uveni Os.
floruit] floruerunt Pr, + uinea Eb Br In Vulg.
parturiunt Eb Br In Vulg.
156
v
241
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Os
o
e
Kum mey(n) herzcen lip. ge wir vf daz velt wo(n) wir in den dorfern. vru ste wir auf vnd ge wir in di wey(n)gartin sehe wir ab di wi(n)gartin ge bluet habin. die rottin vor kurnigen. ephele. vor kurnigen] fehlerhaft statt volkurnigen Os.
Pr
Chu˝m mein h(er)cz(e)nlieb gee wir aus in den ackher. wanen wir in den do˝rffern. fru˝e stee wir auf vnd gee wir in die weinga˝rt(e)n sehen wir ob sy plu˝et haben. ob die pluemen fru˝cht haben pracht od(er) pert. ob plu˝et habent dy ro˝tn volchu˝rnigen o˝phel
Eb
Ku´m vvı´ne mıˆn. geˆuvı´r a´nne den a´kker: uue´sen a´lle vuıˆla in de´n do´rfon: steˆn fruˆo uˆf zeden vuıˆnga´rton: tuˆon des uua´ra. o´be der uuıˆnga´rto bluˆouve. o´be naˆh de´r bluˆode daz uuoˆcher sı´ch sca´ffe: obe dıˆe roˆten e´pfele bluˆouven; a´lle] + dıˆe In.
127
7,12
o´be naˆh de´r bluˆode fehlt In.
Ibi dabo tibi o sponse vbera mea
o sponse fehlt Vulg. Os
e
Do wil ich dir gebin mein bruste mein] davor dein durchgestrichen Os.
Pr
Da wirt ich dir geben o prewttigan mein pru˝sst
Eb
Da gı´bon ´ıh dı´r vuı´ne mıˆn. mıˆne spu´nne. vuı´ne mıˆn fehlt Br (Txkr. 39).
128
7,13
Mandagore dederunt odorem in portis suis.
Mandragora Pr. odorem fehlt Pr (Einl. 3 viii). suis] nostris Eb Br In Vulg.
157
portis] poculis Pr (Einl. 3 viii).
Pr
Di alrune habin ge gebin irn ruech i(n) vnsen. phortin Sy habent geben margram in yeren tra(n)chen.
Eb
Dıˆe a´rzat vuv´rze. stı´nkent uı´le draˆho in u´nseren po´rton.
Os
129
7,13
Omnia poma noua et vetera seruaui tibi dilecte mi
dilecte mi servavi tibi Vulg. e
Pr
Aller leyge obs alt vnd nuge han. ich dir bi haldin mi(n) lip allerlay obs. iungs vnd alts hab ich dir behalten mein lieb
Eb
´ llersla´hta o´baz. nı´vuaz u´nte a´ltaz. ha´bon ´ıh dı´r geha´lton uuı´ne mıˆn; A
Os
r
130 8,1 Qvis michi det te fratrem meum sugentem vbera matris mee / vt inveniam te foris et deosculer et iam nemo me despiciat Qvis – det] daneben capitulum octauum Pr. michi det – fratrem] michi bis fr in dunklerer Tinte geschrieben, hinter te Freiraum von etwa vier Buchstaben Länge, Korr.? Os. michi det te] te det Eb Br In (Txkr. 210). vt] et Pr. deosculer] te osculer Pr, + te Vulg.var. me nemo Br (Txkr. 5 Anm. 20) Vulg.
157
v
242 Os
Niels Bohnert e
Wer gibit mir dich meynen bruder der do suget. die brust meynir mueter daz ich dich auswe(n)dik. vinde dich kusse vnd daz mich ni(m)me nimant vorsme mir] korr. aus mich Os.
Pr
Wer geit dich mir meinen brueder d(er) do saugt dy pru˝sst mein(er) muet(er) das ich dich auswendig find vnd dich chu˝zz vnd das mich yeczu(n)d nyemant versme˝ch
Eb
Uve´r uue´ret mı´h de´s. daz ´ıh dı´h bruˆoder mıˆn. se´he suˆgan dıˆe spu´nne mıˆner muˆoter: u´nte ´ıh dı´h da uˆzze uv´ndanan ku´ssan muˆoze: u´nte mı´h hı´nneuu´re nıˆeman neuerma´ne?
saugt] davor d durchgestrichen Pr.
neuerma´ne] uermane In.
131 8,2 Apprehendam te et ducam te in domum matris mee et in cubiculum genitricis mee ibi me docebis precepta domini
158
r
Apprehendam – domini] daneben am rechten Rand von anderer Hand: Nota defcm ¯¯ Os. te2 fehlt Vulg. et2 – mee2 fehlt Br Vulg. (Txkr. 201). precepta domini fehlt Vulg. (Einl. 3 i; Txkr. 201; Schmid 200). Os
e
Ich wil dich erwizsen. vnd wil dich vure(n) in minir mutir haus vnd i(n) daz heineliche slaf gadim menir gebererin do leres tu mich di gebot di(n)s hern. erwizsen] z wohl korr. aus s Os. dich durchgestrichen Os.
Pr
Eb
menir] verschrieben für meinir Os.
tu] davor ich
Ich wirt dich begreiffen vnd wirt dich fuern in das haws mein(er) mueter vnd in das haimleich slafgadm meiner pererin do wirstu mich lernen die pot des herren I´ch gegrıˆfon dı´h. u´nte uo´lleuo´legon dir u´nzen in mıˆner muoter huˆs: da leˆrest du´ mı´ch tro´htines gebo´t. uo´lleuo´legon dir] uo´lgon dı´r uo´lle In.
in] ´ınne Br.
tro´htines] go´tis In.
132 8,2 Et dabo tibi poculum ex vino condito et mustura. malorum gran〈at〉orum meorum musto Pr, mustum Eb Br In Vulg. Os
Vnd werd dich trenken. mit gewrzcten. wiene. vnd mit moste meinir vorkurnigen ephele mit] davor mist durchgestrichen Os.
Pr
Eb
Os
vorkurnigen] statt volk. Os.
Vnd ich wirt dir geben ein trankh auz gewu˝rcztem wein vnd most mein(er) rotn volkhu˝rnigen o˝phel gemischt I´ch sce´nkon dı´r gepıˆme´nteˆten uvıˆn: unte mo´st uˆzzen roˆten e´pfelen gedvˆhtan. dıˆe uı´lo co´rnelıˆno ha´bent.
133 8,3 Leua eius sub capite meo et dextera illius amplexabitur me v Dein linke hant leyt vndir meinim hobte vnd sein rechte hant wirt mich v(m)mevan. v
v
hobte] davor hote durchgestrichen Os.
hant] haut Os.
158
v
243
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Pr
Sein lenkhe hant leit vntt(er) meinem haupp vnd sein rechte hanntt wirt mich vmbvachen lenkhe] l sieht aus wie ein t Pr.
Eb
Mıˆnes uvı´nes uvı´nstra lı´get u´nter mıˆnemo hoˆibete: unte sıˆn ze´seuva u´mbegrıˆffet mı´h.
134 8,4 Adiuro vos filie iherusalem ne sus〈citetis〉 neque eui〈gilare〉 fa〈ciatis〉 di〈lectam donec ipsa velit〉 ne] ut ne Pr (Einl. 3 vi). neque] et (Vulg.). di〈lectam – velit〉] dahinter: habet illud patet superius Os (vgl. Verse 33, 49; Txkr. 173 f., wo für das Kürzel p3 der Handschrift fälschlich ›prius‹ statt ›patet‹). di〈lectam〉] + meam Pr. Os Pr
Eb
Keine Übersetzung. Ich beswer euch ir to˝cht(er) von ih(e)r(usa)l(e)m das ir nicht enbekhtt noch entwachen haisset mein lieb vncz das sy selb will I´ch besve´ron ´ıvuich iu´nkfro´uvon ze hierusalem. daz ´ır mıˆne uvı´nion neuue´cchet no´ch nemu´nteret. u´nze sıˆv se´lba uuo´lle. ze – uuo´lle] Vt svpra In.
135 8,5 Qve est ista que ascendit de deserto. affluens delicijs et innixa super dilectum meum deliciis affluens Pr Eb Br In Vulg. et fehlt Eb, exp. Br (Schützeichel / Meineke, Ausg. 238 zu 58 vb18). nixa (Vulg.). meum] suum Pr Vulg. Os
o
Wer ist die do vf steygit von der wstinnu(n)ge. zu vlisindie in den wol lusten. vnd o ge neyget vf iren lieben do] korr. aus di? Os.
Pr
Wer ist dy do auf steigt von der wuest hinfliezzu(n)d von wollust vnd genaigt auf ir lieb
Eb
We´r ´ıst dı´siv. dıˆv da uˆffe´ret uon de´ro uvoˆste. za´rtlıˆcho gefuˆoretıˆv: unte sı´ch leˆinente u´ber mıˆnen truˆt? uˆffe´ret] uˆf stıˆget In.
gefuˆoretıˆv fehlt In.
136 8,5 Svb arbore malo suscitaui te incorrupta est mater tua inviolata est genitrix tua sustentaui Pr (Einl. 3 vi). violata Pr Eb Br In Vulg. Os
incorrupta] ibi corrupta Pr Eb Br In Vulg.
e
Vndir eym apfelpaume hab ich din ge wart do ist vor terbit dein muter ge notzcogit dein ge bererin Vndir] davor Vnd durchgestrichen Os.
Pr
Eb
inviolata] ibi
ge notzcogit] oder -zoog-? Os.
Vntt(er) ainem aphlpawm hab ich dein gewart do ist gemailigt dein mueter do ist beraubt dein pererin V´nter de´mo a´ffalterboˆume irquı´chta ´ıch dı´ch: da uua´rt dıˆn muˆoter ueruua´rtit. da beuua´l sı´ch dıˆn muˆoter.
159
r
244
Niels Bohnert
137 8,6 Pone me ut signaculum super cor tuum vt signaculum super brachium tuum quia fortis est ut mors dilectio dura ut infernus emulacio dura] du¯ Os. Os
ut4] sicut Vulg.
infernus fehlt Pr, inferus Eb Br In (Vulg.).
e
o
Lege mich als ey(n) zcechin vf din herzce zu eym zceychen. vf deynin arm. wen di libbe di ist stark als der tot. vor vli〈ss〉inkeyt ist so h(er)te als di helle vor vli〈ss〉inkeyt] ss durch Wurmloch beschädigt (zz ist ausgeschlossen, weil Reste der Unterlängen fehlen), das zweite i unsicher Os, vgl. fleyssecheit G2, fleizzchait S1.
Pr
leg mich als ain czaichen auf dein h(er)cz als ain zaichen auf deinen arm wen dein lieb ist starkh als d(er) tod hert als dy hell
Eb
Ma´che mı´ch dı´r zeeˆinemo ´ınsigile u´ber dıˆn he´rza. unte u´ber dıˆnen a´rm: uua´nta mıˆn mı´nna ´ıst sa´mo sta´rk so der toˆd in ge´gen dı´ch: ´ıst a´bo dıˆn nıˆth sa´mo stre´nge so dıˆv he´lla. in ge´gen mı´ch.
Ende von Os, im folgenden ist der Vulgatatext nach Pr ediert. 138
8,6
lampades eius lampades ignis atque flammarum
lampades2] lampa Eb (Txkr. 178). Pr
Ir lampen sind lampen des fewrs vnd auch der flammen
Eb
Der mı´nnon lıˆehtua´z brı´nnent. u´nte lo´hezent.
Pr
139 8,7 Aque multe non potuerunt extingwere caritatem nec flumina obruent illam Vil wazz(er) machten nit erleschen dy lieb. nach dy flu˝zz verrinnent sey
Eb
He´vigıˆv uua´zzer nemo´hten irle´skan dıˆe minna: no´h dıˆe a´ha beru´nent sıˆe. beru´nent] bewe´ruent In.
140 8,7 Si dederit homo omnem substantiam suam pro dilectione quasi nichil despiciet eam suam] domus sue¸ Eb Br In Vulg. Pr
Eb
despicient eum (Vulg.)
Ob ain mensch als sein hab seines haus ga˝b vmb dy lieb. dy v(er)sma˝cht sy als nichts ´ be der me´nnisco a´l sıˆn guˆot hı´na gegıˆt: ´ız ´ıst ´ımo inke´gin mıˆner mı´nnon dez mı´nnist. O gegıˆt] gıˆt In.
mı´nne In.
dez] de´r In.
141 8,8 Soror nostra parua et ubera non habet. quid faciemus ei in die quando est alloquenda. 9 si murus est edificemus super eum propugnacula argentea. si ostium est compingamus illud tabulis cedrinis parua] + est Eb Br In. compingemus In.
ei] sorori nostrae Vulg.
alloquenda est Eb Br In Vulg.
159
v
Das lateinisch-deutsche Hohe Lied der Oseker Handschrift
Pr
Eb
245
Vnns(er) swest(er) ist chlain vnd hat nicht pru˝zztt was sol wir ir thuen an dem tag als man ir zuesprechen sol. ist sy ain mawr so paw wir auf sey. silbrein a˝rkker Ist sy ain tu˝r so bedeck(e)n wir sey mit cedrein prett(er)n ´ nser sue´ster ´ıst no´ch uueˆnag: unte nehaˆt no´h der spu´nne nıˆeth. Wa´z tuˆon uvı´rs nuˆ. so sıˆv U hıˆrates sca´l gegruˆozzet uue´rdan? Si sıˆv muˆra: uvı´rche uvı´r uˆffe dıˆe muˆra sı´lberıˆne uve´re. Sıˆ sıˆv tu´re: uıˆoge vuı´r dıˆe tu´re zesa´mene. mı´t cedrinen ta´uelon. hıˆrates sca´l] sca´l hı´gileˆiches In.
142 8,10 Ego murus et ubera mea sicut turris. ex quo factus sum coram eo quasi pacem reperiens facta Eb Br In Vulg. Pr
Eb
Ich pin ain mawr vnd mein pru˝zzt als ain tu˝rn da(r)umb pin ich ward(n) vor sein als ich frid gefunden hab I´ch bı´n se´lbo a´ls eˆin muˆra. u´nte sı´nt a´bo mıˆne spu´nne a´ls eˆin uvıˆghuˆs: von de´n stu´nton. daz ´ıch frı´do u´nte sıˆne hu´lde gua´n.
143
8,11
Vinea fuit pacifica in ea que populos habet
pacifico Eb Br In Vulg. (Einl. 3 vi). populos Eb Br In Vulg.
in ea] uinea Eb Br In.
habet (t auf Rasur? In)
Pr
d(er) weingartten was fridsam in ir dy volkh hat
Eb
Der svˆonaˆre. haˆt eˆinen vuıˆnga´rton: ´ıh meˆino de´n vuıˆnga´rton. de´r dıˆe me´nige des luˆites haˆt.
Pr
144 8,11 Tradidit eam custodibus Er enphalch in den huettern
Eb
Der heˆrro. der den vuıˆn ga´rton phla´nzeta. der haˆt ´ımo uvıˆnzu´rnela gese´zzet.
145
8,11
Vir afferet pro fructu illius mille argenteos
affert Eb Br In Vulg.
illius] eius Eb Br In Vulg.
Pr
Ein man p(ri)nget fu˝r sein frucht tause(n)t silbrein pheni(n)g
Eb
Der ma´n der gıˆt duˆsunt sı´lberıˆnero pfe´nnı´ngo: daz e´r des uvı´ntemoˆdes muˆoze gebruˆchan. gıˆt] gı´bit Br In (Txkr. 177).
Pr Eb
des fehlt In.
146 8,12 Vinea mea coram me est Mein weingart(e)n ist vor mein Do´ch ´ıch mıˆnen vuıˆnga´rton beuo´lehan ha´be de´n vuıˆnzu´rnelon a´lso du´ ze´list. dıˆe sıˆn huˆoten: ´ıch tuˆon sıˆn ˆıedo´ch se´lbo a´lliz a´na vua´ra. Do´ch – vua´ra] am oberen und linken Seitenrand nachgetragen (Do´ch – de´n teilweise beschnitten) In.
147
8,12
Mille argentei tui pacifici et centum hijs qui custodiunt fructus eius
argentei fehlt Vulg. Pr
pacifice (Vulg.)
centum] ducenti Eb Br In Vulg.
die dich befridten d(er) sein tausent vnd hundert dy do behuetten sein(er) frucht
246 Eb
Niels Bohnert
Dıˆe dıˆne duˆsunt phe´nninga. sı´nt dı´r geha´lton: u´nte zuı´ren ze´henzog sı´nt de´n geha´lten. dıˆe des uvıˆnga´rton huˆoten. ze´henzog] + phe´nninga Br (Txkr. 162).
148
8,13
Que habitas in ortis amici tui auscultant te. fac audire vocem tuam
tui fehlt Eb Br In Vulg.
te fehlt Eb Br In Vulg.
fac] + me Eb Br In Vulg.
Pr
die do wo˝nest in den ga˝rt(e)n dein frewnt aischen dich lazz ho˝ren dein stym
Eb
Dv´ da buˆivuest in de´n ga´rten. dıˆne fruˆivnt hoˆrechent de´s. laˆ mı´ch dıˆne stı´mma uerne´man. hoˆrechent] lıˆusenent In.
149 8,14 Fuge dilecte mi assimilare capree hinuloque ceruorum supra montes aromatum mi] + et Eb Br In (Vulg.)
super Eb Br In Vulg.
Pr
Fleuch mein lieb vnd piz gleich d(er) rechalb(e)n vnd den hiersnchalbn auf den pergen d(er) edln wu˝rcz(e)n
Eb
Flvˆich vo´ne mı´r uvı´ne mıˆn: uvı´s glıˆch der reˆion. u´nte de´mo hı´ntkalbe. in de´n be´rgon der sta´nkuvu´rzo.
Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’ aus der Frühdruckzeit von John L. Flood
Laut dem Incunabula Short Title Catalogue (ISTC ) befindet sich unter den 46 Wiegendrucken aus der Bibliothek des Franziskanerklosters Dietfurt in der Oberpfalz eine besondere Rarität: das einzig bekannte Exemplar einer zweisprachigen (lateinisch-deutschen) Ausgabe der ‘Cantica canticorum’ aus dem Jahre 1479 (ISTC ic00105300). Auf Grund der Beschreibung im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW 6002) wird vermutet, dass der Druck entweder in Augsburg oder Nürnberg entstand. Grund für diese Annahme und die unsichere Zuschreibung ist, dass die Typen, mit denen er gedruckt wurde, zum Teil mit der 2. Type Anton Kobergers in Nürnberg identisch sind, zum Teil aber auch im Setzkasten des Augsburger Erstdruckers Günther Zainer nachgewiesen sind. Koberger verwendete seine 2. Type von 1472 bis 1477.1 Günther Zainer starb 1478, und wir können uns gut vorstellen, dass nach seinem Tode wenigstens ein Teil der Ausstattung seiner Offizin in die Hand eines Anderen überging. Im Druck der ‘Cantica canticorum’ finden sich vor allem die Großbuchstaben F, Q und W aus seinem Typenvorrat.2 Die Identität des Druckers wird sich wohl nie klären lassen. Besonders geübt scheint der Mann nicht gewesen zu sein: ganz abgesehen von einigen Druckfehlern und der (zeittypischen) Unregelmäßigkeit der Schreibweise, lässt auch die Druckeinrichtung Manches zu wünschen übrig. So fehlt im deutschen Text Kap. 1, Vers 15. Auch fehlt die Überschrift zum 3. Kapitel. Vor allem auf Bl. 7v –10r fallen zahlreiche Stellen auf, wo der Drucker offensichtlich bemüht war, möglichst viel Text hineinzuzwängen, damit das Ganze auf insgesamt 24 Seiten untergebracht werden konnte. Besonders unglücklich ist, dass die Überschrift Das acht Capitell in der letzten Zeile auf Bl. 10v statt in der ersten Zeile auf Bl. 11r steht. Die typographischen Probleme, die die ‘Cantica canticorum’ stellen, wollen wir hier auf sich beruhen lassen.3 Im Folgenden beschäftigen wir uns vornehmlich mit dem Text des Druckes, der hier zunächst bekannt gemacht werden soll. 1 Siehe: Catalogue of Books Printed in the XVth Century Now in the British Museum, London 1908–2007, Bd. 2, S. 409, und die Abbildung in Bd. 3, S. XXXIX . 2 Zu Zainers Type 2 s. Akihiko Fujii, Günther Zainers druckersprachliche Leistung. Untersuchungen zur Augsburger Druckersprache im 15. Jahrhundert (Studia Augustana, Bd. 15), Tübingen 2007, bes. die Abbildung S. 231. 3 Das Problem wird ausführlicher diskutiert in meinem Aufsatz: GW 6002: A typographical conundrum from 1479, in: M. C. Fischer und W. A. Kelly (Hg.), The Book in Germany, Edinburgh 2010, S. 37–59.
248
John L. Flood
Besonders interessant an diesem Druck ist das leserfreundliche Layout. Auf jeden Vers des lateinischen Textes folgt, leicht eingerückt, doch ohne Schriftgrößenwechsel, Farbverwendung oder Unterstreichung, der entsprechende deutsche Text. Darauf wird im Kolophon (Bl. 12v) explizit hingewiesen: Das ist das puch salomonis Cantica canticorum ist deutsch das puch der lieb genant das ein itzlicher in latein ader czu deutsche lesen mag wie er wil mit sulcher vnterschaid wer das puch in latein lesen wil der leß dij lengern czeilen wer aber das deutsch lesen wil der leß dij kurczern czeilen vnd wirt von den lerern der heiligen geschrifft außgelegt von vnser liben junckfrawen maria der czu lob das verdeutscht vnd gedruckt ist Anno domini taussent virhundert vnd jm lxxix jare & cetera.
Mir ist keine andere Inkunabel bekannt, in der die Einrichtung des zweisprachigen Textes so klar erklärt wird. Der Umstand, dass das Kolophon auf Deutsch abgefasst ist, deutet wohl darauf hin, dass der Druck sich in erster Linie an die Laien als Zielpublikum wendet. Vermutlich sollte diese Art der Einrichtung, die – wie wir noch sehen werden – schon in Handschriften vorgebildet war, dazu dienen, dem Leser das Verständnis des lateinischen Textes abschnittweise durch den unterlegten deutschen Text zu erleichtern.
Zur Edition Im Folgenden werden sowohl der lateinische Text als auch die deutsche Übersetzung entsprechend der Einrichtung des Drucks wiedergegeben; im Besonderen heißt das, dass die deutschen Textabschnitte – wie im Original – der Übersichtlichkeit halber etwas eingerückt sind. Der Zeilenfall des Originals wird nicht markiert. Der lateinische Bibeltext im Druck weicht an manchen Stellen, z. T. ganz erheblich vom heute maßgeblichen Vulgata-Text ab.4 Zu beachten ist, dass die Verseinteilung des lateinischen (und danach des deutschen) Textes hier vielfach von der heute üblichen abweicht; im Folgenden werden die einzelnen Versabschnitte mit [1a], [1b], [1c] usw. gekennzeichnet, wobei die Zahl sich auf die heute übliche Verseinteilung bezieht, der Buchstabe auf die einzelnen Abschnitte im Druck von 1479. Bei der Edition des Textes wurden die üblichen Abkürzungen aufgelöst: im deutschen Text werden diese durch Kursivdruck angezeigt, im lateinischen (wo sie eben wesentlich häufiger vorkommen) wurde darauf verzichtet. Im Original ist die Interpunktion recht unregelmäßig; hier wird gänzlich darauf verzichtet. Zwar verbietet sich an dieser Stelle ein ausführlicher Kommentar, dennoch ziehe ich als Stichproben einige wenige Lesarten aus der Vulgata, der ersten gedruckten deutschen Bibel (Straßburg: Johannes Mentelin 1466) und anderen frühen Bibeldrucken zum erhellenden Vergleich heran.5 4 Die Vulgata wird im Folgenden nach der Ausgabe: Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, hg. von Robertus Weber, 4. verb. Aufl., Stuttgart 1994, zitiert.
Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’
249
[Kapitel 1] [Keine Überschrift im Druck] [Bl. 1r] [1] OSculetur me osculo oris sui quia meliora sunt vbera tua vino [2a] flagrancia ungentis optimis Er kuß mich mit dem kuß seinß mundes wan dein prust sein pesser dan wein paß richent dan dij pesseren salben [2b] Oleum effusum nomen tuum ideo adolescentule dilexerunt te Ein außgegossen oll ist dein nam dorvmb haben di iungen meidlin6 lieb gehabt dich. [3a] Trahe me post te curremus in odore vngentorum tuorum Zeuhe mich nach dir so lauffen wir in den ruch deiner salben [3b] Introduxit me rex in cellaria sua exultabimus et letabimur in te memores vberum tuorum super vinum recti diligunt te Der kunig furt mich in sein keler wir warden vns frolocken vnd frewen in dir wir gedencken deiner prust vber den wein die gerechten haben dich lieb [4] Nigra sum sed formosa filie ierusalem sicut tabernacula cedar sicut pellis salomonis Swarcz pin ich vnd doch seuberlich ir tochter von ierosalem als die zelt zedar als die haut salemonis [5a] Nolite me considerare quod fusca sim quia decolorauit me sol Merckt mich nit das ich prawen pin wan die sun hat mich entpferbet [5b] Filii matris mee pugnauerunt contra me [Bl. 1v] Die sun meiner muter haben gestriten wider mich [5c] Posuerunt me custodem in vineis vineam7 non custodiui Si saczten mich zehuten jn weingarten meinen weingarten hab ich nit behut [6] Indica michi quem diligit anima mea vbi pascas vbi cubes in meridie ne vagari incipiam post greges sodalium tuorum Thu mir kunt den mein sele liebt wo waidestu wo rustu indem mittag das ich nicht anheb zer zugen nach den hertern deiner gesellen [7] Si ignoras te o pulcherrima inter mulieres egredere et abi post vestigia gregum & pasce edos tuos iuxta tabernacula pastorum Ob du nicht erkennest odu schonste vnter allen frawen so gee auß vnd halt dich nach dem spor der herten vnd waid dein kitzen pei den gezellten der hirten. [8] Equitatui meo in curribus pharaonis assimulaui te amicam meam Meinen reiteren inden wagen pharaonis hab ich dich zu geleicht mein freudin[!] [9] Pulchre sunt gene tue sicut turturis collum tuum sicut monilia Schon sein dein wenglein als der turtelteublein dein hals als di zirspanngen 5 Die Bibeldrucke werden zitiert nach: W. Kurrelmeyer (Hg.), Die erste deutsche Bibel, 10 Bde, Tübingen 1904–15. Abgekürzt: 1466. Die weiteren frühen Bibeldrucke (Zainer, Pflanzmann, Koberger usw. werden nach Kurrelmeyers Apparat zitiert. 6 1466: die iung linge. 7 Weber: vineam meam. meam fehlt im Druck, hat aber im deutschen Text eine Entsprechung.
250
John L. Flood
[10] Aurenulas aureas tibi8 vermiculatas argento [Bl. 2r] Gulden orring werden wir dir machen geburmelt9 mit silber [11] Cum esset rex in accubitu suo nardus mea dedit odorem suum Do der kunig was in seiner ru do gab mein nardus sein ruch [12] Fasciculus mirre dilectus meus michi inter vbera mea commorabitur Ein puntel mirren ist mir mein liber zwischen mein prusten wirt er wonen [13] Botrus cipri dilectus meus michi in vineis engaddi Ein cipper treublein ist mein lieb in den weingarten engaddi [14] Ecce tu pulchra es amica mea ecce tu pulchra oculi tui columbarum Sihe du pist schon freudin[!] mein sich du pist schon dein augen als der tauben [15a] [Fehlt im Druck von 1479 10]
[Kapitel 2] Das ander Capitel [= Kap. 1, 16 u. 15b] Tigna domorum nostrorum cedrina laquearia eius cipressina lectus noster floridus Die sparen vnser heusern sein cedrin di tram sein cipressen vnser pet ist geplumet [1] Ego flos campi & lilium conuallium Ich pin ein felt plum vnd ein lilig des tals [2] Sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias Als die lilig vnter den dornen also ist mein [Bl. 2v] freundin vnder den tochtern [3a] Sicut malus inter ligna siluarum sic dilectus meus inter filias Als der apfelpam ist vnter den waltpaumen also ist mein lieber vnter den tochtern [3b] Sub vmbra illius quem desideraui sedi et fructus eius dulcis gutturi meo Vnter dem schatten des ich begert hab ich gesessen vnd sein frucht ist suß gewesen meiner kelen [4] Introduxit me rex11 in cellam vinariam & ordinauit in me caritatem Der konnig hat mich ein gefvrt in die wein zell vnd hat in mir geordent die lieb [5] Fulcite me floribus stipate me malis quia amore langveo Schtreuet[!] mich mit plumen besteckt mich mit opfelen wan ich vor lieb siech [6] leua eius sub capite meo & dextra eius amplexabitur me Sein lincke hant vnter mein haubt vnd sein rechte hant wirt mich vmbfahen [7] Adiuro vos filie ierusalem per capreas ceruosque camporum vt nec suscitetis & euigilare faciatis dilectam quovsque ipsa velit 8 Weber: murenulas aureas faciemus tibi. faciemus fehlt, hat aber im Deutschen eine Entsprechung: werden wir dir machen. Wohl Druckfehler. 9 geburmelt = gewurmelt ‘mit kleinen Edelsteinen besetzt’. 10 Zu dieser Stelle vgl. Weber: [15] ecce tu pulcher es dilecte mi et decorus lectulus noster floridus [16] tigna domorum nostrarum cedrina laquearia nostra cypressina. 11 rex fehlt bei Weber.
Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’
251
Ich beswer euch tochter von ierusalem pei dem repocklein vnd pei den hirschen der feldt das ir nicht enwegt noch enwachen heist mein lieb vntz das sie selber wil [Bl. 3r] [8a] Ecce iste venit saliens in montibus transiliens colles12 Sich der kumpt springent in pergen vnder gendt di hubel [8b] Vox dilecti mei Die stim meinß lieben [9a] Similis est dilectus meus capree hijnuloque ceruorum Mein lieb ist geleich dem rechpocklin vnd dem kelblein der hirschen [9b] En ipse stat post parietem nostrum respiciens per fenestras prospiciens per cancellos Sich er stet nach vnser wand er sieht durch di venster er siecht durch die gattern. [10] En dilectus meus loquitur michi surge propera amica mea columba mea formosa mea et veni Sich mein lieb redt mir zu ste auf nahen dich mein freundin mein taube mein schone vnd cum [11] Iam enim yems transijt ymber abijt & recessit [12a] flores apparuerunt in terra nostra tempus putacionis advenit wan nu ist der winter vergangen der regen ist abgangen vnd ist hin di plumen haben sich erzeiget in vnserem ertrich dij zeit der schneidung ist kumen [12b] Vox turturis audita est in terra nostra Die stim der turkeltauben ist gehort worden in vnserem ertrich. [13a] Ficus protulit grossos suos Der feigenpaum hat pracht sein erscht frucht [13b] Vinee florentes odorem dederunt Dij pluenden weingarten haben geben iren ruch [Bl. 3v] [13c] Surge propera13 amica mea speciosa mea [14a] columba mea in foraminibus petre in caverna macerie Ste auf mein freundin mein wolgestalt mein taub in den holen des steinß in locheren der maurren [14b] Ostende michi faciem tuam sonet vox tua in auribus meis vox enim tua dulcis & facies tua decora Weiß mir dein antlitz dein stim ercling in mein oren wann dein stim ist suß vnd antlitz wolgezirt [15] Capite vobis volpeculas14 que demoliuntur vineas vinea enim nostra floruit Vaht evch di clein fuchslein di do verderben die weingartten wann vnser weingart hat verplvt [16] Dilectus mevs michi & ego illi qui pascitur inter lilia [17] donec aspiret dies & inclinentur vmbre15 12 Vgl. Weber: vox dilecti mei ecce iste venit saliens in montibus transiliens colles. 13 propera fehlt bei Weber und wird nicht übersetzt. 14 Weber: Capite nobis vulpes vulpes parvulas.
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John L. Flood
Mein lieb mir vnd ich im der do weidet vnter den lilgen vntz der tag aufget vnd sich die schaten neigen [Kapitel 3] [Die Überschrift Das 3. Capitel fehlt] [1] In lectulo meo per noctem quesiui quem diligit anima mea quesivi illum & non inveni. [2] surgam & circuibo ciuitatem per vicos & plateas queram quem diligit anima mea quesiui illum & non inveni. [3] invenerunt me vigiles qui custodiunt ciuitatem num quem dilexit anima mea vidistis. [4] paululum cum pertransissem eos inveni quem diligit anima mea tenui eum nec dimittam donec introducam illum in domum matris mee & in cubiculum genetricis mee [Bl. 4r] In meinem petlein pei der nacht hab ich gesucht den mein sele liebt ich sucht den vnd vandt sein nicht. Ich wil auff sten vnd wil in der stat vm geen durch dij straßen vnd gassen zu suchen den mein sel libt ich hab in gesucht vnd hab in nicht gefunden mich haben funden die wachter der stat habt ir den mein sele liebt gesehen Ein wenig als ich furpaß ging do fand ich den mein sele liebt ich hielt in vnd wil in nit lassen vntz ich in fure in das hauß meiner muter vnd in das schlaf gadem meiner gepererin [5] Adiuro vos filie ierusalem per capreas ceruosque camporum vt non suscitetis neque vigilare faciatis dilectum donec ipse volt16 Ich beswer euch ir tochter von iherusalem pei den rechpocklin vnd pei den hirßen der velde das ir nicht erweckent noch erwecken heist mein lieben piß er selber will [6] Que est ista que ascendit per desertum sicut virgula fumi ex aromatibus mirre & thuris & universi pulueris pigmentarij wer ist die dij do aufsteigt durch die pust17 als ein gertel des rauchs auß den wolgesmackten mirrenß vnd beirachs vnd aller puluer des appotekerß [7] En lectulum salomonis sexaginta fortes ambiunt ex fortissimis israhel [8] omnes tenentes gladios & ad bella doctissimi [Bl. 4v] vnivscuiusque ensis super femur suum propter timores nocturnos Secht das petlein salomonis haben sechczig starck vmberingt auß den aller stercksten von israhel die haben ir suert vnd zu streit aller past gelert vnd eins ygtlichen waffen auf seiner huf durch der nacht forcht [9] Ferculum fecit sibi rex salomon de lingnis[!] libani [10] columpnas eius18 argenteas reclinatorium aureum ascensum purpureum media caritate constravit propter filias iherusalem 15 Weber: umbrae revertere similis esto dilecte mi capreae aut hinulo cervorum super montes Bether. 16 Vgl. Weber: dilectam donec ipsa velit; 1466: vntz das sy selb wil. 17 pust < bust = wust ‘Wüste’. 18 Weber: columnas eius fecit argenteas. fecit fehlt hier im lateinischen Text, wird aber im Deutschen übersetzt.
Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’
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Ein essenhauß hat im gemacht konig salomon von libin holcz die seulen macht er silberin die lyen gulden der anfang von purpur das mitler gestraut mit lieb durch der tochter willen von iherusalem [11] Egredimini & videte filie sion regem salomonem in dijademate quo coronavit eum mater sua in die disponsionis illius & in die leticicie cordis eius Get auß ir tochter von sion vnd secht den konig salomon in seiner kron do mit jm gekront hat sein muter an dem tag seiner vermehelung vnd an dem tag der freuden seineß hertzen [Kapitel 4] Das vird Capitel [1a] Quam pulchra es amica mea quam pulchra19 oculi tui columbarum absque eo quod intrinsecus latet Wie schon pistu mein freundin wie schon pistu dein augen sind als der tauben on das das inbendig [Bl. 5r] verpergen ist [1b] Capilli tui sicut grex caprarum que ascenderunt de monte galaad [2] dentes tui sicut tonsarum diuum[!]20 que ascenderunt de lauacro omnes gemellis fetibus & sterilis non est in eis Das har ist hert als ein scar der geiß die auf sind gangen von dem perg galaad dein zen sind als die hert der geschoren schaf dij auß der wesch gen der zbifellig vnd der vnfruchtpar ist nicht vnter in [3a] Sicut vitta coccinea labia tua et eloquium tuum dulce Als ein rot seiden pint sind dein lebs vnd dein red ist suß [3b] Sicut fragmen mali punici ita gene tue absque eo quod intrinsecus latet Dein wangen sein als ein stuck das do gebrochen ist von einem roten volkurnigen apfel on das das jnwendig verborgen ist [4] Sicut turris david collum tuum que edificata est cum propugnaculis mille clipei pendent ex ea cum omni armatura forcium Dein hals ist als der thuren dauid der do gepaut ist mit tausent schilt hangent auß jm mit aller lei wopen der starcken [5] Duo vbera tua sicut duo hinnuli capree gemelli qui pascuntur in lilijs [6a] donec aspiret dies & inclinentur umbre [Bl. 5v] Dein zwei prus[t]lein sin als zwei repocklein die do zweiling sind die do weident vnter der lilien vncz das der tag auf get vnd die schatten siech21 neigen [6b] Vadam ad montem mirre & ad collem thuris Jch wird gen zu dem berg mirrenß vnd den puhel des weirachs [7] Tota pulchra es amica mea & macula non est in te Allent halben pistu schon mein freuntin vnd kein mol ader mackel22 ist in dir 19 Weber: quam pulchra es. es fehlt im lateinischen Text im Druck, wird aber im Deutschen übersetzt ( pistu). 20 ouium ‘Schafe’ als diuum verlesen? 21 Gemeint ist sich. 22 Vgl. 1466: der fleck.
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[8] Veni de libano sponsa veni de libano veni coronaberis. De capite amana de vertice saphiro & hermon de cubilibus leonum de montibus pardorum Kum praut von libano kum von libano kum du wirst gekront von dem haupt amana von der schwertel23 saphiro vnd hermon von den lochern der leben von den pergen der lepardeu[!]. [9] Wlnerasti cor meum meum[!] soror mea sponsa mea vlnerasti[!] cor meum in vno oculorum tuorum aut in vno crine oculi[!]24 tui Du host mein hercz verwunt mein schwester mein braut du host mein hercz verwunt mit einem deiner augen oder mit einem har deinß halß [10a] Quam pulchre mamme tue soror mea sponsa mea25 wie seuberlich sind dein prus[t]lein mein scwester mein praut [10b] Meliora sunt vbera tua26 vino & ungentorum odore27 [Bl. 6r] super omnia aromata Dein prustlein sein besser dan der wein vnd der rauch deiner salben vber alle leud wirczen [11] Fauus distillans labia tua mel28 & lac sub lingua tua & odor vestimentorum tuorum sicut odor thuris Honigsam hat betreift dein lebsen honig vnd milch ist vnter deiner zungen vnd der gesmack deiner kleider ist als rauch des weirachs [12] Ortus conclusus es soror mea sponsa Ortus conclusus fons signatus Ein beschlosener garten pistu swester mein praut ein besch[l]osener garten ein gezirter prun [13a] Emissiones tue parad[i]sus malorum punicorum cum pomorum fructibus Dein außlassenen sei ein paradiß der volkurnigen roten opfel mit aller obstes frucht [13b] Ciprus cum nardo [14a] nardus & crocus fistula & cinamonium cum vniuersis lignis libani Der ciper mit dem nardo nardus v[n]t saffran fistula cinomeij mit allem libanischen holcz [14b] Mirra & aloe cum omnibus primis ungentis mirre & aloe Mirre vnd aloe mit allen ersten salben des mirren vnd aloe [15] Fons ortorum puteus aquarum viuenciumque fluunt impetu de libano Ein prun der garten ein tumpfel der lebendichen was[Bl. 6v] ser die do flissen schnel von libano. [16] Surge aquilo & veni auster perfla ortum meum et fluent aromata illius Ste auf aquilo vn[d] kum auster durchwe meinen garten so werden flissen sein edel wurcze 23 24 25 26 27
Gemeint ist schaitel ‘Scheitel’. oculi ist Fehler für colli. Vgl. Weber. Das zweite mea fehlt Weber. Weber: pulchriora ubera tua. Weber: odor unguentorum tuorum. tuorum fehlt im Druck, wird aber im Deutschen übersetzt. 28 Weber: tua sponsa mel.
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[Kapitel 5] Das funft. Capitel [1a] Veniat dilectus meus in ortum suum & comedat fructus pomorum suorum Mein liber kum in seinen garten vnd eß der frucht seiner opfel [1b] Veni in ortum meum soror mea sponsa messui mirram meam cum aromatibus meis Ich bin in mein garten kummen swester mein pravt ich han gemeet meinen mirren mit edelen wurczen [1c] Comedi fauum cum melle meo bibi vinum29 cum lacte meo Ich hab gessen den saijm mit meinem honig vnd hab getruncken den wein mit meiner milch [1d] Comedite amici mei30 & inebriamini carissimi Essent mein freunt vnd trincket vnd werd truncken mein aller liebsten [2a] Ego dormio & cor meum vigilat Ich schlaff vnd mein hercz das wacht [2b] Vox dilecti mei pulsantis aperi michi soror mea vnica31 mea columba mea quia32 caput meum plenum est rore & cincinni guttis noctium Die stim meinß clopfendens[!] liben thu mir auf [Bl. 7r] mein schwester mein aynige mein taube mein vngemailigte wann mein haubt ist vol thaues vnd mein locke vol nacht tropffen [3] Expoliavi me tunica mea quomodo induar illa laui pedes meos quomodo maculabo33 illos Jch hab mich beraubt meinß rockes wie solich den wider anzihen ich hab gebaschen mein fuß wie solich die vnrein machen [4] Dilectus meus misit manum suam per foramen & contremuit venter meus contactum eius34 mein lieber hat gelassen sein hant durch einloch vnd mein pauch erpidempt von seinem angreiffen [5] Surrexi vt aperirem dilecto meo manus mee stillauerunt mirram & digiti mei pleni mirra probatissima Ich stund auf das ich auf thet meinem liben mein hend truffen mirren vnd mein finger warden vol aller bewertisten mirren [6a] Pessalum ostij mei aperui dilecto meo at ille declinauerat atque transierat Das schloß meiner thur hab ich aufgethan meinem liben do het er sich weg genaigt vnd was furgegangen 29 Weber: vinum meum. 30 Weber: comedite amici bibite. bibite fehlt im lateinischen Text, wird aber im Deutschen wiedergegeben. 31 Weber: amica. 32 Weber: columba mea inmaculata mea quia. inmaculata mea fehlt im lateinischen Text, wird aber im Deutschen wiedergegeben. 33 Weber: inquinabo. 34 Weber: et venter meus intremuit ad tactum eius.
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[6b] Anima mea liquefacta est ut dilectus locutus est quesiui et non inveni illum vocaui & non respondit mihi Mein sel ist worden flissend als mein lieb geret het ich sucht vnd fand sein nicht. ich ruft vnd [Bl. 7v] er antwort mir nicht [7] Invenerunt me custodes ciuitatis percusserunt et me vulnerauerunt me tulerunt pallium meum custodes murorum Mich funden die wechter der stat die schlugen mich vnd wuntten mich vnd die hutter der mauren namen mir meinen mantel. [8] Adiuro vos filie iherusalem si inveneritis dilectum meum annunctiate ei quia amore langueo ich beswer euch ir tochter von hierusalem ob ir vindt mein libenn thut im chundt das ich vor lieb siech [9] Qualis est dilectus tuus ex dilectione35 o pulcherima mulierum qualis est dilectus tuus ex dilecto quia sic adiurasti nos Wie gesijt ist dein liber auß der lieb o du schonste frauen wie ist gesijt dein liber auß dem geliebten das du uns also beswert hast [10] Dilectus meus candidus & rubicundus electus ex milibus Mein lieber ist weiß vnd rot erwelt auß tausenden [11] Caput eius aurum optimum come eius sicut elate palmarum nigre quasi coruus Sein haubt ist das aller peste gold sein schopf sein als die außgestossen palm vnd swarcz als der rab [12] Oculi eius sicut columbe super riuulos aquarum que lacte sunt lote & resident iuxta fluenta opulentissima Sein augen sein als einer tauben auß den vrsprungen [Bl. 8r] der wasser dy gewaschen sind mit milch vnd siczen pei den flissenden reichisten wassern. [13a] Gene illius sicut areole aromateque consite a pigmentarijs Sein wang sind als die perlein 36 der edlen burczlen die do gepelczt sein von dem apotecker [13b] Labia illius labia37 distillancia mirram Sein lebssen sind lilgen die triffen den mirrenn [14a] Manus eius tornatiles auree plene iacinctis Sein hende sein gedret vnd sein gulden vol iackten [14b] Venter eius eburneus distinctus saphiris Sein pauch ist helfenpeinen vmgebn mit saphiren [15a] Crura eius columpne marmoree que fundate sunt super bases aureas Sein pein sind marblein seul die do gesacz sein auf guldein basennaderigrunt[!]38 feesten 35 36 37 38
Weber: ex dilecto. perlein ist wohl Druckfehler für petlein. Druckfehler labia statt lilia. Im deutschen Text richtig. Gemeint ist wohl basen ader grunt. Das i, im Original auf den Kopf gestellt, dürfte Druckfehler für ein Spatium sein.
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[15b] Species eius vt libani electus ut cedri Sein gestalt als liban erbelt als der cederpaum. [16a] Guttur enim suauissimum & totus desiderabilis Sein kel ist allersust vnd ist alczemal begirlich [16b] Talis est dilectus meus & ipse est amicus meus filie iherusalem So getan ist mein liber vnd er ist mein freund von dochter iherusalem [17] Quo abijt dilectus tuus o pulcerima mulierum quo declinanit[!] dilectus tuus & queremus eum tecum Wo ist hin gangen dein liber o du schonste der [Bl. 8v] weiber wo hat sich hin geneigt dein liber vnd wir suchen in mit dir. [Kapitel 6] Das ist das sechst. Capitel [1] Dilectus meus descendit in ortum suum ad areolam aromatum vt pascatur in ortis & lilia colligat Mein lieb ist nider gangen in sein garten czu de¯ petlein der edlen wurczen das er waid im garten vnd das er ab nem dij lilgen39 [2] Ego dilecto meo & dilectus meus michi qui pascitur inter lilia Ich meim liben vnd mein liber mir der geweidet wirt vnter den lilgen40 [3] Pulchra es amica mea suavis & decora sicut ierusalem terribilis ut castrorum acies ordinata Schon pistu mein freundin suß vnd wolgeschikte tochter von iherusalem forchsam als eingeordente spicz der schlosser kegen den feinden41 [4a] Averte oculos tuos a me quia ipsi me avolare fecerunt wend dein augen von mir sie haben mich weck fliegen gemacht. [4b] capilli tui sicut grex caprarum que apparuerunt de galaad Dein hor als di schar der geiß di von galaad erschinen ist.42 [5] Dentes tui sicut greges ouium que ascenderunt de lavacro Omnis gemellis fetibus & sterilis non est in eis Dein czen sein als die herd der schoff di auß de¯ wasser gestigen sein der czwilig vnd vnfrucht[Bl. 9r]bar ist nit vnter in [6] Sic cortex malipunici sic gene tue absque occultis tuis Als di schelff deß czeitigen apfleß also sein dein wangen an dein verborgen czir43 39 Vgl. 1466: Mein lieber ist abgestigen in seinen garten zu˚ dem betlein der aromathen: das er werd gefurt in den garten; vnd lese die liligen. 40 Vgl. 1466: Ich bin meim lieben: vnd mein lieber der ist mir: der do wirt gefurt vnter den liligen. Pflanzmann 1475/81: gefu˚rt oder geweidtnot; Zainer 1477: wirt geweydet 41 Vgl. 1466: Mein freundin du bist schön: senfft vnd geziert als jherusalem: vorcht sam als die geordenten geselschafft der herbergen. Pflanzmann 1475/81: geselschafften; Zainer 1477: geordent ritterschar der gschloß; Koberger 1483: spitz der geschloß geordent. 42 Vgl. 1466: Dein locke seint als die herte der rechgaissen: die do derscheinent von galaad. Pflanzmann 1475/81: rechgeiß. 43 Vgl. 1466: Dein hu´flein (Zainer 1477: bäcklin) seint alz die rinde (Koberger 1483: schelff) des rotten appfels on deine augen.
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[7] Sexaginta sunt regine44 octuaginta[!] concubine & adolescentularum non est numerus Sechsczig sind der kunigin vnd achtzig schlaffrauen vnd der iungen maidlein ist an czal45 [8a] Vna est columba mea perfecta mea una matris sue electa genetricis sue Ain ist mein taub mein volkumene eine ist irer muter auserwelt irer gepererin. [8b] Viderunt eam filie sion46 & beatissimam predicauerunt regine et concubine laudauerunt eam Die tochter von sion sahen sie vnd predigten die königin vnd die schlaffrauen47 lobten sie. [9] Que est ista que progreditur sicut aurora consurgens pulchra vt luna electa vt sol terribilis vt castrorum acies ordinata wer ist di die do aufget als di morgen rot di do aufsteigt schon als der mon auserwelt als die son forchtsam als ein geordente spicz der streiter48 [10] Descendi in ortum nucum vt viderem poma convallium & inspicerem si floruissent vinea & germinassent malapunica Ich ging nider in den nußgarten das ich sehe das obß des tals vnd das ich ansehe ob di wein [Bl. 9v] garten hetten geplut vnd außhetten gebrochen die volkurnigen roten apfelpavm49 [11] Nesciui anima mea conturbat me propter quadrigas aminadab Ich west sein nicht mein sele betrubet mich vmb die wagen aminadab [12] Reuertere reuerter sunamitis revertere revertere vt intuamur te Ker wider ker wider suse tochter ker wider das wir dich anschawen50 [Kapitel 7] Das sibend Capitel [1a] Quid videbitis in sunamite nisi choros castrorum Nu was werdt ir sehen in sunamiten nwr di chor der striter [1b] Qvam pulcri sunt gressus tui in calciamentis filia principis Wi schon sind dein geng in dein schuen des fursten tochter [1c] Iunctura femorum tuorum sunt monilia que synt fabricata manu artificis Di glenck deiner huf sein als di vorsprung mit meisters hant gescmid sein 44 Weber: reginae et. 45 Vgl. 1466: Der kunigin waren lx: vnd der kebsweib lxxx: vnd der iunglingin was nit zal. Pflanzmann 1475/81: iungling; Zainer 1477: iungen töchtern. 46 Sion fehlt bei Weber. 47 1466: kebsweiber. 48 Vgl. 1466: Wer ist die die do furget als der morgen rot aufsteigent: schön als die menin der welt als der sunn derschrockenlich als die geordenten geselschafft der herbergen? Zainer 1477: die morgenröt; der mon; die sunne; geordenten ritterschafft der geschloß. Koberger 1483: spitz der geschloß geordent. 49 Vgl. 1466: Ich staig ab in meinen garten daz ich sech die öpffel der teler: das ich schaute ob der weingart het geblu´et: vnd die rotten öpffel hetten gekeimt. Zainer 1477: gegronet. 50 Vgl. 1466: kere wider ker wider sunamit: kere wider ker wider das wir dich schauen (Zainer 1477: anschauwen ).
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[2a] Vmbilicus tuus crater tornatilis numquam indigens poculis Dein nabel ist als ein gedreter becher der nimmer trancks durßtig wirt [2b] Venter tuus aceruus tritici vallatus lilijs Dein pauch ist ein hauf weiczs besteckt mit lilgen [3] Duo vbera sicut duo hijnnuli gemelli capree Dein prustlein sein als czwei czweiling [Bl. 10r] rechpocklein sein [4a] Collum tuum sicut thurris eburnea Dein hals ist als ein helffen peiner thurn. [4b] Oculi tui sicut piscine in esebon que sunt in porta filie multitudinis Dein augen sein als di weijer in esebon di do sten an porten der tochter der menng [4c] Nasus tuus sicut thurris libani que respicit contra damascum Dein naß ist als der libaniß thuren der do ist gepaut gegen dem damasco [5] Caput tuum sicut carmelus & come capitis tui vt purpura regis iuncta51 canalibus Dein haupt ist als der carmel vnd dij lock deines haupts als ein purper kleid des konigs der zu gefugt ist den rinnen [6] Qvam pulchra es & decora carissima in delicijs wie schon pistu vnd wolgezird mein allerliebste in deinen wollusten [7] Statura tua assimilata est palme & vbera tua botris Dein leng ist geleicht dem palm paum vnd dein prust den weintrauben [8] Dixi ascendam in palmam adprehendam fructus eius & erunt vbera tua sicut botri vinee & odor oris tui sicut malorum Ich hab gesprochen ich wird steigen in palmenpa[u]m vnd wird begreifen sein frucht vnd dein prust [Bl. 10v] sein als di trauben des weingarten vnd der geschmack deineß mundes als der ruch der opfell [9] Odor oris tui sicut malorum52 guttur tuum sicut vinum optimum dignum dilecto meo ad potandum & labijs et dentibus ad ruminandum Der gesmack deines mundes als der apfel dein kel ist als der aller pest wein der do wirdig ist meinem lib zetrincken vnd sein lefzen vnd zenen zu ander weide zukauen [10] Ego dilecto meo & ad me conuersio eius Jch meinem lib vnd zu mir sein kerung [11] Veni dilecte mi egrediamur in agrum commoremur in villis [12a] mane surgamus ad vineas videamus si floruerint mala punica53 Kum mein lib gee wie auß in den acker wonen wir in den dorffern frv steen wir vf vnd geen in den weingarten sehen wir ob di geplut haben ob di plumen frucht haben gepert ob sie geplut haben die roten volkurnigen opfel 51 Weber: vincta. 52 Odor . . . malorum aus Vers 8 wiederholt, ein Fehler, der auf die Vorlage zurückgehen dürfte. 53 Weber: videamus si floruit vinea si flores fructus parturiunt si floruerunt mala punica.
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[12b] Ibi dabo tibi o sponsa vbera mea Do wird ich dir geben o praut mein prust [13] Mandragore dederunt odorem in portis nostris omnia poma nova & vetera seruaui tibi dilecte mi Mandragora hat geben iren schmack in vnsern porten allerlei obs alt vnd junck hab ich dir behalten mein lieb [Kapitel 8] Das acht Capitell. [Bl. 11r] [1] Qvis michi det te fratrem meum sugentem vbera matris mee vt inveniam te foris & osculer iam nemo me despiciat wer gib dich mir mein pruder der do saugt di prust meiner muter das ich dich außwendick find vnd dich kusse vnd das mich iczunt nimand verschmehe [2a] Apprehendam te & ducam te in domum matris mee & in cubiculum genitricis mei ibi me docebis precepta domini54 Ich wird dich begreiffen vnd dich furen in das hauß meiner muter vnd in das schlof gadem meiner gepererin do wirstu mich lernen di gepot55 des heren [2b] Et dabo tibi potum ex vino condito & musto malorum granatorum meorum Vnd ich wird dir geben ein getranck von geburcztem56 wein vnd mit mosten roten wein volkurnigen mit margram opfel gemischt57 [3] Leva eius sub capite meo & dextera eius amplexabitur me Sein linck hant ist vnter meinem haupt vnd sein rechte hant vmb fecht mich [4] Adiuro vos filie iherusalem vt ne suscitetis neque euigilare faciatis dilectam meam donec ipsa velit Ich beschwer euch ir tochter von iherusalem das ir nicht enwachen heist mein lib vncz si selber will [5a] Qve est ista que ascendit de deserto affluens delicijs & innixa super dilectum suum Wer ist di die do auf steiget von der wust [Bl. 11v] hinflisend von wollust vnd geneigt auf iren liben [5b] Sub arbore malo sustentaui te ibi corrupta est mater tua inviolata est genitrix tua Vnter einem apfelpaum hab ich dein gewart do ist gemailigt dein muter do ist beraupt58 dein gepererin [6a] Pone me vt signaculum supra cor tuum vt signaculum supra brachium tuum quia fortis est vt mors dilectio dura vt infernus59 54 precepta domini fehlt Weber. Es handelt sich um einen Zusatz Willirams, den dieser offenbar aus einer Antiphon übernahm, s. den Beitrag von Niels Bohnert in diesem Band, S. 216. 55 Unklar im Druck. Eventuell gepet, aber gepot wäre richtig für lat. precepta. 56 D. h. ‘gewürztem’. 57 vnd . . . gemischt. Auffällig ist, wie stark der deutsche Text hier von der lateinischen Vorlage abweicht. 58 beraupt ist ja das Gegenteil von inviolata. Dazu s. unten. 59 Weber: inferus aemulatio.
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Leg mich als ein zeichen auff dein hercz als ein zeichen auf dein arm wan di lib ist starck als der tod hert als die hell. [6b] Lampades eius lampades ignis atque flammarum Jr lampen seind lampen des feurs vnd der flammen [7a] Aque multe non poterunt extinguere caritatem nec flamma60 obruat illam Vil wasser mochten nit erleschen di lib noch di fluß verrinnen sie [7b] Si dederit homo omnem substanciam domus sue pro dilectione quasi nichil despiciet eam Ob ein mensch all hab seinß hauß geb vmb lib die versmecht sie als nichtz [8] Soror nostra parua & ubera non habet quid faciemus ei in die quando est ad loquenda [9] si murus est edificemus super eam propugnacula argentea si hostium est conpingamus illud tabulis cedrinis Vnser swester ist clein vnd hat nit prust was sol wir ir thun. an dem tag irs czusprechene [Bl. 12r] ist sie ein maur so pau wir auff sie silberen erker ist si ein thur so bedeck wir di mit cedrin pretern [10] Ego murus & vbera mea sicut turris ex quo facta sum coram eo quasi pacem reperiens Ich pin ein maur vnd mein prust als ein thurn dorumb pin ich worden vor im als ich frid funden hab [11a] Vinea fuit pacifica in ea que habet populos Der weingart was fritsam als der do volck hat [11b] Tradidit eam custodibus Er enfalh in den hutteren. [11c] Vir affert pro fructu illius mille argenteos Ein man pringt fur sein frucht tausent silberen pfennig [12a] Vinea mea coram me est Mein weingart ist vor mir. [12b] Mille tui pacifici & ducenti hijs qui custodiunt fructus eius Di dich befriden der seind tausent vnd zueihundert di do behvten sein frucht [13] Qve habitas in ortis amici tui auscultant te fac audire vocem tuam Di du wonest indem garten deineß freundes sie heijschent dich laß horen dein stym [14] Fuge dilecte mi et assimilare capree hijnnuloque ceruorum61 supra montes aromatum fleuhe mein lib vnd piß gleich dem rechpocklein aufe den pergen der edelen burczen.62 finis Auf Bl. 12 v steht nur das bereits zitierte Kolophon.
60 Fehler für flumina, vgl. Weber. 61 hijnnuloque ceruorum wird im Deutschen nicht übersetzt, möglicherweise wegen Platzmangels in der letzten Zeile des Blattes. 62 Wiederum b für w.
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Bemerkungen zum Text Der lateinische Text in unserem Druck weist mehrere Fehler auf. Auch weicht der deutsche Text an manchen Stellen vom Lateinischen ab. Wir beschränken uns hier auf folgende Beispiele: 1,10 faciemus ist wohl aus Versehen ausgelassen worden. 4,2 dentes tui sicut tonsarum diuum, mit dein zen sint als die hert der geschoren schaf übersetzt, müsste vermutlich eigentlich dentes tui sicut grex (bzw. greges) tonsarum ouium lauten. 4,9 schreibt der Setzer in uno crine oculi tui statt in uno crine colli tui, wohl durch das vorhergehende in uno oculorum tuorum irregeführt. Der deutsche Text bringt das Richtige: mit einem har deinß halß. 4,10b tuorum fehlt im lateinischen Text, wird aber im Deutschen wiedergegeben: mit deiner salben. 5,1d bibite fehlt im lateinischen Text, wird aber im Deutschen wiedergegeben: trincket. 5,2b Wohl irregeführt durch die Reihung . . . mea . . . mea hat der Setzer die Worte immaculata mea ausgelassen; die deutsche Entsprechung, vngemailigte, ist aber vorhanden. 5,13b Labia illius labia ist sicher Druckfehler für Labia illius lilia – der deutsche Text hat das Richtige: Sein lebssen sind lilgen. 7,2a Im Druck steht durßtig, obwohl durftig (= indigens) richtiger wäre. 7,11 si floruit vinea si flores fructus parturiunt si floruerunt mala punica – hier glitt wohl das Auge des Setzers vom ersten si zum dritten, was zur Auslassung der Worte floruit . . . parturiunt führte. Die entsprechende Stelle im deutschen Text ist korrekt. 8,7a flamma obruat ist Druckfehler für flumina obruent, wohl zurückzuführen auf flammarum in 8,6b. Der deutsche Text hat das Richtige: die fluß verrinnen sie.
Wie es scheint, wurde der deutsche Text nicht nach dem lateinischen Text, wie er hier vorliegt, übersetzt, sondern nach einer korrekteren Vorlage. Woher stammt diese Übersetzung? Angesichts der vermuteten Herkunft des Drucks aus dem Raum Nürnberg bzw. Augsburg läge es eigentlich nahe, zunächst an eine Verwandtschaft mit den ersten deutschen Bibeldrucken zu denken. Bis zum Erscheinungsjahr des ‘Cantica canticorum’-Druckes war die deutsche Bibel ja bereits siebenmal gedruckt worden, und zwar auch schon einmal in Nürnberg und gar viermal in Augsburg: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Straßburg: J. Mentelin 1466 (GW 4295) Straßburg: H. Eggestein [vor 1470] (GW 4296) Augsburg: G. Zainer [um 1475] (GW 4298) Augsburg: J. Pflanzmann [um 1475] (GW 4297) Nürnberg: J. Sensenschmidt [1476–78] (GW 4299) Augsburg: G. Zainer 1477 (GW 4300) Augsburg: A. Sorg 1477 (GW 4301)
Doch schon ein oberflächlicher Vergleich der ersten Verse (Kap. 1, 1– 4) aus der Übersetzung des Hohen Liedes mit der entsprechenden Partie in den Bibel-
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drucken zeigt, dass sie unmöglich auf diese zurückgehen kann. Bezeichnende Unterschiede sind hier kursiv hervorgehoben. 1. dt. Bibel63 Er kust mich mit dem kusse seines mundes. Wann dein bru´st seint besser denn der wein: wolschmeckend denn die besten salben. Dein name ist ein aus gegossens öl: dorumb die iunglingin hetten dich lieb. Zeuch mich nach dir. Wir lauffen in dem geschmacke deiner salben. Der kunig furt mich in seinen keller. Wir frewen vns vnd werden erfrewet in dir: wir gedencken deiner bru´ste vber den wein, Die gerechten haben dich lieb. Ich bin swarz wann wol gebildet tochter jherusalem als die tabernackel cedar: als die fele salomons.
Cantica canticorum 1479 Er kuß mich mit dem kuß seinß mundes wan dein prust sein pesser dan wein paß richent dan dij pesseren salben. Ein außgegossen oll ist dein nam dorvmb haben di iungen meidlin lieb gehabt dich. Zeuhe mich nach dir so lauffen wir in den ruch deiner salben. Der kunig furt mich in sein keler wir warden vns frolocken vnd frewen in dir wir gedencken deiner prust vber den wein die gerechten haben dich lieb. Swarcz pin ich vnd doch seuberlich ir tochter von ierosalem als die zelt zedar als die haut salemonis.
Der Druck von 1479 hält sich oft besonders eng an den Wortlaut und die Wortfolge der lateinischen Vorlage, während die 1. deutsche Bibel stärker abweicht, vgl. 1,2 Oleum effusum nomen tuum : Ein außgegossen oll ist dein nam, gegenüber: Dein name ist ein aus gegossens öl in der Bibelübersetzung, und 1,4 Nigra sum sed formosa : Swarcz pin ich vnd doch seuberlich gegenüber: Ich bin swarz wann wol gebildet in der Bibelübersetzung. Interessant sind allenfalls vereinzelte Übereinstimmungen einzelner Bibeldrucke mit dem Hohelied-Druck, z. B. 1,2 iungen meidlin mit iungen meide in Pflanzmanns Bibelausgabe statt iunglingen bei Mentelin, und 6,6 schelff zusammen mit Koberger 1483 gegenüber rinde bei Mentelin. Einige weitere Beispiele wurden oben in den Anmerkungen notiert. Beim Druck von 1479 handelt es sich also offenbar um eine Übersetzung, die von der Fassung in den gedruckten Bibeln unabhängig ist. Manchmal steht sie näher zum Vulgata-Text als die Bibeldrucke, z. B. 6,2 pascitur mit geweidet (statt mit gefurt bei Mentelin) und 6,10, wo ortum nucum mit nußgarten (statt mit garten bei Mentelin) wiedergegeben wird. Der Hohelied-Druck geht offenbar auf einen Vulgata-Text zurück, der von der für die Bibeldrucke verwendeten Rezension abwich, denn 6,6 liest er absque occultis tuis und an dein vorborge¯ czir, während die deutschen Bibeln on deine augen lesen, was auf eine Herkunft aus einer Gruppe von Textzeugen mit der Lesart absque oculis tuis statt absque occultis tuis hinweist.64 63 Text nach Kurrelmeyer [Anm. 5], Bd. 8, S. 117. 64 Nach Webers Apparat haben die Fassungen CAZbk die Lesart oculis statt occultis. Laut Heimo Reinitzer, 2VL , Bd. 6, Sp. 1276 ff., geht Mentelins Text auf eine Übersetzung des 14. Jahrhunderts zurück, der eine spanische Vulgata-Rezension zugrundelag.
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Die Hohelied-Übersetzung ist also mit dem Text der ersten deutschen Bibeldrucke nicht verwandt. Aber wo kommt sie her? Naheliegend ist der Gedanke, sie könnte mit einer Übersetzung verwandt sein, die in vielen Handschriften überliefert ist. Die älteste Handschrift, welche einen zweisprachigen Hohelied-Text (lateinisch-deutsch abschnittsweise abwechselnd) enthält, dürfte Prag, Sta´tni knihovna, Cod. Osek 18, Bl. 126r –159v, aus dem 14. Jahrhundert sein.65 Darüber hinaus sind ca. 18 weitere Handschriften, fast alle aus dem 15. Jahrhundert, bekannt. Diese sind größtenteils in Österreich erhalten und sämtlich im bairisch-österreichischen Dialekt abgefasst.66 Aus diesem Raum dürfte auch unsere Übersetzung stammen, obwohl ihr Sprachstand hie und da auch gewisse Merkmale der Augsburger (schwäbischen) bzw. Nürnberger (fränkischen) Druckersprache aufweist. Besonders auffällig sind die Schreibungen mit b bzw. p statt w: geburmelt (1,10), pust ‘Wüste’ (3,6), beirachs ‘Weihrauch’ (3,6), inbendig (4,1a), zbifellig (4,1b), leben ‘Löwen’ (4,8), gebaschen ‘gewaschen’ (5,3), erbelt ‘erwählt’ (5,15b), geburcztem ‘gewürztem’ (8,2b). Hinzu kommen Schreibungen mit cz- (czu, czeilen, kurczen), die Unterscheidung von ai/ei (aus Mhd. ei) (vnterschaid, heiligen) und ei (aus Mhd. ıˆ ) usw. Als Erste hat Bartelmez 1972 in ihrer Arbeit über Willirams von Ebersberg Paraphrase des Hohen Liedes auf diese Handschriften aufmerksam gemacht.67 Ein Charakteristikum dieser Handschriftengruppe ist, dass der Passus 6,4b-6,7 fehlt (wohl weil diese Verse teilweise eine Wiederholung von 4,1b– 4,5 sind).68 In unserem Text von 1479 ist der betreffende Passus unversehrt geblieben, und schon deshalb dürfte er schwerlich mit den von Schmid verzeichneten, handschriftlich überlieferten Fassungen direkt verwandt sein, obwohl er vereinzelte Lesarten mit diesen teilt. Auffallend ist z. B. 4,1b, wo die Vulgata-Stelle capilli tui sicut greges caprarum mit Das har ist hert als ein scar der geiß übersetzt wird, was zu vergleichen wäre mit der entsprechenden Stelle in der Handschrift Graz 65 Siehe dazu jetzt den Beitrag von Niels Bohnert in diesem Band. 66 Dreizehn dieser Handschriften verzeichnet Hans-Ulrich Schmid, Eine spätmittelalterliche Übersetzung des Hohen Liedes, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter (1100–1500). Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 199–208. Weitere erwähnt Gisela Kornrumpf, Salomonische Schriften (deutsch), B. ‘Cantica Canticorum’, in: 2VL , Bd. 11, Sp. 1364– 1367, hier Sp. 1365. 67 Erminnie Hollis Bartelmez, Willirams Text of the Song of Solomon and its Distribution, in: Manuscripta, 16 (1972). S. 165–168. Schmid [Anm. 66], S. 199–201, teilt Bartelmez’ Urteil, dass der lateinische Text in den Handschriften auf Williram beruht, zeigt aber zugleich, dass der deutsche Text keineswegs auf dessen Übersetzung zurückgeht. 68 Laut Schmid [Anm. 66], S. 199, fehlt dieser Passus in allen Handschriften bis auf Graz Ms. 1132 (Ende 14. Jh.) aus dem Zisterzienserstift Neuberg. (Auch Williram ließ ihn fort.) Schmid zufolge hat der Schreiber von Graz Ms. 1132 die Auslassung bemerkt und den fehlenden Passus nach einer anderen Quelle ergänzt, wobei er mehr Text hinzufügte, als ursprünglich gefehlt hatte. Der lateinische Text im Druck von 1479 stimmt mit Webers Vulgata-Text überein.
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969 (aus Seckau in der Steiermark): dein har ist hert als der geys und besonders mit den Handschriften München BSB Cgm 5377 (unbekannter Herkunft) und München BSB Clm 12723 (aus Ranshofen bei Braunau): dein har ist hert als ein schar der gaiß. Wie Schmid ([Anm. 66], S. 204) erkennt, beruht dieser Fehler auf der Homophonie von hert ‘Herde’ und hert ‘hart’. Ebenfalls interessant ist die Übersetzung von Vers 4,16 Surge aquilo & veni auster perfla ortum meum et fluent aromata illius. Im Druck von 1479 hat der Übersetzer aquilo ‘Nordwind’ und auster ‘Südwind’ stehen lassen: Ste auf aquilo vn[d] kum auster durchwe meinen garten so werden flissen sein edel wurcze.69 Die Handschrift München BSB Clm 12723 übernimmt aquilo, bietet aber nichts für auster; die Handschrift München BSB Cgm 5377 lässt an beiden Stellen Spatien frei. Die anderen Handschriften bringen stattdessen deutsche Bezeichnungen.70 Bei meinen allerersten Überlegungen zu diesem Text hatte ich auf einige bemerkenswerte gemeinsame Lesarten des Drucks von 1479 und der Handschrift Cod. 52, Bl. 381v –388r, der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden, einer im Jahre 1469 geschriebenen ripuarischen Handschrift aufmerksam gemacht.71 Inzwischen hat Gisela Kornrumpf dankenswerterweise meine Aufmerksamkeit auf die Handschrift Wien ÖNB Cod. 2907 (um 1400) gelenkt, in der sich auf Bl. 85rb –89va eine zweisprachige HoheliedÜbersetzung findet, und zwar eine ganz in der Art des Drucks, also abschnittweise abwechselnd Lateinisch und Deutsch, nur mit dem Unterschied, dass der Schreiber für die lateinischen Textpartien eine andere, wesentlich größere Schriftart als für den deutschen Text verwendet hat. Wie in den meisten von Schmid verzeichneten Handschriften fehlen auch hier die Verse 6,4b- 6,7. Ohne lang und breit hier darauf einzugehen, wollen wir hier festhalten, dass diese Handschrift unleugbare Anzeichen einer nahen Verwandtschaft mit der Fassung der Übersetzung in unserem Druck aufweist, wenn sie beginnt (Kap. 1, 1– 4): Er chust mich mit dem chus seins munds wan dein prust sind pesser den der wein pas e richende den die pesten salben, dein nam ist ein ausgossens ol darvmb haben dich lieb gehabt di jungen maidlein. czeuch mich nach dir so werden wir lauffen in den rukch deiner salben. Der kunig furt mich in sein keller wir werden uns frewen vnd geniasen in dir wa¯n wir gedenken deiner prust vber den wein die gerechten haben dich lieb. Swarcz 69 aquilo und auster stehen auch in der Prager Handschrift I.C.15 (s. dazu den Stellenkommentar bei Bohnert [Anm. 65]). 70 Einzelheiten dazu bei Schmid [Anm. 66], S. 204. 71 Flood [Anm. 3]. Zu dieser Handschrift s. Kornrumpf [Anm. 66], Sp. 1365. Die Übersetzung war Kurt Ruh, 2VL , Bd. 4, Sp. 88, bekannt. Eine Beschreibung von Wiesbaden Cod. 52 bietet Gottfried Zedler, Die Handschriften der Nassauischen Landesbibliothek zu Wiesbaden (63. Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen), Leipzig 1931, S. 63– 64. Auf das Hohe Lied folgt Bl. 388r –389r der Anfang einer deutschen Bearbeitung eines niederländischen Kommentars dazu. Die Handschrift wurde vff sent Paulinus Dach M cccc lxix, also offenbar am 31. August 1469, dem Festtag von St. Paulinus, Bischof von Trier (gest. 358) vollendet; sie stammte aus dem Zisterzienserkloster Schönau (bei Gemünden in Bayern), kann aber schon aus sprachlichen Gründen dort nicht geschrieben worden sein.
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pin ich vnd doch sewberleich tochter von ierusalem als die geczelt cedar als die hawt Salemonis.
Wie der Vergleich mit der entsprechenden Stelle im Druck von 1479 zeigt, teilen Handschrift und Druck folgende bezeichnende Lesarten: pas richende / paß richent (gegen wolschmeckend in Mentelins deutscher Bibel), iungen maidlein / iungen maidlin (gegen iunglingin), rukch / ruch (gegen geschmacke), Swarcz pin ich vnd doch sewberleich / Swarcz pin ich vnd doch seuberlich (gegen Ich bin swarz wann wol gebildet), geczelt / zelt (gegen tabernackel), und hawt Salemonis / haut salemonis (gegen fele salomons). Ein weiterer naher Verwandter der Wiener Handschrift und unseres Druckes ist offenbar Cod. II.1.2° 18 des Benediktinerklosters St. Mang in Füssen, auf den Christoph Roth aufmerksam gemacht hat. Bei dieser Handschrift handelt es sich um das Hohe Lied in Latein und Deutsch, zusammen mit einer lateinischen Auslegung. Nach Roths Darstellung beginnt der Text so:72 Her chy¨sse mich mit ky¨sse sey¨nes mundes wenne deyne bruste sint pesser denne vey¨n baz richende den dy¨e pesten salben dey¨n name ist aus gegossen ol dar vmme haben dich liep gehabt dy¨e iungen maydeley¨n oder dirndleyn. Czeuch mich noch dir so werde wir lauffen in dey¨n ruche deyner salben. Der kunich uvrte mich in seyne kelre [. . .] Wenne wir gedenken deyner bruste vber den wey¨n dy¨ gerechten haben dych liep. Swarcz py¨n ich vnd doch seuberlich ir tochter von ierusalem als dy¨ geczelt cedar alz dy¨ haut salomonis.
Die Nähe der Wiener Handschrift Cod. 2907 zum Druck von 1479 ersieht man besonders deutlich, wenn man einige Lesarten aus Kap. 6 in der Vulgata, in der Wiesbadener Handschrift, im Hohelied-Druck von 1479 und in der MentelinBibel von 1466 nebeneinander stellt.73 Die wichtigsten Überschneidungen gebe ich im Fettdruck, die stärkeren Abweichungen sind unterstrichen. 6,1 Dilectus meus descendit in ortum suum ad areolam aromatum [. . .] Wiesb. 52: [M]yn lyeff ys nyder gegangen yn synen bongarten zo den betten syner edeler cruder [. . .] Wien 2907: Mein lieb ist nider gegangen in sein garten czu dem pettlein der edlen wurczen [. . .] 1479: Mein lieb ist nider gangen in sein garten czu de¯ petlein der edlen wurczen [. . .] 1466: Mein lieber ist abgestigen in seinen garten zu˚ dem betlein der aromathen [. . .] 6,4 averte oculos tuos a me quia ipsi me avolare fecerunt [. . .] Wiesb. 52: kere abe dyne augen van myr want sy haynt mich wech vliegende gemacht [. . .] Wien 2907: Wendt dein auge von mir we¯n si haben mich abfliegnd gemachet 1479: wend dein augen von mir sie haben mich weck fliegen gemacht [. . .] 1466: Kere dein augen von mir: wann sy machen mich hin zu˚ fliegen. [. . .] 6,7 Sexaginta sunt regine octuaginta concubine & adolescentularum non est numerus Wiesb. 52: Seszich synt der konyngynnen vnd achtzich der amye¯ der ionger megdegen en is keyner74 zale Wien 2907: Sechczik sind der künigin vnd achczik slaf frawen vnd der jungen maidlein ist an czal 1479: Sechsczig sind der kunigin vnd achtzig schlaffrauen vnd der iungen maidlein ist an czal. 1466: Der kunigin waren lx: vnd der kebsweib lxxx: vnd der iunglingin was nit zal.
72 Christoph Roth, Ein deutsches Hohes Lied im Kontext mittelalterlicher Hoheliedstudien im Benediktinerkloster St. Mang zu Füssen, in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, hg. von Horst Brunner und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 191–210, hier S. 192–193. 73 Die Lesarten der Füssener Handschrift konnten hier nicht verglichen werden, weil Roth nur den Text von Kap. 1 und 7 mitgeteilt hat. 74 Oder vielleicht keyne, mit durchgestrichenem r.
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6,9 Que est ista que progreditur sicut aurora consurgens pulchra vt luna electa vt sol terribilis vt castrorum acies ordinata Wiesb. 52: Wer is der dar zo komet als die dagerait die da vff clymet schone als de maene vsserkoren als dye sonne vntsyenlich als eyne geordinyerde schar der stryder Wien 2907: Wer ist di da aufgat als die morgeröt di da auf steigt schon als der man awserwelt als die sunne frayssam als ein gespiczte spicz [?] der streytter 1479: wer ist di die do aufget als di morgen rot di do aufsteigt schon als der mon auserwelt als die son forchtsam als ein geordente spicz der streiter 1466: Wer ist die die do furget als der morgen rot aufsteigent: schön als die menin der welt als der sunn derschrockenlich als die geordenten geselschafft der herbergen?
Besonders interessant ist in unserem Hohelied-Druck und in einigen der Handschriften die Stelle 8,5b, die in der Vulgata (nach Weber) so lautet: sub arbore malo suscitavi te ibi corrupta est mater tua ibi violata est genetrix tua. Im lateinischen Text des Druckes heißt es dagegen: Sub arbore malo sustentaui te ibi corrupta est mater tua inviolata est genitrix tua, und im Deutschen: Vnter einem apfelpaum hab ich dein gewart do ist gemailigt [= corrupta] dein muter do ist beraupt [= violata, nicht inviolata!] dein gepererin. Der deutsche Text mit gemailigt und beraupt entspricht also durchaus der eigentlichen Vulgata-Fassung mit corrupta und violata. Damit zu vergleichen ist die Handschrift Graz 1132, wo es heißt: sub arbore malo suscitavi te incorrupta est mater tua inviolata est genetrix tua (also genau das Gegenteil von dem, was in Webers Vulgata-Text steht). Im deutschen Text in der Grazer Handschrift wird incorrupta mit unverderbet wiedergegeben, inviolata jedoch mit genatczoget, was der VulgataLesart violata entspricht. In der vorhin erwähnten Wiener Handschrift Cod. 2907 finden wir an dieser Stelle folgende Wortentsprechungen: incorrupta und ibi violata, vnverderbt und genotczoget. Wir sehen also, wie die jeweiligen Schreiber sich bei der Begegnung mit dem vielleicht auch etwas heiklen Inhalt der ohnehin schwierigen Stelle nicht ganz zurechtgefunden haben. So interessant diese Übereinstimmungen und textlichen Beziehungen auch sein mögen, zeigt es sich, dass die Überschneidungen mit den genannten Grazer, Münchener und Wiesbadener Handschriften nur sporadisch und z. T. wohl zufällig sind und daher kaum geeignet sind, den Ansatz einer engen Verwandtschaft mit dem gedruckten Text zu erfordern. Anders ist es jedoch mit den Übereinstimmungen zwischen dem Druck und der Wiener Handschrift Cod. 2907, die deutlich auf eine ziemlich enge, wenn auch nicht genau zu präzisierende Verwandtschaft hinweisen. Etwa in die gleiche Richtung weist vielleicht, wenn nicht ganz so zwingend, auch Cod. II.1.2° 18 in Füssen. Doch wohl noch wesentlich interessanter ist der Vergleich unseres Drucks mit der von Niels Bohnert in diesem Band edierten Oseker Handschrift 18 (aus dem 14. Jh.) und der ebenfalls von ihm berücksichtigten Prager Handschrift I. C.15 (vielleicht um 1462 geschrieben).75 − Hier eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Übereinstimmungen: 75 Niels Bohnert habe ich sehr dafür zu danken, dass er mir so freundlicherweise den Zugang zu dieser wichtigen Untersuchung noch vor deren Erscheinen gewährt hat. Da dies jedoch erst während der Drucklegung dieses Bandes erfolgen konnte, haben folgende Ausführungen zu diesen beiden Handschriften notgedrungen den Charakter
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2,3a Weber: filios] Prag: sünn, dagegen 1479: filias – tochtern, Osek: filias – tochtern. 3,5 Weber: dilectam . . . ipsa] Osek: dilectam . . . ipsa – liebe . . . sei [d. h. sie], dagegen Prag: dilectum . . . ipse – lieben . . . er, 1479: dilectum . . . ipse – lieben . . . er. 4,1b Capilli tui sicut grex (Weber: greges) caprarum] 1479: Das har ist hert als ein scar der geiß; vgl. Prag: Dein hart ist herter als ein schar der gaiss; Osek liest Din har ist als ein hert der Cygen. 4,10b Weber: pulchriora, Osek: Pulcriora – Schoner] Williram und 1479: Meliora – besser, Prag: pezzer. 4,14b Weber: unguentis] 1479: ungentis mirre & aloe – salben des mirren vnd aloe, Prag: salbn des mirrens vnd aloes. 5,2b Weber: amica mea] Osek: vnica mea – mein vrundinne, aber mit der Korrektur eynige am linken Rand; 1479: vnica mea – mein aynige, Prag: ainige mein. 5,4 Weber: et venter meus intremuit ad tactum eius; Osek: et uenter meus contremuit ad tactum eius – vnd von seym angriffe erbibte mein bouch] 1479 u. Prag: & contremuit venter meus contactum eius – 1479: vnd mein pauch erpidempt von seinem angreiffen, Prag: vnd mein pauch erpidmet von seinem angriff. 5,7 Weber: custodes qui circumeunt civitatem, Osek: custodes qui circueunt ciuitatem – di hueter di da gyngen vmb di stat] 1479: custodes civitatis – die wechter der stat, Prag: dy huetter der stat. 5,13a Weber: a pigmentariis] 1479: von de¯ apotecker, Osek: von den klareten, Prag: von den claretn. 6,8b Weber: filiae] Osek: filie – Die tochter von syon, Prag: filie syon – dy töchter von syon, 1479: filie sion – Die tochter von sion. 6,12 Weber: Sulamitis] Osek: sunamitis, Prag: sunamite oder du suezze tochter, 1479: sunamitis – suse tochter. 7,8 u. 9 Die Wiederholung der Worte odor oris tui sicut malorum in 1479 findet sich auch in der Prager Hs. 7,13 Weber: portis] 1479: portis – porten, Osek: portis – phortin, dagegen Prag: poculis – tranchen. 8,2a Die Worte precepta domini, die bei Weber fehlen, finden sich nebst ihren deutschen Entsprechungen sowohl in 1479 als auch in Osek und Prag. 8,12 Weber: mille tui Pacifice et ducenti] 1479: Mille tui pacifici & ducenti – Di dich befriden der seind tausent vnd zueihundert, dagegen Prag: Mille argentei tui pacifici et centum – die dich befridten der sein tausent vnd hundert. Die entsprechende Stelle fehlt in der Oseker Hs.
Aus diesen Stellen (besonders 8,2a) geht ganz deutlich hervor, dass 1479, Osek und Prag ziemlich eng miteinander verwandt sind. 1479 steht meist mit der Prager Handschrift zusammen, wenn Osek und Prag auseinandergehen: 3,5, 4,10b, 4,14b, 5,4, 6,8b, 7,8–9; auch 4,1b, 5,2b und 5,7 weisen 1479 und Prag jeweils eine ähnliche Lesart auf. 6,12 scheint die Prager Handschrift eine Brücke zwischen Osek und 1479 zu schlagen. Bemerkenswert sind die Stellen 2,3a und eines Korrekturnachtrags. Es muss der künftigen Forschung überlassen werden, die provisorischen Ergebnisse zu überprüfen, auszuschöpfen und weiter auszubauen.
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7,13, wo 1479 zur Oseker Handschrift steht. 5,13a stehen Osek und Prag zusammen, während 1479 abweicht. 8,12 ducenti – zueihundert in 1479 ist ‘besser’, also Vulgata-näher, als die Lesart centum – hundert in Prag. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Verwandtschaftsverhältnisse keineswegs eindeutig sind. Viele Probleme müssen der künftigen Forschung überlassen werden. Dennoch dürfte deutlich geworden sein, dass der Hohelied-Text von 1479 keine selbständige Neuschöpfung ist. Der Druck, obwohl in dieser Form ein Unikum, ist vielmehr Zeuge einer wesentlich älteren und offenbar weit verbreiteten Überlieferung, der hier der Sprung auch in das neue Medium des Buchdrucks gelang. Die Hohelied-Übersetzung, wie sie im Druck von 1479 vorliegt, hat ihren Ursprung offenbar im bairisch-österreichischen Raum. Mir fiel der 1993 geschriebene Satz Kurt Gärtners auf: »Der österreichische Bibelübersetzer eröffnet in der religiös bewegten Zeit Ludwigs des Bayern, vermutlich unterstützt von den Franziskanern eine neue Epoche der deutschen Bibelübersetzung«.76 Man fragt sich, ob der Umstand, dass das einzige bekannte Exemplar dieser Hohelied-Ausgabe sich in einem (wiewohl erst 1660 gegründeten) Franziskanerkloster erhalten hat, ein weiterer Hinweis auf diese Verbindung zu den Franziskanern sein könnte. Und darüber hinaus wäre wohl auch zu überlegen, ob der Umstand, dass die Sprache der Hohelied-Übersetzung ins BairischÖsterreichische weist, irgendwie mit dem Österreichischen Bibelübersetzer in Zusammenhang zu bringen ist.77 Zwar verbietet sich an dieser Stelle eine Untersuchung dieser interessanten Frage, aber diese Möglichkeit möchte ich doch 76 Zitiert von Freimut Löser, Heinrich von Mügeln und der Psalmenkommentar des ‘österreichischen Bibelübersetzers’, in: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag, hg. von Va´clav Bok und Frank Shaw, Wien 2003, S. 689–708, hier S. 689. Ludwig IV ., ›der Bayer‹, regierte von 1328 bis 1347. 77 Vgl. die verblüffend ähnliche Schreibweise, z. B. in seinen kritischen Bemerkungen über Philosophen: was nement sich dann dy armen philossopheir an, die vnzeittleich wider den cristentumb redent vnd wänent, sy mugen jr red mit maisterschaft, die valsch ist, wider guet gemachen. czbar: sy sein prennenswert als ander keczer. Zitiert nach Löser [Anm. 76], S. 706. Zum Österreichischen Bibelübersetzer s. (u. a.) auch: Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, 1. Halbbd.: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II . 1358 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2/1), Graz 1999, S. 215– 233; Freimut Löser, Schlierbacher Altes Testament, in: 2VL , Bd. 8, Sp. 720–726; Gisela Kornrumpf, Das ‘Klosterneuburger Evangelienwerk’ des österreichischen Anonymus, in: Heimo Reinitzer (Hg.), Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters (Vestigia Bibliae 9/10 [1987–1988]), Bern 1991, S. 115–131; dies., Nova et vetera. Zum Bibelwerk des österreichischen Laien der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Ralf Plate und Andrea Rapp (Hg.), Metamorphosen der Bibel (Vestigia Bibliae 24/25 [2002/2003]), Bern 2004, S. 103–121; dies., Österreichischer Bibelübersetzer, in: 2VL , Bd. 11, Sp. 1097–1110; und Wolfgang Beck, Neue Fragmente des ‘Psalmenkommentars’ des Österreichischen Bibelübersetzers aus dem Staatsarchiv Altenburg / Thürin-
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hier schon zur Diskussion stellen. Schließlich legt nicht nur die sprachliche Beschaffenheit unseres Textes eine Verbindung zu dessen Übersetzungswerk nahe, auch das Werk selbst, die Hohelied-Übersetzung, passt gut zum in den letzten Jahren langsam entstehenden Gesamtbild seines Œuvres. Hier ist nicht der Ort, ausführlich auf Forschungsgeschichte und -stand zum Österreichischen Bibelübersetzer einzugehen; es sei auf die in Anm. 77 angeführten Zwischenbilanzen verwiesen. Nach dem, was inzwischen eruiert worden ist, dürfte der Anonymus, ein gelehrter Laie, etwa Mitte des 14. Jahrhunderts im Raum Passau/Krems an der Donau gewirkt haben. Er scheint, die Unterstützung der Franziskaner genossen zu haben. Vor allem dank den Forschungen Kurt Gärtners, Gisela Kornrumpfs und Freimut Lösers glauben wir inzwischen festgestellt zu haben, dass sein Œuvre, hauptsächlich in Handschriften des 15. Jahrhunderts erhalten, zumindest folgende Werke umfasst:78 – verschiedene eschatologische und häresiologische Traktate, überliefert in Wien ÖNB Cod. 2846; – eine Evangelienharmonie, Apostelgeschichte 1–5, das apokryphe Evangelium des Nicodemus; – eine Übersetzung von Teilen des Alten Testaments (Genesis, Exodus, Tobias, Daniel, Hiob); – ein ‘Sermo de corpore Cristi’; – Teile der Apokalypse; – Ausschnitte aus den Salomonischen Weisheitsbüchern und Jesus Sirach, ebenfalls in der Wiener Handschrift Cod. 2846 überliefert; – diverse Zitate aus Proverbia und Ecclesiastes. Schon Klapper hatte die Möglichkeit erwogen, dass diese aus einem umfangreicheren Kommentar oder Übersetzungskorpus stammen könnten.79 Und, wenn Löser Recht hat, müssen wir diese Liste auch noch um die deutsche Fassung des Psalmenkommentars des Franziskaners Nikolaus von Lyra ergänzen.80 Gärtner lobt den österreichischen Anonymus als einen der fähigsten Übersetzer in der Zeit zwischen Williram von Ebersberg im 11. und Martin Luther im 16. Jahrhundert.81 Im Hinblick darauf, dass der österreichische Anonymus große Teile des Alten Testaments und der apokryphen Bücher übersetzt hat, und zwar Hiob, Proverbia und Ecclesiastes, die direkt vor dem Hohen Lied stehen, und Jesaja 1282 und
78 79 80 81 82
gen, in: ZfdA 136 (2007), S. 68–71. Siehe auch Manuela Niesner, »Wer mit juden well disputiren«. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts (MTU 128), Tübingen 2005. Einzelheiten bei Löser [Anm. 76], S. 693– 697. Joseph Klapper, in seiner Rezension von Alfred Bergeler: Das deutsche Bibelwerk Heinrichs von Mügeln, Berlin 1938, in: AfdA 57 (1938), S. 98–103, hier S. 101. Siehe Löser [Anm. 76], S. 697–708. 2 VL , Bd. 4, Sp. 1253 f. Überliefert in Wien ÖNB Cod. 2847, Bl. 307r. Siehe Hermann Menhardt, Verzeichnis
Eine unbeachtete zweisprachige Ausgabe der ‘Cantica canticorum’
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Daniel, welche direkt darauf folgen, wäre durchaus zu überlegen, ob unsere Hohelied-Übersetzung ebenfalls als Teil dieses Œuvres in Betracht bezogen werden könne. Schließlich meint auch Löser: »Es deutet sich – nach den sukzessiven Funden der jüngsten Zeit – ein Komplex biblischer Bücher an, der mit Sicherheit noch umfangreicher war als wir heute sehen können«.83 Auch Gisela Kornrumpf konstatiert: »Das Œuvre ist im Wachsen«.84 Es scheint mir mithin zumindest möglich – mehr wage ich beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht zu behaupten –, dass der deutsche Text in unserem Hohelied-Druck als ein weiteres, verstreutes Zeugnis der Tätigkeit des anonymen österreichischen Bibelübersetzers angesprochen werden könnte.85 Man könnte sich schon vorstellen, dass der Hohelied-Text aus einer Handschrift herausgelöst oder abgeschrieben worden und irgendwie in die Hand des unbekannten Augsburger bzw. Nürnberger Kleindruckers gelangt sein könnte. Obwohl zwischen der Hohelied-Übersetzung und den ersten gedruckten deutschen Bibeln nachweislich kein direkter Zusammenhang besteht, fügt sich der kleine Hohelied-Druck mühelos in das geistige Klima der Zeit ein, als der Zugang zur Bibellektüre in der Volkssprache an der Tagesordung war. Bei der Erörterung der Frage nach Zweck und Lesepublikum der zweisprachigen Hohelied-Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts meinte Schmid, dass die zweisprachige Anlage sich schwerlich als fortlaufender Lesetext eigne: »Diese machte das Werk sowohl für die erbauliche Privatlektüre als auch für den Vortrag vor einer Gemeinschaft unbrauchbar.«86 Obwohl man sich den zweisprachigen Text zunächst vielleicht zum Gebrauch im Unterricht vorstellen möchte, hält Schmid es – wohl mit Recht – für unwahrscheinlich, dass »ausgerechnet das sprachlich und inhaltlich vergleichsweise schwierige Hohe Lied als Textgrundlage im Lateinunterricht hergehalten haben soll« (S. 205). Schließlich warnten mittelalterliche Exegeten ausdrücklich vor einem litteralen Verständnis gerade dieses biblischen Buches. Daher vielleicht die etwas zaghafte Formulierung (Relikt eines Kommentars?) im Kolophon, wonach das Hohe Lied von den lerern der heiligen geschrifft außgelegt werde von vnser liben junckfrawen maria der czu lob das verdeutscht vnd gedruckt ist. Schmid (S. 205) hält es für wahrscheinlich, dass die spätmittelalterliche Hohelied-Übersetzung
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der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, I, Berlin 1960, Bd. 1, S. 420. Der Text beginnt: Hie hebent sich an die Cantica der propheten, von erst Ysaias. Confitebor tibi, domine, quoniam iratus es michi, conuersus est furor. Herr ich vergich dir, wan du pist erczürnt gen mir. (Man merkt hier wiederum die charakteristischen Schreibungen mit -cz- und p-.) Löser [Anm. 76], S. 696. Siehe jetzt auch den Beitrag von Freimut Löser: Neues vom Österreichischen Bibelübersetzer im vorliegenden Band. Kornrumpf, Nova et vetera [Anm. 77], S. 107 und 108. Ähnliches erwägt auch Roth, wenn er, [Anm. 72], S. 210, zur Hohelied-Übersetzung in Füssen meint: »Möglicherweise ist die Arbeit in die Tradition eines ›Österreichischen Bibelübersetzers‹ zu stellen [. . .].« Schmid [Anm. 66], S. 204.
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John L. Flood
»eher im Rahmen der exegetischen Unterweisung erwachsener Klosterangehöriger, die allenfalls so viel Latein verstanden, daß sie gelegentliche Rekurse auf den lateinischen Text nachvollziehen konnten«, Verwendung fand. Das mag schon für die handschriftlichen Fassungen stimmen, aber ob es auch für unseren Druck vom Jahre 1479 galt, können wir unmöglich wissen. In mancher Beziehung also bleibt die Inkunabel GW 6002 weiterhin ein Rätsel. Viele Fragen werden sich wohl nie zufriedenstellend beantworten lassen. In textlicher Hinsicht verdient sie jedoch auf alle Fälle eine genauere Untersuchung, als hier möglich war.
Marozia, die Totgeschwiegene Zu den gesäuberten Papstgeschichten der mittelhochdeutschen Chronistik von Frank Shaw
Als der Jubilar mir an meinem 80. Geburtstag ein Belegexemplar der ‘Weltchronik’ Heinrichs von München1 (im Folgenden HvM), das Ergebnis dreizehnjähriger Zusammenarbeit, überreichte, dachte ich nicht, dass ich so bald wieder zur Feder (bzw. zum Computer) greifen würde. Der Anlass zu diesem kurzen Aufsatz ist der folgende: Es fiel mir neulich und rein zufällig ein vor 26 Jahren erschienener Artikel von Gerd Tellenbach über das Papsttum im Mittelalter in die Hände,2 der das Leben der Päpste unter einem ganz anderen Aspekt zeigte als die Papstkapitel bei HvM. So zum Beispiel, um mit einer einfachen Statistik anzufangen, würde man nie anhand der sehr verharmlosenden Darstellung bei HvM auf die Idee kommen, dass zwischen 903, dem Jahr, in dem Leo V. von seinem Nachfolger Christophorus ermordet wurde, und 1001, dem Jahr, in dem sowohl Papst Silvester II . als auch Kaiser Otto III . aus Rom flüchten mussten, von den 27 Päpsten, die während dieser fast hundert Jahre regierten, nicht weniger als dreizehn entweder ermordet (sechs), vertrieben (sechs) oder einfach gefangengenommen (einer) wurden.3 Noch ein Beispiel: Johannes XII ., in die deutsche Geschichte eingegangen als der Papst, der 962 Otto I. zum Kaiser krönte und somit das Heilige Römische Reich deutscher Nation ins Leben rief, war mit 18 Jahren unter dem Einfluss seines Vaters (er war der uneheliche Sohn des Königs Alberich II . von Italien, von dem später die Rede sein wird) zum Papst geweiht worden und führte angeblich ein so unzüchtiges Leben, dass der Lateranpalast zeitweilig in ein Bordell verwandelt wurde. Kaum verwunderlich also, dass er 964 einen Schlaganfall erlitt, als er mit einer verheirateten Frau im Bett lag, und kurz danach als Mittzwanziger starb.4 Eine partielle Erklärung für die Gefahren, denen in diesem Jahrhundert die Päpste ausgesetzt waren, ist im Umstand zu finden, dass sie zu sehr von der weltlichen Obrigkeit in Rom abhingen. Benedikt IV . (900–903) zum Beispiel, der im gleichen Jahr wie Leo starb (s. o.), wurde sehr wahrscheinlich von Anhängern 1 Die Weltchronik Heinrichs von München. Neue Ee, hg. von Frank Shaw, Johannes Fournier und Kurt Gärtner (Deutsche Texte des Mittelalters 85), Berlin 2008. 2 Gerd Tellenbach, Zur Geschichte der Päpste im 10. und früheren 11. Jahrhundert, in: Institutionen, Kultur und Geschichte im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zum 65. Geburtstag, hg. von Lutz Fenske u. a.), Sigmaringen 1984, S. 165–177. 3 Tellenbach [Anm. 2], S. 170 f. 4 Für diese und alle sonstigen historischen Erläuterungen habe ich das Oxford Dictionary of Popes, hg. von J. N. D. Kelly und Michael J. Walsh, Oxford 22010, zu Rate gezogen.
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Berengars I. von Friaul ermordet, weil er Ludwig (den Blinden) von Provence, Berengars Hauptkonkurrenten für die italienische Krone, 901 zum König von Italien gekrönt hatte. Und wir haben oben gesehen, dass Johannes XII . seine Erhebung zur Papstwürde seiner Blutsverwandtschaft mit dem Mann verdankte, der die höchste weltliche Macht in Rom ausübte. Nicht irrelevant ist, dass sein unmittelbarer Vorgänger, Agapet II ., den entscheidenden Schritt, den Johannes wagte, gescheut hatte: Er konnte sich nämlich mit der Tatsache nicht abfinden, dass die wirkliche politische Macht in Italien sich eigentlich außerhalb Roms, nämlich in Sachsen, befand, und lehnte 952 »Ottos I. Bitte um Aufnahme in Rom und um die Kaiserkrönung« ab, weil der »Druck Alberichs von Rom, des nahen Stadtherrn, ihn mehr motivieren [musste] als die Forderung des fernen Königs«.5 Aber es hat außer dem politischen einen anderen Aspekt des Lebens im Rom des zehnten Jahrhunderts gegeben, nämlich einen moralischen – ich streifte dieses Thema oben im Zusammenhang mit Johannes XII ., dessen Sex-Life heutzutage Stoff für die Boulevard-Presse abgegeben hätte. Jedoch war Johannes nicht allein. Eine Reihe von Päpsten verdankte nämlich ihre hohen Ämter nicht nur ihrer Verstrickung in die Politik der führenden Familien Roms, sondern auch der Tatsache, dass sie bereit waren, sich auf ein reges Geschlechtsleben mit einigen Mitgliedern dieser Familien einzulassen. So markant war diese Eigenschaft, dass man für das Leben in den höheren Kreisen Roms im 10. Jahrhundert die Bezeichnung ›Pornokratie‹, Hurenregiment, gemünzt hat.6 Damit komme ich zum Hauptthema dieses Aufsatzes: Marozia, dem Mittelpunkt eines Netzes von Intrige und Unzucht. Marozia war die Tochter des Theophylakt und dessen Frau Theodora. Theophylakt, gestorben vermutlich um 926, war in seiner Zeit der mächtigste Mann in Rom. Er nannte sich ›dux‹ und ›senator Romanorum‹, was seine Tochter für Grund genug hielt, sich den Titel ›senatrix et patricia Romanorum‹ anzueignen. So übte die Familie des Theophylakt eine absolute Macht aus, nicht nur die weltliche, sondern auch, im Falle der weiblichen Mitglieder der Familie, die erotische. Wer Papst werden wollte, wurde es nur durch die Gunst dieser Familie. Hauptquelle für unsere Kenntnisse der misslichen Umstände, die um den Stuhl Petri im zehnten Jahrhundert herrschten, ist Liutprand von Cremona. Es ist zunächst nötig, ein Wort zu diesem Liutprand von Cremona und zu den politischen Umständen seiner Zeit zu sagen – denn auch er entging nicht den politischen Wirren im Italien des 10. Jahrhunderts.7 Geboren um 920 in Pavia, 5 Tellenbach [Anm. 2], S. 170. Nach der Absetzung Karls des Dicken (888) stritten sich Sprösslinge verschiedener italienischer Adelsfamilien um den Titel ›König von Italien‹, bis Otto I. 961 Italien wieder in kaiserlichen Besitz brachte. 6 Eine genauere Präzisierung der Quelle dieses Ausdrucks ist mir nicht gelungen. Alessandro Cutolo (Hg.), Liutprando da Cremona, Tutte le opere, Milano / Firenze / Roma 1945, S. 24 schreibt »›Hurenregiment‹ definira`, nel XVIII secolo il Löscher questo cupo periodo della storia di Roma« – ohne allerdings Näheres über Löscher zu sagen. Gemeint ist wohl Valentin Ernst Löscher (1673–1749).
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entstammte er einer wohlhabenden und einflussreichen Familie. Sein Vater stand im Dienste Hugos von Arles, seit 926 König von Italien. Hugos Gewalt über Italien wurde allerdings unsicher, als sein Stiefsohn Alberich, Markgraf von Spoleto, ihn aus Rom vertrieb (s.u.), und besonders nach dem Einmarsch Berengars von Ivrea in Rom 945 wurde sein politischer Einfluss immer geringer. Nach Hugos Tode im Jahre 948 saß Berengar fest im Sattel. Er stellte Liutprand als seinen Sekretär ein und schickte ihn, genau wie sein Vorgänger Hugo Liutprands Vater geschickt hatte, als Botschafter nach Konstantinopel, allerdings so dürftig ausgerüstet, dass Liutprand die erwarteten und kostspieligen Geschenke für den byzantinischen Kaiser aus eigener Tasche finanzieren musste. Dies, und die Tatsache, dass Berengar und seine Frau Willa allgemein unbeliebt geworden waren, war der Anlass für sein bekanntestes Werk ‘Antapodosis’ (gr. aÆntapoÂdosiw, ‘Vergeltung’), das, wie er am Anfang des dritten Buches erklärt, deshalb geschrieben wurde, um die Untaten Berengars, qui nunc in Italia non regnat sed tyranizat, und seiner Frau Willa, quae ob inmensitatem tyrannidis secunda Iezabel, et ob rapinarum insacietatem La´mia proprio apellatur vocabulo, anzuprangern.8 Nicht unbedeutend ist allerdings die Tatsache, dass Liutprand das Werk erst 958 in Angriff nahm, als er in sicherer Entfernung von Berengar, nämlich in Frankenenvurt am Hofe Ottos I. weilte, in dessen Dienst er irgendwann vor 956 getreten war. Das Bistum Cremona erhielt er 961 von Otto und begleitete ihn 964 nach Italien, bei welcher Gelegenheit Otto Berengar und Willa gefangennahm. Er starb 972, entweder in Rom oder Konstantinopel, wohin er wieder in Staatsdiensten geschickt worden war. ‘Antapodosis’, ein »zumindest für seine it[alienischen] Teile einzigartige[s] Werk«,9 ist mehr als ein Angriff auf einen Tyrannen. In ihm erfahren wir manches Überraschende über eine Reihe von Päpsten aus dem 10. Jahrhundert. Im Folgenden wende ich meine Aufmerksamkeit drei von ihnen zu: Sergius III . (904–911), Johannes X. (914–928) und Johannes XI . (931–935). Alle drei kamen, mit mehr oder weniger glücklichen Folgen, mit Marozia in Kontakt. S e r g i u s I I I . – Von Sergius erfahren wir (‘Antapodosis’ II.48), dass er mit Marozia einen Sohn zeugte, der selber ein Menschenalter später als Johannes XI . Papst wurde.10 Wörtlich heißt es bei Liutprand: Marotia ex papa Sergio (...) Iohannem, qui post Iohannis Ravennatis obitum Romanae aecclesie obtinuit 7 Quelle für diese biografische Skizze ist The Works of Liudprand of Cremona, translated by F. A. Wright (Broadway Medieval Library), London 1930, S. 1–9. 8 ‘Antapodosis’, zitiert nach MGH SS 3, hg. von G. H. Pertz, Hannover 1839 (Nachdruck 1963), S. 264–339 (hier Buch III , Absatz 1). 9 E[rnst] Karpf, L[iutprand] v[on] Cremona, in: Lexikon des Mittelalters, Band 5, München / Zürich 1991, Sp. 2041 f., hier 2042. 10 Dieses Verhältnis mit Sergius muss vermutlich allen drei Ehen Marozias vorausgegangen sein, als sie noch sehr jung war. Ihr erster Ehemann war Alberich, Markgraf von Spoleto, ihr zweiter Guido, Markgraf von Tuszien, und ihr dritter Hugo von Arles (bzw. der Provence), König von Italien, von dem bereits die Rede war.
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dignitatem, nefario genuit adulterio. Liutprand vereinfacht die Chronologie; denn Johannes XI . war nicht der unmittelbare Nachfolger von Johannes Ravennatis (= Johannes X.). Zwischen den beiden regierten Leo VI . (928, nur ein halbes Jahr) und Stephan VII . (928–931).11 Beide waren willenlose Werkzeuge der Marozia, die sie wahrscheinlich ermorden ließ, damit ihr unehelicher Sohn Johannes Papst werden konnte, was ihm im Jahre 931 auch gelang. J o h a n n e s X . – Ihre sexuelle Freigebigkeit hatte Marozia von ihrer Mutter Theodora, der Frau Theophylakts, gelernt, die (so Liutprand, ‘Antapodosis’ II.48) ein Liebesverhältnis mit Papst Johannes X. hatte. Liutprand nimmt kein Blatt vor den Mund und apostrophiert Theodora schlichtweg als scortum impudens und ihre Töchter12 als ihr non solum coequales verum etiam veneris exercitio promptiores. Die Geschichte dieses Papstes wird in ‘Antapodosis’ III.43 fortgesetzt. Marozia und ihr zweiter Ehemann Guido, Markgraf von Tuszien, bringen den Papst Johannes zu Fall, weil (so Liutprand) Guido dem Bruder des Johannes feindlich gesinnt war.13 Der Bruder, Petrus genannt, wird im Lateran überfallen und vor den Augen seines Bruders ermordet. Johannes selbst nehmen sie gefangen, und kurz danach stirbt er im Gefängnis, angeblich mit einem Kopfkissen erstickt (Aiunt enim, quod cervical super os eius inponerent, sicque eum pessime suffocarent). Daraufhin setzten sie Marozias Sohn Johannes (XI .) auf den Papstthron. Dass Johannes XI . nicht der unmittelbare Nachfolger von Johannes X. war, ist bereits erwähnt worden. Was in der ‘Antapodosis’ folgt (III.44), ist überraschenderweise ein Gedicht, das in eleganten Formulierungen Marozia darüber ins Gebet nimmt, dass sie aus lauter erotischer Lust (Veneris facibus compulsa) zwei Brüder der Reihe nach geehelicht habe, nämlich Guido, Markgraf von Tuszien, und Hugo, König von Italien.14 Er zieht Herodias zum Vergleich heran, deren Ehen mit zwei Brüdern, Herodes II . und Herodes Antipas, den Zorn Johannes’ des Täufers erregte.15 J o h a n n e s X I . , dem wir 931 als neuernanntem Papst begegneten, kehrt an späterer Stelle zurück, und zwar am Ende einer brisanten Schilderung der Ereignisse, die der Herrschaft der Marozia ein Ende bereiteten (‘Antapodosis’ III , 44– 45). Liutprand berichtet folgendermaßen: Hugo von Arles (bzw. der Provence) schlägt seinen Stiefsohn Alberich pro correctione ins Gesicht. Alberich 11 Vgl. Pertz in seiner ‘Antapodosis’-Ausgabe [Anm. 8], S. 312. 12 Theodora hatte nämlich zwei Töchter, Marozia und Theodora. Für die Unzüchtigkeit der jüngeren Theodora gibt Liutprant keine Belege. 13 Der Bruder (Petrus), um den es hier geht, hatte die Markgrafschaft von Spoleto inne, war somit ein mächtiger Mann und eine wichtige Stütze für seinen Bruder, den Papst, der überdies einen Pakt mit Hugo, dem König von Italien, geschlossen hatte. Marozia, die seit dem Tode ihres Vaters die Macht in Rom ausübte, überredete ihren Ehemann Guido dazu, beide Brüder aus dem Weg zu schaffen. 14 Sie waren in Wirklichkeit Halbbrüder. 15 Dass beide ihre Onkel waren, verschweigt Liutprand.
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benutzt diese Beleidigung als Vorwand, das Volk gegen Hugo aufzuhetzen, indem er ihm in einer leidenschaftlichen Rede vor Augen führt, wie schändlich es ist, dass Rom den Befehlen von Huren (meretricum etiam imperio – damit meint er seine eigene Mutter!) und ehemaligen Sklaven Roms (den Burgunden, d. h. Hugo) gehorchen muss: Quid enim fedius, quidve turpius, quam ut unius mulieris incestu Romana civitas pereat? Romanorum aliquando servi, Burgundiones scilicet, Romanis imperent? 16 Die Menge belagert die Festung, in der Hugo und Marozia sich befinden (eigentlich Castel Sant’Angelo). Hugo entkommt mittels eines Seils und verlässt Marozia auf höchst ungalante Weise. Nach Art eines Märchenschlusses berichtet Liutprand, wie nach der Vertreibung Hugos und Marozias Alberich Alleinherrscher in Rom wurde (er regierte über 22 Jahre als princeps ac senator omnium Romanorum – eine erstaunlich lange Zeit für damalige Verhältnisse). Hugo machte mehrere Versuche, die Macht in Italien wiederzugewinnen und seine Frau Marozia aus Alberichs Haft zu befreien – beides vergeblich. Von Marozia hören wir nichts mehr. Cutolo schreibt lakonisch: »Alberico II, che assalta Ugo in Roma, in Castel Sant’Angelo, lo costringe ad abbandonare precipitosamente l’Urbe e si impadronisce della madre che si spegne oscuramente, per opera del suo nato, dopo una vita tanto tempestosa.«17 Mit Marozias obskurem Ende (irgendwann vor 937) nach einem stürmischen Leben war es jedoch noch nicht getan. Denn sie hinterließ ein verhängnisvolles Erbe. Vor seinem Tode verlangte ihr Sohn Alberich dem Adel Roms den Schwur ab, dass bei der nächsten Papstwahl sein Sohn Oktavian, also Marozias Enkelsohn, den Stuhl Petri einnehmen sollte – was auch geschah. Oktavian wurde 955 als Johannes XII . inthronisiert und führte das Lotterleben, das am Anfang dieses Artikels kurz geschildert wurde. Der Geist Marozias lebte weiter.18 Jetzt wende ich mich dem zweiten Aspekt meines Titels zu, dem Totschweigen der Marozia. In der deutschen Chronistik des Mittelalters werden Päpste überhaupt stiefmütterlich behandelt. So handelt z. B. HvM 175 Päpste von Petrus bis Gregor VIII . (1187) in etwa 2500 Versen ab, während den in der gleichen Zeitspanne regierenden 101 Kaisern von Claudius bis Friedrich II . (gest. 1250) etwa 15 680 Verse gewidmet werden. Ferner: während jedem Kaiser meist ein eigenes Kapitel zugeteilt wird (nur zwölf aus 107 Kaiserkapiteln behandeln mehr als einen Kaiser), werden in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle Päpste gruppenweise abgefertigt, zwei bis sechs pro Kapitel, wobei man nur den 16 Es leuchtet nicht ohne weiteres ein, warum ein Langobarde (was Alberich wohl war) so heftig die Burgunden attackiert (der Angriff auf Alberichs Landsleute ist von erheblicher Länge), wo doch beide, vom römischen Standpunkt aus gesehen, Sklavenvölker waren. 17 Cutolo [Anm. 6], S. 24. 18 Der Stammbaum am Schluss illustriert die Produktivität der Theophylaktiden in puncto Päpste.
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Namen, die Regierungsdauer, ein kurzes nichtssagendes Lob und (allerdings nicht in allen Fällen, und auch dann oft schwankend) die Angabe, um den wievielten Papst es sich handelt, erfährt. Ein wesentlicher Grund für diese große Diskrepanz wird auf S. XIX f. der HvM-Ausgabe angedeutet: Die Papstkapitel bei HvM fußen weitgehend auf den ‘Flores temporum’,19 die oft nicht mehr als das Datum des Regierungsantritts, die Regierungdauer und die Papstzahl angeben. Aber nicht immer. Eine auffällige Ausnahme bildet der Papst Formosus (891–896). Die ‘Flores’ widmen diesem unglückseligen Papst einen längeren Absatz folgenden Inhalts: Lange bevor er Papst wurde, als er noch Bischof von Porto20 war, versuchte Papst Johannes VIII . (872–882) Formosus jede Hoffnung auf eine eventuelle Erhebung zur Papstwürde dadurch auszutreiben, dass er ihn seines Bistums verwies (in welches er jedoch von Martin II ., dem Nachfolger des Johannes, wieder eingesetzt wurde), und rang ihm das Versprechen ab, die Stadt Rom niemals zu betreten. Trotzdem gelangte er zu gegebener Zeit aufgrund seiner Frömmigkeit und seines Kenntnisreichtums auf den Papstthron. Die Wut seiner Gegner ließ aber nicht nach: Nach seinem Tod wurde seine Leiche von Papst Stephan VI . verhöhnt und verstümmelt (drei Finger der rechten Hand wurden abgeschnitten und beide Hände in den Tiber geworfen). Alle, die er im Leben befördert hatte, wurden wieder ihrer Ämter enthoben. Nicht nur dies: Sechs Jahre später ließ Papst Sergius III . seine Leiche wieder ausgraben, in päpstlichen Regalien bekleidet auf den Thron setzen und beschimpfen – die sogenannte Leichensynode. Danach enthauptete er die Leiche und ließ sie in den Tiber werfen – all das, weil Formosus die Wahl des Sergius seinerzeit verhindert haben soll.21 In einem rührenden Postscriptum berichten die ‘Flores’, wie, als die Leiche aus dem Fluss geborgen und im Petersdom ausgestellt wurde, die Statuen der Heiligen sich erfurchtsvoll geneigt hätten. All dies schiebt HvM völlig beiseite und schreibt stattdessen drei Verse über Sergius und widmet den Rest des Kapitels (139,4– 44) Kaiser Heinrich I. Die ‘Sächsische Weltchronik’ (im Folgenden S)22 ist etwas ausführlicher in ihrer Behandlung der Päpste. Nicht nur werden 187 Päpste von Petrus bis Innozenz IV . (1243–1254) im Hauptteil zwischen S. 52 und S. 264 behandelt (oder zumindest erwähnt), sondern der Chronist fügt zwischen S. 268 und S. 277 einen Papstkatalog von 162 Päpsten ein,23 der die gleiche Zeitspanne von Petrus bis Innozenz IV . abdeckt. Naturgemäß ist der Raum, den die einzelnen Päpste 19 Hermanni Gygantis OFM Flores temporum, hg. v. Johann Gerhard Meuschen, Leiden 1750. 20 Eine alte Hafenstadt an der Tibermündung südlich von Rom. 21 Diese grausame Misshandlung des Formosus wird auch von Liutprand (‘Antapodosis’ I.29–31) erzählt, allerdings richtig Stephan VI . zugeschrieben. 22 Am zugänglichsten bei Hubert Herkommer, Vorwort, Einführung, Edition, in: Das Buch der Welt. Kommentar und Edition zur Sächsischen Weltchronik, Luzern 2000. 23 Die Diskrepanz erklärt sich durch Doppelzählung einerseits und durch gelegentliches Überspringen von Päpsten andererseits.
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im Hauptteil einnehmen, großzügiger als im Katalog; aber auch hier werden viele kursorisch behandelt, besonders wenn sie wenig Einfluss auf den Verlauf geschichtlicher Ereignisse ausübten. Skandalgeschichten werden gemieden. Der berüchtigte Teufelspapst Silvester II ., dem HvM 340 Verse widmet, wird in S viel kursorischer behandelt, und die Päpstin Johanna (83 Verse bei HvM) wird überhaupt nicht erwähnt. E i n e skandalöse Papstgeschichte lässt sich jedoch der Verfasser von S nicht entgehen, und die ist bezeichnenderweise die von der über der Leiche des Formosus abgehaltenen ›Leichensynode‹ (S 148), die S, wie Liutprand, Sergius zuschreibt.24 Als wäre dieser Bericht über die Leichensynode nicht genug, um dem Leser die Bösartigkeit des Sergius einzuprägen, flicht S bei der Behandlung des Papstes Johannes XI . (S. 275) die lakonische Bemerkung ein, er sei sone Sergii pape gewesen – ein blasser Abglanz der Skandalgeschichte, die wir von Liutprand bereits kennen. In Jans’ von Wien (›Enikels‹) ‘Weltchronik’25 (im Folgenden E) erfahren die Päpste eine etwas willkürliche Behandlung. Nach Tiberius geht E zu Petrus über (v. 22271–84) und fügt dann einen Papstkatalog ein (S. 428– 434), der alle Päpste von Petrus bis Gregor X. (1271–76) auflistet, ohne allerdings mehr über sie als ihre Regierungsdauer zu berichten. Danach erzählt er etwas ausführlicher die Lebensgeschichten zweier Päpste, die beide als negative Vertreter der päpstlichen Würde zu werten sind: der Päpstin Johanna (v. 22285–320)26 und des Teufelspapstes Silvester II . (v. 22321–678). Der einzige andere mit Namen genannte Papst, Leo III . (v. 22679–90), der Karl den Großen krönte, rückt das Papstbild wieder in ein positiveres Licht. Was folgt, sind drei nicht näher identifizierte Päpste. Der eine wird vom Teufel in die Hölle geschleppt (v. 22691–702), ohne dass nähere Gründe für diese radikale Strafe angegeben werden,27 der zweite wird von einer einstürzenden Mauer getötet (v. 22703–10).28 Der dritte (v. 22719– 40), dessen Bautätigkeit Strauch dazu verleitet, ihn als den Erbauer des Pantheons zu deuten, ist eindeutig der von HvM in Kap. 109 behandelte Donus (676–78), der (so HvM) den Petersdom gebaut haben soll (was vermutlich genauso wenig stimmt wie die von Strauch [Anm. 25] aufgestelle Vermutung).29 24 Quelle für die Papstgeschichten bei S. ist der ‘Liber pontificalis’, am zugänglichsten in Louis Duchesne, Liber pontificalis. Texte, introduction, commentaire, 2 Bde., Paris 1886–92. 25 Jansen Enikels Weltchronik, in: Jansen Enikels Werke, hg. v. Philipp Strauch (MGH Deutsche Chroniken, Band 3), Berlin 21972. 26 Nach Strauch [Anm. 25], der mündliche Überlieferung vermutet, die älteste deutsche Version. Vgl. Philipp Strauch, Studien über Jansen Enikel, in: ZfdA 28 (1884), S. 35– 64, hier 46 und 63. 27 Strauch [Anm. 25] erwägt Johannes XII . (964) aufgrund einer Ähnlichkeit mit Liutprand (!). Dies scheint mir zweifelhaft. 28 Strauch [Anm. 25] denkt an Johannes XXI . (1276–7), der von einer einstürzenden Decke getötet wurde. 29 Die Identität zwischen dieser Jans von Wien-Passage und HvM 109,12– 48 haben die Herausgeber von HvM übersehen.
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Nach v. 22740 verlässt E die Päpste endgültig und geht zu Gaius Caligula über und verfolgt von da an die Geschichte der römischen und deutschen Kaiser bis zum Tode Friedrichs II . Es fällt auf, dass von den drei in Betracht gezogenen mhd. Weltchroniken HvM diejenige ist, die am meisten darum bestrebt ist, die Päpste in ein positives Licht zu rücken. S weiß zumindest von der über der Leiche des Formosus abgehaltenen Leichensynode, auch von der unkonventionellen Abstammung Johannes’ XI .; und E scheint eine Vorliebe für unwürdige Inhaber des Stuhles Petri zu haben (drei von den sechs Päpsten, die er behandelt, sind Bösewichte – oder sind zumindest in die Annalen der Papstgeschichte als solche eingegangen: Päpstin Johanna, Silvester II . und der namenlose in die Hölle verschickte Papst). Nicht von ungefähr unterbricht E seine Behandlung der sechs Päpste mit folgenden Mahnversen: Nuˆ haˆn ich gehœret einen strıˆt, der mir groˆzen zorn gıˆt. ich haˆn gehœrt von mangem man, der einer niht diu buoch kan, die wellent des gewis wesen, daz die bæbst sıˆn alle genesen. daz widerred ich zu aller zıˆt und muoz immer sıˆn mıˆn nıˆt. (v. 22711–18)
Im Lichte dessen, was wir von Liutprand von Cremona über Marozia erfahren, scheint es sich jedoch auch hier noch um ein beträchtliches Understatement zu handeln.
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Stammbaum der Nachkommen Theophylakts Namen von Päpsten sind gesperrt. Außereheliche Beziehungen in eckigen Klammern.
∞ (1) Theophylakt, dux, senator
Theodora d. Ä., senatrix, † nach 916
Romanorum, † 926 ? [(2) J o h a n n e s X . , 914–28]
(1) Marozia, senatrix et patricia Romanorum, ca. 892 – ca. 937 ∞ [(1) S e r g i u s III ., 904–11] (2) Alberich I., Mkgr. v. Spoleto, † 924 (3) Guido, Mkgr. von Tuszien, † 928/9 (4) Hugo von Arles, König von Italien, † 948
(1) J o h a n n e s XI . 931–35
(2) Alberich II . 911/12–54
Marozia
(1) Theodora d. J., † ca. 950
J o h a n n e s XIII . Crescentius I.30 965–72 † 984
Gregor I. J o h a n n e s XII . 955– 64 Graf von Tusculum ca. 935–1013
B e n e d i k t VIII . 1012–24
J o h a n n e s XIX . 1024–32
Alberich III . Graf von Tusculum † nach 1032
B e n e d i k t IX . 1032– 45, 1047– 48 30 Crescentius I., Sohn Theodoras d. J., und Enkelsohn Theophylakts, ist der Ahnherr der Familie der Crescentii, die bei der Wahl aller Päpste von Johannes XIII . (965) bis Sergius IV . (1009) die Hand im Spiel hatten. Die Dominanz der Crescentii fing allerdings an nachzulassen, als der Sohn Crescentius’ I. auf Befehl Ottos III . hingerichtet wurde.
Das ‘Prüller Kräuterbuch’ Zu Überlieferung und Rezeption des ältesten deutschen Kräuterbuchs von Bernhard Schnell
Die Bestseller der deutschsprachigen Literatur des 12. Jahrhunderts lassen sich, geht man von der Anzahl der erhaltenen Textzeugen aus, an einer Hand abzählen: Notkers ‘Psalter’, Willirams Kommentar zum ‘Hohen Lied’, die ‘Kaiserchronik’, das ‘Rolandslied’ und das ‘Prüller Kräuterbuch’. Nahezu alle Bereiche der Literatur sind vertreten, religiöse Werke, Geschichtsdichtung bis hin zur Heldendichtung und überraschenderweise mit dem ‘Prüller Kräuterbuch’ (künftig: PKB ) auch ein medizinischer Text. Sieht man von einzelnen Rezepten wie etwa den um 800 aufgezeichneten ‘Basler Rezepten’ einmal ab, so steht dieses Kräuterbuch, zusammen mit seinem Geschwistertext, dem ‘Prüller Steinbuch’, am Beginn der deutschsprachigen Medizinliteratur. Bei beiden Texten handelt es sich um pharmakologische Texte, um Texte also, in denen nach der damaligen Medizintheorie bekannte und überaus wirksame Arzneimittel behandelt werden. Während im Steinbuch mineralische Drogen vorgestellt werden, sind es im Herbar die pflanzlichen Heilmittel, die im Grunde bis ins 19. Jahrhundert den Löwenanteil der Medikamente stellen. Mit beiden Texten werden zum ersten Mal Textsorten ins Deutsche übertragen, die im gelehrten lateinischen Schrifttum eine lange und erfolgreiche Tradition aufwiesen. Die Bedeutung des PKB s besteht vor allem darin, dass es am Beginn der Kräuterbücher steht, die sich in den folgenden Jahrhunderten als eine der zentralen Textsorten der Medizinliteratur etablierten. In Anlehnung an Kurt Gärtners grundlegende Zusammenstellung der Überlieferung von Willirams Werk1 versuche ich in meinem Beitrag, das erste Kräuterbuch in deutscher Sprache vorzustellen und dessen Überlieferung und Rezeption aufzuarbeiten. Zunächst sei aber kurz der Forschungsstand referiert. 1. Forschungsstand Den Grund für die Erforschung des PKB s hat Friedrich Wilhelm 1914 gelegt, der in seiner Ausgabe der ›Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts‹ die beiden ihm bekannten Textzeugen des 12. Jahrhunderts, München, 1 Kurt Gärtner, Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Willirams von Ebersberg, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 1–34.
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BSB , Clm 536 (M1) und Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek, Cod. 652 (I1), synoptisch als »Prüler Fassung« und »Innsbrucker Fassung« abdruckte und mit einem Kommentar versah.2 In den Anmerkungen ging er vor allem auf die »Quellenfrage« ein. Dabei kam er zu dem Schluss: »Die Quelle des Stückes war natürlich lateinisch und diese wohl ein Exzerpt aus einem grösseren lateinischen Werk«.3 Aus welchem Werk, blieb freilich offen. Ferner verwies er auf die Kräuterrezepte, die er in den Anhängen I (Wien ÖNB , Cod. 1118) und II (München, BSB , Clm 14851) zum »Innsbrucker Arzneibuch« abgedruckt hatte und die nach ihm eine enge Beziehung zum Kräuterbuch aufweisen.4 Die nächste entscheidende Etappe auf dem Weg der Erforschung dieses Textes stellte der Verfasserlexikonartikel von Gundolf Keil aus dem Jahr 1983 dar, der den Text unter der Werkbezeichnung ‘Innsbrucker (Prüler) Kräuterbuch’ ansetzte und das kleine Werk knapp charakterisierte.5 Unter der Rubrik Überlieferung wurden vier Textzeugen angeführt: Die Innsbrucker Hs. 652, der Münchner Clm 536 sowie die Wiener Handschrift 1118, die zwei unterschiedliche, durch eine Rezeptzone getrennte Fassungen überliefert. Außerdem wies Keil erstmals auf die Streuüberlieferung hin, die in den Handschriften Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 73 und Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S. 386, beide aus dem 14. bzw. 15. Jahrhundert, zu beobachten sei. Nach ihm stellt sich die Textgeschichte wie folgt dar: Der Text »wird zunächst in zwei nahezu identischen Abschriften des 12. Jh.s greifbar. Die Fassungen des 13. Jh.s zeigen ausgeprägte Textzersetzung, bieten vielleicht aber einige Kapitel, die zum Archetypus gehörten, in den Hss. des 12. Jh.s jedoch fehlen. Im SpätMA zerbröckelte der Textbestand und ging als Streuüberlieferung in obd. Rezeptaren auf« (Sp. 397). Die von Wilhelm abgedruckte Münchener Handschrift Clm 14851 wird, aus welchen Gründen auch immer, jedoch nicht angeführt. 1984 gelang es Karin Schneider, in den damals noch ungeordneten lateinischen Handschriftenfragmenten der Bayerischen Staatsbibliothek ein neues Fragment (München, BSB , Cgm 5248/11) des PKB s zu entdecken.6 Es stammt aus dem 12. Jahrhundert, umfasst allerdings nur wenige Zeilen. In meiner Habilitationsschrift »Text- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur pharmakographischen deutschen Literatur des Mittelalters«,7 die ein
2 Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Friedrich Wilhelm, München 21960, A: Text, S. 42– 45, B: Kommentar, S. 104–115. 3 Ebda., B: Kommentar, S. 105. 4 Ebda., B: Kommentar, S. 89 5 Gundolf Keil, ‘Innsbrucker (Prüler) Kräuterbuch’, in: VL 4 (1983), Sp. 396–398. 6 Karin Schneider, Neue Funde frühmittelhochdeutscher Handschriftenfragmente, in: Philologische Untersuchungen, Fs. Elfriede Stutz (Philologica Germanica 7), Wien 1984, S. 392–397. 7 Bernhard Schnell, Von den wurzen. Text- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur pharmakographischen deutschen Literatur des Mittelalters. Med. Habil. Schrift masch. Würzburg 1989, S. 42–91.
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eigenes Kapitel zu diesem Werk enthält, habe ich vor allem versucht, den Nachweis zu erbringen, dass die Innsbrucker Handschrift direkt von der Prüller Handschrift abhängig ist – was letztlich zu einer Änderung des Werktitels führte. Die Überlieferung wurde auf den neuesten Stand gebracht, wobei insbesondere die Münchner Handschrift Clm 14851 eingeordnet wurde. 1991 stellte ich die beiden ältesten Vollhandschriften vor und untersuchte vor allem die Mitüberlieferung des PKB s.8 In jüngster Zeit haben sich vermehrt Sprachwissenschaftler mit diesem Text befasst: 2003 hat insbesondere Valeria Di Clemente die Wiener Handschrift 1118 vorgestellt und den Text sprachlich analysiert;9 2007 ging Thomas Gloning10 im Rahmen seiner Untersuchung zur sprachlichen Gestalt der Kräuterbücher auf den Text ein, und 2009 erschien schließlich die Monographie von Valeria Di Clemente »Testi medico-farmaceutici tedeschi nell’XI e XII secolo«.11 Dabei hat sie den Text des Clm 536 nach Wilhelm abgedruckt, sehr kenntnisreich kommentiert und ins Italienische übersetzt; im Anhang wurde außerdem die Innsbrucker Handschrift nach Wilhelm wiedergegeben. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich auf die sprachgeschichtliche Analyse des Werks. Im Wintersemester 2009/2010 beschäftigte ich mich im Rahmen meines Hauptseminars »Medizin und Kräuterbücher in mittelalterlichen Handschriften« erneut mit dem PKB . Die dabei gewonnene neue Sicht auf Werk und Überlieferung sei hier vorgestellt. 2. Aufbau, Inhalt und Rezipientenkreis des Kräuterbuchs Der in den beiden ältesten Handschriften M1 und I1 übereinstimmend überlieferte Text enthält 18 Heilpflanzen, die in jeweils nur aus einem Satz bestehenden Kapiteln vorgestellt werden. Der Stil des Werks ist, wie ihn Wilhelm treffend beschrieb, »von medizinischer Kürze«.12 Das Prinzip der Abfolge der einzelnen Abschnitte ist nur schwer erkennbar. Die Analyse der einzelnen Kapitel zeigt jedoch, dass die ersten elf Kapitel eine Gruppe bilden, während die Kapitel 12 bis 18 ebenfalls eine strukturelle Übereinstimmung aufweisen.13 In der ersten 8 Bernhard Schnell, Das ‘Prüller Kräuterbuch’. Zum ersten Herbar in deutscher Sprache, in: ZfdA 120 (1991), S. 184–202. 9 Valeria Di Clemente, Contributo allo studio del Prueller Kräuterbuch. L’erbario Cod. Vindob. 1118 ff. 80v –81v, in: Itinerari [seconda serie] 1–2 (2003), S. 71–90. 10 Thomas Gloning, Deutsche Kräuterbücher des 12. bis 18. Jahrhunderts. Textorganisation, Wortgebrauch, funktionale Syntax, in: Gesund und krank im Mittelalter. Marburger Beiträge zur Kulturgeschichte der Medizin, hg. von Andreas Meyer und Jürgen Schulz-Grobert, Leipzig 2007, S. 9–88, hier S. 18–21 (3.1. Das Prüller Kräuterbuch). 11 Valeria Di Clemente, Testi medico-farmaceutici tedeschi nell’XI e XII secolo (Alemannica. Studi linguistici, filologici e dialettologici 3), Alessandria 2009, bes. S. 120–130. 12 Wilhelm [Anm. 2], B: Kommentar, S. 106. 13 Die Darstellung bei Keil [Anm. 5] ist sehr vereinfachend.
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Gruppe besteht jedes Kapitel aus drei Komponenten: erstens aus der Nennung der Pflanze, die stets an der Spitze jedes Kapitels steht, zweitens aus einer einfachen Applikationsanweisung, wie das Medikament verabreicht werden soll, und drittens aus der medizinischen Indikation, d. h. aus der Heilanzeige, mit der Angabe, wogegen das Arzneimittel nützlich sein soll.14 Entweder wird die Krankheit genannt oder es gibt eine Schilderung der Krankheitssymptome, die meist sehr vieldeutig und vage sind. In der zweiten Gruppe werden in den einzelnen Abschnitten jeweils nur zwei Komponenten thematisiert: die Nennung der Pflanze und die medizinische Indikation; die Applikationsanweisung fehlt dagegen. In diesen Kapiteln wird daher im Grunde nur darüber informiert, gegen welche Krankheit die Heilpflanze eingesetzt werden kann. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist ferner, dass in den Kapiteln 2 bis 11 in der Regel jeweils nur eine Heilanzeige gegeben wird (nur im 6. und 10. Kapitel sind es jeweils zwei), während im zweiten Teil wesentlich mehr Indikationen bei den einzelnen Heilpflanzen angeführt werden. Ausschließlich in der zweiten Gruppe wird die Primärqualität angeführt, allerdings nur bei drei der sieben Kapitel.15 Die Zweiteilung zeigt sich auch darin, dass in der ersten Gruppe einheimische Heilpflanzen behandelt, während in der zweiten eingeführte Heilpflanzen vorgestellt werden. Diese an sich klare Trennung wird durch die erste Pflanze, Isop, durchkreuzt. Von der Isop lässt sich für das frühe Mittelalter nicht eindeutig sagen, ob sie in Deutschland wild wachsend, angebaut oder eingeführt war. Isop (Hyssopus officinalis) war jedenfalls in Deutschland nicht heimisch und kam aus dem Mittelmeergebiet bzw. aus Vorderasien.16 Über die Gründe dieser Zweiteilung des Werks lässt sich nur spekulieren. Da man davon ausgehen kann, dass es sich beim PKB um eine Übersetzung bzw. um eine Bearbeitung aus dem Lateinischen handeln dürfte, könnte eventuell ein Wechsel in der uns unbekannten lateinischen Vorlage die Ursache dafür gewesen sein. Auffällig ist, dass die Zweiteilung mit dem Schreiberwechsel in M1 zusammenfällt. Wegen der Kürze der einzelnen Abschnitte und des Fehlens spezifischer Charakteristika konnte bis jetzt keine lateinische Vorlage nachgewiesen werden.17 Im Gegensatz zu Wilhelm, der davon ausging, dass es sich hier um Exzerpte aus einem größeren lateinischen Werk und um antikes Gut handelt,18 14 Einzig Kapitel 8 (Menta) macht hier eine Ausnahme und bietet keine Applikationsanweisung. 15 In den Kapiteln 12 (Galgan), 14 (Ingwer) und 16 (Muskatnuss) wird hervorgehoben, dass sie warmer natur seien. 16 Es ist nicht einmal sicher, ob es sich bei Isop überhaupt um die heute als Hyssopus officinalis bekannte Art handelte. Vielleicht verbarg sich hinter dem Namen Isop eine Verbena- oder Origanum-Art; für die Hinweise zur Isop habe ich Frau Irmgard Müller (Bochum) zu danken. 17 Erschwerend kommt hinzu, dass die infrage kommenden lateinischen Texte kaum erforscht sind. 18 Vgl. Wilhelm [Anm. 2], B: Kommentar, S. 105 f.
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vermute ich, dass hier eher ein kleines Herbar vorliegt, das aus dem Umkreis der salernitanischen Medizin stammt. Wenn uns auch dieses Herbar nicht bekannt ist, so könnten sich in der Londoner Handschrift, British Libr., Ms. Add. 16892, Spuren davon erhalten haben.19 Die Handschrift aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts überliefert neben dem ‘Bartholomäus’ einen in der Textabfolge stark gestörten deutschen ‘Macer’, in dem eine Gruppe von lateinischen Rezepten inseriert wurde, die mehrere Heilpflanzen und deren Wirkung vorstellen. Dabei gibt es ein Isop- sowie ein Bibernelle-Kapitel, die nach dem Urteil Wardales aus dem salernitanischen Schrifttum stammen sollen:20 154. Ysopus valet calida aqua bibita ad mortuum abortivum expellendum. Qui habet stomachum aut splen ulceratum bibat ysopum cum calido vino. Item contra anhelitum fetidum sumat ysopum calidum. 155. Bibinella valet contra tussim et omnem dolorem cordis si coctam et in aceto contusam bibat.21
Die beiden ersten Kapitel aus dem PKB lauten:22 o
o
1. Isopo ist gvt chrut. Obe diu gebvrt stirbet in demo wibe, trinche iz mit warmem wazzer, o so uert iz uone ire. Er ist gvt wr den stechen unte hilfet och den, den der mage svirt. o o 2. Bibinella ist gvt zu allen arbaiten des herzen, der si mit eziche svdit unte si so niuzet.
Der Vergleich zeigt zum einen, dass die beiden Texte in wichtigen Aussagen übereinstimmen. Zum anderen weisen beide Texte die gleiche signifikante Abfolge der Heilpflanzen auf, die so in keinem anderen mir bekannten Kräuterbuch vorkommt. Ob der Text der Londoner Handschrift die Quelle für die beiden ersten Kapitel des PKB repräsentiert oder ob die Übereinstimmung der beiden Texte auf Quellengemeinschaft beruht, lässt sich, solange die Überlieferungsgeschichte der Londoner Abschnitte nicht bekannt ist, derzeit nicht entscheiden. Der Vergleich des deutschen mit dem lateinischen Text gibt darüber hinaus einen wichtigen Hinweis auf den Stellenwert des PKB s: Der deutsche Text ist nahezu auf dem gleichen Niveau wie der lateinische und stellt keineswegs eine popularisierende oder vereinfachende Fassung dar.
19 Zur Handschrift siehe: Der deutsche ‘Macer’. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‘De viribus herbarum’. Kritisch hg. von Bernhard Schnell in Zusammenarbeit mit William Crossgrove (Texte und Textgeschichte 50), Tübingen 2003, S. 120 f.; mit Ausnahme des ‘Macer’ ist die Handschrift abgedruckt bei: Der Hochdeutsche Bartholomäus. Kritisch-kommentierter Text eines mittelalterlichen Arzneibuches auf Grund der Londoner Handschriften Brit. Mus. Add. 16892, Brit. Mus. Arundel 164, Brit. Mus. Add. 17527, Brit. Mus. Add. 34304 von Walter L. Wardale † [hg. von James Follan], [Dundee] 1993, Text I, S. 1–107. 20 Vgl. Wardale [Anm. 19], Einleitung III , S. 24. 21 Die Abschnitte 154 und 155 sind zitiert nach Wardale [Anm. 19], Text I, S. 99 f. 22 Den Text des PKB zitiere ich nach der Handschrift M1; dabei habe ich die nach meiner Ansicht falsche Lesart stenken von M1 durch stechen aus I1 ersetzt.
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Welche Krankheiten werden im Text behandelt und welche Arzneimittel werden für deren Heilung eingesetzt? Obwohl das Werk nur einen geringen Umfang aufweist, werden über 40 medizinische Heilanzeigen angeführt. Wie die folgende Aufstellung23 belegt, bietet der Text für eine ganze Reihe von Krankheiten Heilmittel: – Aus dem Bereich der Kopf- und Halskrankheiten kann man mit den verzeichneten Heilkräutern Erkrankungen der Augen (Schöllkraut, Nr. 5), der Ohren (Hauswurz, Nr. 11), der Zähne (Beifuß, Nr. 6 und Ingwer, Nr. 14), des Mundes und des Halses (Bertram Nr. 15) sowie üblen Mundgeruch (Galgan, Nr. 12) behandeln. – Auf dem Gebiet der Krankheiten der Brust hilft bei Husten Süßholz (Nr. 18), bei Brust- und Lungenkrankheit Isop (Nr. 1), Bertram (Nr. 15) und Süßholz (Nr. 18) sowie bei Herzerkrankung Bibernelle (Nr. 2). – Bei den häufig vorkommenden Erkrankungen des Bauches werden Heilmittel zur Behandlung der Störung der Verdauung (Galgan, Nr. 12, Zitwer, Nr. 13 und Pfingstrose, Nr. 17), der Magen- und Darmbeschwerden (Isop, Nr. 1, Sellerie, Nr. 10, Ingwer, Nr. 14 und Pfingstrose, Nr. 17), der Milz- (Muskatnuss, Nr. 16) und Lebererkrankung (Muskatnuss, Nr. 16) angeführt. – Bei »allgemeinen« Krankheiten wird Senf (Nr. 7) bei Hautkrankheiten, Engelsüß (Nr. 4), Efeu (Nr. 9) und Pfingstrose (Nr. 17) bei schmerzhaften Leiden in den Gelenken (lanche, giht ), Zitwer (Nr. 13) bei Vergiftung sowie Enzian (Nr. 3) und Sellerie (Nr. 10) bei Gemüts- und Nervenkrankheiten eingesetzt. – Gegen Frauenkrankheiten werden vier Heilmittel (Nr. 1, 6, 13 und 17) angeführt. – Schließlich werden Mittel gegen »allgemeine« Beschwerden, die eigentlich nicht als Krankheiten einzustufen sind, ebenso vorgestellt, wie etwa allgemeine Stärkungsmittel (Muskatnuss, Nr. 16), Geriatrika, Arzneimittel, die der Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit alter Menschen dienen (Ingwer, Nr. 14), oder Mittel, die als Aphrodisiaka (Galgan, Nr. 12 und Muskatnuss, Nr. 16) bzw. als Anti-Aphrodisiakum (Minze, Nr. 8) angepriesen wurden. Erste Hinweise auf die Adressaten der Rezepte lassen sich aus der Überlieferung der ältesten Textzeugen gewinnen, die überaus einheitlich verläuft. Abgesehen vom Fragment M2, das für diese Fragestellung wenig aussagekräftig ist, wird das Werk in allen drei Handschriften im Verbund mit anderen kleineren lateinischen 23 Meine Aufstellung folgt dem Schema der grundlegenden Untersuchung von Dietlinde Golz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Dargestellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai (Veröffentlichung der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie N. F. Bd. 44), Stuttgart 1976. Zu den einzelnen Heilpflanzen bietet die Arbeit von Claudia Richter, Phytopharmaka und Pharmazeutika in Heinrichs von Pfalzpaint ‘Wündärznei’ (1460). Untersuchungen zur traumatologischen Pharmakobotanik des Mittelalters (Würzburger medizinhistorische Forschungen 84), Würzburg 2004, einen sehr nützlichen Einstieg.
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und deutschen medizinischen Texten in einem eigenständigen Faszikel tradiert, der von lateinischen gelehrten religiösen Schriften umgeben ist.24 Aufgezeichnet wurden diese Kodizes ausschließlich in monastischen Kreisen: Die Münchner Handschrift M1 wurde im Auftrag des aus dem Benediktinerstift Admont stammenden Abtes Wernher um 1144/45 im Benediktinerkloster Prüll (Regensburg) geschrieben. Die Innsbrucker Handschrift I1, deren Herkunft uns nicht bekannt ist, dürfte aus dem gleichen geistlichen Umkreis kommen, da ihr deutscher Faszikel sehr eng mit der Prüller Handschrift verwandt ist. Die Wiener Handschrift W1 soll schließlich im Benediktinerkloster Mondsee zu Pergament gebracht worden sein. Die Überlieferung spricht eindeutig dafür, dass das Werk in einem klösterlichen Skriptorium entstanden ist; ob dies Regensburg oder Admont gewesen ist, wo Abt Wernher vor seiner Berufung nach Prüll als Stiftsbibliothekar tätig war, muss offenbleiben. Der Inhalt des Werks bietet allerdings ein anderes Bild. Die relativ häufig angeführten Medikamente gegen Frauenkrankheiten sprechen nicht dafür, dass dieser Text für Mönche verfasst wurde. So wird die Isop (Nr. 1) für das Abtreiben einer Totgeburt empfohlen. Dabei ist zu bedenken, dass die Grenze zwischen einem Mittel zum Austreiben einer Totgeburt und zur Abtreibung sehr schwankend und nur von der Zubereitung und Dosierung der jeweiligen Pflanze abhängig ist. Auch das Beifuß-Rezept (Nr. 6), das für die Einleitung einer Geburt vorgeschlagen wird, spricht nicht dafür, dass hier Rezepte für den Alltag eines Männerklosters aufgezeichnet wurden, genauso wenig wie Mittel, welche das sexuelle Verlangen stimulieren, wie etwa Galgan (Nr. 12), der den man unte daz uuib ze mihchelen minnen bringen soll.25 Das kleine Werk wie auch die in den Faszikeln mitüberlieferten anderen volkssprachigen medizinischen Texte zeigen exemplarisch, wie in der Mitte des 12. Jahrhunderts in einem bayrischen Benediktinerkloster weltliches Wissen aufgegriffen, rezipiert, in die Volkssprache übersetzt und weitergegeben wurde, und dies für einen Adressaten- und Benutzerkreis, der außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft lag.26 Ob der Text in einem Zusammenhang zum Hospital stand,27 das zur gleichen Zeit vom Kloster eingerichtet wurde, muss, da die Quellen schweigen, offen bleiben.
24 Zur Handschrift M1 und I1 vgl. Schnell [Anm. 8]; zur Handschrift W1 siehe unten Bergmann und Stricker [zu W1]. 25 Vgl. dazu auch Dorothe´e Leidig, Frauenheilkunde in volkssprachigen Arznei- und Kräuterbüchern des 12. bis 15. Jahrhunderts. Eine empirische Untersuchung. Phil. Diss. Würzburg 2004, S. 35. 26 Wenn mir auch die Vorstellung von Gundolf Keil [Anm. 5], der Verfasser »richtete sich am Bedarf der Klosterpforte aus« (Sp. 397), höchst unwahrscheinlich und reine Spekulation zu sein scheint, so ist doch seiner zugrunde liegenden Sicht, einige Heilverfahren richten sich an ein nichtklösterliches Publikum, zuzustimmen. 27 Vgl. dazu Schnell [Anm. 8], S. 201.
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3. Die frühe Überlieferung 1. München, SB , Clm 563, 86r –87r (M1) Perg.; von zwei Händen (Hand I: 1–27; II : 28– 46); um 1145; bair.-österr.; aus dem Benediktinerkloster Prüll. – Beschreibung der Handschrift: Schnell [Anm. 8], bes. S. 186– 193. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de); hier auch der Link zur Abbildung des Textes im Internet. – Textabdruck: Wilhelm [Anm. 2], A: Text, S. 42– 45.
2. Innsbruck, Universitäts- und Landesbibl., Cod. 652 (I1) Perg.; wohl Abschrift von M1; 3. Viertel 12. Jh.; bair.-österr.; Entstehungsort unbekannt. – Beschreibung der Handschrift: Schnell [Anm. 8], S. 193–196. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus; hier auch der Link zur Abbildung des Textes im Internet. – Textabdruck: Wilhelm [Anm. 2], A: Text, S. 42– 45.
3. München, SB , Cgm 5248/11 (M2) Perg.; Fragment (nur 7 Wörter; im unmittelbaren Anschluss an das ‘Prüller Steinbuch’); 3. Viertel 12. Jh.; bair.; Entstehungsort unbekannt. – Beschreibung und Textabdruck: Schneider [Anm. 6], S. 392–397. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus; hier auch der Link zur Abbildung des Textes im Internet.
4. Wien, ÖNB , Cod. 1118, 78v –81v (W1) Perg.; 1. Hälfte 13. Jh.; bair.-österr.; möglicherweise aus dem Benediktinerkloster Mondsee. – Beschreibung der Handschrift: Valeria Di Clemente [Anm. 9], bes. S. 77–79; Rolf Bergmann und Stefanie Stricker unter Mitarbeit von Yvonne Goldammer und Claudia Wich-Reif, Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, Berlin / New York 2005, Bd. 4, S. 1774 f. (Nr. 933). Weitere Literatur siehe Handschriftencensus. – Textabdruck: Wilhelm [Anm. 2], B: Kommentar, S. 101–104.
Die Handschrift enthält, wie bereits Gundolf Keil [Anm. 5] feststellte, zwei verschiedene Fassungen, die durch deutsche und lateinische Rezepte getrennt sind: – 80v –81r: PKB (Wilhelm, Nr. 1–20) mit der Überschrift: De uirtutibus quarundam herbarum uel radicum (W1) – 81r: zwei deutsche Rezepte (Nr. 21: wie man Fische fängt und Nr. 22: gegen Blindheit) – 81r: lateinische Rezeptsammlung (Nr. 23–30) – 81r –81v: Antidotum piretri (Nr. 31; auch überliefert in den beiden Handschriften des 9. Jahrhunderts: St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 751, S. 288 und Montecassino, Cass. 69, 287v)28 – 81v: deutsche medizinische Rezepte (Nr. 32–37) – 81v: PKB -Bearbeitung – Wiener Kräuterbuch (Nr. 38–50) (siehe W2) 28 Die Kenntnis der Parallelüberlieferung verdanke ich meinem Mainzer Kollegen KlausDietrich Fischer. Vgl. Klaus-Dietrich Fischer, Praenostica – Die Rezeption des Prognostikons im Frühmittelalter, in: La science me´dicale antique, hg. von Ve´ronique Boudon-Millot u. a., Paris 2007, S. 189–226.
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Der Schreiber von W1 verkürzt den an sich schon knappen Text erneut. Typisch für ihn ist, dass er die Beschreibung der Krankheitssymptome durch eine Bezeichnung der Krankheit in Form von Nominalkomposita ersetzt. So schreibt er beispielsweise anstelle von den der mage swirt (Nr. 1) nur magesere, für zu allen o arbaiten des herzen (Nr. 2) nur herzesere, für denlanche we tvint (Nr. 4) nur lanchsere. Wie sehr der W1-Bearbeiter seine Vorlage verknappen kann, zeigt das Galgan-Kapitel (Nr. 12), das freilich den Extremfall darstellt: Daz galgan ist warmer nature. Iz doivvet unte losit, machet den munt uil siuze stinkent unte bringet den man unte daz uuib ze mihchelen minnen. W1 schreibt dagegen ganz lapidar: Galgan ist gut den der munt stinchet vnd zv minnen. In W1 wurden o zwei neue Heilpflanzen inseriert. Nach Nr. 10 ein Lauch-Kapitel (Louch vvr den buchsveren ist gut) und am Ende des Textes ein Abschnitt über die Zaunrübe (Brionen puluer mit honege gemischet legiz ober den grint iz hilfet ). Die von Wilhelm aufgeworfene und von Keil übernommene Frage, ob es sich bei den beiden Abschnitten möglicherweise um ursprünglichen Text handelt, der in M1 und I1 fehlt, möchte ich verneinen, da beide Kapitel Fremdkörper in den jeweiligen Teilen darstellen. So weist zum einen der Abschnitt über den Lauch nicht die in der ersten Gruppe übliche Applikationsanweisung auf. Zum anderen passt der Abschnitt über die heimische Zaunrübe nicht in den zweiten Teil, der nur eingeführte Heilpflanzen enthält, die noch dazu ohne Applikationsanweisung vorgestellt werden. 4. Bearbeitungen im 13. und 14. Jahrhundert 5. Wien, ÖNB , Cod. 1118, 81v (W2) Zur Handschrift und Literatur siehe oben W1 − Textabdruck: Wilhelm [Anm. 2], B: Kommentar, S. 104, Nr. 38–50.
Aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist eine Teilbearbeitung des PKB s erhalten, die ich vorläufig nach der einzigen Handschrift W1 ‘Wiener Kräuterbuch’ benannt habe. Dieses Herbar beginnt mit fünf Heilpflanzen aus dem PKB (Wilhelm, Nr. 38– 45), die allerdings leicht bearbeitet wurden. Es handelt sich dabei um Ysope (Nr. 1), Bibinelle (Nr. 2), Senif (Nr. 7), Enciana (Nr. 3) und Staiwarm (Nr. 4). Es folgen drei weitere Heilpflanzen (Violu, Isran und Petrosilinum), die nicht aus diesem Umkreis stammen (Wilhelm, Nr. 46–50); eine Untersuchung fehlt. 6. München, SB , Clm 14851, 117r –119r (M3) Perg.; Mitte 13. Jh.; bair.-österr.; aus dem Benediktinerkloster St. Emmeram, Regensburg. − Beschreibung der Handschrift: Medizinische Sammelhandschrift (u. a. Macer Floridus ‘De viribus herbarum’) mit einem deutschen Faszikel (Bl. 105–119): 105r –115r: ‘Bartholomäus’, 115v –117r: ‘Emmeramer Rezeptar’ (eine Teilbearbeitung des ‘Innsbrucker Arzneibuchs’), 117r –119r: ‘Emmeramer Kräuterbuch’. − Textabdruck: Wilhelm [Anm. 2], B: Kommentar, S. 99–101, Nr. 44–78.
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Das aus dem ehemaligen Regensburger Benediktinerkloster Sankt Emmeram stammende Kräuterbuch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ist nur in dieser Handschrift überliefert. Vom Typus her ist es eng mit dem ‘Prüller Kräuterbuch’ verwandt. Auch hier werden die einzelnen Heilpflanzen in der Regel nur mit einem Satz vorgestellt. Überdies stimmen die ersten Abschnitte (Wilhelm, Nr. 44– 45, Isop; 46, Bibernelle; 49, Senf und teilweise auch Nr. 52, Sellerie und 54, Engelsüß) in Wortwahl und Abfolge mit den betreffenden Kapiteln des PKB s überein. Aus diesem Grunde zähle ich, im Gegensatz zu Keil [Anm. 5], die Handschrift zur Rezeption des PKB s. Der überwiegende Teil der restlichen knapp 25 Heilpflanzen (Wilhelm, Nr. 47 f., 50 f., 53, 55–78) bietet jedoch eine eigenständige Sammlung. Ich habe den Text vorläufig als ‘Emmeramer Kräuterbuch’ bezeichnet. Abgesehen vom Abdruck des Textes durch Wilhelm gibt es bislang keine Publikation zu diesem wenig umfangreichen Herbar. 7. Breslau, Universitätsbibl., Cod. R 291,110r –110v (Br1) Perg.; 1. Viertel 14. Jh.; obersächs.(-thür.); Entstehungsort unbekannt. – Beschreibung der Handschrift: Gundolf Keil, Breslauer Arzneibuch, in: 2VL 1 (1978), Sp. 1023 f.; Schnell / Crossgrove [Anm. 19], bes. S. 113 f. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus. – Textabdruck: Das Breslauer Arzneibuch, hg. von C. Külz und E. Külz-Trosse, Dresden 1908, S. 137, Z. 30–39.
In dieser Handschrift wird nach dem ‘Deutschen salernitanischen Arzneibuch’ eine Abschrift des ‘Bartholomäus’ überliefert, die, wie es scheint, mehrfach mit einer anderen ‘Bartholomäus’-Abschrift kompiliert wurde. Kurz vor dem letzten Abschnitt, dem ‘Verbenatraktat’, werden nun, was bisher in der Forschung übersehen wurde, Abschnitte aus dem PKB in einer in sich geschlossenen Gruppe inseriert.29 Ausgewählt wurden: Ysop (PKB , Nr. 1), Galgan (Nr. 12), Citewer (Nr. 13), Ingeber (Nr. 14), Muschat (Nr. 16) und Liquiritie (Nr. 18). Trotz der Textauswahl folgen die einzelnen Kapitel exakt der Reihenfolge des PKB s. Auch wenn die Kapitel relativ selbständig formuliert sind, so ist doch vom Wortlaut her die unmittelbare Vorlage, das PKB , eindeutig zu erkennen. Die Handschrift ist ein Indiz dafür, dass der Text, der im 12. und 13. Jahrhundert nur im bairisch-österreichischen Raum verbreitet war, auch noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts rezipiert wurde und darüber hinaus in den ostmitteldeutschen Sprachraum ausstrahlte.
29 Walter Lawrence Wardale, Some Notes on the Stockholm MS X 113 and the Göttingen MS hist. nat. 51, in: Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift für Gerhard Eis, hg. von Gundolf Keil u. a., Stuttgart 1968, S. 457– 467, hier S. 458 f., hat erstmals darauf hingewiesen, dass das Isop-Rezept des PKB s u. a. auch im »Breslauer Arzneibuch« tradiert wird. In seiner ‘Bartholomäus’-Ausgabe, vgl. Wardale [Anm. 19], Text I, S. 100 (Sigle: 14 Bs) hatte er diese Information wiederholt und den betreffenden Text abgedruckt. In der Forschung ist man aber seinen Hinweisen nicht nachgegangen.
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5. Die Streuüberlieferung im 14. und 15. Jahrhundert Von Streuüberlieferung spricht man im Allgemeinen, wenn einzelne Exzerpte oder Segmente eines Werkes aus ihrem ursprünglichen Werkzusammenhang herausgelöst und in einen völlig anderen Überlieferungskontext eingearbeitet, »verstreut« wurden. Um diese inserierten Textpartien trotz ihrer fremden Umgebung erkennen zu können, müssen sie gleichsam wie ein Zitat erkennbar sein, d. h. sie müssen sowohl in der Satzkonstruktion als auch im Wortlaut mit dem ursprünglichen Text übereinstimmen. Orthographische oder sprachlandschaftlich bedingte Abweichungen fallen dagegen nicht darunter. Eine nur inhaltliche Übereinstimmung reicht nicht aus, die Textstelle zu identifizieren. Diese scharfe Grenzziehung hat man bisher in der Forschung zur »Sachliteratur« generell zu wenig beachtet und sich oft mit einer inhaltlichen Ähnlichkeit zufrieden gegeben. Wenn man von Streuüberlieferung sprechen will und wenn man vor allem auf Grund dieser Basis weitreichende Schlüsse zur Rezeption ziehen möchte, bedarf es, selbst bei stark variierenden Gebrauchtexten, dieser strikten Grenzziehung. Unter dieser generellen Vorgabe habe ich die in Frage kommenden Exzerpte erneut überprüft. 8. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. St. Georgen 73 Pap.; medizinische Sammelhandschrift; um 1400; alem.; mittelalterliche Vorbesitzer sind nicht bekannt. – Beschreibung der Handschrift: Theodor Längin, Deutsche Handschriften (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Beilage II ,2), Karlsruhe 1894 (Neudruck mit bibliographischen Nachträgen Wiesbaden 1974), S. 26–28, 145 f. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus. – Textabdruck: Ulrike Ott-Voigtländer, Das St. Georgener Rezeptar. Ein alemannisches Arzneibuch des 14. Jahrhunderts aus dem Karlsruher Kodex St. Georgen 73. Teil I: Text und Wörterverzeichnis. Pattensen 1979 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 17), S. 47 (215r, 10) und S. 49 (215v, 25–27 und 216r, 5–7). – Text: Vom PKB wird nur das Isop-Kapitel angeführt30 und dies im Kontext eines Rezeptars, das von der Herausgeberin als ‘St. Georgener Rezeptar’ bezeichnet wurde.31 215r: Trink ysopen mit wasser fu´r den stechen (es folgen verschiedene andere o Rezepte zu völlig anderen Krankheiten); 215v: Ysopus ist gut mit haissem wasser dem wib, v o der die geburt tod ist in dem lib; er ist och gut fu´r die magen suht.
Die Karlsruher Handschrift überliefert alle drei Textsegmente des Isop-Kapitels. Allerdings werden sie, durch eine Reihe anderer Rezepte getrennt, an zwei verschiedenen Stellen angeführt. Obwohl deren Wortlaut gegenüber dem des PKB s sehr unterschiedlich ist, lässt sich an der signifikanten Auswahl der Indikationen der ursprüngliche Text erkennen. Man kann daher diesen Textzeugen mit einigem Recht als Streuüberlieferung einstufen. 30 Auf diesen Textzeugen hat als erster Joachim Telle, Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur. Untersuchungen und Texte unter besonderer Berücksichtigung des ‘Thesaurus pauperum’, Phil. Diss. Heidelberg 1972, S. 102, hingewiesen. 31 Im VL wird der Text unter dem Titel »Arzneibuch Meister Berchtold« behandelt, vgl. G. Keil, Meister Berchtold, in: VL 1 (1978), Sp. 711 f.
Das ‘Prüller Kräuterbuch’
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9. Solothurn, Zentralbibl., Cod. S 386 Pap., medizinische Sammelhandschrift; 1463–1466; alem.; der Hauptteil der Hs. ist von der Hand des Johannes Stoll aus Ravensburg. – Beschreibung der Handschrift: Alfons Schönherr, Die mittelalterlichen Handschriften der Zentralbibliothek Solothurn, Solothurn 1964, S. 38– 44. Neuere Literatur siehe Handschriftencensus; hier auch der Link zur Abbildung des Textes im Internet. – Text: Die Rezeptsammlung enthält an zwei verschiedenen Stellen Exzerpte aus dem PKB .32 Auf Bl. 72r wird eine Anwendung aus dem Isop-Kapitel angeführt: Fu´r den stechten trinck ysopen mit wasser vnd der vnmächtig sy oder nit schlaffen mag der trinck bilsen samen mit essich.33 Wenn auch stechten eine Verschreibung sein dürfte, so wird man wohl annehmen dürfen, dass damit stechen, das Seitenstechen, gemeint war. Da in den mittelalterlichen Kräuterbüchern Isop zur Behandlung von Seitenstechen allein im PKB angeführt wird, kann man diese Stelle als Zitat aus dem PKB deuten. – Eindeutiger ist der Zusammenhang mit dem PKB bei der zweiten Textstelle auf Bl. 144r: Item fu´r das stechun trinck ysoppen mit wasser [. . .] Item ysopus ist o gut ze trincken in warmem wasser dem wibe in der die geburt tod ist. Item bu´benelle ist o o o gut zu dem herczen mit essich genossen vnd ist och gut dem tobenden.
Aus dem PKB werden hier zwei Textsegmente des Isop-Kapitels angeführt. Im unmittelbaren Anschluss folgt, wie im PKB , ein Abschnitt über die Bibernelle; o hier freilich mit dem Zusatz vnd ist och gut dem tobenden.
*** Wenn man die Textsplitter der Karlsruher und Solothurner Handschrift mit einigem Recht als Streuüberlieferung des PKB s einstufen kann, so kann aus meiner Sicht bei den folgenden Stellen nicht nachgewiesen werden, ob sie auf dem PKB beruhen oder nicht. Da sie jedoch in der Literatur genannt wurden, seien sie hier angeführt: Stockholm, Königl. Bibl., Cod. X 113 (2. Hälfte 15. Jh.): Van eyner doder vrucht. Item gyff eyner vrowen ysopen myt warmen watere, so wert sey verloest van der doden boirt.34 Privatbesitz Auktionshaus Sotheby’s, London, Nr. 1985/64 (Verbleib unbekannt, früher Petronell [NÖ ], Schloßbibl. der Grafen von Traun-Abensberg, Cod. cart. 326) (3. Drittel 15. Jh.): Vnd in Wasser getruncken ist gut dem weib, in der da stirbett di purd vnd mag nit peleiben (im Isop-Kapitel vom Übersetzer hinzugefügt).35 32 Von den beiden Stellen wird bei Keil [Anm. 5], Sp. 396, nur der Text von Bl. 72r angeführt; Telle [Anm. 30], S. 42, Anm. 111 [richtig: 110], dagegen verweist nur auf den Text von Bl. 144r. 33 Die Textstellen aus der Solothurner Handschrift zitiere ich nach der Handschrift. 34 Zitiert nach Agi Lindgren, Ein Stockholmer mittelniederdeutsches Arzneibuch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Acta Universitatis Stockholmiensis / Stockholmer germanistische Forschungen 5), Stockholm 1967, S. 104, Nr. 80. 35 Zitiert nach Nigel Palmer, Das Petroneller Kräuterbuch, in: Träume und Kräuter. Studien zur Petroneller ‘Circa instans’-Handschrift und zu den deutschen Traum-
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London, British Libr., Ms. Add. 17527 (2. Drittel 15. Jahrhundert): 117: Wor alle wetagen des herczen. Nym bebebel und seud si mit essik und trink das;36 163,2.: Ysop ist gut czu dem der mage swirt ader das milcz, der trink den ysop mit warmen weine.37 Stockholm, Königl. Bibl., Cod. X 114 (v. J. 1487): Van frauwen. Eyn ander. Sut bifot myt water vnd mach ein plaster davan op den nawel vnd op de bein, so wirt se drade loset van der burt. So nym et van stunt af.38
6. Resümee und Ausblick Das älteste Kräuterbuch in deutscher Sprache dürfte wohl in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in einem bayerischen oder österreichischen Benediktinerkloster, vermutlich in Admont bzw. Regensburg, entstanden sein. Denkbar ist freilich auch, dass die um 1144/45 geschriebene Prüller Handschrift (M1) das Original darstellt. Ist das kleine Werk im 12. Jahrhundert relativ breit überliefert, so nimmt das Interesse an ihm in den folgenden Jahrhunderten deutlich ab; im 14. Jahrhundert ist es nur noch in Exzerpten greifbar. Die Ursache für dieses nachlassende Interesse dürfte das Aufkommen eines neuen Werkes gewesen sein, das diese kleine Schrift an medizinischem Wissen bei weitem übertraf und schließlich überflüssig machte, der deutsche ‘Macer’. Ohne historische Kontinuität setzt er neu ein und dies in einem ganz verschiedenen literarischen und sozialen Umfeld. Mit dem deutschen ‘Macer’, der wohl um 1220 an einem thüringisch-obersächsischen Hof entstand und sehr bald zu einem »Bestseller« wurde, etablierte sich nach der einfachen Form des PKB s die Textsorte der Kräuterbücher als eine der Großformen der mittelalterlichen Medizinliteratur.
büchern des Mittelalters, hg. von N. P. und Klaus Speckenbach, Köln, Wien 1990, 89, Z. 514 f.; im Kommentar verweist Palmer (S. 106) bei dieser Erweiterung auf die betreffende Stelle im St. Georgener Rezeptar (Bl. 215v) der Karlsruher Handschrift (siehe oben Nr. 8). 36 Zitiert nach Wardale [Anm. 19], Text III , S. 30. 37 Ebda., Text III , S. 40. 38 Zitiert nach: Das Arzneibuch des Johan van Segen, hg. von Helny Alstermark (Acta Universitatis Stockholmiensis / Stockholmer germanistische Forschungen 22), Stockholm 1977, S. 124, Nr. 472; vgl. dazu Leidig [Anm. 25], S. 35.
Mittelniederdeutsch und Mittelhochdeutsch in den Kanzleien Halberstadts von Rudolf Bentzinger
Die Feststellung Kurt Böttchers, die ersten deutschen, d. i. niederdeutschen Urkunden seien in der bischöflichen Kanzlei Halberstadts 1310 und in der Stadtkanzlei 1326, die ersten hochdeutschen Urkunden bei den Bischöfen 1357 und beim Rat 1427 ausgestellt worden und die letzten niederdeutschen in der Kanzlei des Hochstifts 1480 und in der des Rates im 16. Jahrhundert ausgefertigt worden,1 verdient Beachtung. Generell wird der Übergang niederdeutscher Kanzleien zum Hochdeutschen am Beginn des 16. Jahrhunderts bzw. in der Reformationszeit (im Küstengebiet sogar erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) angesetzt.2 Gegenüber solchen Pauschalisierungen differenziert Kurt Böttcher zu Recht zwischen den Entwicklungen in der bischöflichen und in der städtischen Kanzlei, da diese wie in etlichen deutschen Städten auch in Halberstadt unterschiedlich verlaufen sind. Da wir zu den Halberstädter Kanzleisprachen keine der Goslarer Stadtsprache adäquate Untersuchung haben,3 obwohl Halberstadt der Bergwerksstadt im Nordharzgebiet in nichts nachsteht, sollen hier einige Beobachtungen angestellt werden, wobei die Urkundeneditionen von Gustav Schmidt, dem Direktor des Halberstädter Domgymnasiums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Textgrundlage bilden.4 1 Vgl. Kurt Böttcher, Das Vordringen der hochdeutschen Sprache in den Urkunden des niederdeutschen Gebietes vom 13. bis 16. Jahrhundert, Kap. I , II und XI , Phil.-Diss. Berlin 1916, S. 32. 2 Vgl. Artur Gabrielsson, Die Verdrängung der mittelniederdeutschen durch die neuhochdeutsche Schriftsprache, in: Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Cordes und Dieter Möhn, Berlin 1983, S. 149, danach: Hans Ulrich Schmid, Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, Stuttgart / Weimar 2009, S. 55; Kurt Rastede, Das Eindringen der hochdeutschen Schriftsprache in Oldenburg, in: Oldenburger Jahrbuch des Vereins für Landesgeschichte und Altertumskunde 38 (1934), Oldenburg 1935, S. 22. 3 Vgl. Gerhard Cordes, Schriftwesen und Schriftsprache in Goslar bis zur Aufnahme der neuhochdeutschen Schriftsprache, Phil.-Diss. Hamburg 1934. 4 Vgl. Urkundenbuch der Stadt Halberstadt. Erster und Zweiter Theil, hg. in Gemeinschaft mit dem Harzverein für Geschichte und Alterthumskunde von der Historischen Commission der Provinz Sachsen (T. I ), hg. von der Historischen Commission der Provinz Sachsen (T. II ). Bearbeitet von Gustav Schmidt (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 7.1 und 7.2), Halle (S.) 1878, 1879 (USH ); Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe. T. I –IV , hg. von Gustav Schmidt (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 17, 21, 27, 40), Leipzig 1883, 1884, 1887, 1889 (UHH ). Der Nachweis erfolgt unter den Siglen USH bzw. UHH , Band- und
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Das Dialektgebiet Halberstadts wird seit Agathe Laschs »Mittelniederdeutscher Grammatik« von 1914 »Elbostfälisch« genannt. Senkung mhd. i > e, u > o, ik und ek, mik, mek für ich, mir, mich sah sie als wesentliche Kennzeichen an;5 heute rechnet man noch u. a. i für mnd. eˆ, die g-Spirantisierung ( ja¯n für ga¯n) und den Einheitsplural auf -et im Plural Präsens Indikativ hinzu.6 Schon Agathe Lasch war aufgefallen: »Hier wurde z. t. das nd. innerhalb der mnd. periode aufgegeben«,7 und auch heute gilt dieses ohnehin der hochdeutsch-niederdeutschen Grenze nahegelegene Gebiet als »Treppenlandschaft«.8 Wie diese niederdeutsch / hochdeutschen Auseinandersetzungen im 13./14. Jahrhundert vor sich gingen, soll an einigen Beispielen illustriert werden: Die Urkundung war in der Bischofskanzlei vom 9. bis zum 13. und in der Stadtkanzlei vom 11. bis zum 13. Jahrhundert durchweg lateinisch. Die erste uns interessierende Urkunde – die Bestätigung des Bistums Halberstadts durch Ludwig den Frommen – stammt vom 2. September 814 und erwähnt, dass Hildegrimus Catholanensis, ecclesie Halberstadensis episcopus venerabilis (UHH 1, 2) eingesetzt worden sei. Das Bistum Halberstadt, Anfang des 9. Jahrhunderts – also noch zur Zeit Karls des Großen – gegründet und mit der Sachsenmissionierung betraut, hatte zunächst seinen Sitz in »Seligenstadt«, dem heutigen Osterwieck, wählte
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Seitenzahl. Vgl. auch Mittelelbisches Wörterbuch. Begründet von Karl Bischoff. Weitergeführt und herausgegeben von Gerhard Kettmann. Bd. 1. A–G, Bd. 2. H–O. Unter der Leitung des Herausgebers bearbeitet von Hans-Jürgen Bader, Jörg Möhring (Bd. 2), Ulrich Wenner. Berlin 2008, 2002; Gerhard Kettmann, Das Mittelelbische Wörterbuch – die problemreiche und bedenkenswerte Geschichte eines notwendigen Forschungsprojektes, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11, hg. von Christof Römer, Dößel b. Halle (S.) 2004, S. 27–34; Robert Peters und Christian Fischer, Der ›Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete‹ (ASnA ), in: Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter, hg. von Luise Czajkowski, Corinna Hoffmann und Hans Ulrich Schmid (Studia Linguistica Germanica 89), Berlin / New York 2007, S. 23–33, hier S. 26, Kte. zwischen S. 30 und 31. Vgl. Agathe Lasch, Mittelniederdeutsche Grammatik, Halle (S.) 1914 (Neudruck Tübingen 1974), S. 15 f. (§ 14). Vgl. Karl Bischoff, Elbostfälische Studien (Mitteldeutsche Studien 14), Halle (S.) 1954, S. 101; Erik Rooth, Einführung zu »Studien und Materialien zur Geschichte des Elbostfälischen im Mittelalter«, in: Niederdeutsche Mitteilungen 3, Lund 1947, S. 111– 113; Hermann Hille, Die Mundart des nördlichen Harzvorlandes, insbesondere des Huygebietes (Forschungen zur Geschichte des Harzgebietes 7), Hamburg 1939, S. 25, Kte. II ; Hermann Niebaum und Jürgen Macha, Einführung in die Dialektologie des Deutschen (Germanistische Arbeitshefte 37), Tübingen 2006, S. 220 f. Als Charakteristika des Mittelniederdeutschen wird im folgenden auch auf die r- und n-losen Pronominalformen we, wi ‘wir’ und user, us ‘unser, uns’ – vgl. Lasch [Anm. 5], S. 214 f. (§ 403, Anm. 5b und 6) – eingegangen. Lasch [Anm. 5], S. 15 f. (§ 14). Vgl. Heinz Rosenkranz, Der thüringische Sprachraum. Untersuchungen zur dialektgeographischen Struktur und zur Sprachgeschichte Thüringens (Mitteldeutsche Studien 26), Halle (S.) 1964 (Neudruck Plauen 2003), S. 2.
Mnd. und Mhd. in den Kanzleien Halberstadts
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aber bald Halberstadt super fluvium Holtemna als Residenz, weil die Stadt an dem noch aus der Römerzeit stammenden Hellweg lag, der von Köln über Soest – Paderborn – Hameln – Hildesheim oder Corvey – Gandersheim – Goslar bis Halberstadt und schließlich nach Magdeburg führte und deshalb für die Sachsenmissionierung günstige Voraussetzungen bot. Durch den gelehrten angelsächsischen Theologen Haimo, der von 840 bis 853 dort Bischof war, wurde Halberstadt eines der wichtigsten sächsischen Bistümer. Die Sachsen, die nach dem Untergang des Thüringerreiches 531 von Norden bis an die Unstrut vorgedrungen waren,9 bestimmten die Sprachform des Gebietes. Trotzdem sind die Personennamen in den lateinischen Urkunden – hierauf hatte schon Kurt Böttcher hingewiesen –10 hochdeutsch. Es ist stets von der Kirche oder dem Bistum Stephani, von Ottone die Rede, bisweilen erscheint auch Heinricus neben Hinricus oder Henricus. »Aus der Schreibung der angeführten Namen kann man mit Scherer wohl soviel folgern, dass von Seiten der Kanzlei die hd. oder frk. Lautgebung als die bessere oder richtigere oder gebildetere anerkannt worden ist.«11 Böttchers Angaben können im Folgenden präzisiert werden. Aus der bischöflichen Kanzlei stammt die erste deutschsprachige Urkunde vom 14. November 1250. Der Bischof Meinhard bestätigte der Kirche zu Hedersleben die Schenkung der Mühle zu Schochwitz durch die Herren von Hadmersleben. Bischof Meinhard (1241–1252) stammte aus Kranichfeld in Thüringen, und wohl deshalb ist die Urkunde als erste deutschsprachige in Halberstadt thüringisch: Wir Meinhardus von gots gnaden bischoff der kirchen Halberstad. so wir in ewikeit . . . gezugnisse geben mogen, hirumb tun wir kunt allin und iglichen, daz der gestrenge unser lieber getruwer Ludulfus von Hademersleve in unser keinwertikeit zu Halb. gestanden und offenberlich vorsacht aller gerechtikeit . . . (UHH 2, 115)
Außer der durchgeführten Lautverschiebung kennzeichnen die Pronomina Wir und unser den Text als hochdeutsch. u für mhd. iu (gezugnisse), Kontraktion (keinwertikeit), iglichen für mhd. iegelıˆch, ieclıˆch, iegeslıˆch, Hebung e > i in Nebensilben (allin) sind Merkmale des Thüringischen. Hinzu kommen im weiteren Text gebort, vorsacht, nummermehir, frebel ‘Frevel’.12 Niederdeutsch ist lediglich die Namensschreibung Hademarsleve. Es ist die einzige deutschsprachige 9 Vgl. Hans K. Schulz, Halberstadt, in: Provinz Sachsen-Anhalt, hg. von Berent Schwineköpper (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11), Stuttgart 1981, S. 169–174; Karlotto Bogumil, Halberstadt, in: Lexikon des Mittelalters IV , München / Zürich 1989, Sp. 1870–1872; Geschichte der deutschen Länder, »Territorien-Ploetz«. Bd. 1. Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches, hg. von Georg Wilhelm Sante, Würzburg 1964, S. 116 f., 504, 507–510; Hans Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, Weimar 1973, S. 46 f., 63, 110 f., 218. 10 Vgl. Böttcher [Anm. 1], S. 71 f. 11 Böttcher [Anm. 1], S. 71, meint Wilhelm Scherers »Miscelle« »Leniter Saxonizans«, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur 21 (1877), S. 474– 482. 12 Zum thüringischen intervokalischen b für mhd. f/v vgl. Günter Feudel, Das Evangelistar der Berliner Handschrift Ms. Germ. 4° 533. II . Teil (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23/II ), Berlin 1961, S. 125 (§ 42 f.).
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Urkunde aus seiner Regentschaft neben 117 lateinischen, die bei Gustav Schmidt abgedruckt sind. Der eigentliche Durchbruch zur deutschsprachigen Urkundung geschah in der bischöflichen Kanzlei unter Bischof Albrecht I . (1304–1324), einem Sohn des Fürsten Bernhard von Anhalt-Bernburg.13 In den zwanzig Jahren seiner Regentschaft fanden die zahlreichen territorialen Auseinandersetzungen statt, und so ist es erklärlich, dass bei Gustav Schmidt neben 190 lateinischen 32 niederdeutsche Urkunden aus seiner Herrschaftszeit stehen. Diese geben ein farbiges Bild von der sich entwickelnden deutschsprachigen Kanzleisprache ab: Die gräflichen Urkunden sind meist mundartnäher als die bischöflichen. Wir erscheint fast immer als we, die 1. Person Plural Präsens des Verbs endet auf -et (we bekennet, we hebbeth ghegheven, dat we hebbet . . . gelovet unde lovet), das Possessivpronomen der 1. Person Plural lautet use (use herre, useme ingheseghele, usem herren), das anlautende g wird bisweilen als Spirans geschrieben: in dessen ieghenwardighen breven, an disme yeghenwerdighen brefe, mnd. leˆn erscheint als lyne (D. Sg.), lynerve ›dem Lehenserbe‹. Die Urkunden des Grafen Ulrich von Regenstein setzen zunächst We bekennet, später allerdings wy, wye für wir und lassen die 1. Person Plural auf -en enden (Wye ... bekennen unde betughent, UHH 3, 107 und 160 f.), d. h. sie verwenden die Doppelformel, außerdem versehen sie das Possessivpronomen mit Nasal (unse erven, unseme huse, UHH 3, 161), mnd. leˆn erscheint als to lene. Der Bischof selbst urkundet teils in etwas gehobenerer Sprachform: Wi für wir, -en (seltener -ent) in der 1. Person Plural Präsens des Verbs (wy . . . bekennen und betughen, auch wy bekennen unde betughent, dat wi . . . gheleghen hebben, UHH 3, 140, 161, 212, 222) neben häufigem -et (Wi . . . bekennet, UHH 3, 140) und meist use, useme neben erst seit 1317 auftretendem unse (use godeshus, useme ingheseghele, usme lieben vedderen, später unse hus, unses kapyteles, unsme lieven svaghere, letztes Beispiel vom 6. 4.1320, UHH 3, 183) und Spirantisierung des g: an disme ieghenwerdighen bryve. Mnd. leˆn erscheint aber als tu eneme rechten lene. Auch die an den Magdeburger Erzbischof gerichtete Urkunde vom 16. Mai 1316 enthält die mundartnahen Formen we für wir, -et, -t in der 1. Person Plural (We ... dot, dye we . . . gegeven hebbet), uses capittels neben von unser wegen, unsen herren, myt unseme ingesegele und spirantisiertes g: an dissen yegenwerdigen breven (UHH 3, 130). Leichter verständlich ist der Gebrauch mundartnaher Formen in der Urkunde an den Grafen von Regenstein vom 12. März 1323, da dieser selbst dialektnah urkundet: We Albrecht von der gnade godes bischop to Halb. bekennet in disseme openen breve, dat we useme leven vedderen greven Albrechte von Reghensten unde sinen brudheren unde eren rechten erven sendhen unde lighen . . . (UHH 3, 233). 13 Zu Albrecht I . vgl. Gustav Schmidt, Zur Chronologie der Halberstädter Bischöfe III , in: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Alterthumskunde 11 (1878), S. 409– 411.
Mnd. und Mhd. in den Kanzleien Halberstadts
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Es stehen ausschließlich we, bekennet neben der Doppelformel sendhen unde lighen, nur use und spirantisiertes b: erven. Zu ergänzen ist, dass in allen Urkunden bei Nachstellung des Pronomens die 1. Person Plural auf -e endet: hebbe we, bekenne wye, scolde wir. Dies trifft allerdings auf das Deutsche insgesamt zu.14 Die Entwicklung unter Albrechts Nachfolger, dem Bischof Albrecht II . (1325– 1357/58), einem Sohn Herzog Albrechts des Fetten von Braunschweig und Bruder der Herzöge Otto, Magnus und Ernst sowie des Hildesheimer Bischofs Heinrich,15 setzte sich mehrschichtig in Richtung Schriftsprache fort. Für diese dreißig Jahre sind bei Gustav Schmidt 173 lateinische und 58 deutsche Urkunden verzeichnet, und von diesen vier hochdeutsche, von 1341, 1348, 1350 und 1356. Urkunden anderer Grafen, Fürsten und Herzöge sind weiterhin in der Regel mundartnäher als die des Bischofs selbst. Der Herzog Otto von Braunschweig urkundete 1335 noch we spreket (2×) neben we spreken und den we hebben laten besegelen, 1337 schon we ... bekennen und dat we dit ghedeghedinghet hebben. Er verwendet nicht nur regelmäßig we für wir, sondern auch das n-lose Possessivpronomen use: use broder, uses broder, usem brodere. Ebenso tritt noch spirantisiertes g auf: iegenwordighen. Auffällig ist die Urkunde des Knappen Jan bi der Loven vom 5. Februar 1357 über den Verkauf von Zehnten an den Domkellner Ludwig von Wanzleben, wo nicht nur Spirans für g begegnet (in desem ieghenwordighen breve), sondern auch die Formen ek, mek für ich, mir/ mich: de he mek gancz unde al betalet heft, so wanne dat von mek eschet (UHH 3, 568 f.). Die bischöfliche Kanzlei selbst geht aber von anfänglich regelmäßigem we mehr und mehr zu wie, wi über und benutzt für die 1. Person Plural Präsens nur das Flexiv -en: we bekennen, dat we hebben gesat. Beim Possessivpronomen der 1. Person Plural gibt es noch Schwankungen: 1334 heißt es regelmäßig unse godeshus, wedder unsen willen, mit unsem ingesigele, 1338 steht use overman, usen herren, einmal unse herren. Spirantisiertes g ist möglich: die ieghen us ghewesen hebben, aber mnd. leˆn steht durchweg als sines lenes, sinem lene. Auch die Doppelformel tritt häufiger auf: wie ... kundigen unde clagen, Wie . . . don witlek unde bekennen (UHH 3, 351, 376 f., 400– 403). Die vier hochdeutschen Urkunden sind auf Grund dynastischer Verbindungen zustande gekommen, wobei einzuschränken ist, dass eine 1348 von König Karl IV . bei Frankfurt an der Oder ausgestellt wurde, als der König Albrecht II . bevollmächtigte, seinem Vater Bernhard IV . dessen Reichslehen an des Königs Statt zu reichen. Diese Urkunde bleibt hier außer Betracht, zumal sie bei Gustav 14 Vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Auflage, neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearbeitet und erweitert von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007, S. 244 (§ M 70, Anm. 7); Lasch [Anm. 5], S. 147 (§ 274). 15 Zu Albrecht II . vgl. Schmidt [Anm. 13], S. 411– 416.
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Schmidt (UHH 3, 499 f.) nur fünf Zeilen umfasst. Sie ist nicht der bischöflichen Kanzlei zuzurechnen. Die erste stammt vom 14. April 1341 und ist in Gotha ausgestellt. Bischof Albrecht bestätigt sein Bündnis mit seinem Oheim, dem Landgrafen Friedrich von Thüringen: Hier findet sich nichts Niederdeutsches. Der Sprachstand ist thüringisch: keine nhd. Diphthongierung (drissig, hus), mhd. iu erscheint als u (frunde), nhd. Monophthongierung ist durchgeführt (brife, zu neben zu˚ ), Senkung u > o (obirman), e > i in Nebensilben (abir, keginwertigen), das auch für das Mittelniederdeutsche typische scholde, schulle 16 neben solde, vor- für ver(vorbunden), her für er (UHH 3, 423– 425). Die zweite bzw. dritte stammt vom 15. Mai 1350. Es geht um die Aussöhnung Bischof Albrechts mit den Markgrafen Friedrich und Balthasar von Meißen. Hier begegnen niederdeutsche Formen (gededinget unde gemachet eynen vrede, in di veyle unde in daz orloge, ieghenwerdigher), aber insgesamt ist auch dieser Text thüringisch: nhd. Monophthongierung, aber keine Diphthongierung (liber, zu, liebe bruder, gelich, uf), mhd. iu steht als u (ammichtlute), Senkung mhd. i, u > e, o (begreffen, dorch), selten e > i in der Nebensilbe (habin), uffen, czwuschen, vorhenge ›verhängte‹, schullen, schall neben solde (3×), solden, r-Formen in Wir, unser liber vetter neben r-losen in unsem uffen brife, dorch unsen willen (UHH 3, 505 f.). Die dritte bzw. vierte, in Bernburg am 14. April 1356 ausgestellt, stammt vom Landgrafen Friedrich von Meißen, der die Versöhnung von Erzbischof Otto von Magdeburg und Bischof Albrecht verkündet. Hier findet sich nichts Niederdeutsches bis auf die Namensform Iacof, und auch das Thüringische nähert sich schon mehr der Schriftsprache an: Monophthongierung, aber keine Diphthongierung (gutlichen, zcu, bi, ufgeloufen), u für mhd. iu (truwen), mhd. ei, ou sind bewahrt (einander, ouch), offen, offenlichen, aber yglich, ane ‘ohne’, vorunrechten, dafür regelmäßig r-Formen der Pronomina (nur wir, unsern lieben herren, mit unserm ... insigel) und kein anlautendes sch bei mhd. sullen: sal (5×), sullen (3 ×) (UHH 3, 565 f.). Wenn auch Kurt Böttcher mutmaßte, dass diese Urkunden den Landgrafen zum Verfasser und den Bischof lediglich als Aussteller haben, da dieser sonst konsequent niederdeutsch urkundete,17 so sind die vier hochdeutschen Urkunden doch ein Indiz dafür, dass das Ostmitteldeutsche eine zunehmende Geltung in der Sprache der bischöflichen Kanzlei Halberstadts gewann. Diese wuchs unter Bischof Albrechts Nachfolger, dem 1340 auf der Wartburg geborenen Bischof Ludwig von Meißen (1357–1366), beträchtlich. Er war der Sohn Friedrichs II . des Ernsthaften von Meißen, der Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen war. Schon als Kind war Ludwig mit Dompfründen in 16 Zu den sch-Formen in sollen im Thüringischen vgl. Paul [Anm. 14], S. 54 (§ E 43.4). Zum Mnd. vgl. Lasch [Anm. 5], S. 244 (§ 443). 17 Vgl. Böttcher [Anm. 1], S. 28.
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Mainz, Magdeburg und Würzburg ausgestattet, und das Bistum Halberstadt erhielt er durch päpstliche Verleihung. Es folgten 1366 und 1373 oder 1374 die Übernahmen des Bistums Bamberg und des Erzbistums Mainz (hier allerdings auch die Auseinandersetzungen mit Adolf von Nassau) und später des Erzbistums Magdeburg. Seine Brüder waren Friedrich III . der Strenge, ebenfalls Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen, und dessen Mitregent Balthasar. Verbündet waren die Brüder mit Kaiser Karl IV .18 Diese feste Einbindung in die Reichspolitik schlug sich auch in der Sprachverwendung nieder: Für seine Halberstädter Regierungszeit verzeichnet Gustav Schmidt 36 lateinische und 73 deutschsprachige Urkunden, und von diesen 52 hochdeutsche, so dass es in diesen Jahren zur ersten Blütezeit des Hochdeutschen (d. i. des Thüringischen) kam. Diese endete aber mit Ludwigs Weggang. Für die Regentschaft Albrechts III . von Rikmersdorf (1367–1390), der aus einem Adelsgeschlecht in der Gegend von Halberstadt oder Braunschweig stammte,19 gibt Gustav Schmidt 67 lateinische und 87 deutschsprachige Urkunden – und von diesen sieben hochdeutsche – wieder. Da diese Entwicklungen außerhalb des hier zu behandelnden Zeitraumes liegen, werden sie jetzt nicht weiter verfolgt. Statt dessen sollen die Urkunden der Stadtkanzlei betrachtet werden. Die erste deutschsprachige Urkunde ist am 12. Juli 1289 ausgestellt worden, und zwar vom Bischof Volrad von Kranichfeld (1255–1296),20 also nicht in der Stadtkanzlei selbst. Es geht um die Zoll- und Tributfreiheit der Einwohner von Groß Quenstedt in Halberstadt und anderen Städten. Sie ist die einzige neben 216 lateinischen Urkunden der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Verständlicherweise ist sie niederdeutsch: r-lose Pronomina (wy, unse ordenung), aber use ist stets nasaliert (unser kercken canonike), der Plural des Präsens Indikativ endet auf -en, -endt (hebben wi dussen bref laten schriven, darumb wi anmerckendt). Spirantisiertes g wird zwar nicht bezeichnet, wohl aber deutet die gSchreibung in dusent tweihundert negen und achtigesten (jar) auf spirantische Aussprache. Auffällig ist die regelmäßige Spiransschreibung des inlautenden b ( provest, sulvige, schriven, gegeven, USH 1, 181 f.). Die zweite deutschsprachige Urkunde stammt erst vom 13. November 1310. Sie eröffnet die Reihe von 32 deutschsprachigen Urkunden der ersten Hälfte und 133 der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts neben 165 lateinischen der ersten Hälfte und 53 der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Der Durchbruch zum Deutschen geschieht also im Zeitraum von 1350 bis 1400. Die Urkunde von 1310 ist vom Bischof Albrecht II . ausgestellt und enthält die Bestätigung der Stadtrechte. Auch sie enthält die r-losen Pronomina, spirantisiertes b im Inlaut und -en im Indikativ Plural: Wi . . . 18 Vgl. Schmidt [Anm. 13], S. 416 f. 19 Vgl. Schmidt [Anm. 13], S. 418. 20 Zu Volrad de Cranicvelt vgl. Gustav Schmidt, Zur Chronologie der Halberstädter Bischöfe II , in: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Alterthumskunde 9 (1876), S. 44– 48.
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bekennen ... dhat wi use leven ... burghere . . . willen laten . . . (USH 1, 256). Das gilt auch für die dritte Urkunde, die am 16. November 1315 in Magdeburg ausgestellt wurde und das Städtebündnis mit Halberstadt beinhaltet. Die vierte Urkunde stammt vom 28. Januar 1319 und ist zumindest teilweise in Halberstadt einzuordnen: Der Provinzial der Marienkirche und das Halberstädter Kloster versprechen der Sankt Stephans-Gildschaft die Brüderschaft und eine Jahrszeit. Auch hier haben wir r-lose Pronomina (We, unses closters), spirantisiertes b im Inlaut (storve ‘stürbe’, avende), -en in der Zweitstellung (We . . . bekennen), aber n-Schwund bei Erststellung (so hebbe we, USH 1, 297 f.). Das selbe Bild vermittelt die erste Urkunde, die in Halberstadt selbst ausgestellt ist. Es sind die Statuten der Gildschaft U. L. Frauen, die vom JohannisKloster am 1. Juni 1320 aufgezeichnet worden sind. Auch hier herrschen r-lose Pronomina (we, unse here god), spirantisiertes b im Inlaut (sulven, unser leven Frowen daghe) und -en in Zweitstellung beim Indikativ Plural (we . . . bekennen), aber -n-lose Form bei Voranstellung (hebbe we, USH 1,303). Noch längere Zeit, zumindest im 14. Jahrhundert, gibt es hier wenig Änderungen, der elbostfälische Schreibdialekt herrscht noch vor. Trotzdem gibt es auch hochdeutsche Urkunden, wenn sie auch meist nicht eindeutig der Halberstädter Stadtkanzlei zuzuordnen sind. Zwei stammen bereits von 1363: Am 10. April gestattet Bischof Ludwig von Meißen den Halberstädter Bürgern die Anlage von Hopfenbergen bei der Wüstung Klein-Harsleben: Wir Lodewich etc. bekennen etc., daz unse liben getruwen burmeystere . . . unsern willen gemacht und geteidinget haben umbe dy hophberge . . . ouch umme dy steinberge in deme selbin geberge sal man haldin, also man iz von alder bizhere hat gehaldin (USH 1, 415 f.).
Die zweite ist die Verzichtserklärung des Halberstädter Bürger-Ehepaares Hans und Margarethe Thus auf jährliche neun Pfund, die sie bisher vom Bischof Ludwig aus der Münze hatten, vom 16. Mai 1363. Sie ist ebenfalls thüringisch: Ich Hans Thus unde Margarete sin eliche husfrowe bekennen offenbar unde tu˚n kunt mit dissem brieve, daz wir ufgelazin haben unserm lieben gnedigen herren hern Lodewige gekoren unde bestetigit des stiftis zu Halb. unde sinem gotishuse nun phunt geldes, die wir alle jerlichis haben solden . . . in desem selben brive . . . (USH 1, 417).
Außer der Lautverschiebung sind Monophthongierung (aber keine Diphthongierung), Senkung mhd. i, u > e, o, zudem e > i in Nebensilben, mhd. iu als u und mhd. ou als o(w) nachweisbar. Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass die Urkunde von den Bürgern selbst verfasst wurde, dass vielmehr die bischöfliche Kanzlei hier maßgeblich mitgewirkt hat, wenn sie sie nicht sogar ausgestellt hat, so ist doch zu konstatieren, dass sich auch im Verkehr mit den Bürgern in der Mitte des 14. Jahrhunderts der Gebrauch des Hochdeutschen anbahnte. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts setzte sich dieser Prozess fort. Insgesamt wird also schon in spätmittelhochdeutscher Zeit eine bemerkenswerte Vielfalt, ja Mehrschichtigkeit in der Schreibtätigkeit in Halberstadt deutlich.
Mnd. und Mhd. in den Kanzleien Halberstadts
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Prinzipiell bleibt das Elbostfälische noch das Substrat, aber die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Hochdeutschen – und hier vor allem gegenüber dem benachbarten Thüringischen – wuchs. Dass sich in der bischöflichen Kanzlei diese Prozesse schneller vollzogen als in der Stadtkanzlei, ist nicht nur in Halberstadt zu beobachten. Die »tabellarische Übersicht« Kurt Böttchers, nach der der Übergang vom Latein zum Niederdeutschen in der bischöflichen Kanzlei 1310 und in der städtischen Kanzlei 1326 und die ersten hochdeutschen Urkunden bei den Bischöfen 1357 und bei der Stadt 1427 anzusetzen sind,21 ist also zu modifizieren. Auf literarischem Felde lief die Entwicklung bekanntlich anders. Albrecht von Halberstadt verwendete wie die ebenfalls niederdeutschen Dichter Eilhart von Oberg und Heinrich von Morungen das Hochdeutsche. Die Prologverse ein Sachse, heizet Albrecht, / geboren von Halberstat (v. 52 f.), habe seine Bearbeitung von Ovids Metamorphosen um 1200 zu Jecheburc . . . tihtenne gedaˆcht, / begunnen und vollenbraˆcht (v. 96–98), sind gern als captatio benevolentiae interpretiert worden. Allgemein wird angenommen, dass er sein Werk im Chorherrenstift Jechaburg bei Sondershausen, vielleicht für den antikebegeisterten Landgrafen Hermann, verfasste. Da das vollständige Werk nur durch die 1545 erschienene Überarbeitung von Jörg Wickram erhalten ist und Karl Bartsch versucht hatte, »einen großen Teil des ursprünglichen Textes ... wiederherzustellen«, was »als gescheitert gelten muß«,22 eignet sich dieser Text nicht für eine philologische Untersuchung, auch wenn Karl Bartsch seiner Ausgabe eine ausführliche Sprachanalyse vorangestellt hat.23 Rolf Schäftlein hat an Hand der beiden Oldenburger Fragmente aus dem 13. Jahrhundert an thüringischen Merkmalen die n-Apokope beim Infinitiv, u für mhd. iu, Kontraktion -ege- > -ei-, Senkung mhd. i, u > e, o, Rückumlaut in gekart, gegan für gegangen und tiubel für mhd. tiufel festgestellt.24 Weitere Detailuntersuchungen sind erforderlich, aber eine Literatursprache »auf md. Basis«25 hatte eine solche Geltung, dass auch das Werk Albrechts von Halberstadt mitteldeutsch überliefert wurde. 21 Vgl. Böttcher [Anm. 1], S. 32. 22 Karl Stackmann, Albrecht von Halberstadt, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a., Bd. 1, Berlin / New York 1978, Sp. 187–191, hier 189. 23 Vgl. Karl Bartsch, Einleitung, in: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter von K. B. (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 38), Quedlinburg / Leipzig 1861 (Neudruck Amsterdam 1965), S. CLXVII–CCXLIII . 24 Vgl. Rolf Schäftlein, Die Metamorphosen-Verdeutschung Albrechts von Halberstadt, eine Quelle zur historischen Dialektologie Nordthüringens, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle) 90 (1968), S. 140–144, bes. 143 f. 25 Norbert Richard Wolf, Das Deutsch des Hochmittelalters, in: Wilhelm Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 10., verb. u. erw. Aufl., erarbeitet unter der Leitung von Helmut Langner und Norbert Richard Wolf, Stuttgart 2007, S. 98.
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Hinweise auf hochdeutsch-niederdeutschen Sprachgebrauch in Halberstadt selbst gibt es für die spätere Zeit: Gerhard Ising beobachtete in der Halberstädter Bibel von 1522 für poenitentia den vorwiegenden Gebrauch von bote, das dem südlichen buße entspricht (neben mitteldeutsch/niederdeutschem riuwe bzw. ruwe) und für puteus die vorwiegende Verwendung des ostfälisch/thüringischen borne gegenüber seltenem pütte.26 So konnte er feststellen: »Der sprachliche Ausgleichsprozeß der Reformationszeit kündigt sich an«.27 Die bisherigen Beobachtungen lassen die Schlussfolgerungen zu, dass Ausgleichsprozesse schon im 13./14. Jahrhundert feststellbar sind und dass das keineswegs einförmige und mehrschichtige Mittelniederdeutsch vom Mittelhochdeutschen, das noch weit vielgestaltiger, aber ebenfalls mehrschichtig war, beeinflusst wurde, ja dass das Mittelhochdeutsche schon in dieser Zeit allmählich Geltung nördlich der hochdeutsch/niederdeutschen Dialektgrenzen errang.
26 Vgl. Gerhard Ising, Die niederdeutschen Bibelfrühdrucke. Ihre Bewertung in der Geschichte der deutschen Bibelübersetzung und ihre Bedeutung für die Sprachforschung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle) 79 (1957), S. 438– 455, bes. 451– 453; ders., Zur Wortgeographie spätmittelalterlicher deutscher Schriftdialekte. Eine Darstellung auf der Grundlage der Wortwahl von Bibelübersetzungen und Glossaren (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 38/I und II ), Berlin 1968. T. I , Untersuchungen, S. 62– 66; T. II : Karten, S. 22 f. (Kte. 8). 27 Ising, Bibelfrühdrucke [Anm. 26], S. 451 f.
Regularisierung des Irregulären Zur Geschichte der Verbgruppe um gehen und stehen im Mittelfränkischen von Thomas Klein und Eva Büthe
1. Zielsetzung Verfolgt man die Geschichte der mittelfränkischen (mfrk.) Flexion der Kurzverben ga¯n und sta¯n und der mit ihnen teils formengleichen Verben va¯n < va¯hen, sla¯n < slahen, ha¯n < ha¯hen im Präsens, so fällt ein mehrfacher Wandel des Stammvokals auf, der bislang weder genauer beschrieben noch gar hinsichtlich seiner möglichen Ursachen diskutiert worden ist. In diesem Artikel wollen wir daher versuchen, den Entwicklungsgang der einschlägigen mfrk. Formen bis hin zu den modernen Mundartformen nachzuzeichnen, Alter und Ursachen ihrer mehrfachen Umgestaltung zu erkunden und damit zugleich die historischen Hintergründe des Gegensatzes von moselfränkisch (moselfrk.) ex gı¯ 1n, m.r gı¯ 1n – ripuarisch ex jo˛¯ 1n, m.r jo˛¯ 1n ‘ich gehe, wir gehen’ in den modernen Mundarten1 auszuleuchten. gehen und stehen gehören mit sein und tun zu den Prototypen germ. Kurzverben. Es zeigt sich, dass die Geschichte der Verbgruppe um gehen und stehen im Mfrk. (und natürlich nicht nur hier) durch ein Wechselspiel zwischen den für Kurzverben typischen Irregularisierungstendenzen (Nübling 2000) und dem gegenläufigen Bestreben zur flexionsmorphologischen Regularisierung bestimmt war. 2. Entwicklungsphasen und tabellarischer Überblick Der Plural Präs. Ind., der Konj. Präs. und die 2./3. Sg. Präs. Ind. von gehen und stehen weisen in allen Entwicklungsphasen jeweils einheitliche Stammformen auf. Für den folgenden stark vereinfachenden tabellarischen Überblick2 genügt es daher, die Formen des Infinitivs, der 1. Sg. Ind., der 3. Sg. Ind., der 1. Pl. Ind. 1 Vgl. Rheinisches Wörterbuch (= RhWb), Bd. 2, Sp. 1100 f. Wir übernehmen hier und im Folgenden die Lautschrift des RhWb, geben aber Tonakzent 1 (»Schärfung«) durch hochgestellte 1 wieder, also z. B. jo˛¯ 1n [jɔ·1n] = jo˛¯:n RhWb; Tonakzent 2 (»Nichtschärfung«, »Trägheitsakzent«) bleibt wie im RhWb unbezeichnet; zur mfrk. Akzentuierung vgl. bes. Schmidt 1986. 2 Die Chronologie der mfrk. Vokalentwicklung bereitet Schwierigkeiten und ist teilweise strittig. Deshalb und aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichten wir in diesem Beitrag auf die Angabe mundartlicher Lautungen von mhd. /a¯/, /e¯/ und /ei/ bis zum 16. Jahrhundert und geben stattdessen die frühmhd. Lautung an, die auch für das Mfrk. des 11./12. Jahrhunderts vorauszusetzen ist.
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Thomas Klein – Eva Büthe
und der 1. =3. Sg. Konj. aufzuführen. Da ferner der Stammvokal des Konjunktivs zumeist mit dem des Indikativs im Plural übereinstimmt und auch die Flexionsendungen abgesehen vom allmählichen Ersatz des Flexivs -nt der 3. Pl. Ind. durch -n im Spätmittelalter stabil bleiben, lässt sich das Präsensparadigma unserer Verbgruppe durch die drei Stammvokale der 1. Sg. Ind, der 2./3. Sg. Ind. und des Pl. Ind. + Konj. meist hinreichend charakterisieren. Jh. 8.–11.
Phase Ia Ib
Paradigma
Infinitiv
1. Sg.
Indikativ 3. Sg. 1. Pl.
Konj. 1./3. Sg.
a¯-ei-e¯ *ga¯n *ga¯n geit *ge¯n *ge¯ Anschluss der Verben fa¯han, ha¯han, slahan an dieses Paradigma
12.–14. IIa II b II c
a¯-ei-e¯ a¯-ei-e¯ a¯-ei-ei
ga¯n ga¯n ga¯n
ga¯n ga¯n ga¯n
geit geit geit
ge¯n ge¯.n gein
ge¯ ge¯(.)? ge¯
14.–15. III (ripuarisch)
a¯-ei-a¯
ga¯n
ga¯n
geit
ga¯n
ga¯
a¯-ei-a¯ a¯-a¯-a¯
ga¯n ga¯n
ga¯n ga¯n
geit ga¯t
ga¯n ga¯n
ga¯ ga¯
¯ı1-e¯˛ -ı¯1 i-e¯-i o¯˛ 1-e¯-o¯˛ 1 o¯˛ 1-e¯-o¯˛ 1
go˛¯ 1n/gı¯ 1n goe¨n/gon jo˛¯ 1n jo˛¯.n
gı¯ 1n gin jo˛¯ 1n jo˛¯.n
ge˛¯t geet je¯t je¯t
gı¯ 1n gin jo˛¯ 1n jo˛¯.n/jo˛nt
– – – –
3
16.
IV (ripuarisch)
Brackerfelder 19./20.
Va (moselfrk.) < II a V b (luxemb.) < II a V c (ripuarisch) < III (oberbergisch)
Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Regularisierungsschritte in den einzelnen Phasen: Ia
Thematische Neubildung von *ga¯-is, *ga¯-id; andererseits kommt es mit dem Wandel von *ga¯-is, *ga¯-id > geis, geit und der Ausbildung der neuen Stammform ge¯- zu neuen Irregularisierungen. II b Thematische Neubildung von ge¯.n usw. II c Ausgleich des Wechsels von gei- ∼ ge¯- zugunsten von gei-, ausgenommen im Konj. Sg. III/IV Verallgemeinerung von ga¯- im gesamten ripuarischen Präsens-Paradigma, tendenziell sogar in der 2./3. Sg. Präs. Ind. Va Angleichung der 1. Sg. Präs. Ind. und teils auch des Infinitivs an gı¯ 1- des Plurals im Moselfrk. Vc Thematische Neubildungen im Oberbergischen (vgl. RhWb, Bd. 2, Sp. 1000; Bd. 8, Sp. 567).
3 Die Übersicht stützt sich für das 16. Jh. nur auf zwei Quellen, nämlich Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen und Jan v. Brackerfelders Tagebuch (vgl. unten unter 3.4.).
gehen und stehen im Mittelfränkischen
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3. Die Entwicklung der Kurzverbgruppe um gehen, stehen im Mittelfränkischen 3.1. Indogermanische und germanische Zeit Von der Vor- und Frühgeschichte der mfrk. Formen der Kurzverben gehen, stehen ist aus zwei Gründen nur ein unsicheres Bild zu gewinnen: Zum einen gibt es vor dem 13. Jh. nur spärliche einschlägige Belege aus dem Mfrk. und dem weiteren Altfränkischen. Zum andern geben auch die ältesten bezeugten Stammbildungen der germ. Sprachen, in denen diese Kurzverben vorkommen, Fragen auf, die bislang nicht restlos befriedigend beantwortet sind. Die idg. Grundlage bildet für gehen weithin unbestritten das i-reduplizierte athematische Präsens *g hi-g heh1 /g hh1 - ‘kommen, erreichen’ mit vollstufigem *g heh1 - im Sg. Ind. und schwundstufigem *g hh1 - im Pl. Ind. und gesamtem Optativ (LIV -Typ 1h, s. LIV 16, 196). Im Germ. musste sich daraus nach Reduplikationsverlust im Indikativ Sg. *ge¯- (> nordwestgerm. *ga¯-), im Indikativ Plural *ga- und im Optativ Sg. *ga-je¯-, Pl. *g-ı¯- (Bremer 1886, S. 44 f.; Mottausch 1997, S. 258 f.; Müller 2007, S. 260 f.) ergeben. Ganz ähnlich für stehen idg. *steh2 -, nur dass hier die Vollstufe steh2 - germ. *sto¯- hätte ergeben müssen. Sie müsste daher analog zu gehen durch *ste¯- ersetzt worden sein, wenn nicht germ. *stai-/staa- vorliegt, das gemäß LIV (590, 592 Anm. 28) auf neugebildete Essiv-Formen zurückzuführen wäre. Es ist jedenfalls schon früh mit einem Gleichlauf der Entwicklung von gehen und stehen zu rechnen, so dass wir im Folgenden gehen als Repräsentanten beider Kurzverben betrachten können. Von den bezeugten Stammformen lässt sich nur ga¯- ganz problemlos auf die Vollstufe germ. *ge¯- zurückführen; sie erscheint im Alemannischen allerdings auch im Indikativ Plural und im Mnl. und Mnd. zusätzlich auch im Konjunktiv. Keine Einhelligkeit besteht dagegen in der Herleitung von westgerm. *gai-,4 auf das sich das gesamte Paradigma von altengl. ga¯n und wohl auch das von altfries. ga¯n/ ge¯n zurückführen lässt (van Helten 1893, S. 558–560; Flasdieck 1937, S. 59– 62). Noch größere Probleme bereitet die Herleitung von ahd. ge¯-, das sich früh im gesamten bairischen Paradigma durchgesetzt hat und im Altfränkischen seit dem 9. Jh. im Indikativ Plural und im gesamten Konjunktiv vorherrscht (Franck 1909, § 212). Meist wird ge¯- wiederum aus westgerm. *gaihergeleitet, aus dem es nach der Regel der ahd. Monophthongierung zunächst aber nur in der 1./3. Sg. Optativ / Konjunktiv *gai > ge¯ entstanden sein kann;5 dass sich ge¯- allein von diesem Ausgangspunkt aus über das gesamte Paradigma oder große Teile des Paradigmas ausgebreitet hätte (Mottausch 1997, S. 256), ist nicht sehr wahrscheinlich. Daher wird zusätzlich teils auch die Entstehung von ge¯- < gai- in unbetonter Stellung, vor allem nach Verbpartikel, 4 Vgl. dazu besonders Müller 2007, S. 261; Mottausch 1997, S. 259. 5 Vgl. schon Bremer 1886, S. 45 Anm. 2. Dies spricht gegen Baeseckes (1918, S. 222) Ansatz der 2./3. Sg. Ind. ge¯s, ge¯t < *ga-is, *ga-it.
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angenommen.6 Wilmanns (1889, S. 428– 430) und Baesecke (1918, S. 221 f.) rechnen dagegen mit thematischen Neubildungen, in denen sich schwundstufiges gamit Thema-e zu *gae- verbunden und dies dann lautgerecht ge¯- ergeben habe.7 Auf thematische Neubildungen *ga¯-is, *ga¯-id weisen jedenfalls die mfrk.(-rheinfränkischen), mnl. und mnd. Formen der 2. und 3. Sg. Präs. Ind. geis, geit zurück. 3.2. Althochdeutsche Zeit Der Formenbestand der Kurzverben gehen und stehen in den mfrk. Quellen des 12.–14. Jh.s lässt sich am ehesten von dem altfränkischen Paradigma herleiten, das in Otfrids ‘Evangelienbuch’ gilt: Infinitiv -a¯n, Präs. Indikativ Sg. 1. -a¯n, 2. -eis, 3. -eit, Pl. 1. -e¯n, 2. -e¯t, 3. -e¯nt, Konjunktiv ge¯-, ste¯-. Auf diesen Stand deuten auch schon die vereinzelten mfrk. Belege aus ahd. Zeit hin (Franck 1909, § 212): -ei- in der 2./3. Sg. Ind. belegen die Trierer Prudentiusglossen (11. Jh.) mit gesteit Ahd. Gl. 2, 567,7, und den e¯-Plural von ahd. fa¯han ‘fangen’ bezeugt die Form biuet Ps. 2,12 = ahd. bi-fa¯het ‘erfasst’ 2. Pl. Imp. aus dem mfrk. Anfangsteil der ‘Wachtendonckschen Psalmen’. Nach van Helten (1902, S. 195, §9) 6 Vgl. Bohnenberger 1935, S. 243; Flasdieck 1937, S. 55. Gegen diesen Erklärungsansatz sprechen mehrere gravierende Bedenken: 1. Der Wandel von ai > e¯ in der Nebensilbe ist bereits westgerm. oder gar schon nordwestgerm., da ihn der Nebensilbenvokalismus aller westgerm. Sprachen voraussetzt und er selbst im Urnordischen schon in der Runeninschrift von Tune (um 400) belegt ist (Krause 1971, § 46 und 59; Antonsen 1975, S. 16), dort also wenigstens bis ins 4. Jh. zurückreicht. Die vermeintliche Schwachtonform *ge¯- müsste sich daher relativ früh voreinzelsprachlich entwickelt haben; dann ist aber schwer nachvollziehbar, dass sie sich nur im Altbairischen und Teilen des Altfränkischen erhalten hätte. 2. Die im Nhd. geltenden prosodischen Verhältnisse bei Partikelverben müssten bereits für das Ahd. vorausgesetzt werden (wogegen freilich wenig sprechen dürfte). Nach der Verbpartikel steht das finite Verb auch im Ahd. in der Regel nur im Nebensatz; daher ist sehr fraglich, ob die Vorkommenshäufigkeit dieser Fälle wirklich ausgereicht hätte, den hier entstehenden Monophthong e¯ auch in der Stellung vor der Verbpartikel und insbesondere auch beim Simplexverb durchzusetzen. 3. Warum ist in der Stellung nach Verbpartikel nicht auch bei anderen Verben mit Wurzelvokal ei Monophthongierung eingetreten, so fragt Mottausch (1997, S. 255) zu Recht, warum z. B. nicht auch bei heizan, warum nicht bei Präterita starker Verben Ia wie sneit? Hier sähe man sich offenbar zu der grundsätzlich misslichen Annahme lexemspezifischen Sonderverhaltens von ga¯n, sta¯n gezwungen. – Zur generellen Problematik der Erklärung durch prosodische Reduktionen vgl. Nübling (2000, S. 185 f.). 7 Zustimmend auch Franck 1909, § 212. Bedenklich ist hier das chronologische Problem, dass Wilmanns und Baesecke einerseits den altfränkischen Flexivbestand des 9. Jh.s (Tatian, Otfrid), insbesondere mit -eme¯s/-e¯n 1. Pl. Ind., -ent 3. Pl. Ind., voraussetzen, der Wandel von ae > e¯ sich andererseits aber nur dann lautgeschichtlich glatt einordnen würde, wenn sich *gae- < *ga-e- bereits in der Frühphase der ahd. Monophthongierung ergeben hätte, als zwar die allophonische Spaltung von germ. */ai/ (in [ae] vor r, w, germ. h und [ai] sonst) schon eingetreten, die Monophthongierung von [ae] > [e:] aber noch nicht erfolgt war.
gehen und stehen im Mittelfränkischen
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verdankt biue¯t »sein e¯ der analogiebildung nach *ge¯t, *ste¯t«, was den e¯-Plural Indikativ von gehen und stehen bereits für das Altmfrk. voraussetzt – und damit zugleich den frühen Anschluss von fa¯han, ha¯han und dann vermutlich auch von slahan an das Präsensparadigma von ga¯n, sta¯n. Dieser Anschluss wurde durch folgende lautlichen und morphologischen Veränderungen herbeigeführt oder gefördert: (1) Im Laufe der ahd. Zeit ist intervokalisches h im Altfränkischen großenteils geschwunden und die so entstehende Verbindung aus betontem und unbetontem Vokal kontrahiert worden (Franck 1909, § 110 f.). Mfrk. Belege dafür sind etwa tha (< tha¯ha) ‘Ton’ Ahd. Gl. 4,270,5 (Bonn, UB S 218, 11. Jh., Trier, BStK . 71) und gemalda (= gema¯lda < gi-mahalda) Ahd. Gl. 2,715,56 (Paris, BN lat. 9344, 11. Jh., Echternach, BStK . 752). So mussten sich die zu ga¯n, sta¯n stimmenden Infinitive fa¯n, ha¯n, sla¯n < fa¯han, ha¯han, slahan ergeben. Die seit mhd. Zeit bezeugten Formen veis, veit, heis, heit, sleis, sleit (Dornfeld 1912, S. 217; Bach 1934, S. 214) werden gleichfalls schon in ahd. Zeit entstanden sein, und zwar bei frühem Schwund des intervokalischen h: *fa¯his > *fa¯is > *fais > feis, *slahis > *slais > sleis; bei h-Schwund erst nach dem i-Umlaut: *fa¯his > *fæ¯his > *fæ¯is > feis, *slahis > *slehis > sleis. (2) Im Mfrk. und teilweise auch im benachbarten Rheinfränkisch-Hessischen und Südniederfränkischen ist in (späterer) ahd. Zeit die Endung -n der 1. Sg. Präs. Ind. von den schwachen Verben II und III und den mi-Verben auf die starken Verben und schwachen Verben I übertragen worden. Dies belegen rheinund mfrk. Texte und Glossen des 10./11. Jh.s (Franck 1909, §199.1) und die Wachtendonckschen Psalmen für das südöstliche Altniederfränkische des 9./10. Jh. (van Helten 1902, S. 176). Zusammen mit der Kontraktion über h führte die Übernahme der Endung -n zu den Formen ih fa¯n ‘fange’, ha¯n ‘hange, hänge’, sla¯n ‘schlage’ ≈ ih ga¯n, sta¯n. (3) Nachdem solchermaßen schon der Infinitiv und der gesamte Singular des Präs. Ind. der Gruppe fa¯han, ha¯han, slahan mit ga¯n, sta¯n übereinstimmte, wurde auch der Plural Präs. Ind. und der Konjunktiv Präs. den e¯-Formen von ga¯n, sta¯n analogisch angeglichen, wie dies ja bereits das erwähnte biuet Wachtendoncksche Ps. 2,12 bezeugt. 3.3. Mittelhochdeutsche Zeit Der für die ahd. Zeit erschließbare, aber noch kaum durch Belege gestützte Stand wird in den reichlicher fließenden Quellen des 12.–14. Jh. zwar besser, aber immer noch keineswegs umfassend bezeugt. Die e¯-Formen des Plural Präs. Ind. und des Infinitivs sind in der bisherigen Forschung meist für südliche Infiltrate gehalten worden, die sich erst vom 12. bis ins 15. Jh. im Moselfrk. durchsetzten.8 Nach Theodor Frings (1926, S. 135) »zeigt rhein- und moselfrk. 8 Vgl. Frings 1922 [= 1956 I], S. 51 und 53; 1926 [= 1956 II ], S. 132[86]–135[89]; Bach
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Überlieferung des hohen und ausgehenden Mittelalters, von 1200 bis 1450, deutlich die Herausbildung des Zustandes, den wir heute auf unseren Karten sehen.«9 Dabei wurde übergangen, dass auch in der gesamten mfrk., also auch der ripuarischen Überlieferung von ihren – freilich sehr spärlichen – Anfängen an im Plural Ind. und im Konjunktiv e¯-basierte Formen das Bild beherrschen und Formen mit a¯ 〈a, ai, ae〉 seltene Ausnahme sind. Die Verhältnisse in der Sprache Gottfried Hagens, also im Kölner Ripuarischen des 13. Jh.s, hatte demgegenüber schon Dornfeld (1912, S. 216) sehr richtig so charakterisiert: »In unserm Dialekt kommt a¯ ausnahmslos dem Infinitiv gain, dem Part. Präs. gainde und dem Gerundium zo gane zu, e¯ dagegen den finiten Formen, also dem Präsens Ind. und Konj. mit Ausnahme der 2. und 3. Pers. Sing. Ind., die den Diphthong ei haben [...] (lautet die 1. Pers. ich gain oder ich gein?).« Dieselben Verhältnisse sieht Dornfeld (ebd.) »auch in den andern ripuarischen Denkmälern« bestätigt, ohne dies freilich nachzuweisen. Daher müssen wir nun etwas ausführlicher auf die Beleglage eingehen: Die meisten frühen Reimbelege stammen aus der sogenannten ‘Mfrk. Reimbibel’. Wohl im frühen 12. Jh. im niederrheinisch-westfälischen Grenzbereich (Werden?) entstanden, ist die ‘Reimbibel’ durch eine komplexe mfrk.-niederfrk.nd. Sprachmischung gekennzeichnet (Klein 2003, S. 26– 40). Hinzu kommen offensichtlich noch Einflüsse des außer-mfrk. Hochdeutschen. Im Infinitiv sind zum einen die a¯-Formen ga¯n, sta¯n, va¯n ‘fangen’, sla¯n ‘schlagen’ durch Reime und die Schreibungen der Fragmenths. A gesichert,10 zum andern aber auch die e¯-Formen ge¯n, ste¯n, ve¯n, die also sowohl dem Dichter als auch dem Schreiber A geläufig gewesen sein müssen; im Reim werden sie mit Jerusale¯m B 567, häufiger aber mit se¨hen, gesche¨hen = mfrk.-mnl. sien, geschien, mnd. seˆ 4n, gescheˆ 4n 1930, S. 124 f.; Schützeichel 1974, S. 93–97; Garbe 1969, S. 84 f., 102, 106, 108, 238 f.; Helm 1966, S. 263 und 276 f. 9 Vgl. Frings 1956, Bd. I, Karte 6, S. 112 und Karte 36, S. 142. Später scheint Frings (1957, S. 17) das Übergreifen von ge¯n auf das Moselfrk. sogar für noch deutlich jünger gehalten zu haben: »Trier trat Anfang des 14. Jahrhunderts in engste Beziehungen zum südlichen Mainz. Das äußerte sich unmittelbar in der Einführung südlicher, mainzischer Sprache nach Trier. Neben trierisches ga¯n ‘gehen’ tritt mainzisches ge¯n; ga¯n und ge¯n mischen sich und so entsteht neben schla¯n ‘schlagen’ auch ein merkwürdiges schle¯n, das sich über das Territorium Trier ausdehnt.« Die moselfrk. Übernahme von ge¯n ist in Frings’ Sicht nur die letzte Phase eines sich über ein halbes Jahrtausend erstreckenden Vorbruchs von ge¯n aus dem Ostobd., der »schon vor 1000« eingesetzt habe (Frings 1957, S. 47 und Karte 36). Gegen diese Annahme hat schon W. Foerste (Nd. Jb. 74 [1951], S. 142) sehr zu Recht Bedenken geäußert: »warum sollte ge¯n gehen von Bayern ausgestrahlt sein, wo doch Otfrid und fünf Tatianschreiber erkennen lassen, daß präsentische e¯-Formen schon im Ost- und Rheinfränkischen des 9. Jahrhunderts gebräuchlich waren?« Vgl. auch Stopp (1959, S. 108 f.) und Schützeichel (1974, S. 94–97), die anders als Frings auch die dringend nötige Differenzierung zwischen Infinitiv- und Plural-Formen vornehmen. 10 Infinitiv (er )sta¯n, ga¯n, slahen, entva¯hen : Part. Prät. geta¯n A 396, B 162, B 259, A 526, B 31.
gehen und stehen im Mittelfränkischen
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gebunden.11 Hintergrund dieser auffälligen Reime könnte einerseits die Kenntnis des rheinfränkisch-hessisch-ostmd. Reimtyps ge¯n : se¯n ‘sehen’, andererseits aber auch der mnd. e¯-Laut in seˆ 4n, gescheˆ 4n gewesen sein, der dem Dichter die Reimbindung mit ge¯n, ste¯n, ve¯n statthaft erscheinen lassen konnte. Dasselbe gilt für die 3. Pl. Ind. ge¯n, die nur mit se¨hen, gesche¨hen gereimt wird.12 Die für hochdeutsch schreibende Niederdeutsche charakteristische Unsicherheit im Bereich von mhd. e¯, ei, ie zeigt sich auch sonst in Reim und Schreibung; so wird die 3. Sg. Präs. Ind. geit, steit mit mhd. wa¯rheit, diet, gesihet gereimt.13 Da die reimgesicherten e¯-Formen im Infinitiv und Plural weder niederfränkisch noch nd. sind, dürften sie den mfrk. Anteilen der Reimbibel zuzurechnen sein, wenn auch zunächst einmal nicht auszuschließen ist, dass insbesondere beim Infinitiv auch Kenntnis der mittel- und obd. e¯-Formen mitspielen könnte. Für das durch Reim und Schreibung gesicherte ve¯n (=va¯hen) und sle¯n (=slahen) scheidet diese Erklärung indessen aus. Man wird in den e¯-Infinitiven der Reimbibel daher wohl frühe Zeugnisse mfrk. Formen sehen dürfen. Gestützt wird dies durch irgeen : bedleem ‘Bethlehem’ 87 im moselfrk. Fragment ‘Von Christi Geburt’14 und entfeen 2082[055,22], 4023[105,11], : geen 3. Pl. Konj. 4774[124,15] im ‘Rheinischen Marienlob’. Belege der 1. Sg. Präs. Ind., des Pl. Präs. Ind.15 und des Präs. Konj. bietet die ‘Reimbibel’ leider nicht. Leider nur sehr spärlich fällt das Zeugnis der ersten großen mfrk. Reimdichtung aus: Lambrechts ‘Alexander’. Da er in seiner ursprünglichen Gestalt zudem allein in der bairischen Umschrift der Vorauer Handschrift überliefert ist, sind nur die Reime für unsere Frage auswertbar. Sie sichern für den Infinitiv allein die a¯-Formen ga¯n, sta¯n, va¯n (Kuhnt 1915, §27.1) und für die 3. Sg. Präs. Ind. die ei-Formen geit, steit, veit, sleit, deit ‘tut’ (Kuhnt 1915, § 15). Ansonsten ist nur noch die 3. Sg. Konj. erge¯ (: me¯ ‘mehr’ 576) belegt. Derselbe Formenbestand (Infinitiv -a¯n, 3. Sg. Ind. -eit, 3. Sg. Konj. -e¯ ) erscheint reimgesichert auch in den beiden rheinischen Karlsdichtungen der 1. Hälfte des 13. Jh.s, ‘Karl und Galie’16 und ‘Morant und Galie’ (Frings/Linke 1976, S. CLV–CLVIII ); hinzu kommt hier noch die 1. Sg. Ind. -a¯n (geva¯n : ha¯n ‘haben’ 2111). 11 Infinitiv bega¯n : Je¯rusale¯m (began : ierłm) B 567; erga¯n : gese¨hen (erga´n : gesien) A 380, entga¯n : gese¨hen (unt geˆn : ge sıˆen) A 465, sta¯n : gese¨hen (stien : ge sen) C 007, entva¯hen : gesche¨hen (unt feˆn : geschıˆen) A 454; im neutralen Reim, aber mit 〈e〉- oder 〈eˆ〉-Schreibung: *len : er*ten 386, (in)geˆn : unt feˆn 420, 428. 12 3. Pl. Ind. ge¯n : gese¨hen Infinitiv (gien : ge sı´en) A 360, verge¯n : gese¨hen 1. Pl. Ind. (uergeˆn : gesıˆen) A 373, 3. Pl. Ind./Konj. ge¯n : gesche¨hen (geˆn : geschıˆen) A 457. 13 begeit : gesihet (beget : gesihet ) B 318, begeit : diet (beget : thiet ) B 277 291. 14 Die Dichtung wird ins zweite Viertel des 12. Jh.s datiert (vgl. E. Papp, VL 1 (1978), 1217 f.; Vollmann-Profe 1986, S. 104); die moselfrk. Fragmenths. entstand dagegen erst im 1. Drittel des 13. Jh.s (Palmer 1991, S. 217). 15 Außer dem hinsichtlich des Vokalismus neutralen Reim 3. Pl. va¯hen : Infinitiv ga¯n (uahn : gan) B 262. 16 Vgl. Helm 1966, S. 51 und 263–265. Neutral sind die Reime: 3.Pl. Ind. steynt : begeynt 50,19 und 2. Pl. Ind. besteyt : begeyt 95,57 mit ei-Vokalismus (s. u.).
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Thomas Klein – Eva Büthe
Auch die mfrk. handschriftliche Überlieferung des 12.–14. Jh.s17 bestätigt im Wesentlichen das schon von Dornfeld skizzierte Bild, das für die etwas häufiger belegten Fälle zunächst durch tabellarische Übersichten verdeutlicht sei: Jh.
Text
12
Arnst. ML Wernerh v. Niederrh. Wilder Mann
13
Marienklage Rh. Marienlob Rh. Tundalus Lilie Kölner Urk. 13. Jh. Mfrk. Urk. 13. Jh.
Infinitiv 〈e,ee〉 〈ei〉 〈a,ai〉
Buch d. Minne Kölner Klosterpredigten Kölner Urk. 14. Jh. Moselfrk. Urk. 14. Jh. Yolanda Schlacht bei Göllheim Tauler
2 2
9 55 2 25 17 52
4
186
3 2
6 14
5 8 13
1
7
1
2 1
8
3
(= 94,9%)
3. Sg. Ind. 〈e,ee〉 〈ie〉 〈ei〉 〈a,ai〉
4
7
80 1 36 26 66
6
14
254
10
4
14 23 4 20 61 1 39
4
162
4
(= 93,6%)
3 14 28
1 2
(= 91,4%)
1
1
29 19 16 41 11 2 20 138
(= 92,6%)
3 2 1 6
Der Infinitiv der Verbgruppe wird mfrk. in aller Regel mit -a¯n gebildet. Die wenigen Ausnahmen erklären sich zum Teil als Formen nicht-mfrk. Schreiber.18 Auch die ‘Mittelfränk. Reimbibel’ (A), die mit ihren oben schon erwähnten 8 e¯-Formen bereits die relativ meisten Belege beisteuert, bildet einen Sonderfall. Die wenigen übrigen Vorkommen in mfrk. Handschriften betreffen in auffälliger Weise zumeist das Verb (ent)va¯hen : entfeen ‘Rhein. Marienlob’ 2082[55,22], 4023[105,11], 4774[124,15] (: geen 3. Pl.); ı´ntfeı´n Corpus 72A 113,5, 72B 113,2; intfeyn Tauler-Hs. Wien, ÖNB Cod. 2744, 105r,15; entfen ‘Buch der Minne’ 61r,14, 86r,12, intfen 64v,7, uen 89v,8, 90r,1, 90r,5, *ten 64v,8; *tey˙n : ı´ntgey˙n ‘Minnehof’ F 130 f., *teen (: kleen ON ) ‘Schlacht bei Göllheim’ 177. Trotz ihrer geringen Zahl bezeugen diese Belege, dass die analogische Ausbreitung von -e¯-, -e¯e- und -ei- auf den Infinitiv bereits früh einsetzte, und zwar sowohl ripuarisch als auch moselfrk., und dass diese Ausbreitung insbesondere auch das Verb va¯hen erfasste, dessen e¯-Formen sich ja wiederum nur dem Muster ge¯- und 17 Zum ausgewerteten Korpus: Den Grundstock bilden die mfrk. Texte des Korpus der Mhd. Grammatik; weitere Texte und Urkunden des 13. Jh. hat Th. Klein annotiert. Für die Überlassung zahlreicher zusätzlicher annotierter Urkunden des 13. Jh.s und moselfrk. Urkunden des 14. Jh.s danken wir Britta Weimann (Luxemburg). 18 So im ‘Rheinischen Tundalus’ (hessischer Schreiber): gen 463, gene Gerund. 176; gegen den Reim zugen (: gidan) Wernher v. Niederrhein 218.
313
gehen und stehen im Mittelfränkischen
ste¯- verdanken können. Wenigstens im Ripuarischen haben sich die e¯-Formen gegen das herrschende -a¯- jedoch nicht durchsetzen können. Im Partizip Prät. gelten im Mfrk. allein die ursprünglichen Langformen gegangen, gestanden und gevangen; auch jüngeres geslayn ist als Kontraktionsprodukt von geslagen und nicht als Übernahme des -a¯n aus dem Infinitiv zu werten. Die 1. Sg. Präs. Ind. ist im 12. – 14. Jh. zwar nur selten, aber ausnahmslos mit a¯-Vokalismus belegt: gan RhMl 57[2,33] : *tan : entfan 1498[40,19]–1500[40,21], uer*tan 1650[44,15], gayn Amtleutebuch St. Brigiden 4v,16; *tan ‘Lilie’ 22,36, *tan Yolanda 2745, van (: lan ‘lassen’) 3634; ver*tay˙n ‘Minnehof’ F 72, *tay˙n 81. Die 2./3. Sg. Präs. Ind. auf -eis, -eit (Habscheid 1997, S. 150 f., 153) werden in den mfrk. Quellen des Gesamtzeitraums mit nur wenigen Ausnahmen mit 〈ei, ey〉 geschrieben (zu seltenem 〈a, ai〉 s. weiter unten). Im Plural Indikativ unserer Verbgruppe konkurrieren zunächst 〈e〉-, 〈ee〉- und 〈ei〉-Formen, wobei 〈ei〉 vor allem im ripuarischen Quellenbereich dominiert: 1. Pl. Ind. 〈e,ee〉 〈ei〉 〈a,ai〉
2. Pl. Ind./Imp. 〈e,ee〉 〈ie〉 〈ei〉
3. Pl. Ind. 〈e,ee〉 〈ie〉 〈ei〉 〈a,ai〉
Jh.
Text
12
Arnst. ML Wernerh v. Niederrh.
1 1
Wilder Mann Marienklage Rh. Marienlob Rh. Tundalus Lilie Kölner Urk. 13. Jh. Mfrk. Urk. 13. Jh.
13
14
1
1
1
2
1
2
1 1 5 2 2
1
3
2
2
3 16
Buch d. Minne Yolanda19 Kölner Klosterpredigten Kölner Urk. 14. Jh. Moselfrk. Urk. 14. Jh. Tauler
1
1 1
2 5 1 6 6 12 32
1 2
4 2 2
1
1
2 1
2
2
2
1
3 4
1
1
10
1
15
2
1 2 1 12 9 25
2
2
Im Konjunktiv Präs. ist die 3. Sg. Präs. Konj. -e¯ durch zahlreiche Belege, auch im Reim,20 gesichert. Insgesamt steht in unserm Korpus 47 Belegen mit -e¯ nur eine offenbar reimtechnisch bedingte a¯-Form gegenüber: *ta : lat. rota Wernher v. Niederrh. 91. Die übrigen sicher oder vermutlich im Konjunktiv stehenden Belege 19 2. Pl. Imp. slet 2593, 2. Pl. Ind. enfeet 4610, 3. Pl. steyn dy (= steint di ) 1944, vgl. Meier 1889, S. XXIV . 20 vı´r*te (: lat. latitudı´ne) Wernher v. Niederrh. 665, bige (: me) Wild. Mann III 46, irge (: ge*e = gese¨he) III 163, ge : *le ‘schlage’ 3. Sg. Konj. III 160; entfe (: me) ‘Rhein. Marienlob’. Aus den beiden letzten Reimbelegen ergibt sich, dass der e¯-Konjunktiv spätestens im 12. Jh. von ga¯n, sta¯n auf va¯hen und slahen übergegriffen hatte. Zu den Reimbelegen in ‘Karl und Galie’: Helm 1966, S. 51; in ‘Morant und Galie’: Frings / Linke 1976, S. CLVIII .
314
Thomas Klein – Eva Büthe
sind: 1. Pl. geen : *teen RhMl 833[23,07]f.; entfeen RhMl 3352[88,12]; 3. Pl. geen RhMl 4775[124,16], ergein Lilie 17,36; 2. Pl. neı´t l. veit : *leı´t MaKl 78 f. Die Formen mit 〈a, ai〉 spielen in den finiten Präsensformen, von der 1. Sg. Ind. auf -a¯n abgesehen, quantitativ nur eine ganz marginale Rolle: In der 3. Sg. Ind. machen sie mit jeweils 10 Belegen im 12./13. Jh. und 6 Belegen im 14. Jh. jeweils nur 3,6% bzw. 4% aus. Ganz ähnlich das Bild im Plural Ind.: Im 12./13. Jh. entfallen auf insgesamt 59 Belege nur 2 (=3,4%), im 14. Jh. auf 56 Belege 4 (=7,1%) Formen mit 〈a, ai〉. Schon dies muss erhebliche Zweifel an der herrschenden Auffassung wecken, dass es sich bei den a¯-Formen um die angestammt mfrk. Formen handele, die seit etwa 1200 von Süden her zunächst im Moselfrk. von den südlichen e¯-Formen zurückgedrängt worden seien. Hinzu tritt die weitere Komplikation, dass in der 3. Sg. Ind. nach unbestrittener Auffassung -eit die alte nordwestliche, im Mfrk. längst bodenständige Form war, für die unter südlichem, auch literatursprachlichem Einfluss gelegentlich -a¯t eintreten konnte.21 Zu gleicher Zeit sollten also von Süden her im Plural Ind. und Infinitiv bairisch-fränkische e¯-Formen, in der 2./3. Sg. Ind. dagegen westobd. a¯-Formen eingedrungen sein? Das erscheint wenig plausibel. Die bisherige Bewertung der Formen der 3. Sg. Ind. auf -a¯t scheint allerdings zuzutreffen. Es handelt einerseits um Reimbelege,22 die wohl zu Recht als literarische Reime erklärt werden, da sie sich zu den nicht wenigen ga¯t-, sta¯t-Reimen im weiteren md. ge¯n-Gebiet stellen.23 Andererseits finden sich gait, stait vorzugsweise in moselfrk. und/oder rheinfränkisch-westobd. beeinflussten Urkunden: Lille, Archives De´partementales du Nord, Aussteller Wigbolt von Holte, Eb. v. Köln, 1302 Oktober 24, ripuarisch mit rheinfränkisch / obd. Einflüssen:24 *tat (3 mal); WilhelmCorpus 904, Aussteller Wirich von Daun, 1287 Juni 15, moselfrk. mit starken rheinfränkisch / obd. Einflüssen: *tait (3 mal), gait (1 mal); Köln, HASt, HUA K /927: Johann II ., 21 Vgl. Dornfeld 1912, S. 216 f.; Bach 1930, S. 125 f. 22 Wild. Mann sta¯t : ga¯t III 191 f.; ga¯t : ha¯t ‘hat’ III 420; sta¯t : ra¯t IV 192; ‘Böhmenschlacht’ *tait : hait 177; in Gottfried Hagens Reimchronik finden sich 6 Reime des Typs ga¯t, sta¯t : -a¯t neben 16 geit, steit : -eit, vgl. Dornfeld 1912, S. 217; Kuhnt 1915, S. 24. 23 Dazu und zur Konkurrenz von a¯- und e¯-Formen im Rheinfränkisch-Hessischen vgl. etwa Weinhold 1883, § 357; Kuhnt 1915, S. 77; Bach 1930, S. 125; Dornfeld 1912, S. 217; Stopp 1959, S. 105–110; Stopp 1978, S. 206 f. ; zum Ostmd. Feudel 1961, Bd. II , S. 196. Bohnenberger (1897) hat gezeigt, dass bairische Dichter seit dem 11. Jh. neben ihren heimischen e¯-Formen auch a¯-Formen benutzten, und zwar vor allem im Reim, wo die e¯-Formen außer miteinander (z. B. ge¯n : ste¯n) kaum rein reimbar waren; ganz Ähnliches dürfte auch für das fränkisch-md. e¯-Gebiet anzunehmen sein. Bei Gottfried Hagen könnten, wenn er denn wirklich aus Xanten gebürtig war, auch Reminiszenzen an die Sprache seiner Kindheit mitspielen: In der vielleicht im Raum um Geldern entstandenen Handschrift der ‘Mittelniederfränkische Übertragung des Bestiaire d’Amour’ herrschen jedenfalls die a¯-Formen fast ausnahmslos, selbst im Konjunktiv Präs. (vgl. Holmberg 1925, S. 106 und 127). 24 Meist vnd statt inde, oft ist statt is, herre, heirre statt here, vnser Poss.-Pron. statt unse, verschobenes b in ge*chreben, ab, abe, *elben, verschobenes t in teil, vorgenante(n), es statt it.
gehen und stehen im Mittelfränkischen
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Gf. v. Sponheim-Starkenburg u. a., 1318, mfrk. mit starken rheinfränkisch/obd. Einflüssen: *tait ∼ *teit (je einmal); Düsseldorf, HSA , Kurköln 256, Aussteller Balduin v. Luxemburg, Eb. v. Trier, Koblenz 1318, mfrk.-rheinfränkisch: *tait (1 mal). Ansonsten nur in den im Übrigen gut ripuarischen ‘Kölner Klosterpredigten’ ein einsames gestait 47,6.
Genau dieselbe Konstellation zeigt sich aber nun auch bei den a¯-Formen im Plural Indikativ. Auch bei ihnen erweist nicht nur die geringe Belegzahl, sondern auch eine genauere Betrachtung der einzelnen Vorkommen, dass es sich zumeist um vereinzelte Übernahmen nicht-mfrk. Sprachformen handeln muss und nicht wie nach der bisher dominanten Auffassung um Vertreter der bodenständigen und im Ripuarischen allein gültigen Formen: Zwei der sechs Belege stammen sogar aus den zuvor für sta¯t 3. Sg. Ind. angeführten Urkunden: Für die 3. Pl. Ind. erscheint je einmal *taint in der Urkunde Wigbolts von Holte vom 24. 10. 1302 und *tant 264,19 ∼ gent 264,13 in der Urkunde Copus 904 Wirichs von Daun vom 15. 6. 1287. Hinzu kommen je ein vergain und ver*tain 1. Pl. Ind. in der moselfrk. Urkunde von 1317 Febuar 14 (Wien, DOZA , Urkunden), in der die Ritter Dietrich der Meier u. Hermann v. Bachem dem Deutschherrenhaus in Koblenz den Hof von Kalthe übertragen. Und auch hier gibt es wieder einen Reimbeleg: *tan (: gı´tan) Wernher v. Niederrhein 372. Bei der Urkunde Köln, HASt, Domstift 3/759, Schied zwischen Heinrich II . von Virneburg, Erzbischof von Köln und Gerhard VII ., Graf von Jülich, vom 1. September 1306, handelt es sich dagegen um einen gut ripuarischen Sprachstand ohne erkennbare Fremdeinflüsse. Es wäre daher wenig plausibel, die Form *taint nl. Einfluss zuzuschreiben, weil Hg. Johann v. Brabant zu den Sieglern gehört. Möglicherweise handelt es sich hier um einen seltenen Zeugen dafür, dass neben den Formen mit e¯, e¯e und ei tatsächlich auch a¯-Formen in Teilen des Ripuarischen bodenständig waren (s. unten).
Da Vokaldoppelschreibung und nachgeschriebenes 〈i〉25 auch zur Bezeichnung von Langvokalen dienen konnten, fragt sich, inwieweit das auch bei den Graphien 〈ee〉 und 〈ei〉 in Betracht zu ziehen ist. Im ‘Rhein. Marienlob’, das mit 13 Belegen den Großteil der 〈ee〉-Graphien in unserer Verbgruppe beisteuert, wird 〈ee〉 sonst nur einmal im ON mont oliueet 1748[46,33] verwendet, hier offensichtlich provoziert durch den Reim auf geet 2. Pl. Ind. Die 〈ee〉-Formen vom Typ geen müssen also als zweisilbig aufgefasst werden, wie dies für den Beleg irgeen : bedleem ‘Bethlehem’ ‘Von Christ Geburt’ 87 ja auch der Reim sichert. Es muss demnach im 12./13. Jh. in Teilen des Mfrk. eine Tendenz zu thematischen Neubildungen wie ge¯.n gegeben haben. Auch 〈ei〉 steht in den älteren mfrk. Texten wie ‘Rhein. Marienlob’, ‘Lilie‘,26 ‘Niederrhein. Marienklage’ nie für mhd. e¯, sondern nahezu ausschließlich für mhd. ei. Die in diesen Quellen erscheinenden Pluralformen wie 1. Pl. gein, 2. Pl. geit, entfeit, sleit, 3. Pl. geint, entfeint sind daher verlässliche Zeugen einer Ausbreitung von -ei- aus der 2./3. Sg. Ind. auf den Plural.27 Im ‘Rhein. Marienlob’ 25 Zur strittigen Frage, inwieweit nachgeschriebenes 〈i〉 oder 〈e〉 in der mittelalterlichen rheinischen Schriftlichkeit Vokallänge (»Dehnungs-i«) oder Diphthongierung bezeichnete, vgl. Mihm 1999; Klein 2000, S. 19 f.; Elmentaler 2003. 26 Abgesehen von dem korrupten zu˚ eine l. zwe¯ne 61,1. 27 Der älteste Beleg für diese ei-Ausbreitung ist wohl geint 3. Pl. Präs. Ind. ‘König
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Thomas Klein – Eva Büthe
verteilen sich die 〈ee〉- und die 〈ei〉-Formen im Infinitiv und Plural Ind. folgendermaßen: 1. Schreiber 2. Schreiber
fol. 1r –80v = V. 1– 4332 fol. 80v –93v = V. 4333–5146
〈ee〉 〈ei〉 11 − 2 6
Die 〈ee〉-Formen stammen also vom Schreiber I und gehörten wohl schon der Vorlage an. Erst der jüngere Schreiber II (Schneider 1987, S. 159 f.) bringt dann die 〈ei〉-Formen ins Spiel; 〈ee〉 übernimmt er nur noch einmal im Reimpaar entfeen Infinitiv : geen 3. Pl. Präs. 4774[124,15]f. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jh.s greift in der mfrk. Überlieferung dann die Graphie 〈ei〉 für e¯ um sich; so erscheinen schon in den Urkunden Gottfried Hagens aus den 1260er und 1270er Jahren Formen wie Ru˚thgeir, eir*amen, heir*cheffe, eir*ten. In den Quellen des späteren 13. und des 14. Jh.s mit diesem Schreibusus ist nicht mehr zu entscheiden, ob z. B. geyn für ge¯n oder für gein steht. Daher lässt sich auch nicht ermitteln, wieweit sich der Ausgleich zugunsten von ei im Präsens unserer Verbgruppen durchsetzen konnte. Es lässt sich folgende Zwischenbilanz ziehen: Das altfränkische a¯-ei-e¯-Paradigma scheint in der älteren rheinischen Überlieferung der mhd. Zeit zwar noch durch: Infinitiv / 1. Sg. Präs. Ind. ga¯n, 2./3. Sg. Präs. Ind. geis, geit, Pl. Präs. Ind. und Präs. Konjunktiv ge¯-. Es wird aber durch zwei verschiedene Neuerungstendenzen verändert: (1) Neubildung thematischer Formen, z. B. 3. Pl. Ind. ge¯-nt > ge¯-.nt 〈geent〉 (2) Analogische Ausdehnung von ei aus der 2./3. Sg. Ind. auf die e¯-Formen des Plurals In beiden Fällen handelt es sich um Ansätze zur flexivischen Regularisierung: Durch (1) erfolgt ein Anschluss an die Standardflexion mit den Pluralflexiven -en, -et, -ent. Durch (2) wird die doppelte Vokalalternanz a¯ ∼ ei ∼ e¯ im Präsens Ind. zugunsten von a¯ ∼ ei eingeebnet. 3.4. Frühneuhochdeutsche Zeit Die Entwicklung im Mfrk. ab dem 14. Jh. skizzieren wir anhand ausgewählter Quellen. Die kontrahierten Verben va¯n < va¯hen, sla¯n < slahen und ha¯n < ha¯hen geben ihren Anschluss an ga¯n, sta¯n zum Teil auf: slahen flektiert nach wie vor wie ga¯n/sta¯n, va¯hen aber nicht mehr, nachdem ng aus dem Präteritum in den Infinitiv und das Präsens übertragen wurde.28 Über die Infinitiv- und PräsensRother’ 3164; da aus dem mfrk. geprägten zweiten Teil der Heidelberger Rother-Hs. H stammend, ist geint der mfrk. Schicht zuzuordnen. 〈ei〉 für e¯ findet sich in dieser Hs. sonst nicht, da von dem Sonderfall weinig (480, 2441, 3205) abzusehen ist. Die Variante weinig ist mhd. auch sonst belegt (Lexer 3, 761), außerdem könnte es wegen mnd. weinich (Lasch 1914, § 123) auch zu den nd. Elementen in Rother H gezählt werden. 28 Vgl. anvangen (Infinitiv) im Jahre 1400 (Stein 1893, S. 591).
317
gehen und stehen im Mittelfränkischen
formen von ha¯hen kann wegen der dürftigen Beleglage keine Aussage gemacht werden. Spätere Belege und die Verhältnisse in der rezenten Mundart lassen darauf schließen, dass für ha¯hen die gleiche Entwicklung wie für va¯hen anzunehmen ist (vgl. RhWB , Bd. 3, Sp. 210 und Bd. 2, Sp. 283).29 Folglich braucht nur noch slahen mit ga¯n, sta¯n zusammen betrachtet zu werden. Die Entwicklung bis zum Ende des 15. Jh.s zeichnen wir anhand der ‘Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln‹ (Stein 1893; 1895) nach, da es sich hier um eine »zweifellos [...] zentrale« Quellensammlung, »örtlich wie zeitlich wie textbezogen« (Hoffmann 1998, S. 156), handelt. Es folgt zunächst die Übersicht der Belege: Infinitiv 〈ai/ay〉 〈ae〉 〈a〉 1321−1375 1376−1425 1426−1475 1476−1500
93 203 274 115
31 118 85 46
1 2 4
3. Sg. Präs. Ind. 〈ei〉 〈ie〉 〈ee〉 1321−1375 1376−1425 1426−1475 1476−1500
98 226 219 60
1 1
1
1 1
Partizip Präsens 〈ai〉 〈ae〉 〈ei〉 〈e〉
2
1 9 7 8
3 5 4 4
1 1
3. Sg. Präs. Konj. 〈ee〉 〈e〉 〈ae〉 〈a〉 1 14 5
2
1. Pl. Präs. 〈ae〉 〈ai〉 1321−1375 1376−1425 1426−1475 1476−1500
〈ee〉
9 2 1 1
14 7
2 1
〈ei〉
3. Pl. Präs. Ind. 〈ee〉 〈ie〉 〈ae〉 〈ai〉
16 7 4
7 45 18
1 1
1 2 24 4
〈a〉
〈ei〉 1 1
19 6
3. Pl. Präs. Ind./Konj. 〈ee〉 〈ehe〉 〈ae〉 〈ai〉 6
5 1
11 3
1 3 7 9
In der Mitte des 14. Jh.s liegen die Verhältnisse noch wie im späteren 13. und frühen 14. Jh.: Es überwiegt die Bezeichnung 〈ei〉 in der 3. Pl. Ind., die zur Jahrhundertwende hin zunächst durch 〈ee〉 überlagert wird. Daneben gibt es vereinzelte 〈ie〉-Schreibungen, die mit Vorsicht als Belege für den Wandel e¯ > ı¯ 1 gedeutet werden können, da 〈ie〉 auch sonst vereinzelt für mhd. e¯ verwendet wird:30 Bei le¯henen, le¯hen-liut, le¯hen-mann und le¯henunge, deren e¯ sich im Neuripuarischen lautgesetzlich zu ı¯ 1 entwickelt hat (vgl. RhWB , Bd. 3, Sp. 311), weisen 16,9 % von 166 Belegen 〈ie〉 auf. Die frühesten zwei Belege mit 〈ie〉 stammen aus dem Jahr 1435. Bezeugen die 〈ie〉-Schreibungen die Teilhabe der e¯-Formen des Pl. Präs. am mfrk. Wandel von e¯ > ı¯, so kann das als weiteres Indiz 29 Spätere Belege bei Weinsberg, z. B. hangen (Infinitiv) im ‘Liber Decrepitudinis’ fol. 50r, 30. 30 Und zwar auch abgesehen von e¯ vor r. Mhd. e¯ und ie sind vor r schon früher zusammengefallen und haben eine Sonderentwicklung mitgemacht (vgl. Klein 1993, S. 43).
318
Thomas Klein – Eva Büthe
dafür gelten, dass mhd. e¯ in diesen Formen auch im gesprochenen Ripuarischen wie noch im rezenten Moselfrk. galt, bevor die e¯-Formen, wie der Ersatz der 〈e〉basierten durch 〈a〉-basierte Schreibungen anzeigt, durch a¯-Formen verdrängt wurden. Diese Annahme kann zumindest für den Zeitraum 1375–1425 als wahrscheinlich gelten, in dem 〈ee〉 die hauptsächliche Schreibung in der 3. Pers. Pl. Ind. wird, denn 〈ee〉 bezeichnet in den ‘Akten’ außer tongedehntem mhd. e¨ und e häufig e¯ und æ,31 während es nur ganz vereinzelt für monophthongiertes mhd. ei auftreten kann.32 Außerdem findet sich 〈ee〉 auch in der 3. Sg. Präs. Konj., in der e¯ für die frühere Zeit als gesichert zu gelten hat. Problematisch bleibt allerdings die einmal im Zeitraum 1375–1425 und zweimal im Zeitraum 1475– 1500 auftretende 〈ie〉-Schreibung in der 3. Sg. Präs. Ind.: Entweder es handelt sich um eine Verschreibung, oder e¯ hat sich gelegentlich auch in die 3. Sg. Präs. Ind. ausgebreitet. Die Beleglage zeigt, dass sich die oben in Quellen des 13. Jh.s beobachtete Tendenz zur partiellen Regularisierung von a¯ ∼ ei ∼ e¯ zu a¯ ∼ ei mit dem Ersatz von e¯ durch ei nicht durchsetzen konnte. Der alte irregulärere Zustand a¯ ∼ ei ∼ e¯ scheint zunächst wieder die Oberhand zu gewinnen. In der Mitte des 14. Jh.s gibt es noch vereinzelte Ansätze, 〈ee〉, 〈ei〉 aus dem Plural auch in den Infinitiv und das Partizip Präsens zu übertragen. Im Gegensatz zu Teilen des Moselfrk. kann sich auch diese Tendenz im Ripuarischen jedoch nicht durchsetzen. Im Ripuarischen scheint sich vielmehr der Wandel zum a¯-ei-a¯-Paradigma, das strukturell schon den heutigen ripuarischen Mundartverhältnissen entspricht, bereits in den Jahrzehnten um 1400 angebahnt zu haben. Darauf deuten die Belege in den beiden Handschriften des sog. ‘Niederrheinischen Orientberichts’ hin, von denen der Codex Köln, Hist. Archiv, Best. 7010 (W) 261a, 1408 geschrieben wurde, während Köln, Hist. Archiv, Best. 7020 (W*) 3, einige Jahre später, ca. 1410–20, entstanden ist. Obgleich etwas jünger, scheint die Hs. W* 3 der Vorlage des 14. Jh.s sprachlich wie textlich näher zu stehen als die Hs. W 261a; so wohl auch in den Präsensformen von ga¯n, sta¯n, sla¯n: 〈ei〉 W* 3 W 261a
67 29
3. Pl. Präs. Ind. 3. Sg. Präs. Konj. 〈ee〉 〈ie〉 〈ai,ae〉 〈e〉 〈ee〉 1 14
5
3 19
3 3
2 2
Während W* 3 noch das vorherrschende 〈ei〉 des 14. Jh.s zu 94,4% fortschreibt und erst 3 (=4,2%) 〈ai, ae〉 bietet, spiegelt W 261a sowohl das zwischenzeitige Wiedererstarken von e¯ 〈ee, ie〉 als insbesondere auch das Aufkommen der 31 Z. B. bei mhd. ræte(n) Pl. zu 68 % 〈ee〉 bei 438 Belegen, in sekundär geschlossener Silbe bei le¯henen zu 72 % 〈ee〉 bei 43 Belegen. 32 Z. B. 2 × 〈cleeder〉 im Jahre 1341 (Stein 1893, S. 52) und einmal 〈beene〉 im Jahre 1396 (Stein 1893, S. 170).
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319
〈ai〉-Formen mit 19 (28,4%) Belegen wider, so dass geint 〈ei〉 zwar mit 43,3% noch die häufigste Variante ist, in ge¯nt 〈ee, ie〉 und ga¯nt 〈ai〉 mit jeweils 28,3% aber schon starke Konkurrenten hat. Einige Jahrzehnte später zeigt die 1444 geschriebene Handschrift Köln, Hist. Archiv, Best. 7004 (GB 4°) 223 der 1430 entstandenen ripuarischen ‘Pilgerfahrt des träumenden Mönchs’ bereits eine deutliche Zunahme der a¯-Formen: In den Formen des Plural Ind. stehen 9 〈ai, ae〉 (= 40,9 %) neben 13 〈ee〉, und auch in die Formen des Präs. Konj. ist a¯ gedrungen: 41 〈e, ee〉, 8 〈a, ae〉 (=16,3%).33 In der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnen auch in den ‘Kölner Akten’ 〈a〉Formen die 〈ei〉, 〈ee〉, 〈e〉-Formen zu verdrängen: am vollständigsten, ohne dass es ein fast gleichberechtigtes Nebeneinander von 〈a〉 und 〈e〉 gegeben hätte, in der 3. Sg. Konj. und in der 3. Pl. In den eindeutigen Indikativfällen auf 〈-nt〉 halten sich 〈ei〉 und 〈ee〉 länger als in der nicht modus-eindeutigen 3. Pl. auf 〈-n〉. Bei Letzterer kann keine Entscheidung zwischen Indikativ und Konjunktiv getroffen werden, weil der Konjunktiv als Modus in allen betroffenen Nebensätzen nicht ausgeschlossen werden kann. Die Veränderung der Stammvokalbezeichnung im Präsens-Paradigma vollzieht sich etwa zeitgleich bei slahen: 〈slaent〉 (3. Pl. Präs. Ind.) datiert aus dem Jahr 1407, der erste Beleg für 〈ae〉 bei ga¯n, sta¯n stammt aus dem Jahre 1395; danach folgen erst im Jahre 1407 zwei weitere Belege. In der 3. Pl. Indikativ setzt sich 〈a〉 erst am Ende des 15. Jh.s vollständig durch. Der Wandel der Stammvokalbezeichnung zu 〈a〉 vollzog sich im Konj. Sg. und gesamtem Pl. im stadtkölnischen Verwaltungsschrifttum in der Mitte des 15. Jahrhunderts, wobei sich die Neuerung in den Konjunktivformen schneller durchsetzte.34 Erst durch diesen Schreibsprachwandel werden im geschriebenen spätmittelalterlichen Ripuarischen Verhältnisse hergestellt, die dem rezenten Ripuarischen entsprechen: Es weist im Infinitiv, in der 1. Sg. Präs. und im gesamten Plural [ɔ·1] auf, das mhd. a¯ voraussetzt, und in der 2., 3. Sg. Präs. Ind. gelten Fortsetzer von mhd. ei, nämlich landkölnisch [e], stadtkölnisch [ei]. Um die weitere Entwicklung bis zum Ende der ripuarischen Schriftlichkeit gegen Ende des 16. Jh.s zu verfolgen, betrachten wir zwei Quellen aus der 2. Hälfte des 16. Jh.s: das Tagebuch des Jan van Brackerfelder (Eckertz 1859) und die umfangreichen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs, die fortlaufend von 1560/61 bis 1597 geschrieben wurden: Der ‘Liber Iuventutis’, Köln, HAStK , CD 49, umfasst den Zeitraum von 1560/61 bis 1578, der ‘Liber Senectutis’, Köln, HAStK , CD 50, von 1578 bis 1587 und der ‘Liber Decrepitudinis’, Köln, HAStK , CD 51, von 1587 bis 1597.35 Der Sprachstand dieser 33 Belegzahlen nach Damave 1964, S. 108–110. 34 Das Testament der Marie Sudermann vom 1. Febr. 1500 enthält 2 Belege in der 3. Pers. Sg. Konj., die beide 〈ae〉 aufweisen (Deeters / Helmrath 1996, S. 144,6.42). Pluralbelege fehlen. 35 Zur Untersuchung dienten nur die Teile seiner Schriften, die im Rahmen des DFG geförderten Weinsberg-Projektes (= http://www.weinsberg.uni-bonn.de/, 27. 09. 2010) nach den Handschriften diplomatisch erfasst wurden.
320
Thomas Klein – Eva Büthe
Quellen ist unterschiedlich. Während Weinsberg häufiger Elemente aus der sich herausbildenden neuhochdeutschen Schriftsprache übernimmt, treten sie bei Brackerfelder seltener auf. Er verharrt bei einer Kölnischen Schriftsprache, die in einzelnen Zügen sogar der gesprochenen Sprache nahe steht (vgl. Hoffmann 1983/84, S. 75). Es folgt zunächst die Übersicht der Belege Weinsbergs, die vollständig aus dem Gesamtmaterial ermittelt wurden: Schreibung 〈ei〉 ‘Liber Juventutis’ 107 ‘Liber Senectutis’ 102 ‘Liber Decrepitudinis’ 36 Schreibung
〈a〉
‘Liber Juventutis’ ‘Liber Senectutis’ ‘Liber Decrepitudinis’
6
3. Sg. Präs. Ind. 〈ehe〉 〈e〉 〈ai〉 8 1 1 103 3 17 318 6 〈ae〉
1
3. Sg. Präs. Konj. 3. Pl. Präs. Ind. -nt 〈a〉 〈ae〉 〈ehe〉 〈a〉 〈ae〉 〈ai〉 1 1 6 18 2 6 2 1 43 1 2 6 1 1 14
Part. Präs. 〈ai〉 〈e〉 〈ei〉 18 41 27
1 5
〈ehe〉 〈eh〉 1 1
1
3
Weinsbergs Aufzeichnungen zeigen bezüglich der Vokalschreibung im Pl. und Konj. Sg. den gleichen Stand wie die ‘Kölner Akten’ am Ende des 15. Jh.s. Die in der Übersicht nicht dargebotenen Formen im Paradigma von ga¯n, sta¯n wurden stichprobenartig überprüft. Das Resultat lautet: Es gibt keine 〈e〉-, 〈ee〉-, 〈ei〉Schreibungen im Plural und Infinitiv. In alle Formen des Paradigmas dringt in unterschiedlichen Anteilen die neue schriftsprachliche zweisilbige 〈ehe〉-Schreibung (Kolb 1972; Gießmann 1981, S. 33–35) ein. Der früheste Beleg im betrachteten Material findet sich freilich schon in den ‘Kölner Akten’ im Jahre 1496 in der 3. Pl. Präs.: understehen. Ein lautlicher Hintergrund der 〈ehe〉-Schreibung ist nahezu auszuschließen. Einerseits treten die 〈ehe〉-Schreibungen bei Weinsberg bis zum Ende seiner Schreibtätigkeit im Wechsel mit ripuarischen 〈a〉-Schreibungen auf. Die Digraphen 〈ai〉 und 〈ae〉 sind bei Weinsberg und Brackerfelder (s. die Tabelle unten) nicht als zweisilbige Schreibungen zu interpretieren, da sie entsprechend der ripuarischen Schreibtradition auch sonst mhd. a¯ und tongedehntes mhd. a bezeichnen. Es besteht daher auch kein Zusammenhang mit den im Oberbergischen belegten thematischen Bildungen. Die unvollständige Übernahme der 〈ehe〉-Schreibung kann nur dadurch begründet sein, dass sie nicht der Lautung in Köln entsprachen. Bislang konnte beobachtet werden, dass es bei Weinsberg von lexemspezifischen Ausnahmen abgesehen nur dann zur vollständigen Übernahme von Graphien aus anderen regionalen Schreibsprachen kommt, wenn sie mit der Lautung in Weinsbergs Ripuarisch kompatibel waren (vgl. Balan 1969). Dass die 〈ehe〉-Schreibungen nicht der Lautung entsprochen haben können, zeigt andererseits die Seltenheit der 〈ehe〉-Schreibungen im Tagebuch Brackerfelders, die sich nicht bei ga¯n, sta¯n, dafür aber in 〈gehen〉 und 〈vntgehenwordicheit〉 für ge¯n < gegen (Präp.) finden (Eckertz 1859, S. 181, 33; 186, 20). Das Neuripuarische
321
gehen und stehen im Mittelfränkischen
zeigt bei gegen ein Nebeneinander von bevorzugt zweisilbigen und einsilbigen Formen: je˛¯ 1j., -e¯.- ∼ je˛¯ 1n (RhWb, Bd. 2, Sp. 1095). Für die 〈ehe〉-Schreibung bei gegen gibt es demnach zwei Erklärungen: Entweder lagen zur Zeit Brackerfelders im Stadtkölnischen bereits zweisilbige Formen vor, die Brackerfelder adäquat durch 〈ehe〉 verschriftlicht sah, oder einsilbige e¯-Formen, bei denen nur der lange e-Laut das tertium comparationis bildete und zur Übernahme der 〈ehe〉-Schreibung führte. Dass sie bei ga¯n, sta¯n fehlt, kann nur an der anders gearteten Lautung liegen. Die 〈a〉-Schreibungen in der 3. Sg. Ind. sind gleichfalls als neu zu erachten. Ihr Anteil ist zwar sehr gering, doch sind sie – vor allem im ‘Liber Senectutis’ – zu häufig belegt, um als bloße Verschreibungen gedeutet werden zu können. Es fragt sich, wie und woher Weinsberg zu diesen Schreibungen gekommen ist. Die anderen hd. Regionen, deren Schreibsprache nach bisherigem Stand der Forschung aus der Sicht Kölns besonderes Prestige zukam, nämlich das Ostobd. und später auch das Ostmd. (vgl. Mattheier 1981), können kein Vorbild abgegeben haben, weil e¯-Formen dort in der 2.,3. Sg. Präs. Ind. seit ahd. bzw. mhd. Zeit allein herrschten oder weit überwogen (vgl. Braune/Reiffenstein 2004, §383; Gießmann 1981, S. 63). Der vorgängigen ripuarischen Schreibtradition entstammen die Schreibungen auch nicht, so dass als Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, dass sich in der gesprochenen Sprache die a-Formen zeitweilig ansatzweise auch in die 3. Sg. Präs. Ind. ausgebreitet haben. Sie haben sich jedenfalls aber nicht gegen die ei-Formen behaupten können, die sich in den heutigen Mundarten ausschließlich fortsetzen. Im Tagebuch Brackerfelders (S. 136–160) kommen auch in der 3. Sg. Präs. Ind. ausschließlich 〈ai〉- und 〈ae〉-Schreibungen vor: Infinitiv 〈ai/y〉 〈ae〉 〈a〉 10
12
2
Part. Präs. 〈ae〉 1
3. Sg.Präs. Ind. 〈ai〉 〈ae〉 15
2
2. Pl. Imp. 〈ae〉 2
3. Pl. Präs. Ind. 〈-nt〉 3. Pl. Präs. 〈ai〉 〈ai〉 2
2
Bei Weinsberg enthält der ‘Liber Senectutis’ die meisten 〈a〉-Schreibungen.36 Die Belege aus Brackerfelders Tagebuch, das in den Jahren 1560 bis 1573 geschrieben wurde, sind demnach älter. Es ist nicht auszuschließen, dass die Schreibungen im ‘Liber Senectutis’ als verspätete Reaktion auf Änderungen in der geschriebenen und vielleicht auch der gesprochenen Sprache Kölns im 3. Viertel des 16. Jh.s zu erklären sind. Dann wären die Stammformen im Unterschied zu den heutigen Mundarten wenigstens zeitweise in der Tendenz homogen gewesen. Zur Überprüfung der Hypothese, dass im 15. Jh. eine Spaltung zwischen dem Moselfrk. und Ripuarischen eingetreten sei, haben wir für das Moselfrk. Rechtstexte aus Cochem aus der 2. Hälfte des 15. Jh.s und dem 16. Jh. ausgewertet.37 36 Bei Weinsberg steigt ihr Anteil von nur 0,9 % im ‘Liber Juventutis’ auf 7,6 % im ‘Liber Senectutis’, um im ‘Liber Decrepitudinis’ wieder auf 1,7 % zurückzufallen. 37 Krämer / Spieß 1986, S. 2–119. Ausgeschlossen haben wir die Urkunden, die nur in Abschriften des 17. und 18. Jh.s überliefert sind.
322
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Für das 15. Jh. ist die Beleglage spärlich. Die wenigen Belege zeigen die zu erwartenden 〈e〉-Graphien: 〈ee〉 3mal im Infinitiv, 1 mal in der 1. Pl. und 1mal in der 3. Pl. Ind. und 2mal 〈ei〉 in der 3. Pl. Ind. Für das 16. Jh. ist die Beleglage etwas besser: Infinitiv Part. Präs. 3. Sg. Präs. Ind. 3. Sg. Präs. Konj. 3. Pl. Präs. Ind. 3. Pl. Präs. 〈ee〉 〈ehe〉 〈ai〉 〈ae〉 〈ahe〉 〈ae〉 〈e〉 〈ee〉 〈ae〉 〈ee〉 〈ehe〉 〈eh〉 〈ae〉 〈ai/ay〉 〈ae〉 13
9
3
1
1
1
7
1
2
2
3
1
1
2
2
Im Infinitiv dominieren 〈ee〉-Graphien, die – wenn man die wohl auf fremdem Schreibeinfluss beruhenden zweisilbigen 〈ehe〉-Schreibungen ausklammert – 72% betragen. Die schon im 13. Jh. erkennbare Tendenz, 〈e〉 aus dem Plural in den Infinitiv zu übertragen, scheint sich also wenigstens im Cochemer Raum fortzusetzen, in dem heute auch der entsprechende Infinitiv gı¯ 1n < ge¯n gilt. Die 〈a〉Graphien, die in den Cochemer Quellen seltener vorkommen, in den Belegsammlungen Schützeichels (1974, S. 94 f.) und Gießmanns (1981, S. 133) aber vorherrschen, bezeugen dagegen das Fortbestehen der alten a¯-Formen im Infinitiv, die sich bis heute im Großteil des Moselfrk. fortsetzen (vgl. RhWb, Bd. 2, Sp. 1101; Bd. 8, Sp. 567); die einzelne 〈ahe〉-Schreibung, die in unserem ripuarischen Quellenkorpus nicht bezeugt ist, wird wie 〈ehe〉 auf fremdem Einfluss38 beruhen. 〈a〉-Formen treten in den Cochemer Quellen nicht im Konj. Sg. auf, dafür aber relativ häufig in den Formen der 3. Pl. (Ind.). Bei insgesamt 4 Belegen mit 〈ae/ai/ay〉 kann zwar ripuarischer Schreibeinfluss vorliegen39, doch bezeugen auch die von Schützeichel (1974, S. 96 f.) und Gießmann40 angeführten Belege das Vorkommen von 〈a〉-Formen im Moselfrk. des 14.–16. Jh.s. Im welchem Ausmaß sie galten, bedürfte weiterer Untersuchung auf breiterer Datengrundlage. Die e¯-basierten Schreibungen der Singular-Konjunktivformen in den Cochemer Rechtstexten und bei Gießmann (1981, S. 154) deuten darauf hin, dass e¯ im Moselfrk. anders als im Ripuarischen im Konjunktiv unangefochten blieb.
38 Gießmann (1981, S. 78) führt einen rheinfränkischen Beleg für 〈gahen〉 (Infinitiv) aus dem 15. Jh. und einen thüringischen Beleg aus dem 16. Jh. an, dann zwei Belege bei Luther und aus dem 17. Jh. auch Belege aus dem norddeutschen Raum. 39 In Urkunde Nr. 23 (Krämer / Spieß 1986, S. 101–105) lassen hauptsächlich unverschobenes up ‘auf’ mit 〈-p〉 (101,04; 102,14; 103,13; 103,26 und öfter; daneben nur einmal mit 〈ff〉 105,05) und 〈p〉 nach Liquid (helpen 103; ussgeworpen 104) auf einen ripuarischen Schreiber schließen. An außersprachlichen Kriterien kommt hinzu, dass der Abt von Brauweiler an der Weisung beteiligt und zum Zeitpunkt der Verhandlung anwesend war (102,07 ff.), da es sich um das »Hofweistum der Abtei Brauweiler zu Cochem« (101) handelte. 40 Der Anteil 〈a〉-Schreibungen im Ind. Pl. beträgt für das 15. Jh. 19 % bei 21 Belegen (s. Belegübersicht Gießmann 1981, S. 150).
gehen und stehen im Mittelfränkischen
323
3.5. Wie kam es zum ripuarischen a¯-ei-a¯-Paradigma? Zusammenfassend ergibt sich für die ripuarische Entwicklung vom 12. bis zum späten 16. Jahrhundert eine Zweiteilung in die Phasen I–II einerseits und die Phasen III–IV andererseits (s. oben Abschnitt 2). In Phase I+II , die zusammen bis in die erste Hälfte des 15. Jh.s reichen, bilden e¯-Formen im Plural Indikativ und im Konjunktiv die Grundlage; e¯ wird seit dem 13. Jh. jedoch zunehmend durch den Stammvokal ei ersetzt, der aus der 2./3. Sg. Ind. in den Plural übertragen wurde. Im Laufe des 15. Jh.s dringt a¯, das in Phase I–II auf den Infinitiv und die 1. Sg. Ind. beschränkt war, nun auch im Plural Indikativ und im Konjunktiv durch. Damit wird das a¯-ei-e¯ /ei-Paradigma von Phase I–II durch das a¯-ei-a¯-Paradigma von Phase III abgelöst, das sich auch in den rezenten ripuarischen Mundarten (Phase V) fortsetzt. Wie aber ist dieser Wandel zu erklären? Woher kommen die a¯-Formen, die sich im 15. Jh. durchsetzen? Das ist die Hauptfrage dieses Ausschnitts der historischen Morphologie des Mfrk. Mehrere Antworten sind möglich, keine ist – das sei schon vorab gesagt – allein völlig überzeugend: (1) Die a¯-Formen sind aus anderen Regionen ins Ripuarische übernommen worden. Doch woher? R. Möller (1998) hat anhand der »Empfängerorientierung« im auswärtigen Schriftverkehr der Kölner Ratskanzlei im 15. Jh. zeigen können, dass man im damaligen Köln fremde Varietäten, und zwar vor allem die hochdeutschen, in deutlich minderem Maße auch die nd. und nl., höher bewertete als das eigene Ripuarische. Man würde bei einer externen Herleitung demnach zunächst an den hochdeutschen Raum als Quelle der a¯-Formen denken. Dort käme indessen nur das Westobd. in Frage, da im 15. Jh. in allen übrigen hochdeutschen Schreibsprachen die e¯-Formen schon dominieren und ihr Siegeszug sich selbst im Westobd. schon deutlich abzeichnet (Gießmann 1981, S. 64 f.). Hätte das Westobd. das Muster abgegeben, dann hätten sich im 15. Jh. zudem auch ga¯s, ga¯t 2./3. Sg. Ind. durchsetzen müssen; andererseits ließe sich ga¯ 3. Sg. Konj. vom Westobd. her nicht erklären, da dort die Langform gange vorherrscht (Gießmann 1981, S. 152 f.). Südlich-hochdeutscher Einfluss scheidet somit als Erklärung aus. In Teilen des Mnl.41 und des Mnd.42 galt dagegen das a¯-ei-a¯-Paradigma in lediglich abweichender Lautung der Entsprechung von mhd. ei: mnl. e¯ 〈ee〉 ∼ ei, mnd. eˆ 2/eˆ 3. Sie kämen daher als Lieferanten des neuen Paradigmas grundsätzlich in Frage. Doch warum sollte es in Köln zu einer Zeit, als man sich in der Sprachbewertung bereits zunehmend nach Süden, zum Hochdeutschen hin orientierte, zu einer so auffälligen morphologischen Entlehnung aus dem Nl./Nd. gekommen sein? Die Kölner Neubürger, die in nicht geringer Zahl im Spätmittelalter auch 41 Berteloot 1984, Bd. I, S. 72 und Bd. II , Kaart 79; Mooijaart 1992, S. 112 und 367. ˚ sdahl Holmberg 42 Zu eˆ ∼ ei ∼ aˆ in der 2./3. Sg. Präs. Ind. von mnd. gaˆn, staˆn vgl. bes. A 1957, S. 69–72.
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aus dem nl. und westfälischen Raum kamen, mögen zwar einiges Wortgut mitgebracht und im Kölner Raum heimisch gemacht haben (Schützeichel 1963, S. 14 f.), dass sie allein aber den morphologischen Wandel so hochfrequenter Verben wie gehen, stehen hätten durchsetzen können, fällt schwer zu glauben. Auffällig ist immerhin ein Befund aus der nahen südniederfränkische Nachbarschaft Kölns, aus der viele Kölner Neubürger kamen (Schützeichel 1963, S. 11): Im Düsseldorfer ‘Urkundenbuch des Stifts St. Lambertus / St. Marien’ (Schleidgen 1988, S. 97–267) bestreiten die 〈a〉-Formen im Plural im Zeitraum 1376–1425 bereits die Hälfte aller 22 Belege, während sie in den ‘Kölner Akten’ im vergleichbaren Zeitraum nur auf 7,7% von 65 Belegen kommen. In den Düsseldorfer Urkunden entfallen dabei alle 〈a〉-Belege auf die 1. Plural, während die Formen der 3. Pl. Ind. auf 〈-nt〉 stets 〈ei〉, 〈ey〉 oder 〈ee〉 aufweisen. Auch in den ‘Kölner Akten’ treten 〈a〉-Schreibungen in der (nicht modus-eindeutigen) 3. Pl. auf 〈-n〉 früher auf als in der 3. Pl. Ind. auf 〈-nt〉. In Formen mit der veraltenden Endung -nt scheint demnach auch die 〈ei〉/〈ee〉-Schreibung zunächst noch fester gewesen zu sein. (2) Da externe Herkunft des neuen a¯-ei-a¯-Paradigmas wenig wahrscheinlich ist, sind die Möglichkeiten interner Entstehung zu prüfen. Die eine Möglichkeit wäre, dass es im mfrk. Raum seit altfränkischer Zeit ein Nebenander von e¯- und a¯-Formen im Pl. Ind. und im Konjunktiv Präs. gab, wenn das auch in der mfrk. Überlieferung des 12. bis 14. Jahrhunderts im Unterschied zum RheinfränkischHessischen (s. Anm. 23) nicht deutlich wird. Denn nicht nur in den Kölner Quellen dieses Zeitraums gibt es allenfalls vereinzelte Belege für ein konkurrierendes a¯-ei-a¯-Paradigma. Auch in den ‘Aachener Rechtsdenkmälern’ (Loersch 1871) finden sich seit der Mitte des 14. Jh.s bis zum Anfang des 15. Jh.s keine 〈a〉-Schreibungen im Plural und Konjunktiv Präs. Ab der Mitte des 15. Jh.s zeigt höchstens erst ein Beleg der 3. Pl., der aus dem Kontext als Indikativ zu bestimmen wäre, a¯ 〈oi〉: ee sy sytzen geynt off bestoin zo koren (Loersch 1871, S. 117), doch könnte bestoin auch als Infinitiv gelesen werden. In den eindeutigen Indikativbelegen auf 〈-nt〉 hält sich die Schreibung 〈ei/ey〉 dagegen ausschließlich (insg. 7mal). Dass im westripuarischen Aachener Raum anders als in Köln das a¯-ei-a¯-Paradigma von jeher galt, ist bei dieser Beleglage unwahrscheinlich. Es gibt jedoch einen andern gewichtigen Hinweis darauf, dass dieses Paradigma schon im 12. Jh. im Mfrk., genauer wohl im (West)Moselfrk., heimisch war: Die meisten nordsiebenbürgischen Mundarten stimmen hinsichtlich des Präsensparadigmas von gehen, stehen mit dem Neuripuarischen überein (s. Nordsiebenbürgisch-sächsisches Wb., s. v. gehen, stehen); so lauten die Formen von gehen in der Mundart von Sächsisch-Regen (Weber 2010, S. 219): go: Infinitiv, ec¸ go:, da: gi:st, hi. gi:t, m.r go: < mhd. ga¯n, ich ga¯n, du¯ geist, he¯ geit, wir ga¯n. Die Siebenbürger Sachsen müssen dieses Paradigma entweder schon im 12. Jh. aus ihrer mfrk. Heimat mitgebracht haben, oder es hätte in Siebenbürgen in unabhängiger Parallelentwicklung dieselbe morphologische Neuerung stattgefunden wie im Ripuarischen des 15. Jh.s.
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(3) Schließlich, aber nicht zuletzt, ist auch die Möglichkeit eines morphologischen Ausgleichs zugunsten der a¯-haltigen Stammform als Erklärung des a¯-eia¯-Paradigmas in Betracht zu ziehen. Dafür waren die Bedingungen im Mfrk. besonders günstig. Da im Mfrk. die Endung -n in der 1. Sg. Präs. Ind. verallgemeinert worden war, lauteten hier der Infinitiv, die 1. Sg. Präs. Ind. und die 1. Pl. Präs. bei allen starken und schwachen Verben gleich, und zwar wegen der md. »Wechselflexion«43 auch bei den starken Verben II , III a, IV und V . Für den umlautbedingten Stammformenwechsel im Präsens starker Verben galt im Md. also (wie im Nhd.) die Paradigmenstrukturbedingung (Wurzel 1984, S. 116 ff.), dass gegebenenfalls stets nur in der 2./3. Sg. Präs. Ind. die umgelautete Stammform, im übrigen Präsensparadigma, im Infinitiv und Partizip Präs. dagegen die nicht umgelautete stand; ebenso im Mfrk. auch beim Verb tun: 2./3. Sg. Präs. Ind. deis /deit, ansonsten duo-. Von diesem Muster wich abgesehen von den Präteritopräsentien nur die Verbgruppe um gehen mit dem a¯-ei-e¯ /ei-Paradigma ab. Der Übergang zur a¯-ei-a¯-Flexion beseitigte diese Irregularität: Infinitiv
1. Sg. Präs. Ind.
1. Pl. Präs.
1./3. Sg. Präs. Konj.
3. Sg. Präs. Ind.
spre¨chen duon ga¯n
spre¨chen duon ga¯n ga¯n
spre¨che duo ge¯ ga¯
sprichet deit geit
ga¯n
spre¨chen duon ge¯n/gein ga¯n
geit
Die andere, zu demselben strukturellen Ergebnis führende Ausgleichsmöglichkeit war die, die 1. Sg. Präs. Ind. den Plural- und Konjunktivformen anzupassen, so dass sich ein e¯-ei-e¯-Paradigma ergab. Dieser Weg ist im Moselfrk. und Luxemburgischen beschritten worden. Es ist – zumindest auf der Basis des von uns untersuchten Quellenkorpus – nicht sicher zu sagen, welche Erklärung für den Übergang zum a¯-ei-a¯-Paradigma zutrifft, wenngleich die unter (2) und (3) diskutierten Erklärungsmöglichkeiten eine größere Wahrscheinlichkeit für sich haben dürften. Es könnten auch verschiedene Faktoren zusammengewirkt und einander verstärkt haben. In jedem Falle aber bedeutete das Ergebnis für das ripuarische Verbsystem einen Zugewinn an Regularität.
43 Sie besagt, dass die Stammform der 1. Sg. Präs. Ind. bei den st. Verben II , III a, IV und V seit mhd. Zeit im Md. nicht wie im Obd. zu der umgelauteten Form der 2./3. Sg. Präs. Ind. stimmt, sondern die aller übrigen Formen des Präs., des Infinitivs und Partizip Präs. ist, daher z. B. md. ich biege, he¨lfe, ne¨me, ge¨be gegenüber obd. ich biuge, hilfe, nime, gibe.
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4. Zusammenfassung In ihrem Gesamtverlauf gewährt die Geschichte der Verbgruppe um gehen im Mfrk. aufschlussreiche Einblicke in die flexionsmorphologische Entwicklung von Kurzverben. Da ist zunächst das Wechselspiel zwischen der auf flexivische Regularität zielenden »Thematisierung« und der durch kurzverbtypische Reduktionen bewirkten neuerlichen »Athematisierung«. Einerseits geben gehen und stehen Irregularisierungsmuster (vgl. Nübling 2000, S. 200 ff.) auch für die Reduktion der Flexive (Nübling 2000, S. 194) ab mit dem Ergebnis einer »athematischen« Flexion, z. B. mhd.-obd. la¯zen > la¯n, mfrk. slahen > sla¯n. Anderseits sind sie selbst einem Regularisierungsdruck ausgesetzt, der sich auch in einer »Rethematisierung«, also in der Übernahme der thematischen Standardflexive, äußern kann. Dieser Regularisierungsschritt kann dann seinerseits wiederum kurzverbtypische Reduktionen auslösen und damit letztlich zu einem erhöhten Maß von Anomalie führen. Ein Musterbeispiel dafür ist die thematische Umbildung der 2. (und 3.) Präs. Sing. Ind. westgerm. *ga¯-s, *sta¯-s, *do¯-s zu *ga¯-is, *sta¯-is, *do¯-is, die im nordseegerm. Bereich durch nachfolgende Reduktion (Vokalkürzung, Monosyllabisierung) und teils auch durch Umlaut zu Sonderformen führt, welche sich trotz ihrer Irregularität bis in die modernen rheinischen Mundarten und ins Luxemburgische hinein gehalten haben. Eine zweite langfristig wirksame Regularisierungstendenz ist die zum Abbau von nicht systemkonformer Alternanz der Stammformen: Die altfränkische Alternation a¯-ei-e¯ der Stammvokale des Präsensparadigmas von ga¯n, sta¯n wird im Laufe der rheinischen Sprachgeschichte einerseits zu ripuarisch a¯-ei-a¯ > o˛¯1-e¯o˛¯1, andererseits zu moselfrk. e¯-ei-e¯ > ı¯1-e¯-ı¯1, luxemburgisch i-e¯-i reduziert, wobei der Infinitiv im Großteil des Moselfrk. und im Luxemburgischen ausgespart bleibt und bei a¯ > o˛¯1 (> luxemburgisch o) verharrt.44 Nur in kleineren moselfrk. Gebieten45 weist auch der Infinitiv den Stammvokal ı¯ 1 auf. 44 Nübling (2000, S. 303) hält die Herkunft von luxemburgisch 〈ee〉 [e:] in der 2./3. Sg. für ungeklärt: »Entweder basiert es auf (im Mittelhochdeutschen belegten) sekundären thematischen Bildungen von ge¯-/ste¯-Wurzeln (mhd. geist / geit und steist / steit ) oder auf Analogie.« Da aber in der gesamten mittelalterlichen mfrk. Überlieferung geis / geit, steis / steit fast ausnahmslos herrschen, gibt es keinen Anlass, die ripuarischmoselfrk.-luxemburgischen e¯-Formen nicht als lautgesetzliche Nachfolger jener mittelalterlichen ei-Formen zu betrachten, und dasselbe gilt für de¯s, de¯t ‘tust, tut’ im Verhältnis zum älteren deis, deit. Auch Nüblings Annahme (ebd.), die i-Formen im Paradigma von luxemburgisch goe¨n gehen basierten »auf der Entlehnung aus dem Paradigma von gin ‘geben, werden’«, kann angesichts der Verhältnisse im Westmoselfrk. nicht überzeugen: Nach Ausweis des RhWb (Bd. 2, Sp. 1066 f., Sp. 1100) bleibt westmoselfrk. gi·n = gi 1n, das schon wegen Tonakzent 1 aus sonstigem moselfrk. gı¯ 1n gekürzt sein dürfte, von ge˛n (-e˛¯-, -e-, -i-, -e-, . . .) ‘geben’ (Infinitiv, 1. Sg., 1./3. Pl.) deutlich geschieden. 45 RhWB , Bd. 2, Sp. 1100: »innerhalb Kobl-Weissenthurm Kettig Rübenach Güls Waldesch, Goar-Salzig u. ein schmales Geb. längs der Mosel von Koch-Treis bis Zell und Bernk-Merschd -ı¯:-«.
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Überblickt man die Gesamtentwicklung, so scheint das angestrebte, aber – wenn überhaupt erreichte – fragile Optimum in der Verbindung von irregulärer Kurzform mit regulärer Flexionsmorphologie zu liegen. Letztere bleibt bei der Gruppe gehen, stehen, tun im Mfrk. und anderwärts aber auf das Präsensparadigma beschränkt, während die Suppletivität der Tempusstämme weiter besteht.
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Zur Apokope im mittelhochdeutschen Verbsystem von Birgit Herbers
1. Apokope: Eine Konstante in der Geschichte der deutschen Sprache Die Apokope des auslautenden e 1 stellt einen »umfassenden Veränderungsprozess« (vgl. Klein 2005, S. 121) in der Sprachgeschichte des Deutschen dar, der überaus komplex verläuft und das Sprachsystem auf mehreren Ebenen beeinflusst. Die meisten Tilgungsprozesse beginnen in Ansätzen bereits im Ahd. und dauern lange an, viele festigen sich im Frnhd. und können erst im Nhd. als abgeschlossen gelten.2 In der Geschichte der deutschen Sprache besteht zu jeder Zeit eine Tendenz zur Tilgung des auslautenden unbetonten Vokals; die Apokope gehört somit zu den Konstanten in der Sprachentwicklung (Sonderegger 1979, S. 238). Im Wesentlichen ist Apokope eine Konstante der Lautsystementwicklung (ebd.), sie tritt mehrheitlich dann auf, wenn bestimmte lautliche Gegebenheiten vorliegen (z. B. vor vokalisch anlautendem Folgewort). Im weiteren diachronen Verlauf können allerdings auch Auswirkungen auf andere Bereiche der Sprache, wie etwa das Formensystem, festgestellt werden: So kann die Apokope durch analogische Übertragung oder Überlagerung von funktionalen Prozessen auch dann 1 Apokope wird hier als jedweder Ausfall des unbetonten Vokals am Wortende aufgefasst. Diese Definition ist in der Forschungsliteratur nicht einhellig, häufig wird nur der Ausfall vor einem konsonantisch anlautenden Folgewort als Apokope bezeichnet, Tilgung des e in Hiatstellung wird nicht einbezogen und insbesondere in Verstexten unter ›Elision‹ subsumiert; als Musterfall gilt hier die Hs. V von Otfrids Evangelienharmonie, in der die Tilgung des auslautenden Vokals durchgeführt oder durch Unterpungierung im Text markiert ist (zu Otfrids Verfahren vgl. ausführlich de Boor 1928, Kappe 1909/1910; Ahd. Gr. I, § 61; siehe dazu auch Mittelhochdeutsche Grammatik, Teil II : Flexionsmorphologie, Verbteil, Endungen). Hier werden alle Tilgungen vor konsonantischem wie auch vokalischem Anlaut einbezogen; ausgeschlossen sind sämtliche Fälle von Enklise, d. h. deutlicher Zusammenschreibung mit dem Folgewort, denn dann liegt ausdrucksseitig kein Wortende vor. Neben e sind im Mhd. selten auch andere Vokalgraphien (i, o, a, u) möglich. Während im Ahd. durch die verschiedenen Vokale etwa eine Modusdifferenzierung geleistet wird, kann dies im Mhd. nur noch vereinzelt belegt werden; insbesondere nach 1150 sind diese Schreibungen nurmehr als graphische Varianten zu werten (vgl. dazu ausführlicher Mittelhochdeutsche Grammatik, Teil II : Flexionsmorphologie, Verbteil, Endungen). 2 Die Abgeschlossenheit kann seit der Vereinheitlichung der nhd. Schriftsprache zumindest schriftlich gelten, mündlich gehen Apokopierungen durchaus weiter und sind auch in der Gegenwartssprache zu beobachten (z. B. hab ich statt habe ich). Zum Einfluss der Etablierung der nhd. Schriftsprache auf den Apokopierungsprozess und die unterschiedliche Entwicklung im Deutschen und Niederländischen vgl. Marynissen 2009.
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auftreten, wenn bestimmte lautliche Umgebungen nicht gegeben sind. Andererseits kann die Tilgung ausbleiben, obwohl bestimmte, die Apokope begünstigende lautliche Gegebenheiten vorliegen. Von Apokope betroffen sind alle Wortarten, die Substantive etwa im Bereich der Stammbildung (Wörter auf -e verlieren den auslautenden Vokal, z. B. mensche > mensch) und der Kasusmarkierung (z. B. Tilgung des Dativ-e: worte > wort ). Bei den Verben hat die Auslauttilgung großen Einfluss auf die Moduskennzeichnung, wenn z. B. in der 3. Sg. Prät. der starken Verben Ind. und Konj. endungslos gebildet werden und dadurch ein Moduszusammenfall erfolgt (Ind. hielt vs. Konj. hielte > hielt), der eine neue Markierung wie etwa umschreibende Verbformen erfordert. Im Mhd. kann es durch Auslauttilgung außerdem zu ausdrucksseitiger Übereinstimmung von Präs. und Prät. kommen (Prät. er sagte > er sagt = Präs. er sagt).3 Das Mhd. erweist sich bezüglich des Erhalts oder der Tilgung des auslautenden e als überaus uneinheitlich, so kann in einer paradigmatischen Position in einem Text vollständig erhaltenes Endungs-e und in einem anderen Text vollständige Tilgung parallel belegt werden. Innerhalb dieser Epoche sind große regionale und landschaftliche Unterschiede vorhanden und es können eine Reihe weiterer Einfluss nehmender Faktoren ermittelt werden.4 Die Erscheinung ›Apokope‹ und ihre Abläufe sind nur schwer zu fassen, da sich die beeinflussenden Faktoren gegenseitig überlagern und analytisch kaum voneinander zu trennen sind. Der Tilgungsprozess verläuft zeitlich und regional verschieden (allgemein ist Apokope im Obd. früher eingetreten als im Md., im Ofrk. ist sie am konsequentesten durchgeführt; im Md. bleibt die Auslauttilgung im gesamten Mhd. selten, s. dazu auch Lindgren 1953, insbesondere S. 177 f.) und zeigt eine starke Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung (z. B. häufiger Tilgung des auslautenden e nach Liquid oder Nasal). Apokope erweist sich außerdem als 3 Die im Mhd. vermehrt aufkommenden zusammengesetzten Verbformen (z. B. umschreibender Konj. mit würde oder zusammengesetztes Perfekt) heben die ausdrucksseitige Übereinstimmung von Ind. und Konj. oder Präs. und Prät. auf (er sagt, Präs. = er sagt, Prät. ≠ er hat gesagt ). Apokope muss aber nicht zwingend der Auslöser für diese umschreibenden Formen sein, sondern kann sich einer bereits im Entstehen begriffenen Entwicklung bedienen und diese fördern. Die ausdrucksseitige Kongruenz von Präs. und Prät. wird in der Forschungsliteratur immer wieder als ein Grund für den obd. Präteritumschwund betrachtet (vgl. Lindgren 1957); diese These ist allerdings umstritten und wird vielfach kritisch diskutiert (vgl. u. a. Trost 1980). 4 Bisher wurde die Apokope nicht abschließend erforscht und die Mechanismen und Bedingungen ihres Ablaufs wurden noch nicht befriedigend geklärt. Die ausführliche Arbeit von Lindgren 1953, die die Apokope unter verschiedenen Kriterien beleuchtet und zudem breites statistisches Material bietet, ist bisher die einzige umfassende Untersuchung zum Mhd. geblieben. Weitere Arbeiten zur Apokope beschäftigen sich meist mit (Teil-)Aspekten (vgl. etwa Klein 2000 zur Apokope im Mitteldeutschen, Klein 2005 zur Apokope bei Dreisilbern auf -el und -er; Marynissen 2009 zum Deutschen und Niederländischen im Vergleich) oder einzelnen Texten (Beschreibungen der Apokope in Editionen oder Untersuchungen zu einzelnen Texten).
Zur Apokope im mittelhochdeutschen Verbsystem
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lexemgebunden, so ist »häufig Sonderverhalten hochfrequenter Wörter zu beobachten« (Klein 2005, S. 132; s. dazu auch unten zu tuon), und kategorienabhängig: es gibt paradigmatische Positionen, die den Endungserhalt strukturell eher erzwingen (schrieb Ind. Prät. vs. schriebe Konj. Prät.) sowie Positionen, die den Endungsabfall eher begünstigen (Imp. der sw. Verben: sage > sag), möglicherweise weil der auslautende Vokal hier strukturell verzichtbar ist, also nicht etwa zur Klassen- oder Modusunterscheidung dient (zur Kategorienverschiedenheit vgl. auch Lindgren 1953, S. 194). Ein Hiatus kann die Tilgung nahelegen, das kann sowohl in Verstexten als auch in Prosatexten vorkommen. In Verstexten kann auch das Metrum Wegfall, Erhalt oder das Hinzufügen eines unbetonten Vokals begünstigen.5 Die hier genannten Einflussfaktoren gelten in unterschiedlichem Ausmaß für alle Wortarten; bei den Verben ist eine Kategorienabhängigkeit signifikant. Die Apokope kann in den einzelnen Positionen des Verbparadigmas, die auf -e enden, allerdings sehr unterschiedlich ablaufen, in einigen Positionen wird erheblich häufiger apokopiert als in anderen. 2. Apokope im Flexionssystem der Verben im Mittelhochdeutschen In allen Positionen des Verbparadigmas, in denen die Endung -e regulär ist, kann der Endungsvokal ausfallen: Dies kommt bei starken und schwachen Verben sowie bei den Präterito-Präsentien und bei wellen und tuon vor.6 In folgenden paradigmatischen Positionen kann Apokope des auslautenden Vokals eintreten:7 5 In der Forschungsliteratur werden weitere Kriterien genannt, die auf Erhalt oder Tilgung des auslautenden -e Einfluss nehmen können (vgl. Lindgren 1953, S. 15), so etwa Abschrift oder Autorfassung sowie Schreiberspezifiken wie z. B. Hyperkorrekturen: möglicherweise setzt ein Schreiber, der mündlich bereits fortgeschritten Apokope verwendet, im Schriftlichen durch Hyperkorrektur häufig Endungs-e; s. dazu auch Lindgren 1953, S. 201. 6 Bei den ›Besonderen Verben‹ betrifft die Apokope nur die Präterito-Präsentien und wellen sowie das Prät. von tuon, die übrigen besonderen Verben (sıˆn, gaˆn, staˆn) bilden das Prät. anhand starker Verben (we¨sen, gangen, standen), die Präteritumbelege sind daher unter den st. Verben subsumiert. Im Präs. liegt eine von den regelmäßigen Verben abweichende Flexion auf -n, -es(t), -t vor; Endungen auf -e sind nicht vorhanden. 7 Erläuterungen zur Tabelle: Ø: diese Positionen flektieren regelmäßig endungslos; ∉: diese Positionen flektieren nicht auf -e; –: diese Positionen flektieren regelmäßig auf -e und weisen bis auf singuläre Ausnahmen keine Apokope auf (hier zwei Ausnahmen: 2. Sg. Imp. von wellen: »nu wel waz du wilt« aus Christine Ebner: ‘Von der Gnaden Überlast’; 2. Sg. Ind. Prät. von tuon: »tath dv« aus ‘Zwiefaltener Benediktinerregel’). In einigen Positionen sind die Modi ausdrucksseitig übereinstimmend, so in der 1. und 3. Sg. Präs. und Prät. der sw. Verben sowie in der 1. und 3. Sg. Prät. der PräteritoPräsentien und von wellen und tuon. Bei den Präterito-Präsentien betrifft die Apokope nicht alle Verben gleichermaßen (s. ausführlicher dazu Mittelhochdeutsche
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Birgit Herbers
starke V. 1. Sg. Ind. Präs. 1. Sg. Konj. Präs. 3. Sg. Konj. Präs. 2. Sg. Imp. 1. Sg. Ind. Prät. 1. Sg. Konj. Prät. 3. Sg. Ind. Prät. 3. Sg. Konj. Prät. 2. Sg. Ind. Prät.
nime > neme > neme > Ø Ø næme > Ø næme > næme >
schwache V.
nim nem nem
sage > sag sage > sag sage > sag sage > sag sag(e)te > sagt næm sag(e)te > sagt sag(e)te > sagt næm sag(e)te > sagt næm ∉
PräteritoPräsentien
wellen
Ø muge > mug muge > mug wizze > wiz sollte > solt sollte > solt sollte > solt sollte > solt ∉
Ø − wil(l)e > will − wolte > wolt wolte > wolt wolte > wolt wolte > wolt ∉
tuon ∉ ∉ ∉ ∉ tete > tæte > tete > tæte > −
tet tæt tet tæt
Tabelle 1: Positionen des Verbparadigmas, in denen Apokope eintreten kann
Die in der folgenden Übersicht aufgeführten durchschnittlichen Apokopierungsquoten lassen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Paradigmapositionen und z. T. auch zwischen den Verbklassen hervortreten:8 starke V.
schwache V.
PräteritoPräsentien
wellen
tuon
1. Sg. Ind. Präs. 1. Sg. Konj. Präs. 3. Sg. Konj. Präs. 2. Sg. Imp.
34% 8% 17% Ø
22% − 15% 18%
Ø 4% 11% 17%
Ø − 2% −
∉ ∉ ∉ ∉
1. Sg. Ind. Prät. 1. Sg. Konj. Prät.
Ø 15%
31%
29%
30%
66% 8% (1 ×)
3. Sg. Ind. Prät. 3. Sg. Konj. Prät.
Ø 19%
20%
18%
18%
76% 27%
∉
∉
∉
2. Sg. Ind. Prät.
8%
−
Tabelle 2: Durchschnittliche Apokopierungsquoten im Mittelhochdeutschen
Allgemein kann für alle paradigmatischen Positionen unabhängig von der Höhe der jeweiligen Apokopierungsquote eine diachron und diatopisch weitgehend vergleichbar verlaufende Entwicklung festgestellt werden. Abweichend davon setzt die Apokope im Konjunktiv etwas später als im Indikativ ein. Grammatik, Teil II : Flexionsmorphologie, Besondere Verben). Die hier genannten Zahlen beziehen sich auf die Auswertung des Handschriften-Korpus der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik; eine Übersicht über die Struktur und die Handschriften des Korpus s. Mittelhochdeutsche Grammatik, Teil III : Wortbildung, Tübingen 2009, §E17; eine Auflistung der Handschriften findet sich auch auf der Verlagshomepage, s. http://www.degruyter.de/files/pdf/9783484110038Quellenkorpus Uebersicht.pdf. 8 In der 1. u. 3. Sg. Prät. der schwachen Verben sowie der Präterito-Präsentien und wellen stimmen Ind. und Konj. endungsflexivisch überein, daher sind diese Positionen zusammengefasst.
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Bis um 1200 tritt die Tilgung selten oder gar nicht auf (die durchschnittliche Apokopierungsquote liegt bis 1150 unter 3%,9 bis 1200 unter 5%), bis 1250 bleiben die Belege selten (mehrheitlich unter 10%).10 Ab 1250 sind apokopierte Belege überall häufig vorhanden, z. T. können sehr hohe Werte ermittelt werden (z. B. 43,5% apokopierte Belege in der 1. Sg. Ind. Präs. stv./swv.; 62,3 % in der 1. Sg. Ind. Prät. der sw. Verben). Bis 1350 können für die meisten paradigmatischen Positionen nur leichte Veränderungen ausgemacht werden (geringe Zuoder Abnahme), bei anderen hingegen sind erhebliche Änderungen zu verzeichnen: Ein deutlicher Rückgang kann für die 1. Sg. Konj. Präs. stv./swv. (von 24% auf 5,8%) und 1. Sg. Ind. Prät. der sw. Verben (von 62,3% auf 40,7%) belegt werden, ein deutlicher Anstieg für die 3. Sg. Konj. Prät. der st. Verben (von 17,5 % auf 35,5 %). In der 3. Sg. Konj. Prät. der st. Verben wird eine lexematische Eigenheit greifbar: Drei Viertel aller Apokopefälle von 1300–1350 betreffen das Verb we¨sen (wær, wer). Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die die Tilgung fördern: die hohe Frequenz des Verbs und die allgemeine Neigung, nach Nasal oder Liquid eher zu tilgen (vgl. dazu auch Klein 2005). Außerdem wird hier der Konj. durch Umlaut (æ oder e) und Grammatischen Wechsel (s > r) markiert, so dass der Konj. eindeutig vom Ind. (was, waz) abweicht und die Endungsmarkierung mittels -e nicht benötigt.11 Im gesamten Mittelhochdeutschen ist eine landschaftliche Bindung der Apokope charakteristisch: Während im Bair., im Übergangsraum Alem.-Bair. und im Ofrk. insbesondere ab etwa 1200 eine starke Tendenz zur Apokope vorhanden ist und ein hoher Prozentsatz aller Belege endungslos erscheint, kann im gesamten Md. eine Apokopehemmung verzeichnet werden; in einigen md., insbesondere mfrk. Handschriften ist keine Tilgung des auslautenden e nachzuweisen (so etwa in der ‘Mittelfränkischen Reimbibel’ oder den ‘Vatikanischen Gebeten’). Die diatopischen Verhältnisse für die starken und schwachen Verben sind in der folgenden Abbildung dargestellt:12 9 Alle folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf die starken und schwachen Verben, da die besonderen Verben nicht übereinstimmend in allen Positionen belegt sind. Während wellen und die Präterito-Präsentien vergleichbare Apokopierungswerte wie die starken und schwachen Verben aufweisen, weicht tuon in der Höhe deutlich ab. 10 Auffällig sind in diesem Zeitraum (1200–1250) die vier Epen ‘Iwein’, ‘Nibelungenlied’, ‘Parzival’ und ‘Tristan’: in diesen Handschriften liegt die durchschnittliche Apokopierungsquote in einzelnen Paradigmapositionen sehr hoch (z. B. 1. Sg. Ind. Prät. der sw. Verben: 52 % in ‘Iwein’, 47 % in ‘Parzival’) und über dem allgemeinen Durchschnitt des Obd. in diesem Zeitraum. 11 Umlaut erscheint allerdings auch in den Fällen, die auf -e enden (wære, were) und kann folglich nicht als alleinige Bedingung für Apokope gewertet werden, jedoch trägt er zur Summe der Faktoren bei, die die Apokope bei we¨sen in dieser Position begünstigen. 12 Die starken und schwachen Verben werden hier zusammengefasst, da die diatopische Entwicklung vergleichbar ist. In der Abbildung nicht aufgeführt ist der erste Zeitraum
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Birgit Herbers stv./swv. Bair. Alem.-Bair. Alem. Wmd. Omd. Ofrk.
1150−1200
1200−1250
1250−1300
1300−1350
8 (2−19) 5 (1−11) 5 (0−8) 2 (0−3) < 1 (0−1) −
17 (11−28) 17 (16−18) 6 (3−9) < 1 (0−5) 2 (1−2) −
56 (32−81) 41 (5−76) 10 (4−14) 4 (0−9) 3 (1−8) −
67 (51−93) 44 (18−78) 15 (0−21) 4 (1−19) 6 (0−21) 58 (21−90)
Tabelle 3: Landschaftlicher Anteil der Apokope am Gesamt aller Belege in Prozent (in Klammern die jeweils niedrigsten und höchsten in einer Handschrift ermittelten Werte)
Die beschriebene diachrone Zunahme und die diatopische Verteilung der Apokope gilt allgemein für alle Verben und alle paradigmatischen Positionen. Die unterschiedlichen Höhen der Apokopierungsquoten sind durch weitere Faktoren bedingt, meist kann für jede paradigmatische Position ein eigenes Bündel an Aspekten ermittelt werden. Im Folgenden werden einige paradigmatische Positionen und / oder Verbgruppen auf die beeinflussenden Faktoren hin betrachtet. Neben dem diachron und diatopisch gebundenen Auftreten beeinflussen lautliche Gegebenheiten die Tilgung oder den Erhalt des auslautenden e: so wird etwa nach Liquid, nach Nasal oder vor vokalisch anlautendem Folgewort13 häufiger apokopiert; auch bei mehrsilbigen Wörtern ist die Auslauttilgung eher nachweisbar. Dies gilt wiederum allgemein für alle Positionen des Paradigmas, tritt aber seltener etwa im Md. auf, wo allgemein eine Apokopehemmung verzeichnet wurde (s. o.), und deutlich häufiger im Obd. (z. B. ia kum ich aus Hartwigs ‘Margarethenlegende’ von 1348, alem.-bair., vs. so kvme ich abir aus dem ‘Berliner Evangelistar’ von 1340, omd.). Von dieser allgemein festgestellten Tendenz der lautlichen Bindung etwa an ein vokalisch anlautendes Folgewort weicht der Imp. Sg. der sw. Verben ab: Ist der auslautende Vokal getilgt, folgt in zwei Dritteln der Fälle ein konsonantisch anlautendes Wort. Hier scheint im Vordergrund zu stehen, dass durch die Tilgung die klassenspezifische Trennung im Imp. Sg. (st. Verben: regelmäßig endungslos, sw. Verben: regelmäßig -e) aufgehoben wird.14 von 1050–1150 des Korpus der Mittelhochdeutschen Grammatik, dieser wurde nicht nach den oben aufgeführten Landschaften ausdifferenziert (zur Korpusstruktur s. Mittelhochdeutsche Grammatik, Teil III : Wortbildung, Tübingen 2009, § E17); alle in diesem Zeitraum aufgenommenen Handschriften entstammen dem obd. oder ofrk. Raum. Die Apokopierungsquote ist sehr niedrig, zusammengefasst liegt sie in diesem Zeitraum unter 3 %. Unter ‘Wmd.’ sind sowohl mfrk. als auch rhfrk.-hess. Handschriften subsumiert, die jeweiligen Apokopierungsquoten haben in diesen beiden Landschaften eine vergleichbare Höhe. 13 Das sind die Fälle, die in der Forschungsliteratur häufig nicht als Apokope gewertet werden (s. o. Anm. 1). Vgl. dazu auch Lindgren (1953, S. 194), der diese Fälle gesondert ausgezählt hat, dadurch aber keine entscheidenden Abweichungen in der Höhe der Apokopierung zu anderen Wortarten entdecken konnte. 14 Während bei den sw. Verben das auslautende e häufiger getilgt wird, kann bei den st. Verben ab dem späteren Mhd. und auch im Frnhd. (Frühneuhochdeutsche Grammatik, § M 89,3), insbesondere im Obd. zunehmend Endungs-e belegt werden (im
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Die Bindung an die lautliche Umgebung kann für alle Wortarten festgestellt werden, signifikant für die Verben ist in einigen Positionen des Paradigmas ein Zusammenhang von Apokope und folgendem, vokalisch anlautendem Pronomen (nem ich). Dies betrifft insbesondere die 1. Sg. Ind. Präs. sowie die 1. u. 3. Sg. Prät. der sw. Verben. Vor allem in Verstexten ist der Anteil der Auslauttilgung hoch: Folgt ein vokalisch anlautendes Pronomen, so wird das vorausgehende Verb in der 1. Sg. Ind. Präs. in Verstexten durchschnittlich zu 90% getilgt, in Prosatexten durchschnittlich zu 79 %; in der 1. Sg. Prät. der sw. Verben liegt der Anteil in Verstexten bei 79%, in Prosatexten bei nur 35%, möglicherweise hat in den Verstexten auch das Metrum Einfluss auf die Tilgung des auslautenden e.15 Im Laufe des Mittelhochdeutschen nimmt die Bindung der Apokope an ein folgendes, vokalisch anlautendes Pronomen ab, die Tilgung auch vor Konsonant nimmt hingegen deutlich zu. Die häufige Endungstilgung vor folgendem Pronomen steht im Zusammenhang mit der im Laufe der Sprachgeschichte steigenden Bedeutung der Subjektpronomina, deren Setzung obligatorisch wird: Während im Ahd. Numerus, Person und Modus noch durch die Verbendung kenntlich war, geht diese deutliche Markierung durch die Nebensilbenabschwächung bereits im Laufe des Ahd. verloren (vgl. dazu auch Szczepaniak 2009, S. 121; Lindgren 1953, S. 217). Das dem Verb direkt folgende Pronomen übernimmt die eindeutige Markierung der Person.16 Auffällig hoch sind die durchschnittlichen Tilgungswerte des Wurzelverbs tuon in der 1. u. 3. Sg. Prät.: in diesen Positionen liegen sie im Mhd. bei 66% bis 76% im Ind. (ich /er tet) sowie in der 3. Sg. Konj. Prät. bei 27% (s. Tabelle 2).17 Im Ahd. flektieren die 1. u. 3. Sg. Prät. noch regelmäßig vokalisch (vgl. Braune 2004, § 381: te¨ta) und auch im frühen Mhd. (bis 1150) sind nur knapp 15% der Mhd. gut 7 % aller Belege), die Aufhebung der Klassenspaltung kann hier folglich in beide Richtungen (zu -e oder zu -Ø) erfolgen. 15 In der 1. Sg. (Präs. u. Prät.) sind die Fälle von Apokope vor folgendem, vokalisch anlautendem Pronomen (ich) deutlich häufiger als in der 3. Sg. (er); das erklärt die jeweils höheren Apokopierungsquoten in der 1. Sg. gegenüber der 3. Sg. (vgl. Tabelle 2). 16 Auch an anderen Stellen des Verbparadigmas kann eine enge Verbindung von Verb und Pronomen beobachtet werden, so fällt etwa in der 1. Pl. Präs./Prät. vor folgendem Pronomen das -n der Endung oder das gesamte Flexiv häufiger aus (mache wir, bit wir ). Für die 2. Sg. Präs. wird angenommen, dass das Flexiv -est durch die ehemals enklitische Verbindung von Verb und Pronomen entstanden ist (gilaubis thu > gilaubistu > gilaubist tu; Diskussion dieser These etwa bei Paraschkewow 2003). 17 Die Trennung von Ind. und Konj. im Prät. ist auch bei tuon nicht immer unproblematisch, da im Mhd. beide Modi auf -e enden können. Die Unterscheidung anhand des Wurzelvokals (e im Ind., æ im Konj.), die in den meisten Grammatiken vorgenommen wird, ist für die Primärquellen häufig nicht möglich, da Ligaturschreibung æ zum einen auch im Ind. vorkommen kann und zum anderen e ebenso im Konj. häufig ist. Apokope ist im Mhd. im Konj. von tuon möglich (z. B. vnd swer des niht tæt. den solt man werfen. in ein glvnden oven, ‘Buch der Könige’, Donauesch. 739, 8vb,4 ff.), allerdings erheblich seltener als im Ind.
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Birgit Herbers
Belege apokopiert; ab 1200 sind es jedoch bereits über 80% der Belege. Die landschaftlichen Werte für tuon liegen ebenfalls deutlich über denen der starken und schwachen Verben, eine Apokopehemmung wird selbst im Md. nicht deutlich, auch wenn die durchschnittlichen Werte im Wmd. deutlich unter denen der anderen Regionen liegen: Bair. 66−95%
Alem.-Bair. 82−88%
Alem. 23−79%
Wmd. 56−48%
Omd. 0−94%
Ofrk. 84%
Tabelle 4: Durchschnittliche Apokopierungswerte für tuon in der 1./3. Sg. Prät. in zwei Zeiträumen: 1150−1200 und 1300−1350
Die endungslosen Formen im Prät. von tuon werden als Angleichung an die Flexion der starken Verben, die in diesen Positionen regelmäßig endungslos sind (ich / er nam), interpretiert (vgl. etwa Zwierzina 1900, S. 102). In dieser Anpassung eines hochfrequenten Verbs (tuon) an eine hochfrequente Verbgruppe (starke Verben) wird ein Analogieprozess greifbar, der die Tendenz zur Apokope bedeutend beeinflusst und stark beschleunigt. Eine vergleichbare flexionsmorphologische Angleichung an eine andere frequente Verbgruppe liegt auch bei wellen in der 1. Sg. Ind. Präs. vor (ich will). Dieser Prozess kann im Mhd. allerdings bereits als abgeschlossen gelten, daher ist diese Position in Tabelle 1 als regelmäßig endungslos (Ø) aufgeführt. Im Ahd. ist die vokalische Endung noch regelmäßig (will-u, später Nebensilbenabschwächung zu will-e), endungslose Belege sind selten (vgl. Braune 2004, §385 und Anm. 1). Im Mhd. kann nur sehr selten (etwa 2% aller Belege in der 1. Sg. Ind. Präs.) die Endung -e (ich wile) nachgewiesen werden. Die Belege stammen fast ausschließlich aus dem frühen Mhd. bis 1150; hier können bereits deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Autoren festgestellt werden: bei Williram überwiegt Endungslosigkeit mit 96%; in Notkers Psalter (Hs. W) findet sich ausschließlich die vokalhaltige Form uuilo. Spätere Belege kommen vereinzelt vor (überwiegend mitteldeutsch; keine Reimbindung). Die Tilgung des auslautenden Vokals in dieser Position erweist sich als formale Anpassung von wellen an die Präterito-Präsentien, die in der 1. Sg. Ind. Präs. endungslos gebildet werden (ich sol, ich kan). Die morphologische Angleichung von wellen an die Präterito-Präsentien kann im Mhd. noch an anderen Stellen des Paradigmas beobachtet werden (z. B. zunehmende Verwendung von -t in der 2. Sg. Ind. Präs.: du wil > du wilt analog zu du solt, du darft). Begründet ist dies in der überwiegenden funktionalen Verwendung von wellen als Modalverb, die mit der der meisten Präterito-Präsentien übereinstimmt (vgl. dazu ausführlich Birkmann 1987, insbesondere 216 ff.). In einigen Positionen können neben der allgemeinen diachronen und diatopischen Bindung keine weiteren Faktoren ermittelt werden, die die Apokope begünstigen, so in der 1. und 3. Sg. Konj. Präs. und der 2. Sg. Ind. Prät. der st. Verben. Die endungslosen Belege sind in diesen Positionen selten (vgl. die niedrigen Apokopequoten in Tabelle 2) und kommen ausschließlich obd. und ofrk. vor,
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und nur vereinzelt vor 1300. Die allgemeine Tendenz zur Apokope im Obd. und Ofrk. führt bei einigen Belegen zwar zur Endungstilgung, die Ausbreitung wird aber durch eine gegenläufige Entwicklung, die Aufrechterhaltung der Modusopposition gehemmt. In der 2. Sg. Ind. Prät. der st. Verben kann ein anderer Prozess beobachtet werden: die Endung -e wird im Frnhd. zugunsten der sw. Bildung -est aufgegeben, im Mhd. kommt dies nur vereinzelt vor. 3. Zusammenfassung und Ausblick Die Apokope im mittelhochdeutschen Flexionssystem der Verben erweist sich als überaus komplexer Vorgang: Es können Faktoren ermittelt werden, die im Allgemeinen die Apokope fördern oder hemmen (diachrone Entwicklung, diatopische Verteilung, lautliche Umgebung, silbische Struktur), diese werden in den meisten Positionen des Verbparadigmas jedoch durch weitere Prozesse ergänzt oder überlagert. In den hier vorliegenden Ausführungen wurden nur einige der wichtigsten Faktoren näher betrachtet, in einer ausführlicheren Untersuchung sollten weitere Aspekte einbezogen werden (z. B. Zusammenhang Apokope – Synkope, Hyperkorrekturen, textliche Eigenheiten und weitere). Die einzelnen Ursachen, die Apokope fördern oder hemmen, können meist nicht voneinander getrennt werden, sie bedingen sich gegenseitig: »Lautgesetz und Funktion sind zwar Kräfte, die oft in gegensätzlicher Richtung wirken, aber bei der Erklärung der sprachlichen Erscheinungen geht es nicht um Lautgesetz oder Funktion, sondern um Lautgesetz und Funktion, und die Frage ist, welcher von diesen Faktoren im Einzelfalle der stärkere gewesen ist.« (Lindgren 1953, S. 220)
Im Verbparadigma kann für einzelne Positionen (Sg. Imp. der sw. Verben) und/ oder einzelne hochfrequente Lexeme (tuon in der 1. u. 3. Sg. Ind. Prät., wellen in der 1. Sg. Ind. Präs.) eine starke Tendenz zur Apokope durch analogischen Ausgleich festgestellt werden: In diesen Fällen tritt die Tilgung des auslautenden e selbst dort ein, wo allgemein eine Apokopehemmung nachgewiesen werden kann. Die jeweilige durchschnittliche Apokopierungsquote ist hier besonders hoch (s. Tabelle 2). Eine hohe Gebrauchsfrequenz kann die Apokope ebenfalls begünstigen (z. B. hohe Apokopierung in der 3. Sg. Konj. Prät. der st. Verben bedingt durch die Endungstilgung bei wær, wer). Des weiteren kommt in bestimmten syntaktischen Konstellationen ein vermehrter Ausfall von Endungs-e vor, z. B. Tilgung vor folgendem vokalisch anlautendem Pronomen in der 1. Sg. Ind. Präs. und in der 1. Sg. Prät. der sw. Verben. In anderen Positionen wird die Apokope trotz der allgemeinen Tilgungstendenz gehemmt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Endungs-e zur Modus- oder Tempus-Unterscheidung dient. So fällt der Endungsvokal allgemein seltener aus, wenn eine Tempusdifferenzierung durch e erfolgt (z. B. 3. Sg. Präs. sagt vs. 3. Sg. Prät. sagte; in der 3. Sg. Prät. kann zum Ende des Mhd. ein
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Birgit Herbers
Rückgang der Apokope festgestellt werden, im Nhd. ist Endung -e regulär). Im Konj. ist Apokope allgemein später und seltener wirksam als im Ind.; die hohe Gebrauchsfrequenz einzelner Verben führt jedoch z. T. dennoch zu hohen Apokopierungsquoten (s. o. zu wær in der 3. Sg. Konj. Prät.). Parallel dazu wird im Mhd. die Verwendung der zusammengesetzten Verbformen häufiger, so lösen Perfektformen zunehmend das einfache Präteritum ab und der umschreibende Konj. mit würde ersetzt die uneindeutig gewordenen einfachen Formen (vgl. dazu auch Lindgren 1953, S. 217 f.). Detaillierte Untersuchungen der gegenseitigen Beeinflussung von Apokope und zusammengesetzten Formen stehen allerdings noch aus. Insgesamt zeigt sich im Flexionsparadigma des mittelhochdeutschen Verbsystems auch durch die Apokope die Tendenz einer Auslagerung von ehemals verbinhärenten Informationen (Person, Tempus, Modus) auf andere Wörter (Hilfsverb, Subjektpronomen).
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Mittelhochdeutsche Grammatik, hrsg. v. Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, KlausPeter Wegera. Teil II : Flexionsmorphologie, Tübingen i. Dr. (erscheint 2011). Mittelhochdeutsche Grammatik, hrsg. v. Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, KlausPeter Wegera. Teil III : Wortbildung, Tübingen 2009. Damaris Nübling, Klitika im Deutschen. Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte (Script Oralia 42), Tübingen 1992. Boris Paraschkewow, Zur Poligenese des -t in der Verbalendung -st, in: ZGL (2003), S. 382–385. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, neubearb. v. Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearb. v. Heinz-Peter Prell (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A2), 25. Aufl. Tübingen 2007. Stefan Sonderegger, Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Daichronie des Sprachsystems. Band I: Einführung – Genealogie – Konstanten, Berlin / New York 1979. Renata Szczepaniak, Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache (Studia linguistica Germanica 85), Berlin 2007. Renata Szczepaniak, Grammatikalisierung im Deutschen. Eine Einführung. Tübingen 2009. Pavel Trost, Präteritumsverfall und Präteritumsschwund im Deutschen, in: ZDL 47 (1980), S. 184–188. Konrad Zwierzina, Mittelhochdeutsche Studien, in: ZfdA 44 (1900), S. 1–116. Korpus der Mittelhochdeutschen Grammatik: http://www.degruyter.de/files/pdf/9783484110038Quellenkorpus Uebersicht.pdf (30. 09. 2010)
do-Sätze am Wendepunkt Versuche einer zeitlinguistischen Lesung von Oswalds von Wolkenstein Kl 18 ‘Es fügt sich’ von Norbert Richard Wolf Oswalds von Wolkenstein Lied Kl 18 ‘Es fügt sich’1 ist eines der bekanntesten und auch meistdiskutierten Werke des Tiroler Autors. Oberflächlich betrachtet, liefert es eine Reihe von autobiographischen Informationen, die ansonsten nicht, vor allem nicht in historischen Quellen gegeben werden. In sieben Strophen zu je 16 Versen erzählt ein Ich von seinem Entschluss, im Alter von zehn Jahren in die Welt zu ziehen. Das Ich erfährt in erster Linie ellend und armüt (v. 3). Nur in den Strophen 3 und 6 erzählt das Ich einlässlich von schönen Erlebnissen: zunächst von einer Auszeichnung durch die künigin von Arragon (v. 33) und von Vierhundert weib und mer (v. 81) auf der Insel Nio (v. 82). In beiden Fällen erlebt das Ich das wahre Glück. In der letzten Strophe zieht das Ich gewissermaßen Bilanz über das bisherige Leben und seine Wünsche und Befürchtungen für die Zukunft. Ich habe schon an anderer Stelle versucht, dieses Lied als eine der ersten Ich-Erzählungen in der deutschen Literatur zu lesen.2 Schließlich fällt auf, dass die meisten Geschehnisse, die in diesem Lied geschildert werden, sich historisch nicht nachweisen lassen. Ein zeitlinguistischer Blick auf einige Temporalsätze in diesem Lied kann zu einem Verständnis des ganzen Liedes helfen. In der ersten Strophe blickt das lyrische Ich zurück; als es zehn Jahre alt war, da ergab sich etwas: Es fügt sich, do ich was von zehen jaren alt, / ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt (v. 1 f.). Diese zwei Verse sind syntaktisch mehrdeutig: Der temporale Nebensatz do ich was von zehen jaren alt könnte sowohl vom ersten Hauptsatz Es fügt sich als auch vom zweiten Hauptsatz ich wolt besehen abhängen; schließlich könnte es sich noch um eine Apo-KoinuKonstruktion handeln: Der Nebensatz bezieht sich auf beide Sätze, worauf ja die Zwischenstellung zwischen den beiden Hauptsätzen hinweist. Da allerdings im zweiten Hauptsatz vor dem finiten Verb das Subjektspronomen ich steht, obwohl die Inversionsposition wolt ich der Metrik nicht entgegenstünde, fasse ich den ersten Vers als eine syntaktische Einheit auf, die die Aufgabe hat, auf das Geschehen im zweiten Vers hinzuweisen: ›Es ergab sich, als ich zehn Jahre alt 1 Ausgabe: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, hg. von Karl Kurt Klein, 3. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf (Altdeutsche Textbibliothek 55), Tübingen 1987. 2 Norbert Richard Wolf, Oswald von Wolkenstein: Die Ichs in seinen Liedern und Handschriften, in: ›Vir ingenio mirandus‹. Studies presented to John L. Flood, Vol. 1 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 710/1), Göppingen 2003, S. 195–207.
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war: Ich wollte herausfinden, wie die Welt aussieht.‹ Das Präfixverb besehen drückt nicht nur ein einfaches Sehen aus,3 sondern viel mehr ein prüfendes und forschendes Hinschauen.4 Der Entschluss, die Welt zu erforschen, ist für das Ich so bedeutsam, dass es ihn mit einer kataphorischen Wendung zeitlich genau festlegt. Die Wendung Es fügt sich erfordert geradezu eine zeitliche Präzisierung: »Zu einem bestimmten Zeitpunkt ergab sich das Folgende«. Und dann fährt das Ich fort: »Ich wollte herausfinden, ...« Das Pronomen Es hat einerseits Platzhalterfunktion für ein Satzglied in Spitzenposition, andererseits hat es als kataphorisch verwendete Pronominalform vorausdeutende, ankündigende Funktion für den Sachverhalt in v. 2. Burghart Wachinger (s. Anm. 3) hat die beiden ersten Verse folgendermaßen übersetzt: »Es fügte sich, als ich zehn Jahre alt war, da wollt ich sehen, wie die Welt aussieht.« Durch die Partikel da in der syntaktischen Funktion eines Korrelats, einer Stütze eines Nebensatzes in einem übergeordneten Satz, signalisiert der Übersetzer, dass der vorausgehende Temporalsatz vom zweiten Hauptsatz abhängt, sodass der do-Satz den Entschluss des Ichs zeitlich situiert; der Entschluss ist dann nicht mehr das, was sich vor geraumer Zeit »gefügt«, d. h. ergeben hat. Die folgenden Verse schildern nicht mehr das Ergebnis der Welterforschung, sondern fassen einen größeren Zeitraum charakterisierend zusammen: mit ellend, armüt mangen winkel, haiss und kalt, / hab ich gebawt bei cristen, Kriechen, haiden (v. 3 f.). Das Ich führt an, dass es sich eine nicht genannte Zeit bei (römischen) Christen, Griechisch-Orthodoxen und Heiden (=Moslems) aufgehalten habe. Die Umstände werden in einer mit-Phrase genannt: ellend, armüt; dieses Substantiv wird mit der nachgestellten Akkusativ-Phrase mangen winkel ›an allen Ecken und Enden‹ attribuiert; winkel ist durch das nachgestellte und somit unflektierte Adjektivattribut haiss und kalt genauer charakterisiert. Erst danach wird wieder ein einzelnes Faktum aufgeführt, das aufs Neue mit einem do-Temporalsatz zeitlich eingeordnet wird: Drei pfenning in dem peutel und ain stücklin brot, / das was von haim mein zerung, do ich loff in not (v. 5 f.). Die beiden mit do eingeleiteten Nebensätze verweisen auf bestimmte Zeitpunkte, die im Leben des Ichs immer einen Wendepunkt bezeichnen. In den beiden erwähnten Fällen verweisen die Temporalsätze auf denselben Zeitpunkt, und zwar auf den Entschluss, in die Welt zu ziehen. Was das Ich dann erlebt hat, wird 3 Deshalb halte ich Wachingers Übersetzung »da wollt ich sehen« für etwas zu schwach; des Weiteren vermeide ich bewusst das Korrelat da, da damit ein ganz anderer zeitlicher Bezug hergestellt wird. – Oswald von Wolkenstein, Lieder. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Text hg., übers. und komm. von Burghart Wachinger. Melodien und Tonsätze hg. und komm. von Horst Brunner (Reclams UniversalBibliothek 18490), Stuttgart 2007, S. 133. 4 Vgl. auch die Interpretamente zu mhd. besehen in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, hg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann, Stuttgart. OnlineVersion: www.mhdwb-online.de [10. 01. 2011].
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immer ohne Zeitbestimmung zusammenfassend geschildert. Im Text des Liedes folgt eine längere Passage, in der die Reisen bzw. Wanderungen, Schicksalschläge und Notsituationen aufgezählt werden. Erst in v. 29 kommt wieder ein Temporalsatz mit do: die swarzen see lert mich ain vas begreiffen, / Do mir zerbrach mit ungemach mein wargatein (v. 28 f.). Aufs Neue wird auf einen Wendepunkt verwiesen: Das Ich lernt etwas, Lehrer ist das Schwarze Meer. Der Wendepunkt wird durch das Zerbrechen des Schiffes gewissermaßen symbolisiert. Dabei wird ein Gegensatz entscheidend: Die Ware, die das Ich als koufman (v. 30) mit sich führte, sücht den grund (v. 32) während das Ich genas (v. 30) und zu dem reiffen (v. 32) schwamm. Das Ich wird dadurch gerettet, dass es allen weltlichen Besitz verliert. Die dritte Strophe, die mit v. 33 beginnt, also unmittelbar an das Ereignis im Schwarzen Meer anschließt, führt sofort Ain künigin von Arragon ein, die dem Ich einige Auszeichnungen in Form von Ringen verleiht. Unmittelbar danach, und zwar sowohl graphisch im direkt folgenden Vers, als auch zeitlich, ze stund (v. 41), kommt das Ich zu König Siegmund: Ich sücht ze stund künig Sigmund, wo ich in vand, / den mund er spreutzt und macht ain kreutz, do er mich kant, / der rüfft mir schier: »du zaigest mir hie disen tant« (v. 41– 43). Der vierte do-Satz in unserem Text steht – fast möchte man sagen: Wie könnte es anders sein? – wieder an einem Wendepunkt: Das Ich sucht den König (auf), geht also ganz bewusst und gezielt zu ihm, um ihm die Auszeichnung aus Aragon vorzuführen. Der König erkennt zunächst nicht, um wen es sich handelt; und als er das Ich kant, beginnt er zu spotten. Wie im Schwarzen Meer folgt die Erniedrigung der Erhöhung, der Auszeichnung, dem Wohlstand auf dem Fuß. Der Temporalsatz hat zum vierten Mal die Aufgabe, auf solch einen Zeitpunkt zu referieren. Das Gelächter der Zeitgenossen veranlasst das Ich, sein tummes leben zu verkeren (v. 49), sodass es ain halber beghart wol zwai ganze jar (v. 50) wurde. Gleichzeitig wird die Kutte des Begarden genutzt, um mehr Erfolg bei Frauen zu haben. Doch der Erfolg führt dazu, das das Ich übermütig wird und die Mönchskutte ablegt: Mit kurzer schnür die andacht für zum gibel aus, / do ich die kutt von mir do schutt in nebel rauss. (v. 61 f.) Das Ablegen der Kutte ist der fünfte Wendepunkt im Lied: Das Glück der minn (v. 52) sowie die andacht (v. 61) des Begarden verschwinden mit der Kutte. Entscheidend ist dabei, dass im Temporalsatz das Ich in der logisch-semantischen Rolle des Agens fungiert; dadurch wird deutlich, dass das Ich die folgende not (v. 65) selbst zu verantworten hat. Kehren wir noch einmal zu v. 1 zurück. Das Ich sagt nicht, dass es sein Leben geplant habe, sondern Es fügt sich (v. 1). Diese ›Fügung‹ ereignete sich, do ich was von zehen jaren alt (v. 1). Die Konstruktion es fügt sich, do findet sich nach Ausweis der ›Verskonkordanz‹5 nur in Kl 18. Das heißt, dass das Lied mit einem 5 George Fenwick Jones, Hans Dieter Mück und Ulrich Müller, Verskonkordanz zu
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entscheidenden Wendepunkt in der Biographie des erzählenden Ichs beginnt. Schon der Anfang führt zu ellend und armüt (v. 3), und die weiteren Wendepunkte markieren ebenfalls nur die Wendung zum Schlechten. Eine Ausnahme gibt es: In der sechsten Strophe erinnert sich das Ich an die Frauen von Nio, setzt aber alle 400 sofort in Kontrast zu der einen, die so ist, dass ir [von den Frauen auf Nio] kaine disem weib geharmen (v. 84) kann. Das Verbum geharmen ist im Werk Oswalds ein Hapax Legomenon, auch die Ableitungsbasis harmen ist weder bei Oswald noch im ›Lexer‹ oder im ›Grimm’schen Wörterbuch‹ belegt. Marold/ Robertshaw setzen die präfigierte Form als Lemma an und interpretieren: »›ihr Schmerz, Schande bereiten, ihr etwas anhaben‹, d. h. keine konnte ihre Schönheit verdunkeln«.6 Dem kann man weitestgehend zustimmen, auch wenn das Ich nicht nur die Schönheit der Einen rühmt. Ich meine, dass das Präfix gehier in Zusammenwirken mit dem Modalverb ›mögen‹ modalisierende Funktion7 hat: Das Ich kann sich nicht vorstellen, dass es möglich wäre, die Reputation der Dame zu mindern. Dieser Vergleich erinnert an den traditionellen Minnekontext, doch gleich darauf führt wiederum ein starker Kontrast zum Gegenteil: Von dieser Einen hat das Ich auff mein rugk ain swe¨re hurd (v. 85). Zumindest rückwirkend wird der Vergleich über die Einzigartigkeit der Geliebten zu einer mehrdeutigen oder ironischen Äußerung. Und deshalb wird auch das nachfolgende Satzgefüge mehrdeutig bzw. bitter ironisch: Ir knaben, maid, bedenckt das laid, die minne phlegen, / wie wol mir wart, do mir die zart bot iren segen (v. 93 f.). Der segen der Einzigartigen, der niemand gleichkommt, der niemand etwas nachsagen kann, ist wohl auch ain swe¨re hurd (v. 85), ein belastender Korb8 auf dem Rücken. Durch den Kontext und durch die Parallelität zu den anderen Temporalsätzen, die mit der Subjunktion do eingeleitet sind, wird auch der Sachverhalt, der im letzten do-Satz dieses Liedes verbalisiert wird, negativ. Das Ich fürchtet sich in der abschließenden siebten Strophe vor elicher weibe bellen (v. 104), obwohl oder weil in aller werlt kund ich nicht finden iren gleich (v. 103). Durch die Wiederholung des Topos von der Einzigartigen und den engeren Kontext, der deutlich an ein Oxymoron anklingt, wird das »Leitthema der Not«9 bis zum Schluss des Liedes ausgeführt.
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den Liedern Oswalds von Wolkenstein (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 40/41), Göppingen 1973. Werner Marold, Kommentar zu den Liedern Oswalds von Wolkenstein. Bearb. und hg. von Alan Robertshaw (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 52), Innsbruck 1995, S. 49. Norbert Richard Wolf: Das Verbalpräfix ge- in mittelhochdeutschen Urkunden, in: Probleme der historischen deutschen Syntax unter besonderer Berücksichtigung ihrer Textsortengebundenheit, hg. von Franz Simmler und Claudia Wich-Reif. Berlin 2007, S. 225–235. Vgl. das Interpretament »viereckigtes geflechte von weidengerten« zum Lemma Hürde in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4/2, Leipzig 1877, Sp. 1957. Ulrich Müller, »Dichtung« und »Wahrheit« in den Liedern Oswalds von Wolken-
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Die do-Sätze in diesem Lied drücken allesamt einmalige und für das nachfolgende Leben entscheidende Geschehnisse aus. Die Lebensbilanz, die das Ich in diesem Lied zieht, fällt negativ aus. Die traditionellen Topoi wie der von der einzigartigen Minnedame, aber auch der vom Leben als einer Schifffahrt, werden narrativ verarbeitet und sind dadurch immer wieder Anlass für erzählende Passagen. Gerade die Ereignisse, die in den do-Sätzen geschildert werden, stehen deutlich in einer literarischen Tradition. Die zeitliche Situierung der Wendepunkte in die Lebensgeschichte und -bilanz durch die do-Sätze haben schon früh in der Forschung nahegelegt, in Kl 18 geradezu eine autobiographische Beichte zu sehen. Dies mag durchaus sein, notwendig allerdings ist diese Lesart nicht.
stein: Die autobiographischen Lieder von den Reisen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 1), Göppingen 1968, S. 16.
Sprachschöpfung im Feld des Unsagbaren Beobachtungen zum ‘Bamberger Glauben und Beichte’ von Gerhard Diehl
Der heute in München aufbewahrte Codex Clm 4460 besteht aus vier voneinander unabhängigen Handschriften. Der zweite, ins 12. Jahrhundert datierende Teil dieser Sammlung ist von unsicherer Herkunft. Er enthält zwei Texte, zum einen den nach seinem mittelalterlichen Aufbewahrungsort, dem Bamberger Dominikanerkloster, benannten ‘Bamberger Glauben und Beichte’ und zum anderen eine Beschreibung von ‘Himmel und Hölle’.1 Die beiden Prosastücke sind wahrscheinlich zum Ende des 11. Jahrhunderts entstanden und stammen nach allgemeiner Einschätzung vom selben unbekannten Verfasser. Während jedoch die in der Edition nur etwa 60 Zeilen umfassende Darstellung von ‘Himmel und Hölle’ bereits verschiedentlich untersucht und vor allem im Hinblick auf ihren sprachlichen und literarischen Gehalt ausführlich gewürdigt wurde,2 ist der ‘Bamberger Glauben und Beichte’ beinahe ausschließlich auf seine Verortung in die Traditionsreihe der alt- und frühmittelhochdeutschen Beichtliteratur untersucht worden.3 Demgegenüber blieb die eigenständige sprachliche 1 Vgl. David R. McLintock, ‘Bamberger und Erster Wessobrunner Glaube und Beichte’, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch, 2. völlig neu bearb. Aufl. hg. von Kurt Ruh, Burghart Wachinger, 14. Bde. Berlin / New York 1978–2008, Bd. 1, Sp. 593–596 sowie ders., ‘Himmel und Hölle’, ebd. Bd. 4, Sp. 21–24. 2 Vgl. Walter Wöhrle, Zur Stilbestimmung der frühmittelhochdeutschen Literatur, Diss. Zürich 1959, S. 30– 46 und David R. McLintock, ‘Himmel und Hölle’: Bemerkungen zum Wortschatz, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur, hg. von Leslie Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff und Roy Wisbey, Berlin 1974, S. 83–102. 3 Vgl. z. B. Georg Baesecke, Die altdeutschen Beichten, in: PBB 49 (1925), S. 268–355; Charlotte Zimmermann, Die deutsche Beichte vom 9. Jahrhundert bis zur Reformation, Diss. Leipzig 1934; Hans Eggers, Die altdeutschen Beichten 3, in: PBB (Halle) 81 (1959), S. 78–123, hier S. 90: »obwohl sie als ein höchst umfangreicher, systematisch ausgebildeter Beichtspiegel nicht in die Reihe der offenen Schuldbekenntnisse gehört«; Hans Pörnbacher, Bamberger Glaube und Beichte und die kirchliche Bußlehre im 11. Jahrhundert, in: Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag, hg. von Dieter Albrecht, Andreas Kraus und Kurt Reindel, München 1969, S. 99–114, hier S. 114: »Die Verwendungsmöglichkeit von B als Formel der Offenen Schuld scheint sehr wahrscheinlich. Die sprachliche Schönheit, der Aufbau der Formel, die Entstehungszeit selbst . . . und die Art der Überlieferung in einer eigenen, sorgfältig geschriebenen Handschrift, die dem Priester, Abt oder Bischof zum Vorbeten diente, das alles spricht für diesen Gebrauch von B. Denkbar wäre jedoch auch die Verwendung als Reuegebet eines einzelnen oder einer Gemeinde vor Gott um der Beschämung willen.«
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Gestalt des etwa fünf Mal so großen Textes in der bisherigen Forschung eher unbeachtet.4 Dies ist umso erstaunlicher, weil dem unbekannten Verfasser der Texte von den verschiedensten Seiten seit dem 19. Jahrhundert nicht nur »bewundernswürdige Kühnheit und Sicherheit des Periodenbaus«5 und »ungewöhnliche sprachschöpferische Kraft«6 bescheinigt wurde, sondern seine Texte als »Kunstprosa der preziösesten Form«, als »Kunstgebilde mit ästhetischem Anspruch« eingestuft werden.7 Dieser Vernachlässigung aus literaturwissenschaftlicher Sicht entspricht die überkommene Perspektive der mittelhochdeutschen Lexikographie. Auch sie hat den Text bisher noch nicht genügend wahrgenommen,8 obwohl er nicht nur eine Fülle von Hapax legomena bietet, sondern darüber hinaus in signifikanter Weise einerseits letzte Belege für in der althochdeutschen Periode gängiges Wortmaterial aufweist, andererseits mit seinen Neologismen Erstbelege für Lemmata liefert, deren Auftreten sich im späteren Mittelhochdeutschen weiterverfolgen lässt.9 4 Erste Materialien zur sprachlichen Gestaltung liefern Paul Sprockhoff, Althochdeutsche Katechetik. Literarhistorisch-stilistische Studien, Diss. Berlin 1912, S. 64–74 und McLintock [Anm. 2]. 5 Wilhelm Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII . – XI . Jahrhundert, hg. von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, Berlin 21873, S. 607. 6 McLintock [Anm. 1], Sp. 596. 7 Gisela Vollmann-Profe, Wiederbeginn volkssprachlicher Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60–1160/70) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. 1,2), Königstein / Ts. 1986, S. 61 f. 8 Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch berücksichtigt zwar den Text von ‘Himmel und Hölle’ in der Edition von Friedrich Anton Reuss (ZfdA 3 [1843], S. 443– 445), nicht jedoch den erstmals 1864 von Müllenhoff/Scherer herausgegebenen ‘Bamberger Glauben und Beichte’ (vgl. Anm. 5). Inzwischen hat der Text über das Bochumer Korpus Eingang in die neue mittelhochdeutsche Grammatik gefunden. Bereits die Wortbildung (Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera, Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III : Wortbildung. Bearb. von Birgit Herbers, Thomas Klein, Aletta Leipold, Eckhard Meineke, Simone Schultz-Balluff, Heinz Sieburg, Hans-Joachim Solms, Sandra Waldenberger und Klaus-Peter Wegera, Tübingen 2009) weist zahlreiche Wortbeispiele bei den einzelnen Bildeweisen der Komposita nach, z. B. gemüejede (§ S 84), geswıˆgede (§ S 80), hoˆnkoˆse (§ S 285 und 352), huergebärede (§ S 428), huermachunge (§ S 209 und 483), iemerrehtwerc (§ S 468). Im DWB (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1 ff., Leipzig 1983 ff.) ist der Text laut Ausweis des aktuellen Quellenverzeichnisses ebenfalls vertreten. Das AWB (Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. und hg. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings, Bd. 1 ff., Berlin 1968 ff.) wertet das Wortmaterial geschlossen aus. (Die Frage einer genauen Abgrenzung des Textbestandes zwischen AWB und dem neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch bzw. die Entwicklung geeigneter Verfahren im Umgang mit Texten wie dem hier vorliegenden aus einem zeitlichen Übergangsbereich kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter verfolgt werden.) 9 Es seien hier nur wenige Beispiele genannt, für auslaufende Verwendung ellenunge
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Die folgende Untersuchung der Sprachschöpfungen des unbekannten Verfassers aus dem 11. Jahrhundert widmet sich vor allem dem ersten Abschnitt des Textes, dem Glaubensbekenntnis. Der zweite Abschnitt, das Beichtformular, weist zwar ebenfalls eine umfangreiche Liste von Neologismen auf. Diese Befunde werden aber nur ergänzend herangezogen. So bleibt die Liste noch vergleichsweise überschaubar: alanclich (Adj.; 136,14),10 bevangenheit (stF.; 136,15), drıˆbenemede (stF.; 135,27), drıˆnemede (stF.; 135,18; 26), e¨beneˆwecheit (stF.; 136,5), e¨beneˆweclich (Adj.; 136,23), e¨benmagenkraft (stF.; 139,2), e¨bense¨lpeˆwec (Adj.; 135,20; 22), e¨bense¨lpgegenwertec (Adj.; 136,13), e¨bense¨lpgelıˆche (stF.; 135,25), e¨bense¨lpwesende (subst. Part.-Adj.; 136,16), e¨benwe¨sende (subst. Part.-Adj.; 136,27), einse¨lpwe¨sende (stF.; 135,20; 23), einwe¨sende (stN.; 135,28), ˆın saˆmen (swV. 136,36), unme¨"michele (stF.; 136,12), unverwechsellıˆche (stF.; 135,29), unzesamengemischelich (Adj.; 135,29), unzesamenvermischet (Part.-Adj.; 137,1), urstendide (stF.; 138,32; 36), vramvarende (Part.-Adj.; 135,16), vürstwe¨sende (Part.-Adj.; 136,3),11 we¨rltzıˆt (stF.; 136,9).
Bereits eine kursorische Sichtung der über 20 nur im ‘Bamberger Glauben’ vertretenen Neuschöpfungen zeigt, dass es sich ausschließlich um Komposita und deutlich überwiegend um Substantive bzw. Adjektive handelt, die gleichwohl in beiden Gruppen von Verbableitungen ihren Ursprung nehmen können. Betrachtet man nun die einzelnen Bildungen genauer und bezieht zugleich den unmittelbaren Kontext ihres Auftretens mit ein, so erkennt man, dass es sich zum einen um Einzelgänger handelt wie alanclich, bevangenheit, unme¨"michele, urstendide, vürstwe¨sende und we¨rltzıˆt. Der weitaus größte Teil der erhobenen Lemmata zum anderen lässt sich jedoch eindeutig einem inhaltlichen Themenschwerpunkt des Glaubensbekenntnisses zuordnen: der Beschreibung Gottes in der Trinität. Nach einer einleitenden Absage an den Teufel und seine Machenschaften und der erklärten Hinwendung zu Gott folgt – der traditionellen Anordnung des Glaubensbekenntnisses entsprechend – eine längere Passage zur Trinität (135,12–139,8), zu Gott als Vater (135,12–136,19), Sohn (136,20–139,8) und heiligem Geist. Mit Ausnahme von unzesamenvermischet (137,1) und e¨benmagenkraft (139,2) finden sich alle im Folgenden näher untersuchten Wörter in den ersten fünfzig Zeilen des Textes, die sich mit der Trinität an der Gestalt Gottvaters befassen. Überblickt der heutige Leser dieses Wortmaterial, so kann er bis ins Detail nachvollziehen, wie ein geistlich gebildeter Autor der Zeit um 1100 versucht, die Trinität nicht nur zu denken, sondern auch in seiner Muttersprache zu formulieren, wie (144,9 – AWB 3,268 f.), vruotheit (147,29 – AWB 3,1311) gegıˆrede (142,21; 147,8 – AWB 4,288), für neu einsetzendes Auftreten durnohtunge (145,24 – PrGeorg 15,2), e¨beneˆwecheit (136,5 – RvZw, Leich 1; AveMaria 9,7; AveMaria 10,35). 10 Die Zählung entspricht Seite, Zeile der Edition von Elias von Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916, S. 135–152. 11 Vgl. den Nachweis und die Deutung der neuen vürst-Bildungen in ‘Himmel und Hölle’ fursthelodo (7) und uurstesot (13) (McLintock [Anm. 2], S. 100).
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er sich – geradezu im Wortsinn inspiriert – bemüht, das Paradoxon der Dreiheit in Einheit sprachlich zu fassen. Dieser – zuerst einmal nur innersprachliche – Befund ist auch deshalb interessant, weil die Entstehungszeit des Textes um 1100 in eine Periode vermehrter Auseinandersetzung mit dem theologischen Konzept der Trinität fällt.12 Grundlegende spätantike Positionen, wie sie Augustinus in seinem Werk ‘De trinitate’ formulierte, gelangten – formal angeregt durch die Glaubensbekenntnisse der spanischen Synoden und das sogenannte Athanasium, das Symbolum Quicumque – auch ins Reich der Karolinger und die hier in den nächsten Jahrhunderten entstehenden lateinischen oder althochdeutschen Glaubensformeln.13 Erst nach der Jahrtausendwende wird das trinitarische Gedankengut mit dem Beginn der Frühscholastik wieder verstärkt aufgenommen, diskutiert und inhaltlich weiterentwickelt. Wesentliche Schritte der Trinitätstheologie des 12. und 13. Jahrhunderts sind schließlich mit dem Namen Richards von St. Victor und Thomas’ von Aquin verbunden. Diese an lateinischen Texten ausgerichteten Beobachtungen gelten in vermehrtem Umfang natürlich für die volkssprachliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Trinität. Da im deutschsprachigen Raum »die Dreifaltigkeit Gottes in der karolingischen Theologie noch kein zentrales Thema war«, ist – wie die Untersuchungen von Martin Fuß zeigen14 – konsequenterweise auch die geistliche Terminologie in diesem Bereich der Sprache in der althochdeutschen Periode noch nicht sonderlich entfaltet. Das im AWB und bei Fuß dokumentierte Wortmaterial umfasst an frequentem Material außer den hier vorgestellten Beispielen unseres Textes neben dem Adjektiv drıˆvalt 15 sowie den Substantiven drischeit,16 drivalt,17 drıˆnisse 18 und drinissede 19 zur unmittelbaren Bezeichnung der Trinität lediglich die Adjektive e¨beneˆwec,20 e¨benheˆr 21 und das Substantiv 12 Für die folgende knappe Zusammenfassung vgl. Gisbert Greshanke, Der dreieinige Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg / Basel / Wien 1997, S. 101–126; Martin Schniertshauer, Consummatio caritatis: eine Untersuchung zu Richard von St. Victors De Trinitate (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 10), Mainz 1996; Hans Christian Schmidbaur, Personarum Trinitas. Die trinitarische Gotteslehre des heiligen Thomas von Aquin (Münchener theologische Studien, Systemat. Abt. 52), St. Ottilien 1995. 13 Vgl. Karl-Josef Barbian, Die altdeutschen Symbola. Beiträge zur Quellenfrage (Veröffentlichungen des Missionspriesterseminars St. Augustin 14), Siegburg 1964, hier S. 143–150. 14 Martin Fuß, Die religiöse Lexik des Althochdeutschen und Altsächsischen (Europäische Hochschulschriften Reihe I,1765), Frankfurt / M. 2000, S. 171. 15 Vgl. AWB [Anm. 8], Bd. 2, Sp. 649. 16 Vgl. ebd. Sp. 661. 17 Vgl. ebd. Sp. 649 f. 18 Vgl. ebd. Sp. 656 f. 19 Vgl. ebd. Sp. 657. 20 Vgl. ebd. Bd. 3, Sp. 7. 21 Vgl. ebd. Bd. 3, Sp. 11.
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e¨benwerc 22 zur weiteren Charakterisierung der Gleichheit der drei göttlichen Personen. Die Auseinandersetzung mit derart komplexen theologischen Themen zwingt aber offensichtlich bereits frühzeitig zu ersten Versuchen, die zentralen lateinischen Termini ins Deutsche zu übertragen. Dass dieses Bemühen jedoch noch nicht zu einem komplett entwickelten und in sich stimmigen Begriffssystem führt,23 sondern immer wieder zu neuen, voneinander völlig unabhängigen Versuchen der Übertragung und Aneignung, zeigt das Beispiel des hier untersuchten Textes. Der Verfasser von ‘Bamberger Glauben und Beichte’ hat nämlich das bereits vorhandene, schmale Wortmaterial nicht etwa aufgegriffen, sondern er hat sich um eine eigenständige Übertragung des lateinisch vorliegenden Glaubensbekenntnisses bemüht. So musste er in besonderem Maße sprachschöpferisch tätig werden, um – ähnlich wie in ‘Himmel und Hölle’ – »einem Thema gerecht zu werden [...], das alle Begriffe übersteigt«.24 Um die eigenständigen Leistungen des unbekannten Verfassers in der gerade für diesen Text charakteristischen Ausführlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema Trinität genauer einschätzen zu können, lohnt ein Blick auf die lateinischen Vorlagen seines Glaubensbekenntnisses.25 So finden sich in verschiedenen Untersuchungen Hinweise auf die möglichen Quellen des Anonymus.26 Ganz wesentlich für die Ausformung der zentralen Trinitätskonzeption ist der enge Bezug zum Pseudo-Athanasischen Glaubensbekenntnis, dem Symbolum Quicumque,27 das hier wie auch für die meisten älteren Wortschöpfungen des Althochdeutschen aus dem Bereich der Trinität Pate gestanden haben dürfte: 22 Vgl. ebd. Bd. 3, Sp. 27. 23 Vgl. Manfred Leier, Ansätze zur Begriffssprache der Deutschen Mystik in der geistlichen Prosa des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. Hamburg 1965, S. 41. 24 McLintock [Anm. 2], S. 101. 25 Vgl. z. B. Barbian [Anm. 13], S. 60: »Dieser Abschnitt steht am Anfang des Symbolum und findet als Ganzes in keiner der adt. Formeln und ihren Quellen eine auch nur annähernde Entsprechung.« 26 Die folgenden Gegenüberstellungen greifen auf die Untersuchung von Barbian [Anm. 13], S. 60 ff. zurück. Neben dem Pseudo-Athanasium versucht er auch in weiteren lateinischen Texten Vorbilder für einzelne Wortschöpfungen oder Formulierungen auszumachen (ebd., S. 60–63). Gegen Barbian wendet sich Hubert Gindele, Lateinische Scholastik und deutsche Sprache (Münchener Germanistische Beiträge 22), München 1976. Er hält die Hinweise »für ungenügend und unzutreffend« (ebd., S. 78, Anm. 2). Gindele vermutet – unter Verweis auf die Entsprechung von una substantia mit einwesende und den entsprechenden weiteren Wortschöpfungen – dagegen das Symbolum des 11. Konzils von Toledo aus dem Jahr 675 oder »eine vor- oder frühscholastische Kommentierung desselben« als entscheidende Vorlage. Auch Barbian (S. 144) bezeichnet diesen Text als »Höhepunkt trinitarischer Aussage«. Letztlich wird sich die Frage nach den genauen Quellen kaum endgültig klären lassen, da auch im lateinischen Wortschatz die Ausdrucksmöglichkeiten für zentrale Aussagen der christlichen Trinitätstheologie begrenzt und immer wieder auf identische oder ähnliche Formulierungen angewiesen sind. 27 Vgl. Barbian [Anm. 13], S. 60, ebenso McLintock [Anm. 1], Sp. 594, im Folgenden den
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Dem ita Dominus Pater, Dominus Filius, Dominus Spiritus Sanctus; et tamen non tres Domini, sed unus est Dominus des lateinischen Textes entspricht daz der alemahtige uater, unde der si eingeborne sun, unde der uon in zvein uramuarente heiligoste geist ein warer lebente trohtin ist. 28 Eina ebenewigheit des uater, unde des sunes unde des heiligosten geistes fasst das aeternus Pater, aeternus Filius, aeternus Spiritus Sanctus; et tamen non tres aeterni, sed unus aeternus der Vorlage in deutsche Worte.29 Die muttersprachliche Wiedergabe von una est divinitas, aequalis gloria, coeterna maiestas bildet das Bekenntnis ich gloubo eina gotheit, ebengliche guotlichi, ebenewige maginkraft,30 während an demo ungisceidenen einwesente an einandera unuirwechsellichi unde uncisamingemisciliche die Formel neque confundentes personas neque substantiam separantes wiederzugeben versucht.31 Auch einzelne Wortschöpfungen wirken angelehnt an lateinische Ausdrücke der Vorlage, wie etwa unmezmichele 32 an immensus oder uor allen werltzitan 33 dem ante saecula oder das totae tres personae coaeternae sibi sunt et coaequales dem zentralen Credo der einun gotelichun ebenselbewigun einselbwesendi . . . mit ungesceidener ebenselbgliche.34
Wendet man sich nach diesem Blick auf mögliche lateinische Textvorlagen wieder der sprachlichen Untersuchung des ‘Bamberger Glauben’ zu, so fällt bei genauer Betrachtung des vorliegenden Wortmaterials auf, dass sich die im Hinblick auf das Einzelwort beachtliche sprachliche Kreativität des Übersetzers letztlich auf einen formal recht engen Rahmen von Versatzstücken zurückführen lässt. Die überwiegende Mehrheit der bereits erwähnten Hapax legomena beruht auf wenigen deutlich erkennbaren assoziativen Wortbildungsmustern. Diese benutzt ihr Schöpfer – einmal entdeckt – zum Teil geradezu exzessiv, wie es bereits die Untersuchung von ‘Himmel und Hölle’ gezeigt hat: »man hat den Eindruck, als lasse sich der Verfasser oft von Wortassoziationen leiten, so dass die Sprache an gewissen Stellen gleichsam ein eigenes Leben führt, die gedankliche Gestaltung des Werkes diktiert und hie und da überraschende Begriffsverbindungen erzwingt.«35 Die folgende Auflistung der verschiedenen genutzten Wortbildungsmittel macht das deutlich: 1. Insgesamt sechs Mal begegnen Neuschöpfungen mit e¨ben- zum Ausdruck der Identität des dreieinigen Gottes. Das bereits althochdeutsch belegte Bildemuster (vgl. Lemmata wie e¨beneˆwec oder e¨benheˆr)36 erweist sich als überaus produktiver Ausgangspunkt. Dementsprechend werden die im Glaubensbekenntnis vorliegenden Neuschöpfungen begleitet von den zwei auch in anderen
28 29 30 31 32 33 34 35 36
lat. Text des Symbolum Quicumque (in der Satzzählung) nach Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum, 35. Aufl. Freiburg 1973, S. 40 ff. Quicumque 17–18; BambGlB 135,13–17. BambGlB 136,5–7; Quicumque 10–11. Quicumque 6; BambGlB 135,30–136,2. BambGlB 135,27–30; Quicumque 4. BambGlB 136,12. Ebd. 136,9. Quicumque 26; BambGlB 135,21–25. McLintock [Anm. 2], S. 101. Vgl. die umfangreiche Wortstrecke AWB [Anm. 8], Bd. 3, Sp. 4–27.
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Texten vertretenen Adjektiven e¨beneˆwec (136,2) und e¨bengelıˆch (136,1) sowie den Substantiven e¨benbarmede (stF.; 147,22) in der Beichtformel und e¨benteil in ‘Himmel und Hölle’ (26). Mit e¨benerbe stN. (41) findet sich ein weiteres Hapax legomenon aus der Reihe ebenfalls in diesem zweiten Text des Verfassers, auch e¨benalle ist im Text belegt (3). Zwei Wörter dieser Gruppe korrespondieren unmittelbar mit anderen Wörtern des Bildungstyps, ein weiterer schöner Beleg für die Assoziationsfähigkeiten des Autors: So nimmt e¨bengelıˆch (136,1) als Adjektiv das vorangehende Substantiv e¨bense¨lpgelıˆche (135,25) wieder auf und die e¨benmagenkraft (139,2) ergibt sich geradezu zwanglos aus der bereits verwendeten Verbindung e¨beneˆwige magenkraft (136,2). Auch alleinstehendes magenkraft findet sich noch im Text der Beichte (142,26). Die hier zu beobachtende Verschmelzung aus Adjektiv und Substantiv zu einem neuen Substantiv findet sich als Stilmerkmal auch in ‘Himmel und Hölle’, vor allem jedoch als Bindeglied zwischen beiden Texten. McLintock weist eine ganze Reihe von Beispielen nach, in denen zwei Substantive des einen Textes im anderen als Nominalglied gebildet auftauchen wie in diesem Beispiel aus Adjektiv und Substantiv oder aber Substantiv mit abhängigem Genitiv.37 Das bereits von früheren Übersetzern zur Formulierung trinitarischen Gedankenguts verwendete offensichtlich naheliegende Zahlwort drıˆ taucht zwei Mal als Präfix auf und zwar mit den verwandten Substantiven nemede bzw. benemede als weitere Möglichkeit zur Übertragung des Begriffs ›Trinität‹. Das Grundwort benemede selbst ist – ganz dem Formulierungsstil des anonymen Verfassers entsprechend – ebenfalls im Text vertreten (137,12). Ein weiterer, nicht ganz so exzessiv genutzter Bildungstyp zur Charakterisierung der Trinität nutzt das ein-. Er ist mit den zwei Wortschöpfungen einse¨lpwe¨sende und einwe¨sende vertreten (135,20; 23; 28), dazu noch einmal im bereits bekannten Verfahren abgewandelt als einde we¨senden (136,11). In fünf Fällen werden die bisher beschriebenen Wortschöpfungen mit e¨benund ein- zur Charakterisierung der Einheit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist in der Trinität noch einmal verstärkt durch die Einbindung des Wortgliedes -se¨lp. Vier davon finden sich in Kombination mit e¨ben, eins verbunden mit ein. Zum Teil werden sie dabei mit anderen, bereits bekannten Mustern kombiniert, vgl. z. B. das bereits ahd. belegte e¨bengelıˆch.38 Insgesamt begegnen vier neue un-Bildungen im ‘Bamberger Glauben’, zwei in der Verbindung unzezamen-, einmal unme¨"michele (vgl. dazu unme¨" in ‘Himmel und Hölle’ [56]) und schließlich unverwechselıˆche. Sie bezeichnen
37 Vgl. McLintock [Anm. 2], S. 89 f. dort z. B. genannt: in bitwnginheıˆte, in pfra´ginuˆngo (146,5) – dıˆu bituuˆngeniste phragina (HuH 44 – zum Verständnis der Stelle ebd. S. 93 ff.), in woˇftin (144,26), in chlagaseˆre (144,28) – clagauuoft (HuH 44), in zoˆrne (145,10), in ursinnigheıˆte (145,11) – daz ursinnigliche zoˆrn (HuH 58). 38 AWB [Anm. 8], Bd. 3, Sp. 9.
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einerseits die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit Gottes, andererseits seine Unbeschreiblichkeit und entsprechen vergleichbaren lateinischen Unsagbarkeitstopoi mit der Vorsilbe in-. Diese vier Beispiele erscheinen als relativ schmale Gruppe, wenn man die zahlreichen Negationsbildungen heranzieht, die sich im zweiten Teil des Textes, in der wesentlich umfangreicheren Beichtformel finden.39 Zusammen mit weiteren un-Bildungen des Althochdeutschen auf diesem Gebiet40 handelt es sich hier um einige der frühesten Belege für ›negative Theologie‹ in deutscher Sprache. 6. Fünf Neubildungen bedienen sich der Verbindung mit we¨sen in der Substantivierung des Part. Präs. we¨sende. Sie entsprechen dem lateinischen Terminus substantia. Betrachtet man die gerade charakterisierten Wortbildungsmuster vor dem Hintergrund des in AWB und MWB erreichbaren Lemmabestandes, so ergibt sich folgendes, die Leistungen des anonymen Autors noch stärker profilierendes Bild: Die prominenten Verbindungen der Bildungstypen e¨bense¨lp- und einse¨lpgibt es nur in diesem Text, dasselbe gilt auch für die Bildungen mit unzesamene. Damit bleiben sie, bei aller kreativen Leistung ihres Schöpfers, letztlich die singulären Wortprägungen eines einzelnen, die keine Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben.41 Gerade die eigenständigen aber zugleich auch besonders eigenwilligen Bildungen vom Typ des Partizipialadjektivs we¨sende in Kombination mit e¨ben, ein oder se¨lp haben auf die Zeitgenossen möglicherweise zu schwerfällig gewirkt. Auch die Lemmata drıˆbenemede und drıˆnemede hatten keine Chance gegen die bereits etablierten Bildungen der Reihe drıˆvalt, drıˆvaltec, drıˆvaltecheit. Die geradezu sprachspielerischen Versuche immer feinerer Nuancierungen von Begriffen, die umkreisenden Annäherungen an vielschichtige Glaubensphänomene bleiben für die fachtheologische Auseinandersetzung ebenso wie die alltägliche religiöse Unterweisung oder den Pfarralltag den genaueren terminologischen Festlegungen anderer Prägungen unterlegen. Nichts lässt diesen Befund deutlicher hervortreten als der Vergleich des ‘Bamberger Glaubens’ mit dem ‘Wessobrunner Glauben’. Bei diesem Text der Hs. Wien cod. 2681 handelt es sich um eine wahrscheinlich für eine Nonnengemeinschaft 39 Von den über fünfzig auftauchenden un-Bildungen seien hier nur einige der im Mittelhochdeutschen sonst nicht nachgewiesenen Lemmata genannt: undiemuote (stF. 143,24), undienesthafte (stF. 143,1), unerhafte (stF. 144,37), unvernunstec (Adj. 144, 32), ungevridesame (stF. 145,24), ungemeinsame (stF. 145,27; 146,21), ungewizzede (stF. 144,33), unerbarmede (stF. 146,18), unredelıˆche (stF. 145,11), unschamede (stF. 147,9), unstætige (stF. 144,24), unstüemsame (stF. 145,26), unswangertuom (stM. 147,13), undarehafte (stF. 147,36), untroum (stM. 147,15), ununderscheidunge (stF. 145,3), unwolwillec (Adj. 146,18). 40 Vgl. Fuß [Anm. 14], S. 171 unbifanglih, unscouwentlih, unrahhaft, unerrahhotlih (unaussprechlich). 41 Zu diesem Phänomen vgl. die grundlegenden Überlegungen von Kurt Ruh, Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskaner-Mystik und -Scholastik, Bern 1956, hier S. 80 ff.
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gekürzte und bearbeitete Version des ‘Bamberger Glaubens’.42 Wenn McLintock knapp zusammenfassend notiert, »das streng Theologische ist fortgelassen«,43 so heißt das nichts anderes, als dass die gesamte in der voranstehenden Darstellung näher untersuchte Trinitätspassage des ‘Bamberger Glaubens’ gestrichen ist. Die in der theologischen Betrachtung detaillierte, sprachlich hoch ambitionierte Auseinandersetzung mit der Einheit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist erscheint für die Zielgruppe des bearbeiteten Textes als zu umfangreich, in ihrer inhaltlichen und sprachlichen Gestalt nicht zweckdienlich, ja unvermittelbar. Sämtliche Neologismen des Ausgangstextes finden sich so nicht mehr in der dieser doch ansonsten recht nahestehenden Bearbeitung.44 Fasst man die vorangehenden Überlegungen und Befunde zusammen, so sind sie von einem ursprünglich lexikographischen Ausgangspunkt her gesehen von geringem Interesse, sieht man von der Verbuchung der Hapax legomena als zusätzlichem Wortmaterial ab. In diesem Zusammenhang ist bereits die Dokumentation der einzelnen Bildeprinzipien das sprachhistorisch Interessantere, denn die in ihrer Bildeweise und Bedeutung überwiegend durchsichtigen Wortschöpfungen nach wenigen Standardmustern schaffen wenig unmittelbare Verständnisprobleme.45 Umso interessanter sind die Beispiele und Befunde für die Charakterisierung von ‘Bamberger Glauben und Beichte’ selbst, wie auch für seinen Verfasser und natürlich die Stellung des Textes im Gefüge der frühmittelhochdeutschen Literatur. Lexikographische Routinearbeit rückt so einen eher unbeachteten Text auf überraschende Weise wieder ins Zentrum des Interesses.
42 Vgl. McLintock [Anm. 1], Sp. 594. 43 Ebd. 44 Lediglich das drıˆnemede (135,26) klingt noch als dria genennede im Wessobrunner Glauben auf. 45 Es darf geradezu vermutet werden, dass ihr leichtes Verständnis sie so offensichtlich in ihrem Kontext erwartbar gemacht hat, dass ihr Charakter als Hapax legomena erst bei sorgfältiger Lektüre im Abgleich mit dem gesamten alt- und mittelhochdeutschen Wortschatz erkennbar wird.
hövesch Verwirrende Beobachtungen zur Genese der deutschen Hofkultur von Jürgen Wolf
Dass seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts die französische Literatur das Werden einer volkssprachlichen deutschen Literatur entscheidend mitgeprägt hat, gilt ebenso als Gemeingut wie die Feststellung, dass sich die deutsche Variante der ritterlichen Hofkultur aus französischen Quellen speist. Die Überlegungen kreisen dabei unter anderem um die sich anscheinend direkt entsprechenden afrz. und mhd. Fachtermini cortois und hövesch sowie das beiden zugrundeliegende lat. curialis. 1 Kurt Gärtner hat dazu mit seinem Beitrag »Stammen die frz. Lehnwörter in Hartmanns ‘Erec’ aus Chre´tiens ‘Erec et Enide’?«2 und dem neuen mittelhochdeutschen Wörterbuch3 entscheidende Hinweise gegeben. Man 1 Zum Wortfeld (und dessen lat. Basis: curia / curialis / curialitas) vgl. neben Lexer und BMZ grundlegend Peter Ganz, Der Begriff des ›Höfischen‹ bei den Germanisten, in: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 16–32 (mit Nachweis / Diskussion der älteren Literatur); Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, bes. S. 78–82, 425– 430; Peter Ganz, curialis / hövesch, in: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium 1983, hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986, S. 39– 56; Klaus Grubmüller, höfisch – höflich – hübsch im Spätmittelalter. Beobachtungen in Vokabularien I, in: wortes anst – verbi gratia. FS de Smet, hg. von Heinrich L. Cox et al., Leuven 1986, S. 169–181; Paul Gerhard Schmidt, Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der lateinischen Quellen, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. von Josef Fleckenstein (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 100), Göttingen 1990, S. 15–26; Ulrich Mölk, Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der romanischen Dichtung: Zu fr. cortois(ie)/pr. cortes(ia) im 12. Jahrhundert, ebd., S. 27–38; Peter Ganz, hövesch / hövescheit im Mittelhochdeutschen, ebd. S. 39–54 (hier werden die relevanten Passagen der ‘Kaiserchronik’ erstmalig im Sinn der vorliegenden Studie untersucht); Karlheinz Stierle, Cortoisie. Die literarische Erfindung eines höfischen Ideals, in: Poetica 26 (1994), S. 256–283; Johannes Laudage, Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit, in: Rittertum und ritterliche Welt. Unter Mitwirkung von Thomas Zotz hg. von Josef Fleckenstein, Berlin 2002, S. 11–35 (bes. S. 12–14 zu Hövescheit ) sowie allg. Thomas Zotz, Ritterliche Welt und höfische Lebensformen, ebd., S. 173–229. Nahezu allen Untersuchungen gemein ist allerdings, dass die frühesten bzw. problematischsten Belege aus der ‘Kaiserchronik’ keine Berücksichtigung finden und ›nur‹ eine Begriffsgeschichte aus der Perspektive der höfischen Klassik entwickelt wird. Einzig Ganz, hövesch / hövescheit hinterfragt Ursprünge und frühe Entwicklungen. 2 Kurt Gärtner, Stammen die frz. Lehnwörter in Hartmanns ‘Erec’ aus Chre´tiens ‘Erec et Enide’?, in: Sprachgrenzen, hg. von Wolfgang Haubrichs, LiLi 83 (1991), S. 76–88. 3 Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1 ff., hg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann, Stuttgart 2006 ff.
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hövesch
adaptierte offensichtlich nicht nur die französischen Stoffe und einen neuen literarischen Stil, sondern mehr noch die Vorstellungen von Rittertum und Hofkultur schlechthin. Ein Blick auf die schnell steigenden Zahlen frz. Fremd- und Lehnwörter in den deutschen Texten des 12. Jahrhunderts belegt dies eindrücklich. Nach einer scheinbar noch von frz. Einflüssen freien Entwicklungsphase im 11. und frühen 12. Jahrhundert (‘Ezzolied’, ‘Annolied’) zeigen sich bereits in Werken wie Lamprechts ‘Alexander’ und im ‘König Rother’ scheinbar größere frz. Einflüsse. Doch tatsächlich handelt es sich nur um punktuellen Fremdwortgebrauch und dann auch nur für exotische Dinge wie modische Stoffe und kostbare Edelsteine. Von einem prägenden frz. Einfluss auf die deutsche Hofkultur in Gänze kann in diesen Werken – und dies gilt selbst für den auf frz. Vorlage basierenden Alexanderroman – noch nicht gesprochen werden (Tabelle 1: 1. Phase). Vor diesem Hintergrund kann man durchaus mit berechtigten Gründen anzweifeln, dass die deutsche Hofkultur überhaupt auf frz. Fundamenten ruht: Sind es nicht vielleicht eher gemeinsame Wurzeln, aus denen sich die Entwicklungen im Westen wie im Osten speisen?4 Werk
Entstehung
Fremdwörter
‘Ezzolied’ ‘Annolied’ ‘Kaiserchronik’ Lamprechts ‘Alexander’ ‘König Rother’
um 1060 um 1080 1150 um 1150/60
0 0 10 21
um 1160
15
Charakteristika – 1 × turn (wohl mlat. Vorlage)? meist nur Einzelbelege fast nur Stoffe und Edelsteine; Einzelbelege fast nur Stoffe, Edelsteine und Turniertermini; Einzelbelege
Vorlage(n) – lat. lat. frz. ?
Tabelle 1: 1. Phase: Hofkultur ›deutsch‹ (Datenbasis: Palander 5 und eigene Untersuchungen)
Recht schnell dringen aber dann nach der Jahrhundertmitte neue, zunehmend frz. geprägte Vorstellungen von Hofkultur bzw. allem, was Hofkultur ausmacht, in die neu entstehende höfische Literatur. Bei genauerem Hinsehen wird man allerdings auch jetzt den frz. Einfluss nicht zu hoch veranschlagen wollen, denn weiterhin sind es primär Dingbezeichnungen und einige wenige ausgewählte Turniertermini, die frz. Diktion zeigen (Tabelle 2: 2. Phase).
4 Dezidiert auf die gemeinsamen Fundamente weisen die Untersuchungen von Schmidt [Anm. 1] zu Curia und curialitas im Spiegel der lateinischen Quellen und C. Stephen Jaeger, The origins of courtliness, Philadelphia 1985, dt. Ausgabe: C. Stephen Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter (Philologische Studien und Quellen 167), Berlin 2001. 5 Hugo Palander, Der französische Einfluss auf die deutsche Sprache im zwölften Jahrhundert, in: Me´moires de la Socie´te´ Ne´ophilologique de Helsinki 3 (1902), S. 75– 204 (Ndr. 1963), hier bes. S. 153 (‘Annolied’), 161–163 (‘Kaiserchronik’), 173 (‘Ezzolied’), 181 f. (‘Alexander’), 183 f. (‘Rother’).
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Jürgen Wolf Fremdwörter
Werk
Entstehung
‘Rolandslied’
1172?
39
‘Herzog Ernst’
1170/80
30
‘Graf Rudolf’
1170/80
18
Eilhart: ‘Tristrant’
1180
38
Heinrich v. Veldeke: ‘Eneas’ Hartmann: ‘Erec’
1170/85
70
1180
71
Hartmann: ‘Iwein’ ‘Nibelungenlied und Klage’
1190 1204
35 46
Charakteristika fast ausschließlich Stoffe, Steine, Turniertermini fast ausschließlich Stoffe, Steine, Turniertermini fast ausschließlich Stoffe, Steine, Turniertermini fast ausschließlich Stoffe, Steine, Turniertermini fast ausschließlich Stoffe, Steine, Turniertermini oft Stoffe, Steine, sehr viele Namen / Titel meist Turniertermini
Vorlage(n) frz. ? ? frz. frz. frz. frz. ?
Tabelle 2: 2. Phase: Erste französische Einflüsse (Datenbasis: Palander, 6 Gärtner 7 und eigene Untersuchungen)
Die neuen frz. Werke der Ritterkultur scheinen dabei aber wie das neue Lebensgefühl gleichsam über Nacht populär geworden zu sein. So übertragen beispielsweise – kaum dass sie auf der literarischen Bühne erschienen sind – der Pfaffe Lamprecht den ‘Alexander’ eines gewissen Alberich von Bisinzo (v. 13), der Pfaffe Konrad die ‘Chanson de Roland’, Eilhart von Oberge eine Tristan-Version, Heinrich von Veldeke den ‘Roman d’Eneas’ und Hartmann von Aue den ‘Erec’ und den ‘Iwein’ eines gewissen crestiens. Und den deutschen Dichtern gelingt es meisterhaft, die fremdländischen Rittergeschichten ebenso wie die antiken und karlischen Stoffe in die Welt der heimischen Höfe zu transferieren. Schon die Pfaffen Lamprecht und Konrad, aber mehr noch Heinrich von Veldeke, Herbort von Fritzlar, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Zatzikhoven beschreiben in ihren Werken, reich mit Biographieund Quellenfragmenten gespickt, entsprechende Szenarien des Kulturtransfers. Manchmal wird sogar die Genese des Werks von der französischen Quelle bis hin zur fertigen Übertragung minutiös nachgezeichnet. Entsprechende französische Vorlagen-Bücher gingen auf Reisen (so im ‘Lanzelet’ v. 9338 ff.), wurden verschenkt, verliehen (so im ‘Liet von Troye’ v. 92 ff.) oder geraubt (so im ‘Eneas’ v. 13444 ff.). Letztlich bleiben aber die genauen Hintergründe dieses mehrdimensionalen Stoff-, Wissens- und Kulturtransfers fast vollständig im Dunkel der Literaturgeschichte verborgen, denn die Autographen der Dichter sind wie ihre Vorlagen ausnahmslos verloren. Urkunden und Archivalien berichten 6 Palander, Der französische Einfluss [Anm. 5], hier bes. S. 138–147 (‘Erec’, ‘Iwein’), 156–159 (‘Rolandslied’), 177 f. (‘Graf Rudolf’), 185–187 (‘Herzog Ernst’), 188–191 (Eilharts ‘Tristrant’), 194–200 (‘Eneas’). 7 Gärtner, Lehnwörter [Anm. 2].
hövesch
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nichts von entsprechenden Aufträgen oder Rezeptionssituationen. Und über den Realitätsgehalt dessen, was uns die Dichter selbst in ihren Werken berichten, mag man trefflich streiten. Einen unmittelbaren Zugang zu einer historischen Realität – und das heißt zu einer mehr oder weniger französischen Hofkultur – erlauben letztlich nur die Texte selbst, wobei die genannten Adaptionen französischer Werke schon seit den 1160er Jahren ein weites Spektrum höfischer Werte, Normen, Lebensformen und reihenweise die Realien und Accessoires dieser neuen Hofkultur aufscheinen lassen. Bereits vor vielen Jahrzehnten haben Hugo Palander (Suolahti)8 und in seiner Nachfolge Emil Öhmann9 anlässlich ihrer Wortschatzuntersuchungen daraus messerscharf geschlossen, dass mit den Texten auch die französisch geprägte Hofkultur und eine französisch geprägte Hofsprache in den ›Wilden Osten‹ übertragen wurden. Ein Blick auf einen zentralen, Hofkultur fundierenden, allerdings von der germanistischen wie historischen Forschung sträflich vernachlässigten Text sollte allerdings zur Vorsicht mahnen, denn die ‘Deutsche Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen’ (KC )10 – auf die ich hier so pointiert anspiele – entfaltet bereits vorher, um 1150, umfangreiche Vorstellungen von Hofkultur, Rittertum und Turnierwesen, und sie kommt dabei fast vollständig ohne die vermeintlich typische, d. h. französische, Hof- und Turnierterminologie aus – was Hugo Palander zu Beginn des vorigen Jahrhunderts übrigens dazu veranlasste, ein so unfranzösisches Werk gleichsam in Bausch und Bogen wegen des »noch ausschliesslich volkstümlichen charakters« als »nicht sehr geeignet« zur »bildung der höfischen kreise« abzuqualifizieren.11 Das zeitgenössische Publikum sah es freilich anders. Die ‘Kaiserchronik’ wurde im späten 12. Jahrhundert noch vor den uns heute so überragend erscheinenden höfischen Klassikern eines Hartmann, Wolfram, Ulrich oder Gottfried zu dem richtungweisenden Literaturmodell schlechthin. Und sie blieb bis weit in das 13. Jahrhundert hinein ein oft kopierter und rezipierter ›Bestseller‹.12 Im Folgenden gilt es erstens diese irritierenden Beobachtungen rund um die so untypisch unfranzösische Hofkultur anhand einiger zentraler Termini in der ‘Kaiserchronik’ literar- und kulturhistorisch zu bewerten bzw. zu revidieren, 8 Palander [Anm. 5]. 9 Emil Öhmann, Der romanische Einfluß auf das Deutsche bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Deutsche Wortgeschichte. Bd. 1, hg. von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, 3. Aufl. Berlin / New York 1974, S. 323–396. 10 Zitierte Ausgabe: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, in: MGH Dt. Chron. I,1, Hannover 1895 [Ndr. 1964]; vgl. ergänzend zu den Lesarten versch. Fassungen bzw. Handschriften: Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18 578 Reimzeilen. Zum ersten Male hg. von Hans Ferdinand Massmann, Dritter Theil (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 4,3), Quedlinburg / Leipzig 1854. 11 Palander [Anm. 5], S. 92. 12 Nachweis der Gesamtüberlieferung (49 Textzeugen) im Handschriftencensus (http://www.handschriftencensus.de/werke/189).
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um in einem zweiten Schritt aufzuzeigen, aus welchen Reservoirs sich die Terminologie der höfischen Realien, Vorstellungen und Ideen denn um 1150 – also in vorfranzösischer Zeit – speisen und wie drittens vor dem Hintergrund einer intensiven Rezeption französischer Werke seit den 1160er Jahren eine ›neue deutsche Hofkultur‹ dann tatsächlich immer französischer wird. Da es hier natürlich unmöglich sein wird, das Höfische in der ‘Kaiserchronik’ und schon gar das Höfische in den nachfolgenden Klassikern insgesamt zu betrachten, mag der in der ‘Kaiserchronik’ überhaupt erstmals belegte und schließlich für das höfische Lebensgefühl der gesamten hochhöfischen Epoche zentrale Terminus hövesch 13 als Fixpunkt, aber auch als Exemplum dienen. I. Zweifel: Eine hövesche ‘Kaiserchronik’? Noch vor der Adaption der französischen Werke rund um die antiken Helden, um Karl den Großen, um Tristan und um König Artus ist es gegen 1150 die ‘Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen’, die eine neue Qualität volkssprachig-deutscher Literatur markiert. Spätestens jetzt formuliert man im Reich konkrete Vorstellungen von ritterlich-höfischer Lebensart. Selbst das überhaupt erst seit den 1130er Jahren belegte Turniertreiben scheint – als rıˆterlıˆch spil – schon eine feste Größe.14 Dieser Hof- und Turnieralltag scheint in der ‘Kaiserchronik’ 13 Vgl. BMZ I, 701 f. und Lexer I, 1367 f. (samt aller Ableitungen / Varianten wie hövescheit, höveschen, höveschen, hövesch-lich, hövesch-lıˆche, hövesch-lıˆchen, hövisch, hövisch-) sowie die umfangreiche Belegliste zum neuen mittelhochdeutschen Wörterbuch http://www.mhdwb-online.de/lemmaliste.php (Stand 26. 6. 2010 = 201 Belege; ohne ‘Kaiserchronik’). 14 »Belege für Turniere liegen erst seit den Jahren um 1125/30 eindeutig und in zunehmender Dichte vor. Ein wichtiges frühes Zeugnis ist der Bericht Galberts von Brügge über den Grafen Karl d. Guten von Flandern († 1127). Er pflegte mit einem Gefolge von Rittern die Turniere in der Normandie, Frankreich und selbst in Gegenden außerhalb des Königreichs zu besuchen, was ihm hohes Ansehen eintrug. 1130 untersagte das Konzil von Clermont (Auvergne) die Abhaltung jener abscheulichen Märkte oder Jahrmärkte, auf denen die Ritter sich nach ihrer Gewohnheit zusammenfinden, um ihre Kräfte und ihre Kühnheit zu messen, was oft zum Tode von Männern und zu großer Gefahr für die Seelen führt. Diese kirchliche Verurteilung wurde vom Papsttum erst 1316 aufgehoben«. Das Turnier findet schon bald nach seiner Entstehung von Frankreich aus über den niederlothring. Raum als kulturelle Kontaktzone seine Verbreitung nach Deutschland (Mitte 12. Jh.), wobei die dt. Bezeichnung (tornament, turnir, turnei u. ä.) der frz. folgt (Ph. Contamine / A. Ranft / F. Cardini / P. Schreiner, Art. Turnier, in: LMA 8 (2000), Sp. 1113–1118, Zitat Sp. 1114). Für die hier verfolgte Fragestellung grundlegend ist, dass in der ‘Kaiserchronik’ für das Turniertreiben eben nicht die modernen frz. Lehnworte, sondern stets der alte Begriff spil (rıˆterlıˆch spil) verwendet wird; zu Ritter und Turnier vgl. grundlegend Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert. 2. Aufl. mit einem Anhang zum Stand der Ritterforschung 1976, Heidelberg 1977; Das Rittertum im Mittelalter, hg. von Arno Borst (Wege der Forschung 349), Darmstadt 1976 und darin insb. Georges Duby, Die Ursprünge des Rittertums, ebd. S. 349–369 (zuerst
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mit dem angeblich nach französischem Vorbild geprägten neuen Fachterminus hovesc bereits hochmodern französisch umschrieben zu sein. Jedenfalls taucht das Adjektiv in vielen höfischen Szenerien anscheinend ganz selbstverständlich auf. Doch das nur wenige Jahrzehnte später in den höfischen Klassikern so vertraute Attribut für Hofkultur schlechthin bedeutet beim Kaiserchronisten partiell etwas anderes. Der Kaiserchronist nutzt den Terminus ausschließlich in Verbindung mit schönen vrouwen. Soweit noch nichts Besonderes, denn schöne Frauen gehören unbedingt zur Hofkultur. So schaut vil manic hovesc frowe (KC v. 4351)15 zu bei manic rıˆterlıˆch spil (KC v. 4350). An anderer Stelle duo ıˆlten alle di hovesken frowen/oben an di zinnen um den König ze scowen (KC v. 4567 f.). Auch kümmern sich vrouwen hovesc unde kuone (KC v. 4614) um den ritterlichen Conlatinus. Noch scheint die Verwendung des Begriffs auch aus der Perspektive der hochhöfischen Klassik vertraut.16 Es handelt sich jeweils um Personen, denen mittels des Attributs hövesch ideale Eigenschaften zugeordnet werden. Man könnte hier an Schönheit, Tugendhaftigkeit, höfische Idealität und Vorbildlichkeit denken. Bemerkenswert ist, dass der Begriff eine auffällige geschlechtsspezifische Zuordnung zeigt: Allein Frauen dürfen hövesch sein. Zweimal erscheint der Zentralbegriff der Hofkultur hovesc bzw. genauer: das Verb hovescen, allerdings auch bei Männern. Er wird eingesetzt, um König Heinrich den IV . adäquat – man möchte meinen, höfisch-vorbildlich – zu beschreiben. Von ihm heißt es – und diese Stelle bieten auch die Wörterbücher:17 König Heinrich IV . rait hovescen in diu lant (KC v. 16555). An der besagten Stelle steht das Verb hovescen 18 nun aber nicht in einem höfisch-idealen Kontext, schon gar nicht umschreibt es ein höfisch-positives Lebensgefühl. Die so
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erschienen 1968); Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums, hg. von Josef Fleckenstein (Veröffentlichungen des MPI Göttingen 80), Göttingen 1985; Bumke, Höfische Kultur [Anm. 1]; Rittertum und ritterliche Welt. Unter Mitwirkung von Thomas Zotz hg. von Josef Fleckenstein, Berlin 2002 und darin bes. Thomas Zotz, Ritterliche Welt und höfische Lebensformen, ebd. S. 173–229; Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit, hg. von Johannes Laudage und Yvonne Leiverkus, Köln et al. 2006. Zur Stelle vgl. Laudage [Anm. 1], S. 13, der hier (und an einer weiteren KC -Stelle v. 14788–14802) sicher zu Recht eine Entwicklung aus der neutralen Bedeutung »zum Hof eines Herren gehörig« hin zur höfischen Idee (curialitas) erkennt. Die hier zu diskutierenden problematischen ‘Kaiserchronik’-Stellen nennt und diskutiert Laudage allerdings nicht. Lexer I,1367 übersetzt »zu einem hofe gehörend« bzw. »hofgemäss, fein gebildet u. gesittet, courtois allgem.« BMZ I,703 bietet dementsprechend »dem hofe gemäß, fein gebildet und gesittet, das gegentheil von roh, gemein, gefühllos.« BMZ I,701 und Lexer I,1367 jeweils zu dem Verb höveschen (»sich galant unterhalten mit, den hof machen, hofieren«); vgl. die Belegliste zum neuen mittelhochdeutschen Wörterbuch http://www.mhdwb-online.de/lemmaliste.php (Stand 26. 6. 2010 = 6 Belege; 2 × aus der ‘Kaiserchronik’); dezidiert untersucht werden die relevanten Passagen ausschließlich bei Ganz, hövesch / hövescheit [Anm. 1], bes. S. 40 f. Denkbar wäre hier allerdings auch ein adverbialer Gebrauch?
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umschriebene Charakteristik höfischen Tuns steigert ganz im Gegenteil eine direkte Reihe mit überaus negativ konnotierten Verben, Adjektiven und Nomen wie vergen, versmehen, hoˆnen, rouben, unkuˆse, spot und roub. Doˆ wuohs der chunich Hainrıˆch: vil harte versuˆmte er sich, hart er sich vergaˆhte. die vursten er versmaˆhte, er bespotte ie die edelen, den wıˆstuom liez er im enfremeden, unkuˆsce er sich underwant: er rait hovescen19 in diu lant, er hoˆnde di edelen frouwen, die sıˆne liez er rouben. (KC v. 16548–16557)
Alles Üble, das überhaupt verbalisiert werden kann, wird über Heinrich ausgegossen. Und das schlimmste scheint – denn es ist der letzte Part dieser sich negativ steigernden Reihe, dass er rait hovescen.20 Man fühlt sich hier unmittelbar an die klerikale Hofkritik erinnert, wie sie im zeitgenössischen Kontext nicht nur breit diskutiert, sondern von klerikaler Seite offensiv propagiert wird.21 Ähnlich negativ ist die zweite relevante Belegstelle konnotiert: Ze aller jungest kom iz sus, daz der chunich Justinjaˆnus gehofescet mit ainer frouwen: die beslief er tougen. ir man der hiez Marcellus, sıˆn pruoder hiez Theodoˆsıˆus. als er vraiscte daz, daz im daz wıˆp gehoˆnet was, er sprach in sıˆnem muote. sam mir got der guote! (KC v. 13039–13048)
Sind das hovescen bzw. Hofkultur allgemein in den Augen des Kaiserchronisten also etwas Verwerfliches? So pauschal sicher nein – denn an vielen Stellen wird das höfisch-ritterliche Treiben durchaus mit Sympathie nachgezeichnet, und wo 19 Die Münchner Handschrift Cgm 37 aus dem 14. Jh. hat hobschen (vgl. KC S. 380, Anm. i zur Stelle); zur Elimination des Begriffs (wegen der später ungebräuchlichen negativen Ausprägungen) in den Fassungen B und C der ‘Kaiserchronik’ s. u. S. 373 f. 20 Vgl. zur negativen Zeichnung Heinrichs IV . allg. Dagmar Neuendorff, Studien zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9.– 12. Jahrhunderts (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholmer Germanistische Forschungen 29), Stockholm 1982, S. 110–113 und Monika Pohl, Untersuchungen zur Darstellung mittelalterlicher Herrscher in der deutschen Kaiserchronik des 12. Jahrhunderts. Ein Werk im Umbruch von mündlicher und schriftlicher Tradition, Diss. masch. München 2004, S. 267–271. Pohl und Neuendorff sprechen (jedoch ohne direkte Bezugnahme auf die herausgehobene Passage) zutreffend von einem »Lasterkatalog«. 21 Zahlreiche Beispiele bei Schmidt [Anm. 1], der ebd. S. 19 mit Peter Ganz darauf hinweist, »daß das Wort curialis bis zum Jahr 1200 vorwiegend negativ gefärbt ist.«
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immer hovesc auf vrouwe trifft, umschreibt es etwas durch und durch Positives. Aber der später so geläufige Zentralbegriff der höfischen Idee hat in dieser frühen Zeit im maskulinen Kontext eine andere Bedeutung. Man müsste ihn hier wohl als ‘weibisch handeln’, vielleicht sogar als ‘verweichlicht tun’ übersetzen. hovesc durften um 1150 nur die Frauen sein, und höveschen durfte man als Mann schon gar nicht. Männer, Ritter, wären damit aufs Schlimmste abgewertet.22 Oder hatte der Kaiserchronist vielleicht nur keine Ahnung von rechter Hofkultur und war nicht auf der Höhe der Zeit? Ein solcher Befund würde zwar hervorragend zur eingangs zitierten Vermutung Palanders passen, dass die ‘Kaiserchronik’ ein Werk »noch ausschliesslich volkstümlichen charakters« und damit »nicht sehr geeignet zur Bildung der höfischen Kreise« sei – doch weit gefehlt. Ganz im Gegenteil scheint der Kaiserchronist dezidiert über die Details von Hofkultur, aber vor allem auch über deren negative Seiten Bescheid zu wissen. Und er steht mit dieser Sichtweise keinesfalls alleine. So sind Nigel von Longchamps in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts durchaus zeittypisch »curia und curialitas Synonyme für Verworfenheit, Geldgier, Ehrgeiz und Lüge.«23 Ganz so weit geht der Kaiserchronist zwar nicht, doch sein Verständnis von Hofkultur ist ebenfalls von dieser klerikalen Skepsis geprägt. So überrascht nun auch nicht mehr, dass uns – wie nicht zuletzt auch und gerade der ambivalente Gebrauch der Termini hovesc und höveschen zeigt – bei ihm um 1150 noch ein zumindest nuanciert anderes Begriffsinventar und ein anderes (noch weitgehend klerikal geprägtes) Bedeutungsspektrum begegnet, als wir es dann in der französisch geprägten höfischen Blütezeit vorfinden werden. Der Kaiserchronist – ein Geistlicher – hat gegenüber der aufblühenden Hofkultur qua seiner klerikalen Prägung, d. h. geradezu selbstverständlich, erhebliche Vorbehalte und formuliert diese offensichtlich im Sinne seines im Prolog formulierten didaktischen Auftrags. Er weiß aber auch dezidiert über Hofkultur Bescheid; er kennt die feinsten Nuancen ihrer Ausprägung; er kennt die Gegenstände, Praktiken und Denkmodelle; er nutzt ein ausgefeiltes Vokabular zu deren Beschreibung, doch französisch ist all dies gerade nicht:24 Die deutsche (Literarisierung von) ›Hofkultur‹ ruht um 1150 auf unfranzösischen Fundamenten. 22 Man möchte hier hinsichtlich Bedeutung und Intention der Aussagen an die Ritterkritik Walthers von der Vogelweide denken, der L 80,19 von wıˆblichen man (weibischen Männern) und pfaflıˆchen rittern (pfäffischen Rittern) spricht. 23 Schmidt [Anm. 1], S. 20. 24 Man wird hier zu bedenken haben, dass sich entsprechende Vorstellungen und Termini im Westen auch erst gerade jetzt (um 1150) zu entwickeln beginnen. In den frühen Chanson de Geste, im ‘Roman de Brut’, im ‘Roman de The`bes’ und bei den provenzalischen Trobadors finden sich zwar schon die später prägenden Begriffskonstellationen, aber es sind »allenfalls gewisse Konturen eines Normsystems erkennbar, dem noch das Zentrum fehlt«; vgl. mit zahlreichen Beispielen Mölk [Anm. 1] (Zitat S. 30).
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Zur Verdeutlichung dieses Phänomens seien kurz einige wenige, aber charakteristische Beispiele für die weit entwickelte, aber eben völlig unfranzösische Hof- und Ritterkultur in der ‘Kaiserchronik’ aufgezeigt: Bereits in der einleitenden Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Römer an bestimmten Festtagen (KC v. 107–185) begegnen detailreiche Schilderungen höfischen Turniertreibens. Zum Montag heißt es beispielsweise: soˆ wæfente sich elliu rıˆterscaft mit helmen unt mit halspergen, ... scilt unt swert in den handen ir ros si ze wette ranten. soˆ samenten sich die frouwen ir scoˆne spil25 ze scowen (KC v. 110–116)
Und am Samstag: si ˆılten uˆz an daz velt, vil michel wart ir gelpf von buˆhurt und von springen, von tanzen und von singen. (KC v. 179–182)
Später erfährt man, dass zu Caligulas Zeiten auf Geheiß von Jupiter ain edel rıˆter für ein Reiterstandbild als Vorbild genommen werden sollte, und zwar mit rossechleit unt mit van (KC v. 1143). Das rossechleit kennen nur ‘Kaiserchronik’ und ‘Rother’. Später wird man von covertiure sprechen. Auch war bekannt, daz ze Biterne wære guoter knehte also vil manic rıˆterlıˆch spil,26 (und) vil manic hovesc frowe. (KC v. 4348–51)
und dass sie dort redeten von vehten, von scoˆnen rossen und von guoten hunden si redeten von vederspil von ander kurzewıˆle vil si redeten von scoˆnen vrouwen daz si die gerne wollten scouwen (KC v. 4420– 4428)
Sieht man einmal ab von dem in der ganzen Chronik überhaupt nur einmal belegten buˆhurt, begegnet in diesen vielfältigen Beschreibungen höfischen Treibens kein einziges frz. Fremdwort. Selbst den für das ritterliche Turniertreiben entscheidenden Fachterminus turney oder turnieren kennt erst eine ‘Kaiserchronik’-Handschrift aus dem 14. Jahrhundert. Um höfisch-ritterliche Kultur zu beschreiben, reichten dem Kaiserchronisten um 1150 also die einheimischen Termini aus, auch wenn uns französisch25 Hier: Turniertreiben. 26 Hier: rıˆterlıˆch spil = Turniertreiben.
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hochhöfisch geprägten Philologen Begriffe wie sperwehsel (v. 5287),27 rossechleit (v. 1143)28 oder eine Turnierbeschreibung mit rossen, die die Ritter ze wette ranten (v. 114), suspekt erscheinen mögen. Dass der turney beharrlich mit spil umschrieben wird, irritiert ebenfalls, doch der Kaiserchronist weiß dennoch sehr genau Bescheid über höfische Sitten, Turniere, um rıˆterscaft, tanzen und um die hovescen frouwen. Doch französisch ist diese höfisch-ritterliche Lebensart um 1150 nicht – noch nicht. Parallele Befunde gibt es bezeichnenderweise im ‘König Rother’. Da der Kaiserchronist wie der ‘Rother’-Dichter keine französischen Vorlagen benutzt hat, sollten sich die Kenntnisse der vom Westen geprägten Hof- und Turnierkultur aus anderen, wohl mündlich-umgangssprachlichen Quellen – sprich: persönlichen Kontakten – oder aber aus ganz anderen Kulturzusammenhängen (wohl nicht zuletzt auch aus der klerikalen Hofkritik29) speisen. Ich denke hier an die weit entwickelte Hofkultur der episcopi curiales und die Kreuzzugskultur. Für ›außer‹- oder ›vorfranzösische‹ Ausprägungen von Hofkultur spricht auch der Befund zu der ‘Alexander’-Übertragung des Pfaffen Lamprecht,30 wo sich trotz einer frz. Vorlage auch nur der kleinste Teil der sowieso nur wenigen frz. Termini direkt aus der frz. Vorlage herleiten lässt (s. o. Tabelle 1). Es sind in der Regel gerade keine höfischen Fachtermini, die in Form frz. Fremdwörter auftauchen, sondern ausschließlich Realien: exotische Stoffe und Edelsteine. hövesch (und alles drum herum) ist allerdings bereits ohne Einschränkungen positiv konnotiert: Du weˆre vil milde, gevoˆge zoˆ dıˆnem schilde, getruˆwe unde waˆrhaft, hubisch unde eˆrhaft, wol geborn unde rıˆche. (Alexander v. 3804–3808) Undir in ne was nehein, si ne phleˆge scoˆner hubischeit. Si waˆren mit zuhten wol gemeit unde lacheten unde waˆren froˆ (Alexander v. 5280–5283) soˆ stunden daˆr an einen rinc tuˆsint jungelinge von irn ingesinde, di plaˆgen hubischeite vile mit allir slahte seitspile (Alexander v. 6034– 6038)
27 Speerfliegen im Kampf; sonst nur noch belegt in ‘Kudrun’ und ‘Lanzelet’. 28 Pferdedecke (entspricht dem späteren covertiure); sonst nur noch im ‘König Rother’ belegt (Rother v. 404). 29 Zum breiten ebenda benutzten höfischen Begriffsinventar vgl. Schmidt [Anm. 1] mit zahlreichen Beispielen. 30 Zitierte Fassung: Lamprechts Alexander; nach den drei Texten, mit dem Fragment des Alberic von Besanc¸on und den lateinischen Quellen hg. und erklärt von Karl Kinzel (Germanistische Handbibliothek 6), Halle a. S. 1884.
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II. Reservoirs Die Befunde zu den frühen höfischen Texten lassen erkennen, dass man im deutschen Sprachraum spätestens um die Mitte des 12. Jahrhunderts mit den Entwicklungen rund um eine neue Ritter- bzw. Hofkultur vertraut war. Und diese realhistorischen Veränderungen waren längst auch literarisch geworden. Um den Spezifika der neuen Lebensart gerecht zu werden, griff man aber in der Regel auf heimische Termini und Vorstellungen zurück. Die ‘Kaiserchronik’ belegt eindrücklich, dass man mit diesem Begriffs- und Wissensinventar sehr gut das neue Lebensgefühl und die neuen Moden fassen konnte. Und wo das heimische Begriffsinventar einmal nicht ausreichte, umschrieb man neuartige Dinge einfach. Bei den Rittern, die ihre Pferde im Turnier gegeneinander rennen ließen – die ›höfischen‹ Altgermanisten hätten jetzt das treffliche Fremdwort tjost parat –, oder den umständlich mit allen möglichen einzeln aufgeführten Aktivitäten als spil beschriebenen Turnieren – dort gäbe es den Terminus turney – und dem rossekleit, das wir als kovertiure kennen, scheint dies durchaus treffend gelungen, auch wenn wir in den hochhöfischen Texten nur wenige Jahrzehnte später nie wieder von solchen Ritterkämpfen, Turnieren oder Pferdekleidern hören werden. Wenn gelegentlich schon einzelne frz. Lexeme wie buˆhurt oder tanzen auftauchen, dürften sie aus literaturfernen Zusammenhängen stammen. Überhaupt scheint der Kulturtransfer in diesem Zusammenhang schrift- bzw. buchunabhängig zu verlaufen, denn selbst als frz. Texte bereits präsent sind, übernimmt man die buchgestützten französischen Wörter eben gerade nicht. Zudem scheint sich die deutsche Vorstellung von Hofkultur in einigen – durchaus entscheidenden – Nuancen von der französisch-anglonormannischen unterschieden zu haben, wie die Beobachtungen zum Wortfeld ›höfisch‹ belegen. Dennoch ist mit Lamprechts ‘Alexander’-Übertragung bereits kurz nach der Jahrhundertmitte der Weg in eine französisch geprägte Vorstellung von Hofkultur beschritten. Doch ganz offensichtlich konnte oder wollte Lamprecht das deutsche Publikum – noch – nicht mit einer zu modernen, nur schwer verständlichen, frz. geprägten Sondersprache traktieren. Er verließ sich deshalb wie der Kaiserchronist und der ‘Rother’-Dichter – gegen die Angebote der frz. Vorlage – auf die Möglichkeiten der heimischen Sprache. Ließe sich diese sprachliche Vorsicht bei ihm mit der Modernität der Materie erklären, so erscheint eine solche Erklärungshypothese spätestens bei Hartmanns Chre´tien-Übersetzungen problematisch, denn französische Werke gehörten mittlerweile zum Standardrepertoire auch im wilden Osten. Die Pfaffen Lamprecht und Konrad sowie vor allem Heinrich von Veldeke hatten bereits intensive Vorarbeiten geleistet. Französische Literatur, französische Kultur und französische Lebensart waren zumindest an den bedeutendsten Höfen im Reich aktiv präsent. Dennoch verzichtete Hartmann bei seiner ‘Erec’-Übertragung auch noch um 1180 wie drei Jahrzehnte zuvor der Kaiserchronist und der Pfaffe Lamprecht darauf, die im Chre´tienschen Text gleichsam angebotenen frz.
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Fachtermini grosso modo als Fremdwörter zu übernehmen. Doch die Situation in den 1180er Jahren hatte sich bereits grundlegend verändert. Hartmann verzichtete zwar auf Chre´tiens soziolektale Lexik, verwendet jedoch frz. Fremdwörter nun durchaus in signifikanter Dichte, allerdings primär dort, wo er eigenes Gedankengut bzw. eigenes Wissen beisteuert; er also gerade nicht seiner frz. Vorlage folgt. Es handelt sich übrigens fast ausschließlich um Rüstungs-, Stein- und Stoffbeschreibungen sowie Namensattribute (s. o. Tabelle 2) und nicht um für das Verständnis des höfischen Treibens relevante Speziallexik. Hartmann bietet dem Publikum im ‘Erec’ also einen Text, der, anders als es Palander und Öhmann vehement formulieren, eben gerade nicht grosso modo mit französischen Elementen durchsetzt ist, sondern ganz im Gegenteil nur an wenigen neuralgischen Punkten eine französische Aura aufruft, und zwar mittels Kleidung, Turniertermini und vor allem: Namen. Und zurückgegriffen wird dabei nahezu ausschließlich auf solche Wörter, die bereits eingeführt waren. Die Intentionen eines solchen Vorgehens offenbaren sich bei den frz. Namensattributen, die Hartmann im Erec geradezu exzessiv und sogar weit über die Angebote seiner Vorlage hinaus einsetzt. Letztlich erscheint der Erec damit, aber nur dort, fast französischer als Chre´tien selbst. Offensichtlich konnte er bei dem Namenmaterial seinem Publikum mehr Französisch zumuten bzw. genauer: hier brauchte das Publikum nicht genau zu verstehen, was der spezielle Ausdruck bedeutete. Nebenbei bemerkt: genau dort finden wir auch zahlreiche Missverständnisse beim Dichter selbst.31 Die Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass Hartmann einerseits souverän mit seinen frz. Vorlagen umzugehen vermochte, er andererseits das Publikum nicht überfordern wollte. Die Hintergedanken eines solchen Verfahrens scheinen klar: Ein Mehr von dem französischen Wortmaterial bedeutete ein Plus an hoevescheit – jetzt im Sinn des vertrauten Bedeutungsspektrums, denn selbstverständlich konnte nun nicht nur eine edle maget hövsch (Iwein32 v. 1417) sein, sondern selbst der beste aller Ritter:33 her Gaˆwein was der hövschste man / der rıˆters namen ie gewan (Iwein v. 3037 f.). Wobei zumindest erwähnt sein soll, dass das Lexem anders als im ‘Iwein’, wo es häufig und geschlechtsübergreifend verwendet wird, im ‘Erec’ nur dreimal auftaucht. Lag etwa doch noch etwas vom alten ‘Kaiserchronik’-Makel auf dem Wort? Erecs Mahnung an den treulosen Grafen, sich nicht zu enthöveschen (Erec34 v. 4197) und Erecs Speerkampf 31 Einige prägnante Beispiele bei Gärtner, Lehnwörter [Anm. 2]. 32 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Werke. Vollständige Ausgabe. Bd. 2: Gregorius, Armer Heinrich. Iwein, hg. von Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters 6), Frankfurt a. M. 2004. 33 Ganz ähnlich wird das Attribut auch schon im ‘König Rother’ verwendet, wo Rother sich höchstselbst mit sinir hovischeit (Rother v. 3783), d. h. seiner vornehmen, edlen Art, um daz sconeste wif bemüht (v. 3780); zitierte Ausgabe: König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein, hg. von Ingrid Bennewitz (RUB 18047), Stuttgart 2000.
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gegen den bösen Riesen nach der hövesche geboˆt (Erec v. 5517) sprächen allerdings dagegen.35 Jedenfalls fällt auf, dass im ‘Erec’ alles nur in so weit französisch sein durfte, dass das Publikum nicht überfordert oder gar irritiert war. Hartmann scheint sehr genau auszutarieren, was sinnvoll, was machbar und vor allem, was dem Publikum zumutbar war:36 Seine französischen Lexeme spiegelten höfische Lebensformen wider, die angesichts der vielen frz. Namensattribute und frz. Fachbegriffe wohl besonders französisch wirken sollten, aber nicht zu französisch sein durften, oder – so bei den Namen – irrelevant für den Sinnzusammenhang waren. Von den ritterlich-höfischen Sitten im Westen und schon gar von den arturischen Gepflogenheiten hatte man wohl nur eine vage Ahnung. Dies würde auch erklären, warum sich Hartmanns ‘Erec’-Erzähler so sehr müht, ständig Personen, Orte, Begriffe und Handlungsmuster zu erläutern. Vielleicht sind dies, anders als in der Forschung vermutet, gar keine Fiktionalitätssignale, die Hartmann uns hier bietet, sondern der historischen Situation (d. h. dem erst allmählichen Kennenlernen der frz. geprägten Hofkultur) geschuldete Erläuterungen. Übrigens lässt unser Kaiserchronist seine Erzählerfigur auch geradezu exzessiv alle neuen Moden und Innovationen erläutern; wohl um die noch zu unerhörten Ausformungen der Hof- und Ritterkultur dem staunenden Publikum schonend beizubringen. Sie bedurften um 1150 und noch um 1180 offensichtlich der Erläuterung und der Erklärung. Im ‘Iwein’ um 1190/1200 sind solche Erklärungen nicht mehr nötig. Es reichen – z. B. bei der Kleidung – knappe Hinweise. Der Erzähler verschwindet. Das Publikum war mit Materie und Fachsprache vertraut. III. Termini und Ideen der ›neuen Hofkultur‹ Es stellt sich nun drittens die Frage, woher die zwischenzeitlich zunehmend stärker französisch geprägte höfisch-ritterliche Ideenwelt denn ursprünglich stammte, wenn nicht aus den übertragenen frz. Klassikern. Um diese Frage zu klären, soll der Blick noch einmal zurück zur ‘Kaiserchronik’ gehen, denn sie weist mit ihrer dichten Präsenz entsprechender Vorstellungsmuster gleich mehrere Wege: Einerseits kann sich das Wissen um eine neue Hofkultur angesichts der Quellenlage eben gerade nicht aus den frz. Texten speisen. Andererseits verwendet der Kaiserchronist bereits einige wenige genuin frz. Leitwörter der 34 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Aufl. bearb. von Kurt Gärtner (ATB 39), Tübingen 2006. 35 Weitere Beispiele bei Ganz, hövesch / hövescheit [Anm. 1]. 36 Vgl. grundlegend Palander [Anm. 5]; Bumke [Anm. 1], bes. S. 112–116; Ian Short, Patrons and Polyglots: French Literature in twelfth-century England, in: AngloNorman Studies 14 (1992), S. 229–249 sowie grundlegend zum Fremdwortgebrauch bei Hartmann von Aue Gärtner [Anm. 2].
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neuen Hofkultur, die seine Vertrautheit mit den neuen Moden und selbst der neuen französischen Begrifflichkeit dokumentieren. Die verschränkte Parallelität beider Phänomene erscheint zunächst widersprüchlich, erklärt sich aber wohl aus der Lebenswirklichkeit der als Produzenten und Rezipienten beteiligten Individuen. Die Dichter sind – zumindest in der für uns relevanten Frühphase – noch regelmäßig Litterati mit z. T. dreisprachig ausgebildeter Kompetenz.37 Ein solcher Typus von ›höfischen Litterati‹ begegnet in der Person eben jenes Kaiserchronisten. Auch der Pfaffe Konrad, Heinrich von Veldeke und Herbort von fritslar waren in beiden Welten zuhause. Und wenn sich Hartmann von Aue als rıˆter der geleˆret was stilisiert, trifft dies trotz der veränderten Vorzeichen wohl auch auf ihn zu. Und eine solche Form von Internationalität und Multikulturalität begegnet nicht nur im Gelehrten- und Dichtermilieu, sondern ebenso in hohen geistlichen und höfischen Kreisen – also bei den Auftraggebern der Dichtungen und den intendierten Rezipienten. Kenntnisse französischer Kultur und Sprache konnte man vielerorts bei Besuchen, Turnieren, Festen, höfischen Austauschprogrammen, dem Handel oder in Folge einer Heirat erwerben. So wissen wir beispielsweise von Heinrich dem Löwen (er war in zweiter Ehe mit der französischsprachigen Mathilde von England verheiratet), dass er König Ludwig VII . von Frankreich anbot, Edelknappen an seinem Braunschweiger Hof Land und deutsche Sprache kennen lernen zu lassen. Seinerseits schickte er Landeskinder an den Hof Ludwigs, wie ein Schreiben an den französischen König beweist. Und im englischen Exil wurde sein Sohn, der spätere Kaiser Otto IV ., selbstverständlich französisch erzogen.38 In diesem gleichsam internationalen Umfeld bedurfte die Hofkultur nicht der Umwege über das Pergament. Spätestens Ende des 12. Jahrhunderts ist eine solche, sich offensichtlich aus verschiedenen Traditionssträngen39 speisende Hofkultur 37 Einen umfassenden Überblick bietet Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992 (vgl. darin insb. den Einleitungsaufsatz Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Zum Rahmenthema des Regensburger Colloquiums: Ein Forschungsbericht, S. 1–18). 38 Ferner wissen wir etwa von Reinald von Dassel, seit 1156 Kanzler Kaiser Friedrichs I. und 1159 Erzbischof von Köln, dass er auf Deutsch und Französisch ebenso gewandt Reden hielt wie auf Lateinisch; der französischsprachige Graf Balduin V. von Hennegau schickte seinen Sohn an den Hof Kaiser Heinrichs VI ., ad discendam linguam Teutonicam et mores curis, um Deutsch und die Sitten des kaiserlichen Hofs zu lernen; die vier Söhne Landgraf Hermanns I. von Thüringen sollten nacheinander am Hof des französischen Königs Ludwig VII . eine umfassende literarische Bildung erhalten, wie ein Schreiben an den französischen König beweist; Hermann selbst weilte vielleicht während seiner Jugend in Paris; vgl. Bumke [Anm. 1], S. 604. 39 Grundsätzlich kann man mit einiger Berechtigung von einer seit der Mitte des 12. Jahrhunderts schnell wachsenden Begeisterung für die frz. Moden sprechen. Doch es ist Vorsicht geboten, speisen sich doch die gerade herausdestillierten ›frz. Moden‹ aus den selben gelehrt-lateinischen Traditionen, die auch im Reich schon seit mehr als einem Jahrhundert wirkmächtig präsent waren. Letztlich waren es die Bischofsviten,
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bereits in der Lebenswirklichkeit, in der Umgangssprache und in der Literatur gleichermaßen präsent. Und die neuen französischen Wörter beginnen – zunächst noch langsam, später rasend schnell – heimische Bezeichnungen und Umschreibungen zu verdrängen. Anfangs gilt dies nur für die ›harten‹ Realien: Stoffe, Kleidung, Edelsteine und Turnierpraxis. Der Anteil frz. Wortmaterials übersteigt weder bei den Pfaffen Lamprecht und Konrad noch bei Hartmann von Aue oder Heinrich von Veldeke wenige Prozent des Gesamtwortschatzes. Eine deutliche Französierung scheint aber bereits im Verständnis von Hof- und Ritterkultur vonstatten gegangen zu sein – nicht zuletzt sichtbar in der nun eindeutig positiven Ausprägung des Wortfeldes hövesch. »Im Mittelhochdeutschen wird das Adjektiv überhaupt bald zu einem Allerweltsbeiwort, das in den typisierenden Beschreibungen der erzählenden Literatur des dreizehnten Jahrhunderts die gesellschaftliche Vollkommenheit überhaupt bezeichnet. Die Helden sind alle hövesch unde vruot, hövesch unde wıˆs oder hövesch unde balt. hövesch beschreibt Aussehen, Kleidung und Benehmen, bedeutet Zugehörigkeit zur werlt, zur Gruppe derer, die zählen« und »hövescheit zeigt sich außerdem im Gebrauch französischer Ausdrücke oder dem Französischen nachgebildete Lehnübersetzungen oder -bedeutungen.«40 Analog zu dieser Begriffsentwicklung wird eine neue, letztlich überragende Qualität und Präsenz französischer Hofkultur schließlich in den um die Jahrhundertwende adaptierten höfischen Epen sichtbar. Der Anteil frz. Wortgutes explodiert nun geradezu (Tabelle 3).
Annalen, Gesten und Chroniken, die überhaupt erst konkrete Vorstellungen von Hofkultur etablierten, und zwar gleichermaßen hier wie da. Ich verweise exemplarisch auf die extrem höfische Zeichnung der Bischöfe Gunther von Bamberg († 1065) und Anno von Köln in den Annalen Lamperts von Hersfeld sowie die nicht weniger höfische Zeichnung Bischof Adalberos II . von Metz († 1005) in dessen Vita. 40 Ganz, hövesch / hövescheit [Anm. 1], S. 45 u. 49 f.
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hövesch
Werk
Entstehung
Fremdwörter
Herbort von Fritzlar: ‘Liet von Troye’ Ulrich v. Zatzikhoven: ‘Lanzelet’ Wolfram: ‘Parzival’ Wirnt v. Grafenberg: ‘Wigalois’ Gottfried v. Straßburg: ‘Tristan’ Wolfram v. Eschenbach: ‘Willehalm’ Heinrich von dem Türlin: ‘Croˆne’ Rudolf v. Ems: ‘Willehalm von Orlens’ Berthold von Regensburg: Dt. Predigten Rudolf v. Ems: ‘Weltchronik’ ‘Jüngerer Titurel’
nach 1190? 1190/1200? 1204 ff. 1210 1210 1210/20 nach 1225 um 1235/40 nach 1240 um 1250/54 vor 1272
110 110 385 120 220 280 380 190 mehr als 100 120 600
Vorlage(n) frz. frz. frz. ? frz. frz. frz. lat. ?
Tabelle 3: 3. Phase: französische Hofkultur (Datenbasis: Suolahti und Rosenqvist, 41 Öhmann, 42 Gärtner 43 und eigene Untersuchungen)
Das Französische dringt um/nach 1200 in alle möglichen höfischen Lebensbereiche vor. Wie omnipräsent das Französische jetzt, aber erst jetzt, ist, machen vor allem die Texte ohne frz. Vorlagen oder Quellen deutlich: ‘Der Jüngere Titurel’, die ‘Weltchronik’ Rudolfs von Ems und selbst die Predigten Bertholds von Regensburg bieten nun frz. Wortmaterial in hoher Frequenz. Waren es im 12. Jh. knapp 250 Fremdwortbelege (vorzugsweise Steine, Stoffe, Turniertermini), die sich vor allem in den Texten zur Jahrhundertwende nachweisen ließen, so erhöht sich die Zahl im Laufe des 13. Jh.s um über 700 Neubelege (jetzt auch aus den Bereichen Spiel, Speise, Musik, Medizin, Kriegstechnik, Möbel etc.) und im 14. Jh. noch einmal um rund 350 Neubelege (vgl. Palander/Suolahti, Rosenqvist, Gärtner, Öhmann, Lexer, BMZ etc.). Das Französische ist nun in der Lebenswirklichkeit u n d auf dem Pergament so allgegenwärtig, dass um die Mitte des 13. Jahrhunderts sogar die spöttischen Verse des Tannhäuser zur Überfremdung der deutschen Sprache nicht übertrieben scheinen: Ich hort da wol tschantieren die nachtegal toubieren alda muost ich parlieren ze rehte, wie mir waere: 41 Hugo Suolahti (Palander), Der Französische Einfluss auf die deutsche Sprache im dreizehnten Jahrhundert, 2 Bde. (Me´moires de la Socie´te´ Ne´ophilologique de Helsinki 10), Helsinki 1929 und 1933 sowie Arvid Rosenqvist, Der französische Einfluss auf die mittelhochdeutsche Sprache in der ersten Hälfte des XIV . Jahrhunderts (Me´moires de la Socie´te´ Ne´ophilologique de Helsinki 9), Helsinki 1932; vgl. ergänzend: Pekka Katara, Das französische Lehngut in den mittelniederdeutschen Denkmälern des 13. Jahrhunderts (Annales Acad. Scientiarum Fennicae 50), Helsinki 1942 und Pekka Katara, Das französische Lehngut in mittelniederdeutschen Denkmälern von 1300 bis 1600 (Me´moires de la Socie´te´ Ne´ophilologique de Helsinki 30), Helsinki 1966. 42 Öhmann [Anm. 9]. 43 Gärtner [Anm. 2].
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Jürgen Wolf ich was an alle swaere. Ein riviere ich da gesach: durch den fores ging ein bach ze tal über ein planiure. Ich sleich ir nach, unz ich si vant, die schoenen creatiure: bi dem fontane saz diu klare süeze von faitiure. (Tannhäuser III ,24 ff.44)
IV. Fazit Der viel zu schnelle Durchgang lässt erahnen, dass die vermeintlich triviale Frage nach der ideellen wie sprachlichen Dimension der deutschen Hofkultur so einfach nicht zu beantworten ist. Charakteristisch scheint zunächst, dass man im Reich lange vor der einsetzenden Adaption frz. Literatur über ein differenziertes Hofwissen und ein adäquates Begriffsinventar rund um die höfisch-ritterlichen Innovationen verfügte. Und dieses Wissen fließt einerseits schriftfern/schriftfrei über persönliche Beziehungen – jedenfalls über mündlich-individuelle Wege – in die sich herausbildenden höfisch-ritterlichen Vorstellungswelten ein. Gleichzeitig scheinen gelehrt-lateinische Traditionsstränge, wie wir sie in den höfischen Lebensbeschreibungen der episcopi curiales und einigen lateinischen Geschichtswerken greifen können, anfangs sogar die wirkmächtigeren Vorbildmuster gewesen sein. In der ‘Kaiserchronik’, dem ersten höfisch-ritterlichen Werk der deutschen Literatur, scheinen beide Facetten der Hofkultur literarisch umgesetzt, wobei der frz. Einfluss – wie im ‘König Rother’ und selbst in Lamprechts ‘Alexander’ – zunächst kaum sichtbare Spuren hinterlassen hat, ohne dass damit das Höfische an sich oder das hochmoderne Turnierwesen ausgeblendet wären. Die sich verfestigende Idee einer ritterlich-höfischen Lebenswelt wird dann in den folgenden Jahrzehnten zunehmend von französischen Lexemen geprägt, die sich jedoch weiterhin primär schriftfern, vielleicht sogar schriftlos, den Weg in die deutsche Sprache und das kulturelle Gedächtnis bahnen. Bis in die 1190er Jahre wird man allenfalls von einer moderat französisch geprägten deutschen Hofkultur und trotz aller französischen Adaptionen auch nur von einer begrenzt französisch geprägten Literatur bzw. Literatursprache sprechen wollen: Die Adaption entsprechender Lexeme erfolgt zurückhaltend, auf der Folie eigener, persönlicher und/oder von lateinischen Vorbildern geprägter Erfahrungshorizonte. Das Französische scheint dabei aber bereits so modisch-prägend, dass man vor allem Namensattribute, Stoffe, Steine und Ausrüstungsgegenstände frz. bezeichnete. Eine Vorliebe für frz. Schick wird deutlich sichtbar, allerdings ohne dass die Texte im engeren Sinn ›französisch‹ würden. Mehr oder weniger plötzlich ändert sich die Situation gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Zumindest lassen dies die sprunghaft ansteigenden Fremdwortzahlen 44 Zitiert nach Bumke [Anm. 1], S. 114 Anm. 9; vgl. Ganz, hövesch / hövescheit [Anm. 1], S. 50 f.
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und die viel dichtere Verwendungsfrequenz in den jetzt neu entstehenden höfischen Texten vermuten (Tabelle 3). Dabei scheint es letztlich unerheblich, ob eine französische Vorlage benutzt oder ob aus einem lateinischen oder volkssprachigen Quellen- bzw. Erfahrungsschatz geschöpft wird. Zu denken ist an den ganz konkreten Kulturaustausch im Umfeld der Kreuzzugsbewegungen und da insbesondere an die großen Mainzer Hoffeste, das Mainzer Schwertleitefest von 1184, den Mainzer Hoftag zur Kreuzzugsvorbereitung von 1188 sowie nicht zuletzt an den 3. Kreuzzug unter Kaiser Barbarossa (†1190) mit engl. und frz. Hauptstreitmacht. Vor einem solchen Hintergrund überrascht es nun auch nicht mehr, wenn selbst die alte ‘Kaiserchronik’ einen französischen Anstrich erhält: Ein Fortsetzer fügt Ende des 13. Jahrhunderts die längst überfälligen frz. Fachbegriffe wie tjost, vienttjost, banier, zendaˆl, hovieren und groˆzieren hinzu. Er beruft sich bei seinen Ergänzungen übrigens auf einen gewissen hern Wolfram von Eschenbach (KC Anhang II , v. 323). Wirklich überraschend ist dabei nur, dass diese Modernisierung erst so spät vonstatten geht, zumal schon um 1200 und noch einmal um 1250 Bearbeiter die ‘Kaiserchronik’ gründlich höfisch überarbeitet hatten, wobei sie unreine Reime getilgt, die Darstellung gestrafft und das Metrum geglättet hatten. Der eigentliche Chroniktext mit all seinen Turnieren, dem römischen Rittertum und der Hofkultur blieb jedoch beide Male ganz und gar unfranzösisch:45 Der erste, zu Beginn des 13. Jahrhunderts die ‘Kaiserchronik’ dezidiert höfisch überarbeitende B-Redaktor verzichtet vollständig auf die neuen frz. Fachtermini; und dies gilt nicht minder für die noch einmal 50 Jahre später, um 1250, ebenfalls unter höfischen Maximen überarbeitete C-Fassung der ‘Kaiserchronik’. Offensichtlich verstand man auch im neuen ‘französischen’ Hofzeitalter weiterhin die alten Termini bzw. Umschreibungen. Hinsichtlich der höfischen Geisteshaltung bzw. Idee von Hofkultur scheinen sich aber doch grundlegende Veränderungen vollzogen zu haben. So konnte man mit dem – jetzt merkwürdig negativ konnotierten – Verb hovescen nichts mehr anfangen. Vermutlich stand die alte Verwendung zu offensichtlich gegen den neuen Sprachgebrauch und die neue Idee von Hofkultur. Die reimtechnisch eigentlich schon in der A-Version perfekte Passage – und nur bei Reim- und Metrumdefekten greift der B-Redaktor nachhaltig ein – arbeitet der B-Redaktor wohl überhaupt nur aus diesem Grund vollständig um. Bei ihm heißt es nun – weiter dem Negativen der Situation entsprechend – aber ohne das jetzt falsch-negativ konnotierte hovescen: Der kvnich reit do in dem lande Mit rovbe vnd mit brande Di burge er in an gewan Er viench in die man Er tet in groze herzeleit (KC-B ; Wien, ÖNB , Cod. 2693, Bl. 110va) 45 Gab es etwa parallele Welten: französische und unfranzösische? Oder müssen wir uns eine höfisch-ritterliche Umgangssprache vielleicht sowieso viel weniger französisch vorstellen als die elaborierten Werke der bisweilen hoch gebildeten höfischen Dichter?
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Der C-Redaktor merzt den Begriff ebenfalls aus: Der Chvnic rait in dem lande / Mit raub vnd mit brande ... (KC -C, Wien, ÖNB , Cod. 2687, Bl. 88rb). Ähnlich steht es mit der zweiten Stelle zur ehelichen Untreue des chunich Justinjaˆnus. Das hier gleichfalls extrem negativ konnotierte hovescen (daz der chunich Justinjaˆnus / gehofescet mit ainer frouwen: / die beslief er tougen, KC v. 13039– 13041) wird in der B-Fassung zunächst durch eine kaum noch verständliche Form ersetzt: Daz der chvnig Justianus / Geheuschet 46 mit einer vrouwen / Se beslief er entruwen (KC-B ; Wien, ÖNB , Cod. 2779, Bl. 36ra), um in der C-Fassung endgültig eliminiert zu werden: Das Justinianus / Ein frauwen erwarp / Da von er auch verdarb (KC -C, Wien, ÖNB , Cod. 2687, Bl. 68va). Die alte Terminologie der ‘Kaiserchronik’ war offensichtlich nicht mehr verständlich, zwang die Redaktoren zur Modernisierung.47 Überholtes oder ›falsch‹ bzw. ›unverständlich‹ gebrauchtes Wortmaterial wurde dabei entweder ›überarbeitet‹ oder – wie hier in der C-Fassung – gleich komplett entfernt. Aber das wäre der Stoff für umfänglichere Untersuchungen, die von den Werkoberflächen auch in die Tiefen der Textüberlieferung und der Textvariance vordringen müssten.
46 Ist damit überhaupt noch der Wortstamm höveschen (Nebenformen: hübeschen, hübschen) gemeint? 47 Zur weiteren Bedeutungsentwicklung von hövesch / hübesch im 14.–16. Jahrhundert vgl. Grubmüller [Anm. 1] sowie mit internationaler (vorzugsweise frz. und ital.) Perspektive Stierle [Anm. 1].
Humoraler Wortgebrauch in der Prosavorrede zum deutschen ‘Macer’ (13. Jh.) von Thomas Gloning*
1. Einleitung Die Medizin des hohen Mittelalters ist geprägt von den antiken Anschauungen der Säftelehre, wie sie u. a. von Hippocrates, Galen und Dioscurides entwickelt und dargestellt wurden. Arabische Autoren wie z. B. Rhazes, Averroes oder Avicenna integrierten diese Anschauungen ab dem 9. Jahrhundert in ihre medizinischen Darstellungen, die seit dem 11./12. Jh. auch im größeren Stil ins Lateinische übersetzt wurden und in dieser sprachlichen Form weiterwirkten. Übersetzerschulen und Text-Zentren wie z. B. die in Salerno und Toledo spielten hierbei eine wesentliche Vermittlungsrolle.1 Diese textgeschichtlichen Entwicklungen stellen auch eine wesentliche Grundlage dar für spezifische Verwendungsweisen von deutschen Wörtern, die sich auf Aspekte der Vier-Säfte-Lehre beziehen und die in deutschsprachigen medizinischen Texten des 13. bis 18. Jahrhunderts in ziemlicher Breite zu belegen sind. Dagegen hatten Säftelehre und humoraler Wortgebrauch in den deutschsprachigen Texten des frühen Mittelalters, wie sie in der grundlegenden Arbeit von Jörg Riecke (2004) schwerpunktmäßig untersucht wurden, noch keine Bedeutung.2 Obwohl die Vier-Säfte-Lehre in der Medizingeschichte von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein eine beherrschende Rolle gespielt hat, sind ihre sprachgeschichtlichen und wortkundlichen Niederschläge im Deutschen kaum systematisch aufgearbeitet. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht der humorale Wortgebrauch in der Prosavorrede zur Vulgatfassung des deutschen ‘Macer’. Der Text ist nach den Angaben der Herausgeber wohl im frühen 13. Jahrhundert entstanden, er ist im 13. und 14. Jahrhundert handschriftlich sehr breit überliefert, in der Edition ist auch der Bezug zu den lateinischen * Für Hinweise, auch auf weiterführende Aufgaben, danke ich Iris Bons, Gerd Fritz und Ralf Plate sehr herzlich. 1 Siehe u. a. Bergdolt / Keil 2003; Böhme / Böhme 1996; Gundert 2005; Klibansky / Panofsky / Saxl 1992, S. 39–54 und passim; Schipperges 1970, bes. S. 84–115; Schöner 1964; Schönfeldt 1962; van Wageningen 1918. – Vgl. ferner Adamson 1995; Baader / Keil 1982; Baader 1974; Eckart 2009, Kap. 2–5; Flashar 1966; Gil-Sotres 1996; Gloning / Kaiser / Schapendonk 2005, Kap. 4.3.3; Schnell 2000; 2003; Scully 1985; 1995a; 1995b; Temkin 1973. 2 Vgl. Riecke 2004, Bd. 1, S. 140, 320 und 476 f. (»einen spezifisch diätetischen oder humoralpathologischen Wortschatz haben die Schreiber in der Volkssprache noch nicht gebildet«, S. 477).
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Quellen gut dokumentiert (Schnell/Crossgrove 2003, 60–83). Es folgen in Abschnitt 2 zunächst die Befunde zum humoralen Wortgebrauch in der Prosavorrede zum deutschen ‘Macer’, in Abschnitt 3 dann Überlegungen zu Formaten der Beschreibung humoraler Verwendungsweisen. 2. Humoraler Wortgebrauch in der Prosavorrede zum deutschen ‘Macer’ Die Prosavorrede im deutschen ‘Macer’ ist ein frühes, reichhaltiges und textuell verdichtetes Dokument zum deutschsprachigen humoralen Wortgebrauch.3 In diesem Textstück, das in der Ausgabe nur wenig mehr als eine Druckseite umfasst, sind zahlreiche Ausdrücke belegt, deren Verwendungsprofil von den Anschauungen der Vier-Säfte-Lehre geprägt ist bzw. deren Verwendungspotential für die Zwecke einer komprimierten Darstellung der Vier-Säfte-Lehre genutzt wird. Da es sich bei dieser Prosavorrede um eine Art von systematischer Kurzeinführung in die Vier-Säfte-Lehre handelt, erscheinen die einzelnen Wörter mit ihren spezifischen Verwendungsweisen gleichzeitig in bestimmten systematischen Zusammenhängen, sie lassen sich bestimmten Systemstellen der VierSäfte-Lehre zuordnen, deren Architektur und Aufbau im Folgenden mit dargestellt werden sollen. 2.1 Der Text der Prosavorrede Wir zitieren zunächst die Prosavorrede im Anschluss an die Ausgabe von Schnell und Crossgrove:4 [1] Swer der wurze nature unde ir craft irkennen wil, der muz wissen, daz di arztbuch sprechen von virhande naturen: di erste ist warm, di ander kalt, di dritte fuchte, di virde trocken. [2] Die arztbuch sagen von vier greten vor der nature. [3] Der nature erste grat ist, so man sprichet: »warm«. Der ander grat ist, so man sprichet: »wermer«. Der dritte grat ist, so man sprichet: »aller wermest«. [4] Der vierde grat ist, so man sprichet: »wermer denne aller wermest«. Also sult irs vernemen von den ander drin greten. [5] Ouch sagnt uns di arztbuch von den vier elementen. [6] Das erste element unde das hoeste, das heisset fiur. Das ander darnach luft, das dritte wasser, das vierde heiset erde. [7] Das viur, das erste elementum, das ist trocken unde heiser nature. [8] Di luft, das ander elementum, ist heiser unde viuchter nature. [9] Das wasser, das dritte elementum, ist viuchter unde kalder nature. [10] Die erde, das vierde elementum, ist kelder unde trokener nature. [11] Alsus habent sich dise viere elementa mit ir nature in ein ander geslossen. [12] Nach den vier elementin ist ouch das iar geschicket, das ist geteilet in vieri, nach den elementin. [13] Das eine vierde teil des iares heiset sumer unde ist trocken unde heiser nature unde gelichet sich dem viure. [14] Das ander vierde teil des iares heiset lenze, das ist heiser unde fiuchter nature, unde gelichet sich der lufte. [15] Das dritte vierde teil des iares ist winter unde ist chalder unde fiuchter nature unde gelichet sich dem wassere. [16] Das vierde viertel des iares heiset herbest unde ist kalder unde trokener nature unde gelichet sich der erden. 3 Vgl. Schnell / Crossgrove 2003, S. 61, S. 65 f. und S. 324–326 (Textabdruck). 4 Ausgelassen sind hierbei die Folio-Angaben der Leithandschrift, die Satznummern erscheinen in eckigen Klammern (im Original ohne eckige Klammern in Petitsatz).
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[17] Von den vieren habent ir nature alle gotes creature. [18] Unde der mensch hat der vier elementi aller ir ikliches ein teil an im, sumeliches me, sumeliches minner. [19] Wan der si alle viere an im hat, so heiset her in chrieschem »microcosmon«, das sprichet in o diutschem »di minner werlt«. [20] Ouch ist gut zu wissene, welch dinc von heiser nature ist, swi kalt is si, is beheldet doch siner nature craft. [21] So tut das von kalder nature in der hitze, das von trokener in dem nassen, das von nasser in dem trocken. [22] Di nature heiset sust: di erste heiset colera, di ist heis unde trocken; di ander heiset sangwis, di ist heis unde fiuchte; di dritte heisset flegma, di ist fiuchte unde kalt; di vierde heiset melancolia, di ist calt unde trocken. [23] Von dissen vier naturen ist geschafen alles, das in der werlde ist. [24] Nu sult ir wissen, das ich uch von den vier naturen unde von den vier greten der naturen unde von den vier elementin, durch das ich hie gesagt han: wan swer der wurze crapht wissen wil, der chan si irkennen nicht, her inwisse, was der wurze nature si, her inwisse ouch, was elementum si, wan si da von genaturet sint, als ir da vor habt vornumen. [25] Sint ich uch des berichtet han, so wil ich uch vort berichten von der wurze craft, so ich verriste kan; unde bite uch, unde swem icht gutes dar abe gesche, das ir mir o bitet unde wunschet gutes gegin gote, unde das selbe si min lon von uch.
2.2 Der humorale Wortgebrauch und seine Systemstellen Die zentrale Einheit für unsere Analyse ist eine Verwendungsweise (Bedeutungsposition, Lesart) eines Wortes.5 Die meisten der hier verwendeten Wörter sind systematisch mehrdeutig, zum Beispiel heiz oder kalt im Hinblick auf humorale bzw. physikalische Temperatur, die in P206 auch explizit unterschieo den wird: Ouch ist gut zu wissene, welch dinc von heiser nature ist, swi kalt is si, is beheldet doch siner nature craft. Frei paraphrasiert: »Weiterhin ist wichtig zu wissen: Die humorale Hitze eines Gegenstandes ist dauerhaft und ist unabhängig von der (wechselnden) physikalischen Temperatur des Gegenstandes«. Auch Wörter wie element, natur oder craft haben außerhalb des Systems der VierSäfte-Lehre andere Verwendungsweisen, hier geht es zunächst darum, die spezifisch ‘humoralen’ Gebrauchsweisen herauszustellen, sie im System der humoralen Überzeugungen der Vier-Säfte-Lehre zu verorten und dabei auch die textuellen Verfahren ihrer Einführung zu berücksichtigen. Ich gehe hierzu so vor: Ich formuliere jeweils einen Systembestandteil als Kurzthese, Grundidee, Grundannahme o. ä. und ordne der jeweiligen Systemstelle dann die Ausdrücke aus der Prosavorrede des ‘Macer’ zu. Es folgen insgesamt sieben Systemstellen, die teilweise mit Unterpunkten weiter aufgegliedert sind. Auf die Frage, wie man diese Verwendungsweisen einzeln oder im Zusammenhang semantisch beschreiben kann, gehe ich im Anschluss genauer ein. 5 Vgl. Hundsnurscher 1993; Fritz 2005, Kap. 3.1; Plate 2007, S. 83 f. – Die Ermittlung und Beschreibung von Verwendungsweisen ist auch im Verständnis von Kurt Gärtner eine der zentralen Aufgaben der Philologie: ». . . um so die Bedeutung von Sätzen und die Funktionen der Wörter in ihrem linguistischen und pragmatischen Kontext zu ermitteln« (Gärtner 2007, S. 16). 6 Nachweise der Form ›P20‹ beziehen sich auf die Textteile der in Abschnitt 2.1 wiedergegebenen Prosavorrede.
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(1) Eine erste Grundannahme setzt vier Elemente – Feuer, Erde, Wasser und Luft – als Grundbestandteile bzw. Grundprinzipien des Kosmos an. In lexikalischer Hinsicht bietet diese Grundannahme drei angelagerte Systemstellen. (1a) Bezeichnungen für die Kategorie des Elements selbst, die man mit folgender Formulierung erfragen kann: Feuer, Erde, Wasser und Luft sind im System der Säftelehre Arten von ... Der Ausdruck, der in der Prosavorrede gebraucht wird, ist mhd. element. Er wird in P5 zunächst als Oberbegriff eingeführt, in P6–12 dann teilweise in Aufzählungen weiterverwendet. Im Hinblick auf die Flexionsformen ist zu erwähnen, dass lateinische und deutsche Formen nebeneinander gebraucht werden. (1b) Eine weitere Systemstelle sind Bezeichnungen für das Vierer-Schema der Elemente, die wir unten im Abschnitt über die Ordnungsvorstellungen kommentieren, weil das Vierer-Schema nicht allein auf die Elemente bezogen werden kann. (1c) Das Kernstück der Systemstelle zu den Elementen stellen schließlich die mhd. Bezeichnungen für die Elemente selbst dar: fiur, erde, wasser, luft. Die Bezeichnungen werden zunächst in Aufzählungen der Kategorie des Elements zugewiesen, sie werden anschließend gebraucht, um die Elemente im Hinblick auf ihre humorale Natur zu charakterisieren. (2) Eine zweite Gruppe von Grundannahmen, mit der die Prosavorrede beginnt, ist die Einführung von Primärqualitäten und ihren Kombinationsweisen. (2a) Hierzu gehört zunächst die Annahme einer spezifischen humoralen Natur von Elementen, Pflanzen und Jahreszeiten, die durch die paarweise organisierten Primärqualitäten heiß/kalt und feucht/trocken bestimmt ist. Auf diese humorale Natur beziehen sich die Ausdrücke mhd. nature und genaturet sıˆn. Im Hinblick auf den Gebrauch von nature sind unterschiedliche, aber verwandte Lesarten zu belegen. Zum einen bezieht sich nature auf die einzelne Primärqualität (z. B. in der Verbindung virhande naturen, P1, so auch in P2–3, P8 u. ö.). Der erste Beleg in P1 scheint sich dagegen auf die Konstellation der Primärqualitäten zu beziehen. Darüber hinaus wird der Ausdruck nature in P22 und P23 in einer weiteren Lesart als Oberbegriff für die vier Säfte verwendet, dazu unten mehr. (2b) Die angenommenen vier humoralen Elementarqualitäten werden mit den mhd. Adjektiven warm/heiz, kalt, fiucht/nass und trocken bezeichnet. Hierher gehören auch die Steigerungsformen, die in P2– 4 bei der Besprechung der Intensitätsgrade von Primärqualitäten verwendet werden. Substantivische Bezeichnungen sind nicht belegt, der Gebrauch von mhd. hitze in P21 bezieht sich auf die physikalische Temperatur, die mit der humoralen Eigenschaft kontrastiert wird. (2c) Auch bei der Besprechung der humoralen Natur und der Elementarqualitäten wird wiederum ein Vierer-Schema (virhande, z. B. P1) genutzt, das wir unten besprechen. (3) Eine weitere zentrale Grundannahme besagt, dass mit der humoralen Natur und der Ausprägung der Primärqualitäten auch ein spezifisches Anwendungs- bzw. Wirkungspotential von Pflanzen verbunden ist, das für Heilzwecke
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genutzt werden kann. Der in der Prosavorrede gebrauchte Ausdruck für dieses Potential ist mhd. craft (P1, P25 crapht). Eine andere Deutungsmöglichkeit von craft ist die Verwendung zur Bezeichnung der einzelnen Primärqualitäten, die dann aber im Hinblick auf ihr Wirkpotential konzeptualisiert werden. Hier ist nicht klar zu entscheiden, ob die einzelne Primärqualität mit ihrem Wirkpotential oder das gesamte Wirk- und Heilpotential einer Pflanze als Zusammenspiel von Primärqualitäten gemeint ist. (4) Mit der Lehre von den Primärqualitäten ist in der Vier-Säfte-Lehre des ‘Macer’ die Annahme von vier Intensitätsgraden verbunden. Eine weitere Unterteilung dieser vier Grade in drei Teilbereiche, wie sie im ‘Liber de gradibus’/ ‘Liber graduum’ (11. Jh.) des Constantinus Africanus ausgeführt wird, ist in unserem Text nicht zu finden.7 (4a) Der zentrale Ausdruck, mit dem eine Intensitätsstufe in der Prosavorrede in allgemeiner Weise bezeichnet wird, ist mhd. grat ‘Stufe’. Im Zusammenhang der Vier-Säfte-Lehre ist diese Verwendungsweise spezialisiert und bezeichnet den Ausprägungsgrad, die Intensitätsstufe einer Primärqualität. (4b) Die sprachlichen Mittel, mit denen die einzelnen Intensitätsstufen zum Ausdruck gebracht werden, sind zum einen Aufzählungsmittel (erste, ander, dritte, vierde; P3– 4), deren Abfolge den skalar organisierten Intensitätsstufen entspricht. Für die Bezeichnung der ersten drei Intensitätsstufen werden die Steigerungsformen der Adjektive für die Primärqualitäten genutzt, die allerdings nur exemplarisch anhand von warm, wermer, aller wermest (P3) aufgeführt werden. Die Formulierung Also sult irs vernemen von den ander drin greten (P4) besagt, man solle dieses System des Gebrauchs von Steigerungsformen auch für die Grade der drei anderen Primärqualitäten anwenden. Eine Schwierigkeit besteht hierbei darin, dass das grammatische Dreier-System der Steigerungsformen nicht ausreicht, um das Vierer-System der Intensitätsgrade zum Ausdruck zu bringen. Für den vierten Intensitätsgrad wird im Text deshalb zum anderen eine Umschreibung genutzt, die den Vergleich mit der dritten Intensitätsstufe nutzt: wermer denne aller wermest (P4). (5) Eine weitere zentrale Grundannahme ist die Unterscheidung von vier Säften, die jeweils durch bestimmte Primärqualitäten charakterisiert sind und deren Ausprägung und Mischung für die einzelnen Bestandteile der Schöpfung bestimmend ist. (5a) Der Überbegriff, der für die vier Säfte verwendet wird, ist erneut nature (P22, P23), ein Ausdruck, der in anderem Zusammenhang auch für die Primärqualitäten und für die Konstellation der Primärqualitäten gebraucht wird. Mhd. nature in der Lesart von P22 und P23 würde also dem lat. humor entsprechen. (5b) Die vier Säfte selbst werden in der Prosavorrede mit den lateinischen bzw. latinisierten Bezeichnungen erwähnt: colera, sangwis, flegma, melancolia (P22). 7 Für diese Schrift sind wir immer noch auf die frühen Druckausgaben angewiesen. Ich benutze die Ausgabe in: Constantini Africani . . . opera . . . Basel 1536, S. 342–387.
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(6) Im System der Humoralpathologie sind auch die Jahreszeiten durch humorale Eigenschaften (und Wirkungen) geprägt. (6a) Die Darstellung der humoralen Bezüge der Jahreszeiten in der Prosavorrede (P12–16) umfasst zunächst Bezeichnungen für die vier Jahreszeiten: sumer, lenz, winter, herbest. (6b) Auch in diesem Abschnitt finden sich Bezeichnungen für Ordnungsvorstellungen, zum einen solche, die sich wiederum auf ein Vierer-System beziehen, zum anderen solche, die Beziehungen und Entsprechungen zu Primärqualitäten und Elementen zum Ausdruck bringen (siehe dazu den folgenden Punkt 7). Anzumerken ist hier, dass kein lexikalisch etablierter Oberbegriff für die Jahreszeiten verwendet wird. In P12–13 wird die Idee einer Unterteilung des Jahres in Zeiträume mit spezifischen Eigenschaften nur durch Umschreibungen zum Ausdruck gebracht. (7) Die Vier-Säfte-Lehre ist wesentlich geprägt durch eine Reihe von medizinisch-kosmologischen Ordnungsvorstellungen. (7a) Hierzu gehören zunächst unterschiedliche Nutzungen eines Vierer-Schemas, das sich in unserem Text wie schon erwähnt auf die Primärqualitäten, die Elemente, die Grade und die Jahreszeiten bezieht.8 Die sprachlichen Ausdrücke, die hierfür gebraucht werden, sind: virhande ‘viererlei’ (P1), vier (P2; P24), diu viere (P17), die Aufzählungsmittel erste, ander, dritte, vierte (P3– 4; P6, P7–10; P22) sowie die Wendungen in vieri geteilet sıˆn (P12) und vierder teil ‘Viertel’ (P13–15). Der mhd. Ausdruck viertel wird in P16 alternativ zu vierder teil gebraucht. Auf die Zerlegung in Viertel beziehen sich die Ausdrücke geschicket/ geteilet in vieri (P12). (7b) Zu den Ordnungsvorstellungen der Vier-Säfte-Lehre gehören weiterhin auch Korrespondenzideen: Sie beziehen sich z. B. auf Zusammenhänge bzw. Entsprechungen zwischen Elementen, Säften und Primärqualitäten. Den Ausdruck in ein ander sliezen in P11 (Alsus habent sich dise viere elementa mit ir nature in ein ander geslossen) kann man vielleicht so paraphrasieren: ‘wechselseitig miteinander zusammenhängen, untereinander verbunden sein, zusammengefügt sein’ (vgl. Lex II 976). Gemeint ist damit ein komplexer Zusammenhang, der drei Parameter aufweist (P5–10): zum einen den Zusammenhang zwischen den Elementen und den Primärqualitäten, zum anderen die Kombinatorik der Primärqualitäten, zum dritten die Stufenordnung der Elemente. Ein zweiter Ausdruck, mit dem eine Korrespondenzidee formuliert wird, ist sich gelichen (P13–16) im Sinne von ‘im Hinblick auf humorale Eigenschaften entsprechen’. Auch die zweimalige Verwendung von nach im Sinne von ‘entsprechend’ (P12) gehört in diesen Funktionskreis, in P12 dient es dazu, eine Entsprechung von Elementen und Jahreszeiten zum Ausdruck zu bringen. 8 Kritisch zur bisherigen Aufarbeitung Goehl / Mayer 2000, S. VIII : »Wer ist in der Lage, die Variationen des auf der Elementen- und Säftelehre aufbauenden Viererschemas zu beschreiben und zu erklären? (Schöner und Herrlinger waren es nicht.)«
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(7c) Eine weitere Gruppe sind Stufungs-/Graduierungs-Ideen. Die Annahme von Intensitätsgraden wurde oben schon besprochen. In Bezug auf die Elemente wird in P6–10 eine Stufung formuliert: Mit dem Gebrauch von hoeste wird in P6 eine hierarchische Ordnungsdimension eingeführt, mit den Aufzählungsmitteln erste, andere, dritte und vierde wird dann eine davon ausgehend absteigende Skala mit vier Stufen erzeugt. Die Frage, w e l c h e Ordnungsdimension der Elemente mit hoˆch an dieser Stelle eingeführt wird, muss ich der weiteren ideenund textgeschichtlichen Forschung überlassen.9 Auf den Aspekt des Zusammenwirkens im Menschen ist auch ein weiteres Gegensatzpaar bezogen: me (meˆr) und minner (P18). Sie beziehen sich auf den Grundgedanken, dass die Elemente in den Menschen anteilig jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Weiterführung zu einer Lehre von den Temperamenten (vgl. van Wageningen 1918) wird im Text aber nicht vollzogen. (7d) Eine letzte Ordnungsvorstellung ist die Annahme einer Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, die Auffassung also, dass der Kosmos und der Mensch nach einheitlichen Prinzipien (der Elementenlehre) organisiert sind. In P19 ist entsprechend dieser Idee die Bezeichnung di minner werlt für den Menschen belegt, dieses Mehrwortlexem wird explizit als Gegenstück zu gr. microcosmon eingeführt.10 2.3 Zwischenergebnis Die Durchsicht und Charakterisierung der sprachlichen Mittel, die für die komprimierte Darstellung der Vier-Säfte-Lehre in der Prosavorrede genutzt werden, hat zunächst gezeigt, dass der Bezug der Verwendungsweisen zur Säftelehre unterschiedlich eng sein kann. Zum einen gibt es Verwendungsweisen von Ausdrücken und Mehrwortlexemen, die speziell von der Säftelehre geprägt sind. Hierzu gehören etwa die Verwendungsweisen für die Primärqualitäten der Adjektive warm / heiz, kalt, fiucht/nass und trocken. Diese Verwendungsweisen kann man nicht angemessen beschreiben, ohne auf den Ideenhaushalt der Säftelehre Bezug zu nehmen. Zum anderen gibt es Ausdrücke bzw. Mehrwortlexeme, deren Verwendungspotential für Ausdrucksbedürfnisse bei der Darstellung der Säftelehre genutzt wurde. Hierzu gehört etwa das Paar meˆr/minner, mit dem die Rolle von Anteilen im Rahmen der Mischung von Elementen charakterisiert wurde. In diesem Fall wird man aber nicht von einer spezifisch humoralen Verwendungsweise sprechen wollen. Gleichwohl ist es in einer funktionalen, quasionomasiologischen Perspektive dennoch lohnend, auch nach diesen sprachlichen 9 Vgl. Böhme / Böhme 1996, Kap. III . – Eine Quelle zur Prosavorrede ist in der Edition nicht ermittelt, vgl. Schnell / Crossgrove 2003, S. 61 und 64: »Keine Entsprechung im Lateinischen haben die beiden Prologe, der Reim- und der Prosaprolog, die das Werk des deutschen Redaktors sein dürften«. 10 Zur Mikrokosmos-Idee und zur Mikro-/Makrokosmos-Entsprechung vgl. Böhme / Böhme 1996 passim (siehe Register S. 361) und Finckh 1999.
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Mitteln zu fragen, insofern mit ihnen ein Beitrag geleistet wird, um eine bestimmte Systemstelle der Vier-Säfte-Lehre zu behandeln. Die Zuordnung von sprachlichen Mitteln zu einzelnen Systemstellen ist auch eine Grundlage, um im historischen Längsschnitt Fragen der Verfestigung und der Konventionalisierung einzelner Elemente sowie der Entwicklung des humoralen Teilwortschatzes zu verfolgen. Die Beurteilung dieser Gesichtspunkte setzt allerdings die systematische Auswertung eines größeren, auch historisch gestaffelten Textcorpus voraus. Eine weitere Beobachtung betrifft die Ressourcen der Terminologie-Bildung. Zur Terminologie-Bildung werden u. a. Lehn- bzw. Fremdwörter genutzt wie z. B. die Bezeichnungen für die Säfte (colera, melancolia) und das zum Teil deutsch, zum Teil lateinisch flektierte Wort element. Die spezifisch humoralen Verwendungsweisen von Wörtern wie craft oder warm kann man als Lehnbedeutungen auffassen, die von den lateinischen Gegenstücken dieser Wörter übernommen wurden. Es gehört mit zu den Aufgaben einer zukünftigen Geschichte des humoralen Wortschatzes und seiner Entwicklung, diese lateinisch-deutschen Entsprechungen in den z. T. unterschiedlichen Varianten der Vier-Säfte-Lehre zu ermitteln und ggf. in bekannten textuellen Vorlagen nachzuweisen.11 Die Analyse hat weiterhin gezeigt, dass der Wortgebrauch sich entlang von Systemstellen der Vier-Säfte-Lehre fachlich strukturieren lässt. Das Beispiel zeigt auch, dass die Organisation solcher Teilwortschätze sich nicht aus einem vorgängigen »Begriffssystem«, wie es etwa Hallig und von Wartburg vorgeschlagen haben, ableiten lässt, sondern aus den Texten selbst und dem rekonstruierten Ideenhaushalt ermittelt werden muss.12
3. Zur Beschreibung humoraler Verwendungsweisen In Bezug auf diejenigen Verwendungsweisen, die in spezifischer Weise an das Überzeugungssystem der Vier-Säfte-Lehre gebunden sind, stellt sich die Frage, was theoretisch befriedigende und praktisch umsetzbare Beschreibungsformate sein könnten. Damit hängt insbesondere auch die Frage zusammen, in welcher Weise kulturell und fachlich verfügbare Wissensbestände für die sprachliche Charakterisierung herangezogen werden müssen.13 Ich bespreche zunächst das 11 Wie oben bereits erwähnt, ist eine Quelle für die Prosavorrede bislang nicht ermittelt worden. 12 Eine solche Strukturierung des Wortgebrauchs durch Zuordnung zu konzeptionellen Systemstellen haben z. B. auch Sieber (1996) und Knape / Sieber (1998) bei der Charakterisierung des älteren deutschen Rhetorik-Wortschatzes und seiner Entwicklung angewendet. 13 Zum Hintergrund der damit zusammenhängenden Fragen nach der Unterscheidung von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen, nach dem Zusammenhang von Ausdrücken und Kategorien sowie der Frage nach der Begriffsbildung und ihrer Dynamik in den Wissenschaften vgl. exemplarisch: Dieckmann 1988; Keller 1995,
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im Abschnitt 2.2 genutzte Format und gehe dann auf phrastische Typen der Bedeutungscharakterisierung ein. Die oben im Abschnitt 2.2 verwendete Darstellungsform kombiniert drei Elemente bzw. Darstellungsprinzipien: Zum einen dienen die Kurz-Formulierungen von Grundannahmen der Säftelehre als ideologisches Gerüst, dessen Systemstellen die einzelnen Ausdrücke und ihre Verwendungsweisen zugeordnet werden können. Die Verwendungsweisen sind damit in komprimierter Weise einem epistemischen Ort innerhalb des konzeptionellen Bezugssystems zugewiesen. Neben den kompakten Hinweisen zum etablierten Gebrauchspotential wie z. B. »Mit mhd. grat konnte man sich auf Intensitätsstufen der sog. Primärqualitäten im System der medizinischen Vier-Säfte-Lehre beziehen« und den Kurz-Formulierungen der betreffenden epistemischen Grundannahmen muss die weitere Einbettung in den wissenschaftshistorischen Kontext und die ideengeschichtliche Vertiefung über Literaturhinweise ausgelagert werden. Ein solches arbeitsteiliges Verfahren mit Bedeutungsangaben, Kurzdarstellungen zum epistemischen Ort und Literaturhinweisen kann ggf. auch durch die hypertextuelle Bereitstellung der jeweils genannten Ressourcen noch ausgebaut werden. Ein zweites Element, das hervorgehoben werden sollte, sind Signalwörter und Hinweise, die auf den epistemischen Bereich der Säftelehre verweisen. Hierzu gehören nicht nur begriffliche Elemente der modernen Rede über die Säftelehre (z. B. »Primärqualität«, sondern auch explizite Markierungen des fachlichen Bereichs nach dem Muster »im System der medizinischen Vier-Säfte-Lehre«. Mit diesen Signalen kann man bei der Beschreibung Wissenselemente der Säftelehre aufrufen, ohne sie explizit ausbuchstabieren zu müssen. Sie setzen aber bei den LeserInnen immerhin die Fähigkeit voraus, sich Elemente wie »Primärqualität«, »humoral« oder »Vier-Säfte-Lehre« mit der angegebenen Literatur oder auf andere Weise anzueignen. Auch hier gilt wieder, dass der begrenzte Platz eines gedruckten Wörterbuchs weniger Möglichkeiten bietet als eine digitale Umgebung mit ihren Ein- und Ausblendtechniken sowie ihren Möglichkeiten der flexiblen Gestaltung von Dokumentationstiefen. Ein dritter Bestandteil bzw. Aspekt der Darstellung im Abschnitt 2.2 ist die Strukturierung des Wortschatzbereichs anhand von fachlichen, ideengeschichtlich Teil I und II ; Thagard 1992; Beiträge in Müller / Schmieder 2008; zu älteren Traditionen der Fach- und Sondersprachenforschung und zur lexikographischen Beschreibung von fach- bzw. sondersprachlichem Wortschatz in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern vgl. Kramer 2010, wo allerdings nicht Fragen der semantischen Beschreibung, sondern die Verfahren der Bereichsmarkierung und -zuweisung im Vordergrund stehen. – Zur Rolle zeitgenössischer Wissensbestände vgl. auch Gloning 2003, Kap. 2.2.6 und 3.5. – Vgl. weiterhin Überlegungen im Anschluss an Putnams These der sprachlichen Arbeitsteilung und Diskussionen um den Status von »theoretical terms«, »scientific terms«, »theoretical concepts«, die hier aber nicht weiterverfolgt werden können.
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rekonstruierten Systemstellen. Diese Strukturierung trägt einerseits bei zur bereits erwähnten quasi-onomasiologischen Erschließung des Wortschatzes, die Kenntnis des Aufbaus der einzelnen Teilfelder wie z. B. der Intensitätsgrade ist aber auch wichtig für das Verständnis der einzelnen Verwendungsweisen selbst. Wenn es im ‘Macer’ heißt ist heiz unde trocken in dem dritten grade (49.1), dann muss man für das Verständnis u. a. wissen, wie viele Grade es insgesamt gibt und auf welcher Seite der Skala die höchste Intensität liegt. Hier zeigt sich der alte Grundgedanke, dass Verwendungsweisen durch ihre Stellung in einem Feld mitbestimmt sind. Eine weitere Überlegung betrifft den Zusammenhang von Wissensvoraussetzungen und den unterschiedlichen Formaten der sog. lexikographischen Definition. Es ist offenkundig, dass eine Beschreibung fachlicher Verwendungsweisen mit Hilfe von Quasi-Synonymen kaum Erfolg verspricht. Welches QuasiSynonym könnte man z. B. für die humorale Verwendungsweise von mhd. nature hinschreiben, das ohne weitläufige Erläuterung nachvollziehbar wäre? Allerdings wird man auf die Suche nach den Quasi-Synonymen auch nicht ganz verzichten wollen, denn beim Übersetzen sind wir teilweise in der Lage, neuhochdeutsche Quasi-Synonyme verwenden zu müssen. Hierfür bietet es sich an, die Beschreibung der Verwendungsweise selbst und die Angabe möglicher Übersetzungsäquivalente zu unterscheiden und in der Beschreibung zu kombinieren. Am Beispiel von mhd. viucht könnte ein solcher Kombinationstext etwa so lauten: »Im System der Vier-Säfte-Lehre eine der vier Primärqualitäten in der Dimension humoral feucht/humoral trocken. Übersetzungsäquivalent: humoral feucht«. Oder in Bezug auf mhd. lenz: »Im System der Ordnungsvorstellungen der Vier-Säfte-Lehre die Jahreszeit Frühling mit einer eigenen humoralen Charakteristik, die durch die Primärqualitäten heiß und feucht bestimmt ist. Übersetzungsäquivalent: Frühling mit einem Klammerzusatz: Frühling (als Jahreszeit mit humoral heißer und feuchter Charakteristik)«. Im besten Falle werden solche Kurz-Formulierungen verbunden mit ausführlicheren Beschreibungen der zeitgenössischen fachlichen Wissensbestände selbst oder aber mit Hinweisen, wo sie zu finden sind. 4. Ergebnisse Die vorstehenden Überlegungen zielten auf drei Punkte. Sie sollten erstens darauf hinweisen, dass die zusammenhängende Beschreibung und Dokumentation des deutschen Wortschatzes der Vier-Säfte-Lehre – auch in ihren Bezügen zur antiken, arabischen, lateinischen Textüberlieferung – als Aufgabe noch vor uns liegt. Mit der Analyse der Prosavorrede des deutschen ‘Macer’ sollte zweitens ein kleiner Beitrag zur Analyse humoraler Verwendungsweisen mittelhochdeutscher Wörter geleistet werden. Es wurden drittens auch einige Teilaspekte der Frage erörtert, welche Darstellungsformate bei der semantischen und lexikologischen Charakterisierung von humoral geprägten Verwendungsweisen genutzt
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werden können. – Ich hoffe, lieber Herr Gärtner, dass wir unseren freundschaftlichen Dialog, der seinerzeit in den Katakomben des Tübinger Rechenzentrums begann, noch lange fortführen können. 5. Literatur Adamson, Melitta Weiss, Medieval dietetics. Food and drink in »Regimen sanitatis« literature from 800 to 1400, New York etc. 1995. Baader, Gerhard, Die Entwicklung der medizinischen Fachsprache im hohen und späten Mittelalter, in: Fachprosaforschung. Acht Vorträge zur mittelalterlichen Artesliteratur, hg. von Gundolf Keil und Peter Assion, Berlin 1974, S. 88–123. Baader / Keil 1982: Medizin im mittelalterlichen Abendland, hg. von Gerhard Baader und Gundolf Keil, Darmstadt 1982. Bergdolt, Klaus und Gundolf Keil, Humoralpathologie, in: Lexikon des Mittelalters. Studienausgabe. Band 5, München 2003, Sp. 211–213 (erstmals 1991). Böhme, Gernot und Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente (Kulturgeschichte der Natur in Einzeldarstellungen), München 1996. Constantinus Africanus, De gradibus quos vocant simplicium liber, in: Constantini Africani (. . .) opera. Basel: Henricus Petrus 1536, S. 342–387. Dieckmann, Walther, Man kann und sollte Bedeutungserläuterung und Sachbeschreibung im Wörterbuch trennen. Ein unpraktisches Plädoyer für Sprachwörterbücher, in: Deutscher Wortschatz, hg. von Horst Haider Munske u. a. Berlin / New York 1988, S. 791–812. Eckart, Wolfgang U., Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen, 6., völlig neu bearbeitete Auflage, Heidelberg 2009. Finckh, Ruth, Minor mundus homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 1999. Flashar, Hellmut, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966. Fritz, Gerd, Einführung in die historische Semantik (Germanistische Arbeitshefte 42), Tübingen 2005. Gärtner, Kurt, Neue Philologie und Sprachgeschichte, in: Edition und Sprachgeschichte, hg. von Michael Stolz, Tübingen 2007, S. 1–16. Gärtner / Grubmüller 2000: Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion, hg. von Kurt Gärtner und Klaus Grubmüller (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. philol.-hist. Klasse, 2000/8), Göttingen 2000. Gil-Sotres, Pedro (con la colaboracio´n de Juan A. Paniagua y Luis Garcı´a-Ballester), Introduccio´n, in: Arnaldi de Villanova Opera medica omnia. Vol. X.1: Regimen sanitatis ad regem aragonum. Ediderunt Luis Garcı´a-Ballester et Michael R. McVaugh, Barcelona 1996, 471–904. Gloning, Thomas, Lydia Kaiser und Ans Schapendonk, Einleitung, in: Rembert Dodoens, Cruyde Boeck (Antwerpen 1563). Digitales Faksimile nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Marburg, hg. von Thomas Gloning, Lydia Kaiser und Ans Schapendonk, Marburg 2005. Gloning, Thomas, Organisation und Entwicklung historischer Wortschätze, Tübingen 2003. Goehl / Mayer 2000: Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil, hg. von Konrad Goehl und Johannes G. Mayer, Würzburg 2000. Gundert, B., Humoralpathologie, in: Antike Medizin. Ein Lexikon, hg. von Karl-Heinz Leven, München 2005, S. 436– 441.
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Lexikograph und Editor Über eine nicht immer von Spannungen freie Beziehung von Karl Stackmann
Als Lexikographen des Mittelhochdeutschen sind wir, lieber Herr Gärtner, bei der Beschaffung unseres Belegmaterials hauptsächlich auf die Auswertung moderner Textausgaben angewiesen. Das Bild, das wir uns von der Sprache unserer Quellen machen, hängt daher nicht unwesentlich von den Vorgaben der Editoren ab. Ihr Textverständnis ist aus langwieriger Befassung mit der jeweiligen Überlieferung hervorgegangen. Der Lexikograph muss in aller Regel dem vertrauen, was der Editor ermittelt hat, und er kann das auch guten Gewissens tun. Dafür bürgt die Erfahrung des Editors im Umgang mit seinem Autor. Mit dieser generellen Feststellung ist freilich nicht ausgeschlossen, dass der Lexikograph an dieser oder jener Stelle glaubt Anlass zu Skepsis gegenüber einer einzelnen Entscheidung des Editors zu haben. Das stellt ihn vor die Frage, ob er bei der Aufnahme eines auf einer solchen Entscheidung beruhenden Belegs in einen Artikel des Wörterbuchs seine Skepsis an den Benutzer weitergeben soll oder nicht. Schon unsere Vorgänger im 19. Jahrhundert haben sich diesem Problem stellen müssen, und sie haben auch auf gewagte oder fragwürdige Entscheidungen der Herausgeber aufmerksam gemacht, wo es ihnen nötig schien. Ein prominentes Beispiel liefert die Behandlung von Lachmanns Konjektur zu Parz. 1,21. Er setzt geleichet an die Stelle des einhellig überlieferten gelıˆche(n)t. Als Bedeutung nimmt er triegen an.1 Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch zitiert beim schwachen Verbum geleichen die Lachmannsche Fassung der Stelle und gibt die Bedeutung mit ‘täuschen’ an. Sie wird nur durch den einen, die Auffassung Lachmanns wiedergebenden Beleg gesichert. Das Wörterbuch trägt dem mit einem – freilich ziemlich ungenauen – Hinweis auf die Überlieferungslage und auf Lachmanns Abhandlung über den ‘Eingang des Parzival’ Rechnung.2 Lexer bucht unter geleichen die Bedeutung ‘täuschen’ mit einem bloßen Hinweis auf die Fundstelle im BMZ . Für den Benutzer, der nur dort nachschlägt, bleibt die Herkunft der Bedeutungsangabe aus einer Konjektur verborgen. Darüber könnte er sich nur an einer ganz anderen Stelle, unter liˆchen, unterrichten.3 1 Ich habe den Sachverhalt etwas vereinfacht beschrieben, weil das für meine Zwecke genügt. Eine alle Details berücksichtigende Darstellung liefert Bernd Schirok: Zin anderhalp an dem glase gelıˆchet, in: ZfdA 115, 1986, S. 117– 124. 2 BMZ 1,960b; hinter geleichet ist ein Klammerhinweis eingeschaltet: »gelichet G«. Das klingt, als hätten nur die G-Handschriften die Form mit -ıˆ-. Sie steht aber, wie dem Lesartenapparat Lachmanns zu entnehmen, auch in den D-Handschriften. 3 1, 1898. Dort heißt es über Lachmanns Lesart, sie ergebe »noch immer den besten Sinn«.
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In diesem Fall ging es um die Kenntlichmachung einer nur auf Konjektur beruhenden Wortbedeutung. In anderen Fällen kann dem Lexikographen die vom Editor vorgenommene syntaktische Gliederung wegen ihrer Auswirkung auf das Textverständnis bedenklich erscheinen, wie es denn überhaupt viele Möglichkeiten einer Meinungsverschiedenheit zwischen Lexikograph und Editor gibt. Sie lassen sich nicht systematisieren, es lassen sich auch keine Regeln für den Umgang mit ihnen formulieren. In diesem Bereich seiner Tätigkeit hat der Lexikograph volle Gestaltungsfreiheit. Wenn dem denn so ist, was soll dann die Befassung mit drei ganz zufälligen Einzelbeispielen, die ich im Folgenden behandeln will? Jeder steht für sich allein, sie enthalten nichts, was sich verallgemeinern ließe. Aber sie geben mir eine sehr erwünschte Gelegenheit, eine Grenze der Leistungsfähigkeit unseres Wörterbuchs bewusst zu halten, die leicht übersehen wird. Die drei Fälle haben eines gemeinsam. In allen dreien bin ich der Editor und in allen dreien äußere ich mich als Lexikograph über den Editor. Mit anderen Worten: Mein Beitrag zu dieser Festschrift für einen Mitherausgeber des neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs ist ein Akt der Selbstkritik, wie er dem in Alltagsroutine verstrickten Wörterbuchmacher von Zeit zu Zeit wohl ansteht. Den Anlass hat Burghart Wachinger mit seinem Aufsatz über ‘Spruchreihen in Liedstrophen’ gegeben.4 Er befasst sich darin mit Sentenzen, die zu Reihen gebündelt in Liedstrophen aufgenommen sind. Je eine von diesen Strophen entstammt meiner Frauenlob- und meiner Mügeln-Ausgabe. Wachinger versteht drei der darin vorkommenden Sentenzen anders als ich. Das regt mich zu der kritischen Überprüfung meiner Textherstellung an, die ich im folgenden vornehmen möchte. Dabei gehe ich in vier Schritten vor. Auf das Zitat der jeweils gemeinten Stelle folgt im ersten Abschnitt eine Wiedergabe der in der Edition enthaltenen und für das zum Verständnis nötigen Erläuterungen. Danach referiere ich zweitens den Wachingerschen Einwand und vergleiche dann drittens die beiden Positionen miteinander. In dem abschließenden vierten Abschnitt erörtere ich, wie sich das Ergebnis auf das Urteil des Lexikographen über die Verwendbarkeit des Wortmaterials in seinem Wörterbuch auswirken kann.
* * * Frauenlob VII ,17,7 f. Kristallin is zu viure / Kan krispen wol der sunnen wevel. 1. Dazu ist in der Ausgabe angemerkt, Ettmüller habe in der sunnen wevel »ein Bild für den Sonnenstrahl vermutet«. Daraus habe ich gefolgert: »gemeint wäre dann wohl: Der Sonnenstrahl weiß mit seiner Wärme (zu viure) den Eiskristall kraus zu machen (krispen), d. h. er bringt ihn zum Schmelzen.« – In diesem Fall ist (der sunnen) wevel Subjekt und Kristallin is Objekt. 4 In: Dichtung und Didaxe, hg. von Henrike Lähnemann u. Sandra Linden, Berlin / New York 2009, S. 327–343.
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2. Wachinger (S. 338 f.) gibt demgegenüber »zu erwägen, ob der Satz nicht andersherum zu verstehen ist: ‘Kristalleis kann den Sonnenfaden zu Feuer kräuseln’. Gedacht wäre dabei an einen Kristall, der als Brennglas benutzt wird. Vgl. Konrad von Megenberg: Cristallus der stain wirt auz eis, wan daz verhertt in vil jaˆren. [.. .] ain sinbel cristall, wenn diu an der sunnen steˆt, soˆ entzünt si ainen zunder reht als der berill.« 3. Der Einwand besteht zu Recht. Das ergibt sich aus dem von Wachinger herangezogenen Megenberg-Kapitel über den Kristall.5 Zwar ist das ‘Buch der Natur’ erst lange nach Frauenlobs Tod entstanden, aber es beruht auf älterer naturkundlicher Literatur in lateinischer Sprache, und die war einem gelehrten Autor wie Frauenlob unschwer zugänglich.6 – Schon Rudolf Hildebrand hat die FrauenlobStelle so verstanden wie Wachinger. Das geht aus einer Nebenbemerkung in dem Artikel kristall des Deutschen Wörterbuchs7 hervor, den ich bei der Wiederbeschäftigung mit der Frauenlob-Stelle zu Rate gezogen habe. Wachinger kann sich dadurch in seinem Verständnis bestätigt fühlen. 4. Für die Artikel iˆs und kristalliˆn bedeutet das: Kristallin is muss als ‘zu Kristall gehärtetes Eis’ gebucht werden, nicht, wie im Frauenlob-Wörterbuch geschehen, als ‘Eiskristall’. – Wollte man, was von Wachinger nicht ganz ausgeschlossen wird, bei der älteren Deutung bleiben, dann müsste man eine befriedigende Erklärung für das zu viure finden. Es kann, so Wachinger, nicht gut ‘mit seiner Wärme’ heißen: »spontan würde man ja verstehen ‘kräuselt zu Feuer’, aber Eis wird nun mal nicht zu Feuer, sondern zu Wasser.« Ein Ausweg böte sich allenfalls darin, dass man von einer speziellen Verwendung der Präposition zu ausginge. Sie kommt bei Frauenlob in sehr abgeblasster Bedeutung vor und dient dann letzten Endes nur dazu, eine formale Bindung an das Prädikat auszudrücken. So umschreibt zu blicke in der Wendung zu blicke dienen (VIII , 6,1) ein ‘scheinbar’ oder ‘scheinhaft’. Angenommen, so dürfte man auch zu viure auffassen, dann könnte es für ‘feurig’ oder ‘hitzig’ stehen. Aber das zu blicke ist wohl eher an wertende Floskeln wie zu prıˆse (V, 19,5) oder zu reht (V, 78,2 u. ä.) anzuschließen, und in diesen Zusammenhang passt zu viure denkbar schlecht.
* * * Heinrich von Mügeln 223,3 f. nicht acht ist gut des hanen krat, / ab er si wiß, swarz ader rot. 1. In der Ausgabe ist zu v. 3 angemerkt: »des hanen krat (stf., Genitiv) ist von acht, mhd. aˆhte, abhängig. Gemeint ist: man soll das Krähen des Hahns nicht geringschätzen.« 5 Ed. Pfeiffer, S. 441. 6 Einen Reflex der Lehre vom Kristall in deutscher Sprache findet man übrigens auch bei Frauenlobs Zeitgenossen Berthold von Regensburg, ed. Pfeiffer I, S. 437, Z. 9: als der Kristalle, der ist von wazzer ze einem steine worden. 7 Bd. 5, Sp. 2482, Nr. 2c.
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2. Wachinger (S, 340 f.) interpungiert anders: nicht acht, ist gut des hanen krat,/ ab er si wiß, swarz ader rot: »Achte nicht auf die Farbe des Hahns, wenn er nur gut kräht.« Zur Begründung bezieht er sich darauf, dass alle drei Strophen des Bars ein gemeinsames Thema haben, die Verwerfung der »Rede vom Unwert des armen wıˆssagen«. Als Vertreter dieser wıˆssagen figurieren in den Exempeln der beiden vorausgehenden Strophen sprechende Tiere. Darauf geht Wachinger in einer Fußnote näher ein: »Das Krähen, hier auch als Variante zum Sprechen der Tiere in den Exempeln zu verstehen, ist wohl positiv gemeint. Die Farbe des Hahns ist mit abergläubischen Vorstellungen verknüpft: weiß bringt Glück, rot meint Feuer, schwarz verweist auf den Teufel«8 3. Dem in der Ausgabe gedruckten Text liegt eine andere Auffassung des mit dem Exempel Gemeinten zugrunde: ‘Setze dich nicht über das Krähen des Hahns hinweg, ganz gleich welche Farbe er hat.’ Auch ich bin, als ich meine Version herstellte, vom Gesamtzusammenhang des Bars ausgegangen, habe aber die Akzente anders gesetzt. Die beiden ersten Strophen belegen mit ihren Exempeln die Richtigkeit der Lehre, dass Gott seine Ratschlüsse oftmals armen vor richen zu erkennen gibt. Für die armen stehen sprechende Tiere. Bis hierher unterscheidet sich meine Deutung nicht von der Wachingerschen. Der Unterschied zeigt sich erst, wenn man ein Detail herauszieht, das bei ihm keine Rolle spielt. Die Tiere verärgern mit ihrem auf Inspiration beruhenden Wissen ihre Herren und werden von ihnen misshandelt. In der ersten Strophe sind es die Pflugochsen des Marcus, die ihm den Untergang Roms vorhersagen, in der zweiten ist es der Esel, der Balaam daran hindert, die Israeliten zu verfluchen. Die dritte Strophe zieht daraus den Schluss, dass man armer rat niemals verschmähen darf und im Zorn darauf reagieren, auch nicht, wenn es sich nur um Voraussagen im Krähen eines Hahns handelt. 4. Beide Lesarten lassen sich begründen. Der Lexikograph muss zwischen ihnen wählen. Je nachdem, wie er sich entscheidet, muss er sich in einem Hauptpunkt ganz verschieden festlegen: Entweder ist das acht des Textes Imperativ von ahten oder aber Nom. Sing. von aˆhte stf.9 * * *
Heinrich von Mügeln 223,7 f. ein wiser man uf einen tag / wol hundert jar verdient sin brot. 1. Zu uf einen tag wol hundert jar heißt es in der Ausgabe: »auf den Tag genau hundert Jahre lang.« 2. Wachinger (S. 340 f.) versteht den Satz so: »Ein weiser Mann verdient an einem Tag sein Brot für hundert Jahre.« 8 S. 341, Anm. 50. – Zum Krähen des Hahns im Aberglauben verweist Wachinger auf das Handwb. des dt. Aberglaubens 3, 1931, S. 1330 f. 9 ‘Strafe’, ‘Verfolgung’, s. BMZ I, 18 f.; 2DWB 1, Sp. 1367 f.; MWB 1. Lfg., Sp. 130 f.
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3. Der Unterschied ist deutlich. In der Ausgabe steht der wıˆse man für einen Typus; von ihm wird ausgesagt, dass er immer sein Auskommen finden wird. In dem anderen Fall, bei Wachinger, ist er ein bestimmter Einzelner, der durch einen klugen Ratschlag seinen Lebensunterhalt für lange Zeit sicherstellt. Wachinger erläutert die Zeitangabe: »Dass ein Tag oft mehr als ein Jahr oder auch mehr als hundert Jahre bringt, ist sprichwörtlich.«10 4. Der Text der Ausgabe setzt voraus, dass man uf einen tag wol hundert jar als Umschreibung für ‘immer’ nehmen darf. Das halte ich für möglich, auch wenn ich keine genaue Entsprechung nachweisen kann. Immerhin lassen sich aber doch mit Hilfe der historischen Lexikographie Hinweise auf Vergleichbares beibringen, die zur Stützung meiner Annahme dienen können.11 – Wachingers Deutung verlangt eigentlich wegen des ‘an einem Tag’ einen Dativ bei uˆf. Er ist auch in der Göttinger Handschrift überliefert und sollte bei Übernahme der Wachingerschen Lesart in den Text gesetzt werden.12 Das brächte freilich eine gewisse Schwierigkeit mit sich, denn uˆf mit dem Dativ kommt, soweit soweit ich sehe, nicht in temporaler Bedeutung vor. Auch die syntaktische Einbindung von hundert jar macht bei dieser Lesart Probleme. Es kann sich kaum um etwas anderes handeln, als einen Akkusativ der zeitlichen Erstreckung: ‘hundert Jahre lang’. Ein ‘für hundert Jahre’ ist ihm nicht so ohne weiteres zu entnehmen. Für den Lexikographen heißt dies, dass er je nachdem, welche Wahl er trifft, einen Phraseologismus ansetzen muss (uf einen tag wol hundert jar: ‘immer’) oder eine ungewöhnliche Bedeutung von uˆf mit dem Dativ und den ebenso ungewöhnlichen Gebrauch eines temporalen Akkusativs. * * *
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf den Hintergrund, vor dem die drei Fälle zu sehen sind. Sie enthalten eine allgemeine Lehre für den Lexikographen. Er wird an etwas erinnert, was man für selbstverständlich halten mag, was ihm aber 10 S. 341, Anm. 51. Dort ist auf TPMA Tag 6.1.1 verwiesen. Außerdem bemerkt Wachinger noch: »Durch das Motiv des Brotverdienens scheint ein Knecht oder Lohnabhängiger ins Auge gefasst zu sein, im Kontext also der niedrige Ratgeber.« 11 Hundert kann »mit ganz geschwundenem zahlenbegriff . . . nichts als eine große menge« bezeichnen (DWB IV , 2, Sp. 1925, Nr. 7). – Hundert jaˆr »hyperbolischer Zeitraum« kann »wie tuˆsent jaˆr mit ‘noch so lange; wie lange auch immer’ paraphrasiert werden« (Jesko Friedrich, Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen, Tübingen 2006, S. 235 f.) – »hundert jahr und ein tag ist die formel für ewige verbannung« (Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Aufl., Bd. 1, 1899, S. 309, Nr. 12). – »eine ungefähre oder genaue Zeitbestimmung liegt in den Formeln jahr und (ein) tag, tag und stunde« (DWB XI , 1,1 Sp. 51, Nr. 11). – Freidank 57,6 (und Walther von der Vogelweide 88,2) nieman ritter wesen mac / drıˆ"ec jaˆr und einen tac (dazu Bezzenberger: »drıˆ"ec jaˆr und einen tac volle dreißig jahre«). – Junger Meißner (hg. von Peperkorn) I, 14,1 Wer achzic jar in wirde wol geleben mag / und einen tag,/ daz ist michel ere. 12 Der Akkusativ, den die Ausgabe bietet, beruht auf den Lesarten Kw.
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Karl Stackmann
nicht oft genug eingeprägt werden kann: Er ist nicht nur Nutznießer der vom Editor geleisteten Arbeit, er sollte ihm auch immer in kritischer Distanz gegenübertreten. Das heißt, er sollte im Idealfall bei jeder schwierigen Stelle prüfen, ob es nicht eine bessere Lösung als die im gedruckten Text verwirklichte gibt. Das freilich erfordert eine Muße, die dem Lexikographen unter dem ständigen Zeitdruck, dem er heutzutage ausgesetzt ist, nicht zu Gebote steht. Er ist auf Hilfe von außen angewiesen, wie sie in diesem Fall Burghart Wachinger zu danken ist. Ich habe mich brieflich mit ihm über seine Bemerkungen zu den drei Stellen ausgetauscht. Aus seinem Brief zitiere ich mit seiner freundlichen Genehmigung einen Satz, der etwas über die Bedingungen verrät, unter denen diese Hilfe zustande kam: »Das Knobeln an schwierigen Stellen hat mir schon immer besonderen Spaß gemacht, und jetzt im Alter [...] ist es zu einer Hauptbeschäftigung geworden in der vielleicht törichten Hoffnung, dass Erklärungsvorschläge noch einige Zeit nützlich sein können.« Sorge um das rechte Verstehen schwieriger Texte bis ins hohe Alter: ein würdiges Bekenntnis zum Ethos der Philologia perennis. Möge es unser Fach auch zukünftig in Ehren halten.
Mich nimt des michel wunder Neue Technik(en) zur textfunktionalen und übersetzungspraktischen Erschließung historischer Phraseologismen, veranschaulicht am ‘Nibelungenlied’ und Neidharts Sommerlied 21 von Wernfried Hofmeister
Problemstellung Die mhd. Wendung wunder nemen bzw. mich nimt wunder wird im Wörterbuch von Benecke/Müller/Zarncke (BMZ )1 unter dem Übersetzungs-Lemma »verwunderung«, genauer als »verwunderung ergreift mich, ich wundere mich; auch ich möchte gern wissen« dokumentiert, ähnlich im Supplement-Wörterbuch von Matthias Lexer: »ich wundere mich, bin neugierig zu erfahren«.2 Im BMZ lexikographisch mit erfasst ist unsere leitmotivisch titelgebende Formulierung Mich nimt des michel wunder aus dem ‘Nibelungenlied’. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB )3 verweist dafür im ‘Nibelungenlied’ noch auf zwei weitere, insgesamt also drei idente Stellen jeweils am Beginn des ersten Langverses der Strophen 154, 1814 und 1959 sowie auf die Variante Unde nimet mich immer wunder in 825,1;4 die Position sowie die einheitliche Form und Aussage weisen somit auf ein stereotypes Rede-Element im ‘Nibelungenlied’ hin. Wie ist dieses nun am besten zu übersetzen? Helmut Brackert, der bis heute (auch vom Verfasser) gern herangezogene, weil feinsinnige und philologisch anspruchsvolle ‘Nibelungenlied’-Exeget, überträgt die vier Stellen wie folgt (in der soeben zitierten Reihenfolge): »Es ist mir ein Rätsel«, »Ich möchte gerne wissen«, »Ich hätte doch zu gerne gewußt« sowie »Übrigens«.5 Ja, auch wenn uns Letzteres etwas »Wunder nehmen mag«, das eher kolloquiale »Übrigens« steht bei Brackert in Str. 825 tatsächlich für die gesamte Wendung Unde nimet mich immer wunder. Das soll uns jetzt aber weniger erheitern als vielmehr paradigmatisch die bislang beobachtbare ›Freizügigkeit‹ resp. Beliebigkeit bestätigen, wie sie im Umgang mit historischen Phraseologismen selbst 1 http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/woerterbuecher/bmz/wbgui (Stand: 4. 8. 2010). Weitere Belege gelten der (weniger markanten) Hilfsverbkombination wunder haben, welche hier nur am Rande erwähnt sei. 2 http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/woerterbuecher/lexer/wbgui Lexer-Link (Stand: 04. 08. 2010). 3 http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000 (Stand: 4. 8. 2010). 4 Im BMZ gezählt als Strophe 153,1, bei uns nach Brackert [Anm. 5] als 154,1. 5 Das Nibelungenlied. I. Teil. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, Frankfurt am Main 1970.
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auf höchstem sprach- und literaturkundlichen Niveau auftreten, und zwar im Grunde in allen Philologien quer durch sämtliche Textsorten: Solche ›Sprachformeln‹ werden nämlich bislang meist nur ansatzweise und selektiv als solche erkannt und folglich nicht als jene textkonstituierenden Bausteine wiedergegeben, die sie aber seit jeher in mündlicher wie schriftlicher Sprache sind. Zur Lösung resp. Verbesserung solcher Inkonsistenzen oder Unsicherheiten in unserem Umgang mit phraseologisch rekurrenten Elementen in historischen Texten möchte ich eine Methodologie anbieten, welche auch die elektronischen Medien offensiv nutzt. Zwei dieser online verfügbaren Medien, nämlich die »Mittelhochdeutschen Wörterbücher im Verbund«6 und die ständig wachsende MHDBDB , haben für das Einstiegsbeispiel bereits dessen phraseologischen Charakter nahe gelegt, so dass wir nun zur Abrundung und Veranschaulichung des Nutzwerts eines phraseologie-sensiblen Zugriffs nach einer angemesseneren Übersetzung suchen können. Eine in diese Richtung optimierte Übertragung muss zwar keineswegs immer ein Äquivalent sein in Gestalt eines heute gängigen Phraseologismus (schon, weil es das oftmals einfach nicht geben mag), hier aber bietet sich ein solcher fast zwingend an: »Es wundert mich« (für 825,1) bzw. »Es wundert mich sehr« (für die übrigen drei Vorkommen) passt m. E. an allen Stellen, denn zum einen kommt diese noch heute gebräuchliche Redeformel dem historischen Ausgangs-Phrasem kommunikations- und argumentationsstrategisch sehr nahe, und zum andern treffen wir damit auch semantisch-konnotativ zielsicher den ›Ausdruck von Verwunderung‹ (siehe BMZ und Lexer oben). Spätestens jetzt gilt es einen allgemeinen, fächer- und zeitenübergreifenden Phraseologismus-Begriff zu explizieren, um die Tragweite des Phraseologischen noch deutlicher zu erkennen und hernach zu überprüfen, wie weit sich dieser Begriff auch für historische Sprach-Kontexte anwenden lässt. Dafür werde ich als verfeinertes Instrumentarium zur Auffindung und (graduellen) Verifizierung eine so genannte phraseohistorische Checkliste anbieten und diese hernach an kurzen, aber repräsentativen epischen und lyrischen Textpassagen erproben.7 6 Sie sind dank des Einsatzes von Kurt Gärtner und seinem gesamten Team besser erschlossen, als es die gedruckten Werke je hätten sein können; siehe http://germazope. uni-trier.de/Projects/ MWV /projekt (Stand: 4. 8. 2010). 7 Die Grobkonzeption dieses Ansatzes erfolgte – schon mit Blick auf den vorliegenden Festschriftbeitrag – im Sommersemester 2010 an der Universität Graz in der Vorlesung »Phraseologismen in der mittelalterlichen Literatur«: Diese Lehrveranstaltung unter meiner Leitung (sowie das damit modulartig gekoppelte Seminar »Mittelalterliche Bildspendebereiche«) ist auf folgender Lehrveranstaltungsplattform dokumentiert und weiterhin frei zugänglich: http://de.groups.yahoo.com/group/Phraseometaphorik (Stand: 04. 08. 2010). Hier findet sich als ein Nebenprojekt und -produkt der Vorlesung auch die bislang längste Zwillingsformelliste der deutschen Gegenwartssprache (gemäß gängiger, engerer Zwillingsformel-Definition); siehe dazu auch http://zwillingsformeln. uni-graz.at (Stand: 04. 08. 2010).
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Phraseologismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine feste Verbindung aus zumindest zwei semantisch markanten Wörtern bilden, die statt ihrer wörtlichen Bedeutung bzw. über sie hinaus eine gemeinsame Bedeutung tragen:8 Hinter dieser definitionsartigen Charakterisierung verbergen sich die phraseologischen Grundmerkmale der ›Rekurrenz‹, ›Polylexikalität‹ und ›Idiomatizität‹. – ›Rekurrenz‹ meint ein wiederholtes, mithin usuell fixiertes Auftreten von Wendungen. – ›Polylexikalität‹ versteht sich als eine Mehrwort-Verbindung aus zwei oder mehr Wörtern mit nicht rein grammatischer Bedeutung. – ›Idiomatizität‹ liegt dann vor, wenn nicht die Einzelbedeutungen von aneinandergereihten Wörtern realisiert werden, sondern eine Art Ensemble-Bedeutung der gesamten Wortkette; ist eine solche phraseologische Bedeutung (zusätzlich zu den ersten zwei Merkmalen) vorhanden, sprechen wir von Phraseologismen im engeren Sinn, und nur diese voll idiomatisierten Formen sind für unsere Zusammenhänge interessant. In welchen Ausprägungs-Typen begegnet uns das Idiomatische in historischer Zeit? Im Grunde in denselben ›Grundtypen‹9 wie zu allen Zeiten, weil phraseologischer Sprachgebrauch offensichtlich eine Sprachuniversalie darstellt: So kennen alle Sprachen Sprichwörter (bzw. normativ satzwertige Kollektivzitate: »Hochmut kommt vor dem Fall« etc.), gebrauchen sprichwörtliche Redensarten mit markanten Bildern (»das Kind mit dem Bade ausschütten«), lieben Zwillingsformeln (welche ihrerseits in Sprichwörtern und Redensarten verankert sein können: »kurz und bündig«), weisen diverse bildlose Wendungen auf (»sich in Acht nehmen«) und enthalten eine ganze Palette an Routineformeln (durch die jede Gesellschaft zentrale kommunikative Rituale wie Begrüßung, Danksagung, Bitte, Verwünschungen etc. regelt oder – z. B. mittels einer Formel wie »Darauf sagte er« – einfach den diskursiven Textfluss steuert). Zu bedenken ist allerdings, dass es regional und historisch unterschiedliche Ausprägungen und Entwicklungstendenzen gibt. Für die deutsche Sprache können dabei u. a. Prozesse einer zunehmenden lexikalischen und syntagmatischen Fixiertheit beobachtet werden10 sowie Veränderungen durch historische Metaphorisierungen (auch) im Bereich diverser Phraseologismen. 8 Vgl. dazu allg. Harald Burger, Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen, 4., neu bearbeitete Auflage (Grundlagen der Germanistik 36), Berlin 2010. – Einen noch kompakteren Überblick bietet meine Vorlesungs-Seite aus dem Sommersemester 2001: http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/phraseo (Stand: 4. 8. 2010). 9 Mit dieser Reduktion auf nur fünf phraseologische Grundformen wird zum Zweck einer besseren Operationalisierbarkeit unseres dominant heuristischen Ansatzes auf weitere Subdifferenzierungen des Idiomatischen verzichtet. 10 Vgl. dazu Jesko Friedrich, Historische Phraseologie des Deutschen, in: Phraseologie – Phraseology. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, hg. von Harald Burger (et al.), 2. Halbband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28.2), Berlin / New York 2007, S. 1092–1106.
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Um mit diesen phraseologischen Typen arbeiten zu können, brauchen wir bzw. genügen uns kurze, bewusst komprimierte Definitionen, welche die allg. Phraseologie-Merkmale (siehe oben) teilweise noch ergänzen: – Als Sprichwortartiges (sprichwortartige Mikrotexte)11 sehen wir demgemäß zitierbar kurze, auf Erfahrung/Wissen rekurrierende Sätze mit einem normativ verallgemeinerbaren Gültigkeitsanspruch; als elementarer Teil einer oral getragenen ›geistigen Ordnung‹ der mittelalterlichen Gesellschaft sind sie speziell für diese Zeit in der Literatur auch zum beliebten ›Spielball‹ einer vielschichtig sinnstiftenden Intertextualität geworden.12 – Sprichwörtliche Redensarten zeigen sich durch markante Figuriertheit/Bildhaftigkeit mit Beteiligung eines prädikativen Elements bestimmt und lassen sich meist in sprichwortartige Sätze umformulieren (»Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten!«, s. o.). – Zwillingsformeln begegnen uns als eine (nicht satzwertige) Verbindung aus zwei synonymen oder antonymen Wörtern derselben Wortart, welche vorzugsweise durch eine Konjunktion, Präposition oder Vergleichspartikel verbunden und meist gemäß dem Prinzip gleicher oder ansteigender Silbenzahl bzw. Silbenlänge angeordnet sind.13 – Bildlose Wendungen sind nicht satzwertige unfigurierte Phraseologismen, welche ebenfalls die Grundmerkmale des Idiomatischen im engeren Sinn (also inkl. eigener phraseologischer Bedeutung) erfüllen können. – Routineformeln stellen strukturell offene, tendenziell bildarme Stereotype für stark automatisierte mündliche oder schriftliche Äußerungen zur Bewältigung kommunikativer Standardsituationen/Abläufe dar. In Summe dienen Phraseologismen sprachfunktional betrachtet dazu, durch die Kombination aus schon vorhandenem Wortmaterial einen semantischen Mehrwert zu erzielen. Dies kann einerseits zu einer stilistischen Anreicherung beitragen (vor allem durch Sprichwortartiges, Redensarten und Zwillingsformeln), andererseits der Automatisierung eines schablonenartig auf Gelingen ausgerichteten Sprachhandelns dienen (durch Routineformeln und viele der bildlosen Wendungen). Durch diese Grobcharakterisierung soll nur auf die unterschiedlichen Motivationen für den Einsatz von Idiomen hingewiesen werden, ohne damit die situationsgebundenen Routineformeln abzuwerten: Denn gerade sie stellen hoch elaborierte Register dar, die zur Bewältigung wichtiger, oft emotional stark belasteter Aufgaben dienen; in diesem Sinn sind sie zwar nur sehr eingeschränkt auch rhetorischer ›Zierrat‹, sehr wohl aber Teil unseres kommunikativen Fundaments. 11 Siehe Wernfried Hofmeister, Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt an der hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters (Studien zur Phraseologie und Parömiologie 5), Bochum 1995. 12 Siehe Silvia Reuvekamp, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin 2007. 13 In leicht abgewandelter Form zitiert nach Wernfried Hofmeister, Zwillingsformel, in: Historisches Lexikon der Rhetorik, Bd. 9: St–Z, Tübingen 2009, Sp. 1584–1586.
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Wir gehen jetzt nicht näher auf den Zusammenhang zwischen dem Idiomatischen und den rhetorischen Figuren ein, weil unser Ziel ja in erster Linie das Erschließen des phraseologischen (anders) Bedeutens ist. Ebenfalls nicht im Zentrum stehen für uns linguistische Feindifferenzierungen des Phraseologischen in Hinblick auf unterschiedliche morphosyntaktische Konstellationen (z. B. in Funktionsverbgefügen oder adverbialen Syntagmen), denn auch sie mögen für unsere Zwecke zugunsten der oben genannten, besser überschaubaren Grundausprägungen des Idiomatischen zurücktreten. (Siehe hierzu auch die Anmerkungen zur Merkmalliste unten.) Zur Auflockerung und näheren Verständigung über den Kern des Phraseologischen sei ein moderner Beispielsatz bemüht: »Die Nachbarn sind letztes Jahr mit Kind und Kegel in den Urlaub gefahren«. Dank unserer Sprachkompetenz, zu der auch eine Art Phraseologie-Register gehört, erkennen wir darin die Wendung »mit Kind und Kegel« als ein rekurrentes, polylexikalisches Phrasem, das nicht wörtlich, sondern in einer übertragenen ›Sammelbedeutung‹ verstanden sein will, etwa dergestalt, dass die Nachbarn wohl mit dem halben Hausrat unterwegs waren. Damit haben wir erfolgreich die phraseologische Bedeutung des hier zusätzlich auftretenden Sprachbildes vom »Kegel« erfasst, selbst wenn wir dessen historische, hier bereits zurückgewichene Bedeutung (»uneheliches Kind«) nie erfahren haben sollten: Eine derartige Figuriertheit ist nicht untypisch für Phraseologismen, aber keineswegs notwendig, denn auch bildlos ›durchsichtige‹ (transparente) Phraseologismen etablieren eine gemeinsame Bedeutung, so etwa in der Pressemeldung »Die Frau wurde in letzter Sekunde gerettet«: »In letzter Sekunde« fassen wir – abermals mit Hilfe unseres Phraseologie-Registers bzw. unserer von klein auf erworbenen Sprachroutine – ganz allgemein als das Abwenden einer akut drohenden Gefahr auf, sei es, dass für die betroffene Frau (theoretisch) tatsächlich nur Sekunden oder doch Minuten von einem zu befürchtenden Schadensereignis entfernt war. Das Stichwort ›Register‹ macht uns auf die wohl grundlegendste Aporie im Umgang mit historischen Phraeologismen aufmerksam: Gemeint ist schlicht der Umstand, dass das Wissen um phraseologisches Bedeuten an eine Kompetenz gebunden ist, die wir nur an lebenden Personen überprüfen/testen können, wobei wir es selbst da mit black box-Phänomenen zu tun haben, bei welchen wir über die konkrete (aktive und passive) Verarbeitung idiomatischer Spracheinheiten wenig Sicheres, Objektives auszusagen vermögen. Für vergangene Zeiten sind wir ganz auf das schriftlich Überlieferte angewiesen und können daher im Grunde nur Rekonstruktionen anbieten. Dies setzt unserem idiomatischen14 Forscherdrang enge Grenzen, zeigt aber auch einige Chancen auf: Denn weil Phraseologismen eine Sprachuniversalie darstellen, welche im Wesentlichen auf den oben genannten Grundfaktoren beruht, lassen sich durch eine genaue Beobachtung von phraseologischen Merkmalen doch einige Details herausfiltern, 14 ›Idiomatisch‹/›Idiom‹ wird hier synonym zu ›phraseologisch‹/›Phrasem‹ verwendet.
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welche uns als valide Indizien für das Vorliegen von Phraseologizität dienen.15 Mit Hilfe solcher indirekter Hinweise wird man zwar nicht dasselbe Maß an Sicherheit gewinnen wie für gegenwärtige Sprachen, aber graduell doch ein mitunter erstaunlich hohes. Wenn wir diese Beobachtungen des Weiteren mit Aspekten der (narrativen) Textlogik, mit diversen kommunikativen Plausibilitäten, aber auch mit rhetorisch-stilistischen Traditionen in Zusammenhang bringen, werden wir eine Art von phraseologischen Szenarien rekonstruieren können, in denen sich das Wirken von Idiomen glaubwürdig abbildet. Unser Instrumentarium: die phraseohistorische Checkliste Alle acht Indizien der folgenden phraseohistorischen Checkliste sind gemäß ihrem Grad an ›Beweiskraft‹ in absteigender Reihe angeordnet, zumindest tendenziell, da es unscharfe Ermessensspielräume geben mag und nicht alle Indizien für alle denkbaren Anwendungsfelder/Textsorten gleichermaßen relevant sind. Als Grundstock für die Liste dient uns der anregende HSK -Artikel über historische Phraseologie von Jesko Friedrich; fünf seiner (in Summe ebenfalls acht) Identifizierungsindizien sind bei uns eingeflossen.16 Für unsere literaturwissenschaftlichen Zwecke galt es, Friedrichs formallinguistische Darstellung neu zu fokussieren und dafür einige seiner Indizien zusammenzufassen oder auch aufzuteilen. Auf diese Weise entwickelt sich unsere Checkliste von der HSK -typischen belegorientierten Darstellung hin zu einem Analyse-Instrument, durch welches wir auch umfangreichere Kontextbezüge mit in den Blick nehmen können und ganz konkrete, textspezifische Aktualisierungen von Phraseologismen erkennbar werden. 1) Metasprachliches:17 Höchste Aufmerksamkeit verdienen kommentarartige Hinweise, welche ganz unmittelbar die Grundmerkmale des Phraseologischen betreffen und bestätigen. So kann eine Formulierung wie als man ofte horet die Gebräuchlichkeit einer Wendung markieren, daz meinet vor einer Mehrwortverbindung auf ein idiomatisches ›Andersbedeuten‹ des damit Bezeichneten hinweisen oder die Formel als ein wiser seit die Zitiertheit einer nachfolgenden Sentenz verbürgen. Obwohl wir damit noch keine Gewähr haben, dass die solcherart hervorgehobenen Phrasen einst tatsächlich Teil des täglichen Sprachgebrauchs und in genau dieser Gestalt weit verbreitet waren, indizieren derartige sprachreflexive Elemente doch eine zumindest virtuelle Usualität resp. – noch vorsichtiger ausgedrückt – wenigstens eine ihnen vom Autor zugeschriebene 15 Die prinzipielle Nützlichkeit von merkmalsbasierten ›Fahndungslisten‹ für phraseologische Phänomene konnte schon vor 20 Jahren am Beispiel des proverbiellen Sprachguts nachgewiesen werden: Wernfried Hofmeister, Sprichwortartige Mikrotexte. Analysen am Beispiel Oswalds von Wolkenstein (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 537), Göppingen 1990. 16 Vgl. Friedrich [Anm. 10], S. 1093 f. 17 Ebda, Punkt 3.
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phraseologische Eigenschaft; das wird auch nicht durch den Umstand (allzu sehr) geschwächt, dass solche metasprachlichen Kommentare selbst sehr oft Phrasen sind, sie also ihre Hinweisfunktion über eine ihnen eigene idiomatische Bedeutung zur Geltung bringen. Freilich mag man einwenden: Was von solchen kommentierenden Elementen indiziert wird, könnte manchmal bloß ein ›phraseologischer Fake‹ sein, der nur in der und für die Dichtung ad hoc geprägt wurde, um damit ein Idiom vorgeblich als längst bewährt erscheinen zu lassen. Aber das mochte allenfalls den Einsatz von sprichwortartigen Sätzen betreffen, welche erstmals vom Autor selbst eingeführt wurden und daher vielleicht einer solchen metasprachlichen Unterstützung bedurften. Keinen derartigen Sinn hätten affirmative Kommentare dieser Art dagegen für nicht satzhafte Idiome (wie etwa sprichwörtliche Redensarten) gemacht, weil diese für ihr phraseologisches Funktionieren schlicht darauf angewiesen sind, schon vorab eingeübt zu sein: Für diesen Bereich also zeigt uns das metasprachliche Indiz – forensisch formuliert – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas an, das auch für die mittelalterlichen Textrezipient/innen ein schon gängiger Phraseologismus war. Einen Glücksfall für den metasprachlichen Nachweis von Phraseologismen stellen allfällig vorhandene Sammlungen dar, wie wir sie für das sentenzenartige Sprachgut in unserem Kulturkreis seit dem frühen Mittelalter18 kennen. Solche expliziten Idiom-Register mit sprichwortartigen Belegen treten für uns zwar nicht wie unmittelbar vorhandene Metahinweise in Erscheinung, als kumulativer Kommentar (der uns hintergründig als quellenartiges Verzeichnis dient) kommen sie dem jedoch nahe. Eine bereits in diese Richtung weisende Funktion erfüllt für die mhd. Zeit die Spruchsammlung ‘Bescheidenheit’ Freidanks:19 Die hier ab etwa 1230 zusammengeführten Weisheiten aus volkssprachlicher und gelehrter Tradition tragen im Grunde alle den Stempel ›echter‹ Phraseologizität20 – auch wenn diese keineswegs in allen Fällen heute noch nachzuweisen wäre. Faktum ist jedoch, dass sich etliche der hier vereinten Belege auch bei anderen Autoren vor und nach Freidank finden und wir schon ob dieses Umstands gerne von Freidanks Sammlung ausgehen dürfen, um etwa für die mhd. Zeit auf verbreitete sprichwortartige Idiome aufmerksam zu werden. 2) Rekurrenz:21 Die mehrfache Wiederkehr einer phraseologisch verdächtigen Mehrwortverbindung an verschiedenen Stellen eines Textes oder in mehreren Texten ist ebenfalls beinahe schon beweiskräftig für das Vorliegen eines Phrasems. Zwar haben wir dabei einmal mehr großzügig, doch keineswegs ignorant über die Imponderabilien hinwegzusehen, welche sich aus den unterschiedlichen Überlieferungsumständen ergeben mögen und hinter denen sich 18 Z. B. die Schrift ‘Fecunda ratis’ des Egbert von Lüttich (Anfang 11. Jh.). 19 Siehe dazu Joachim Heinzles ›Marburger Repertorium der Freidank-Überlieferung‹ unter http://www.mrfreidank.de (Stand: 4. 8. 2010). 20 Vgl. zur ›Echtheitsproblematik‹, der man speziell in historischen Kontexten nicht zu rigoros begegnen sollte, Hofmeister [Anm. 11], S. 5–9. 21 Bei Friedrich [Anm. 10] Punkt 7.
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der mittelalterliche Sprachalltag nur indirekt abbildet. Also wollen wir hier mit schon wenigen zeitgenössischen oder doch historisch zeitnahen ›Treffern‹ zufrieden sein und allfällige Variationen einer Wendung durchaus großzügig mit berücksichtigen. (Letzteres rechtfertigt sich einerseits dadurch, dass bei der historischen Herausbildung von Idiomen sehr oft eine frühe Phase höherer Varianz zu beobachten ist, innerhalb der sich jedoch oft schon so etwas wie ein phraseologischer Kern ausgeprägt zu haben scheint, und andererseits gehört – trotz des phraseologischen Strebens nach Fixiertheit – das Phänomen der Varianz auch im Bereich der ›festen Ausdrucksweise‹ offenbar zum überzeitlichen Prinzip einer stetigen Sprachanpassung: Kurzum, auch idiomatische Varianten können herangezogen werden.) Wie wir solche exakten oder varianten Rekurrenzen finden können, hat schon unser Einstiegsbeispiel verdeutlicht: Mit Hilfe unseres neuen elektronischen ›Text-Gedächtnisses‹ sind wir besser denn je in der Lage, ähnlich lautende Wendungen aufzudecken. Dabei hilft uns insbesondere die schon genannte Begriffsdatenbank (MHDBDB )22 sowie der gesamte online erreichbare Wörterbuchverbund mit dem BMZ , dem Lexer und dem ebenso hervorragend erschlossenen Grimm’schen Wörterbuch.23 Dazu kommen weitere Textdatenbanken wie die Initiative TITUS ,24 das Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv der Universität Trier25 oder die Bibliotheca Augustana.26 Zahlreiche andere Online-Textquellen treten noch hinzu,27 darunter besonders hervorzuheben die philologisch hochstehende Volltexterfassung des umfangreichen ›Renners‹ des Hugo von Trimberg.28 3) Gegenwartssprachliche Parallele/Entsprechung:29 Da alle unsere gegenwärtigen Phraseologismen eine Geschichte haben und viele dieser Geschichten bis ins hohe Mittelalter zurückreichen (manchmal sogar bis zu antiken Wurzeln), kann uns unsere gegenwartssprachliche Sprachkompetenz beim Entdecken historischer Wendungen gewiss dienlich sein; müßig zu sagen, dass zur allfälligen Absicherung unserer Parallel-Funde diverse (etymologisch orientierte) Lexika heranzuziehen sind. Solche Umsicht vorausgesetzt, funktioniert das Erschließen historischer Idiome über einen Vergleich mit Entsprechungen in unserer Gegenwartssprache relativ zielsicher, und das trotz der unter Punkt 2 angesprochenen Varianz. 22 23 24 25 26 27
Siehe Anm. 3. http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB (Stand: 04. 08. 2010). http://titus.uni-frankfurt.de (Stand: 04. 08. 2010). http://mhgta.uni-trier.de (Stand: 04. 08. 2010). http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html (Stand: 04. 08. 2010). Vgl. Andrea Hofmeister-Winter, Editionssuche in der wissenschaftlichen Praxis: Gedanken zur Auffindbarkeit von Textausgaben im Internet, in: Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008, hg. von Wernfried Hofmeister und A. H.-W. (Beihefte zu editio 30), Tübingen 2009, S. 81–95. 28 http://www.staff.ncl.ac.uk/henrike.laehnemann/renner (Stand: 04. 08. 2010). Der Text findet sich aber auch in der MHDBDB . 29 Bei Friedrich [Anm. 10] Punkte 1 und 5.
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Schlagend illustrieren kann man dies mit so manchem alten Sprichwort, etwa der Rechts-Parömie gnaˆde ist bezzer danne reht aus Hartmanns von Aue ‘Iwein’ (v. 172), das uns messerscharf auf die noch heute geläufige Maxime »Gnade geht vor Recht« schließen lässt und damit die historische Proverbialität von Hartmanns Variante außer Zweifel stellt.30 Fast noch besser ›funktionieren‹ einige unserer modernen Zwillingsformeln als Hinweise auf ihre historischen Vorgänger: Wenn etwa in Gottfrieds von Straßburg ‘Tristan’ von liep unde leit (v. 206) die Rede ist sowie gleich anschließend von eˆre unde lop (v. 209), liegen die uns bekannten Formeln »Liebe und Leid« sowie »Lob und Ehre« nicht weit und stützen unser phraseologisches Urteil ganz wesentlich.31 Ähnlich hilfreich können Parallelen mit heute noch aktuellen Routineformeln sein: Gleich mehrere davon geben sich dank unserer modernen Sprachkompetenz z. B. in diesen zwei Versen aus Ulrichs von Liechtenstein redseligem ‘Frauenbuch’ zu erkennen: sie redten ditz, sie redten daz, / nuˆ hoerent mich, ich sag iu waz! Schon recht treffend hat Young diese Passage übersetzt: »Sie sprachen dies, sie sprachen das. Jetzt hört mir zu, ich sage Euch was!«32 Phraseologisch noch passender (und in angemessenerer reimloser Prosa) ließe sich diese toposhafte ›Aufmerksamkeitsheische‹ mittels gegenwartssprachlicher Parallel-Phrasen aber so übertragen: »Sie sprachen über dieses und jenes. Passt jetzt auf, ich erzähle euch etwas.« Durch diese phraseologischen Äquivalente erschließt sich Ulrichs Erzählstil noch plastischer und zeigt sich uns in einer um 1250 wohl als ›flott‹ empfundenen Diktion, welche das anschließende, ungewöhnlich offenherzige Streitgespräch zwischen dem höfischen Paar publikumsnah kolloquial und genau darin hoch suggestiv als ›aus dem Leben gegriffen‹ einleitet – ein früher Beitrag zu unseren modernen ›real life‹-Debatten. Abrundend seien unter den gegenwartssprachlichen Parallelen noch die manchmal sehr ›verräterischen‹ ›Univerbierungen‹ genannt: Ein Ausdruck wie »allerhand« gibt bei etwas näherer Betrachtung zu erkennen, dass in ihm zwei ursprünglich selbstständige, jedoch bereits in historischer Zeit phraseologisch gebundene Wörter enthalten sind. Dementsprechend liest man z. B. im ‘Wigalois’ des Wirnt von Grafenberg mehrfach von aller hande rıˆterspil (v. 1254, 2655, 9261), aber auch aller hande seitspiel (v. 235) oder aller hande kleider (v. 9807). 4) Strukturelle Idiom-Merkmale: Die zitiert wirkende Eigentextualität von Sprichwörtern, die typische Paar-Bauform von Zwillingsformeln oder die syntagmatische Eigendynamik anderer Sprachformeln – all diese auffallend musterbildenden Phraseologiemerkmale lernen wir beim Erwerb unserer persönlichen Phraseologiekompetenz instinktiv zu abstrahieren und können diese Merkmale 30 Vgl. dazu Reuvekamp [Anm. 12], S. 112–115. 31 Siehe zur Erfassung von ›Zwillingsformeln‹ die Anm. 7. 32 Ulrich von Liechtenstein. Das Frauenbuch. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Christopher Young, Berlin / New York 2010, S. 55.
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daher intuitiv auch dafür nützen, uns noch unbekannte Phraseologismen als solche zu erkennen; und das gilt ebenso für unseren Umgang mit historischen Texten: Dank dieser latenten Fähigkeit können wir auch hier Idiome erahnen, obwohl uns dafür z. B. gar kein konkreter gegenwartssprachlicher Parallel-Beleg bekannt ist. (Hilfreich ist dabei meiner Erfahrung nach eine laut lesende, vortragshafte Textannäherung, da sich z. B. phraseologierelevante Rhythmisierungen, An- und auslautende Reime/Assonanzen, auffallende Wortakzentuierungen nur bedingt dem Auge, besser aber dem Ohr öffnen.) Stützen wir diese Intuition zusätzlich durch ein phraseologisches Fachwissen, wie ich es hier anzubieten versuche, können uns viele mittelalterliche Idiome neu ins Netz gehen, und zwar selbst dann, wenn – wie oben zu konzedieren war – einige phraseologische Strukturen im Mittelalter erst auf dem Weg zu ihrem typischen Formmuster waren. – Strukturell zu erfassen sind auch einige der Routineformeln, wobei es aber gewisser ›Marker‹ bedarf, um speziell sie als solche zu identifizieren, denn Routineformeln können – wie bei ihrer Definition oben anklingt – satzwertig sein oder nicht, dabei mehr oder weniger rhythmisiert bzw. verschleift, sie können in zeitgenössisch moderner Sprache formuliert sein oder schon ›patiniert‹ wirken, unscheinbar oder markant bildhaft auftreten. 5) Diskursiv Sprachformelhaftes:33 Es sind vorzugsweise Routineformeln, welche an markanten kommunikativen Schnittstellen stehen und dort eigene Sprechakte initiieren. Indem wir also darauf achten, wie z. B. der kommunikative Einstieg in eine Bitthandlung vorgetragen oder auf standes- und situationsgerechte Weise Trauer bekundet wird oder wie ein fiktiver Erzähler die abwechselnden Reden seiner Figuren einleitet, bekommen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Phraseologismen in den Blick. So ist es etwa kein Zufall, sondern Ausdruck eines adeligen Diskursverhaltens, wenn z. B. durch die unscheinbare, doch wichtige Formulierung des antwurt [er/man] im draˆte (5-mal in der ‘Steirischen Reimchronik’ des Ottokar von der Gaal bezeugt)34 eine Antwort als besonders prompt und damit respektvoll bzw. entschlossen charakterisiert wird; deswegen sollte man diese Wendung nicht wörtlich übersetzen und verstehen (»rasch antwortete er/man ihm«), sondern dem tieferen phraseologischen Sinn gehorchend eher formelhaft mit »eine/die Antwort ließ nicht lange auf sich warten«. 6) Bildhaftigkeit:35 Die Bildhaftigkeit eines Ausdrucks ist zwar vom aktuellen Kontext abhängig, vor dessen Hintergrund ein Ausdruck erst als ›nicht wörtlich gemeint‹ erkennbar wird, und setzt daher für historische Texte unsere Rekonstruktion einer solchen ›metaphorischen Differenz‹36 voraus, doch ist diese einmal 33 34 35 36
Bei Friedrich [Anm. 10] Punkt 2. Laut MHDBDB [Anm. 3] in v. 4961, 27655, 45612, 63770 und 66950. Bei Friedrich [Anm. 10] teilweise Punkt 4. Weniger stark ausgeprägt durch die – in der Bildgebung weniger auffällig ›verschobenen‹ – bildhaften Elemente der Metonymie und Synekdoche.
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als solche erkannt, können uns Sprachbilder eventuell signalisieren, dass sie präsumtiver Teil einer Mehrwort-Verbindung sind, etwa ein Sprichwort, eine sprichwörtliche Redensart oder eine ›verblümte‹ Routineformel. Es lohnt sich also, rund um figurierte Ausdrücke nach Phraseologischem Ausschau zu halten. Als ein uns willkommener Indikator für Bildhaftigkeit wirken Vergleichspartikeln, so z. B. im ‘Alexander’ des Ulrich von Etzenbach: dıˆn vröide, dıˆn hort und al dıˆn prıˆs / ververt alsam ein dünnez ıˆs / uˆf snellem wazzer von starker vluot (v. 27251–53). Das Wort alsam kündigt hier den metaphorischen Vergleich an, und dem folgt der Hinweis auf dünnez eis, den wir (unter Anwendung unseres Listenpunktes 3) in der Redensart »sich auf dünnem Eis bewegen« wiedererkennen: Und wir erschließen damit eine im Mittelalter bekannte, schon damals höchst suggestive Ausdrucksweise für ein Unternehmen, welches unter besonders gefährlichen Umständen von fatalem Scheitern bedroht ist. 7) Zeitgenössische fremdsprachliche Parallelen:37 Sie wären hilfreich, sofern es sie gibt, doch das ist selten der Fall. Denn vorauszusetzen ist zum einen ein recht enges, von hoher übersetzerischer Kompetenz getragenes Übersetzungsverhältnis zwischen unserem historischen Ziel- und seinem fremdsprachigen Ausgangstext (in lateinischer oder ›ausländischer‹ Sprache) und zum andern der Umstand, dass wir – um von dem einen auf das andere schließen zu können – in der Ausgangssprache bereits jenen Phraseologismus erfasst haben müssten, den wir dann im altdeutschen Text als sein allfälliges phraseologisches Pendant bezeichnen könnten. Kurzum: Sofern uns da nicht beispielsweise alte lateinische Spruchsammlungen oder antike Rhetoriklehrbücher mit ihren Tropensammlungen zu Hilfe kommen, herrscht akute Zirkelschlussgefahr! Daher sei dieses ›interlinguale‹ Indiz hier nur an vorletzter Stelle der Vollständigkeit halber genannt, zumal wir mit ihm für unsere genuin volkssprachig verfassten Textbeispiele aus dem ‘Nibelungenlied’ und Neidharts Liedschaffen sicher keinen phraseologischen Lorbeerkranz erringen können. 8) Sinndefizit bei ›einzelwörtlichem‹ Bedeuten: Wie können wir etwas als einst phraseologisch gemeint enttarnen, das weder metasprachlich markiert ist noch uns schon als auffallend häufig gebraucht auffiel, das weder dank unserem gegenwärtigen Phraseologieregister noch aufgrund typischer Idiom-Strukturen ins Auge sticht, das keine diskursive Schnittstelle besetzt, kein markantes Bild in sich birgt und auch keiner phraseologischen Übersetzungsvorlage folgt? Und woran können wir trotzdem so manchen Phraseologismus oft früher erahnen als anhand aller bislang aufgezählten Punkte unserer phraseohistorischen Checkliste identifizieren? Die Antwort lautet: an einem schlicht nicht überzeugenden wörtlichen Bedeuten einer Wortreihe! Für meine Praxis der Phraseologismen-Findung hat dieses Indiz, das bei jedem kritischen, sinnverständigen Lesen eines mittelalterlichen Textes oder dessen Übersetzung(en) zum Tragen kommt, zu den meisten Treffern geführt – stets 37 Bei Friedrich [Anm. 10] Punkt 8.
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vorausgesetzt, die fragliche Textpassage gehorcht tatsächlich allen elementaren Prinzipien einer textlogischen Sinnproduktion, ist kohärent und stringent aufgebaut, und vorausgesetzt auch, dass von keinem Autorunvermögen ausgegangen werden muss oder von einer korrupten, sinnverstellenden Überlieferung. Wir wissen, dies gilt für mittelalterliche Texte keineswegs immer, doch gewiss häufiger, als es so manche unserer Fachübersetzungen vermuten lässt. In solchen Fällen vermag die Annahme eines historischen Idioms und dessen phraseologisch adäquates Verstehen so manches scheinbare Sinndefizit zu kompensieren. Obwohl dieser Punkt also beim Erkennen von Idiomen besonders erfolgreich hilft, steht er hier dennoch zu Recht nicht an einer höherer Position, denn um wirksam zu werden, braucht er eben ein gerüttelt Maß an Intuition (Wie erzählt der Autor? Was ist in einer bestimmten Textsituation zu erwarten? Welche Emotion wird vermittelt? Welche Ausdrucksweise ›passt‹ zu welcher Figur? etc.) und beruht daher auf minder objektiven Kriterien als die vorangegangenen Checklistenpunkte. Trotzdem wollen, ja müssen wir es immer wieder wagen, (vermeintlich) sinnlose/banale Wortfolgen, die womöglich von furchtbar holpernden Übersetzungen begleitet werden, durch ein plausibel rekonstruierbares Sinnszenario zu erhellen, um eventuell zeigen zu können, wie sich durch ein präsumtives phraseologisches Andersbedeuten einzelner Wortfolgen das Idiomatische wie von selbst schlüssig zu erkennen gibt. Wir vergessen dabei jedoch nie, auch nach allfälligen Stützen durch weitere Indizien (von Punkt 1–7) zu suchen. Andernfalls hätte uns am Ende doch noch der gefürchtete circulus vitiosus zu Fall gebracht. Daraus ergibt sich Folgendes, direkt oder indirekt: Die phraseohistorische Checkliste ist nicht in Stein gemeißelt, könnte also umkonfiguriert und/oder weiter ausdifferenziert werden. In ihrer überschaubaren Gestalt sollte sie aber zum einen dabei hilfreich sein, das Aufspüren von Phraseologischem zu operationalisieren, und zum andern uns für alles Idiomatische (noch stärker) zu sensibilisieren, auf diese Weise kritisch(er) zu machen gegenüber bislang vielleicht nicht adäquat verstandenen Wendungen. In der Praxis wird meist nur die Heranziehung eines Bündels von mehreren Indizien ans Ziel führen, wobei jedem einzelnen Indiz ein von Fall zu Fall unterschiedliches Gewicht zukommen mag. Noch zurückzustellen, aber nicht zu bagatellisieren haben wir die so genannte Echtheitsfrage: Nur weniges wird sich fast zwingend als ›echt‹, also schon in historischer Zeit phraseologisch, zu erkennen geben (weil es weit verbreitet oder – zufällig – in einem zeitnahen Quellenwerk erfasst ist), das meiste dagegen wird nur durch unseren phraseologischen Spürsinn den Anspruch auf Idiomatizität erheben können und durch die Überzeugungskraft unserer Sinnszenarien abzustützen sein. – Beides, das Faktengebundene und das (im guten philologischen Sinn) Spekulative, wollen wir nun zur Geltung bringen, um an den folgenden beiden Textbeispielen zu erkennen, was sie an Phraseologischem zu bieten haben. Als rasche Orientierungshilfe seien alle acht ›Checklistenpunkte‹ (akronymisch zu » CLP « gekürzt) nochmals summarisch genannt:
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– – – – – – – –
CLP 1: CLP 2: CLP 3: CLP 4: CLP 5: CLP 6: CLP 7: CLP 8:
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Metasprachliches Rekurrenz Gegenwartssprachliche Parallele/Entsprechung Strukturelle Idiom-Merkmale Diskursiv Sprachformelhaftes Bildhaftigkeit Zeitgenössische fremdsprachliche Parallelen Sinndefizit bei ›einzelwörtlichem‹ Bedeuten
Anwendungsbeispiel 1: ‘Nibelungenlied’ 151
Doˆ sprach von Tronege Hagene: »daz endunket mich niht guot. Liudegast unt Liudegeˆr die tragent übermuot. wir mugen uns niht besenden in soˆ kurzen tagen.« soˆ sprach der küene recke. »wan muget irz Sıˆvride sagen?«
Da sagte Hagen von Tronje: »Ich bin damit nicht einverstanden. Liudegast und Liudeger handeln mutwillig; in so kurzer Zeit können wir unser Heer nicht sammeln.« So sagte der tapfere Recke: »Warum sagt Ihr es nicht Siegfried?« 152
Die boten herbergen hiez man in die stat. swie vient man in wære, vil schoˆne ir pflegen bat Gunther der rıˆche (daz was wol getaˆn), unz er ervant an friunden wer im daˆ wolde gestaˆn.
Man ließ die Boten in der Stadt Herberge nehmen, und es war richtig, dass der mächtige König trotz der allgemeinen Feindseligkeit strengen Befehl gab, sie zuvorkommend als Gäste zu versorgen, bis er in Erfahrung gebracht habe, welcher seiner Freunde ihm Beistand leisten wollte. 153
Dem künege in sıˆnen sorgen was iedoch vil leit. doˆ sach in truˆrende ein ritter vil gemeit, der niht mohte wizzen waz im was geschehen. doˆ bat er im der mære den künec Gunther verjehen.
In seiner schweren Bedrängnis war der König sehr niedergeschlagen. Da sah ein stolzer Ritter, dass er Kummer hatte. Er konnte sich nicht erklären, was ihm widerfahren war. Da bat er den König Gunther, ihm zu sagen, was geschehen sei. 154
»Mich nimt des michel wunder«, sprach doˆ Sıˆvrit: »wie ir so habet verkeˆret die vrœlıˆchen sit der ir mit uns nu lange habt alher gepflegen?« des antwurte im doˆ Gunther, der vil zierlıˆche degen:
»Es ist mir ein Rätsel«, sagte Siegfried, »weshalb die Fröhlichkeit, die Ihr uns gegenüber solange gezeigt habt, auf einmal verflogen ist?« Auf diese Frage antwortete ihm Gunther, der schöne Held: 155
»Jane mac ich allen liuten die swære niht gesagen, die ich muoz tougenlıˆche in mıˆme herzen tragen. man sol stæten friunden klagen herzen noˆt.« diu Sıˆvrides varwe wart doˆ bleich unde roˆt.
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»Von der schweren Last, die mein Herz heimlich bedrückt, darf ich nicht allen Menschen etwas sagen: nur wahren Freunden soll man ein schweres Leid anvertrauen.« Siegfried wurde bleich, aber gleich darauf schoß das Blut ihm ins Gesicht. 156
Er sprach zuo dem künege: »ine haˆn iu niht verseit. ich sol iu helfen wenden elliu iuwer leit. welt ir friunt suochen, der sol ich einer sıˆn unt trouwe ez wol volbringen mit eˆren an daz ende min.«
Er sagte zum König: »Ich habe Euch doch nichts abgeschlagen! Ich werde Euch helfen, alles Schlimme von Euch abzuwenden. Wenn Ihr Freunde sucht, so laßt mich einer von ihnen sein, und ich glaube fest, Euer Vertrauen bis an mein Lebensende zu rechtfertigen.« 157
»Nu loˆne iu got, her Sıˆvrit! diu rede mich dunket guot. und ob mir nimmer helfe iuwer ellen getuot, ich freu mich doch der mære, daz ir mir sıˆt soˆ holt. lebe ich deheine wıˆle, ez wirdet umbe iuch wol versolt.
»Gott möge Euch lohnen, Herr Siegfried, denn ich höre diese Worte sehr gern. Selbst wenn Ihr Eure Tapferkeit nicht in meinen Dienst stellt, bleibt mir doch die Freude, dass Ihr es so gut mit mir meint. Wenn ich noch eine Weile am Leben bleibe, dann werde ich Euch dafür meinen Dank erweisen. 158
Ich wil iuch laˆzen hœren, war umbe ich truˆrec staˆn. von boten mıˆner vıˆende ich daz vernomen haˆn, daz si mich wellen suochen mit herverten hie. daz getaˆten uns noch degene her zuo disen landen nie.«
Ich will Euch sagen, weshalb ich so bekümmert bin. Von Boten, die meine Feinde mir geschickt haben, mußte ich hören, dass sie mich mit ihren Kriegsheeren hier in meinem Lande heimsuchen wollen. Bisher haben es noch niemals feindliche Helden gewagt, in unser Land einzufallen.«
Wie schon eingangs festgehalten, haben wir sehr bewusst die Textdarbietung von Helmut Brackert gewählt.38 Insbesondere wird es darauf zu achten gelten, wie weit sich die von uns detektierbaren Idiome in seiner ›Referenzübersetzung‹ spiegeln oder nicht. An ausgewählten Stellen sollen aber auch jüngere Übersetzungen mit einbezogen werden.39 Kurz der Kontext des untersuchten Ausschnitts: In der 3. Aventiure des ‘Nibelungenlieds’ fühlen sich die Burgunder von ihren Gästen aus dem Sachsenland bedroht. Zweifelnd, ob ihre eigene Kampfkraft einen allfälligen Angriff abwehren könne, rät Hagen König Gunther, Siegfried um militärischen Beistand zu bitten. Gunther folgt diesem Rat und spricht Siegfried, der immerhin schon seit einem Jahr am Burgunderhof weilt, mit aller gebotenen Diplomatie, aber auch mit emotionaler Verve an: Um nämlich aus dem einst selbst gefährlich usurpatorischen Heerführer Siegfried nun sogar einen Verbündeten zu machen, 38 Siehe Brackert [Anm. 5]. Sein Text folgt der Hs. B; er ist hier buchstabengetreu wiedergegeben, aber unter Weglassung der Lesehilfen (Betonungs- und Synkopierungszeichen). 39 Falls sich die Übersetzungen fraglicher Stellen ev. auf markant abweichende Textfassungen des ‘Nibelungenlieds’ beziehen, wird dies natürlich zu vermerken sein.
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der womöglich ohne besonderen Sold sein Leben einsetzt – also gerade so, als ob er (schon) ein Verwandter sei –, bedarf es einer Mischung aus berechnendem Verstand und Gefühl. Greifen wir zuerst die Routineformeln auf, und zwar insbesondere jene, die zwischen den Dialogen als Erzählerkommentare eingeschoben sind. Routiniert Formelhaftes benützt der Erzähler hier – wie in der gesamten Dichtung bzw. wie es dichtungsübergreifend üblich ist, um seinen Figuren das Wort zu erteilen. Er tut dies mittels der stereotyp-bausteinartig wiederkehrenden Redeeinleitungen Doˆ sprach (Str. 151,1), soˆ sprach (151,4), sprach doˆ (154,1) und er sprach (156,1), die wir längst als einen Bestandteil aller narrativen Dichtungen, speziell aber der oralen kennen. Um solche konventionellen inquitFormeln zu erkennen, hätten wir unsere Checkliste nicht unbedingt gebraucht, doch hilft sie, uns den phraseologischen Charakter und damit das idiomatisch verschleifte Bedeuten dieser unscheinbaren Wendungen bewusst zu machen und ihnen damit etwas von ihrem vermeintlich ostentativen ›hölzernen Klappern‹ zu nehmen: Als narrative Routineformeln mit der phraseologischen Bedeutung ›Redeeinsatz von‹ bzw. ›Redewechsel zu‹ gehören sie zum eher unauffälligen, automatisierten Redeablauf und brauchen auch dementsprechend wenig Variation. In dieser reduzierten Bedeutung lässt sich die Wendung doˆ sprach bzw. sprach doˆ im Grunde auf das moderne phraseologische Äquivalent »er/sie sagte« ummünzen. Gut trifft das Brackert in 154,1, wo er sprach doˆ Sıˆvrit zu »sagte Siegfried« verkürzt, indem er das Adverb doˆ nicht gesondert übersetzt. Demgegenüber wörtlicher bleibt er aber in 151,1 (Doˆ sprach: »Da sagte«) sowie bei der Formelvariante in 151,4, wo für soˆ sprach das Neuhochdeutsche »So sagte« recht befremdlich klingt, weil dieser ›Nachbau‹ der Vorlage die phraseologische Bedeutung bricht; flüssiger klänge hier als inquit-Variante eine vertraute, ›rollenkonforme‹ Wendung wie »Darauf sagte (er)«. – Ebenfalls als narrative Routineformel an einer kommunikativ signifikanten Stelle (siehe CLP5 oben) fungiert daz was wol getaˆn in 152,3: Diese Phrase dient als Bestätigung der Erzählhandlung, genauer gesagt des Befehls von König Gunther, die fremden Gäste zuvorkommend zu behandeln, obwohl von ihnen Gefahr ausgehe. Dass die Wortverbindung tatsächlich rekurrent ist (CLP2), zeigen u. a. die weiteren Vorkommen im ‘Nibelungenlied’40 und außerhalb davon. CLP3 (»gegenwartssprachliche Parallele«) mag man durch die Wendung »richtig handeln« bzw. »etwas richtig machen« erfüllt sehen; damit stimmt Brackerts (syntaktisch nach vorne geschobene) Übersetzung »und es war richtig« gut überein. Routineformeln benützt aber nicht nur der Erzähler, er teilt sie auch seinen Figuren zu und macht deren Konversation damit ›authentischer‹. Wieder sind es (gemäß unserer Routineformel-Definition oben) die kommunikativen Schnittstellen, an denen sie stereotyp auftreten und Sprechakte einleiten oder überhaupt tragen (CLP5). Das trifft auf Hagens Äußerung eines Bedenkens in 151,1 zu: Mit 40 Nämlich in 429,3 und 1398,2.
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der Wendung daz endunket mich nicht gut meldet er sich nachdrücklich zu Wort und kündigt gegenüber Gernot seinen Widerspruch an, welcher (in Str. 159) trotz zahlenmäßig eklatanter Unterlegenheit der Burgunder gegenüber den dänischen Kriegern zum Kampf gegen diese ermuntert hatte. Dass Hagen zur Bekundung seiner Zurückweisung dieser Strategie tatsächlich eine Art von Widerspruchsformel verwendet, verdeutlichen mehrere gleichlautende Belege aus historischer Zeit (CLP2).41 Sie könnte man fast durchgehend durch unsere moderne Wendung »das halte ich für falsch« wiedergeben. Eine Art von phraseologischem Echo erfährt diese Wendung schließlich noch in 157,1 durch Gunthers Antwort auf Siegfrieds Unterstützungsangebot: diu rede mich dunket guot. Das heißt phraseologisch modern umgesetzt: »Diese Worte freuen mich«.42 – Gleichsam noch expliziert wird Gunthers formelhafte Freudenbekundung zwei Langverse weiter durch die kommunikativ gleichgerichtete Wendung ich freu mich doch der maere (157,3), welche sich somit ebenfalls zu CLP5 (»Diskursives«) stellt. CLP2 (»Rekurrenz«) ist für das Verbalsyntagma sich einer maere freun zigfach erfüllt,43 ebenso CLP3 (»Gegenwartssprachliches«), da es noch heute heißt »sich über eine Nachricht freuen«; freilich wird der Begriff »Nachricht« hier nicht auf Siegfrieds Hilfsangebot zutreffen, sodass man diese Formel phraseologisch besser umschreibt mit »so freut es mich (jedenfalls), das zu hören«. (Brackerts Version »bleibt mir doch die Freude« liegt in der Nähe unseres Vorschlags, scheint aber zu resignativ konnotiert.)44 Wir blicken zurück auf Vers 157,1: Dort steht an kommunikativ markanter Position (CLP5) die im christlichen Mittelalter weit verbreitete (CLP2)45 Dankesformel Nu loˆne iu got (157,1). Sie erinnert dem Sinn nach an unsere Formel »Vergelt’s Gott!« (bzw. an den univerbierten Ausdruck »Vergeltsgott!«, CLP3). Für den heroischen Diskurs zwischen Gunther und Siegfried empfiehlt sich zwar nicht unbedingt diese heute mundartlich wirkende Umsetzung, aber jedenfalls eine etwas freiere, zugleich phraseologisch suggestive Übertragung der Art »Gott danke es euch« (und nicht so sehr Brackerts allzu textnaher, idiomatisch unkonventioneller Vorschlag »Gott möge euch lohnen«). 41 Neben dem weiteren Beleg im ‘Nibelungenlied’ in 1867,1 (Etzeln kameraere dine duˆhte daz niht guot ) findet sich diese Phrase auch in der ‘Klage’ v. 503: mich enduˆht nu niht soˆ guot sowie wortgleich in der ‘Virginal’: daz endunket mich niht guot (29,4). 42 Etwas ›gestelzt‹, doch ansonsten stimmig wirkt Brackerts Übersetzung »ich höre diese Worte sehr gern«. 43 Unsere Stelle ist auch im BMZ erfasst. Die MHDBDB listet über 40 Treffer auf, darunter mehrere weitere aus dem ‘Nibelungenlied’. 44 Schulze bietet als Übersetzung »freue ich mich doch darüber«: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Herausgegeben und übersetzt von Ursula Schulze, Zürich 2005, S. 59. Grosse überträgt diese Stelle mit »so freue ich mich doch über die Zusicherung«: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdt. übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse (Reclam Universalbibliothek 644), Stuttgart 2002, S. 55. 45 Auch zu finden in den Varianten Des loˆne iu got sowie Got müeze iu loˆnen.
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Noch eine Sprachroutine prägt sich in 158,1 aus: Ich wil iuch laˆzen hoeren. Mittels dieser häufig bemühten Wendung (CLP2) leitet Gunther seine Enthüllung der akuten Bedrohung ein (CLP5). Gegenwartssprachlich entfernt vergleichbar (CLP3) kennen wir z. B. die Formulierungen »etwas zu hören bekommen« oder »von sich hören lassen«, doch würden diese Phrasen hier in eine diskursiv unpassende Richtung weisen. Angemessener wirkt da Brackerts Übersetzung mit »Ich will euch sagen« (CLP2), sofern wir sie phraseologisch (im Sinn von »etwas freiwillig kundtun«) auffassen, denn Gunther holt ja ganz ungezwungen dazu aus, sich weiter zu erklären, sodass schon in der Ausgangsphrase dem Hilfsverb wil ein bloß futurischer, ankündigender Aspekt innezuwohnen scheint und keine spezifische Intentionalität. Kommen wir zu den nicht diskursiv gebundenen Phraseologismen, abermals bei Str. 151 beginnend, nun aber ohne Aufteilung in die Erzähler- und Figurenrede und mit knapperen Hinweisen auf allfällige historische und gegenwartssprachliche Parallelen. Kürzer wollen wir auch die allfällige Übersetzungskritik halten (CLP8), welche weiterhin meist ›subvokal‹ bleiben kann. Die Wendung übermuot tragen (vgl. 151,2) lässt sich nicht häufig, aber doch mehrfach belegen46 und gibt sich schon von daher recht sicher als Teil eines historischen Sprachregisters zu erkennen. Zum Ausdruck gebracht wird das Vorliegen eines unangemessenen, tendenziell streitsüchtigen Verhaltens, welches dem negativ konnotierten Hybris-Motiv nahe steht. Den nur schwach bildhaften Ausdruck (in dem das moralische Abstraktum übermuot durch die körperlich rückgebundene Vorstellung des »Tragens« vermittelt wird: CLP6?) mag man daher am besten so übersetzen: »Liudegast und Liudeger geben sich anmaßend.« Eine typische, wohl schon um 1200 als verblasst empfundene Zeit-RaumMetapher (CLP6) begegnet uns in der Phrase in soˆ kurzen tagen (151,3); über solche ›Verräumlichung der Zeit‹ ließen sich eigene Bücher schreiben, hier aber genüge die Einsicht in die unspektakuläre phraseologische Sammelbedeutung unserer Stelle. Kaum auf den ersten Blick erschließt sich uns wohl der idiomatische Duktus der Wortfolge vil schoˆne ir pflegen (152,2), obwohl uns schon CLP8 warnen sollte, sie wörtlich zu nehmen, und tatsächlich finden wir hernach auch Rekurrenzen (CLP2). Gemäß mittelalterlichem Gastrecht sollen die Dänen somit schlicht »freundlich aufgenommen« werden. (Wörtlich, fast erklärend übersetzt Brackert, idiomatischer Grosse und Schulze.)47 Schon am Beginn dieses Beitrags wurde zur Wendung Mich nimt des michel wunder (154,1) alles Wichtige gesagt (s. o.). Für diese bildlose, aber kommunikativ 46 Außerhalb des ‘Nibelungenlieds’ noch in der ‘Kaiserchronik’ (v. 214) und ‘Alpharts Tod’ (Str. 59,1). 47 Brackert [Anm. 5] bietet »zuvorkommend als Gäste zu versorgen«, Grosse [Anm. 44] »gut versorgen«, Schulze [Anm. 44] »gut zu versorgen«.
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durchaus kraftvolle Phrase bleiben wir bei der bereits für besser befundenen Übersetzung »Es wundert mich sehr«.48 Sind auch die vroelichen sit (154,2) idiomatisch? Mehrere Belege ab der mittelhochdeutschen Zeit stärken durch das Indiz der Rekurrenz (CLP2) die Vermutung, dass hier eine bereits phraseologisierte Wortverbindung vorliegt, welche der Benennung eines in höfischer Zeit gesellschaftskonformen, »frohgemuten« Verhaltens dient; man mag es (hier) einfach als »Fröhlichkeit« bzw. »Heiterkeit« wiedergeben. Durch synekdochische Bildhaftigkeit (CLP6) glänzt das Idiom in mıˆme herzen trage (155,2) und durch sein Überdauern (CLP3) in der Gestalt von »etwas auf dem Herzen haben« bzw. – ähnlich negativ wie im ‘Nibelungenlied’ gemeint – »etwas bedrückt mein Herz«, womit wir bei Brackerts Übersetzung wären (und bleiben). Nach den eher unauffälligen Phraseologismen stoßen wir nun in 155,3 auf ein Idiom, das für die gesamte Textszene nachgerade eine Schlüsselfunktion innehat, nämlich auf den sprichwortartigen Satz man sol staeten friunden klagen herzen noˆt.49 Als etwas Allgemeingültiges indiziert wird er vor allem durch eindeutige strukturelle Marker (CLP4): erstens das Indefinitpronomen, zweitens das auf eine Maxime hinweisende Hilfsverb sowie drittens die prägnante Kürze. Kein Zweifel, dieser Satz fungiert hier als ein herbeizitierter normstiftender Kommentar. Es ist daher auch keine Überraschung, die Grundthematik dieses Satzes, nämlich die Wertschätzung eines treuen Freundes, in mittelalterlichen Sentenzensammlungen in zahlreichen Varianten und fast allen Sprachen zu finden,50 auch bei Freidank, womit wir CLP2 als zusätzlichen Indikator gewonnen haben.51 – Weshalb aber reagiert Siegfried so heftig auf Gunthers Äußerung, wie in den darauf folgenden Versen zu lesen ist? Weil dieser ihn mit diesem Kollektivzitat verbal herausgefordert hat! Der zentrale Sinnakzent liegt dabei auf dem Begriff staeten: Nur loyalen, echten Freunden soll man sein Herz öffnen, heißt 48 Brackert hat – wie schon oben gehört – «Es ist mir ein Rätsel«, Grosse »Ich möchte gerne wissen«: variatio delectat? (Schulze übersetzt den – nicht minder idiomatischen – C-Text Mich wundert harte sere formelhaft und damit recht treffsicher mit «Ich verstehe nicht«; die ›Schärfe‹ von harte sere würde eine Erweiterung dieser Phrase zu »ich kann überhaupt nicht verstehen« zum Ausdruck bringen.) 49 Ohne diesen Satz als etwas Proverbielles zu erkennen, handelt darüber bereits ausführlich – unter dem Aspekt des ›Ratschlags‹ (»advisory«) – Francis G. Gentry, Triuwe and vriunt in the Nibelungenlied, Amsterdam 1975, S. 46 f. 50 Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Begr. von Samuel Singer, 13 Bde (und 1 Bd. Quellenverzeichnis), Berlin 1995–2002, hier im Bd. 4 das Kap. 3, S. 23– 48: »Art der wahren Freundschaft und des richtigen Verhaltens gegenüber Freunden«. 51 Dass – soweit ich gesehen habe – unser Satz dabei noch nicht erfasst wurde, spricht weniger dafür, ihn doch nicht für ›echt‹ zu halten, als vielmehr dafür, ihn nachträglich aufzunehmen!
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es. Und dieser raffinierte ›Loyalitätstest‹ funktioniert, denn in seiner fast aufbrausenden Reaktion (dazu gleich unten mehr) gibt sich Siegfried explizit als ein solcher Freund zu erkennen, ja er zeigt sich nachgerade beleidigt ob des latenten Zweifels in Gunthers indirekter Ausdrucksweise. In diesem Sinn biete ich als Übersetzung ebenfalls eine sprichwortartige Maxime an: »Nur treuen Freunden klage man sein Leid.«52 Im Zentrum von Siegfrieds Reaktion steht die Zwillingsformel bleich unde roˆt (155,4) und damit ein weiterer markanter Phraseologismus. Ihn als solchen zu erspüren, hilft uns abermals CLP4, also die auffallende Paarformel-Struktur, und bestätigend treten wieder Rekurrenzen hinzu, diesmal etliche völlig idente (CLP2): Die idiomatische Bedeutung erschließt uns am besten die Stelle in Str. 1663,2, wo die Frau des Markgrafen die Gäste sittsam küsst, was sie emotional so stark berührt, dass gemischet wart ir varwe bleich vnde rot. Ob Verlegenheit, freudige Erregung oder – wie bei Siegfried zu vermuten – kurze Irritation: Die idiomatische Bedeutung meint offenbar einen auffallenden Kontrast zwischen sowohl(!) heller als auch blutrot gefärbter Haut; dieses Farbenspiel signalisiert bis heute eine stark aufwallende Emotion. Als eine phraseologisch einsichtige Übersetzung empfiehlt sich daher z. B. die Formulierung »Siegfrieds Gesichtsfarbe zeigte sich nun blass und rot zugleich« oder – angelehnt an Brackerts Übersetzung, aber phraseologisch sinnvoll gekürzt: »Siegfried schoss daraufhin das Blut ins Gesicht«. Ein ›Allerweltsphraseologismus‹ ist an daz ende mıˆn (156,4). Bis in unsere Zeiten wirkt er als bildloser, fast formelhafter Ausdruck für die Idee unbegrenzter Treue – heute freilich minder ostentativ als im Mittelalter. An seine Seite können wir noch lebe ich deheine wıˆle (157,4) stellen, da diese Wendung den vorangegangenen Treue-Phraseologismus gewissermaßen bekräftigt: Er lässt sich gut in die affirmative Formulierung »Solange ich lebe« fassen (und weniger gut in Brackerts verklausulierte ›Langversion‹ »Wenn ich noch eine Weile am Leben bleibe«). Endlich eine sprichwörtliche Redensart bietet uns die Wendung ez wirdet umbe iuch wol versolt (157,4). Kein wörtlicher »Sold« kann hier nämlich gemeint sein, sondern ein daraus wohl zu abstrahierender »Lohn« bzw. »Dank« unbestimmter Art (man beachte das Indefinitum ez) – denn Siegfried ist ja nicht (direkt) käuflich. Brackert übersetzt unter (zu) unmittelbarer Rückbindung des ez an Gunther »dann werde ich euch meinen Dank erweisen«; treffender wäre 52 Meine Übersetzung ist nicht weit weg von Brackerts Formulierung [Anm. 5] »nur wahren Freunden soll man ein schweres Leid anvertrauen«, welche aber weniger prägnant ist und daher den proverbiellen Charakter der Phrase kaum besser zu erkennen gibt als Schulzes [Anm. 44] Satz »Nur verläßlichen Freunden soll man seine inneren Bedrängnisse klagen«. Durch das Einschieben des spezifizierenden Wortes »solche« ignoriert Grosse [Anm. 44] den Allgemeingültigkeitsanspruch dieser Maxime völlig und zerstört sie damit: »Man soll nur erprobten Freunden eine solche Not anvertrauen.«
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eventuell »so werdet ihr dafür belohnt« (wobei »belohnt« in dieser modernen Phrase keinen pekuniären Lohn meinen muss).53 Die vergleichsweise wenig auffällige Phraseologizität von truˆrec staˆn (158,1) erhellt zum einen aus CLP8 (wörtlich »traurig stehen« überzeugt kaum), zum andern aus mehreren nachweisbaren Verwendungen dieser Wortverbindung, z. B. schon im ‘König Rother’54 sowie im ‘Erec’.55 Ist schließlich auch suochen mit herverten (158,3) ein Phraseologimus, genauer ein martialischer Fachbegriff, der etwa »mit Krieg überziehen« heißen könnte? Dagegen würde weder sprechen, dass sich diese Formulierung über die Zäsur zwischen zwei Halbversen erstreckt (denn das hat schon die Routineformel in 153,1 ›erfolgreich‹ getan, s. o.), noch das Fehlen von Parallelbelegen.56 Daher bin ich geneigt, hier doch einen Wortverbund zu sehen, den man nicht wörtlich zu verstehen hat (wie Brackert: »mit ihren Kriegsheeren [...] heimsuchen«), sondern so, wie von mir oben vorschlagen, oder indem wir Grosses interessanter Variante »einen Krieg hier gegen mich planen« folgen.57
Anwendungsbeispiel 2: Neidharts Sommerlied 21 I
»Nu ist der küele winder gar zergangen, diu naht ist kurz, der tac beginnet langen, sich hebet ein wünneclıˆchiu zıˆt, diu al der werlde vreude gıˆt; baz gesungen nie die vogele eˆ noch sıˆt.
»Nun ist der kalte Winter endlich vorbei, die Nächte sind kurz, die Tage werden länger, eine herrliche Zeit bricht an, die aller Welt Freude schenkt. Schöner haben die Vögel noch nie gesungen.
II
Komen ist uns ein liehtiu ougenweide: man siht der roˆsen wunder uˆf der heide, die bluomen dringent durch daz gras. schoˆne ein wise getouwet was, daˆ mir mıˆn geselle zeinem kranze las.
Ein strahlender Anblick liegt vor unseren Augen: unzählige Rosen sieht man auf der Heide, die Blumen sprießen durch das Gras. Mit frischem Tau war die Wiese benetzt, auf der mir mein Liebster Blumen zum Kranze las.
III
Der walt haˆt sıˆner grıˆse gar vergezzen, der meie ist uˆf ein grüenez zwıˆ gesezzen: er haˆt gewunnen loubes vil. bint dir balde, truˆtgespil! duˆ weist wol, daz ich mit einem ritter wil.«
Der Wald weiß nichts mehr von seiner grauen Farbe, der Mai hat sich auf einen grünen Zweig niedergelassen. Neues Laub hat er in Fülle. Setz schnell deinen Kranz auf, liebe Freundin! Du weißt doch, daß ich zu einem Ritter will.«
53 «dann soll euch das wohl vergolten werden« hat Grosse [Anm. 44]. Ähnlich übersetzt Schulze [Anm. 44] die C-Variante ez sol werden wol verscholt mit »soll euch das vergolten werden«. 54 v. 326 f.: Daz ich die rede ir lovbit han. des moz ich lange trorich stan. v. 2444 f.: Dietherich der helit got. Stunt trorich von leide nuˆ sich wie truˆric ich staˆn. 55 v. 5791: nuˆ sich wie truˆric ich staˆn. 56 Der BMZ hat (unter dem Lemma hervart ) unsere Stelle erfasst, aber keine weitere gleich formulierte. 57 Wie Anm. 44, S. 55.
Mich nimt des michel wunder
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IV
Daz gehoˆrte der mägde muoter tougen; si sprach: »behalte hinne vür dıˆn lougen! dıˆn wankelmuot ist offenbaˆr. wint ein hüetel um dıˆn haˆr! duˆ muost aˆne dıˆne waˆt, wilt an die schar.«
Das hörte des Mädchens Mutter heimlich. Sie sprach: »Hör auf, es länger abzuleugnen! Dein Leichtsinn liegt offen zutage. Bind dir lieber ein Kopftuch ums Haar! Du mußt ohne dein Kleid gehen, wenn du zur Tanzschar willst.
V
»Muoter mıˆn, wer gap iu daz ze leˆhen, daz ich iuch mıˆner wæte solde vleˆhen, dern gespunnet ir nie vadem? laˆzet ruowen solhen kradem! waˆ nu slüzzel? sliuz uˆf balde mir daz gadem!«
»Liebe Mutter, wer gab euch das Recht dazu, daß ich euch um mein Kleid erst anflehen müßte, von dem ihr keinen einzigen Faden gesponnen habt? Hört auf mit solchem Spektakel! Wo ist der Schlüssel? Schließt schleunigst mir auf die Kammer!«
VI
Diu waˆt diu was in einem schrıˆne versperret: daz wart bıˆ einem staffel uˆf gezerret. diu alte ir leider nie gesach: doˆ daz kint ir kisten brach, doˆ gesweic ir zunge, daz si niht ensprach.
Das Kleid war in einem Schrank eingeschlossen. Mit einem Stuhlbein wurde der aufgezwängt. Die Alte hatte nie etwas Betrüblicheres gesehen. Als das Mädchen ihren Kasten aufbrach, verschlug’s ihr die Sprache, so daß sie kein Wort mehr hervorbrachte.
VII
Dar uˆz nam sıˆ daz röckel alsoˆ balde, daz was gelegen in maneger kleinen valde. ir gürtel was ein rieme smal. in des hant von Riuwental warf diu stolze maget ir gickelveˆhen bal.
Geschwind nahm sie das Röckchen heraus, das war in viele zierliche Falten gelegt. Ihr Gürtel war ein schmales Band. In die Hand des Reuentalers warf das übermütige Mädchen ihren buntscheckigen Ball.
Ebenfalls einen bunten Reigen an (fast allen) phraseologischen Grundtypen bietet Neidharts Sommerlied 21. Damit können wir überprüfen, wie weit sich Idiome auch im liedhaft-lyrischen Œuvre bemerkbar machen. Als ReferenzÜbersetzer soll uns Helmut Lomnitzer dienen und damit auch seine Textdarbietung.58 Gleich in der ersten Zeile aktiviert das bildhafte, auf das Schmelzen von Eis und Schnee bezogene Wort zergangen unseren CLP6, und lässt uns nach Vergleichsbelegen suchen, in denen der winter idiomatisch mitgebunden ist. Fündig werden wir bei anderen Liedsängern wie Walther von der Vogelweide,59 aber auch im zeitgenössischen ‘Garel’-Roman des Pleiers.60 Das Zurückweichen des Winters wurde also gattungsübergreifend mit einem Sprachstereotyp umschrieben. 58 Neidhart von Reuental. Lieder. Auswahl mit den Melodien zu neun Liedern. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Übersetzt und herausgegeben von Helmut Lomnitzer (Reclam Universalbibliothek 18290), Stuttgart 1984. Aus Platzgründen, aber auch angesichts von Lomnitzers durchgehend herausragender Übersetzungsleistung (die in das Jahr 1966 zurückdatiert) werden wir keine Vergleichsübersetzungen konsultieren. 59 Vgl. in der Edition Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau, Berlin / New York 1996 im Lied 15, III ,1 (L. 167,1) Wölt der winter schier zergaˆn und in Str. IV ,1 (L. 176,6) Ich wünsche, daz der winter zergeˆ. 60 Uencz daz der winter gar zergie (v. 9328).
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Thematisch an die Seite stellt sich wenige Zeilen weiter das Phrasem ein wünneclichiu zıˆt (I,3). Ihm begegnen wir außerdem noch bei Friedrich von Hausen61 sowie (zweimal) bei Reinmar dem Alten62 und lernen daraus, dass sich dahinter ein allgemeiner, nicht nur auf Jahreszeiten bezogener ›Ausdruck des Wohlbefindens‹ verbergen dürfte; Lomnitzers »herrliche Zeit« harmoniert mit dieser Einsicht. So kurz, und doch eine vollständige Zwillingsformel ist [nie] eˆ noch sıˆt (I,4). »[Weder] vorher noch nachher« sagen wir heute (CLP3) und könnten das auch hier einsetzen. Aber auch Lomnitzers reduzierte Übersetzung mit »noch nie« trifft zumindest den semantischen Kern des Idioms. Nochmals an die wünneclichiu zıˆt in I,3 erinnert in II ,1 die bildhaft feste Wendung ein liechtiu ougenweide. Auch sie kommt außerhalb der lyrischen Dichtung mehrfach vor (CLP2),63 war also eine bekannte Sprachroutine für die Charakterisierung von etwas Glanzvollem. Als Teil einer stereotypen Naturschilderung tritt sodann auch der Satz die bluomen dringent durch das gras in III ,3 auf. In mediävistisch geschulten Ohren hallt natürlich sogleich Walthers signalhafter Liedeinstieg Soˆ die bluomen uˆz deme grase dringent 64 wider (CLP2) – eine gewiss nicht zufällige Parallele. Eher überraschen mag hingegen, dass auch Hugo von Trimberg in seinem idyllisch situierten ‘Renner’-Prolog (v. 40) sagt: Daˆ drungen bluomen durch daz gras. Somit haben wir diese Passage als phraseologisch erkannt, obwohl sie sich nahe am rein wörtlichen Bedeuten bewegt, also nur im weiteren Sinn der Definition ein Phraseologismus zu sein scheint. Eine phraseologische Gratwanderung anderer Art bedeutet die Bewertung der strophenschließenden Wendung zeinem kranze las. Lomnitzers Übersetzung hilft uns insofern beim Erkennen als Phraseologismus, als er – um diese Wendung inhaltlich zu motivieren – das Wort »Blumen« einfügt. Aber brauchen wir das wirklich? Zerstören die Blumen nicht das sexuelle Konnotat des (bei Neidhart besonders häufig wiederkehrenden, dabei meist vaginal doppeldeutigen) Kranzes,65 zumal es dabei weniger auf das Material als auf die Form ankommt? 61 Ez waere ein wunneclıˆchiu zıˆt / der nuˆ bıˆ vriunden möhte sıˆn (Lied 1,V,1 bzw. MF 43,10). 62 Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 38., erneut revidierte Aufl. mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988: Ze vröiden naˆhet alle tage / der welte ein wunneclıˆchiu zıˆt / ze senfte maniges herzen klage, / die nuˆ der swaere winter gıˆt (Lied 42,II ,1– 4 bzw. MF 191,25–28); siehe auch 59,II ,4 (MF 203,20). 63 So im ‘Armen Heinrich’, wo sie die Hs. B als elterliche Umschreibung für das erlösende, ansonsten bekanntlich (eigen-)namenlos bleibende Mädchen kennt: unser liehtiu ougenweide (v. 154b). 64 Lied 23,I,1 (L. 45,37) [Anm. 59]. 65 Siehe Bruno Fritsch, Die erotischen Motive in den Liedern Neidharts (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 189), Göppingen 1976.
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Um diese Option des Bedeutens offen zu halten, könnten wir diesen Vers etwas ›frischer‹, fast schon frech so übertragen: »wo mir mein Freund einen Kranz besorgte«. Eine gewisse Stütze für den idiomatischen Gehalt finden wir übrigens noch in dem bis heute gebrauchten Familiennamen »Kranzelbinder«: Er scheint eine bis ins Mittelalter zurückreichende univerbierte Verschmelzung unserer Phrase zu sein, lässt seine latente Erotik aber nur mehr die Eingeweihten erahnen. Auf eine andere Art herausfordernd wirkt der bildhafte Ausdruck (CLP6) uˆf ein grüenez zwıˆ gesezzen (III ,2). Hier drückt er als Synekdoche unter Umständen aus, dass der personifizierte Mai durch sein Aufsitzen alles ›erneuert‹ habe (»Alles neu macht der Mai!«). Diese plastische Vorstellung korrespondiert mit einer anderen Neidhart-Stelle66 sowie ansatzweise mit jener Passage aus Jans von Wien ‘Weltchronik’, in der diese Wendung ebenfalls als ein Symbol des Lebens auftritt.67 Statt (mit Lomnitzer) wörtlich »Der Mai hat sich auf einen grünen Zweig niedergelassen« könnte man im Sinne eines phraseologischen Szenarios somit auch so übersetzen: »Der Mai hat die Natur ergrünen lassen.« Unschwer als Routineformel erfassen wir den kolloquial bekräftigenden Ausdruck (CLP5) duˆ weist wol in III ,5, denn ähnlich formulieren wir das noch in unserem Alltag. Um ihn etwas besser zum Tragen zu bringen, sollte man ihn direkt an die vorausgehende Aufforderung zur Eile anschließen: »Mach dich rasch fertig, meine Freundin, denn du weißt ja, dass [...]«. Für die Redeformel si sprach (IV ,2) sei auf das oben zum ‘Nibelungenlied’ Ausgeführte hingewiesen. Idiomatisch viel spannender ist, was unmittelbar darauf folgt: behalte hinne für dıˆn lougen! (VI ,2.) Diese Zurechtweisung aus dem Mund der strengen (und überforderten) Mutter öffnet uns ein kleines Fenster in den mittelalterlichen Sprachalltag. Obwohl dafür keine Parallelen nachzuweisen sind, möchte ich hier erstens aufgrund der sehr impulsiv und automatisiert wirkenden Ausdrucksweise (CLP4) und zweitens wegen einer kaum wörtlich möglichen Übersetzung (CLP8) eine Routineformel annehmen. Lomnitzer hat schon einen Vorschlag in diese Richtung gemacht. Alternativ könnte man (etwas kompakter) auch formulieren »Streit es nicht länger ab!« Gleichsam zur phraseologischen Keule greift die Tochter in ihrer trotzig angriffslustigen Gegenrede: Die rhetorische Frage wer gap iu ze leˆhen (V,1) nützt ein Bild aus dem vasallischen Bereich (CLP6), wie es zu Neidharts Zeit allen vertraut und als Bezeichnung für den Akt einer Belehnung praktisch allgegenwärtig war. Diese wörtliche Bedeutung, aber auch den metaphorischen Gebrauch der Wendung hat schon der BMZ erfasst, darunter auch unseren Beleg. Dieser ist daher mit hoher Gewissheit als ein bildhaftes Idiom, also eine 66 Der may ist auff ein gruenes zweig gesessen / sprach ein maid meins laids han ich vergessen (laut MHDBDB in der Neidhart-Hs. c die Verse 1 f. der Strophe III aus dem Lied 40; siehe Anm. 3). 67 Vom ehelichen Weibchen einer Taube wird fabulös berichtet: swenn sıˆn gemechıˆt toˆt ist, / daz ez haˆt einen frömden list: / soˆ sitzt ez uˆf dhein grüenez zwıˆ / wan ez fliuget al daˆ bıˆ / uˆf ein dürrez zwıˆ zehant (2698–2701).
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sprichwörtliche Redensart des Mittelalters, aufzufassen. Lomnitzers Übertragung »Wer gab euch das Recht dazu« trifft das idiomatische Zentrum und bleibt zugleich thematisch dem Ausgangsbild nahe: Chapeau! Die Tochter steigert den Erregtheitsgrad ihrer Rede und lässt in v. 3 den nächsten, noch kraftvolleren Phraseologismus folgen, hart an der Grenze zwischen einer Redensart (CLP6) und einer verwünschenden Routineformel (CLP5) – eine ›routinierte Verwünschung‹ also: laˆzet ruowen solhen kradem! 68 Das sitzt jedenfalls, denn hernach gibt die Mutter jeglichen Widerstand auf, verbal und in ihren Handlungen. Dass sich für diesen Satz abermals keine historischen Parallelen anführen lassen, muss bei Neidhart einmal mehr nichts bedeuten, denn sein Markenzeichen sind eben die unhöfischen, sonst nicht schriftlich überlieferten Ausdrucksweisen. Wer dennoch unsicher sein sollte, versuche noch eine wörtliche Übertragung von laˆzet ruowen und erkenne deren Sinnschwäche (CLP8). »Hört auf mit dem Gezeter!« übersetze ich (und vermeide damit Lomnitzers »Spektakel«). doˆ gesweic ir zunge (VI ,5), »[da] verschlug’s ihr die Sprache« heißt diese präsumtive Wendung bei Lomnitzers in kompromissloser idiomatischer Zuspitzung. Diesen bildhaften Ausdruck (CLP6) findet man noch im ‘Wilhelm von Österreich’ des Johann von Würzburg, dort freilich in etwas anderem Zusammenhang: min zunge nymmer me geswige (v. 7054). Erträge und Perspektiven einer phraseohistorischen Texterschließung Am Ende unserer phraseohistorischen Texterkundungen steht – wie erhofft – die Erkenntnis, dass es selbst bei unseren meistgelesenen ›Klassikern‹ viel Neues zu entdecken gibt. Einiges davon wurde von den Übersetzer/innen mit einer Art von Instinkt für das Idiomatische bereits ›erfühlt‹ und zum Ausdruck gebracht; das war mit Freude anzumerken (speziell bei Lomnitzers NeidhartÜbertragung). Anderes wurde übersehen und war zu kritisieren, ohne daraus aber irgendjemandem einen Vorwurf machen zu wollen, denn vieles beginnt sich in diesem ›Grenzbereich‹ von Literaturwissenschaft und moderner Linguistik eben erst (zwischen den verschiedenen philologischen Fächern und ihren Subdisziplinen) herauszukristallisieren, und manches wird sich trotz gesteigerter phraseologischer Sensibilität nie zweifelsfrei erkennen und erweisen lassen. Da mag dann nur ein ›Wettbewerb um die besten phraseohistorischen Sinnszenarien‹ weiterhelfen. Insofern will auch die angebotene phraseohistorische Checkliste nicht mehr sein als ein Angebot, welches uns den einstigen Phraseologismen vielleicht den einen oder anderen Schritt näher bringt oder zumindest Mut macht, auch phraseologisch zu denken. Dann werden sich schon vertraute rhetorische Figuren wiedererkennen und z. T. anders gewichten lassen, Erzählerund Figurenreden verraten mehr von ihrer narrativen Routine, und mitunter 68 Die Variante las beleiben solichen kraden liest man in der Hs. c.
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erhält man sogar für die eine oder andere Schlüsselszene einer Dichtung einen Impuls für eine überzeugendere Interpretation. Unsere Suche nach dem Phraseologischen kann jedoch nicht nur der Literaturkunde, sondern auch der historischen Linguistik dienen: Mit jedem neu entdeckten Idiom wächst eine imaginäre Liste, welche – vorzugsweise in Projektform – dereinst zu einem umfassenden Katalog an präsumtiven Belegen zusammenzufügen und am besten online verfügbar zu machen wäre, um sie gemeinschaftlich weiter zu bearbeiten, etwa in einer Art von (fachwissenschaftlichem) wiki-Lexikon zur historischen Phraseologie. Dass dies keineswegs utopisch gedacht ist, sollten schon die hier erfolgreich verwendeten Online-Nachschlagewerke und -Datenbanken gezeigt haben: Die Germanistische Mediävistik war als Schnittdisziplin zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft seit jeher innovationsfreudig. Sie hat daher auch den Sprung ins 21. Jahrhundert längst geschafft – und genau darauf lässt sich auch bei der Erschließung historischer Phraseologismen zielstrebig aufbauen.
Auf dem Dossen Ein galloromanischer Findling im Oberen Wiesental am Belchen von Wolfgang Kleiber
1. Johann Peter Hebel und das Wiesental Im Folgenden sei der Geburtstag von Kurt Gärtner zum Anlass genommen für die exemplarische Untersuchung1 eines Namenrätsels im Oberen Wiesental, das in weite »südalemannische« Zusammenhänge führt. Es handelt sich um den Schönenberger (Schönauer) Bergnamen Dossen zu Füßen des Belchens, ein Weidberg, den Johann Peter Hebel vor 250 Jahren einmal erwandert haben könnte. Hebel ist mehrfach auf den Belchen gewandert, wohl über Böllen – Neuenweg. Im Gedicht ‘Vergänglichkeit’ erwähnt der Vater: »selle Berg het Belche gheiße, nit wit dervo isch Wisleth gsi, wo er Stiere gwettet, Matte graust het.« Hier kommt die Wiesentäler Mundart und Namenwelt direkt zu Wort: Belchen Bergname