Methoden der neutestamentlichen Exegese: Eine Einführung für Studium und Lehre [1 ed.] 9783825242121, 3825242129

Die Methoden der neutestamentlichen Bibelauslegung haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Neben die traditione

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German Pages 348 [350] Year 2016

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Table of contents :
Methoden der neutestamentlichen Exegese
Impressum
Vorwort
Inhalt
1 Warum braucht man Methoden? Zum Sinn dieses Methodenbuches
1.1 Braucht man Methoden zum Verstehen der Bibel?
1.2 Was sind Methoden?
1.3 Wie gelangt man zu exegetischen Methoden?
1.4 Welche Methoden gibt es in der Bibelwissenschaft?
1.5 Lernportfolio
1.6 Literatur
2 Textbestimmung I – Äußere Kriterien
2.1 Warum muss man ‚den‘ Text bestimmen?
2.2 Das Novum Testamentum Graece und seine Handhabung
2.3 Methode
2.4 Lernportfolio
2.5 Literatur (→ Kap. 3.4)
3 Textbestimmung II – Innere Kriterien
3.1 Warum ist eine Klärung der „inneren Kriterien“ wichtig?
3.2 Methode
3.3 Lernportfolio
3.4 Literatur
4 Textentstehung I – Der Entstehungskontext
4.1 Einführung: Text und Kontext
4.2 Methode
4.3 Lernportfolio
4.4 Literatur
5 Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte
5.1 Einführung
5.2 Methode
5.3 Lernportfolio
5.4 Literatur
6 Textentstehung III – Redaktionsanalyse:Der Umgang eines Autors mit seinen Quellen
6.1 Einführung
6.2 Methode
6.3 Lernportfolio
6.4 Literatur
7 Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse
7.1 Einführung: Gattungen als kognitive Schemata
7.2 Methode
7.3 Lernportfolio
7.4 Literatur
8 Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatikund Stil
8.1 Einführung: Das „Gewebe“ des Textes
8.2 Textgliederung
8.3 Kontextanalyse
8.4 Grammatisch-syntaktische Analyse
8.5 Stilistisch-rhetorische Analyse
8.6 Lernportfolio
9 Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden
9.1 Einführung: Texterklärung als Beschreibung der Frames undSkripts der Adressaten gemäß der Intention des Autors
9.2 Methode
9.3 Lernportfolio
9.4 Literatur
10 Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation
10.1 Einführung: „Parallelomanie“
10.2 Methode (Schritte 3–5)
10.3 Lernportfolio
10.4 Literatur
11 Texterklärung III – Analyse von Erzähltexten
11.1 Einführung: Der Weg zur kognitiven Narratologie
11.2 Überblick: Analyseaspekte einer Erzählung
11a Perspektivenanalyse
11b Figurenanalyse
11c Handlungsanalyse
11d Raumanalyse
12 Analyse der Textnachwirkung
12.1 Einführung
12.2 Methode
12.3 Lernportfolio
12.4 Literatur zur Vertiefung
13a Historisches Interesse – Ist das Erzählte wahr?
13b Thematisches Interesse – Welche Themen kommenim Text vor?
13c Kritisches Interesse: Wie ist der Text zu beurteilen?
14 Praktisches Interesse – Verwendungsmöglichkeitender Exegese
14.1 Einführung
14.2 Darstellungsformen
14.3 Die Seminararbeit
Anhang: Literatur, Sach- und Personenregister
1. Häufig zitierte Literatur
2. Sach- und Personenregister
Bildnachweis
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Methoden der neutestamentlichen Exegese: Eine Einführung für Studium und Lehre [1 ed.]
 9783825242121, 3825242129

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Methoden der neutestamentlichen Exegese Ein Lehr- und Arbeitsbuch

4212 utb 0000

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York

Dr. Sönke Finnern ist Pfarrer in Waiblingen-Bittenfeld (Baden-Württemberg). Er hat in Gießen, Marburg und Kiel studiert und an der Ludwig-Maximilians-Universität München über narratologische Methoden in der Bibelauslegung promoviert.

Jan Rüggemeier ist Pfarrer z.A. in Balingen-Dürrwangen (Baden-Württemberg) und Wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Neues Testament an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er hat in Heidelberg, Oxford und Tübingen studiert und promoviert über narratologische Methoden und die Christologie des Markusevangeliums.

Sönke Finnern/Jan Rüggemeier

Methoden der neu­testamentlichen Exegese Ein Lehr- und Arbeitsbuch

A. Francke Verlag Tübingen

Umschlagabbildung: Opened book, © Sergey Nivens, fotolia, 2016.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: [email protected] Printed in Germany UTB-Nr. 4212 ISBN 978-3-8252-4212-1

Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie dieses Buch gerade in der Hand halten oder auch elektronisch lesen, kommt darin bereits ein Grundinteresse an der exegetischen Methodik zum Ausdruck – sei es, dass dieses Ihrem eigenen Wissensdurst entspringt oder Sie im Rahmen einer Lehrveranstaltung dazu angeregt wurden. So oder so fragen Sie sich vielleicht, was uns als Autoren motiviert hat, dieses Methodenbuch zu schreiben. Nun, unser Buch steht zum einen in einer langen Tradition, denn es hat sich in der Bibelauslegung bewährt, sich über die Methoden des eigenen Bibelverstehens Klarheit zu verschaffen. Es ist ein wesentliches Kennzeichen von wissenschaftlichem Nachdenken, den eigenen Umgang mit der Bibel Schritt für Schritt nachvollziehen zu können. Zugleich enthält dieses Buch einige Neuerungen. Es stellt eine erweiterte bzw. neue historisch-kritische Methode vor, wie sie heute benötigt wird, um Texte wissenschaftlich zu bearbeiten und die Ergebnisse in einem interdisziplinären Austausch zu kommunizieren. Kenner werden die „klassische“ historisch-kritische Methode vor allem in den ersten Kapiteln wiederfinden, ebenso weite Teile des aktuellen methodischen Forschungsstandes in den späteren Kapiteln. Durch die kognitive Wende in Literaturwissenschaft und Linguistik sind die neueren methodischen Ansätze mit der klassischen Exegese vereinbar. Das alles wurde in ein Konzept „aus einem Guss“ integriert. Insbesondere gibt es eigene Kapitel zur „Texterklärung“ und „Textwirkung“, die zusammen mit der „Textstruktur“ die eher unspezifische „sprachliche Analyse“ ersetzen. Insgesamt unterscheiden wir fünf Grund-Interessen des Umgangs mit Texten. Das philologische Interesse, bei dem der Text selbst im Mittelpunkt steht, wird hier in fünf Haupt-Methodenschritte aufgeteilt: Textbestimmung, Textentstehung, Textstruktur, Texterklärung, Textnachwirkung – mit dem Akronym „Besen“ als Merkhilfe. Wir haben uns bemüht, jeden methodischen Teilschritt der Textanalyse in den internationalen und interdisziplinären Horizont zu stellen, auch wenn die methodische Diskussion primär mit der exegetischen Fachliteratur geführt wird und die konkreten Textbeispiele im Hauptteil immer aus dem Neuen Testament stammen. Wir hoffen aber, dass sich die Grundstruktur der fünf Analyseschritte auch im interdisziplinären Gespräch mit anderen Textwissenschaften bewähren kann. Eine wesentliche Neuerung dieses Methodenbuches besteht darin, dass die Erzähltextanalyse (Narratologie) einen größeren Raum einnimmt (Kap. 11) – das ist sicherlich angemessen, weil mehr als die Hälfte des Neuen Testaments aus Erzähltexten besteht. Außerdem hat die narratologische Forschung als Querschnittsdisziplin der Textwissenschaften in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, was in diesem Methodenbuch erstmals aufgenommen wird. Die „erzählte Welt“ mit Figuren, Handlungen und Räumen ist

VI

Vorwort

von großer Bedeutung für die Texterklärung, aber auch für Anwendungen des Textes z.B. in Predigt und Religionsunterricht (vgl. Kap. 14). Der Verwendung als Lehrbuch entsprechend, beginnt ein Kapitel meistens mit einem Beispiel aus unserer heutigen (medialen) Lebenswelt, dann folgt eine ausführliche Darstellung der jeweiligen Methode, die in der Regel mit einer „Demo“ abgeschlossen wird. Am Schluss gibt es Anregungen, um das Gelesene und Gelernte zu überprüfen. Wichtiges und Beispiele stehen in Kästchen, auch die zentralen Stichworte des Kapitels finden Sie zu Beginn. Die direkte praktische Verwendbarkeit im Proseminar war uns ebenfalls ein Anliegen. Die Länge und inhaltliche Dichte der Kapitel dieses Buches sind auf die Erfordernisse des Semesters zugeschnitten, so dass zur Vor- bzw. Nachbereitung jeweils ein Kapitel pro Semesterwoche gelesen werden kann. Weil die Semester unterschiedlich lang sind, können die Teilkapitel 13a–13c je nach Zeit und Interesse noch fakultativ am Ende des Semesters behandelt werden. Lehrende finden auf der Webseite http://www.utb-shop.de/9783825242121 unter „Zusatzmaterial“ die dazugehörigen Stundenverläufe und Materialien im Word-Format, so dass sie alle Materialien für sich anpassen können. Für uns als Koautoren war die Zusammenarbeit in den letzten Jahren ein Glücksfall. Verbindend war das gemeinsame Interesse an der kognitiven Narratologie und die Erkenntnis ihrer Relevanz für die Exegese. Die vorausgegangene wissenschaftliche Auseinandersetzung von Sönke Finnern1 und der Wunsch, diese Impulse nicht nur in der Forschung, sondern zugleich in innovativen Lehransätzen fortzuführen, stellten die Grundlage für einen ertragreichen Dialog dar. Ein herzlicher Dank gilt allen Seminarteilnehmern2 des Tübinger neutestamentlichen Proseminars, die in den letzten Jahren verschiedene Vorfassungen dieses Buches erprobten und Rückmeldungen gaben. Einige „Demos“ am Ende eines Kapitels wurden von Studierenden verfasst: von Simon Blatz, Esther Buck, Stefanie Lenz, Caroline Quiring, Lea Schlenker, Max Weber und Daniel Zimmermann – vielen Dank an Euch! Unser herzlicher Dank gilt auch Prof. Dr. Hans-Joachim Eckstein, der seinem Lehrstuhlmitarbeiter einen großen zeitlichen Freiraum zur Verfügung stellte und mit seinen fachlichen und freundschaftlichen Ratschlägen maßgeblich zum Gelingen dieses Buches beitrug. Vom Francke-Verlag wurden wir von Anfang an freundlich nachfragend und ermutigend unterstützt, zunächst von Herrn Bernd Villhauer, später von Herrn Daniel Seger. Außerdem danken wir dem Verlag für das Engagement bei der Umsetzung unserer grafischen Wünsche. Tübingen und Waiblingen, im Juni 2016

Jan Rüggemeier Sönke Finnern

1 Vgl. S. Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II/285, Tübingen 2010. 2 Aus Gründen der Lesbarkeit wird hier und auch an anderer Stelle meistens das generische Maskulinum verwendet. Es sind jeweils Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.

Inhalt 1. Warum braucht man Methoden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zum Sinn dieses Methodenbuches

Teil I: Philologisches Interesse Der Text selbst steht im Mittelpunkt der Analyse („B – E – S – E – N“).

2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 „Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?“

3. Textbestimmung II – Innere Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 „Welche Lesart ist die ursprüngliche?“

4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 „Wer schreibt für wen in welcher Situation?“

5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 „Auf welchen Quellen basiert der Text?“

6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 „Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?“

7. Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 „Zu welcher Gattung gehört der Text?“

8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil . . . . . . . . . . . . . 103 „Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?“

9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 „Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?“

10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 „Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?“

11. Texterklärung III – Analyse von Erzähltexten (Narratologie) . . . . . . . . . . . 173 a) Perspektivenanalyse: „Wie beschreibt man die Erzählperspektive?“ . . . . . . . . . . . . . 177 b) Figurenanalyse: „Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?“ . . . . . . . . . . . . 195 c) Handlungsanalyse: „Wie beschreibt man die erzählte Handlung?“ . . . . . . . . . . . . . . 211 d) Raumanalyse: „Wie beschreibt man den erzählten Raum?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 12. Textnachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 „Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?“

VIII

Inhaltsverzeichnis

Teil II: Historisches, thematisches, kritisches und praktisches Interesse Man kommt von einer anderen Fragerichtung her und verwendet dafür den Text bzw. die Analyse.

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 a) Historisches Interesse: „Ist das Erzählte historisch wahr?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Thematisches Interesse: „Welche Themen kommen im Text vor?“ . . . . . . . . . . . . . 270 c) Kritisches Interesse: „Wie ist der Text zu beurteilen?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 14. Praktisches Interesse: Verwendungsmöglichkeiten der Exegese . . . . . . . 294 „Wofür kann ich die Analysen verwenden?“ (Beispiel: Seminararbeit)

Anhang: Literatur, Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Schematische Übersicht 2–12 Philologisches Interesse 13a Historisches Interesse

2–3 Textbestimmung

14 Praktisches Interesse

4–6 Textentstehung

7–8 Textstruktur

12 Textnachwirkung

13b Thematisches Interesse

9–11 Texterklärung

13c Kritisches Interesse

1

Warum braucht man Methoden? Zum Sinn dieses Methodenbuches

Leitbegriffe Methode (gr. μέθ-οδος), implizites/explizites Methodenwissen, Vereinbarkeit von Methoden, Methodenkanon, Werkzeugkasten

1.1

Braucht man Methoden zum Verstehen der Bibel?

In der Theologie haben wir es mit den biblischen Schriften, aber auch mit einer Vielzahl anderer Texte zu tun. Im Bereich der neutestamentlichen Exegese sind es vor allem die 27 Schriften des Neuen Testaments, die alttestamentlichen Schriften (auch deren griechische Fassung, die sogenannte Septuaginta) und weitere Texte aus der frühchristlichen, jüdischen und paganen (=„heidnischen“) Umwelt. Mit solchen Texten kann man – wie mit allen Texten – sehr unterschiedlich umgehen: Man kann sie kommentieren, kritisieren, umschreiben, in andere Sprachen übersetzen, in andere Medienformate transformieren, predigen und manches andere … Eigentlich kann man sogar alles mit einem Text machen, denn ein Text kann sich nicht wehren. Gerade bei biblischen Texten gibt es wohl kaum etwas, das noch nicht mit ihnen ausprobiert wurde. Angesichts dessen stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie einen (un)angemessenen Umgang mit Texten? Sicherlich haben Sie schon einmal die eine oder andere Auslegung zu einem Bibeltext oder auch zu eiWas ist ein nem literarischen Werk gehört, die Ihnen nicht eingeleuchangemessener tet hat. Eine andere Interpretation hat Sie hingegen eher Textumgang? überzeugt. Doch wonach beurteilt man so etwas? Exegetische Methoden haben zunächst einen dreifachen Zweck: ■





Methoden dienen als konkrete Tipps, wenn man jemandem helfen will, die Bibel oder einen anderen Text zu lesen und zu verstehen: „Schau, so ergibt es einen Sinn!“ Aus diesem Grund steht das Proseminar am Anfang des Theologiestudiums. Methoden dienen der Nachvollziehbarkeit. So kann man anderen erklären, auf welchem Weg man zu einer Auslegung gekommen ist. Gerade im wissenschaftlichen Kontext sollten Methoden möglichst explizit sein. Denn wer einen biblischen oder einen anderen Text interpretiert, der muss präzise erklären können, wie er/sie zu dieser Interpretation gelangt ist. Die Wissenschaftlichkeit steht und fällt mit der Methodik. Methoden verhindern Fehlinterpretationen. Sie helfen, eine voreilige Vereinnahmung neutestamentlicher Texte zu verhindern und dem ursprünglichen, d.h. historisch intendierten Sinn des Textes auf die Spur zu kommen.

2

1. Methodenwissen – Umgang mit Texten

1.2 Was sind Methoden? „Methoden“ (von griechisch μέθ-οδος: meta „mit“ – hodos „Weg“) sind Beschreibungen von Arbeitsschritten; sie neh„mit – Weg“ men einen „mit“ auf einen bestimmten „Weg“. Ein Weg hat natürlich ein Ziel und das Gehen eines Weges braucht meist mehrere Schritte. Knapp gesagt: Definition: Eine Methode im allgemeinen Sinn ist eine endliche Folge von Handlungsanweisungen mit einem bestimmten Zweck.

Literatur: R. Kamitz, Art. Methode/Methodologie, in: J. Speck (Hg.), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 2, UTB 967, Göttingen 1980, 429–433; K. Lorenz, Art. Methode, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, Mannheim/Wien/Zürich 1984, 876–879.

Eine Methode ist also zum Beispiel ■ ■



ein Kochrezept: 1. Nimm Mehl und Wasser. […] eine Fahrtbeschreibung: 1. Fahren Sie an der nächsten Kreuzung rechts. – 2. Fahren Sie dann 200 m geradeaus – 3. Biegen Sie links ab. […] (→ Abb. 1.1) eine Aufbauanleitung für ein Möbelstück. Ein schwedischer Möbelhersteller verwendet dafür keinen Text, sondern eine Folge von Bildern.

Abb. 1.1: Wegführung durch ein Navigationsgerät

An diesen Beispielen kann man sehen: Methoden sind immer auf ein Ziel ausgerichtet. Manchmal führen unterschiedliche Methoden zu demselben Ziel. Methoden setzen eine „Landkarte“ voraus, auf der man sich zum Ziel bewegt. Methoden können auch in die Irre führen, wenn sie falsch formuliert sind. Methoden können unpräzise sein. Wenn ich nicht dieses Ziel habe, sollte ich auch die entsprechende Methode nicht verwenden, denn die Methode leitet mich und meine Gedanken ja auf dieses Ziel hin. Und: Methoden sind immer (sprachliche) Beschreibungen von einzelnen Schritten, die man ausführen kann; es sind nicht die Handlungsschritte selbst. Im Alltag gibt es jedoch häufig ein latentes (= verborgenes) Methodenwissen. In der Regel haben wir bei vielen Dingen internalisiert, wie etwas getan wird. Wir wissen es automatisch und denken latentes Methodenwissen nicht mehr darüber nach. So gibt es zahlreiche Gerichte, die wir ohne ein Kochbuch zubereiten können, oder Fahrtziele, die man ohne detailliertes Kartenmaterial und präzise Routenführungen erreicht. Manch einer hat sogar beim Möbelaufbau in der neuen StudierendenWG schnell den Dreh raus und kann auf die Anleitung verzichten.

Einführung und Überblick

3

In all diesen Fällen fällt es häufig gar nicht leicht, das, was wir längst selbstverständlich tun, noch einmal zu rekonstruieren und Schritt für Schritt zu beschreiben. Das merken wir zum Beispiel, wenn wir von einem Freund oder einer Freundin gefragt werden, wie uns denn die Soße so gut gelungen ist, oder wenn eine Ortsfremde uns nach dem Weg fragt und die bekannte Route auf einmal so schwer vermittelbar erscheint. Werfen wir einmal einen grundsätzlichen Blick auf das Methodenlernen. Wenn ich von jemandem lernen möchte, wie er etwas macht, dann kann ich dies auf zwei verschiedene Weisen tun: Weg 1: Ich schaue eine Handlung ab, ohne sie in Worte zu fassen. Weg 2: Ich kann explizite Methodenschritte erfragen und mir beschreiben lassen.

Weg 1: implizites Methodenlernen

Weg 2: explizites Methodenlernen

Abb. 1.2: Implizites und explizites Methodenlernen

Beide Wege gibt es auch bei der Bibelauslegung. Auch in der Bibelexegese kann man sich entweder von erfahrenen Auslegern und Predigerinnen abschauen, wie sie an den Bibeltext herangehen (implizites Lernen am „Modell“), oder man kann explizite Methodenbeschreibungen lesen und versuchen, diese umzusetzen. Vorteile des expliziten Methodenlernens sind: ■



Derjenige, von dem ich lerne, z.B. das Kochen eines Gerichts, muss nicht anwesend sein. Ich kann das Gesagte immer wieder nachlesen, z.B. in einem Rezeptbuch. So können Sie auch die Methoden der Exegese in einem exegetischen Methodenbuch nachlesen und sind nicht allein auf Ihre Dozenten angewiesen. Wenn das Methodenwissen explizit geworden ist, kann man darüber klarer nachdenken und es im gemeinsamen Gespräch weiter verbessern (auch die Autoren dieses Methodenbuches freuen sich über konstruktive Rückmeldungen).

Literatur: I. Nonaka/H. Takeuchi, Die Organisation des Wissens – wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, Frankfurt 1997 (engl. 1995). (Modell u.a. zur Explizitmachung des Wissens; „Wissensmanagement“ in Firmen, das man auch auf die wissenschaftliche Arbeit übertragen kann)

4

1. Methodenwissen – Umgang mit Texten

Auch im wissenschaftlichen Bereich ist von zentraler Bedeutung, dass man über den Weg Auskunft geben kann, wie man zu einem Ergebnis gelangt ist. Wissenschaftlich arbeiten bedeutet ganz wesentlich, methodisch zu arbeiten. Dies bedeutet nicht, dass eine wissenschaftliche Auslegung deswegen irrtumsfrei wäre oder in jeder Hinsicht „besser“ als eine alltägliche Auslegung. Aber eine methodische Auslegung sorgt für die notwendige Transparenz und lässt die Kriterien erkennen, auf deren Grundlage argumentiert wird. Wenn die neutestamentliche Exegese als „historisch-kritische“ historisch-kritische Exegese bezeichnet wird, dann meint hier das Wort „kriExegese tisch“ genau dies: Es geht um eine Auslegung, die nachvollziehbaren Kriterien und nicht einfach der subjektiven und situativen Meinung eines Auslegers oder einer Auslegerin folgt. „Historisch“ ist die Exegese, weil sie primär um die damalige, vom historischen Autor intendierte Bedeutung neutestamentlicher Texte bemüht ist und weil sie diese Bedeutung mittels historisch-philologischer Arbeit und durch das Studium historischer Quellen zu ergründen versucht (→ Kap. 4: Entstehungskontext). Die in diesem Sinn historisch-kritische Exegese hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten als überaus wandlungsfähige Wissenschaft erwiesen. Durch innerexegetische Streitfragen und Erkenntnisse, aber auch durch den Einfluss anderer Wissenschaften sind die Methoden sind Methoden immer wieder neu überdacht und ausdifferenim Wandel ziert worden. Neue Methodenschritte wurden dem bisherigen Methodenkanon hinzugefügt. Zur Methodenkompetenz gehört es eben auch, die vorhandene Methodik beständig weiterzuentwickeln. Dabei muss man kritisch die eigenen Methoden und ihre Anwendung reflektieren können. Bereits die Philosophen Hans-Georg Gadamer und Paul Feyerabend haben dezidiert darauf hingewiesen, dass man nicht nach „Schema F“ an jeden Text herangehen kann. Es gibt sogar die Gefahr, dass die Verabsolutierung einzelner Methoden den Blick einengen kann, denn jede Methode setzt ein bestimmtes Bild ihres Gegenstandes voraus (vgl. ‚Was ist ein Text?‘). Dieses „Schema F“ sorgt auch unter Studierenden immer wieder für Unzufriedenheit. Nicht zuletzt deshalb haben wir versucht, uns für dieses Methodenbuch interdisziplinär und international anregen zu lassen. Bleiben wir offen für verschiedene Zugänge. Diese Blicke über den exegetischen Tellerrand lohnen sich. Literatur: H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, bes. 1–5; P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, stw 597, Frankfurt a.M. 1986; O. Wischmeyer/E.-M. Becker (Hgg.), Was ist ein Text?, NET 1, Tübingen/Basel 2001; A. Sierszyn, Die Bibel im Griff?, Holzgerlingen 2001.

Einführung und Überblick

5

1.3 Wie gelangt man zu exegetischen Methoden? Es war in den vorherigen Abschnitten deswegen so ausführlich von Methoden die Rede, weil ein systematisches Methodenlernen nicht selbstverständlich ist – weder das implizite noch das explizite. In den letzten Jahrzehnten sind einige der exegetischen Vorgehensweisen nachträglich in Methodenbüchern ausformuliert worden, was seine forschungshistorischen Gründe hat; aber manche Schritte sind nicht wirklich präzise, andere sind gar nicht fest beschrieben. Denn beim wissenschaftlichen Umgang mit Texten stößt man neben explizitem Methodenwissen sehr häufig auf latentes Methodenwissen. So fällt bei der Lektüre von Kommentaren auf, dass sogar im Rahmen der ‚klassischen‘ Exegese die Auslegungspraxis deutlich vielfältiger ist, als die Darstellung in historisch-kritischen Methodenlehren vermuten lässt. Faktisch sind manche Vorgehensweisen innerhalb der wissenschaftlich-exegetischen Praxis noch nicht bzw. nicht vollständig explizit gemacht worden. Und dabei steht die Bibelwissenschaft noch relativ gut da. In anderen Methodenwissen Textwissenschaften jenseits der Bibelexegese sind Metho- explizit machen denlehren, wenn man von Literaturwissenschaft und Linguistik einmal absieht, eher wenig verbreitet. Die Forschung muss manche Methoden erst noch rekonstruieren. Einen weiteren kleinen Schritt in diese Richtung geht das vorliegende Methodenbuch. Im Zusammenhang eines heutigen Auslegungspluralismus stellt sich zudem verstärkt die Frage nach der Vereinbarkeit bestimmter Methoden. Es besteht die Herausforderung, eine Gesamttheorie des Textes und des Verstehens (allgemeiner: des Umgangs mit Texten) zu entwerfen, so dass die Vereinbarkeit bestimmter Ansätze aufgezeigt werden kann. Eine langjährige Streitfrage innerhalb der Exegese war beispielsweise, wie sich die historisch-kritische Methode, die betont, dass der historische Kontext zum Verstehen des Textes wichtig sei, und „unhistorische“ Ansätze aus den Literaturwissenschaften vereinbaren lassen (→ Kap. 11: Kognitive Narratologie). Die Forderung nach einer Gesamttheorie des Textumgangs sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass jede Methode auf jeden Text angewendet werden kann. Eine Methode ist wie ein Werkzeug. Nicht jedes Werkzeug passt auf jeden Gegenstand: Einen Nagel kann man schlecht mit einem Schraubendreher einschlagen und eine Hecke kann man nicht mit einem Hammer schneiden. Deswegen gibt es kein Schema F, das immer passt. Für verschiedene Zwecke braucht es auch verschiedene Werkzeuge, also eigentlich einen „Werkzeugkasten“. Das Methodenbuch als vorliegende Buch ist wie ein solcher (gut sortierter) Werk- Werkzeugkasten zeugkasten. Hier sollen die in der Wissenschaft historisch gewachsenen und explizierten Methodenschritte dargestellt und das latent vorhandene Methodenwissen ausformuliert werden. Bei der eigenen Exegese

6

1. Methodenwissen – Umgang mit Texten

und der Darstellung einzelner Ergebnisse (→ Kap. 14: Methoden der Darstellung) ist aus diesem Werkzeugkasten auszuwählen. Sie müssen selbst überlegen, welche der vorgestellten Methoden für Ihren Text relevant sind und welche nicht. Das ist kein starres Schema, sondern ein breites, sortiertes Angebot. 1.4 Welche Methoden gibt es in der Bibelwissenschaft? Aufgabe: Machen Sie sich mit einigen Methodenbüchern zur Auslegung biblischer Texte vertraut (→ Literatur im Anhang). Vergleichen Sie die Inhaltsverzeichnisse miteinander und listen Sie die behandelten Methodenschritte auf.

Trotz einiger Varianten werden Sie in den meisten Methodenbüchern die untenstehende Abfolge von Methodenschritten als Gemeinsamkeit finden (unbeschadet dessen, dass einige dieser Methoden wie Nr. 2, 3 und 6 heute nur noch relativ selten in Publikationen zum NT angewendet werden): Nr. Bezeichnung der Methode

Kurze Erklärung

1

Textkritik

Untersuchung der Varianten in Handschriften

2

Literarkritik

Frage nach den schriftlichen Quellen des Textes

3

Überlieferungsgeschichte

Frage nach den mündlichen Quellen des Textes

4

Traditionsgeschichte/ Religionsgeschichte

Frage nach den geprägten Motiven, Traditionen, Begriffen im Text

5

Formgeschichte/-kritik

Frage nach der Form und Gattung des Textes

6

Redaktionsgeschichte

Frage nach der Bearbeitung der schriftlichen Quellen durch den Autor/die Autorin

7

Text-/Sprachanalyse

z.B. narrative Analyse (nicht immer vorhanden)

In Entsprechung zum biblischen Kanon spricht man häufig vom „historischkritischen Methodenkanon“, weil sich diese Methodenschritte in der deutschen Bibelwissenschaft als feste Größe etabliert haben. Wenn wir aber „historisch“ und „kritisch“ einfach als Attribute für wissenschaftliche, historisch informierte und immer auch selbstkritische Exegese verstehen (siehe 1.2), ist eine Weiterentwicklung auch unter Beibehaltung der Bezeichnung möglich: als eine Art Update oder als neue historisch-kritische Methode. Interessanterweise folgen englischsprachige Methodenbücher einer anderen Tradition. Auch hier lohnt sich ein Blick über den eigenen Tellerrand. Literatur: G.R. Osborne, The Hermeneutical Spiral. A Comprehensive Introduction to Biblical Interpretation, Downers Grove 1991 (=Osborne*); G.H. Guthrie/J.S. Duvall, Biblical Greek Exegesis, Grand Rapids 1998 (= Guthrie/Duvall*); D.A. Black/D.S. Dockery, Interpreting the New Testament. Essays on Methods and Issues, Nashville 2001 (=Black/Dockery*); D.L. Bock/B.M. Fanning, Interpreting the New Testament Text.

Einführung und Überblick

7

Introduction to the Art and Science of Exegesis, Wheaton 2006 (=Bock/Fanning*); D. Stuart, Old Testament Exegesis. A Handbook for Students and Pastors, Westminster 42009 (=Stuart*); C.L. Blomberg, A Handbook of New Testament Exegesis, Grand Rapids 2010 (=Blomberg*); N.C. Croy, Prima Scriptura. An Introduction to New Testament Interpretation, Grand Rapids 2011 (=Croy*).

Die oben genannten englischsprachigen bibelwissenschaftlichen Methodenbücher bieten übereinstimmend ziemlich andere Methodenschritte (wobei die Reihenfolge variiert): Nr. Bezeichnung der Methode

kurze Erklärung

1

Textkritik

Untersuchung der Varianten in Handschriften

2

Grammatik

Bestimmung grammatischer Formen, Klärung grammatischer Probleme, Aufbau der Sätze

3

Wortuntersuchung/Semantik

Analyse der Wortbedeutungen

4

Formanalyse und gattungsspezifische Auslegung

Frage nach der Form und Gattung des Textes, Besonderheiten der Gattung

5

Textstruktur

textlinguistische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Sätzen, Textgliederung

6

Historisch-kultureller Kontext

Autor und Adressaten, Entstehungssituation, Quellen, sozialgeschichtliche Analyse

7

Literarischer Kontext

Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Text und Kontext

8

Theologie des Textes

Untersuchung theologischer Themen im Text

9

Kontextualisierung bzw. Schritte zur Predigt

Beschreibung, wie man den Text wissenschaftlich verantwortet auf verschiedene Kontexte überträgt

Am Beispiel dieser beiden Übersichten kann deutlich werden, dass wir in diesem Methodenbuch verschiedene exegetische Traditionen zusammengefügt, überarbeitet und neu strukturiert haben. Hierzu unterscheiden wir zunächst fünf Grundinteressen des Umgangs mit Texten (philologisch, historisch, systematisch, kritisch, praktisch)1 und ordnen diesen Systematik dieses Buches dann die einzelnen Methodenschritte zu. Innerhalb des philologischen Textinteresses differenzieren wir nochmals zwischen fünf Textzugängen: Text-Bestimmung, Text-Entstehung, Text-Struktur, Text-Erklärung und Text-Nachwirkung (kurz: B-E-S-E-N).

1 Hierbei kann man auch an die theologischen Disziplinen denken, die mit jeweils einem Schwerpunkt-Interesse Kulturerzeugnisse (meistens Texte) anschauen: philologisches Interesse: Altes und Neues Testament; historisches Interesse: Kirchengeschichte; das systematische Interesse: Systematische Theologie; das praktische Interesse: Praktische Theologie. Das kritische Interesse ist nicht in einer eigenen theologischen Disziplin verankert.

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1. Methodenwissen – Umgang mit Texten

dt. Methodenkanon

engl. Methodenkanon

dieses Methodenbuch

(1) Textkritik

(1) Textkritik

teilw.: Historischer Ort (2) Literarkritik (3) Überlieferungsgeschichte (6) Redaktionsgeschichte

(6a) histor.-kultur. Kontext – – –

Redaktionsanalyse

(5) Formgeschichte –2 – teilw.: (7a) Textanalyse

(4) Form/Gattung teilw.: (5) Textstruktur (7) Literar. Kontext (2) Grammatik (5) Textstruktur (discourse linguistics)

(S) Textstruktur: (7–8) Gattungsanalyse Gliederung Kontextanalyse Grammatik Textstruktur Stilmittel

(7b) Textanalyse (4) Traditions-/Religionsgeschichte (Motivgeschichte) teilw.: narrative Analyse

(6b) historisch-kultureller Kontext (3) Wortuntersuchung/ Semantik teilw.: narrative Analyse

teilw.: Pragmatik



teilw.: histor. Jesus – teilw.: feministische, postkoloniale Exegese –

– (8) Theologie –

(E) Texterklärung: (9–11) Frames und Skripts der intendierten Rezipienten, relevante Quellen finden, Semantik, Metaphern, Narratologie (11): Perspektiven-, Figuren-, Handlungs-, Raumanalyse (N) Textnachwirkung: (12) kurzfristige Wirkungen langfristige Wirkungen historisches Interesse (13a) systematisches Interesse (13b) kritisches Interesse (13c)

(9) Kontextualisierung/ Schritte zur Predigt

praktisches Interesse: Proseminararbeit (14)

philologisches Interesse (B E S E N): •







(B) Textbestimmung (2–3) (E) Textentstehung: (4–6) Entstehungskontext Vorgeschichte des Textes

In diesem Lehrbuch sind auch Fragestellungen und Analysemethoden aufgenommen, die in anderen Methodenbüchern unberücksichtigt bleiben, zum Beispiel die Frage der Textnachwirkung sowie das kritische und praktische Interesse an einem Text. Manches im Bereich der Textstruktur und Texterklärung wurde neu geordnet. Eine weitere Besonderheit dieses Lehrbuches ist, dass den Möglichkeiten einer narratologischen (früher: „literaturwissenschaftlichen“) Analyse mehr Platz eingeräumt wird, wobei wohl erstmals der aktuelle Stand der narratologischen Forschung (im Sinne der kognitiven Wende) be-

2 Zur Methodik der Gliederung jetzt F. Wilk, Erzählstrukturen im Neuen Testament, UTB 4559, Tübingen 2016.

Einführung und Überblick

9

rücksichtigt ist.3 Man könnte diese fünf Interessen und fünf Kategorien in ein Neuner-Schema einfügen, das uns gedanklich begleiten wird: Fakten (Kap. 13a)

B E S E N philologisches Interesse

Neudarstellung (Kap. 14)

historisches Interesse

Bestimmung (Kap. 2–3)

praktisches Interesse

Leitfrage: Ist das Erzählte historisch wahr?

Leitfrage: WELCHER Text ist meine Grundlage?

Leitfrage: Was mache ich mit dem Text?

Entstehung (Kap. 4–6) (Stichwort: Autor)

Struktur (Kap. 7–8) (Stichworte: Text, Syntax)

Nachwirkung (Kap. 12) (Stichworte: Leser, Pragmatik, Intention)

Leitfrage: WOHER kommt der Text?

Leitfrage: WIE ist der Text gemacht?

Leitfrage: WOZU dient der Text?

hist.-krit.: Literarkritik, Überlieferungsgeschichte, Redaktionsgeschichte, historischer Ort

Methoden: Form/Gattung, Gliederung, Grammatik, Textzusammenhang, Stilmittel, Narratologie (discourse)

kurzfristige und langfristige (beabsichtigte) Wirkungen des Textes

hist.-krit.: Textkritik, ggf. Literarkritik; Übersetzungsvergleich

hist.-krit.: Formgeschichte Themen (Kap. 13b) systematisches Interesse Leitfrage: Was findet man im Text über bestimmte Themen?

Erklärung (Kap. 9–11) (Stichworte: Code, Botschaft, Inhalt, „Sache“, Semantik)

Bewertung (Kap. 13c)

Leitfrage: WAS bedeutet der Text?

Leitfrage: Ist der Text schön, wahr und gut? D.h. ist die Struktur ‚schön‘, der Inhalt richtig und die Wirkung positiv?

Methoden: Intertextualität, Narratologie (story) hist.-krit.: Realia, Motiv-/Traditionsgeschichte, Religionsgeschichte, Sozialgeschichte

kritisches Interesse

3 Wo die narratologischen Methoden bereits aufgenommen wurden (Egger*, Utzschneider/ Nitsche*, Ebner/Heininger*), waren es vor allem die frühen Modelle des französischen Strukturalismus sowie die Einführungswerke von Genette* (1972) und Chatman* (1978). Hierbei sind die umfassenden Möglichkeiten der kognitiven Perspektiven-, Figuren- und Raumanalyse noch wenig dargestellt.

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1. Methodenwissen – Umgang mit Texten

Diese Übersicht gilt theoretisch für alle Arten von Texten, nicht nur für neutestamentliche Texte. Es gibt manche ähnlichen Modelle, als deren Erweiterung dieses Neunerschema (wenigstens grafisch) angesehen werden kann.4 1.5 Lernportfolio Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach der ersten Sitzung erkennen und wo Sie noch Mängel bemerken. Die folgenden Wiederholungsfragen und Lernziele können dazu eine Hilfe sein. Wiederholungsfragen: 1. Welche Arten des Methodenlernens lassen sich unterscheiden? Nennen Sie dazu drei Alltagsbeispiele! 2. Warum ist eine explizite Methodik im wissenschaftlichen Kontext unverzichtbar? 3. Warum lassen sich einzelne Methodenschritte nicht auf jeden Text anwenden? 4. Welche Methodenschritte gehören zum klassischen deutschen Methodenkanon? Nennen Sie mindestens fünf Methodenschritte und erklären Sie diese jeweils in ein bis zwei Sätzen! 5. Welche grundsätzlichen und welche aktuellen Gründe sprechen dafür, die exegetische Methode weiterzuentwickeln?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: A) Handlungswissen: Sie können jetzt … ■ definieren, was man unter einer Methode versteht; ■ erklären, warum im wissenschaftlichen – und speziell exegetischen – Diskurs eine explizite Methodik sinnvoll und notwendig ist. B) Fachwissen: Sie kennen jetzt … ■ die Bezeichnungen der klassischen exegetischen Methodenschritte und wissen ungefähr, worum es jeweils geht; ■ Textdimensionen und Textzugänge, die in anderen Lehrbüchern unterrepräsentiert sind und die in diesem Buch behandelt werden.

Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, was Methoden im Blick auf biblische Texte leisten können und was nicht. Überlegen Sie außerdem, in welchem (konstruktiven) Verhältnis „wissenschaftliche“ und „geistliche“ Auslegung des Neuen Testaments stehen können.

4

Vgl. die Einteilungen der exegetischen Methoden bei H. Utzschneider, Text – Leser – Autor (s. Lit.), oder bei M. Oeming, Hermeneutik (s. Lit.): Autor – Text – Leser – „Sache“.

Einführung und Überblick

11

1.6 Literatur 1.6.1 Exegetische Methodenlehren Eine ausführliche Liste mit anderen exegetischen Methodenbüchern finden Sie unter „häufig zitierte Literatur“ am Ende des Buches (Seite 314ff.).

1.6.2 Weiterführende Literatur und Einzelstudien Alkier, St./Brucker, R. (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen/Basel 1998. Anderson, J.C./Moore, S.D. (Hgg.), Mark & Method. New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 22008. Eckstein, H.J., Wie will die Bibel verstanden werden? Perspektiven eines Evangelischen Schriftverständnisses, ThBeitr 44 (2013), 273–289. Green, J. (Hg.), Methods for Luke, Cambridge 2010. Luz, U. (Hg.), Zankapfel Bibel. Eine Bibel – viele Zugänge, Zürich 21993. Maier, G., Heiliger Geist und Schriftauslegung, Wuppertal 1983. Oeming, M., Biblische Hermeneutik, Darmstadt 2013. Schnelle, U., Die historisch-kritische Methode und ergänzende Zugänge zur Bibel. Leistung und Grenzen, in: H.-J. Fabry u.a., Bibel und Bibelauslegung, Regensburg 1993, 74–88. Theißen, G., Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 127–140. Utzschneider, H., Text – Leser – Autor. Bestandsaufnahme und Prolegomena zu einer Theorie der Exegese, BZ 43 (1999), 224–238. Wischmeyer, O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 4, Tübingen/Basel 2004.

2 Textbestimmung I – Äußere Kriterien Leitbegriffe Textvariante, Fragment, Novum Testamentum Graece, positiver/negativer Apparat, textkritisches Zeichen, Papyrus, Majuskel, Minuskel, Lektionar, Kirchenväter, Mehrheitstext, Textus Receptus, „abwägen, nicht zählen“

2.1 Warum muss man ‚den‘ Text bestimmen? Der rote Teppich ist ausgerollt, der „Goldene Bär“ ist geputzt und in Berlin versammeln sich wieder einmal die großen Stars und Sternchen der Filmszene. Mit Spannung wird der Auftaktfilm zur diesjährigen Berlinale erwartet – aber: wenngleich alle von der einmaligen „Weltpremiere“ reden, einmalig ist dieser Film ganz und gar nicht. Neben der Version, die in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wird, gibt es längst zahlreiche andere Versionen: Eine Premierenversion für die Kinos in Frankreich, eine für den Filmstart in Bombay und eine für den DVD-Verkauf. Es wurden jeweils einzelne Szenen ausgelassen oder gekürzt, neu aufgenommen oder vertauscht. Diese Abweichungen von der ursprünglichen Schnittversion – dem sog. Director’s Cut – können teils erheblich sein. Gründe hierfür sind z.B. abweichende Gesetzesregelungen in den Aufführungsländern, sich wandelnde Zuschauererwartungen und -vorlieben oder neue Vermarktungsstrategien. Doch nicht nur im Filmbusiness, sondern auch in anderen Bereichen der Kultur gibt es von einem Werk oftmals mehrere Varianten: ■





In der Editionsphilologie werden die Versionen eines literarischen Werks gesammelt und miteinander verglichen (z.B. die Erzählungen Kafkas). Von Interesse sind hier neben den verschiedenen Auflagen eines Buches die Manuskripte der Verfasserin bzw. des Verfassers. Der textkritische Vergleich gehört auch zum Grundhandwerkszeug in den Geschichtswissenschaften. Hier werden unterschiedliche Varianten einer Quelle ausfindig gemacht und es wird mit Hilfe eines Stammbaums veranschaulicht, wie sich ein Text von seiner (vermeintlichen) Ursprungsvariante aus entwickelt hat. Von berühmten Gemälden wie z.B. Edvard Munchs „Schrei“ liegen ebenfalls häufig mehrere Varianten vor. Außerdem sind nicht selten diverse Skizzen der Künstlerinnen und Künstler erhalten und es gibt seit dem 20. Jahrhundert oft verschiedene Abdrucke eines Werkes.

Literatur: G. Dane/J. Jungmayr/M. Schotte (Hgg.), Im Dickicht der Texte. Editionswissenschaft als interdisziplinäre Grundlagenforschung, Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 12, Berlin 2013; G. Mitterauer u.a. (Hgg.), Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft, Beihefte zu Editio 28, Tübingen 2009; G. Blaseio, Die Aporie des Director’s Cut: Präsenz und Verschwinden des Auteurs im Zeitalter der DVD, in: T.-K. Pusse (Hg.), Rhetoriken des Verschwindens, Würzburg 2008, 91–104.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

13

Zu den Schriften des Neuen Testaments liegen ebenfalls ganz unterschiedliche Textvarianten vor. Die Abweichungen können sich auch hier auf die Umstellung oder Auslassung ganzer Episoden beziehen. Zumeist sind es aber eher kleinere Umstellungen, Ersetzungen oder Auslassungen. Hierzu ein Beispiel: Beispiel: Welches Ende hat das Vaterunser? (Mt 6,13) „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Diese Worte sind vielen Christen als Abschluss des Vaterunsers vertraut – sei es aus der Schule, dem Konfirmandenunterricht oder dem Gottesdienst. In den meisten neueren Bibelausgaben ‚fehlen‘ diese Worte jedoch. Die Herausgeber der Elberfelder Bibel erklären an dieser Stelle, dass die bekannten Gebetsworte in „anderen Handschriften“ hinzugefügt wurden. Und die katholische Einheitsübersetzung erklärt vertiefend, dass die Hinzufügung dieses Lobpreises in Anlehnung an 1 Chr 29,10f. geschehen sei. Nur wer zu älteren Bibelübersetzungen greift oder beispielsweise die Schlachter-Bibel in die Hand nimmt, findet in Mt 6,13 das vertraute Ende des Vaterunsers abgedruckt.

Die abweichenden Übersetzungen zu Mt 6,13 beruhen auf der Tatsache, dass es zu dieser Textstelle mehrere griechische Textvarianten gibt. Der Grund hierfür ist, dass uns keine der 27 neutestaTextvarianten mentlichen Schriften im Original vorliegt. Der Papyrus, auf dem Matthäus einst sein Evangelium niederschrieb, ist ebenso verloren gegangen wie der Brief, den Paulus ursprünglich an die Gemeinde in Rom sandte. So existiert das Neue Testament in seiner ursprachlichen Gestalt nur noch in Form von ca. 5400 Abschriften. Und diese Abschriften variieren an zahlreichen Stellen – sei es, weil sich bei der Abschrift älterer Handschriften Fehler eingeschlichen haben oder weil ein Bearbeiter am Text absichtlich Korrekturen vorgenommen hat (→ Kap. 3). Manche Abschriften – insbesondere die ältesten unter ihnen – lassen sich außerdem nicht wie unsere Lutherbibel oder eine andere Bibelausgabe bequem aus dem Bücherregal ziehen. Sie liegen nicht als Buch vor, sondern nur noch als „Schnipsel“ bzw. als sogeAbb. 2.1: Joh 18,31–33.37f. auf dem nannte Fragmente. So enthält PapyrusPapyrusfragment 52 ( 52) fragmente die derzeit älteste bekannte Abschrift – das Papyrusfragment 52 (ca. 125 n.Chr.) – auf ihrer Vorder- und Rückseite lediglich den Abschnitt Joh 18,31–33.37f. Und wenn man sich den Papyrus näher anschaut (Abb. 2.1), ist dieser Text-

14

2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

abschnitt bei weitem nicht vollständig erhalten geblieben! Weil die neutestamentlichen Schriften nur noch in Form von Abschriften vorliegen und diese nicht selten variieren, versucht man in der wissenschaftlichen Exegese anhand fester Kriterien den ursprünglichen Wortlaut zu re-konstruieren: Endete das Vaterunser des Matthäusevangeliums ursprünglich mit dem vertrauten Lobpreis oder nicht? Definition: Was ist „Textbestimmung“? Bei der Textbestimmung (Textkritik) wird versucht, auf der Grundlage vorhandener Textzeugen den ursprünglichen Wortlaut eines (neutestamentlichen) Textabschnitts zu re-konstruieren. Hierzu wird a) die äußere Bezeugung (Qualität, Quantität) der Handschriften geklärt und b) nach inneren Kriterien gefragt, die der einen oder anderen Variante (mehr) Plausibilität verleihen.

Bei anderen Texten wie z.B. in der alttestamentlichen Forschung muss an dieser Stelle zusätzlich die literarkritische Methode angewendet werden (→ Kap. 5: Textentstehung II), wenn ein ältere Textstufe vor der ‚Endredaktionsstufe‘ Gegenstand der Untersuchung sein soll. Deswegen wird hier der allgemeinere Begriff „Textbestimmung“ bevorzugt. Die Textkritik ist eine Methode, um die zu untersuchende Textfassung zu ermitteln, aber im Neuen Testament die mit Abstand wichtigste. Obwohl es – wie eingangs dargestellt – auch in anderen Disziplinen editionswissenschaftliche Ansätze bzw. eine Methodik der Textbestimmung gibt, stellt das Neue Testament einen gewissen Sonderfall dar. Folgende vier Spezifika lassen sich benennen: ■





Das Original fehlt: Im Unterschied zu literaturwissenschaftlichen Editionen der Moderne (z.B. Kafkas Erzählungen) fehlt beim Neuen Testament das Original. Somit besitzt die Rekonstruktion der ältesten Textform immer einen hypothetischen Grundcharakter. Die Textkritik innerhalb der Exegese teilt dieses Problem mit anderen historischen Disziplinen, wie der Altphilologie oder Mediävistik. Das Interesse am „Urtext“ ist zentral: In anderen Sprach- und Geschichtswissenschaften ist seit den 1980-er Jahren eine deutliche Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer Textrekonstruktion zu erkennen. Vielfach steht gar nicht mehr der „Urtext“ an sich im Fokus, sondern die Mehrdimensionalität der Überlieferungsgeschichte. „Kaum ein Editor wird es heutzutage noch als sein erklärtes Ziel bezeichnen, den verlorenen Wortlaut des Dichters (annäherend) wiederherstellen zu wollen.“ 1 Innerhalb der Exegese zeigt sich hingegen ein weitgehend ungebrochenes Interesse am Urtext. 2 Es gibt eine hohe Anzahl an Handschriften: Die Texte des Neuen Testaments liegen in über 5000 griechischen Handschriften vor. Hinzu kommen ca. 10.000 lateinische

1 Th. Bein, Die mediävistische Edition und ihre Methoden, in: R. Nutt-Kofoth u.a. (Hgg.), Text und Edition. Positionen und Perspektiven, Berlin 2000, 81–98, hier 83. 2 Bei alttestamentlichen Texten rückt seit einiger Zeit auch ein späterer Überlieferungsstrang, die Fassung der Septuaginta (LXX), ins Blickfeld der Forschung.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?



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Manuskripte und ebenso viele Handschriften in anderen Sprachen und Dialekten (z.B. syrisch, armenisch, koptisch, äthiopisch usw.). Diese enorme Anzahl erschwert eine Analyse der genauen Entstehungszusammenhänge. Für den ‚Editionsprozess‘ ist eine lange Zeitspanne anzusetzen: Während der Überarbeitungsprozess bei literarischen Werken und anderen Medien zumeist einen Zeitraum von wenigen Monaten oder Jahren einnimmt, wurden die neutestamentlichen Texte bis ins Spätmittelalter immer wieder (mit verschiedenen Varianten) abgeschrieben. Grund dafür ist die religiöse und kulturelle Bedeutung, die man den neutestamentlichen Texten zugeschrieben hat.

2.2 Das Novum Testamentum Graece und seine Handhabung Insgesamt bedarf die Bewertung der unterschiedlichen Handschriften und ihrer Abhängigkeiten eines enormen Spezialwissens und kann von einzelnen Exegetinnen und Exegeten oder gar Studierenden überhaupt nicht geleistet werden. Aus diesem Grund wurde bereits 1959 das Münsteraner „Institut für neutestamentliche Textforschung“ von Kurt Aland (1915–1994) gegründet. Ziel dieser institutionellen Arbeit ist bis heute „die Erforschung der Textgeschichte des Neuen Testaments und die Rekonstruktion seines griechischen Ausgangstextes auf der Basis der gesamten handschriftlichen Überlieferung, der frühen Übersetzungen und patristischen Zitate.“3 Ein Ergebnis der institutionalisierten Aufarbeitung der Handschriften ist die kritische Textedition des Neuen Testaments (Novum Testamentum Graece). Das „NTG“, auch „Nestle-Aland“ genannt, wurde ursprünglich von Eberhard und Erwin Nestle herausgegeben. NTG in der 28. Auflage Seit der 26. Auflage wurde es dann von Kurt Aland verantwortet. Das seit 2012 in der 28. Auflage erscheinende NTG28 beruht auf den Ergebnissen verschiedener textkritischer Vorüberlegungen. So haben die Herausgeber zum Beispiel eine Vorauswahl bei den Handschriften getroffen. Berücksichtigt werden also nicht alle existierenden Textzeugen, sondern nur a) die ständigen Auswahl: ständige Zeugen Zeugen4, b) die häufig zitierten Handschriften und c) die gelegentlich zitierten Handschriften, die lediglich bei einzelnen Textstellen von Interesse sind. Da die Handschriften nicht alle Schriftengruppen des Neuen Testaments (Evangelien, Apostelgeschichte, Paulusbriefe, Katholische Briefe, Apokalypse) gleich gut bezeugen, variiert zudem die Zusammenstellung der Handschriften. Welche Schriften bei den Evangelien oder den Paulusbriefen zu den ständigen Zeugen und häufig zitierten Texten gehören, wird in der Einführung des NTG genau aufgelistet (NTG28, 18*–23*).

3

http://egora.uni-muenster.de/intf/ (abger. 9.4.2016). Im NTG wurde bis zur 27. Auflage noch zwischen ständigen Zeugen erster und zweiter Ordnung unterschieden. Diese Differenzierung ist mit der 28. Auflage aufgegeben worden. 4

16

2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

Das NTG stellt als kritische Edition des Neuen Testaments eine wichtige Arbeitsgrundlage für die exegetische Textbeschäftigung dar. Sie macht allerdings keineswegs eine eigenständige Textbestimmung und kritische Prüfung überflüssig. In der Geschichte des Novum Testamentum Graece mussten immer wieder ältere Textausgaben revidiert werden. Die Herausgabe der 28. Auflage ist im Wesentlichen durch solche neuen textkritischen Erkenntnisse und Entscheidungen motiviert, wenngleich diese „Neuerungen bisher nur die Katholischen Briefe betreffen“ (NTG28, 3*). Bei den Ergebnissen der Textkritik handelt es sich, das verdeutlichen gerade die vielfältigen Revisionen der letzten Jahrzehnte, immer nur um eine Re-Konstruktion. Diese Rekonstruktion erfolgt auf der Grundlage einer aktuell gegebenen äußeren Bezeugung sowie aufgund von logischen Kriterien (→ Kap. 3: Textbestimmung II – Innere Kriterien). Im textkritischen Apparat (Abb. 2.2), der im NTG28 – ähnlich wie ausführliche Fußnoten – unterhalb des griechischen Textes abgedruckt ist, werden zunächst alle Textvarianten und deren jeweilige Bezeugung benannt, die von der Textwahl des NTG abweichen (contra textum). Danach werden – insofern es sich um einen positiven Apparat handelt – die Textzeugen aufgelistet, die den Text des Nestle-Aland begründen (pro textu): txt. Gibt es zu einer Stelle mehrere Textvarianten, so werden diese positiver Apparat durch einen offenen Längsstrich ¦ voneinander getrennt. Wo es innerhalb eines Verses gleich mehrere textkritische Problemstellen gibt, werden die verschiedenen Auflistungen durch einen durchgängigen Längsstrich | abgetrennt. • 13 ⸆ αμην 17. 30. 288[ vgcl ¦ (1 Chr 29,11–13) οτι σου εστιν η βασιλεια και η δυναμις και η δοξα εις τους αιωνας αμην K L W Δ Θ 0233 ƒ13 33. 288c. 565. 579. 700. 892. 1241. 1424 l 844 f q syh bopt (g1 k syc.p sa) ¦ [...] ¦ txt ℵ B D Z 0170 ƒ1 l 2211 lat mae bopt; Or Abb. 2.2: Positiver Apparat zu Mt 6,13

Im Unterschied zum positiven Apparat werden im sog. negativen Apparat (Abb. 2.3) hingegen nur die Varianten aufgelistet, die von der Textwahl des NTG28 abweichen. Es handelt sich dann negativer Apparat meist um Lesarten, die eindeutig später entstanden sind. Das bedeutet, dass der vom NTG gebotene Text derart gut bezeugt ist, dass sich die Herausgeber an dieser Stelle die Angaben der Textzeugen pro textu „sparen“. Die angegebenen Textvarianten sind meist lediglich von textgeschichtlichem Interesse. • 14 ° D[L sams | … Abb. 2.3: Negativer Apparat zu Mt 6,14

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

17

Da der Platz innerhalb des Fließtextes und des Apparates begrenzt ist, gibt es im NTG28 textkritische Zeichen. Diese muss man kennen, um den Apparat entschlüsseln und verstehen zu können (vgl. NTG28, Einführung, 12*–13*): ⸆ Einfügung: An der durch dieses Zeichen markierten Stelle werden von den angegebenen Handschriften Wörter, Satzteile oder ganze Sätze und Verse ergänzt. Vgl. Mt 6,13, wo mehrere Handschriften – in unterschiedlicher Überlieferungsart – den Lobpreis einfügen: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ ° Wortauslassung: Das im Text nachfolgende Wort wird in den angegebenen Handschriften ausgelassen. Vgl. Mt 6,10: ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς, wo mehrere Handschriften ὡς nicht bieten. Werden in einem Vers mehrmals einzelne Wörter ausgelassen, so wird das Auslassungszeichen durchnummeriert (°, °1, °2 usw.). ⸋ ⸌ Größere Auslassung: Die zwischen den beiden Zeichen stehenden Wörter, Satzteile oder Sätze werden in den angegebenen Handschriften ausgelassen. Um mehrmalige Auslassungen unterscheiden zu können, wird auch hier durchnummeriert (⸋, ⸋1, ⸋2 usw.). ⸀ Wortersetzung: Das Wort, das auf dieses Zeichen folgt, wird in den angegebenen Handschriften durch ein oder mehrere andere ersetzt. Vgl. Mt 6,12, wo der Aorist ἀφήκαμεν in mehreren Handschriften durch die Präsensform ersetzt wird. ⸂ ⸃ Größere Ersetzung: Der zwischen den beiden Zeichen ⸂ ⸃ stehende Text wird in den angegebenen Handschriften durch einen anderen Text ersetzt. So z.B. der Plural „in den Himmeln“ in Mt 6,9 durch den Singular „im Himmel“ (τω ουρανω). Eine Ersetzung kann aber auch eine Umstellung (s.u.) einschließen (vgl. Mk 1,4). ⸉ ⸊ Umstellung: Die zwischen den beiden Zeichen stehenden Wörter werden in den angegebenen Handschriften umgestellt. Die Reihenfolge der umgestellten Wörter wird, falls nötig, durch kursive Ziffern angegeben. Vgl. Röm 1,7: ⸉Gnade euch und Frieden⸊ wird von einer Handschrift (syp) umgestellt. Hier ergibt sich die Reihenfolge 4 3 1 2, also „Frieden und Gnade euch“. ⸈ Umsetzung: Das folgende Wort oder der folgende Textabschnitt wird in den angegebenen Handschriften an eine im Apparat bezeichnete Stelle umgesetzt. Vgl. Lk 6,5: Der ganze Vers („Und er sprach zu ihnen: Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat“) wird in der Handschrift D hinter Vers 10 (vs 5 post 10) und damit hinter die Erzählung von der Heilung eines Mannes am Sabbat gesetzt.

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2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

Aufgabe: Lösen Sie für das folgende Beispiel den kritischen Apparat auf. Notieren Sie, welche Textvarianten zu Mt 6,12 vorliegen! Mt 6,12:

καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ⸀ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν

• 12 ⸀αφιομεν […] ¦ αφιεμεν […] ¦ txt […] Anm.: Die einzelnen Handschriften, die die jeweilige Variante bezeugen, sind hier zur Vereinfachung ausgelassen worden.

Die Angabe der Handschriften, die den Text der Herausgeber (txt) oder die anderen im Apparat verzeichneten Varianten jeweils bezeugen, folgt im NTG28 immer der gleichen Reihenfolge (Tab. 2.4). Diese Reihenfolge orientiert sich an den verschiedenen Handschriftenarten, die im FolReihenfolge genden vorgestellt werden: 1. Papyri, 2. Majuskeln, 3. Minusder keln, 4. Lektionare, 5. Übersetzungen, 6. Kirchenväterzitate. Bezeugung Wenn eine Textstelle durch eine Handschriftenart nicht bezeugt wird, entfällt diese schlichtweg: So kann es etwa vorkommen, dass eine Auflistung mit der Nennung der Minuskeln beginnt, weil der entsprechende Text weder durch Papyri noch Majuskeln bezeugt wird. Papyri 46

Majuskeln

Minuskeln

Lektionare

Übersetzungen

Kirchenväter

ℵ B Δ 0130

3.1739 f 13

l 2211

vgms syp bo

Orig

G r i e c h i s c h e

T e x t z e u g e n Tab. 2.4: Reihenfolge der Bezeugung

1. Papyri Die zuerst aufgelisteten Papyri werden durch ein stilisiertes P ( ) und eine hochgestellte Ziffer dargestellt. Während bereits die 27. Papyrus: + Auflage des NTG im Jahr 2001 um die Papyri 99–116 „erhochgestellte weitert“ wurde, sind ins NTG28 inzwischen 127 Papyri, die Ziffer neutestamentliche Texte enthalten, aufgenommen worden. Weitere Papyri sind bereits gefunden worden, müssen aber zunächst wissenschaftlich ausgewertet und publiziert werden. Alle Papyri sind wegen ihres hohen Alters und der guten Textqualität für die Rekonstruktion des neutestamentlichen Textes hoch relevant. Vielfach handelt es sich – wie bei 52 – allerdings lediglich um Fragmente mit geringem Textumfang. Im Appendix des NTG28 (S. 792–799) findet man eine Auflistung über den genauen Umfang (Spalte „cont.“) der einzelnen Papyri: Hier lässt sich beispielsweise nachlesen, dass 52 den Abschnitt Joh 18,31–33.37f. enthält.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

19

Zudem lässt sich dem Appendix entnehmen, dass der Papyrus aus dem 2. Jahrhundert (saec.) stammt und in der Universitätsbibliothek Manchester (bibliotheca) aufbewahrt wird. Bedeutende Textzeugen mit größerem Textumfang sind z.T. nach ihren Sammlern (z.B. die Chester-Beatty-Papyri 45, 46, 47) oder nach ihrem (früheren) Aufbewahrungsort (z.B. Bodmer-Papyri 66, 72, 74, 75) benannt. Aufgabe: Schlagen Sie den Appendix des NTG28 auf (S. 792–799) und finden Sie heraus, a) welchen Textumfang die drei genannten Chester-Beatty-Papyri besitzen und b) aus welchem Jahrhundert diese Papyri stammen.

2. Majuskeln Etwas verwirrender ist die Notation der Majuskeln, d.h. jener Handschriften aus dem 3.– 9. Jhdt., die ausschließlich in griechischen Großbuchstaben verfasst wurden. Die Verzeichnung beruht einerseits Majuskeln: auf einem alphabetischen Großbuchstabe System, das auf Wettstein oder (1751/52) zurückgeht und 0 + Ziffer später eine Differenzierung in hebräische (z.B. ℵ), lateinische (z.B. A) und griechische (z.B. Δ) Buchstaben erfahren hat. Seit Gregory (1908) hat sich aufgrund der großen Anzahl an Handschriften eine weitere Abb. 2.5: Codex Claromontanus Notation etabliert. Hierbei werden die Majuskeln jeweils mit „0“ beginnend durchgezählt (z.B. 0130). Neben den frühesten Majuskeln, die aus dem 2./3. Jhdt. (0189) und 3./4. Jhdt. (0162, 0171, 0212, 0220) stammen – und ebenfalls nur fragmentarisch vorliegen – sollte man v.a. die großen Handschriften aus dem 4./5. Jhdt. kennen (Tab. 2.6), weil diese bei der Rekonstruktion des neutestamentlichen Textes eine bedeutsame Rolle spielen und Sie diesen bei der textkritischen Arbeit immer wieder begegnen werden. Literatur: Aland/Aland* 117–137 (vollständiges Verzeichnis sowie eine Beschreibung der Majuskeln); vgl. das Online-Verzeichnis des INTF: http://intf.uni-muenster.de/vmr/NTVMR/ListeHandschriften.php (abger. 9.4.2016).

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2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

Notation

Bezeichnung

Jhdt.

ℵ 01

Codex Sinaiticus

IV

Vollbibel (Teile des AT sind verloren)

A 02

Codex Alexandrinus

V

Vollbibel (Mt 1-25,5, Joh 6–8 u. 2 Kor 4–12 fehlen)

B 03

Codex Vaticanus

IV

AT und NT bis Hebr 9,14a

C 04

Codex Ephraemi Syri rescriptus (= „Palimpsest“5)

V

AT (geringe Teile) + NT (> 50%)

D 05

Codex Bezae Cantabrigiensis

V/VI

D 06

Codex Claromontanus (= grch.-lat. „Bilingue“)

VI

Textumfang

Evv. + Apg Corpus Paulinum Tab. 2.6: Auswahl bekannter Majuskeln

3. Minuskeln Die Minuskelhandschriften etablieren sich dann ab dem 9. Jhdt. Sie erMinuskeln: Ziffer leichtern einerseits das Lesen, weil nun Akzente und Satzzeichen verwendet und die Worte voneinander getrennt werden. Eher erschwert wird das LeAbb. 2.7: Joh 1,5–10 in der Minuskel 105 sen dieser Handschriften hingegen durch die Papier sparende Verwendung von Abkürzungen und Ligaturen (= Buchstabenverbindungen). Die Notation der Minuskeln erfolgt durch eine einfache Zählung (1, 2, 33, 1739 usw.). Merke: Die Zählung der Majuskeln beginnt immer mit 0, die Zählung der Minuskeln immer mit einer Ziffer ≠ 0.

Neben der ältesten Minuskelhandschrift 461 (Evangelienhandschrift aus dem Jahr 835 n.Chr.) sollte man v.a. die für die Textkritik bedeutsamen Minuskeln 33, 565, 614, 700, 1739 sowie die zusammengefassten Minuskelfamilien f 1 („Lake-Gruppe“ = Minuskel 1, 118, 131, 209, 1582 u.a.) und f 13 („FerrarGruppe“ = Minuskel 13, 69, 124, 174, 230, 436, 543 u.a.) kennen. Gegenüber der 27. Auflage wurde die Minuskel 2427 als Textzeuge gestrichen. Hier konnte nachgewiesen werden, dass es sich um eine moderne Abschrift des Markusevangeliums und damit um eine Fälschung handelt (→ Literatur).

5 Ein Palimpsest ist ein Manuskript, bei dem die ältere Handschrift radiert (abgeschabt) und ein anderer Text darüber geschrieben wurde.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

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Literatur: Aland/Aland* 139–167 (beschreibendes Verzeichnis der Minuskeln) 6; M.M. Mitchell/J.G. Barabe/A.B. Quandt, Chicago‘s ‚Archaic Mark‘ (ms 2427) II. Microscopic, Chemical and Codicological Analyses Confirm Modern Production, NT 52 (2010), 101–133.

4. Lektionare Unter Lektionaren versteht man jene Handschriften, die dem gottesdienstlichen Gebrauch dienten und den Text des Neuen Testaments Lektionare: nach der Perikopenordnung der Kirche aufteilten. Sie werl + Ziffer den unterschieden in: a) Lektionare, die dem sonnabendlichen oder sonntäglichen Gottesdienst dienten und b) Lektionare, die für den (klösterlichen) Gottesdienst an Wochentagen erstellt wurden. Bei der Notation werden Lektionare mit vorangestelltem l und einer nachfolgenden Ziffer kenntlich gemacht (vgl. Mt 6,13: hier bezeugt l 2211 den txt). Das textkritische Gewicht der ca. 2280 erhaltenen handschriftlichen Lektionare ist als eher gering einzuschätzen. Eine gewisse Ausnahme bilden l 844 und l 2211 für die Evangelien und l 249 und l 846 für das Corpus Paulinum. 5. Übersetzungen Unter den zahlreichen Handschriften mit Übersetzungen des Neuen Testaments kommen diejenigen Übersetzungen für die Textkritik in Betracht, die sehr früh (manche bereits um 180 n.Chr.) und unmittelbar auf der Basis des griechischen Textes übersetzt worden sind. Übersetzungen: it, vg, lat(t) Zu diesen alten Übersetzungen zählen v.a. die (alt)lateinisy, co, sa, mae schen (Sigla: it, vg, lat(t) + a, b, c usw.), syrischen (sy) und koptischen Handschriften (Sigla: co, bo[hairisch], sa(hidisch), mae u.a.). Andere Übersetzungen – wie die ins Gotische, Altkirchenslawische, Armenische, Georgische – sind hingegen meist nur dann von Interesse, wenn hier auf der Basis eines griechischen Textes Revisionen vorgenommen wurden. Bei den lateinischen und syrischen Übersetzungen sind die hochgestellten Buchstaben zu beachten, die auf verschiedene Ausgaben (z.B. syh = Harklensis, syp = Peschitta) oder auf eine einzelne (vgms) bzw. mehrere (vgmss) abweichende Handschriften hinweisen. 6. Kirchenväter In zahlreichen Schriften der späteren „Kirchenväter“7 finden sich immer wieder Zitate aus dem Neuen Testament. Diese sind allerdings eher für die Re-

6 Vgl. auch alternativ das Online-Verzeichnis des Instituts für neutestamentliche Textforschung: intf.uni-muenster.de/vmr/NTVMR/ListeHandschriften.php (abger. 9.4.2016). 7 Obwohl sich der Begriff der „Kirchenväter“ etabliert hat, ist er nicht unproblematisch. Denn zu diesem Textkorpus gehören auch anonyme Schriften und Pseudepigraphen (vgl. Aland/Aland* 183–190 [griechische „Kirchenväter“] und 221–226 [lateinische, orientalische „Kirchenväter“]) und eine (Mit-)Autorenschaft von Frauen ist ja nicht auszuschließen.

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2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

konstruktion der Textgeschichte bedeutsam. Sie zeigen, wann und wo bestimmte Textversionen im Umlauf waren. Der Umgang mit diesen Zitaten wird dadurch erschwert, dass manche Werke noch nicht in kritischen Ausgaben vorliegen. Solche Editionen wären allein deshalb notwendig, weil nicht auszuschließen ist, dass neutestamentliche Zitate von Abschreibern an eine ihnen geläufige Bibelversion angepasst wurde. Auf den Seiten 37*-38* des NTG28 findet sich eine Liste, in der die verwendeten und abgekürzten Werke der Kirchenväter aufgezählt sind. Mehrheitstext In der Reihenfolge der handschriftlichen Bezeugung findet sich oftmals im Anschluss an die Lektionare das Sigel 6. Dieses Gruppensigel steht für den sogenannten „Mehrheitstext“. Hierbei handelt es sich um Mehrheitstext: die große Mehrheit der griechischen neutestamentlichen Handschriften, die seit der Konstantinischen Wende in 6 „Massenproduktion“ für den kirchlichen Gebrauch hergestellt wurden und die einen weitgehend vereinheitlichten Text bieten. Aufgrund ihrer engen Verwandtschaft besitzen die Handschriften des 6 nur „eine Stimme“ bei der Bestimmung der äußeren Bezeugung. Mitunter kann der Mehrheitstext jedoch auch in zwei Varianten gesplittet sein, d.h. ein Teil bezeugt eine Textvariante, während der andere Teil eine zweite Textvariante bezeugt. In diesem Fall tauchen im positiven Apparat bei der Nennung der unterschiedlichen Varianten jeweils die Buchstaben pm (= permulti) auf. Erasmus von Rotterdam veröffentlichte seine einflussreiche griechische Ausgabe des Neuen Testaments 1516 auf der Basis von einigen Handschriften des Mehrheitstextes. Diese gedruckte Textversion war im protestantischen Europa bis ins 19. Jahrhundert bestimmend. Man nennt diese (künstliche) TextTextus version – in der Fassung der Druckerei Elzevier in Leiden ab 1633 Receptus – den Textus Receptus. Viele ältere protestantische Bibelübersetzungen wie diejenige Martin Luthers oder die King James Version (und noch die Schlachter 2000) basieren auf Fassungen dieser allerersten Druckausgaben des griechischen Textes, die auch nicht ganz mit dem Text der byzantinischen Tradition identisch sind. Bei neueren Überarbeitungen der Lutherbibel hat man jedoch den aktuellen wissenschaftlichen Stand berücksichtigt.

2.3 Methode Die Methode der Textbestimmung ist im Fall des Neuen Testaments die Textkritik. Die Textkritik unterteilt sich in die Untersuchung der äußeren Kriterien und der inneren Kriterien. In diesem Kapitel richten wir unser Augenmerk auf die äußeren Kriterien, d.h. auf die systematische Untersuchung, wie alt bzw. zuverlässig die Handschriften sind, die eine jeweilige Textvariante bezeugen.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

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Methode: Textkritische Analyse nach äußeren Kriterien 1. Alle Textabweichungen, die im NTG28 zu einem Textabschnitt markiert sind, werden aufgelistet und es wird geklärt, welche konkreten Textänderungen (Einfügung, Ersetzung etc.) vorgenommen wurden. 2. Man wählt eine Textabweichung aus, die für die spätere Interpretation oder auch für das eigene Forschungsinteresse relevant erscheint. 3. Es werden zu einer Textstelle alle Varianten aufgelistet und es wird entschlüsselt, durch welche Papyri, Majuskeln, Minuskeln, Übersetzungen und Kirchenväterzitate die jeweiligen Textvarianten belegt werden. 4. Es ist abzuwägen, wie gut die einzelnen Textvarianten im Verhältnis zueinander bezeugt sind, und zwar auf der Grundlage der Quantität und Qualität der einzelnen Textzeugen.

2.3.1 Schritt 1: Auflistung Zunächst sollten übersichtshalber alle Textabweichungen eines Textes aufgelistet werden. Sie können dazu etwa den Text, den Sie in einer Hausarbeit bearbeiten wollen, kopieren und auf der Kopie alle textkritischen Zeichen im Text farbig markieren. Gehen Sie danach die einzelnen Textabweichungen durch: Notieren Sie, welche Art des Texteingriffs jeweils vorgenommen wurde und welche Textvarianten es im Einzelnen gibt. Halten Sie also beispielsweise nicht nur fest, dass an einer Stelle etwas eingefügt wurde, sondern halten Sie auch fest, welche unterschiedlichen Einfügungen bezeugt sind. 2.3.2 Schritt 2: Auswahl Haben Sie einen guten Eindruck von den jeweiligen Textabweichungen und Varianten gewonnen, gilt es in einem zweiten Schritt zu entscheiden, welcher Texteingriff für Sie bzw. Ihre Exegese relevant ist. Ist eine Textabweichung im Hinblick auf eine konkrete Themenstellung oder ein Forschungsinteresse von größerer Bedeutung? Wird durch einen Eingriff der Sinn des Textes besonders stark beeinflusst und ist dies vielleicht für die spätere Interpretation wichtig? Selbstverständlich kommt es sehr oft vor, dass nicht genau eine Textabweichung in einem Abschnitt relevant ist. Denkbar ist sowohl, dass sich alle Textabweichungen letztlich als irrelevant bzw. vernachlässigenswert erweisen, als auch, dass mehrere Texteingriffe interessant sind. Am Anfang des Studiums (z.B. in einer Hausarbeit) empfiehlt es sich aber tatsächlich, sich probehalber auf einen Fall zu konzentrieren. So haben Sie die Möglichkeit, ein textkritisches Problem in seiner gesamten Tiefe zu beleuchten.

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2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

2.3.3 Schritt 3: Entschlüsselung Nun ist der Zeitpunkt innerhalb der Analyse gekommen, an dem Sie das oben erwähnte Buch von Kurt und Barbara Aland („Der Text des Neuen Testaments“) zur Hand nehmen sollten. Mit Hilfe dieses Buches lassen sich die Zeugen (Papyri, Majuskeln, Minuskeln usw.), die jeweils eine Textvariante bezeugen, entschlüsseln und qualifizieren. Notieren Sie dazu nicht nur die Bezeichnung der einzelnen Handschriften (z.B. Codex Bezae Cantabrigiensis), sondern halten Sie auch das Jahrhundert fest, in dem diese Handschrift entstanden ist. Außerdem finden Sie bei Aland/Aland, Text des Neuen Testaments, weitere Hinweise auf die Qualität einer Handschrift.8 Gegebenenfalls ist auch darauf zu achten, ob eine Variante durch das Original (*) oder (lediglich) durch eine spätere Korrektur (1,2,3 usw.) dieser Handschrift bezeugt wird. 2.3.4 Schritt 4: Beurteilung Haben Sie entschlüsselt, welche Handschriften die unterschiedlichen Textvarianten bezeugen, gilt es nun, zu einer Beurteilung des Befundes zu kommen: Welche Textvariante ist im Vergleich zu den anderen VariAbwägen, anten gut bzw. besser belegt? Als ursprüngliche Textvarinicht ante ist dabei längst nicht immer diejenige anzusehen, die zählen! von der Mehrheit der Handschriften bezeugt wird. Man muss auch die ältesten und zuverlässigsten Handschriften beachten. Daher geht es nicht einfach darum, die Handschriften zu zählen (Lesart A: 10 Handschriften, Lesart B: 3 Handschriften), sondern – auf der Grundlage ihrer Qualität9 – möglichst präzise abzuwägen. Wenn die 3 Handschriften mit Lesart B zu den besonders alten und zuverlässigen gehören, so hat das Gewicht.

8

Die feste Kategorisierung, die Sie bei Aland/Aland* vorfinden, ist hingegen zu vernachlässigen. Sie mag lediglich eine erste grobe Orientierung bieten, wird aber heute zunehmend kritisch gesehen. Vgl. zu dieser Kritik B.D. Ehrman, A Problem of Textual Circularity. The Alands on the Classification of New Testament Manuscripts, Bib. 70 (1989), 377–388; G.D. Fee, On the Types, Classification, and Presentation of Textual Variation, in: E.J. Epp/G.D. Fee (Hgg.), Studies in the Theory and Method of New Testament Textual Criticism, StD 45, Grand Rapids 1993, 62–82. 9 Unseres Erachtens reicht es aus, sich im Verlauf des Studiums primär an der Datierung der Textzeugen zu orientieren. Gleichwohl lässt sich gegen dieses Vorgehen der berechtigte Einwand anführen, dass auch spätmittelalterliche Abschriften einen vergleichsweise alten Text überliefern können. Aus diesem Grund wird in der neueren Exegese das Kriterium der paläographischen Datierung stark relativiert. Eine aufwendige Alternative stellt die „kohärenzbasierte genealogische Methode“ des Münsteraner Instituts für Textforschung dar. Vgl. hierzu G. Mink, Was verändert sich in der Textkritik durch die Beachtung genealogischer Kohärenz?, in: W. Weren/D.-A. Koch (Hgg.), Recent Developments in Textual Criticism, STAR 8, Leiden 2003, 39–68.

Welche Textvarianten findet man in den Handschriften?

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Demo: Mk 1,1 – textkritische Beurteilung nach äußeren Kriterien Zum einleitenden Vers des Markusevangeliums (Mk 1,1: Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ θεοῦ) liegen drei Textvarianten vor, die für die Frage der markinischen Christologie von besonderer Relevanz sind. Es geht konkret um die Frage, ob und in welchem Wortlaut der Sohn-Gottes-Titel ursprünglicher Bestandteil der markinischen Einleitung ist. Textvariante 1: Zahlreiche Handschriften fügen zu den abschließenden Worten υἱοῦ θεοῦ den definiten Artikel τοῦ hinzu: [...] υἱοῦ τοῦ θεοῦ. Diese Hinzufügung findet sich beim Codex Alexandrinus (5. Jhdt.), beim Codex Cyprius (9. Jhdt.), Codex Guelferbytanus (5. Jhdt.) und Codex Sangallensis (9. Jhdt.). Unter den Minuskelhandschriften sind es die Ferrar- und die Lake-Gruppe sowie die Minuskeln 33, 565 (beide 9. Jhdt.), 579 (13. Jhdt.), 700 (11. Jhdt.), 892 (9. Jhdt.), 1241 (12. Jhdt.), 1424 (um 900), 2542 (13. Jhdt.), die diese Lesart bezeugen, wobei die Minuskel 1241 zusätzlich das Substantiv κύριος ergänzt. Auch das Lektionar l 844 sowie der Mehrheitstext lesen an dieser Stelle υἱοῦ τοῦ θεοῦ. Textvariante 2: In einer weiteren Gruppe von Handschriften fehlt hingegen der Hoheitstitel „Sohn Gottes“ (υἱοῦ θεοῦ). Hierzu zählen die ursprüngliche Version des Codex Sinaiticus (4. Jhdt.) sowie der Codex Koridethi (9. Jhdt.), die Minuskel 28 (11. Jhdt.), das Lektionar l 2211 (995/96) sowie eine sahidische Handschrift. Auch bei Origenes ist der Text ohne υἱοῦ θεοῦ überliefert, während bei Irenäus und Epiphanius von Salamis zugleich das Ἰησοῦ Χριστοῦ ausgelassen wird. Textvariante 3: Der von den Herausgebern des NTG28 präferierte Text (mit υἱοῦ θεοῦ) wird von der ersten Korrektur des Codex Sinaiticus (später als 4. Jhdt. 10), dem Codex Vaticanus (4. Jhdt.), dem Codex Bezae Cantabrigiensis (5. Jhdt.), dem Codex Regius (8. Jhdt.), dem Codex Washingtonianus (4./5. Jhdt.), dem Codex Tischendorfianus IV (10. Jhdt.) sowie der gesamten lateinischen, syrischen und koptischen Tradition und dem lateinischen Irenäus bezeugt. Fazit: Beide Lesarten, die den Sohn-Gottes-Titel enthalten (Textvariante 1 und 3), sind quantitativ besser belegt als Textvariante 2, die den Hoheitstitel nicht enthält. Hierbei ist Textvariante 1 vor allem durch die große Anzahl an Minuskeln gut bezeugt, während die entsprechenden Majuskeln zwar z.T. früh zu datieren sind, aber bei den Evangelienschriften eher von geringer Qualität sind. 11 Die von den HerausgeberInnen des NTG28 bevorzugte Lesart (Textvariante 3) kann sich auf die gesamte lateinische, syrische und koptische Tradition stützen und wird zudem durch mehrere Majuskeln mit hohem textkritischen Wert bezeugt. Allerdings enthält die ursprüngliche Version des Sinaiticus gerade nicht den Sohn-Gottes-Titel, sodass die spätere und nicht genau datierbare Korrektur bereits durch andere Textvarianten beeinflusst sein könnte. Insgesamt ist Textvariante 3 am besten bezeugt, während Textvariante 1 zwar quantitativ, aber nicht qualitativ gut bezeugt ist und Textvariante 2 zwar durch einige qualitativ hochwertige Zeugen belegt wird, aber dafür lediglich durch wenige Textzeugen. Die Entscheidung, welche Textvariante zu bevorzugen ist, kann letztlich erst unter Zuhilfenahme innerer Kriterien erfolgen (→ Kap. 3: Textbestimmung II).

10 Während der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jhdt. stammt, lässt sich die Korrektur nicht mit Sicherheit datieren. 11 Dies gilt nach dem Urteil von Aland/Aland* 118 u. 122 sowohl für den Codex Alexandrinus als auch für den Codex Cyprius und den Codex Guelferbytanus.

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2. Textbestimmung I – Äußere Kriterien

Literatur: J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Zürich u.a. 51994, 43 [für Textvariante 3]; J. Marcus, The Way of the Lord. Christological Exegesis of the Old Testament in the Gospel of Mark, Westminster u.a. 1992, 141; H. Greeven/E. Güting, Textkritik des Markusevangeliums, Münster 2005, 43 [beide für Textvariante 2 aufgrund äußerer und innerer Kriterien].

2.4 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. 2. 3. 4. 5.

Nennen Sie den Unterschied zwischen positivem und negativem Apparat! Notieren Sie die Handschriftenarten in der festgelegten Reihenfolge des NTG28! Erklären Sie, was man unter den „ständigen Zeugen“ versteht. Was bedeutet das Zeichen ⸀ im Apparat des NTG28? Worin unterscheiden sich Majuskeln und Minuskeln?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: A) Handlungswissen: Sie können jetzt … ■ mit dem NTG28 umgehen und insbesondere den Apparat entschlüsseln; ■ mit Hilfe des NTG28 sowie der weiteren Sekundärliteratur die neutestamentlichen Textzeugen benennen, datieren und Auskunft über deren textkritischen Wert geben; ■ methodisch reflektiert eine Textbestimmung nach äußeren Kriterien durchführen. B) Fachwissen: Sie kennen jetzt … ■ die verschiedenen Handschriftenarten (Papyri, Majuskeln, Minuskeln, Lektionare, Übersetzungen, Kirchenväter); ■ einige wichtige Textzeugen sowie Textzeugengruppen; ■ Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der neutestamentlichen Textkritik und anderen Editionswissenschaften. Notieren Sie sich nun in Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Textbestimmung erkennen und wo Sie noch offene Fragen haben! Vernetzen Sie sich: Während sich in anderen Disziplinen eine große Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Textbestimmung erkennen lässt, hält die Exegese weitgehend am Ziel einer Rekonstruktion des „Urtextes“ fest. Diskutieren Sie miteinander, was die Textbestimmung im Blick auf biblische Texte leisten kann und welche Erkenntnisgrenzen ihr gesetzt sind.

2.5 Literatur (→ Kap. 3.4)

3 Textbestimmung II – Innere Kriterien Leitbegriffe Innere Kriterien, Anfangsverdacht: lectio brevior, lectio perturbata, lectio difficilior, Hör- und Schreibfehler, Kohäsion und Kohärenz

3.1 Warum ist eine Klärung der „inneren Kriterien“ wichtig? Bisher haben wir uns im Rahmen der Textbestimmung mit der äußeren Bezeugung beschäftigt, d.h. den verschiedenen Handschriftenarten, deren Darstellung im NTG28 sowie den Möglichkeiten der Datierung und Qualifizierung. Um sich textkritisch begründet für eine bestimmte Lesart zu entscheiden, ist eine solche Klärung der äußeren Bezeugung notwendig. Das bedeutet, dass ohne diese Klärung keine textkritisch begründete Entscheidung für oder gegen eine Lesart getroffen werden kann. Andererseits ist diese Klärung der äußeren Bezeugung aber noch nicht hinreichend. Es bedarf also darüber hinaus weiterer methodisch reflektierter Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob eine Lesart ursprünglich ist oder nicht. Diese Kriterien werden in der Exegese gewöhnlich als innere Kriterien bezeichnet. Durch die inneren Kriterien gerät innere Kriterien gewissermaßen in den Blick, dass Textvarianten eine „menschliche Seite“ besitzen. Sie existieren nicht, um heutige Studierende zu malträtieren, sondern verdanken sich häufig den lebhaften Diskursen und theologischen Debatten, die in der frühen Kirche um das neutestamentliche Textkorpus geführt wurden. Vielleicht bekommt man ein etwas besseres Gespür für solche Vorgänge, wenn man sich vergleichbare Revisionsvorgänge aus heutiger Zeit vor Augen führt: ■



Seit einiger Zeit wird über die „Zensur“ älterer Kinderbücher diskutiert: Dürfen renommierte Kinderbuchverlage Begriffe, die aus heutiger Sicht diskriminierend sind, aus Klassikern der Kinderbuchliteratur streichen und diese im Sinne einer political correctness sprachlich modernisieren? Pippi Langstrumpfs Papa wird in neuen Auflagen nicht mehr „Negerkönig“ genannt, sondern „Südseekönig“. Und kann man heute noch drucken, dass die kleine Hexe einem „Negerlein“ begegnet? Kontrovers sind in der Politik immer wieder die sogenannten „Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung“, die in regelmäßigen Abständen veröffentlicht werden. Wie sehr darf die Regierung in solch einen Text eingreifen, der sachlich über die „Lebenslagen in Deutschland“ informieren soll?

Diese und ähnliche Revisionsvorgänge verdeutlichen, dass Eingriffe in einen Text häufig auf gewandelte gesellschaftliche, religiöse, sprachliche und politische Rahmenbedingungen – also textexterne Faktoren – zurückzuführen sind und nie wertneutral erfolgen. Es lässt sich immer ein Motiv bestimmen.

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3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

Die textkritische Analyse nach inneren Kriterien versucht genau diese historischen Faktoren und Motive zu benennen, die zu einer Textänderung geführt haben. Ziel ist es, zu einer begründeten und methodisch verantworteten Entscheidung für oder gegen eine Textvariante zu gelangen. Eine solche Analyse ist bei neutestamentlichen Texten notwendig, weil im Unterschied zu heutigen Revisionsprozessen der ursprüngliche Text nicht mehr bekannt ist. Also: Welche Textvariante ist als ursprünglich anzusehen und welche stellt eine Korrektur bzw. Veränderung dar? Auch die textkritische Analyse nach inneren Kriterien bleibt jedoch immer eine Re-Konstruktion. Sie besitzt zwangsläufig einen hypothetischen Charakter. Um so wichtiger ist ein methodisch verantwortetes und nachvollziehbares Vorgehen. Deshalb hat die Exegese seit ihren Anfängen versucht, eindeutige Regeln der Textkritik aufzustellen.1 Eine Auflistung solcher Kriterien finden Sie in jedem Methodenbuch. Allerdings stellen solche Regeln oftmals nur einen ersten Anfangsverdacht dar. Rekonstruiert man das tatsächliche Vorgehen von Exegetinnen und Exegeten, so stellt sich die textkritische Analyse meist als ein wesentlich komplexeres Phänomen dar. Um die eigentlichen Faktoren und Motive hinter einer Textänderung zu beleuchten, haben wir im Folgenden versucht, einige Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften – v.a. der Linguistik und Kognitionspsychologie – einzubeziehen und auf die Exegese anzuwenden. 3.2 Methode Für jedes textkritische Problem bzw. jede Lesart sind nach der Erhebung des äußeren Befundes drei bzw. vier Schritte sinnvoll: Methode der Untersuchung nach inneren Kriterien: 1. Die Art der Textveränderung wird bestimmt: Handelt es sich um eine Veränderung a) des Textumfangs, b) der Textstruktur oder c) der Textsubstanz? 2. Es wird der (dazugehörige) Anfangsverdacht (lectio brevior, lectio perturbata, lectio difficilior) formuliert. 3. Es werden Motive benannt, wie es zu den einzelnen Textvarianten kommen konnte und es wird kontrolliert, ob sich der Anfangsverdacht dadurch a) verifizieren oder b) falsifizieren lässt bzw. c) für eine abschließende Entscheidung hinreichende Kriterien fehlen. 4. Bei mehr als zwei Textvarianten werden die Lesarten in eine logische Genealogie („Stemma“) gebracht.

1

Bereits auf Johann Albrecht Bengel geht die Regel „proclivi scriptioni praestat ardua“ (die schwierigere Lesart hat Vorrang vor der leichteren) zurück (J.A. Bengel, Apparatus Criticus (1734), S. 433 § XXXIV). Sie besitzt – wenn auch unter einer gewandelten Bezeichnung (s. 3.2.2: lectio difficilior) – bis heute Gültigkeit.

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

Art der Veränderung bestimmen

Anfangsverdacht formulieren

Motive für Textveränderung(en) benennen

Textumfang

Die kürzere Lesart ist die ursprüngliche

Motive für Texterweiterung oder Textkürzung finden

Textstruktur

Die chaotischere Lesart ist die ursprüngliche

Motive für Veränderung der Textstruktur finden

Textsubstanz

Die schwierigere Lesart ist die ursprüngliche

Hör-/Schreib- Motive für inhaltfehler liche Vereinfaabklären chungen finden

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Stemma erstellen

(bei mehr als zwei Textvarianten)

Tab. 3.1: Methodenweg der inneren Textkritik

3.2.1 Schritt 1: Art der Textveränderung bestimmen Ausgangspunkt bei der Klärung der inneren Kriterien ist der textkritische Befund. Hierbei lassen sich die verschiedenen Texteingriffe, Art des die im NTG28 durch die Verwendung textkritischer Zeichen Texteingriffs differenziert werden (→ Kap. 2), in drei Gruppen zusambestimmen menfassen. Entweder es handelt sich: ■ ■ ■

um eine Veränderung des Textumfangs – so bei Auslassungen (vgl. die Zeichen im NTG28: °, ⸋ ⸌) und Einfügungen (⸆), z.B. Mt 6,13; um eine Veränderung der Textstruktur – so bei Umstellungen (⸉ ⸊) oder Umsetzungen (⸈), z.B. Röm 1,7 und Lk 6,5; um eine Veränderung der Textsubstanz – so bei Ersetzungen (⸀, ⸂ ⸃), z.B. Röm 16,7.

Obwohl es durchaus Überschneidungen zwischen den verschiedenen Texteingriffen geben kann (so ist denkbar, dass ein Text umgestellt und zugleich gekürzt wird etc.), ist es meist hilfreich, die beschriebene Aufteilung zu berücksichtigen und mehrere Texteingriffe getrennt und nacheinander zu beurteilen (also z.B. erst die Textkürzung und dann die Umstellung).

30

3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

3.2.2 Schritt 2: Anfangsverdacht formulieren Der Weg zum rekonstruierten Endtext wird mit der Formulierung eines „Anfangsverdachts“ fortgesetzt, wobei dieser Verdacht in Entsprechung zum jeweiligen Texteingriff zu formulieren ist: a) Textumfang: Wurde ein Eingriff beim Textumfang vorgenommen, so lautet der textkritische Anfangsverdacht lectio brevior (est) potior, d.h. „die kürzere Lesart ist (erfahrungsgemäß) besser“. Hinter dieser „Regel“ steht die Überlegung, dass es grundsätzlich einfaTextumfang: lectio brevior cher ist, einen Text nachträglich zu erweitern, als einen längeren Text im Nachhinein zu kürzen. Eine Regel, die für Sie in dem Moment an Plausibilität gewinnen wird, wenn Sie Ihre Seminararbeit vor der Abgabe kürzen müssen und liebgewonnene Gedanken herauszustreichen sind. Was bereits für wertvolle Gedanken einer wissenschaftlichen Hausarbeit gilt, gilt umso mehr für „heilige“ Texte. Hier kann grundsätzlich von einem sehr großen Respekt gegenüber dem ursprünglichen Wortlaut ausgegangen werden. Hier streicht man nicht einfach etwas weg! An unserem Vaterunser-Beispiel (Mt 6,13) aus dem letzten Kapitel lässt sich die genannte Regel veranschaulichen: Hier fällt es schwer, ein nachträgliches Herauskürzen des Lobpreises aus dem Vaterunser zu erklären. Welches Motiv sollte dahinter stecken? b) Textstruktur: Wurde ein Eingriff bei der Textstruktur vorgenommen, so könnte man – in Analogie zur lectio brevior – den Anfangsverdacht als lectio perturbata (est potior) bezeichnen. Hinter dieser „Regel“, die in diesem Methodenbuch neu eingeführt wird, steckt die Textstruktur: lectio perturbata Überlegung, dass ein stilistisch „gefeilter“ Text erfahrungsgemäß einen höheren Überarbeitungsgrad aufweist als ein Text, der auf jegliche stilistischen Mittel und grammatikalischen Genauigkeiten verzichtet. Allerdings könnte hinter der „durcheinandergewirbelten Lesart“ natürlich auch ein späterer Abschreibefehler stecken. c) Textsubstanz: Wurde die Textsubstanz durch eine oder mehrere Lesarten verändert, so lautet der Anfangsverdacht lectio difficilior (est) probabilior, d.h. „die schwierigere Lesart ist die wahrscheinlichere“. Hinter dieser „Regel“ steckt die Überlegung, dass inhaltliche Ungereimtheiten bei Textsubstanz: einer nachträglichen Überarbeitung eher ausgeräumt werlectio difficilior den, als dass sich durch Korrekturen schwierigere Lesarten einschleichen. 3.2.3 Schritt 3: Motive für die Textveränderung benennen Der Anfangsverdacht ist ein hilfreicher Schritt, sollte aber nicht die eigentliche Suche nach Faktoren und Motiven ersetzen. Der Gärtner mag zwar in aller Regel der Mörder sein, aber von guten Kommissarinnen erwartet man, dass

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

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sie dies auch im Einzelfall beweisen können (oder notfalls andere Spuren verfolgen). Es gilt also in jedem Fall, den Anfangsverdacht plausibel zu verifizieren oder auch zu falsifizieren. Und letztlich kann es – wiederum wie bei einem Kriminalfall – sein, dass sich überhaupt keine hinreichenden Beweise finden lassen und die ganze Sache letztlich ergebnisoffen bleibt. So oder so: Auch für die Suche nach Motiven hinter einer Textveränderung bedarf es einer reflektierten Methodik. Wir suchen also nach (textexternen) Faktoren und Motiven, die hinter der Entstehung einzelner Textvarianten stehen. Dabei hilft es, sich die Menschen und die geschichtlichen und kulturellen Kontexte vorzustellen: Was könnte die Rezipienten eines neutestamentlichen Textes zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort an einem Text gestört, verunsichert oder überrascht haben? Was könnte sie dazu bewogen haben, beim Abschreiben etwas im Text zu ergänzen, zu streichen, umzustellen oder zu ersetzen? a) Textumfang: Der lectio brevior folgend, gilt es bei Eingriffen in den Textumfang zu klären, ob und wie sich die als textliche Erweiterung vermutete Textpassage erklären lässt: Welche mögliErweiterung erklären chen Motive stecken hinter dieser Texterweiterung? Bei dieser Analyse kann es hilfreich sein, die folgenden Einflussgrößen durchzugehen: ■





Bekannte Texte: Orientiert sich der erweiterte Text an Parallelstellen bzw. anderen Texten, die den tatsächlichen Rezipienten bekannt waren? Besitzen diese Texte bzw. Textpassagen einen inhaltlichen oder logischen Bezug zu der zu analysierenden Textstelle? Kontext/Erzählverlauf: Ergeben sich aus dem unmittelbaren Kontext und Erzählverlauf Gründe für eine Erweiterung/Kürzung, z.B. wenn bei gleicher Namensgebung eine Figur durch die Nennung eines zusätzlichen Attributs von einer anderen Figur unterschieden wird oder umgekehrt auf einen Begriff verzichtet wird, weil sich dieser im Textverlauf als redundant erweist? Vorwissen der Rezipienten: Lassen sich textexterne Gründe anführen, die die Rezipienten bei ihrer Lektüre beeinflusst haben könnten, z.B. ein gewandeltes Vorwissen oder aus dem kulturellen, politischen, religiösen Alltagsleben gewohnte Abläufe (scripts) und Vorstellungen (frames), die mit dem Text nicht bzw. nur schwer in Einklang zu bringen waren? Wichtig ist bei der Erschließung dieses Vorwissens, dass es historisch-philologisch oder auch durch bildliche Quellen nachgewiesen oder ansonsten als hypothetisch deklariert wird. Beispiel: Vorwissen der Rezipienten – Mt 6,13 (Vaterunser) Dass zahlreiche Handschriften hinter das matthäische Vaterunser ein „Amen“ setzen (→ Kap. 2.1), lässt sich auf der Grundlage bestehender Rezeptionserwartungen erklären: Es entsprach dem prozessualen Vorwissen der intendierten Rezipienten, dass ein Gebet mit der Bekräftigungsformel „Amen“ endet. Hierzu lassen sich zahl-

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3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

reiche Belegstellen aus neutestamentlicher Zeit anführen (vgl. H.-W. Kuhn, Art. ἀμέν, EWNT I, S. 167). Diesem Rezeptionsempfinden entsprechend wurde das Amen vermutlich hinzugefügt. D.h. die Texterweiterung lässt sich plausibel machen und der Anfangsverdacht (lectio brevior) ist bestätigt.

b) Textstruktur: Bei Eingriffen in die Textstruktur lässt sich über den Einfluss von Paralleltexten, des Kontextes bzw. Erzählverlaufs und bestehender Rezeptionserwartungen hinaus nach grammatikalischen, stilistischen und rhetorischen Gründen fragen, die eine solche Bearbeitung begünstigt haben könnten. Hierbei ist insbesondere zu überlegen, ob eine Umstellung oder Umsetzung eine im Text gegebene Intention zusätzlich verstärken oder Missverständnissen entgegenwirken sollte. Welche Formulierung ursprünglich und welche eher nachträglich ist, lässt sich oft erst durch eine eingehende Beschäftigung mit den Spracheigentümlichkeiten des jeweiligen Autors erschließen („Kriterium der internen Passung“). Außerdem muss man Textstruktur: nicht selten textexterne Informationen heranzuziehen: Was Passung war im Sprachgebrauch des 1. Jhdts. n.Chr. die grammatiklären kalisch, idiomatisch, syntaktisch übliche Formulierung? Welche rhetorischen Stilmittel waren beliebt und welche sollten eher vermieden werden? Welche Handlungsverläufe oder Argumentationsmuster wurden als logisch und konsistent empfunden („Kriterium der kulturellen Passung“)? Als Student bzw. Studentin ist man hier in der Regel auf die grammatischen Bemerkungen in Kommentaren angewiesen. Im Hinblick auf die Sprache der neutestamentlichen Schriften ist zu beachten, dass es sich bei den Autoren nicht unbedingt um griechische Muttersprachler handelte. Immer wieder schimmern durch das neutestamentliche Griechisch hebräische bzw. aramäische Formulierungen durch oder der Satzbau verrät die kulturelle und sprachliche Herkunft eines Gedankens. Solche „Semitismen“ 2 sind nicht selten ein guter Hinweis auf die Ursprünglichkeit einer Lesart, während die Anpassung an die gewohnte griechische Grammatik eher auf eine spätere Überarbeitung hinweist. Gleichzeitig könnten solche Semitismen ein Hinweis auf die mündliche oder literarische Vorgeschichte eines Textabschnitts sein (→ Kap. 5: Textentstehung II).

c) Textsubstanz: Bei Eingriffen in die Textsubstanz (und nur dort!) sollte vor der eigentlichen Plausibilitätsprüfung ein zusätzlicher Textsubstanz: „Zwischenschritt“ eingefügt werden. Wird ein Wort durch Hör-/Schreibein anderes ersetzt, ist nämlich vorab zu überprüfen, ob sich fehler klären diese Textvariante durch mögliche Hör- und Schreibfehler erklären lässt und damit unbeabsichtigt ist. Solche Fehler konnten sich bei der Abschrift und Vervielfältigung neutestamentlicher Schriften in den sog. Skrip-

2

Vgl. hierzu Hoffmann/von Siebenthal* 598f. u. 606–620.

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

33

torien schnell einschleichen. Tab. 3.2 fasst die wesentlichen Schreib- und Hörfehler zusammen: 1. Schreibfehler Homoioarkton und Homoioteleuton

Durch den gleichen Anfang bzw. das gleiche Ende rutscht das Auge des Schreibers (zwischen den Zeilen) ab. Mt 18,18: ἐπὶ τῆς γῆς in V. 18a und 18b führt zur Auslassung in manchen Handschriften

Buchstabenverwechslung

Da sich mehrere Buchstaben im Griechischen ähneln, kann es zur Verwechslung kommen. 1 Tim 3,16: ΘΣ / ΟΣ

Fehlende Trennung von Wörtern

Da in den ältesten Handschriften (Papyri, Majuskeln) keine Worttrennung vorgenommen wurde, können bei der späteren Abschrift Fehler unterlaufen sein. Mk 10,40: ΑΛΛΟΙΣ / ΑΛΛ ΟΙΣ

Dittographie und Haplographie

Bei enger Abfolge von ähnlichen oder gleichen Buchstaben(gruppen) kann es zur versehentlichen Doppelschreibung oder Einzelschreibung kommen. Mk 4,28: πλήρη[ς] σῖτον3

2. Hörfehler Itazismus

Die gleiche bzw. ähnliche Aussprache griechischer Vokale kann zu einer Verwechslung führen: η, ι, υ, ει, οι, υι. 2 Kor 6,16: ἡμεῖς / ὑμεῖς

Lautstand

Konsonanten eines Lautstandes (Labiale, Dentale, Gutturale) können zur Verwechslung führen. Röm 16,7: Ἰου-ν-ία / Ἰου-λ-ία

Längen der Aussprache

Vokale können aufgrund ihrer Länge in der Aussprache (ο – ω; ε – η) verwechselt werden. Röm 5,1: ἔχωμεν / ἔχομεν

Tab. 3.2: Schreib- und Hörfehler

3 Auch dieses Beispiel verdeutlicht, dass zur Klärung textkritischer Probleme oftmals textexternes Wissen heranzuziehen ist. So ist diese Textvariante überhaupt nur verständlich, weil πλήρης im 1. Jhdt. n.Chr. indeklinabel gebraucht werden konnte und wurde (vgl. BDR § 137,1 und hierzu Joh 1,14; Apg 6,5). Zudem wird diese Haplographie nur auf der Grundlage von Majuskelhandschriften verständlich: ΠΛΗΡΗΣΣΙΤΟΝ.

34

3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

Ist ein versehentlicher Hör- und Schreibfehler auszuschließen, d.h. lässt sich keiner der oben genannten Fälle nachweisen, so muss auch bei Eingriffen in die Textsubstanz weiter gefragt werden, welche Lesart für die intendierten Rezipienten „schwieriger“ erschien bzw. welche Motive hinter einer Vereinfachung eines Textes stehen. Allerdings erweist sich der in der Exegese geläufige Begriff der „schwierigeren Lesart“ – wie bereits oben angedeutet – als äußerst vage. Wir gehen auf die Frage nach der schwierigeren Lesart deshalb etwas ausführlicher in dem unten stehenden Exkurs ein. Sie werden sehen, dass insbesondere Erkenntnisse aus der neueren Linguistik zur Kohärenz und Kohäsion an dieser Stelle für hilfreiche und notwendige Präzisierungen sorgen. 3.2.4 Schritt 4: Genealogie der Lesarten Liegen mehr als zwei Textvarianten vor, kann man auf der Grundlage der Schritte 1–3 abschließend eine Genealogie der einzelnen Textvarianten erstellen: Kann man von der Lesart, die am ehesten dem Urtext entspricht, die übrigen Lesarten ableiten? Oder lassen sich einzelne Textvarianten vielmehr als Variation vorheriger, bereits vom Urtext abweichender Textvarianten begreifen? Da sich die Abschrift neutestamentlicher Handschriften über mehrere Jahrhunderte erstreckt und somit der neutestamentliche Text ständig wandelnden Rezeptionserwartungen oder einem Wandel des Sprachempfindens ausgesetzt war, kann die Variationsbreite teilweise erheblich sein. An dieser Stelle empfiehlt es sich, die Datierung der einzelnen Textzeugen, die bei der Analyse nach externen Kriterien vorgenommen wurde, in die Analyse einzubeziehen. Welcher historische Kontext hat im 8., 10. oder 12. Jhdt. möglicherweise eine Textänderung begünstigt? An dieser Stelle ergeben sich interessante und wichtige Brückenschläge zwischen Exegese und Kirchengeschichte.4 Exkurs: Kohäsion und Kohärenz Oben wurde die Bedeutung textexterner Rezeptionsfaktoren hervorgehoben. Man sollte sich im Klaren sein, dass eine Lesart nie „für sich genommen“ schwierig ist, sondern dass es sich hierbei immer um eine Kategorie des Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesses handelt. Es sind die antiken Rezipienten, die aufgrund ihrer bisherigen Textkenntnisse (Intertextualität), ihrer Vorerwartungen, ihres Wissenstandes sowie ihres Sprachempfindens Worte und Sätze eines Textes sinnvoll kombinieren und verstehen können oder eben als „schwierig“, d.h. missverständlich oder sogar unsinnig empfinden.

4 Dies gilt wiederum unter dem bereits im vorherigen Kapitel formulierten Vorbehalt, dass jüngere Zeugen durchaus einen älteren Text bewahren können und die Datierung für sich genommen keine hinreichende Qualifizierung eines Textzeugen ermöglicht.

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

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Die aus der Textlinguistik stammende Unterscheidung zwischen Kohäsion und Kohärenz kann an dieser Stelle helfen, den in der Exegese gewohnten, aber durchaus vagen Begriff der „schwierigeren Lesart“ zu präzisieren und die eigentlichen Motive hinter einer Textänderung besser zu erfassen. Unter Kohäsion versteht man in der Linguistik jenen Vorgang, der es den Rezipienten ermöglicht, durch semantische, syntaktische und grammatikalische Verknüpfungen Sinnzusammenhänge in einem Text zu Kohäsion: konstruieren. Wird in einem Text ein Begriff wörtlich oder Zusammenhänge teilweise wieder aufgenommen (totale/partielle Rekurrenz) im Text oder durch ein Synonym5 (Substitution), einen wortverwandten Begriff (lexikalische Kohäsion) oder ein Pronomen (Pro-Formen) ersetzt, so stellen die Rezipienten (meist intuitiv) Sinnverknüpfungen zwischen Textstellen her. Selbst die Verwendung eines Verbs im Singular oder Plural führt dazu, dass die Rezipienten dieses Verb einer Figur oder Figurengruppe zuordnen. Heißt es z.B. in Mk 5,1: „sie kamen [ἦλθον] an das jenseitige Ufer des Sees“, so identifizieren die Leser/Hörer intuitiv Jesus und seine Jünger als Subjekt: „sie, d.h. Jesus und seine Jünger, kamen“.6 In argumentativen Texten (seltener in narrativen Texten) können zudem metakommunikative Äußerungen (z.B. Gliederungshinweise wie „im Folgenden“) eine kohäsionsstiftende Funktion übernehmen und an bereits Gesagtes anknüpfen bzw. auf Kommendes vorausweisen. Als Inkohäsion bezeichnet man dementsprechend jede Störung einer solchen Sinnkonstruktion, die meist durch eine uneindeutige bzw. missverständliche Anwendung kohäsionsstiftender Elemente verursacht wird. Im Neuen Testament lassen sich so etwa zahlreiche Textvarianten an Stellen finden, wo Pronomen fehlen bzw. wo sich diese nicht eindeutig auf eine Person oder Personengruppe beziehen lassen. In dieser Weise wird in Mk 6,24 zum Satz ἡ δὲ εἶπεν ein erklärendes bzw. verdeutlichendes αὐτῇ hinzugefügt: „Sie aber sprach zu ihr (sc. zu ihrer Tochter): …“. Bei der Kohärenz handelt es sich hingegen um einen Vorgang des Textverstehens, bei dem die Rezipienten eine sinnvolle Verknüpfung zwischen textlichen Elementen und ihrer „Welt“, Kohärenz d.h. ihren Wirklichkeitsvorstellungen, herstellen. Hierdurch rückt in den Fokus, dass ein Text nicht allein eine lineare Abfolge von Wörtern und Sätzen darstellt, sondern immer einen Bezug zu einem konkreten historischen und damit wandelbaren Kontext besitzt (→ Kap. 4). Insofern biblische Erzählungen über Jahrhunderte hinweg rezipiert wurden und sich die Vorerwartungen der Rezipienten epochenbedingt verändert haben, kommt es häufig zu Missverständnissen. Plötzlich erscheint 5 Hierunter lassen sich wiederum Hyperonyme, Metaphern, Metonyme, Paraphrasen und Synonyme im engeren Sinne fassen (vgl. Hoffmann/von Siebenthal* §§294u; 295b; 295g). 6 Vgl. zum Ganzen H. Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden … . Über die Erforschung literarischer Figuren, Poetica 10 (1978), 405–428.

36

3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

eine Aussage, die den Adressaten des Textes noch verständlich war, sinnlos, unpräzise oder sogar anstößig. kohäsionsstiftende Elemente

Text (Kohäsion)

„Welt“ (Kohärenz)

Textverlauf

Referenzobjekte in der Vorstellung

Abb. 3.3: Kohäsions- und Kohärenzprozesse im Lektüreprozess

Im tatsächlichen Lektüreprozess verläuft die gerade nacheinander beschriebene Herstellung von Kohäsion und Kohärenz nicht parallel nebeneinander ab. Vielmehr beeinflussen sich beiden Prozesse auf wechselseitige Weise (→ Abb. 3.3). So sorgt etwa die häufige Wiederholung eines Begriffs (totale Rekurrenz) auf textlicher Ebene und in der Wahrnehmung der Rezipienten durchaus für Eindeutigkeit (z.B. Jesus sagte … Jesus machte … Jesus kam … Jesus wusste), kann aber von den Rezipienten je nach kultureller Vorprägung als redundant und dementsprechend störend empfunden werden. Hieran schließt sich die Beobachtung an, dass zahlreiche Textvarianten gerade vermeintliche Monotonien zu durchbrechen versuchen. So werden nicht selten Verben des Redens variiert oder es werden Substantive, die sich häufig wiederholen, durch Synonyme ersetzt. Nicht selten kann es zudem vorkommen, dass die Rezipienten aufgrund ihres textexternen Wissens sowie mit Hilfe von Bewältigungsstrategien des Alltags bestimmte Lese- und RezeptiRezeptionsstrategien onsstrategien entwickeln, um existierende Inkohäsionen aufzulösen. Um den Unterschied zwischen Kohäsion und Kohärenz noch einmal zu illustrieren, wollen wir ein Beispiel aus Kindheitstagen aufgreifen: In der früheren Kinderserie „Hallo Spencer“ taucht die Figur des Drachens Poldi auf. Immer wenn jemand an seinem Krater vorbeikommt, begrüßt Poldi ihn oder sie mit den Worten: „Ich will dir fressen“. Rein textlich betrachtet (Ebene der Kohäsion) handelt es sich hierbei um eine inkorrekte Redewendung (grammatikalische Inkohäsion). Aber weil es sich

Abb. 3.4: Poldi: „Ich will dir fressen“

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

37

bei dieser Redewendung um ein typisches „Figurenmerkmal“ von Poldi handelt, nehmen die Rezipienten diesen Satz jedoch in seiner Wiederholung gerade als kohärent wahr (Ebene der Kohärenz). Ihrem sonstigen Wirklichkeitsverständnis entsprechend (hier: Alltagspsychologie und „Menschenkenntnis“) bilden sie ein Figurenmodell, in das sie den „Sprachfehler“ einbinden: „Poldi redet halt immer so“. Als inkohärent würde der Rezipient es nun empfinden, wenn der kleine grüne Drache plötzlich grammatikalisch korrekt sprechen würde! Die aus der Linguistik stammenden Begriffe der Kohäsion und Kohärenz sind nicht nur zur Präzisierung textkritischer Kriterien hilfreich. Wir werden auf diese Terminologie auch im Zusammenhang mit der Textentstehung (→ Kap. 5: Vorgeschichte) und Textstruktur (→ Kap. 8: Gliederung) zurückkommen. Auch deshalb war bereits hier etwas ausführlicher davon die Rede. Literatur: A. Linke u.a., Studienbuch Linguistik, Tübingen 52004, 215–222; M.A.K. Halladay/H. Ruqaiya, Cohesion in English, London 1976; E.-M. Becker, Was ist Kohärenz? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94 (2003), 97–121; H. Utzschneider/E.-M. Becker/Chr. Gansel, Art. Kohärenz/Inkohärenz, in: LBH*, 328–330.

Demo: Textbestimmung nach inneren Kriterien (von Caroline Quiring) In dem Bericht über die Frauen am Grab in Mt 28,1–7 finden sich in Vers 2 drei Varianten in Bezug auf den Vorgang, in dem der Engel den Stein entfernt. In der vom NTG28 gewählten Lesart wird lediglich beschrieben, dass der Engel den Stein wegschiebt. Eine weitere Erläuterung wird nicht gegeben. Die beiden genannten Textvarianten zum Text des NTG28 fügen der Handlung des Engels demgegenüber erklärende Worte hinzu. Eine Variante ergänzt ἀπὸ τῆς θύρας. Die zweite fügt zusätzlich noch τοῦ μνημείου hinzu. Dabei ist anzunehmen, dass diese Hinzufügungen später vorgenommen worden sind. Nach der textkritischen Regel „lectio brevior est potior“ ist zu erwarten, dass einer Textstelle eher Wörter hinzugefügt werden, um scheinbar unverständliche oder unklare Stellen zu erklären, als dass etwas ausgelassen wird. Dieser Verdacht bestätigt sich in Mt 28,2: Zum einen könnte der Hinweis, dass der Engel den Stein wegschiebt, aus Sicht späterer Leserinnen und Leser nicht mehr selbsterklärend bzw. deutlich genug gewesen sein. Denkbar wäre hier, dass die Rezipienten aufgrund einer großen Varianz an Bestattungsformen nicht mehr mit dem Aufbau eines Felsengrabes vertraut waren. 7 In diesem Fall hätte eine nähere Beschreibung ergänzt werden müssen, um zu erklären, dass der Stein vor der Öffnung des Grabes lag. Eine andere – wohl noch wahr-

7

Das Felsengrab kann in Palästina als überaus bekannte und weit verbreitete Grabform gelten (vgl. U. Volp/J. Zangenberg, Begräbnis und Totenpflege, in: J. Zangenberg (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 2011, 122–128, hier 125; vgl. auch Joh 11,38f.). Insgesamt zeigt sich in der Antike aber eine große Vielfalt an Grabformen, wobei das Bodengrab die häufigste Form darstellte (mit W.M. Gessel, Art. Grab I. Antike, LThK3 4 [1995], 967f.). Auch im Neuen Testament finden sich Hinweise auf andere Grabformen, z.B. eine Nekropole (Mk 5,3.5; Lk 8,27). Unklar bleibt, ob in Joh 5,28 und Mt 27,52f. an ein Felsenoder Bodengrab gedacht ist.

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3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

scheinlichere – Erklärung für die Hinzufügung lässt sich finden, wenn man die Parallelstellen im Markus- und Lukasevangelium hinzuzieht. An beiden Stellen findet sich bei der Erwähnung des Steins ein sehr ähnlicher Wortlaut wie in Variante 1 und 2. In Lk 24,2 heißt es, dass die Frauen ans Grab kommen und den Stein bereits weggewälzt finden und zwar ἀπὸ τοῦ μνημείου. In Mk 16,3 fragen sich die Frauen auf dem Weg zum Grab, wer ihnen wohl dabei helfen könnte, den Stein zu entfernen und zwar ἐκ τῆς θύρας τοῦ μνημείου. Die Varianten 1 und 2 könnten also der Versuch gewesen sein, die Formulierung im Matthäusevangelium dem Markus- und Lukasevangelium anzugleichen. Umgekehrt betrachtet fällt es schwer, eine Erklärung zu finden, warum die Worte bewusst ausgelassen werden sollten. Alles in allem sprechen die inneren Kriterien für die Lesart des NTG28.

3.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. 2. 3. 4.

Welche Arten des Texteingriffs lassen sich differenzieren? Erklären Sie, was man unter der sogenannten lectio brevior versteht! Nennen und beschreiben Sie einen Schreibfehler und einen Hörfehler! Verdeutlichen Sie am Beispiel von Poldi (oder einem eigenen Beispiel) die Unterschiede zwischen Kohäsion und Kohärenz!

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ textexterne Faktoren, Motive und Produktionsfehler bestimmen, die zur Entstehung neutestamentlicher Textvarianten führen, ■ methodisch reflektiert eine Textbestimmung nach inneren Kriterien durchführen, ■ erklären, wie es im Rezeptionsprozess zu Inkohäsionen und Inkohärenzen kommt. Sie kennen jetzt … ■ fachspezifische Termini der Textbestimmung wie lectio brevior und lectio difficilior und ■ eine Reihe möglicher Hör- und Schreibfehler.

Notieren Sie sich erneut in Ihrem Lernportfolio, welche individuellen Lernfortschritte Sie in Bezug auf die Textbestimmung erkennen und wo für Sie noch Dinge offen sind.

Welche Lesart ist die ursprüngliche?

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Vernetzen Sie sich: Die Textbestimmung nach inneren Kriterien versucht die menschlichen Abwägungsprozesse hinter einer abweichenden Lesart zu ergründen. Hierbei zeigt sich, dass der Umgang späterer Generationen sehr unterschiedlich sein konnte: Die einen Abschreiber versuchten, den Text möglichst wortgetreu zu bewahren. Manche nahmen hingegen starke, sinnverändernde Eingriffe vor. Diskutieren Sie, inwieweit biblische Texte aus kommunikativen Gründen an den jeweiligen Zeitgeist angepasst werden müssen. Welche Chancen und Risiken sehen Sie, auch für die heutige Zeit?

3.4 Literatur 3.4.1 Exegetische Methodenlehren Adam* 17–27, Black/Dockery* 46–73, Blomberg* 1–36, Conzelmann/Lindemann* 26–36, Croy* 24–28, Ebner/Heininger* 25–55, Egger/Wick* 68–79, Fenske* 25f., Meiser/Kühneweg* 36–50, Schnelle* 34–53, Söding* 86–101, Söding/Münch* 32–41, Zimmermann* 28–76.

3.4.2 Textausgaben Novum Testamentum Graece, 28. Aufl., hg. v. B. Aland/K. Aland u.a., Stuttgart 2012 (NTG28). Novum Testamentum Graece. Editio Critica Maior, hg. vom Institut für neutestamentliche Textforschung Münster Bd. IV: Die katholischen Briefe, hg. v. B. Aland/K. Aland/G. Mink/H. Strutwolf/K. Wachtel, Teil 1: Text, Teil 2: Begleitende Materialien, 2. revidierte Auflage, Stuttgart 2013. The Greek New Testament, hg. v. B. Aland/K. Aland/J. Karavidopoulos/C.M. Martini and B.M. Metzger in cooperation with the Institute for New Testament Textual Research Münster, Stuttgart 112006. Itala. Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung, nach den Handschriften hg. v. A. Jülicher/W. Matzkow/K. Aland, Bd. 1–4, Berlin 1963–1976. http://www.nestle-aland.com/de/na28-online-lesen/ (Online-Ausgabe des NTG28) http://ntvmr.uni-muenster.de/ (New Testament Virtual Manuscript Room) (abger. 9.4.2016)

3.4.3 Einzelstudien und weiterführende Literatur Aland, B., Art. Textgeschichte/Textkritik der Bibel II. Neues Testament, TRE 33 (2002), 155–168. Aland, K./Aland, B., Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989. (= Aland/Aland*) Baisch, M., Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-Lektüren, Trends in Medieval Philology 9, Berlin u.a. 2006. Bein, Th., Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil, Frankfurt a.M. 2007. Bogner, R. G., Art. Textkritik, in: MLLK4 *, 706f. Ehrman, B.D., Studies in the Textual Criticism of the New Testament, NTTS 33, Leiden 2006.

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3. Textbestimmung II – Innere Kriterien

Ehrman, B.D./Holmes, M.W. (Hgg.), The Text of the New Testament in Contemporary Research. Essays on the Status Quaestionis, StD 42, Leiden 22013. Epp, E.J., Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays, 1962– 2004, NT.S 116, Leiden 2005. Kraft, H., Editionsphilologie, Frankfurt a.M. 22007. Kraus, Th.J./Nicklas, T. (Hgg.), New Testament Manuscripts. Their Texts and Their World, Leiden 2006. Metzger, B.M., A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994. Parker, D.C., Textual Scholarship and the Making of the New Testament, Oxford 2012. Plachta, B., Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart (1997) 22006. Trobisch, D., Die 28. Auflage des Nestle-Aland. Eine Einführung, 2. korrigierter Druck, Stuttgart 2013. Van Hulle, D., Art. Editionswissenschaft, in: MLLK4 *, 148–150.

4 Textentstehung I – Der Entstehungskontext Leitbegriffe Entstehungskontext, Textwelt/erzählte Welt, Lasswell-Formel, Autor, Adressaten, Situation, textinterne Indizien, terminus post quem, terminus ad quem

4.1 Einführung: Text und Kontext Texte entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind immer in einen zeitlichen und kulturellen Kontext1 eingebettet. So wird jeder Text von einer Person verfasst, die zu einer bestimmten Zeit, für bestimmte Menschen und in einer bestimmten Umgebung schreibt. Man kann dies den Entstehungskontext nennen. In jedem Text finden sich Spuren dieses EntstehungskonEntstehungstextes und zwar unabhängig davon, ob ein Autor diese Be- kontext, erzählte züge bewusst hergestellt hat oder nicht. Selbst fiktionale Er- Welt/Textwelt zählungen, die eine ganz eigene Textwelt bzw. erzählte Welt zu erschaffen versuchen, verraten noch einiges über den Entstehungskontext. Ein Beispiel macht diesen Unterschied zwischen Entstehungskontext und erzählter Welt deutlich: In der ehemaligen Science-Fiction-Serie „Raumschiff Enterprise“, die in den 1960-er Jahren (Entstehungskontext) gedreht wurde, sollen die Zuschauer in eine entfernte Welt entführt werden. Bei dieser erzählten Welt handelt es sich um „den Weltraum“ mit seinen „unendlichen Weiten“. Wie im Intro angekündigt, befinden wir uns plötzlich „viele Lichtjahre von der Erde entfernt“ und „wir schreiben das Jahr 2200“. Dennoch spiegelt sich in den einzelnen Episoden immer zugleich das Lebensgefühl der 1960-er Jahre wider. So greift die Serie die Weltraumeuphorie jener Zeit auf und die Bekleidung und das Verhalten der Crew verraten einiges über die Modetrends der 1960-er Jahre sowie über die daAbb. 4.1: Die Crew der Enterprise maligen Geschlechterrollen.

1 Unter dem Kontext (lat.: con-textus =„Zusammenhang“) lassen sich prinzipiell „alle Elemente einer Kommunikationssituation [verstehen], die systematisch das Verständnis einer Äußerung bestimmen“ (H. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 21990, 416). In diesem Kapitel 4 geht es dabei nur um den situativen Kontext der Textentstehung, d.h. um das den Autor/die Autorin prägende Umfeld der Kommunikation.

42

4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext

Nicht erst im Jahr 2200, sondern bereits im 21. Jhdt. wirkt das alles altmodisch. Kein Wunder, dass die Crew ebenso wie das Inventar der „Enterprise“ in den nachfolgenden Staffeln (Star Trek: Voyager, 1994–2001 und Star Trek: Enterprise, 2001–2005) ausgetauscht wurden, um den sich stetig wandelnden Zuschauererwartungen gerecht zu werden. Definition: Entstehungskontext, Textwelt/erzählte Welt 1. Entstehungskontext: Zeitlich, kulturell, politisch, geografisch, sprachlich verfasste ‚Wirklichkeit‘, in der Autor und Rezipienten leben und die sich in der Textwelt/erzählten Welt immer bewusst oder unbewusst niederschlägt. 2. Textwelt/erzählte Welt: Die Welt, die durch einen Text im Bewusstsein der Rezipienten evoziert wird und die je nach Fiktionalitätsgrad mehr oder weniger starke Anknüpfungspunkte zur ‚Wirklichkeit‘ hat.

Bei biblischen Erzähltexten lassen sich die Unterschiede zwischen dem Entstehungskontext und der erzählten Welt nicht so deutlich erkennen. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: ■



Fiktionalitätsgrad: Im Vergleich zu einer Science-Fiction-Serie zeichnen sich biblische Texte durch einen geringeren Fiktionalitätsgrad aus. Die Nähe zwischen erzählter Welt und Entstehungskontext ist hier weitaus enger. Quellenmangel: Während uns die 60-er Jahre noch einigermaßen vertraut sind, z.B. durch die Berichte unserer Eltern oder Großeltern, sind unsere Informationen über die Antike immer nur fragmentarisch. Aufgrund dieser vergleichsweise schlechten Quellenlage lassen sich zahlreiche Unterschiede zwischen Textwelt und Entstehungskontext gar nicht erkennen.

Um den Entstehungskontext eines biblischen Textes zu analysieren, sollte zunächst geklärt werden, was überhaupt alles zu diesem Kontext dazu gezählt wird. Erst dann kann überlegt werden, wie sich diese einzelnen Aspekte methodisch analysieren lassen (→ 4.2 Methode). Biblische Texte sind wie jeder Text immer Teil menschlicher Kommunikation. In der Kommunikationswissenschaft gibt es zur Beschreibung dieses Kommunikationsprozesses die sogenannte Lasswell-Formel, die insgesamt fünf Grundaspekte der Kommunikation aufzählt: „Who says Lasswell-Formel: what in which channel to whom with what effect?“ Diese beWho says what kannte Einteilung von H.D. Lasswell erfasst verschiedene in which … Aspekte des Entstehungskontextes, ist aber noch nicht vollständig. Sie muss durch weitere Frageworte ergänzt werden. Einige Fragen der Lasswell-Formel (Was? Wie? Wozu?) lassen sich hingegen nicht bzw. nur sehr eingeschränkt zum Entstehungskontext hinzuzählen und werden deshalb in diesem Methodenbuch in anderen Kapiteln behandelt (Tab. 4.2):

Wer schreibt für wen in welcher Situation?

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Fragewort

das Erfragte

WER (sagt)

„Sender“ (hier: Autor)

Methodenschritt Entstehungskontext

WAS

Inhalt, „Nachricht“, „Semantik“

→ Texterklärung (Kap. 9–11)

WIE

Form Gestaltung, „Syntax“

WEM

„Empfänger“ (hier: Adressat)

→ Gattungsanalyse (Kap. 7) → Textstruktur II (Kap. 8) Entstehungskontext

WARUM

I) Anlass zum Schreiben II) Einflüsse III) Motive/Motivation

Entstehungskontext → Vorgeschichten (Kap. 5) → Redaktionsanalyse (Kap. 6)

WO

Ort

Entstehungskontext

WANN

Zeit

Entstehungskontext

WOZU

Intendierte Wirkung (häufig: „Pragmatik“)

→ Textnachwirkung (Kap. 12)

Tab. 4.2: Frageworte der Kommunikation und dazugehörige Methodenschritte

Nach dieser Zusammenstellung behandelt die Analyse des Entstehungskontextes einer textlichen Äußerung also insgesamt fünf Fragen: WER sagt etwas zu WEM WARUM WO WANN? Ort (WO), Zeit (WANN) und Anlass (WARUM I) lassen sich wiederum zur „Situation“ zusammenfassen. Zum Entstehungskontext zählen außerdem der Autor (WER) sowie die Adressaten (WEM), denen sich zahlreiche Eigenschaften zuschreiben lassen: Welche religiösen, aber auch profanen Vorstellungen haben sie geprägt? Welche ethischen und moralischen Einstellungen hatten sie? Welcher Wissensstand, welche Charaktermerkmale und welche äußeren Eigenschaften lassen sich vermuten?2 Die hier vorgenommene Definition des Entstehungskontextes (Autor, Adressaten, Situation) ist bewusst eng gefasst. Im Rahmen der exegetischen Einleitungsliteratur (→ Literatur 4.4.2) werden oft auch Aspekte der „Theologie“, der „Gliederung“ und der „literarischen Integrität“ (→ Kap. 5: Vorgeschichte) sowie der bisherigen „Forschungsgeschichte“ behandelt. In vielen Methodenlehren im deutschsprachigen Raum wird die Analyse des Entstehungskontextes hingegen ausgespart.

4.2 Methode Wie kann man konkret vorgehen, um den Entstehungskontext mit seinen verschiedenen Komponenten zu analysieren und zu beschreiben?

2 Theoretisch können zur Analyse der „Autorenpersönlichkeit“ oder der Persönlichkeit der Adressaten alle Merkmale herangezogen werden, die auch bei der Figurenanalyse von Bedeutung sind (→ Kap. 11b.2.2).

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4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext Methode: Analyse des Entstehungskontextes

1. Quellen und Paratexte hinsichtlich des Entstehungskontextes auswerten. 2. Nach textinternen Indizien suchen, die Auskunft über den Autor, die Adressaten und die Situation bereithalten (→ Tab. 4.3). 3. Alle Indizien gewichten und abwägen.

4.2.1 Schritt 1: Quellen und Paratexte auswerten In heutigen Büchern stehen in der Titelei die Namen der Autoren, der Verlagsort und Jahr und sogar die ISBN-Nummer. Bei antiken Texten gibt es diesen Paratext natürlich noch nicht. Teilweise, z.B. zu den Evangelien, findet man spätere Hinweise bei den sogenannten ‚Kirchenvätern‘. Diese Quellen und eine Hilfe zu deren Auswertung finden Sie in der Einleitungsliteratur. 4.2.2 Schritt 2: Textinterne Indizien suchen Jeder Text weist Spuren seines Entstehungskontextes auf. Für die Analyse ist es nun hilfreich zu wissen, auf welche Indizien zu achten ist und über welche Aspekte des Entstehungskontextes diese Indizien Auskunft geben: Indiz

Aspekte (Autor, Adressaten, Situation) in Bezug auf die eigene Person

a. Expliziter Kommentar des Autors

b. Wissensstand c. Sprachfähigkeiten/Spracheigentümlichkeiten d. Raumzeitlicher Standort e. Thematische Schwerpunkte

in Bezug auf die Adressaten in Bezug auf die Situation (Ort, Zeit, Anlass) des Autors der Adressaten des Autors des Autors der Adressaten dem Interesse des Autors entsprechend durch die Gemeindesituation veranlasst

Tab. 4.3: Rezeptionsbezogene Indizien

a. Expliziter Kommentar des Autors Am einfachsten ist es natürlich, wenn der Autor explizite Angaben über sich, über die Adressaten oder den Anlass des Textes macht. Und tatsächlich finden wir zu allen drei Aspekten des Entstehungskontextes Beispiele im Neuen Testament:

Wer schreibt für wen in welcher Situation? ■





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Autor: Insbesondere in den paulinischen Schriften stoßen wir immer wieder auf explizite Selbstbeschreibungen. So berichtet Paulus mehrfach von seinem schlechten Gesundheitszustand (z.B. 2 Kor 12,7; Gal 4,13f.; 6,17), von seiner Gemütslage (z.B. Phil 4,10: Freude; 2 Kor 2,4: Trübsal) oder von den Mühen seiner handwerklichen Tätigkeit (1 Kor 4,11f.). Adressaten: Im Präskript seiner Briefe gibt Paulus Auskunft darüber, an welche Gemeinde sich seine Briefe richten (Röm 1,7; 1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Gal 1,2; Phil 1,1; 1 Thess 1,1). Gelegentlich erhalten wir von ihm auch weitere Informationen über seine Adressaten, z.B. dass sich diese vom Evangelium abgewandt haben (Gal 1,6) oder unter einer konkreten Verfolgungssituation leiden (1 Thess 2,14). Situation: Auch über den Ort der Niederschrift finden sich gelegentlich explizite Aussagen. So erwähnt Paulus in 1 Kor 16,8 und 2 Kor 1,8–11, dass er sich in Ephesus aufhält. Zudem finden wir gelegentlich einen Hinweis auf den Anlass eines Briefes. So schreibt Paulus den Philemonbrief, um Fürsprache für Onesimus zu halten (Phlm 8–22), und ein wesentlicher Anlass für den Römerbrief ist die bevorstehende Spanienreise, bei der Paulus Zwischenstation in Rom machen will (Röm 1,12; 15,23.38).

Da explizite Angaben allerdings eher die Ausnahme darstellen, reichen diese Informationen für sich genommen noch nicht aus, um den Entstehungskontext hinreichend zu beschreiben. Zudem können explizite Angaben einen fiktiven Charakter besitzen, was sich v.a. am Beispiel pseudepigrapher Schreiben erkennen lässt. So ist es schwierig, den explizit erwähnten Aufenthalt des Timotheus in Ephesus (1 Tim 1,3) mit den biografischen Informationen aus der Apostelgeschichte (Apg 19,22) in Einklang zu bringen.3 b. Wissensstand Auch dort, wo ein Autor keine direkten Angaben über die eigene Person, die Adressaten oder die Situation macht, lässt sich oftmals über den Rezeptionsprozess hinweg der Wissenstand rekonstruieren. So gewinnt man meist im Laufe der Lektüre einen Eindruck davon, welche geografischen, topografischen, architektonischen, historischen, medizinischen, physikalischen, philosophischen, zeitgeschichtlichen, sprachlichen oder literarischen Kenntnisse ein Autor hat und welche Wissensbestände er offensichtlich bei seinen Adressaten voraussetzt. ■

3

Wissensstand des Autors: Im Hinblick auf den Verfasser des Lukasevangeliums lässt sich durch einen Vergleich mit medizinischen Texten der Antike zeigen, dass dieser über eine solide Kenntnis antiker Krankheitsbilder verfügt hat (= medizinisches Wissen).4 Die geografischen Ungereimtheiten, die sich im Markusevangelium aufzeigen

Vgl. zum Ganzen Schnelle, Einleitung*, 405–410. Vgl. A. Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights from Ancient Medical Texts, WUNT II/164, Tübingen 2003. 4

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4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext lassen,5 führen hingegen immer wieder dazu, dass dem ersten Evangelisten eine mangelnde Landeskunde attestiert wird. Allerdings ist hier zu beachten, dass die Beurteilung solcher Kenntnisse nicht auf einem heutigen Detailwissen beruhen darf. Der Maßstab muss zwangsläufig das Alltagswissen eines antiken Menschen sein. 6 Wissensstand der Adressaten: Auch der vorausgesetzte Wissenstand der Adressaten lässt sich aus einem Text indirekt ableiten. Wenn der Autor des Matthäusevangeliums permanent auf die Heiligen Schriften zurückgreift, so setzt er wohl auch bei seinen Rezipienten eine entsprechende Vertrautheit mit diesen Texten voraus (= literarisches Wissen).

c. Sprachfähigkeiten/-eigentümlichkeiten7 Auch die sprachlichen Fähigkeiten, die neutestamentliche Autoren auszeichnen, können wichtige Rückschlüsse über deren Sozialisation und Herkunft ermöglichen. Hierher gehört die vielfach belegte These, dass Paulus über umfassende rhetorische Kenntnisse verfügt und eine entsprechende Bildung genossen habe.8 Zu den Spracheigentümlichkeiten neutestamentlicher Autoren zählt beispielsweise die Beobachtung, dass der Evangelist Markus zahlreiche Latinismen verwendet. Erklärt sich diese Spracheigentümlichkeit dadurch, dass Markus aus Rom stammt bzw. sein Evangelium dort geschrieben hat? Oder waren lateinische Begriffe – wie λεγιών (Mk 5,9.15), σπεκουλάτωρ (6,27), κοδράντης (12,42) oder πραιτώριον (15,16) – auch in anderen Gebieten des römischen Reichs bekannt?9 d. Raumzeitlicher Standort Die Rezipienten eines Textes entwickeln über den Lektüreprozess hinweg ein ‚Bild‘ vom Autor, welches neben dem Wissensstand und der Sprache auch einen räumlichen und zeitlichen Standort beinhaltet. Bereits aus der einfachen Verwendung bestimmter Zeitformen ergibt sich eine erste grobe Verortung, weil 5 Zu nennen sind hier u.a. die unpräzise Lokalisierung Gerasas am See (Mk 5,1), die sonderbaren Reiserouten Jesu in Mk 7,31, 10,1 und 11,1 oder die fehlende Erwähnung zentraler Städte (Sepphoris/Tiberias). 6 Vgl. hierzu etwa K. Brodersen, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung, Hildesheim 1995, 54–58 u. 191–199, der für die römische Geografie gezeigt hat, dass diese weitgehend auf subjektive Wegbeschreibungen und Itinerare konzentriert war. 7 Letztlich stellen auch die Sprachfähigkeiten natürlich einen Teilbereich des Wissensstandes dar. Wenn dieser Aspekt hier eigens aufgelistet wird, dann insbesondere deshalb, weil sich die Analyse der Philologie oft als überaus komplex erweist und nach einer eigenen Behandlung verlangt. An dieser Stelle ergeben sich methodische Anknüpfungspunkte zur Sprachstilanalyse (→ Kap. 8: Textstruktur II). 8 Vgl. hierzu C.J. Classen, Philologische Bemerkungen zur Sprache des Apostels Paulus, WSt 107 (1994/95), 321–335 (mit ausführlicher Bibliografie). 9 Vgl. zu den unterschiedlichen Bewertungen innerhalb der Exegese M. Ebner/St. Schreiber, Einleitung in das Neue Testament, KStTh 6, Stuttgart 22013, 171 (Entstehungsort: westliche Reichshälfte) und Theißen* 253–261 (Entstehungsort: Norden Palästinas).

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der Autor entweder von einem früheren, späteren oder zeitgleichen Standpunkt aus berichtet. Eine etwas präzisere Bestimmung des zeitlichen Standortes ergibt sich dort, wo Autoren über den vorherigen Tradierungsprozess reflektieren oder auf aktuelle Geschehnisse Bezug nehmen. So lässt der Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1–4) erkennen, dass der dritte Evangelist bereits aus einem größeren zeitlichen Abstand berichtet. Andere haben bereits vor ihm Evangelientexte geschrieben. Der Einschub des Erzählers in Mk 13,14 („Wer es liest, horche auf!“) lässt den Rückschluss zu, dass hier die Endzeitrede Jesu auf die aktuelle Zerstörung des Jerusalemer Tempels bezogen wird. Die Autoren lassen sich aber nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich verorten. So plädiert Gerd Theißen für eine Lokalisierung des Matthäusevangeliums in Syrien, weil innerhalb der Erzählung die Gebiete westlich des Jordans stets als „jenseits des Jordans“ (vgl. Mt 4,15f.; 4,25; 19,1) beschrieben werden. Der Erzähler blickt also perspektivisch von Osten auf die Geschehnisse. Letztlich lassen sich v.a. über das geografische Wissen sowie die topografischen und architektonischen Detailkenntnisse eines Autors (vgl. b) Rückschlüsse auf den räumlichen Standort ziehen. e. Thematische Schwerpunktsetzungen Wenngleich der Inhalt eines Textes erst im Zuge der Texterklärung bzw. bei der thematischen Analyse näher zu untersuchen ist, können bei der Argumentation des Entstehungskontextes auch thematische Schwerpunktsetzungen des Autors von Interesse sein. Solche Schwerpunktthemen können entweder Auskunft über die theologischen Interessen und die Ansichten des Autors geben oder sie könnten ein Hinweis auf virulente Streitfragen innerhalb der Adressatenschaft sein. Beispiel: Thematische Schwerpunkte in den Paulusbriefen Im Unterschied zu seinen früheren Briefen (1 Thess, 1 Kor, 2 Kor) konzentriert sich Paulus im Galater- und Römerbrief auf die Gesetzesthematik. Diese Schwerpunktsetzung wird von einigen Exegeten mit der Gemeindesituation begründet. Nichtsdestotrotz habe Paulus bereits seit seinem Damaskuserlebnis über ein reflektiertes Gesetzesverständnis verfügt. Andere Exegeten wollen hingegen bei Paulus eine biografisch bedingte Weiterentwicklung seiner Theologie und seines Rechtfertigungsverständnisses erkennen. Sie betonen die inhaltlichen Differenzen und Widersprüche zwischen den einzelnen Schreiben. Dass Paulus durchaus auf Anfragen der Gemeinde eingeht, lässt sich auch an der Formulierung περὶ δέ erkennen (1 Thess 4,9; 4,13; 5,1; 1 Kor 7,25; 8,1; 8,4; 12,1; 16,1; 2 Kor 9,1 u.ö.), mit der Paulus immer wieder neue Themenkomplexe einleitet und zugleich auf konkrete Streifragen antwortet.

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4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext

4.2.3 Schritt 3: Indizien auswerten und gewichten Bei neutestamentlichen Schriften lassen sich nur selten ganz eindeutige Aussagen über den Entstehungskontext treffen. Oft führen die Indizien zu keinem einheitlichen Bild vom Autor, von den Adressaten oder der Situation eines Textes. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe. ■





Quellenmangel: Um den Wissenstand oder die Sprachfähigkeit neutestamentlicher Autoren präzise zu bestimmen, fehlt uns häufig das entsprechende Vergleichsmaterial. Die Frage, welches Wissen ein durchschnittlicher Bewohner der Levante oder Roms haben konnten, bleibt schwer zu beantworten. Die (schriftlichen) Quellen, die uns vorliegen, stammen zumeist von Autoren mit einem höheren Bildungsgrad. Die neutestamentliche Exegese hat erst in neuerer Zeit die Bedeutung von Alltagszeugnissen und nicht-literarischen Quellen erkannt. Uneindeutigkeit der Referenzen: Viele Bezugnahmen auf textexterne Vorstellungen und Ereignisse bleiben aus heutiger Sicht uneindeutig. Die Adressaten konnten vielleicht schon aufgrund einzelner Begriffe eine Anspielung auf bestimmte zeitgeschichtliche Ereignisse oder Parteiungen innerhalb ihrer Gemeinde erkennen. Aus heutiger Sicht bleiben manche Anspielungen auf die Situation der Adressaten wohl unerkannt. Vorgeschichte des Textes: Manche neutestamentlichen Texte wie die Evangelien gehen teilweise auf Quellen zurück, die eingearbeitet bzw. bearbeitet wurden (Kap. 5: Analyse der Vorgeschichte und Kap. 6: Redaktionsanalyse). Die Quellen spiegeln die Einflüsse anderer Zeiten und Regionen wider. Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass wir in einem Textdurchlauf auf ganz unterschiedliche Spracheigentümlichkeiten stoßen oder dass der Autor an einer Stelle scheinbar über Kenntnisse verfügt, die er an anderer Stelle nicht hat. Aus diesem Grund ist auszuwerten, welche Indizien sich der letzten Entstehungsphase zuordnen lassen und ob sich beobachtete Widersprüche dadurch auflösen.

Aufgrund dieser Problemfelder empfiehlt es sich, bei der Abwägung der Beobachtungen zum Entstehungskontext auf voreilige, scheinbar präzise Aussagen („70 n.Chr. in Rom“) zu verzichten und stattdessen ungefähre Zeiträume und Lokalisationsgebiete mit Wahrscheinlichkeitsangabe (‚sehr wahrscheinlich‘, ‚wahrscheinlich‘, ‚eher wahrscheinlich‘ usw.) darzustellen. Hierzu haben sich in der in der Exegese – ähnlich wie in den Geschichtswissenschaften – bestimmte Begriffe und Formulierungsweisen etabliert. ■



Zeit: Statt eine neutestamentliche Schrift voreilig auf ein bestimmtes Jahr zu datieren, ist es häufig angemessener, den Entstehungszeitraum durch die Angabe des frühestmöglichen Zeitpunkts und des letztmöglichen Zeitpunkts einzugrenzen. Man spricht dann vom „terminus post quem“ und „terminus ad quem“. Raum: Auch bei allzu genauen Lokalisierungen ist Vorsicht geboten. Statt das Markusevangelium vorschnell in „Rom“ zu verorten, lässt sich mit Verweis auf die Latinismen (und v.a. die Verbreitung des Quadrans) und andere Indizien eher eine Eingrenzung auf den westlichen Bereich des römischen Reiches plausibilisieren.

Wer schreibt für wen in welcher Situation?

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Umgekehrt sind bestimmte Regionen aufgrund anderer Indizien eher unwahrscheinlich. So spricht die mangelnde Kenntnis der galiläischen Geografie gegen eine Verortung des Markusevangeliums in Palästina.

Letztlich sollte man bei der Frage nach dem Entstehungskontext auch immer im Blick behalten, welche Informationen für das eigene Forschungsanliegen wichtig sind. Wenn ich eine Biografie des Paulus schreibe, sind einzelne Details seiner Persönlichkeit von Interesse. Aber ob sich ein bestimmter Brief wohl eher auf das Jahr 51 oder 52 n.Chr. datieren lässt, mag für die Auslegung eines konkreten Briefabschnitts vernachlässigenswert sein. Demo: Mk 6,45–53 und der Entstehungskontext des Markusevangeliums (von Stefanie Lenz) In Mk 6,45–53 finden sich einige Indizien, die vor allem Rückschlüsse auf den Adressatenkreis zulassen. Hinweise auf die genaue Entstehungszeit finden sich hingegen keine. Und auch die Frage, wo genau das Markusevangelium entstanden ist, lässt sich weder anhand dieses Textabschnittes noch anhand des Gesamtevangeliums mit hinreichender Sicherheit bestimmen. Als mögliche Abfassungsorte werden in der aktuellen Markusforschung nach wie vor Rom bzw. die westliche Reichshälfte und Palästina diskutiert.10 Gegen eine Lokalisierung in Palästina werden immer wieder die vermeintlich fehlenden Ortskenntnisse des Autors angeführt. Auch in der vorliegenden Perikope Mk 6,45–53 lässt sich eine geografische Ungereimtheit erkennen: So ist Bethsaida zwar das ursprüngliche Ziel der Überfahrt (V. 45), tatsächlich landen Jesus und seine Jünger jedoch in Genezareth (V. 53). Allerdings muss diese geografische Inkohärenz nicht zwangsläufig auf das mangelnde Wissen des Autors zurückgeführt werden, sondern scheint durchaus intendiert zu sein (→ Texterklärung). Bethsaida wird noch im weiteren Verlauf der Erzählung erreicht werden (8,22). Als Adressatenkreis kommt am ehesten eine heidenchristliche Gemeinde in Frage, die jedoch über alttestamentliche Schriftkenntnisse verfügt haben muss. Der Autor knüpft bereits im Prolog an entsprechende Schriftkenntnisse an (Mk 1,2f.) und die vorliegende Perikope greift ganz deutlich die Offenbarungsformel „ich bin es“ sowie weitere Motive einer alttestamentlichen Epiphanieerzählung auf (→ Gattungsanalyse). Für ein heidenchristliches Milieu sprechen dennoch die auffallend häufigen Erklärungen und Übersetzungen aramäischer Begriffe (Mk 5,41; 7,34; 14,36; 15,34 u.ö.). Diesem allgemeinen Befund lässt sich die Zeitangabe περὶ τετάρτην φυλακὴν τῆς νυκτός in V. 18 zuordnen, weil diese der griechisch-römischen Einteilung in vier Nachtwachen entspricht. 11 Auch die thematisierte Angst vor Gespenstern (V. 49) verweist zumindest tendenziell in die Richtung eines hellenistischen Milieus. So lassen sich Gespenstererzählungen zwar auch im frühjüdischen Bereich antreffen, sie waren aber innerhalb

10 Vgl. Schnelle, Einleitung*, 268f. (Rom); Theißen* 253–261. Rom legt sich nicht zuletzt aufgrund der frühkirchlichen Tradition nahe (Eus. h.e. III,39,15), aber die kurze Papiasnotiz, die einem apologetischen Interesse folgt, lässt kaum ein verlässliches Urteil zu. 11 Mit J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Zürich u.a. 1978, 268.

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4. Textentstehung I – Der Entstehungskontext

des Hellenismus weitaus verbreiteter. 12 Eine (untergeordnete) Intention der Episode könnte es sein, derartige Vorstellungen innerhalb des Rezipientenkreises zurückzuweisen (→ Textnachwirkung). Zeitlich wird das Markusevangelium zumeist um das Jahr 70 n.Chr. datiert und damit in den geschichtlichen Kontext der Tempelzerstörung gerückt. Diskutiert wird hierbei jedoch, ob die Angaben in Mk 13,2.14 als vaticinia ex eventu zu begreifen sind oder gerade nicht mit den historischen Ereignissen in Einklang gebracht werden können. 13 Innerhalb unserer Perikope lassen sich keine aussagekräftigen Indizien für die eine oder andere Datierung finden. Ohnehin scheint eine solche präzise Datierung für die weitere Auslegung der Perikope kaum relevant zu sein. Das Erlebnis eigener Ohnmacht und Todesangst könnte zwar die Identifikation mit den Jüngern im Boot noch gesteigert haben, aber derartige Erfahrungen konnten die Rezipienten wohl auch schon vor 70 n.Chr. sammeln.

4.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Erklären Sie den Unterschied zwischen dem Entstehungskontext und der erzählten Welt eines Textes. 2. Geben Sie an, aus welchen drei Aspekten sich der Entstehungskontext zusammensetzt. 3. Nennen Sie drei Beispiele für textinterne Indizien bezogen auf den Entstehungskontext. 4. Mit welchen Problemen ist die Rekonstruktion des Entstehungskontextes behaftet? Nennen und beschreiben Sie mindestens zwei Problemfelder.

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ zwischen dem Entstehungskontext und der erzählten Welt bzw. Textwelt differenzieren. ■ textinterne Hinweise auf die Situation, den Autor und die Empfänger eines neutestamentlichen Textes auswerten und mit den Angaben aus späteren Quellen abgleichen. Zugleich können Sie die Ergebnisse ihrer Analyse kritisch reflektieren.

12 Nicht nur in den Tragödien des 5. Jhdt. v.Chr. (vgl. z.B. Aisch. Pers. 354 u. 681–690; Aisch. Eum. 94–139; vgl. auch Plato Phaid. 81) finden sich zahlreiche Schilderungen von Geistererscheinungen, sondern auch in den griechischen Zauberpapyri (vgl. PGM 4,2701; 7,579), bei Plutarch (Plut. Dion 2,2–4) oder mit einem polemischen Unterton bei Lukian (Luc. Philops 29); vgl. auch Weish 17,13f. Bei Josephus bezeichnet φάντασμα hingegen zumeist Visionen und Traumgesichte (vgl. Jos. Ant. 2,82; Jos. Bell. 3,353) oder auch Engelserscheinungen (Ant. 1,331 u. 333: Der Engel Gottes am Jabbok). 13 Vgl. hierzu M. Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H. Cancik (Hg.), Markus-Philologie, WUNT 33, Tübingen 1984, 1–45, bes. 43 (69 n.Chr.) und dagegen Theißen* 270–284, bes. 284 (nach 70 n.Chr.).

Wer schreibt für wen in welcher Situation?

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Sie kennen jetzt … ■ die Lasswell-Formel, ■ Beispiele für explizite Angaben im Neuen Testament zur Situation, zum Autor und zu den Empfängern.

Notieren Sie Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zum Entstehungskontext erkennen und wo sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Nehmen Sie Mk 6,54–53 zur Hand und lesen dazu noch einmal gemeinsam die Demonstration in diesem Kapitel. Diskutieren Sie miteinander, ob Sie die Darstellung überzeugt oder ob Sie zu anderen Ergebnissen kommen. Welche Schwierigkeiten bleiben bei der Analyse des Entstehungskontextes bestehen und wie können Sie damit im Zuge einer eigenen Untersuchung umgehen?

4.4 Literatur 4.4.1 Exegetische Methodenlehren Fohrer/Hoffmann* 147–150 („Zeit- und Verfasserfrage“), Kreuzer/Vieweger* 102f., Reinmuth/Bull* 43–47 („Autor- und Adressatenbild“) und 78–81 („Kommunikative Situation“), Söding* 238–243 und Söding/Münch* 134–138 (Autor und Adressaten); Söding* 101–116 und Söding/Münch* 42–51 („Situationsanalyse“), Steck* 150–157 („Historischer Ort“).

4.4.2 Neutestamentliche Einleitungsliteratur Broer, I., Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 32010. Carson, D.A./Moo, D.J., An Introduction to the New Testament, Grand Rapids 22005. Ebner, M./Schreiber, St., Einleitung in das Neue Testament, KStTh 6, Stuttgart 22013. Guthrie, D., New Testament Introduction, Leicester 41990. Horn, F.W. (Hg.), Das Paulus-Handbuch, Tübingen 2013. Kümmel, W.G., Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983. Pilhofer, P., Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung, UTB 3363, Tübingen 2010. Pokorný, P./Heckel, U., Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007. Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 82013. Strecker, Chr., Handbuch Neues Testament, Stuttgart 2013. Wischmeyer, O. (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB 2767, Tübingen 22012, bes. 3–160. (Details zur politischen, religiösen, urbanen Umwelt des Paulus) Zahn, Th., Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 31906; ND Wuppertal 1994.

5 Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte Leitbegriffe Prätext und Posttext, Komposition, Kompilation, Glosse, Fortschreibung, produktionsbezogener Fehler, Motive und Ursachen, relative Chronologie

5.1 Einführung

Abb. 5.1: Xavier Naidoo: „Flugzeuge im Bauch“

„Flugzeuge in meinem Bauch“ – mit dieser Liedzeile trat Xavier Naidoo erstmals im Jahr 1998 auf die Bühne. Im selben Jahr erschien ein gleichnamiger – etwas schnulzigerer – Song des Interpreten Oli P. Auffällig an beiden Liedversionen ist, dass sie zahlreiche Textübereinstimmungen aufweisen. So ist vor allem der Refrain beider Songs nahezu identisch. Wie ist das möglich? Die Lösung: Beide Lieder haben eine gemeinsame „Vorgeschichte“. Sie sind nämlich jeweils Coverversionen von Herbert Grönemeyers 1984 erschienenem Song „Flugzeuge im Bauch“. Xavier Naidoo und Oli P. haben im selben Jahr Grönemeyers Hit gecovered und hierbei viele Textpassagen übernommen. Wer Grönemeyers Lied nicht kennt, der könnte denken, Xavier Naidoo und Oli P. hätten den Liedtext voneinander abgeschrieben. Wer aber die Vorgeschichte – den Liedtext von Grönemeyer – kennt, dem erschließen sich die wortwörtlichen Parallelen. Die „Vorgeschichte“ von Grönemeyers Liedtext „Flugzeuge im Bauch“ reicht sogar noch weiter zurück. Denn zahlreiche Sätze, Wortteile und Wortverbindungen, die in diesem Lied vorkommen, haben ebenfalls eine Vorgeschichte. Sie lagen bereits früher in Form von festgeprägten Redewendungen vor und wurden in diesem Song adaptiert. So ist der Titel des Liedes „Flugzeuge im Bauch“ eine Abwandlung der bekannten Redewendung „Schmetterlinge im Bauch (haben)“. Letztlich könnte man sich sogar fragen, ob das Lied einen realen Bezug hat. Steckt dahinter tatsächlich eine enttäuschte Liebesbeziehung?

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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Viele neutestamentliche Texte sind ebenfalls das Ergebnis eines literarischen Entstehungsprozesses. Auch sie greifen mündliche und schriftliche Vorüberlieferungen (hier: „Prätexte“) auf. Für die Übernahme überlieferter Texte und mündlicher Traditionen gibt es im neutestamentlichen Kontext mehrere Gründe: ■





Autoren zitierten Prätexte, weil die Rezipienten diesen eine autoritative Bedeutung zusprachen und sich so die eigene Position bekräftigen ließ, z.B. verwendete Paulus frühchristliche Bekenntnisformeln1 oder fügte in seine Argumentation bekannte Schriftstellen aus dem Alten Testament ein. Autoren sammelten und verschriftlichten mündliche Überlieferungen, um sie für spätere Generationen zu bewahren. So wurde durch den Tod der ersten Generation die Verschriftlichung der Lebensgeschichte Jesu mitveranlasst. Autoren übersetzten Prätexte ins Griechische, um sie für die Gemeinden im hellenistischen Sprachraum zugänglich zu machen.

Prätexte werden aber nicht nur aufgegriffen, um sie in Erinnerung zu rufen bzw. zu bekräftigen. So wie Grönemeyer die Redewendung „Schmetterlinge im Bauch“ adaptiert und zugleich umformuliert, konnten auch neutestamentliche Autoren Texte und mündliche Traditionen ergänzen, kürzen, stilistisch verändern, umstellen, verfremden, kritisieren usw. Während die Autoren der neutestamentlichen Schriften vielfach auf die Textkenntnis ihrer Adressaten vertrauen und hieran bewusst anknüpfen konnten, ist aus heutiger Sicht nicht immer deutlich, wann in den Texten des Neuen Testaments Überliefertes aufgriffen wird und wann nicht. Nur manchmal finden sich explizite Hinweise darauf, dass ein Autor auf Überliefertes zurückgreift und dass entsprechende Inhalte bereits vor ihm zusammengestellt wurden. So lesen wir in 1 Kor 15,3–5: „Weitergegeben (παρέδωκα) habe ich euch nämlich als erstes, was auch ich zuvor empfangen habe (παρέλαβον), dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift und dass er begraben worden ist und dass er auferstanden ist am dritten Tag nach der Schrift und dass er erschienen ist dem Kephas, danach den Zwölfen.“

Solche expliziten Hinweise sind aber eher die Ausnahme im Neuen Testament. Aus heutiger Sicht stellt sich das Problem, dass uns zahlreiche Anspielungen, hintergründige Auseinandersetzungen oder die bloße Wiedergabe älterer

1 Bei Paulus finden sich u.a. „geprägte Sterbe- und Hingabeformeln (z.B. Röm 5,8; 2 Kor 5,14f.; Gal 1,4; 2,20; 1 Thess 5,10) sowie soteriologische Formeln (z.B. Röm 3,25f.; Gal 1,4) und Missionsformeln (z.B. 1 Thess 1,9f.)“. Dazu auch „christozentrische Auferstehungs- (z.B. Röm 4,25; 6,4.9f., 7,4; 8,34; 14,9) und theozentrische Auferweckungsaussagen (z.B. Röm 10,9; 1 Kor 6,14; 1 Kor 15,15; 2 Kor 4,14; Gal 1,1)“ (H.-J. Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, in: Ders./U. Heckel/B. Weyel, Kompendium Gottesdienst, UTB 3630, Tübingen 2011, 22–41, hier 30f. [Hervorhebungen im Original]).

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

Prätexte nicht mehr auffallen. Texte, die damals liturgische Verwendung fanden, Erzählungen, die zum Standardrepertoire früher Christinnen und Christen zählten, oder ganz alltägliche Redewendungen sind uns nicht mehr vertraut und springen uns daher bei der Lektüre auch nicht ins Auge. Hinzu kommt, dass Autoren nicht selten Texte aufgreifen, ohne dezidiert darauf hinzuweisen, z.B. weil die Existenz dieser Texte unerheblich ist, diese bewusst verheimlicht werden sollen oder diese gerade umgekehrt den Rezipienten bekannt sind und auf einen Hinweis verzichtet werden kann. Aus diesen Gründen ist es notwendig, die Prätexte und die Genese eines Textes methodisch zu erschließen. Ansatzpunkt für eine solche Analyse sind „Brüche“ bzw. „Inkohäsionen“ und „Inkohärenzen“ (vgl. Inkohäsionen Kap. 3: Exkurs Kohäsion und Kohärenz), die sich im Text und aufweisen lassen und die ein Hinweis auf die Einfügung Inkohärenzen und Bearbeitung von Prätexten oder mündlichen Traditionen sein können. Bevor wir zur Darstellung der eigentlichen Methodik übergehen, wollen wir in einem Zwischenschritt noch etwas näher auf die Beziehungen eingehen, die es zwischen einem früheren Prätext und einem späteren Posttext geben kann.2 Oft wird ein Text nicht nur, wie Prätext und Posttext bei unserem Einstiegsbeispiel, von ein oder zwei Autoren aufgegriffen und bearbeitet, sondern besitzt eine wesentlich längere und komplexere Vorgeschichte. Er ist durch mehrere Hände gegangen, um immer wieder neu korrigiert, gekürzt, ergänzt oder aktualisiert zu werden. Solche Überarbeitungen können innerhalb von Stunden geschehen oder innerhalb von Jahrhunderten. Letzteres gilt v.a. für alttestamentliche Texte und deren Aufnahme im Neuen Testament. Jeder Text kann dabei wiederum zum Prätext für einen anderen Text werden und in einem Posttext werden oftmals mehrere Prätexte aufgegriffen und verarbeitet. Die Analyse der Vorgeschichte umfasst dem Wortsinn nach nicht nur eine Überarbeitungsstufe – sonst wäre es keine „Geschichte“ –, sondern sie erzählt möglichst die gesamte Entstehung eines Textes bis hin zum Zieltext, der analysiert werden soll. Die Redaktionsanalyse (→ Kap. 6) konzentriert sich in der Regel auf die letzte Bearbeitungsstufe eines Textes und fragt hier noch einmal dezidiert nach den persönlichen, sachlichen und kommunikativen Motiven bzw. Zielen hinter der letzten Bearbeitung. Wie bei der Untersu-

2 „Prätext“ und „Posttext“ passen oft besser als das Begriffspaar „Quelle“ und „Redaktion“ und sind neutralere Bezeichnungen. Z.B. bei kleineren Überarbeitungen oder auch bei eigenen Textrevisionen wäre es unpassend, die frühere Version als „Quelle“ zu bezeichnen; außerdem ist die „Quelle“ bzw. „Vorlage“ nur schwierig abzugrenzen von „Beeinflussung“, „Anspielung“ oder „Zitat“. Vgl. G. Dicke, Art. Quelle, in: RLW* III (2003), 203–205.

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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chung der Handschriftenüberlieferung (→ Kap. 2) kann man ein Stemma erstellen („Quellen-Stammbaum“),3 das die Genese des Textes illustriert. Prätexte (Quellen) Posttext Text

Zielstufe

Text

Text

Text

Text

Text

Prätext (Quelle)

Text

Text

Text

Text

Text

Posttexte usw.

Abb. 5.2: Beispiel für ein Stemma

Aufgabe: Erstellen Sie ein Stemma zu unserem Einstiegsbeispiel „Flugzeuge im Bauch“! Vergleichen Sie Ihr Stemma im Nachhinein mit dem folgenden Stemma zur Zweiquellentheorie! Was sind die wesentlichen Unterschiede? Was sind Gemeinsamkeiten? Beispiel: Zweiquellentheorie (für die synoptischen Evangelien) [SMt] [Q]

[QMt]

Matthäusev.

[QLk]

Markusev.

[DtrMk]

Lukasev.

[SLk] Abb. 5.3: Zweiquellentheorie4

Aufgabe: Wenn Sie zur Zweiquellentheorie und den Problemen dieses Entstehungsmodells mehr wissen wollen, konsultieren Sie ein neutestamentliches Einleitungswerk, z.B. Schnelle, Einleitung*, 205–241.

3 Unter „Prätext“ sollen an dieser Stelle auch mündlich überlieferte Traditionsstücke verstanden werden, mit all ihrer Variabilität im Wortlaut. Vgl. Koch* 62, der die Arbeit der Redaktoren auch in der Verschriftlichung sieht: „Die Redaktoren entnehmen den Stoff […] dem ständigen Fließen durch die Weitergabe von Mund zu Mund, lassen ihn gleichsam gefrieren durch die Feder eines Einzelnen.“ 4 […] = hypothetisch angenommene Quellen.

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

Für die unterschiedlichen Vorher-Nachher-Beziehungen von Prätext und Posttext kursieren allein in den Bibelwissenschaften ganz verschiedene Fachbegriffe. Um es nicht zu kompliziert zu machen, wollen wir Vorher-Nachheruns auf analytische Bezeichnungen für Vorher-Nachher-TextBeziehungen: beziehungen beschränken, die sich auf die Veränderung jeFachbegriffe weils eines Aspekts beziehen (Quantität, Qualität usw.). Zu jedem Aspekt kann man jeweils drei Arten von Fachbegriffen feststellen: ■ ■ ■

1) Fachbegriffe für den Prozess (substantivierte Verben; z.B. „Komposition“), 2) Fachbegriffe für das Neue (z.B. „Glosse“) und 3) Fachbegriffe für das Alte im Neuen (z.B. „Grundtext“, „Zitat“).

Die zu betrachtenden analytischen Aspekte für Vorher-Nachher-Beziehungen von Texten könnten sein: Anzahl, Art, Verteilung, Länge und Bewusstheit. ■





a) Anzahl (quantitativer Aspekt): Wie ändert sich die Anzahl der Prätexte gegenüber dem Posttext? Beispiel: Aus einem Text werden zwei Texte (=zweifache Divergenz); die klassische Bezeichnung für diesen Prozess und für das Alte im Neuen ist „Dublette“ oder „Doppelüberlieferung“ (s.u.). Genauso ist denkbar, dass aus drei Texten ein Text wird (= dreifache Konvergenz) usw. b) Art (qualitativer Aspekt): Ändert sich die Art (Medium, Gattung) des Prätextes gegenüber dem Posttext? Es gibt z.B. mündliche Prätexte, die schriftlich werden (Verschriftlichung), schriftliche Prätexte, die (erneut) mündlich werden (Vermündlichung, „secondary orality“) oder auch handschriftliche Prätexte, die gedruckt werden (Erstdruck). Bezogen auf die Gattung können z.B. Erzählungen in eine Gedichtform überführt werden. c) Verteilung (distributiver Aspekt): Wie verteilt sich der Prätext im Posttext? Es gibt verschiedene Bezeichnungen für Verteilungsmuster, die berücksichtigen, an welchen Stellen Prätexte im Posttext aufgenommen werden. Beispiele: Komposition: Zwei oder mehr Prätexte werden im Posttext aneinandergefügt.5

Kompilation: Zwei oder mehr Prätexte werden aufgeteilt und im Posttext an mehreren Stellen eingefügt.



5

d) Länge (metrischer Aspekt): Wie lang ist der Prätext im Posttext? Wie lang ist das Neue im Posttext gegenüber dem Prätext? 1. kurzer vs. langer Prätext: Der Prätext kann entweder sehr ausgedehnt vorkommen und für den Posttext bestimmend sein (Prätext als „Grundtext“) oder er scheint nur an einer oder wenigen Stellen im Posttext hervor („Zitat“, „Anspielung“).

Die hier abgebildeten Grafiken sind eng angelehnt an Utzschneider/Nitsche* 248f.

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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2. kurze vs. lange Bearbeitung im Posttext: Das Neue im Posttext (hier: in der Grafik dunkler) wird auf verschiedene Weise bezeichnet, je nachdem, wie ausgedehnt die Einfügungen bzw. Bearbeitungen sind. = ursprünglicher Text (Prätext)

= (größere) Bearbeitung bzw. Einfügung

Glosse: eine kurze Einfügung in den Prätext Fortschreibung: eine Überarbeitung des Prätextes auf längerer Strecke Redaktion: Einfügungen in den Prätext an verschiedenen Stellen ■

e) Bewusstheit (intentionaler Aspekt): Wie sehr wird den intendierten Lesern des Posttextes die Existenz des Prätextes bewusst gemacht? Ein Autor kann a) seine Prätexte verbergen („Plagiat“), z.B. bei heimlichem Abschreiben oder wenn die Existenz der Prätexte nicht wichtig ist, oder b) wollen, dass sie erkannt werden. Im letzteren Fall setzt er sie entweder als bekannt voraus oder er weist implizit („Anspielung“) oder explizit („Zitat“) auf diese hin. Prätexte, die den intendierten Rezipienten bewusst waren – und nur diese! –, sind für die Textinterpretation von Bedeutung (Kap. 9–11).

5.2 Methode In den meisten exegetischen Methodenbüchern wird die Analyse schriftlicher und mündlicher Vorstufen getrennt behandelt. Die Analyse schriftlicher Vorstufen erfolgt dort unter dem Stichwort der „Literarkritik“, die Analyse mündlicher Vorstufen erfolgt hingegen meist unter dem Stichwort der „Überlieferungskritik“ oder „Traditionsgeschichte“. Diese Differenzierung wird hier aufgegeben. Für eine gemeinsame, allgemeine Methode zum Herausfinden von Prätexten gibt es unseres Erachtens mehrere Gründe: ■







Die Inkohäsionen und Inkohärenzen, die bei der Aufnahme von Vorüberlieferungen entstehen können, sind bei schriftlichen und mündlichen Vorlagen nicht zu unterscheiden. Das methodische Vorgehen ist dasselbe. Da schriftliche Vorlagen meistens fehlen, beschränkt sich die Literarkritik in vielen Methodenbüchern auf den Synoptischen Vergleich. Ein solcher – wenn auch bedeutsamer – Sonderfall rechtfertigt keinen eigenen Methodenschritt. Es lässt sich meist nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Vorüberlieferung in mündlicher oder schriftlicher Form vorlag. So bleibt z.B. umstritten, ob die Logienquelle „Q“, die Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium verwendeten, mündlich oder schriftlich vorlag. Die klassische Überlieferungskritik versuchte meist, hinter die Texte zu greifen und aus diesen die ipsissima vox Jesu – wir würden heute sagen: den „O-Ton“ Jesu – abzuleiten. Hierzu reicht eine überlieferungskritische Analyse für sich genommen aber nicht aus. Die historische Rückfrage ist viel komplexer und sollte daher als eigener Methodenschritt behandelt werden (Kap. 13a: Historisches Interesse).

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte Methode: Analyse der Vorgeschichte

1. Die verwendeten Prätexte im Text auf der Grundlage von Inkohäsionen und Inkohärenzen (Liste: mögliche Brüche) aufweisen. 2. Nach Ursachen suchen, die zur Überarbeitung des Textes geführt haben und die die benannten Inkohäsionen und Inkohärenzen erklären können. 3. Ein Stemma der Vorgeschichte erstellen.

5.2.1 Schritt 1: Die verwendeten Prätexte aufweisen Leitend bei der Analyse der Vorgeschichte ist zunächst die Grundannahme, dass durch das literarische Zusammensetzen unterschiedlicher Prätexte bzw. deren Überarbeitung Inkohäsionen entstehen können und es im Verlauf der Textgenese durch gewandelte Kommunikationssituationen zu Inkohärenzen kommen kann. Anhand fester Kriterien sollen diese Brüche aufgewiesen und festgehalten werden. Die folgende Tabelle fasst mögliche „Brüche“, die Sie bei der Analyse eines Textes berücksichtigen und überprüfen können, zusammen. 1.

Syntaktische/stilistische Inkohäsion

2.

Doppelung

3.

Dublette/Doppelüberlieferung

4.

Wiederholung

5.

Bruch in der Themendarstellung

6.

Bruch in der Figurendarstellung

7.

Bruch in der Zeitdarstellung

8.

Bruch in der Ortsdarstellung

9.

Gattungswechsel

10.

Widerspruch zum Vorwissen der Rezipienten

11.

Wechsel des raumzeitlichen Erzählerstandpunkts

Inkohäsionen

Inkohärenzen

Tab. 5.4: Brüche und Spannungen als mögliche (!) Indizien für vorhandene Prätexte

1. Syntaktische/stilistische Spannungen Die Möglichkeiten grammatikalischer, syntaktischer oder stilistischer Ungereimtheiten bzw. Brüche sind äußerst vielfältig. Nicht selten ist es notwendig, die Spracheigentümlichkeiten eines Autors zu kennen, um auf dieser Grundlage Abweichungen zu bemerken und auf das Vorhandensein älterer Prätexte schließen zu können.

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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Ein Beispiel kann der Wechsel von einer durchgängig parataktischen Satzverbindung, bei der Hauptsätze einfach aneinandergereiht werden, zu einem komplexeren Satzgefüge sein. In ähnlicher Weise können auch Textpassagen hervorstechen, die sich durch die Häufung rhetorischer Stilmittel oder ein für den Autor ungewöhnliches Vokabular auszeichnen. So wird Röm 1,3f. oft als vorpaulinische Gottessohnformel angesehen, weil sich diese Textpassage durch ein für Paulus untypisches Vokabular (z.B. πνεῦμα ἁγιωσύνης), einen Parallelismus membrorum (1,3b/1,4a) und die Opposition κατὰ σάρκα – κατὰ πνεῦμα auszeichnet. Dort, wo es im Text syntaktische und stilistische Brüche aufzuweisen gilt, besitzt die Analyse der Vorgeschichte enge Berührungspunkte mit der Analyse der Textstruktur (→ Kap. 8).6 Außerdem lohnt sich an dieser Stelle oftmals eine Untersuchung auf Textbezüge (→ Kap. 9–10), um die Aufnahme nichtmarkierter Zitate nachzuweisen. 2. Doppelung Bei einer Doppelung wird ein Sachverhalt innerhalb einer Textsequenz mehrmals erwähnt. Denkbar sind hier z.B. eine doppelte Exposition zu Beginn einer Erzählung oder Doppellogien, bei denen eine Aussage durch eine zweite Aussage inhaltlich wiederholt wird (z.B. Mk 2,17). 3. Dublette/Doppelüberlieferung Eine besondere Form der Doppelung stellt die sogenannte Dublette oder Doppelüberlieferung dar. Hierbei handelt es sich um eine ganze Episode bzw. mindestens um eine Szene, die mehrmals in einem Gesamttext vorkommt. Grund hierfür kann sein, dass sich aus einem Prätext zwei Versionen entwickelt haben. Ein oft zitiertes Beispiel für eine Dublette ist das zweifach erzählte Speisungswunder in Mk 6 und Mk 8. Ein weiteres Beispiel wäre die doppelt geschilderte Aussendung der Jünger in Lk 9,1–6 und 10,1–16. 4. Wiederholung Von einer Wiederholung kann gesprochen werden, wenn ein Satzteil, ein Satz oder eine Wortverbindung innerhalb einer Textsequenz nahezu wörtlich wiederverwendet wird. Merke: Doppelung = inhaltliche Wiederholung Dublette/Doppelüberlieferung = Varianten einer Episode/Sequenz Wiederholung = (nahezu) wörtliche Wiederaufnahme eines Satzes/Satzteils

6

In einigen Methodenbüchern steht die ‚sprachliche Analyse‘ daher noch vor der Analyse der Vorgeschichte (Literarkritik und Traditionsgeschichte).

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

5. Bruch in der Themendarstellung Sowohl in argumentativen Texten als auch in Erzählungen kann es häufig zu unvermittelten Themenwechseln bzw. einem Bruch in der Thematik kommen. Ein solcher Bruch kann auf eine nachträgliche Verbindung ursprünglich getrennter Überlieferungen schließen lassen. Insbesondere in der Briefliteratur kommt es aber vor, dass ein Autor auf (vermeintliche oder tatsächliche) Anfragen aus der Gemeinde reagiert und deshalb zwischen Themen hin- und herspringt. Außerdem können Themenbezüge, die für die vom Autor intendierten Rezipienten noch sehr naheliegend waren, erst aus heutiger Perspektive wie Brüche wirken. Hier gilt es zu rekonstruieren, ob Themen auch in anderen Schriften außerhalb oder innerhalb des Neuen Testaments logisch verknüpft wurden. Beispiel: Themenwechsel (Mk 2,18–22) In Mk 2,18f steht durch die Anfrage der Schriftgelehrten und Pharisäer die Thematik des Fastens im Raum. Hierzu passt auch noch Jesu Bildwort von der Hochzeit, weil es einen logischen Kontrast zur Fastenthematik setzt (Hochzeitsgäste fasten nicht). Die folgenden Bildworte vom alten/neuen Lappen (Mk 2,21) und vom alten/neuen Wein (2,22) haben mit der Ausgangsthematik hingegen nur noch entfernt zu tun. Sie werden erst vor dem Hintergrund einer gewandelten Kommunikations- und Gemeindesituation verständlich und sollen scheinbar die für die Gemeinde wichtige Gesetzesfreiheit unterstreichen: „Im Kontext der Fastenfrage betont das Bildwort die neue Freiheit, die Jesus den Jüngern gegeben hat (…)“ (J. Gnilka, EKK II/1, 116).

6. Bruch in der Figurendarstellung Ein Personenwechsel bzw. die Widersprüche zwischen einzelnen Personenangaben oder -schilderungen ist meist eine sehr augenscheinliche Inkohäsion. So fällt schnell auf, dass Jesus in Mk 1,21 die Synagoge in Kapernaum allein betritt, diese aber in V. 29 mit seinen Jüngern wieder verlässt. Nicht selten ergibt sich auch ein Widerspruch zwischen der Nennung einer Sprechergruppe und der folgenden Figurenrede. So reden in Mk 2,18 merkwürdigerweise die Jünger des Johannes und die Pharisäer über sich selbst in der 3. Person (statt, wie zu erwarten wäre, in der 1. Person Plural): „Und es waren die Jünger des Johannes und die Pharisäer, die fasteten. Und sie kamen und sagten zu ihm [sc. Jesus]: Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer …“ Brüche in der Personendarstellung sind hingegen dort weniger augenscheinlich, wo es sich um eine Inkohärenz handelt. Hier ist immer eine Kenntnis der historischen Begebenheiten bzw. des Vorwissens der Rezipienten notwendig. Dass in einem Text einmal (historisch) differenziert von den „Schriftgelehrten der Pharisäer“ die Rede ist und im selben Text dann (historisch) undifferenziert von „Pharisäern und Schriftgelehrten“, setzt eine Kenntnis der

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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jüdischen Parteien und des Gelehrtentums zur Zeit Jesu voraus. Solche Ungereimtheiten lassen sich manchmal damit begründen, dass den Autoren und ihren Rezipienten ein ursprüngliches Wissen abhanden gekommen ist, etwa weil sie – im Vergleich zu den Rezipienten des Prätextes – in einem zeitlich und kulturell anderen Kontext beheimatet waren. 7. Bruch in der Zeitdarstellung Auch ein Wechsel bei der Zeitdarstellung lässt sich auf der Textebene zunächst einfach erkennen. Hierbei handelt es sich um a) Widersprüche zwischen expliziten Zeitangaben, z.B. variierende Uhr-, Tages-, Jahreszeiten oder Wochentage, oder b) unvermittelte Wechsel zwischen genauen und pauschalen Zeitangaben, z.B. Mk 1,32.35 (genaue Zeitangaben) und Mk 1,34 (generalisierende Darstellung der Wundertätigkeit Jesu). Beispiel: Bruch in der Zeitdarstellung (Mk 2,20) In Mk 2,20a ist zunächst von „Tagen“ im Plural die Rede. Hiermit wird jene Zeit umschrieben, in der der Bräutigam nicht mehr bei seinen Gästen ist, weil er „entrissen“ wurde. In Mk 2,20b ist hingegen plötzlich von jenem „Tag“ im Singular die Rede. Hier wird die Reaktion der Gäste beschrieben, die auf die Abwesenheit des Bräutigams mit Fasten reagieren.

8. Bruch in der Ortsdarstellung Auch Brüche in der Ortsschilderung lassen sich nicht selten auf die zunehmende geographische Unkenntnis der Autoren und ihrer Rezipienten zurückführen. Um als ExegetIn solche Brüche zu bemerken, ist eine Kenntnis der Geographie Palästinas hilfreich. Nur so lässt sich etwa überprüfen, ob eine geschilderte Route von einem Ort zu einem anderen plausibel ist oder die Reiseroute als eher ungewöhnlich oder sogar unmöglich zu gelten hat. Insbesondere dort, wo mehrere Episoden zusammengefügt wurden, kann es zu geographischen Ungereimtheiten kommen, wie das folgende Beispiel aus dem Johannesevangelium illustriert: Beispiel: Spannung in der Ortsschilderung (Joh 20,2.11) In der Erzählung vom leeren Grab in Joh 20 wird zunächst erwähnt (V. 2), dass Maria zu „Simon Petrus und dem Jünger, den Jesus lieb hatte“ gelaufen sei. In V. 11 steht sie jedoch plötzlich wieder am Grab. Hier könnte der Ortswechsel als Argument dafür verwendet werden, dass der Zwischenteil (V. 3–10) erst später hinzugefügt wurde und dabei so wichtig erschien, dass der Autor die Spannung in der Ortsschilderung in Kauf nahm oder sie nicht bemerkt hat.

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

9. Gattungswechsel Nicht nur neutestamentliche Gesamtwerke (Evangelien, Briefe) lassen sich ihrer Form nach in bestimmte Gattungen unterteilen, sondern auch einzelne Episoden, Sequenzen und Textabschnitte. Wenn in einem Text verschiedene Gattungen vorkommen oder eine Textsequenz von erwartbaren Gattungskriterien abweicht, kann dies ein Indiz für die Kombination von ursprünglichen Überlieferungen sein. Da sich Gattungen nie an sich bestimmen lassen, sondern immer Gegenstand eines kulturellen und zeitlich bedingten Vorverständnisses sind, handelt es sich bei einem Bruch in der Gattung um eine Inkohärenz. An dieser Stelle besitzt die Analyse der Vorgeschichte enge Berührungspunkte mit der Analyse der Gattung (→ Kap. 8: Gattungsanalyse). 10. Widerspruch zum Vorwissen der Rezipienten (frames/skripts) Letztlich kann es auch zu einer Inkohärenz zwischen den Schilderungen eines Textes und dem statischen bzw. prozeduralen Alltagswissen der Rezipienten kommen. Etwas wird anders beschrieben, als es die Leser bzw. Hörer aufgrund ihrer textexternen Erfahrungswerte vermuten oder wissen.7 Beispiel: Widerspruch zu prozeduralem Vorwissen (Mk 2,20)7 Ein Beispiel für solch einen Widerspruch stellt das Bild vom Bräutigam und dessen Entführung dar: „Es werden aber Tage kommen, wenn der Bräutigam von ihnen gerissen wird.“ Eine solche Entführung ist in der gesamten Antike unbekannt und verdankt sich eher einer nachträglichen, kreuzestheologisch motivierten Weiterführung der Metapher.

11. Wechsel des raumzeitlichen Erzählerstandpunkts Wie wir bereits im vorherigen Kapitel gesehen haben, gewinnen die Rezipienten über den Lektüreprozess hinweg einen Eindruck vom räumlichen und zeitlichen Standpunkt des Autors bzw. Erzählers. Bei einem längeren Prozess der Textgenese kann es auch diesbezüglich zu Ungereimtheiten kommen. In diesem Fall lässt sich erkennen, dass der Autor bzw. Erzähler plötzlich aus einem anderen zeitlichen oder räumlichen Abstand heraus berichtet. Ein Beispiel hierfür sind die Teilungshypothesen zum Philipperbrief. Da im Unterschied zu den ersten Kapiteln in Phil 3,2–4,3 jeglicher Hinweis auf eine Gefängnissituation fehlt und sich für manche Exegeten ab 3,2 bei Paulus ein Stimmungswandel erkennen lässt, ist immer wieder die Existenz mehrerer, ursprünglich separater Schreiben diskutiert worden.

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Zum hier verwendeten Beispieltext Mk 2,19f. vgl. auch Ebner/Heininger* 307–312.

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Beispiel: Inkohärenzen und Inkohäsionen benennen (Mk 2,19f.) 19a b c d e 20a b c d

Καὶ εἶπεν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς · μὴ δύνανται οἱ υἱοὶ τοῦ νυμφῶνος ἐν ᾧ ὁ νυμφίος μετ᾿ αὐτῶν ἐστιν νηστεύειν ὅσον χρόνον ἔχουσιν τὸν νυμφίον μετ᾿ αὐτῶν οὐ δύνανται νηστεύειν ἐλεύσονται δὲ ἡμέραι ὅταν ἀπαρθῇ ἀπ᾿ αὐτῶν ὁ νυμφίος, καὶ τότε νηστεύσουσιν ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ

Doppelung V. 19b.c Wiederholung V. 19b–c/d–e Bruch in der Zeitdarstellung Bruch zum prozeduralen Vorwissen (Hochzeit)

5.2.2 Schritt 2: Nach Ursachen für Inkohäsionen und Inkohärenzen suchen Dieses Beispiel verdeutlicht, dass selbst in kurzen Texten durchaus mit mehreren Inkohäsionen und Inkohärenzen zu rechnen ist. Ein Grund hierfür ist, dass Texte möglicherweise eine längere Vorgeschichte, d.h. mehrere redaktionelle Überarbeitungsstufen, durchlaufen haben. Um die gesamte Vorgeschichte in den Blick zu bekommen, ist in einem zweiten Schritt nach den Ursachen und Motiven zu fragen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Überarbeitung geführt haben könnten und die eine beobachtete Inkohäsion oder Inkohärenz erklären können. Welche persönlichen, sachlichen oder kommunikativen Gründe stecken hinter einer Überarbeitung und damit indirekt hinter einem in Schritt 1 beobachteten Bruch? Da es sich bei der Suche nach Motiven eigentlich um eine Frage der Redaktionsanalyse handelt, d.h. die Vorgeschichte eines Textes letztlich die Geschichte einzelner Redaktionsprozesse darstellt, gehen wir hierauf erst im folgenden Kapitel ausführlich ein (→ 6.2.3). Hier und jetzt soll hingegen einem anderen Aspekt Rechnung getragen werden: Während wir es bei der Redaktionsanalyse ausschließlich mit bewussten Motiven zu tun haben, d.h. mit beabsichtigten Textänderungen, ist bei der Analyse der Vorgeschichte mit bewussten und unbewussten Ursachen zu rechnen. Es lassen sich folgende Ursachen unterscheiden: ■





Textproduktionsbezogene Fehler, die sich unbewusst in einen Text einschleichen und die für die spätere Text-Erklärung meistens keine Relevanz besitzen. Hierzu könnte in unserem Beispiel die beobachtete Doppelung in Mk 2,19b.c gehören. Inkohäsionen und Inkohärenzen, die von einem Redaktor in Kauf genommen wurden, z.B. aus Respekt vor der Tradition, und die für die spätere Texterklärung nur selten relevant sind, z.B. der beobachtete Bruch in der Zeitdarstellung in Mk 2,20d. Inkohäsionen und Inkohärenzen, die im Verlauf der Textgenese bewusst inszeniert wurden und die für die spätere Texterklärung nur dann wichtig sind, wenn sie von dem Endredaktor und den intendierten Rezipienten bemerkt werden konnten, z.B. der beobachtete Bruch in der Bildwelt (Mk 2,20b).

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

Von textproduktionsbezogenen Fehlern kann gesprochen werden, wenn sich die Brüche innerhalb eines Textes auf einen unpräzisen Sprachgebrauch oder editorische Unachtsamkeiten zurückführen lassen. Tattextproduktions- sächlich schleichen sich in alltäglichen Schreibprozessen, bezogene Fehler aber auch in reflektierten Schreibvorgängen fast immer diverse Produktionsfehler ein, die von den Autorinnen und Autoren schlichtweg nicht bemerkt werden. Von: [email protected] An: [email protected] Betreff: Re:Geburtstagsgrüße

Liebe Luise, lieber Martin, über eure Grüße zu meinem Geburtstag habe ich mich sehr gefreut. Wir haben an dem Tag einen sehr schönen Ausflug an den Bodensee gemacht und es uns rundum gut gehen lassen. Es wäre schön, wenn wir beide nächste Woche wieder mal wieder gemeinsam shoppen gehen könnten. Bist Du dabei, Lieschen? Es grüßen euch herzlich Waltraud und Siegfried Aufgaben: 1. Welche Brüche stellen Sie in dieser Mail fest? 2. Erklären Sie, warum sich aufgrund solcher und ähnlicher Alltagsbeispiele eine gewisse Vorsicht beim Umgang mit literarischen Inkohäsionen und Inkohärenzen nahelegt!

Wenngleich das Auftauchen textproduktionsbezogener Fehler kaum eine Relevanz für die Texterklärung besitzt, ist das Aufspüren solcher Fehler keineswegs unwichtig. Auch Brüche, die nicht auf eine bewusste Motivation des Autors zurückzuführen sind, können zur umfassenden Erschließung eines Textes beitragen und bleiben in jedem Fall erklärungsbedürftig. K. Semsch, Art. Produktionsästhetik, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 140–154.

5.2.3 Schritt 3: Stemma der Vorgeschichte erstellen und problematisieren Sind die Ursachen und Motive für eine Textänderung und damit für die in Schritt 1 beobachteten Inkohäsionen und Inkohärenzen benannt, so kann versucht werden, den Text in mehrere Bearbeitungsstufen zu unterteilen. Hierbei ist einerseits darauf zu achten, ob sich im Text wiederkehrende redaktionelle Motive erkennen lassen. Denkbar ist z.B., dass dieselbe oder eine ähnliche Erläuterung mehrmals eingefügt wird oder eine Aussage des Textes durch mehrere Maßnahmen hervorgehoben wird. Textstellen, die auf eine

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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gleiche Bearbeitungsabsicht zurückzuführen sind, werden gruppiert und nach Möglichkeit in eine relative Chronologie gebracht. Welche Bearbeitung ist zwangsläufig zuerst erfolgt? Welcher Texteingriff ergibt sich erst aus einem vorherigen? Daneben kann der Versuch unternommen werden, die Ursachen und Motive für eine Textänderung auf eine historische Situation bzw. eine mögliche Gemeindesituation zurückzuführen. Bei dieser hypothetischen Re-konstruktion ist es unseres Erachtens aber auch wichtig, alle Unwägbarkeiten und spekulativen Elemente zu benennen. Meistens lassen sich die unterschiedlichen Bearbeitungsstufen nämlich nicht klar differenzieren und auch nicht in eine eindeutige Abfolge überführen. Beschreiben Sie daher möglichst präzise, welche Textpassagen sich zeitlich nicht klar verorten lassen, wo notwendige historische Kenntnisse fehlen und welche Alternativen denkbar sind bzw. in der Forschungsliteratur diskutiert wurden. Demo: Analyse der Vorgeschichte von Mk 2,19f.8 In dem kurzen Textabschnitt Mk 2,19–20 lassen sich insgesamt vier Brüche feststellen, die möglicherweise auf die Bearbeitung und Zusammenfügung ursprünglich separater Prätexte hinweisen könnten. In V. 19b und 19c liegt eine Doppelung vor. Durch die Erwähnung der Hochzeitsgäste (οἱ υἱοὶ τοῦ νυμφῶνος) wird bereits die Anwesenheit eines Bräutigams vorausgesetzt. Nichtsdestotrotz wird in V. 19c noch einmal explizit auf den Bräutigam hingewiesen (ἐν ᾧ ὁ νυμφίος μετ᾿ αὐτῶν ἐστιν). Eine nahezu wörtliche Wiederholung findet sich in V. 19b–c und 19d–e: Die (rhetorische) Frage „Können die Söhne des Brautgemachs fasten?“ wird mit nahezu denselben Worten beantwortet: τὸν νυμφίον μετ᾿ αὐτῶν οὐ δύνανται νηστεύειν. Außerdem findet sich in V. 20a und 20d ein Bruch in der Zeitdarstellung (Wechsel von Tagen im Plural/Tag im Singular) und V. 20b stellt einen Bruch gegenüber dem Vorwissen der Rezipienten dar: Das Entrissenwerden eines Bräutigams dürfte kaum dem Ablauf einer antiken Hochzeitsfeier entsprochen haben. Da ich das Entreißen des Bräutigams für eine bewusste Inszenierung halte, die der Redaktor des Markusevangeliums einsetzt, um – wie an anderer Stelle auch – auf den Kreuzestod Jesu vorauszuweisen, werde ich hierauf erst im folgenden Kapitel (→ Redaktionsanalyse) eingehen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf das Sprichwort in V. 19b–c, das bereits von Bultmann an den Anfang des Überlieferungsprozesses platziert und von ihm als selbständiges „Logion“ verstanden wurde.9 Ein solches Sprichwort könnte zur Zeit Jesu oder auch davor in Umlauf gewesen sein10 und bringt zunächst ganz allgemein die Freude an einer Hochzeit zum Ausdruck. „Wer eine Hochzeit feiert, der fastet nicht! Wer eine Hochzeit feiert, der isst und trinkt!“ Ein solches

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Vgl. ausführlicher zu diesem Beispieltext: Ebner/Heininger* 307–312. Vgl. R. Bultmann, Geschichte, 17f. 10 Freilich bleibt die Behauptung eines solches Sprichwortes letztlich hypothetisch, weil es hierfür keinen eindeutigen Beleg gibt. 9

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5. Textentstehung II – Analyse der Vorgeschichte

Sprichwort ließ sich problemlos auf die Freude der messianischen Heilszeit übertragen. 11 Ob Jesus selbst dieses Sprichwort in seiner Auseinandersetzung mit Schriftgelehrten aufgegriffen hat (so z.B. Gnilka 12) oder ob es einen anderen Ursprung hat, lässt sich allerdings kaum mit ausreichender Sicherheit entscheiden. Umstritten ist auch, ob das Sprichwort bereits seinem Ursprung nach die beobachtete Doppelung enthalten hat – diese ließe sich dann am ehesten als ein produktionsbezogener Fehler begreifen – oder ob sich die Worte ἐν ᾧ ὁ νυμφίος μετ᾿ αὐτῶν ἐστιν stattdessen einem späteren redaktionellen Interesse verdanken. So wie durch V. 19d–e die Anwesenheit des Bräutigams betont wird, könnte auch hinter V. 19c das Anliegen stehen, das Augenmerk der Rezipienten auf die Person des Bräutigams und damit indirekt auf die Person Jesu zu lenken. Ein entsprechendes Anliegen lässt sich für die Endredaktion des Textes vermuten: Im Kontext des Evangeliums (vgl. 2,18) sollte plausibel gemacht werden, warum die Jünger Jesu im Unterschied zu den Jüngern des Johannes und den Jüngern der Pharisäer nicht fasten. Sie waren von einer präsentischen Endzeithoffnung bestimmt, die sich an der Person Jesu und seiner Gegenwart festmachte.

5.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Nennen Sie mindestens zwei Gründe, die neutestamentliche Autoren dazu veranlasst haben, ältere Traditionen und Texte aufzunehmen. 2. Nennen Sie drei neutestamentliche Textbeispiele, wo explizit auf Prätexte verwiesen wird. 3. Geben Sie wieder, was man unter Kompilation und Fortschreibung versteht. 4. Erklären Sie, was man unter einem produktionsbezogenen Fehler versteht. 5. Warum kann die Analyse der Vorgeschichte immer nur unter Vorbehalt geschehen und besitzt zumeist einen hypothetischen Charakter?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ Inkohärenzen und Inkohäsionen in einem neutestamentlichen Text aufspüren, ■ zwischen unbewussten Ursachen und bewussten Motiven differenzieren ■ und ein literarkritisches bzw. überlieferungsgeschichtliches Stemma nachvollziehen und es kritisch überprüfen. Sie kennen jetzt … ■ verschiedene Bezeichnungen für Prätext-Posttext-Beziehungen, ■ verschiedene Arten von Textänderungen ■ sowie Grundprobleme der Literarkritik und Überlieferungsgeschichte.

11 Auch an anderer Stelle wird die Metapher der Hochzeit auf die Heilszeit bezogen, vgl. Apk 21,2.9 und die Belege aus dem rabbinischen Judentum in Bill. I,517f. 12 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Zürich/Einsiedeln/Köln 1978, 114: „Das Bildwort selbst paßt völlig zur Situation Jesu und ist jesuanisch.“

Auf welchen Quellen basiert der Text?

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Notieren Sie in Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Analyse der Vorgeschichte erkennen und wo sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Die Möglichkeiten einer literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Analyse werden in der heutigen Exegese weitaus kritischer beurteilt als noch vor einigen Jahrzehnten. Diskutieren Sie miteinander, was die Analyse der Vorgeschichte im Blick auf biblische Texte leisten kann und wie Sie mit dem Problem des Hypothetischen und Spekulativen umgehen wollen.

5.4 Literatur 5.4.1 Exegetische Methodenlehren a) Literarkritik/Synoptischer Vergleich (schriftliche Prätexte): Adam* 41–48, Alkier* 119–129, Becker* 38–62, Bussmann/Sluis* 23–35, Conzelmann/Lindemann* 64–81.126–130, Dreytza/Hilbrands* 107–115, Ebner/Heininger* 157–178, Egger/Wick* 226–237, Erlemann/ Wagner* 98–107, Fenske* 82–89, Fohrer/Hoffmann* 45–58, Haacker* 40–47, Kreuzer/Vieweger* 56–66, Lührmann* 40–48, Meiser/Kühneweg* 51–66, Meurer* 54–71, Neudorfer/Schnabel* 245–277, Schnelle* 64–99, Söding* 190–207 (mit Überlieferungskritik), Steck* 46–62, Utzschneider/Nitsche* 213–285 (mit Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte), Zimmermann* 77–124. b) Überlieferungskritik (mündliche Prätexte): Adam* 63–70, Becker* 63–76, Dreytza/ Hilbrands* 138–141, Ebner/Heininger* 131–155*, Egger/Wick* 238–254, Fenske* 104–108, Fohrer/Hoffmann* 119–138, Kreuzer/Vieweger* 80–87, Schnelle* 130–133, Steck* 63–75.

5.4.2 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Bultmann, R., Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 101995. Bultmann, R., Hirschs Auslegung des Johannes-Evangeliums, EvTh 4 (1937), 115-142, bes. 119. (sog. „Umstellungshypothese“ zu Joh 4–7) Foster, P./Gregory, A./Kloppenborg, J.S./Verheyden, J. (Hgg.), New Studies in the Synoptic Problem, BEThL 239, Leuven 2011. Schmithals, W., Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe, ZNW 87 (1996), 51–82.

6 Textentstehung III – Redaktionsanalyse: Der Umgang eines Autors mit seinen Quellen Leitbegriffe Redaktionsgeschichte/Redaktionsanalyse, Synopse, Schreibprozessforschung, Kausalattribution, Vorzugsvokabular

6.1 Einführung Wenn man – mehr oder weniger sicher – herausgefunden hat, welche schriftlichen und mündlichen Prätexte einem Text zugrunde liegen (→ Kap. 5), kann anschließend untersucht werden, wie ein Autor mit diesen Prätexten umgegangen ist: Wie hat der Autor die Quellen in seinen eigenen Text eingefügt? Wie hat er sie überarbeitet? In der biblischen Exegese wurde für dieses Frageinteresse der Begriff „Redaktionsgeschichte“1 geprägt. Der entsprechende Methodenschritt wird hier „Redaktionsanalyse“2 genannt. Hierbei werden die biblischen Autoren als „Redakteure“ von Quellen wahrgenommen, denn sie haben die ihnen verfügbaren Quellen nicht bloß zufällig aneinandergereiht, sondern diese ausgewählt, neu sortiert sowie stilistisch und inhaltlich bearbeitet. Jenseits der Theologie hat man für die Frage nach dem Quellenumgang bisher keine feste Bezeichnung gefunden, auch wenn in vielen anderen kulturwissenschaftlichen Fächern natürlich ebenfalls Texte und Textvorlagen untersucht werden.3 Für die redaktionelle Bearbeitung von Texten gibt es in heutiger Zeit zahlreiche Alltagsbeispiele: ■



Der Begriff „Redaktionsgeschichte“ erinnert natürlich zuerst an die journalistische Redaktion, bei der Redakteure einer Webseite, eines Fernseh- oder Radiosenders oder auch einer herkömmlichen Zeitung Informationen zur Veröffentlichung aufbereiten. Eine häufige Quelle für Informationen sind im journalistischen Bereich Agenturmeldungen der Deutschen Presse-Agentur, die am Ende eines Artikels mit „(dpa)“ nachgewiesen werden. Beim Online-Lexikon Wikipedia kann man sich zu jedem Artikel die sog. Versionsgeschichte anschauen. Diese zeigt, welcher Autor wann was am Artikel verändert hat.

1 Der Begriff wurde 1956 von dem Neutestamentler Willi Marxsen eingeführt. Einen Überblick über die frühen Studien gibt Lührmann* 94–98. 2 Wir folgen dem terminologischen Vorschlag von Söding* 209. Andere nennen den eigentlichen Methodenschritt „Redaktionskritik“, z.B. Ebner/Heininger* 354. 3 Spätere Textbearbeitungen durch den Autor und durch andere Redaktoren werden beispielsweise in der Editionswissenschaft thematisiert; die Quellen- und Einflussforschung behandelt auch die Motive für die Bearbeitung der Quellen; zum Vorgang des Schreibens gibt es empirische und didaktische Studien zur Textproduktion, zur Schreibprozessforschung und Textrevisionsforschung. Vgl. die Literaturangaben am Ende dieses Kapitels.

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?



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Außerdem können jeweils zwei Versionen in einer Zusammenschau verglichen werden. Eine solche Offenlegung sämtlicher Bearbeitungen ist interessant, weil hier detailliert nachgeprüft werden kann, welche persönlichen oder thematischen Interessen die einzelnen Benutzer haben und welche Tendenzen sie bei der Bearbeitung einbringen. Die wissenschaftlichen Hausarbeiten, die Sie im Studium verfassen, zeichnen sich ebenfalls durch Redaktionsprozesse aus. Sie übernehmen hierin Zitate anderer und verweisen auf Forschungspositionen. Zudem überarbeiten Sie ihr Dokument mehrmals, indem Sie Passagen umformulieren, umstellen, herauskürzen oder korrigieren.

Wenden wir uns von diesen heutigen Beispielen den neutestamentlichen Texten zu, so muss sicherlich zunächst konstatiert werden, dass die redaktionelle Arbeit im 1. Jhdt. – schon rein technisch betrachtet – mit keinem der gerade beschriebenen Redaktionsprozesse vergleichbar ist. Trotzdem lassen sich durchaus interessante Parallelen erkennen: Auch neutestamentliche Texte greifen ganz offensichtlich ältere Traditionen auf. Und wie bei Wikipedia lohnt sich eine Zusammenschau (griech.: „Synopsis“) neutestamentlicher Texte, v.a. der ersten drei Evangelien, die über einen gemeinsamen Kernbestand an Textmaterial verfügen. Letztlich haben auch neutestamentliche Texte häufig mehrere Redaktionsprozesse durchlaufen, was sich z.B. an bestimmten Spracheigentümlichkeiten der jeweiligen Bearbeiter erkennen lässt. Nichtsdestotrotz konzentriert sich die Exegese in der Regel auf den kanonischen ursprachlichen Text4 und damit auf die vermeintlich letzte Redaktionsstufe. Definition: Was ist Redaktionsanalyse? Die Redaktionsanalyse erfasst – für jeweils eine Bearbeitungsstufe –, wie ein jeweiliger Textproduzent mit seinen schriftlichen oder mündlichen Prätexten umgeht. In der Bibelwissenschaft konzentriert man sich häufig auf die letzte Redaktionsstufe, d.h. auf den Autor des kanonisch gewordenen Textes.

Exkurs: Das Ende der „Redaktionsgeschichte“ Wenn Sie vergleichend in andere exegetische Methodenbücher schauen, wird Ihnen die vorliegende Fragestellung dort eher unter dem Stichwort „Redaktionsgeschichte“ begegnen. Der redaktionsgeschichtliche Ansatz in der deutschen Nachkriegszeit zeichnete sich durch einen hohen Innovationsgrad aus, weil sich mit ihm die Exegese erstmals wieder dem biblischen „Endtext“ und der theologischen Aussageabsicht der Evangelisten zuwandte. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, im Kontext der „Formgeschichte“, dachte man hingegen, die Arbeit der ersten drei Evangelisten

4

Der Übergang zur Textkritik und zur Wirkungsgeschichte ist manchmal fließend, da sich auch in der handschriftlichen Überlieferung oder bei Übersetzungen größere Überarbeitungen zeigen können. Ausführlicher dazu Becker* 18–20.

70

6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

hätte sich darauf beschränkt, die Einzelstücke einfach aneinanderzufügen. Rudolf Bultmann hat es noch vermieden, eine „Theologie des Markus“ zu formulieren. 5 Im Laufe der Zeit stellte man aber fest, dass die Evangelisten ihren Text bewusst komponiert haben und dass viele der Änderungen einem theologischen Gestaltungsinteresse entsprachen. In den 1950-er Jahren war dies für die Bibelexegese eine neue Erkenntnis. Nicht nur Paulus und Johannes, sondern auch die Autoren der ersten drei Evangelien werden daher seitdem als eigenständige Theologen angesehen, die ihre Darstellung der Jesusgeschichte bewusst konzipiert haben. Allerdings ist der bisherige redaktionsgeschichtliche Ansatz in vielerlei Hinsicht problematisch. Daher ist es notwendig, die „Redaktionsgeschichte“ grundlegend neu zu konzipieren, wie es in dieser Methodeneinführung geschieht. Bei der klassischen Redaktionsgeschichte lassen sich folgende Probleme festhalten: ■







5 6

1) Der Begriff „Redaktionsgeschichte“ ist unpräzise: Den entsprechenden Forschungsgegenstand der Exegese, nämlich die Frage nach dem Umgang des Autors mit den Quellen, sollte man präziser als Redaktionsanalyse bezeichnen. Eine Redaktionsgeschichte, also ein Nachzeichnen mehrerer Stufen einer Textentstehung, steht nur selten im Mittelpunkt des Interesses und überschneidet sich mit der Literar- und Überlieferungskritik (→ Kap. 5: Analyse der Vorgeschichte). 2) Der Gegenstandsbereich der Redaktionsgeschichte ist nicht klar umrissen: Die bisherige Redaktionsgeschichte in der Exegese ist faktisch ein „Gemischtwarenladen“. Denn man verbindet mit dem Methodenschritt „Redaktionsgeschichte“ teilweise auch Aufgaben der Gliederungsanalyse (→ Kap. 8: Textstruktur II), die Erhellung der Textbedeutung (→ Kap. 9–11: Texterklärung) und die Frage nach der Theologie des Autors (→ Kap. 13b: Themen des Textes). Ebenso gehe es bei der Redaktionsgeschichte um die Intentionen des jeweiligen Autors (→ Kap. 12: Textnachwirkung) sowie um eine „zeit- und theologiegeschichtliche Einordnung“ des Textes (→ Kap. 4: Entstehungskontext). 6 Diese Fragestellungen sind der Redaktionsgeschichte implizit – doch ohne eigene Methodik – zugeschrieben worden, weil sie im (klassischen) historisch-kritischen Methodenkanon nicht vorkommen. Doch diese Fragestellungen sind jeweils etwas für sich und werden deswegen im vorliegenden Buch auch eigenen Methodenschritten zugeordnet. 3) Die Arbeitsgrundlage der Redaktionsgeschichte ist oft hypothetisch: Sie muss bei den neutestamentlichen Texten auf eher unsichere Entstehungstheorien zurückgreifen. So ist selbst die Zweiquellentheorie wahrscheinlich zu unterkomplex und andere Textvorlagen müssen erst literarkritisch rekonstruiert werden. Dementsprechend haben auch die Ergebnisse zu den beobachteten Textänderungen (Schritte 1 und 2) – wahrscheinlichkeitstheoretisch gesehen – nur eine bedingte Wahrscheinlichkeit. 4) Die Methodik der Redaktionsgeschichte ist, was die Suche nach Ursachen für die Textbearbeitung angeht (vgl. 6.2.3), noch nicht ausreichend reflektiert und präzisiert. Man schreibt dem Redaktor aus der eigenen Alltagspsychologie heraus Bearbeitungsmotive zu. Außerdem besteht die Gefahr, dass einzelne – z.T. vielleicht lediglich auf das Sprachempfinden des jeweiligen Redaktors zurückzuführende – Texteingriffe überinterpretiert werden.

Vgl. Conzelmann/Lindemann* 115f. So z.B. Becker* 77.

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen? ■



71

5) Die Notwendigkeit der Redaktionsgeschichte für die Interpretation wird überschätzt. Die Redaktionsgeschichte ist in der Regel nicht notwendig für die Kompositionsanalyse, die Textinterpretation und die Beschreibung der Theologie des Autors. Nur dort, wo die Prätexte von intendierten Rezipienten erkannt werden sollen, ist die Redaktion für die Textinterpretation relevant; hier allerdings bietet die Redaktionsgeschichte keine Methodik (vgl. 10.2.2). Die vielfach beschworene zusätzliche „Tiefenschärfe“ der Redaktionsgeschichte besteht darin, dass man über die beobachtete Redaktion (hypothetisch) auf die Kommunikationssituation und die Charakterzüge, Meinungen und Gefühle des historischen Autors schließen kann.7 In der Auslegungspraxis ist diese zusätzliche Tiefenschärfe jedoch nur selten relevant, da diese Aspekte oft genauso am Endtext wahrnehmbar sind. 6) Die Ergebnisse der Redaktionsgeschichte sind nicht selten reduktionistisch. Die Theologie eines neutestamentlichen Autors ergibt sich nicht allein aus den einzelnen Hinzufügungen und Textänderungen. Es muss auch das einbezogen werden, was ein Redaktor von seinen Quellen übernommen hat.

Aus all diesen Kritikpunkten folgt: Die Zeit der großen redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen am Neuen Testament ist heute zu Ende. Die meisten redaktionsgeschichtlichen Arbeiten zum Neuen Testament stammen aus den 1960-er bis 1980-er Jahren. Vor allem aufgrund der Kritikpunkte 2, 3, 5 und 6 wurde in der neutestamentlichen Exegese die ursprüngliche Redaktionsgeschichte verdrängt und durch „synchrone“, d.h. den Gesamttext betrachtende, Fragen nach der Komposition, nach der Theologie des Autors, nach der Textbedeutung oder Textintention ersetzt.8

6.2 Methode Hinweis: Die Redaktionsanalyse setzt voraus, dass die vom Autor verwendeten Quellen bekannt sind oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zuvor rekonstruiert werden konnten (→ Kap. 5).

Methode der Redaktionsanalyse 1. Den zu untersuchenden Text(abschnitt) mit den Prätexten vergleichen und alle (gravierenden) redaktionellen Änderungen auflisten. 2. Die Art der Textänderungen benennen und anhand passender Kriterien sortieren (Tab. 6.1: mögliche Textänderungen). 3. Nach Ursachen für die Textänderungen suchen (Liste: Motive für Textänderungen).

7

Vgl. Finnern* 455 mit Anm. 34. In der Forschung zum Alten Testament spielt die Redaktionsanalyse weiterhin eine Rolle, ist aber ähnlichen Anfragen ausgesetzt.

8

72

6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

6.2.1 Schritt 1: Vergleich zwischen Prätexten und Posttext Den Vergleich zweier Texte kann man auf unterschiedliche Weise grafisch umsetzen. Am ehesten bietet es sich allerdings an, Prätext und Posttext in einer „Synopse“ zu vergleichen. Zu den neutestamentlichen Textvergleich Evangelien sind solche Synopsen in Buchform vorhanden durch „Synopse“ (Literaturliste, → 6.4.2). Die zusammenfassende Bezeichnung des Markus-, Lukas- und Matthäusevangeliums als synoptische Evangelien leitet sich von der Möglichkeit einer solchen Zusammenschau ab. Um Texte zu vergleichen, können Unterschiede und/oder Übereinstimmungen im Prä- oder Posttext farbig markiert werden; man kann sich ebenso auch Zeichensysteme ausdenken. Ein Beispiel hierfür wären die textkritischen Zeichen im NTG28. Standardisierte Verfahren für den Textvergleich gibt es bisher nicht. Für den Vergleich von drei parallelen Evangelientexten haben Ebner/Heininger* (134–145) eine bestimmte Farbcodierung vorgeschlagen. Beim Vergleich von nur zwei Texten (Posttext und Prätext) ist es etwas einfacher: Man kann sich entweder auf die (wenigen) Übereinstimmungen oder eher auf die (wenigen) Unterschiede konzentrieren. Unterschiede können zum Beispiel folgendermaßen codiert werden: Textsubstanz: Textinhalt: Textreihenfolge:

a) Ergänzung b) Auslassung a) Ersetzung b) grammatische Änderung a) Umstellung

rot markieren (im Posttext) orange markieren (im Prätext) lila markieren (oder fett) grün markieren (oder kursiv) unterstreichen

Beispiel: Textvergleich von Markus 2,17 und Lukas 5,31f. Prätext: Mk 2,17

Posttext: Lk 5,31f.

καὶ ἀκούσας

καὶ ἀποκριθεὶς

ὁ Ἰησοῦς

ὁ Ἰησοῦς

λέγει αὐτοῖς ὅτι

εἶπεν πρὸς αὐτούς·

οὐ χρείαν ἔχουσιν

οὐ χρείαν ἔχουσιν

οἱ ἰσχύοντες ἰατροῦ

οἱ ὑγιαίνοντες ἰατροῦ

ἀλλ᾿ οἱ κακῶς ἔχοντες·

ἀλλ᾿ οἱ κακῶς ἔχοντες·

οὐκ ῇλθον καλέσαι

οὐκ ἐλήλυθα καλέσαι

δικαίους

δικαίους

ἀλλὰ ἁμαρτωλούς.

ἀλλὰ ἁμαρτωλοὺς εἰς μετάνοιαν.

wichtige Änderungen Ersetzung: ἀκούσας grammatische Änderung: Praes. hist. → Aor. Ersetzung: „Starke“ → „Gesunde“ grammatische Änderung: Aor. → Perf. Ergänzung: „zur Umkehr“

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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Aufgabe: Führen Sie nun einen synoptischen Textvergleich zwischen Markus 2,17 und dem Posttext des Matthäusevangeliums durch. Kopieren Sie dazu die Textstelle aus einer wissenschaftlichen Synopse (→ Literatur) und markieren Sie die Unterschiede zwischen Markus und Matthäus.

Literatur: K. Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 15. Aufl. 1996 (griechischer Urtext; für die wissenschaftliche Arbeit zu verwenden); für das schnelle Nachschlagen auf Deutsch: C.H. Peisker, Luther Evangelien-Synopse, Stuttgart 2007.

6.2.2 Schritt 2: Die Art der Textänderungen benennen Um die redaktionellen Textänderungen differenzierter und einheitlicher benennen zu können, ist es hilfreich, sich die verschiedenen Möglichkeiten der Textbearbeitung vor Augen zu führen.9 Die folgende Liste bietet einen Überblick. Änderungen bei der …

Liste möglicher Textänderungen 1. Weglassung in toto

semantische Achse Vergehen

A. Textauswahl 2. Neuschreibung ex nihilo 3. Auslassung

Werden kürzer

4. Kürzung B. Textlänge

(Isometrie) 5. Ergänzung/Einfügung 6. Ausschmückung 7. Umstellung eines Wortes

länger kleinere Änderung

8. Umstellung eines Ausdrucks C. Textreihenfolge

9. Umstellung eines Quellenstücks 10. Umstellung mehrerer Wörter/ Ausdrücke/Quellenstücke 11. (Neu-)Komposition

D. Textgestalt

12. Stilistische Veränderung 13. Syntaktische Veränderung

9

größere Änderung Stilistik und Grammatik

Andere Listen finden Sie z.B. bei Zimmermann* 228–238; Söding* 212–215 oder in der Textrevisionsforschung (vgl. Chanquoy, Revision Processes, 87 zum Modell von Faigley/Witte).

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse 14. Näherbestimmung/Erläuterung

E. Textbedeutung

F. Textwirkung

geringe Änderung

15. Verallgemeinerung 16. Transponierung/Relecture 17. Bedeutungsersetzung

größere Änderung

18. (Ent-)Dramatisierung

kurzfristige Wirkung

19. Applizierung/Fortschreibung

langfristige Wirkung

Tab. 6.1: Arten von Textänderungen

Auch die redaktionelle Arbeit biblischer Autoren ist sehr vielfältig. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Rahmung10 der aufgenommenen Quellen, sondern sie umfasst bereits die Auswahl der verwendeten ÜberAuswahl, lieferungen (A), die kompositorische Anordnung des MateriAnordnung, als (C.11) und deren Bearbeitung hinsichtlich Länge, Form, Bearbeitung Inhalt und Wirkung (B–F).11 Hinweis: Diese Begriffe sind analytisch gemeint. Es können natürlich bei ein und derselben Textänderung gleichzeitig Textlänge, Textreihenfolge, Textstruktur und Textbedeutung betroffen sein.

Diese Arten von möglichen Textänderungen sollen anhand von Beispielen aus dem Neuen Testament kurz erläutert werden: A. Änderungen der Textauswahl 1. Weglassung in toto/2. Neuschreibung ex nihilo Ein Autor kann bestimmte (wichtige) Prätexte oder größere Teile davon ganz weglassen; andererseits kann er einen Text(teil) auch ganz ohne Prätexte verfassen. Ein Beispiel für eine größere Weglassung ist die „lukanische Lücke“: Lukas hat Mk 6,45–8,26 nicht aufgenommen, obwohl er den Text gekannt haben dürfte.12 B. Änderungen der Textlänge 3. Auslassung/4. Kürzung Dort, wo Autoren die Darstellung ihrer Vorlage zu ausführlich erscheint oder die Erwähnung eines Begriffs bzw. einer Passage in der eigenen Schilderung 10 Vgl. K.L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Berlin 1919. 11 Vgl. die Schritte der Redaktion bei Ebner/Heininger* 350–354: sammeln – auswählen – überarbeiten – anordnen – erzählerisch profilieren. 12 Anders Schnelle, Einleitung*, 193, der meint, der Autor des Lukasevangeliums hätte eine Überarbeitung des MkEv vorliegen gehabt (DtrMk), in dem dieser Text fehlte. Das MtEv hat diesen Abschnitt allerdings aufgenommen; insofern kann dessen Autor dann nicht die lukanische Fassung von DtrMk verwendet haben.

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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überflüssig oder sperrig ist, kann die Quelle gekürzt werden. Auch der Autor des Matthäusevangeliums nimmt in den erzählenden Teilen des Markusevangeliums einige Kürzungen vor (vgl. Mk 5,1–20/Mt 8,28–34; Mk 2,1–12/Mt 9,1–8). 5. Ergänzung/6. Ausschmückung Ergänzungen und Ausschmückungen werden dort vorgenommen, wo den Autoren entweder eine weitere Tradition bekannt ist, es die konkrete Kommunikationssituation der Gemeinde erforderlich macht oder die Vorlage (z.B. durch eine spärliche Schilderung, Leerstellen) Anregungen dazu gibt. Beispiel: Matthäus fügt dem Bericht über den Prozess Jesu (27,11–26) eine Überlieferung vom Traum der Frau des Pilatus (27,29) hinzu. Dieser Bericht lag ihm vermutlich in einer anderen, uns nicht bekannten Quelle vor. C. Änderungen der Textreihenfolge 7. Umstellung eines Wortes/8. Umstellung eines Ausdrucks Oft werden nur einzelne Wörter oder Ausdrücke innerhalb eines Satzes umgestellt. Zum Beispiel werden in der Jüngerliste des Matthäusevangelium (Mt 10,2–4) mehrere Jüngernamen gegenüber der markinischen Vorlage umgestellt. So wird „Jakobus, der Sohn des Zebedäus“ nicht unmittelbar nach Simon Petrus genannt, sondern erst nach Andreas, dem Bruder des Petrus. Auch die Nennung von Thomas und Matthäus wird umgestellt. 9. Umstellung eines Quellenstücks/10. Umstellung mehrerer Wörter/Ausdrücke In den neutestamentlichen Evangelien sind insbesondere kurze Textsequenzen, Logien und Aussprüche (=„Apophthegma“; gr. ἀπόφθεγμα) von ihrem ursprünglichen Kontext (bei Markus) gelöst und an anderer Stelle eingefügt worden, weil sie dort ebenfalls passend schienen. Zum Beispiel wird das Jesus-Logion „So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein“ von Matthäus und Lukas an sehr unterschiedliche Erzählungen und Gleichnisse angefügt (vgl. Mk 10,31/Mt 19,30; Lk 13,30; Mt 20,16). 11. (Neu-)Komposition Häufig werden Texte aus ihren Quellen auch ganz neu „komponiert“. Wenn ältere Traditionen in einer unabhängigen oder lockeren Zusammenstellung vorliegen, wie möglicherweise die Sprüche der Logienquelle „Q“, ist die (Neu-)Komposition eine wesentliche redaktionelle Tätigkeit. Solche Kompositionen können aus sehr unterschiedlichen Motiven erfolgen. Bei Matthäus und Lukas ist immer wieder eine sogenannte Stichwortkomposition zu beobachten, bei der Überlieferungen rund um ein Stichwort bzw. Thema gruppiert wurden. So hat Matthäus etwa das Vaterunser (Mt 6,5–13) innerhalb der Bergpredigt unter dem Stichwort „Beten“ eingefügt. Ein Vergleich mit Lk 11,1–4 verdeutlicht, dass diese Anordnung keineswegs selbstverständlich ist.

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

D. Änderungen der Textgestalt 12. Stilistische Veränderung/13. Syntaktische Veränderung Syntaktische und stilistische Veränderungen können in vielen Fällen auch eine Veränderung der Textbedeutung, der Textwirkung oder der Textstruktur mit sich bringen. So kann durch die Veränderung einer Verbform ein Eingriff in die Textbedeutung vorliegen. Ebenso kann durch die Verwendung rhetorischer Stilmittel ein Text in seiner ursprünglichen Struktur verändert werden. Oft lassen sich sogar gewisse Stileigentümlichkeiten des Autors feststellen. Diese können etwas über die Persönlichkeit bzw. das Selbstverständnis eines Autors verraten oder zumindest über das Bild, das sich die intendierten Rezipienten von ihm machen sollen. So wandelt der Evangelist Lukas das bei Markus beliebte praesens historicum häufig in Vergangenheitsformen um. Ebenso werden die zahlreichen Parataxen des Markusevangeliums von Lukas durch Hypotaxen oder partizipiale Konstruktionen ersetzt.13 Hierzu passt, dass sich Lukas auch sonst mehr als Historiograph14 und weniger als Erzähler versteht. Hinweis: Wenn in der älteren exegetischen Forschung häufig von einer „Verbesserung“ des Markusevangeliums durch Lukas gesprochen wird, so ist dies ein vorschnelles Urteil. Sprachlich einfachere Formen sagen für sich genommen noch nichts über den literarischen Wert eines Werkes aus. Ansonsten dürfte man z.B. auch Mark Twains Abenteuer des Huckleberry Finn oder Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz nicht zu den Klassikern der Weltliteratur zählen. Wissenschaftlich angemessener ist es, wenn die Beurteilung der literarischen Qualität in einem eigenen Methodenschritt erfolgt (→ Kap. 13c) und nicht en passant, wie es in der Exegese bisher häufig zu beobachten ist.

E. Änderungen der Textbedeutung 14. Näherbestimmung und Erläuterung Nicht selten nehmen Autoren Präzisierungen vor, wenn ihnen ein Ausdruck oder eine Schilderung in der Vorlage nicht verständlich bzw. im Hinblick auf ihre Rezipienten erklärungsbedürftig erscheint. Näherbestimmungen und Erläuterungen gehen dabei oft auch mit einer Änderung der Textlänge einher (hier: „Ergänzung“). Eine Näherbestimmung kann beispielsweise durch die Hinzufügung eines konkreten Namens erfolgen, eine Erläuterung durch ein alttestamentliches Erfüllungszitat. Ein Sonderfall der Erläuterung sind die sogenannten Erfüllungszitate. Durch sie wird das Geschilderte als Erfüllung einer alttestamentlichen Verheißung gedeutet. Sie finden sich bei Markus (Mk 14,49), Lukas (Lk 24,44) und Johannes (12,38; 15,25; 17,12; 19,24.36), sind aber besonders typisch für Matthäus (1,22f.; 2,5f.15.17f.23; 3,3; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f., 27,9f.).

13

Vgl. Zimmermann* 226. Vgl. dazu J. Schröter, Lukas als Historiograph, in: U. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, Berlin 2005, 237–262. 14

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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Beispiel: Der Ort der Berufung des Paulus Die Berufung des Paulus vor Damaskus kann als die entscheidende Wende im Leben und Denken des Apostels bezeichnet werden. Wenn Paulus auf dieses Ereignis der Berufung anspielt (Gal 1,12–16 [Röm 1,1]; 1 Kor 9,1f.; 15,8; 2 Kor 4,6; Phil 3,4b– 11), erwähnt er allerdings den Ort Damaskus nie explizit. Lediglich die kurze Angabe in Gal 1,17 lässt vermuten, dass die Berufung in Damaskus stattgefunden hat. Wesentlich eindeutiger ist die Darstellung bei Lukas: Der dritte Evangelist, der ein großes Interesse an der Berufung des Paulus hat und von diesem Ereignis gleich dreimal in der Apostelgeschichte erzählt (Apg 9,1–21; 22,6–21; 26,12–18), lokalisiert die Berufung auf dem „Weg nach Damaskus“. Der englische Exeget Mark Goodacre meint in einem seiner podcasts, dass Lukas das Ereignis bewusst auf dem Weg platziere und nicht in der Stadt. Der Weg habe bei Lukas eine symbolische Bedeutung. M. Goodacre, Paul’s Conversion on the Damascus Road, NT Pod 17 (18. Oktober 2009), http://podacre.blogspot.de/2009/10/nt-pod-17-pauls-conversion-on-damascus. html (abger. 9.4.2016)

15. Verallgemeinerung In den neutestamentlichen Evangelien finden sich auch Beispiele dafür, dass detaillierte Schilderungen zu Orten oder Personen verallgemeinert werden bzw. entfallen. Eine solche Textänderung kann dadurch motiviert sein, dass die Angaben für Autor und intendierte Rezipienten irrelevant waren. 16. Transponierung/Relecture Die Transponierung eines Bildes oder beschriebenen Vorgangs bzw. (allgemeiner formuliert) die Relecture eines Prätextes ist dort zu erwarten, wo sich durch eine neue (persönliche) Einsicht oder eine gewandelte Kommunikationssituation15 die ursprüngliche Darstellung als nicht mehr nachvollziehbar erweist (→ 6.2.3) oder neu erschließt. Zum Teil lassen sich Bilder und beschriebene Vorgänge durch kurze Ergänzungen uminterpretieren, zum Teil müssen Autoren stärker in die Textbedeutung eingreifen und den ursprünglichen Text grundlegend umgestalten. In Mt 7,24–27 und Lk 6,47–49 wird jeweils das Gleichnis vom Hausbau verwendet. Zwischen den beiden Berichten verändert sich aber die Bauweise und die Beschreibung des Unwetters. Während bei Matthäus das Haus jeweils 15

In der älteren Forschung wurden diese wechselnden Kommunikationssituationen mit dem Begriff „Sitz im Leben“ bezeichnet. Hierbei unterschied man zwischen einem ersten (Wirksamkeit Jesu), zweiten (Zeit der Traditionsbildung) und dritten (Gemeindesituation) Sitz im Leben. Diese sehr einfache zeitliche Darstellung erscheint aus drei Gründen problematisch: a) Es ließen sich weitere Zeitphasen ergänzen; so fehlt etwa die Zeit der Apostel, die zweifelsohne einen wichtigen Einfluss auf die Traditionsbildung genommen hat, b) Kommunikationssituationen wandeln sich nicht nur in einer zeitlicher Abfolge, sondern sind häufig „zeitgleich“ durch regionale Begebenheiten bedingt, c) die im Rahmen der formgeschichtlichen Analyse implizit erfolgende Analyse der historischen Bezüge bedarf einer stärkeren methodischen Reflexion. Sie sollte nicht „nebenbei“ erfolgen.

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

nur auf unterschiedlichem Untergrund (Fels/Sand) gebaut wird, schildert Lukas die Grundlegung des Hauses. Hier ist die Rede von einem Mann, „der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf Fels.“ Und während Matthäus von einem Wolkenbruch berichtet, schildert Lukas die Bedrohung durch ein aufkommendes Hochwasser. Offensichtlich hielt er es für angemessen, das Bild an die Baukenntnisse und das Bedrohungsszenario seiner Rezipienten anzupassen. Recht häufig findet sich in neutestamentlichen Texten auch eine Relecture alttestamentlicher Bekenntnisse. Dies ist etwa dort zu beobachten, wo vor dem Hintergrund der neuen Christuserkenntnis das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott Israels neu verstanden wird. So vermag Paulus die alttestamentliche Gottestitulatur ὁ κύριος uneingeschränkt auf Jesus Christus zu beziehen (1 Kor 4,5; 7,10.12; 9,14; 16,7; 2 Kor 10,8; 13,10; Phil 4,5; 1 Thess 3,12; 4,16) und kann in Anknüpfung an das Schema Jisrael (Dtn 6,4) „das Bekenntnis zu dem εἷς θεός bereits ‚binitarisch’ entfalten, indem er es auf ‚den einen Gott, den Vater’ und ‚den einen Herrn, Jesus Christus bezieht“16 (1 Kor 8,6). 17. Bedeutungsersetzung Bei der Bedeutungsersetzung wird ein Begriff, ein Ausdruck, ein Ortsname oder ein Personenname gegenüber dem Prätext ausgetauscht. So kommt es im Neuen Testament nicht selten vor, dass bei alttestamentlichen Zitaten Begriffe „getilgt“ und durch theologisch bedeutsamere ersetzt werden. Hierdurch werden Aussagen vom eigenen theologischen Standpunkt aus interpretiert und neu gewichtet oder Widersprüche in der eigenen Argumentation vermieden. Beispiel: Levi heißt jetzt Matthäus (Mt 9,9–13 par Mk 2,13–17) In Mt 9,9–13 wird die markinische Erzählung von der Berufung des Levi aufgegriffen. Wie in der Vorlage beruft Jesus einen Zöllner, kehrt bei ihm zum Essen ein und provoziert damit die Auseinandersetzung mit den Pharisäern. Vor allem die wörtlichen Überschneidungen der beiden Darstellungen lassen kaum einen Zweifel zu, dass es sich hier um ein und dieselbe Erzählung handelt. Allerdings heißt der Zöllner im MtEv nicht Levi, sondern Matthäus.

F. Textwirkung 18. (Ent-)Dramatisierung Redaktoren können ihre Texte dramatischer oder weniger dramatisch gestalten, um Empathie, Sympathie, Spannung, Immersion und Gefühle der Rezipienten zu verstärken oder auch abzuschwächen.

16

H.-J. Eckstein, So haben wir doch nur einen Herrn, in: Ders., Kyrios Jesus, NeukirchenVluyn 2010, 6.

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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19. Applizierung/Fortschreibung Eine Applizierung oder Fortschreibung liegt vor, wenn ein Redaktor die Quelle so umgestaltet, dass der Text stärker in die eigene Zeit hinein wirkt. D.h. es werden andere oder zusätzliche Applikationsmöglichkeiten (→ vgl. Kap. 12 zu intendierten Anwendungen, intendierten Überzeugungs-, Einstellungsund Verhaltensänderungen) geschaffen oder explizit gemacht. Ein Beispiel hierfür ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). 6.2.3 Schritt 3: Nach Ursachen für die Textänderungen suchen Textänderungen durch den Autor des Posttextes (hier: Redaktor) können aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus geschehen17 – abhängig von der Schreibkompetenz des jeweiligen Redaktors. Wenngleich man in Schritt 2 kaum umhin kommt, bereits erste Vermutungen zu formulieren, ist noch eine umfassendere Reflexion geboten. Bei diesem dritten Methodenschritt geht es – einfach gesagt – darum, dass man einem Redaktor Motive zuschreibt, die er wohl beim Schreibvorgang bzw. Revisionsvorgang hatte. In der Psychologie heißt diese Zuschreibung von Motiven „Kausalattribution“. Die Antwort auf die Frage: „Warum sagt jemand etwas so und nicht anders?“ ist ein sehr komplexes Feld. Die Lösung kann man nur vermuten, und in der Regel stammen die Vermutungen von Exegeten wohl aus ihrer „naiven“ Alltagspsychologie. Solange es keine wissenschaftliche Methode dazu gibt – diese erfordert noch sehr viel empirische Kommunikationsforschung –, muss man damit rechnen, dass jede/r Textausleger/in (häufig) zumindest leicht unterschiedliche Motive beim Redaktor vermutet. Die folgende Liste soll eine möglichst vollständige Übersicht über die Motive für Textänderungen geben. Sie wird gegliedert in 1. persönliche Motive, 2. sachliche Gründe und 3. kommunikative Ziele, wobei die drei Bereiche oft zusammenhängen: 1. Persönliche Motive a) Anpassung des Textes an den eigenen Stil und Sprachgebrauch aus reinem Sprachgefühl heraus, ohne „tiefere“ Intention; b) die Beurteilung des Inhalts betreffend: Veränderung im Sinne der eigenen Meinung/Theologie; Widerspruch gegenüber dem Text ausdrücken; 17 Die Frage nach Textänderungsmotiven hängt mit der Motivationspsychologie und Forschungen zur Schreibmotivation zusammen, z.B. J. Baurmann/A. Müller, Zum Schreiben motivieren – das Schreiben unterstützen, Praxis Deutsch Nr. 149 (1998), 16-22. Konkret zu Revisionsmotiven vgl. in der Textrevisionsforschung J.R. Hayes, What Triggers Revision?. Allerdings besteht hier noch großer Forschungsbedarf. Vgl. auch die bei J. Schröter, Apokryphe Evangelien und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, 38 aufgezählten Ziele: Harmonisierende Relecture, vertiefende Deutung, Uminterpretation und Konkurrenztext, Protestexegese, Unterhaltung: Humorisierung, Parodisierung sowie Mystifizierung durch Elemente des Phantastischen.

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

c) die neue Situation betreffend (Aktualisierung/Fortschreibung): d.h. Antworten auf aktuelle Themen oder Konflikte geben, die der Post-Autor als relevant empfindet. 2. Sachliche Gründe a) Korrektur von grammatischen/orthografischen Fehlern des Textes; b) Korrektur von objektiv vorhandenen inhaltlichen Fehlern des Textes; c) versehentlich entstandene Änderungen beim Reproduzieren des Prätextes: Erinnerungsfehler, Hörfehler, Lesefehler, Schreibfehler, allgemeine Konzentrationsfehler. 3. Kommunikative Ziele a) die Verständlichkeit betreffend (docere): z.B. Erklärung, Präzisierung, Strukturierung, Transponierung, Vereinheitlichung oder Vereinfachung des Textes; b) das Bedürfnis nach Unterhaltung betreffend (delectare): z.B. Dramatisierung, Humorisierung, Parodisierung, Mystifizierung, Erhöhung von Sympathie oder Immersion; c) die langfristige Wirkung betreffend: eine bestimmte Überzeugung oder Einstellung hervorrufen wollen (movere)18, was in dieser Form durch den Prätext nicht möglich wäre; z.B. legitimieren, kritisieren, trösten, Hoffnung wecken, überzeugen, warnen, Antipathie fördern, Normen etablieren, Orientierungswissen vermitteln.

Die meisten Arten der Textänderung (außer Nr. 14 bis 19) können durch jede Ursache hervorgerufen werden. Daher ist bei der Zuschreibung von Ursachen immer Vorsicht angebracht. Oftmals reicht es nicht aus, die Motive, Gründe und Ziele einer redaktionellen Bearbeitung allein aus dem unmittelbaren Textkontext heraus zu erheben. Vielfach lässt sich ein gewisser redaktioneller „Leitfaden“ erst bei einem Blick auf das Gesamtevangelium erkennen. Die Beantwortung der folgenden Fragen kann hier hilfreich sein: ■ ■ ■ ■

Fügt der Redaktor bestimmte grammatische, rhetorische oder stilistische Elemente ein, die typisch für ihn sind? Handelt es sich bei den eingefügten Wörtern um ein Vorzugsvokabular? Zeigt sich bei der Auswahl der Primärtexte ein durchgehendes Interesse an Themen, Textgattungen, etc.? Ordnet der Autor die Perikopen nach einem bestimmten inhaltlichen Gesichtspunkt oder einer anderen Systematik (z.B. geografischer Aufriss)?

Demo: Beschreibungen und Ursachen von Textänderungen in Lk 5,31f. (von Max Weber) In der nachfolgenden Redaktionsanalyse werde ich mich auf zwei Auffälligkeiten konzentrieren und diese exemplarisch analysieren. Dies ist zunächst eine Textänderung in Vers 31, in welcher Lukas den Begriff der „Starken“ durch „Gesunde“ ersetzt (1). Interessant ist dieser Eingriff, weil hier zu untersuchen ist, ob die Änderung aus rein stilistischen Motiven oder aber von biographischen Bezügen des Autors herrührt. Des Weiteren lege ich mein Augenmerk auf die Hinzufügung von εἰς μετάνοιαν, da Lukas diesen Begriff ohne (markinische) Vorlage in den Vers einfügt und somit einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt legt (2). 18

Vgl. hierzu ausführlich Finnern* 240–242.

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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(1) Lukas ersetzt in Vers 31 den Begriff οἱ ἰσχύοντες durch οἱ ὑγιαίνοντες. Er glättet den Vers stilistisch dahingehend, dass er die Thematik Krankheit und Kranksein und die aus diesem Grund benötigte Hilfe eines Arztes mit dem anzustrebenden Idealzustand des „Gesunden“ präzisiert. 19 Als Ursache für die Textänderung kann hier zunächst das sprachliche Empfinden von Lukas angenommen werden.20 Für eine solche bewusste, stilistisch bedingte Veränderung spricht, dass die Wortgruppe ἰσχυ- im Allgemeinen häufig von Lukas gebraucht wird (vgl. Lk 6,48; 8,43; 13,24 usw.). Außerdem steht hinter dem markinischen οἱ ἰσχύοντες eher die Bedeutung „vermögen, können“, erst im entfernteren Verständnis auch „gesund sein“. 21 Die Präzisierung des Begriffs scheint darüber hinaus zu zeigen, dass Lukas nicht den Starken oder Kräftigen als Gegenbild des Kranken sieht, sondern den körperlich Gesunden. Damit fügt sich das Bild besser in die Beschreibung Jesu als Arzt ein (vgl. Lk 4,23, ohne Parallelstelle) und in sein Handeln, Kranke zu Gesunden zu machen (vgl. Lk 7,2f.). Obige Begründung erweiternd, ist als Ursache für die Änderung des Textes eine altkirchliche Annahme aufzugreifen: Dieser folgend soll der Autor des Lukasevangeliums selbst Arzt gewesen sein. 22 Darin wäre schließlich auch ein persönlicher, biographischer Grund der Änderung durch Lukas anzunehmen (Schlussfolgerung auf die Identität des Autors).23 Diese Annahme erscheint jedoch nicht überzeugend: Zwar ist der Gebrauch von medizinischem Vokabular bei Lukas gegeben (Lk, 4,23; 4,38; 5,12; etc.), doch wurde in der Forschung hinreichend gezeigt, dass der verwendete Sprachstil einerseits auf eine gebildete Herkunft des Autors schließen lässt und Lukas andererseits seine Texte an die außerhalb des Neuen Testaments gebrauchte Sprache anpasst. 24 Dazu ist im vorliegenden Vers 31 das Bildwort des Arztes aus der markinischen Vorlage von Lukas übernommen worden und damit nicht als lukanische Besonderheit zu deuten. Zusammenfassend scheint die Änderung des Textes auf die sprachliche Intention und auf stilistische Gründe zurückführbar zu sein. (2) Eine weitere Veränderung ist im Hinzufügen des Ausdrucks εἰς μετάνοιαν zu erkennen. An dieser Stelle ergänzt und erläutert Lukas den markinischen Vers und präzisiert somit den Ausspruch Jesu.25 Nach seiner Darstellung ist Jesus nicht gekommen, um die Gerechten und Sünder gleichermaßen zu rufen, sondern in seinem Rufen 19

Vgl. Nr. 12 (Stilistische Veränderung), 14 (Näherbestimmung) und 17 (Bedeutungsersetzung). 20 So auch W. Wiefel, ThHK 3, 1987, 120; D. Bock, BECNT 3A, 1994, 497; M. Wolter, HNT 5, 2008, 229; Anders K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988), 231–262, der hier eine „Anerkennung pharisäischer Gerechtigkeit durch Jesus“ (249) ausgesprochen sieht. 21 W. Grundmann, Art. ἰσχύω, ThWNT 3 (1938), 400f. 22 Vgl. Iren. haer. III 1,1; Eus. h.e. V,8,3 und dazu bereits A. v. Harnack, Lukas der Arzt – der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, Leipzig 1906; W.K. Hobart, The Medical Language of St. Luke. A Proof from Internal Evidence, Dublin 1882. 23 Vgl. Nr. 1a (Anpassung an den eigenen Sprachstil) und 3a (Veränderung betrifft die Verständlichkeit). 24 Vgl. H.J. Cadbury, Style and Literary Method of Luke, HThS 6, Cambridge 1920, 37–72; W.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 1983, 116f.; M. Wolter, HNT 5, 2008, 7 und 229. Anders A. Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke, Tübingen 2003. Vgl. hierzu aber die berechtigte Kritik bei Wolter (s.o.). 25 Auch in der Forschungsliteratur wird zumeist von einer „Ergänzung“ gesprochen: vgl. H. Klein, KEK I/3, 2006, 226; W. Schmithals, ZBK.NT 3/1, 1980, 72; W. Wiefel, ThHK 3, 1987,

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

zeigt sich ein explizites Ziel: Er will die Sünder zur μετάνοια rufen und bewegen. Das eingefügte Substantiv gehört offensichtlich zum lukanischen Vorzugsvokabular. Nach Lk 3,3 greift Lukas den Begriff zwar aus seiner Vorlage auf, parallel zur untersuchten Stelle lässt sich ein ähnliches Vorgehen aber in beiden lukanischen Werken häufig erkennen. So begegnet der Begriff vor allem im Sondergut: Lk 3,8; 15,7; Apg 5,31; 11,18; u.v.m. Dabei finden nicht nur Formen des Substantivs, sondern auch andere Formen des Wortstammes bei Lukas Verwendung: Lk 13,3.5; 15,7.10; Apg 2,38; 3,19; u.v.m. Das Thema der μετάνοια wird zudem erzählerisch verarbeitet (vgl. Lk 15,11–32). Dieser Befund lässt darauf schließen, dass die Umkehr als zentrale theologische Aussage des Lukasevangeliums hervorgehoben werden soll, also eine theologische Intention vorliegt. Möglich ist, dass Lukas den Ausspruch Jesu gerade deshalb mit εἰς μετάνοιαν präzisiert, um die intendierten Rezipienten zur Umkehr zu rufen. 26 Diese Interpretationsmöglichkeit soll im weiteren Verlauf der Arbeit durch eine Analyse der Textnachwirkung überprüft werden. Im Zuge der Texterklärung wird zudem die lukanische Bedeutung des Begriffs μετάνοια auszuführen sein, weil die deutsche Übersetzung mit „Umkehr“ oder auch „Buße“ hier durchaus zu Missverständnissen führen kann.

6.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. 2. 3. 4.

Was sind die größten Probleme der bisherigen „Redaktionsgeschichte“? Wie führt man einen synoptischen Vergleich durch? Welche sechs Bereiche der redaktionellen Bearbeitung lassen sich unterscheiden? Wie kann man die Motive für Textänderungen herausfinden (und welche Probleme gibt es dabei)?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ einen synoptischen Textvergleich durchführen, ■ Textänderungen sachkundig erkennen und benennen sowie ■ auf systematischem Weg Motive und Ursachen für Textänderungen finden. Sie kennen jetzt … ■ verschiedene Arten von Textänderungen und ■ die Problematik der klassischen „Redaktionsgeschichte“.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Redaktionsanalyse erkennen und wo Sie noch Mängel bemerken.

120 („tiefe Uminterpretation“); G. Schneider, ÖTBK 3/1, 1977, 137 („Lukas [sieht] die Mahlgemeinschaft wesentlich anders (…) als Markus“); M. Wolter, HNT 5, 2008, 229; D. Bock, BECNT 3A, 1994, 499f. In ihren Erklärungsmodellen weichen die Kommentatoren jedoch teils stark voneinander ab. 26 Vgl. Nr. 1b (Veränderung ist durch die eigene Meinung/Theologie motiviert), 3a (Veränderung betrifft die Verständlichkeit) und 3c (die langfristige Wirkung wird verändert).

Wie ist der Autor mit den Quellen umgegangen?

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Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, was die Redaktionsanalyse im Blick auf biblische Texte leisten kann. Berücksichtigen Sie dabei die Anfragen aus dem Exkurs („Das Ende der Redaktionsgeschichte“)!

6.4 Literatur 6.4.1 Exegetische Methodenlehren Adam* 93–101, Adam/Kaiser* 51–55, Alkier* 135–139, Becker* 76–97, Berger* 202–217, Bussmann/Sluis* 59–71, Conzelmann/Lindemann* 115–125, Dreytza/Hilbrands* 141–146, Ebner/ Heininger* 347–381, Egger/Wick* 255–268, Erlemann/Wagner* 108–122, Fenske* 146–150, Haacker* 64–67, Koch* 62–71, Lührmann* 92–100, Meiser/Kühneweg* 102–108, Meurer* 71– 81, Neudorfer/Schnabel* 325–343, Schnelle* 149–163, Söding* 208–220, Söding/Münch* 100– 108, Zimmermann* 215–266; englischsprachig: Black/Dockery* 128–149, Fee* 112–131, Hayes/Holladay* 127–138, McKenzie/Haynes* 105–121.

6.4.2 Hilfsmittel Aland, K., Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 151996. (wissenschaftliche Synopse zu den vier Evangelien) Accordance 11, 2014 (auch für Mac; 49 € + 299 €), www.bibelonline.de BibleWorks 10.0, Norfolk 2015 (389 US-$), www.bibleworks.com Computer-Konkordanz zum Novum Testamentum Graece, Berlin/New York 21985. Schmoller, A., Handkonkordanz zum griechischen Neuen Testament. Nach dem Text des Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland und des Greek New Testament, neu bearb. v. B. Köster, Stuttgart 82008. SESB – Version 3.0. Stuttgarter Elektronische Studienbibel. Stuttgart Electronic Study Bible, Stuttgart 2009. (deutschsprachige Bibelsoftware, wird nicht mehr aktualisiert)

6.4.3 Lexikonartikel Brohm, B., Art. Redaktor, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 694–698. Kratz, R.G./Merk, O., Art. Redaktionsgeschichte/Redaktionskritik, TRE 28 (1997), 367– 384. Leuenberger, M., Art. Fortschreibung, 2007, WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/18509/ (abger. 9.4.2016) Leuenberger, M., Art. Redaktoren, 2007, WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/32918/ (abger. 9.4.2016) Marzolph, U., Art. Redaktion, Enzyklopädie des Märchens 11 (2004), 435f.

6.4.4 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Kratz, R.G., Innerbiblische Exegese und Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz, in: M. Oeming (Hg.), Das Alte Testament und die Kultur der Moderne, Münster 2004, 37–69. (Beispiele für die „innerbiblische Exegese“ bzw. „rewritten bible“) Marxsen, W., Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 1956.

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6. Textentstehung III – Redaktionsanalyse

Schmid, K., Innerbiblische Schriftauslegung. Aspekte der Forschungsgeschichte, in: R.G. Kratz u.a. (Hgg.), Schriftauslegung in der Schrift. FS O.H. Steck, BZAW 300, Berlin u.a. 2000, 1–22. Schröter, J., Die apokryphen Evangelien und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: J. Frey/J. Schröter (Hgg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, WUNT 254, Tübingen 2010, 31–60. Stein, R.H., Gospels and Tradition. Studies on Redaction Criticism of the Synoptic Gospels, Grand Rapids 1991. Zumstein, J., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, AThANT 84, 2. überarb. u. erw. Aufl., Zürich 2004.

6.4.5 Textrevisionsforschung und Schreibprozessforschung Chanquoy, L., Revision Processes, in: R. Beard u.a. (Hgg.), The Sage Handbook of Writing Development, London u.a. 2009, 80–97. Eigler, G., Methoden der Textproduktionsforschung, in: H. Günter/O. Ludwig (Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit, Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10/2, Berlin/New York 1996, 992–1004. Girgensohn, K./Sennewald, N., Schreiben lehren, Schreiben lernen. Eine Einführung, Darmstadt 2012. (S. 16ff.: Schreibprozessmodelle) Hayes, J.R., What Triggers Revision?, in: L. Allal u.a. (Hgg.), Revision. Cognitive and Instructional Processes, Studies in Writing 13, Boston u.a. 2004, 9–20. Rau, C., Revisionen beim Schreiben. Zur Bedeutung von Veränderungen bei Textproduktionsprozessen, Reihe Germanistische Linguistik 148, Tübingen 1994. Schulte Löbbert, P., Rezipientenbewusstsein in der schriftlichen Kommunikation. Zum Einfluss metakognitiver Prompts auf den Revisionsprozess, Wissensprozesse und digitale Medien 13, Berlin 2009.

7 Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse Leitbegriffe Kognitives Schema, ältere und neuere Formgeschichte, Formanalyse, Gattung, Sitz im Leben, Gattungsparameter (inhaltlich, formal, paratextuell)

7.1 Einführung: Gattungen als kognitive Schemata Stellen Sie sich vor, Sie schlendern durch einen Buchladen auf der Suche nach einem Geschenk für Ihren Freund. Schnurstracks gehen Sie an den Kochbüchern vorbei, denn Ihr Freund hat kein Händchen fürs Kochen. Und so bleiben Sie vor dem Regal mit der Aufschrift „Autobiografie“ stehen. Aufgabe: Überlegen Sie, was Sie von einer Autobiografie erwarten. Was sollte zwischen den Buchdeckeln stehen, damit ein Buch als Autobiografie gelten kann? Notieren Sie Ihre Erwartungen!

Aus dem Autobiografieregal ziehen Sie nun ein Buch. Das nette, junge Gesicht hat Sie angesprochen: Es handelt sich um die Autobiografie von Philipp Lahm. Entspricht dieses Buch Ihren Erwartungen? Ein Journalist der Augsburger Allgemeinen äußerte da eher Bedenken, ja er verfiel in eine regelrechte Polemik:

Abb. 7.1: Philipp Lahm

Endlich, endlich, endlich: die Lahm-Biografie Im Alter von 27 Jahren hat Fußballer Philipp Lahm seine Biografie verfasst. Damit reiht er sich direkt neben Justin Bieber ein. Von Franz Neuhäuser Wie alt ist Philipp Lahm? Vorsicht, das ist natürlich eine Fangfrage. Wir vermuten nämlich, dass der (verhältnismäßig) kleine Philipp von vielen etwas jünger eingeschätzt wird, als er tatsächlich ist. Lahm marschiert tatsächlich schon ziemlich flott auf den Dreißiger zu. Im November darf er seinen 28. Geburtstag feiern, im Moment ist er 27 Jahre und neun Monate alt. Das schien ihm (oder seinen PR-Beratern) ein gutes Alter, um endlich, endlich, endlich eine Autobiografie zu schreiben. Oder schreiben zu lassen. Philipp Lahm steht damit in einer langen Reihe früh gereifter Menschen, deren Leben bald erzählenswert erschien.

Eigentlich ist Lahm als Endzwanziger schon spät dran. Schwimmer Michael Phelps zum Beispiel hat die Welt bereits im zarten Alter von 19 Jahren mit einer Biografie beglückt. Klar, dass da noch nicht alles gesagt sein konnte. Phelps hat konsequenterweise vier Jahre später das nächste Buch geschrieben/schreiben lassen. Den Weltrekord für die früheste Autobiografie hält Phelps aber mit Sicherheit nicht. Popstar Justin Bieber hat schon mit 16 Jahren „My Story“ verfasst/verfassen lassen. (…) aus: Augsburger Allgemeine, 24.8.2011

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7. Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse

Vernetzen Sie sich: Auf welche Erwartungen an eine ‚richtige‘ Autobiografie bezieht sich der Journalist der Augsburger Allgemeinen? Diskutieren Sie darüber, inwieweit diese Erwartungen mit Ihren eigenen übereinstimmen!

Die Autobiografie von Philipp Lahm deckt sich in vielerlei Hinsicht nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen, die lange Zeit an eine Autobiografie gestellt wurden. Hierzu zählt – so erken- Erwartungen an Autobiografie nen wir es am Urteil des Journalisten – das Alter des Autors. Bedarf es nicht einer viel größeren Lebensreife, um sein eigenes Leben rückblickend zu erzählen? Muss eine Autobiografie nicht immer das ganze Leben eines Menschen zum Thema haben? Nimmt man allein die sportlichen Erfolge zum Maßstab, hätte Lahm längst ein zweites Buch auf den Markt bringen müssen. Zudem weist der Journalist der Augsburger Allgemeinen darauf hin, dass Philipp Lahm kaum als Autor dieser Autobiografie gelten kann. Er hat das Buch sicherlich „autor-isiert“ und die Inhalte bestimmt, aber muss eine Autobiografie nicht auch von der Person geschrieben worden sein, die auf dem Buchcover zu sehen ist und zugleich als Ich-Erzähler in der „Geschichte“ auftritt?1 Eine weitere Frage drängt sich aufgrund des Titels auf: „Wie man heute Spitzenfußballer wird“ – lässt sich das Buch nicht ebenso als Sachbuch verstehen? Ein Buch, das Lesern Einblicke in das Geschäft des Profifußballs gewährt. Zweifelsohne liegt hier zumindest eine Überschneidung unterschiedlicher Gattungen (Autobiografie, Sachbuch) vor. Kurzum: Zentrale Gattungserwartungen scheinen sich am Beispiel von Lahms Autobiografie nicht zu erfüllen. Und auch die anderen AutobiografieBeispiele, die im Zeitungsartikel erwähnt werden, lassen die Grenzen dieser Gattungserwartungen in der heutigen Zeit offenbar werden. Plötzlich sind es (auch) junge Menschen, die Autobiografien schreiben – pardon: schreiben lassen – und ihre Lebensdarstellung zudem in einer thematischen Zuspitzung (Sport, Musik) präsentieren. Nicht nur im Bereich populärer Autobiografien lassen sich derartige Überschreitungen gewohnter Gattungskonventionen beobachten. Durch ein regelrechtes „Spiel“ mit der Gattung zeichnen sich zahlreiche neuerer Autobiografien aus, wobei man – vermutlich im Unterschied zu Philipp Lahm – hier von intendierten Durchbrechungen sprechen kann: ■

1

Der südafrikanische Autor John Maxwell Coetzee veröffentlichte 2009 eine Autobiografie, die er im Vorwort als eine fiktionale Erzählung bezeichnet und in der er über einen bereits verstorbenen John Maxwell Coetzee erzählt.

Die Übereinstimmung zwischen Autor (Name auf dem Buchcover) und Ich-Erzähler steht auch im Mittelpunkt von Philippe Lejeunes klassischer Definition der Autobiografie. Lejeune spricht diesbezüglich vom „Autobiographischen Pakt“ (P. Lejeune, Le Pacte autobiographique, Paris 1975).

Zu welcher Gattung gehört der Text? ■



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2012 hat der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie eine Autobiografie veröffentlicht, in der er hauptsächlich über jene Phase seines Lebens erzählt, in der er unter der Fatwa leben musste. Das Buch trägt den Titel „Joseph Anton“ – jenes Pseudonym, unter dem Rushdie in dieser Zeit gelebt hat. Die Erlebnisse werden nicht von einem „Ich-Erzähler“, sondern einem extradiegetischen Er-Erzähler geschildert. Die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel hat 2012 die autobiografische graphic novel „Are You My Mother?“ veröffentlicht, in der sie nur jene Phase ihres Lebens darstellt, in der sie in psychoanalytische Behandlung gegangen ist. Durch die comicartigen Illustrationen wechselt ständig das Wahrnehmungszentrum der Erzählung – mal ist Bechdel Objekt, mal Subjekt der Wahrnehmung.

Am Beispiel2 der neueren „Autobiografie“ lässt sich illustrieren, was für Gattungen insgesamt gilt. Sie stellen keine zeitübergreifenden, ontologischen Gegebenheiten dar. Gattungen sind vielmehr historischkulturell wandelbar, d.h. sie sind gesellschaftlichen VerändeGattungen rungen unterworfen. Was eine Autobiografie ist bzw. was sind wandelbar in einer Gesellschaft oder in einem Kulturraum für eine Autobiografie gehalten wird, verändert sich mit der Zeit und muss in einem Kulturkreis immer wieder neu verhandelt werden. Einflüsse, die sich auf die Lebenswelt einer Gesellschaft insgesamt auswirken, wie z.B. eine Idealisierung der Jugend oder einer bestimmten Lebensphase, finden plötzlich ihren Niederschlag in der Literatur und fordern nach und nach zu einer Neuformulierung einer Gattungsbeschreibung heraus. Damit sind Gattungen als kognitive Schemata zu begreifen. Sie liegen nicht „an sich“ außerhalb des Rezeptionsvorganges vor. VielGattungen als mehr findet im Leseprozess jeweils ein Abgleich zwischen kognitive 3 dem Vorverständnis der Rezipienten und den Signalen eiSchemata nes spezifischen Textes statt: „Aus der Perspektive des Lese- und Verstehensprozesses betrachtet sind ‚Gattungen‘ also kognitive Abstraktionen, die aufgrund einer bottom up-Verarbeitung von textuellen Daten und Signalen durch einen ständigen Vergleich mit bereits vorliegenden Kategorien (top down) gebildet werden.“4

Lese ich einen Text, der in vielerlei Hinsicht meinen persönlichen Erwartungen an eine Autobiografie oder einen Krimi usw. entspricht, werde ich ihn intuitiv dieser Gattung zuschreiben. Umgekehrt wird es mir bei Texten, die 2 Vgl. zu diesen Beispielen sowie zur Unterminierung existierender Gattungskonventionen A. Rüggemeier, Die relationale Autobiografie. Ein Beitrag zur Theorie, Poetik und Gattungsgeschichte eines neuen Genres in der englischsprachigen Erzählliteratur, ELCH 60, Trier 2014. 3 Diese „Signale“ bzw. Gattungsmerkmale können sehr unterschiedliche Formelemente sein, von denen die wichtigsten in Abschnitt 7.2 aufgelistet und näher erläutert werden. 4 W. Hallet, Gattungen als kognitive Schemata, 56.

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7. Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse

meinen bisherigen Gattungserwartungen widersprechen, schwerfallen, diese unmittelbar zu verorten. Mir werden gerade die Abweichungen von bekannten Gattungskonventionen ins Auge springen. Letztlich findet ein entsprechender Abgleich über den gesamten Verlauf des Leseprozesses – von der äußeren Buchbetrachtung bis zur letzten gelesenen Seite – statt.5 Hierbei ist die Überlagerung mehrerer Gattungen (z.B. autobiografisches Sachbuch) keineswegs die Ausnahme, sondern der Regelfall.6 Die Tatsache, dass Gattungen nur im Rezeptionsvorgang existieren, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die Gattungszuordnung eines Textes rein beliebig wäre, d.h. ausschließlich im Auge des Betrachters läge. Wenn Sie die Erwartungen, die Sie eingangs notiert haben, miteinander vergleichen, werden Sie feststellen, dass es zahlreiche Übereinstimmungen gibt. Wir sind auch im Hinblick auf unsere Gattungserwartungen durch unsere Kultur und Zeit vorgeprägt. Die Kategorien bzw. Parameter, die uns eine Gattungszuordnung von Texten ermöglichen, sind meist intersubjektiv kommunikabel. Literatur: M. Gymnich/B. Neumann/A. Nünning (Hgg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, ELCH 28, Trier 2007 (Forschungsband zur neueren Gattungsforschung); in diesem Band ist besonders der anschauliche, einleitende Aufsatz von W. Hallet, Gattungen als kognitive Schemata. Die multigenerische Interpretation literarischer Texte, ebd., 53–69 zu empfehlen.

Exkurs: Geschichte der Form- und Gattungsanalyse Für die Gattungsbestimmung wurde in der Exegese bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der Begriff „Formgeschichte“ geprägt. Der Formgeschichte: Begriff „Formgeschichte“ stammt daher, dass man zu Beginn Formen in der des letzten Jahrhunderts die Formbestimmung primär dazu Überlieferung verwendete, ein überlieferungsgeschichtliches Urteil (→ Kap. 5: Analyse der Vorgeschichte) zu fällen. Leitend war hier die Idee, dass einzelne Texte im Verlauf der mündlichen Überlieferung und durch die schriftliche Fixierung umgeformt werden und sich diese Umformungen rekonstruieren lassen. Man war der Auffassung, dass neutesta„Sitz im Leben“: mentliche Erzählungen und Texte jeweils einen genau betypische Überlieferungssituation stimmbaren „Sitz im Leben“ gehabt hätten. Der „Sitz im Leben“ ist die typische Überlieferungssituation einer Gattung. Aufgrund neuerer Kommunikationssituationen wären dann jeweils Inhalt und Form der (mündlich überlieferten) Texte verändert worden.

5 Vgl. W. Hallet, Gattungen als kognitive Schemata, 63: „So bilden Leser/innen im Verlauf des Leseprozesses immer wieder neue Hypothesen, die auf der Grundlage neuer Textdaten und -signale und im Abgleich mit existierenden Schemata beständig verifiziert oder falsifiziert werden müssen.“ 6 Ähnlich bereits K. Berger, Formgeschichte*, 17f.

Zu welcher Gattung gehört der Text?

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Die bekanntesten Vertreter der älteren Formgeschichte sind Martin Dibelius und Rudolf Bultmann, die die Evangelien formgeschichtlich untersuchten und in jeweils eigenen Gattungseinteilungen verorteten. Ausgehend von der Grundannahme, dass die Ur-Form der christlichen Literatur die Missionspredigt gewesen sei, ordnete Martin Dibelius die Gattungen danach, wie weit sie sich von dieser Urform entfernt bzw. anderen literarischen Formen zugewendet hatten. Dibelius unterteilte dementsprechend die Erzählungen in Paradigmen, Novellen, Legenden und Mythen. Rudolf Bultmann, dessen Klassifizierung sich stärker am Inhalt der Erzähltexte orientierte, differenzierte hingegen zwischen Wundergeschichten und Geschichtsberichten bzw. Legenden. Hiervon unterschied er strikt die Wortüberlieferung, die er ihrerseits in Apophthegmata, Logien, prophetische und apokalyptische Worte, Gesetzesworte und Gemeinderegeln, Ich-Worte und Gleichnisse unterteilte. Da man etwa seit den 1980-er Jahren die Möglichkeit einer überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion der Textform skeptischer sieht, ist in der Exegese seitdem eine Konzentration auf die Endgestalt des Textes feststellbar. „Durchgesetzt hat sich die Einsicht, daß sich die Formkritik von der Frage nach der mündlichen Vorgeschichte der Texte und ihrer UrFormanalyse: gestalt lösen muß.“7 Es wird im Zuge der Formkritik bzw. Form des Formanalyse nun verstärkt nach der Funktion einzelner PeEndtextes rikopen im Endtext gefragt. Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht nur die Gattung, der ein Text zugeordnet werden kann, sondern auch die individuelle Form einzelner Perikopen. Man nennt die Formanalyse auch die neuere Formgeschichte. Im Umgang mit der älteren Formgeschichte gilt es, ein zweites zu beachten: Das oben skizzierte neuere kognitive Gattungsverständnis konnte geistesgeschichtlich damals natürlich noch keinen Niederschlag finden. Bultmann und Dibelius berücksichtigen noch nicht, dass Gattungen als kognitive Schemata zu begreifen sind und es nahezu immer zu generischen Überlagerungen kommt. Sie hielten vielmehr an dem Axiom einer reinen, stilgerechten Form fest, d.h sie gingen von einer konstanten Grundform aus. In der älteren Formgeschichte suchte man in der frühesten Verkündigung der Urgemeinde die Idealform einer Gattung, die sich zeit- und sogar kulturübergreifend wiederfinden lässt und von der dann erst spätere Tradenten und Autoren abgewichen sind, indem sie einer „primitiven Erzählweise“ folgten. Ausgehend von dieser Grundannahme der ursprünglichen Form, die im Laufe der mündlichen Überlieferung mit weiterem Erzählstoff angereichert wurde, galten die Evangelien in der älteren Formgeschichte als „Kleinliteratur“. Es bestand Einigkeit darüber, dass die neutestamentlichen Texte nur sehr wenig mit der Hochliteratur der gebildeten Welt zu tun hätten. Parallen zur antiken Rhetorik, zum Drama, zur Historiographie oder antiken Biographien wurden damit ausgeschlossen bzw. blieben unberücksichtigt. Engere 7

G. Theißen, in: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 416.

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7. Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse

Parallelen zur Form sowie zur Art der Überlieferung meinte man nur in der Populärliteratur des Judentums, des Hellenismus sowie weiteren Kulturkreisen zu finden. Seit etwa 1980 ist in diesem Punkt eine weitere, wesentliche Veränderung in der Exegese feststellbar: „Anerkannt ist, daß die Formensprache des Urchristentums von der allgemeinen hellenistischen Formensprache nicht isoliert werden kann.“8 Eine solche Nähe zur antiken Literatur und v.a. zu rhetorischen Kategorien wurde erstmals programmatisch von Klaus Berger vertreten. In Anlehnung an die antike Rhetorik unterteilt er die Texte des Neuen Testaments nach ihrer Wirkung und legt seinem Entwurf damit eine „kommunikative Gattungstheorie“9 zu Grunde. Berger differenziert in dieser Hinsicht zwischen dikanischen (begründenden), epideiktischen (beeindruckenden) und symbuleutischen (beratenden) Texten. Mit diesen Kategorien gelingt es Berger auch, die neutestamentliche Briefliteratur in die formgeschichtliche Analyse einzubeziehen. Im Hinblick auf erzählende Texte führen diese rhetorischen Kategorien jedoch zu recht umständlichen Klassifizierungen. So muss Berger Gleichnisse, Sentenzen und Apophthegmata als „Sammelgattungen“ zusammenfassen oder umgekehrt zahlreiche Texte mehreren Gattungen zuordnen. „Formgeschichte“

1) Bultmann, Dibelius

2) Berger

Gegenstand

Überlieferungsgeschichte, Sitz im Leben

Funktion im Endtext

Bezüge zur außerbiblischen Literatur

„Kleinliteratur“, „primitive Erzählweise“

Bezüge zur antiken Rhetorik (und Literatur)

Gattungstheorie

Axiom der reinen Form

Kommunikative Gattungstheorie (nach Hempfer)

Tab. 7.2: Vergleich der klassischen Formgeschichte und der Formgeschichte nach K. Berger

7.2 Methode Methode: Gattungsanalyse 1. Mögliche Gattungsparameter des Textes benennen. 2. Den Text aufgrund der Gattungsmerkmale mit anderen Texten vergleichen und einem antiken, neutestamentlichen oder heutigen Gattungsschema bzw. mehreren Gattungsschemata zuordnen.

8

G. Theißen, in: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 416. Berger, Formgeschichte*, 16f. Berger unterscheidet mit K. Hempfer, Gattungstheorie, UTB 133, München 1973, zwischen einer anthropologischen, produktionsästhetischen und kommunikativen Gattungstheorie. 9

Zu welcher Gattung gehört der Text?

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7.2.1 Schritt 1: Die Gattungsparameter des Textes benennen War bisher v.a. davon die Rede, dass Gattungen als kognitive Schemata zu betrachten sind, so ist nun in methodischer Hinsicht zu fragen, wie sich Gattungen im Zuge der Analyse bestimmen lassen: Welche textuellen Daten und Signale führen dazu, dass Rezipienten aufgrund ihrer Vorverständnisse eine Gattungszuordnung vornehmen können?10 Hierbei haben wir am Beispiel der Autobiografie gesehen, dass es sich bei diesen Parametern um inhaltliche, formale und paratextuelle Kriterien handeln kann.11 Was für die Autobiografie gilt, das gilt für Gattungsdefinitionen im Allgemeinen. Sie sollten nicht allein auf inhaltlichen, formalen oder paratextuellen Kriterien fußen, sondern möglichst das gesamte Spektrum an Parametern in den Blick nehmen: „In der Forschung besteht mittlerweile weitgehend Konsens darüber, dass Gattungen kaum aufgrund eines einzelnen Kriteriums hinreichend bestimmt werden können (vgl. Zymner 1997: 109) und stattdessen ein ‚Kriterienpluralismus’ (ebd.) geboten ist.“12

Im Folgenden wollen wir einige Parameter vorstellen, die sich für die Gattungsanalyse neutestamentlicher Texte eignen.13 Da manche der hier genannten Parameter im hinteren Teil dieses Methodenbuchs ausführlicher behandelt werden, begnügen wir uns an dieser Stelle öfter mit Vorverweisen. Außerdem wird im Folgenden nicht zwischen Parametern für erzählende Texte und für die Briefliteratur differenziert. Zwar gelten manche Parameter nur für Erzähltexte (z.B. Handlungselemente, Figuren), aber ein Großteil ist identisch. Des Weiteren können in den eher erzählenden Schriften des Neuen Testaments (d.h. den Evangelien und der Apg) durchaus argumentative Texte eingefügt sein (z.B. Reden Jesu) und umgekehrt in der Briefliteratur erzählende Passagen auftauchen (Gal 1,15–2,16: autobiografischer Bericht des Paulus). 10 „Wenn es sich bei Gattungen nicht um vorgefundene reale Objekte, sondern um […] Konstrukte handelt, wie die Gattungstheorie einhellig meint, dann ist die Frage, nach welchen Kriterien und Verfahren sie gebildet werden, von zentraler Bedeutung“ (A. Nünning, Kriterien der Gattungsbestimmung, in: M. Gymnich/B. Neumann/A. Nünning (Hgg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, 73–99, hier 73). 11 Inhalt: individuelles Leben; Erzählsituation: rückblickende Erzählperspektive, autodiegetischer Ich-Erzähler; Form: Prosa; Fiktionalitätsgrad: faktuale Erzählung; paratextuell: autobiografischer Pakt, d.h. „Identität zwischen dem Autor [, der auf dem Cover genannt wird] (…) und dem Erzähler“ (P. Lejeune, Der autobiografische Pakt, 14). 12 B. Neumann/A. Nünning, Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie, in: M. Gymnich/B. Neumann/A. Nünning (Hgg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, 1–28, hier 7. Ähnlich bereits Berger, Formgeschichte*, 19–22, der in seinem Kriterienkatalog folgende Aspekte auflistet: a) grammatische Person, b) Modus und Tempus des Verbs, c) Aufbau, d) Satzarten, e) Binnenstruktur, f) Semantik, g) Umfang, h) Kontext, i) Erzählerkommentare, j) Situation der Leser, k) Zitate. 13 In der Literaturwissenschaft werden weitere Parameter diskutiert. Zymner listet z.B. noch die Mündlichkeit/Schriftlichkeit oder den Umfang auf: R. Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart 2010, 29–46.

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7. Textstruktur I – Form- und Gattungsanalyse Übersicht: Parameter für Gattungszuordnungen

1. ■ ■ ■

Parameter mit überwiegend inhaltlichem Bezug A. Wichtige Handlungselemente B. Thema C. Figuren (Figurenmerkmale, Figurenkonzeption)

2. ■ ■ ■

Parameter der Vermittlung A. Fiktionalitätsgrad B. Erzählsituation und grammatische Person C. Schreibstil und Syntax

3. ■ ■ ■

Paratextuelle Hinweise A. Überschrift und Titel B. Kommentar durch Erzähler/Autor C. Formeln

1. Parameter mit überwiegend inhaltlichem Bezug A. Handlungselemente Der Benennung einzelner Ereignisse kommt innerhalb der wissenschaftlichen Exegese schon immer eine hervorgehobene Bedeutung bei der Gattungsbestimmung von Erzähltexten zu. Mitursächlich hierfür ist, dass sich formgeschichtliche Untersuchungen mehr oder weniger bewusst14 auf das Gattungsverständnis des frühen Strukturalismus bzw. Formalismus gestützt haben. In Analogie – wenn auch nicht in unmittelbarer Abhängigkeit – zu Vladimir Propp (1895–1970), der für russische Zaubermärchen ein Ereignisinventar von 31 Funktionen formulierte, versuchte man auch für neutestamentliche Erzählungen Ereignis- bzw. Motivlisten15 für verschiedene Gattungen zu rekonstruieren. So benennt Gerd Theißen etwa 33 „Motive“ einer typischen Wundergeschichte und hebt hervor, dass sich solche Motivlisten für jede Erzählung erstellen ließen.16 Zweifelsohne kann man aus den Ereignissen bzw. Handlungselementen eines Textes wichtige Rückschlüsse auf dessen Gattungszugehörigkeit ziehen. Vor allem dann, wenn Ereignisse in einer konstanten Reihenfolge auftreten. Ausschlaggebend für die Gattungszuordnung ist aber weniger das vollständige Ereignis- bzw. Motivrepertoire. Von Bedeutung sind vielmehr jene Ereignisse, denen die intendierten Rezipienten im unmittelbaren Lektüreprozess eine besondere „Wichtigkeit“ zuschreiben, d.h. die im Erzählverlauf

14

Vgl. Ebner/Heininger* 71f. Der so verstandene Begriff „Motiv“ stammt ursprünglich von B.V. Tomaševskij, Theorie der Literatur (1931), hg. v. K.-D. Seemann, Wiesbaden 1985, 219f., der damit die Ereignisse einer Handlung bezeichnet. 16 Vgl. hierzu G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh (1974) 71998, 57–83. 15

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hervorstechen.17 Die Exegese besitzt für die Bestimmung der „Wichtigkeit“ von Ereignissen noch keine eigene Methodik. Als weiterführend könnte sich an dieser Stelle die in den Erzählwissenschaften etablierte und dem Ursprung nach auf Roland Barthes18 zurückzuführende Unterscheidung zwischen wichtigen Erzählkernen und beiläufigen Erzählsatelliten erweisen. Wir werden auf diese Terminologie noch im Zuge der Handlungsanalyse (→ Kap. 11c) eingehen. Besondere Berücksichtigung verdienen außerdem: ■ ■

inkohäsive Ereignisse, die sich nicht unmittelbar aus dem Erzählverlauf heraus erklären lassen, und inkohärente Ereignisse, die im Widerspruch zum historischen oder alltagspsychologischen usw. Vorwissen der Rezipienten stehen und die einer außerdiegetischen Erklärung bedürfen. 19

B. Thema Faktisch beruhen zahlreiche Gattungseinteilungen auf thematischen Aspekten (z.B. Liebesroman, Wundererzählung, Gemeindeparänese). Problematisch hieran ist, dass Themen oft in ganz unterschiedlichen Gattungen verarbeitet werden können und für sich genommen noch kein hinreichendes Kriterium darstellen. Es ist hier vor einer Überbewertung zu warnen! Für den heutigen exegetischen Diskurs kann es zwar sinnvoll sein, innerhalb der Briefliteratur zwischen Gemeindeparänese, Haustafeln und Paränesen der Sexualethik zu differenzieren. Im Zuge der Gattungsanalyse ist aber zu fragen, ob die intendierten Rezipienten in diesen Texten Gattungen bzw. Untergattungen erkannten. Diesbezüglich ist jedoch gerade festzuhalten, dass die Übergänge eher fließend sind und sich nicht selten eine Überlagerung oder ein rascher Wechsel von Themen20 erkennen lässt (vgl. Tit 2,9–3,2; 1 Petr 2,13-17; anders: Eph 5,22–6,9; Kol 3,18–4,1). Beispiel: Die Wunderthematik als unzureichendes Gattungskriterium Auch in erzählenden Texten ist das Thema oft noch kein hinreichendes Kriterium der Gattungsbestimmung. So reicht etwa die Schilderung einer wunderhaften Begebenheit für sich genommen noch nicht aus, um einen Text der Gattung „Wunder-

17 Ähnlich bereits Berger, Formgeschichte*, 9: „Für die Gattungsbestimmung entscheidend ist, welches Element auf den Leser den stärkstem Eindruck macht.“ 18 R. Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1966), in: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, 112 (noyau und catalyse). Wirkmächtig wurde diese Unterscheidung durch Chatman* 53–56 mit den Begriffen „kernels“ und „satellites“. 19 An dieser Stelle ergeben sich Überschneidungen zur Analyse der Vorgeschichte und es ist zu überprüfen, ob die dort beobachteten Inkohärenzen und Inkohäsionen ggf. extradiegetisch motiviert sind, d.h. auf ein vorliegendes Gattungsschema zurückzuführen sind. 20 Vgl. bereits das Urteil bei Berger, Formgeschichte*, 138: „Auch im Neuen Testament sind die sog. Haustafeln nicht […] isoliert vom übrigen paränetischen Material. Es ist daher oft kaum möglich, die Haustafeln wirklich strikt als Gattung zu isolieren.“

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erzählung“ zuzuordnen: Als Ereignisse, die im antiken Weltverständnis fest verankert waren, konnten Wunder besungen (Hymnus, Eloge), als geschichtliche (Historiografie) oder beispielhaft biografische Ereignisse (Vita) beschrieben werden. Sie waren aber auch Gegenstand satirischer Schilderungen oder fanden in Inschriften Erwähnung. Das thematische Kriterium allein greift also zu kurz.

C. Figuren In der Exegese ist bei der Gattungsanalyse von Erzählungen zumeist der handlungsfunktionale Aspekt von Figuren betont worden. Dabei werden auf der Grundlage des sog. Aktantenmodells (Greimas) Figuren unterschiedliche Handlungsrollen zugeschrieben.21 Dieses Modell lässt sich aber nur auf sehr einfache Handlungen anwenden, v.a. auf Erzählungen mit einem handfesten Konflikt, und erweist sich meist als zu statisch (→ Kap. 11c). Nicht selten reicht es aus, sich auf einfache Figurenkonstellationen zu konzentrieren. Hierzu zählen etwa Kontrastpaare (z.B. reicher Mann und armer Lazarus in Lk 16,19–31) oder eine klar erkennbare Hierarchie. Darüber hinaus lohnt es sich vor allem, auf einzelne Figurenmerkmale sowie auf die Figurenkonzeption, die sich aus der Gesamtheit dieser Merkmale ergibt, zu achten. So kann eine Figur eher stereotyp dargestellt sein, d.h. auf wenige Merkmale reduziert werden, oder sich gerade durch einen hohen Grad an Individualität auszeichnen. Einige Gattungen setzen bestimmte Figurenkonzeptionen voraus: So tauchen in Gleichnissen oder (typologischen) Vergleichen meist stereotype Figuren auf, weil sich so die Auswirkung einer bestimmten (moralischen) Eigenschaft besser illustrieren lässt oder die Vergleichspunkte stärker ins Bewusstsein geraten. Für die antike Biografie ist hingegen gerade eine psychologische Entwicklung des Protagonisten und damit ein höherer Grad an Individualität typisch.22 2. Parameter der erzählerischen Vermittlung (discourse-Aspekte) A. Fiktionalitätsgrad Viele postmoderne Erzählungen sind durch ein regelrechtes Spiel mit der Fiktionalität gekennzeichnet. Nicht selten soll hierdurch einem grundsätzlichen epistemologischen Skeptizismus Ausdruck verliehen werden. Eine so grundsätzliche Bestreitung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten wird man biblischen Autoren noch nicht unterstellen können.23 Dennoch ist eine Analyse des

21

Vgl. Greimas* 165. Wieder abgedruckt z.B. bei Egger/Wick* 181; Ebner/ Heininger* 79. Vgl. hierzu D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 22002. 23 Vgl. zur historischen Betrachtung der literarischen Fiktion v.a. W. Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), 283–319 und M. Puelma, Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik von Homer bis Aristoteles, Freiburg (CH) 1989. 22

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genauen Fiktionalitätsgrades oftmals hilfreich, um biblische und antike Erzählungen zu klassifizieren. Statt lediglich zwischen „fiktionalen“ und „faktualen“ Erzählungen zu unterscheiden, könnte hierbei eine Fiktionalitätsskala hilfreich sein, die möglichst präzise den Fiktionalitätsgrad beschreibt.24 So besitzt die Rahmenerzählung des Lukasevangeliums einen anderen Fiktionalitätsgrad als die Gleichnisse vom Verlorenen (Lk 15,4–32). Andererseits ist die Rahmenerzählung nicht einfach als faktual zu bezeichnen, denn Lukas beweist bereits durch die Auswahl und Anordnung der Ereignisse, die Ausgestaltung der einzelnen Figuren und Orte, die gewählte Perspektivierung usw. eine „historische Einbildungskraft“25. B. Erzählsituation und grammatische Person Wie in unserem Anfangsbeispiel kann auch die Erzählsituation oder, bei argumentativen Texten, die Verwendung einer bestimmten grammatischen Person ein wichtiger Faktor bei der Gattungsanalyse sein. So erwarten die meisten Menschen im Fall einer Autobiografie nach wie vor, dass diese von einem IchErzähler erzählt wird. In einer Biografie werden die Ereignisse hingegen „klassischerweise“ durch einen Er-Erzähler berichtet. Im Kapitel zur Perspektivenanalyse (→ Kap. 11a) werden Sie weitere Differenzierungen zur Beteiligung des Erzählers am Erzählten kennenlernen. Auch in der neutestamentlichen Briefliteratur kann die Verwendung der grammatischen Person ein Indiz für eine bestimmte Gattung sein. Dies gilt etwa für die prononcierte Verwendung der 1. Pers. Sg. in Mahnworten („Παρακαλῶ“; vgl. Jub 36,5; Röm 12,1; 1 Tim 2,1; Eph 4,1; Hebr 13,22; 1 Petr 2,11) und die in diesem Kontext meist ebenfalls zu beobachtende direkte Anrede der Rezipienten (2. Pers. Sg./Pl.). C. Schreibstil und Syntax Auf die Analyse des Schreibstils und des Satzbaus wird im folgenden Kapitel näher eingegangen. An dieser Stelle reicht der Hinweis, dass bereits Modus und Tempus des Verbs (z.B. Imperativ bei Mahnworten), die Semantik (z.B. Verben des Sehens bei Visionsberichten), der Satzbau und die syntaktische Abhängigkeit von Wörtern und Sätzen relevant sein können. Beim Vergleich sind zwei (Teil-)Sätze bzw. Aussagen zumeist durch die Vergleichspartikel ὡς, ὥσπερ oder οὕτως verbunden. Aufgabe: Schlagen Sie die Textstelle Gal 4,1–5 auf! Untergliedern Sie den Text nach seinen syntaktischen Abhängigkeiten (vgl. hierzu Kap. 8). Welche Indizien sprechen dafür, dass es sich bei dieser Textstelle um einen Vergleich handelt? Geben Sie in eigenen Worten wieder, was Paulus durch diesen Vergleich aussagt.

24

Vgl. hierzu Finnern* 56–73, hier 71. Vgl. der Titel von H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. (1991) 2008. 25

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3. Paratextuelle Hinweise Am Beispiel der Autobiografie lässt sich auch erkennen, dass nicht nur der Inhalt sowie die Art der Darstellung bei der Gattungszuschreibung relevant sind, sondern ebenso paratextuelle Hinweise von Bedeutung sein können (hier war es der „autobiografische Pakt“). A. Überschrift und Titel Zu solchen paratextuellen Hinweisen zählen normalerweise der Titel bzw. die Überschrift eines Textes. Allerdings ist im Bereich des Neuen Testaments diesbezüglich eine große Vorsicht geboten. Sämtliche Überschriften sind hier sekundär! Die frühen Rezipienten des Markus- oder Lukasevangeliums kannten die Gattung „Evangelium“ noch nicht. Sie lasen die jeweilige Erzählung als Historiografie, Vita, Roman oder evtl. auch als Drama. B. Kommentar durch Erzähler/Autor Wichtiger als die Überschriften sind deshalb die Kommentare, die die Erzähler oder Autoren zu ihrem Werk abgeben. So lassen bereits die Äußerungen in Lk 1,1–4 auf einen historiografischen Text schließen, während der Erzähler in Joh 21,25 indirekt von einer Biografie spricht. Die Tatsache, dass der Schreiber des Hebräerbriefs seine Rezipienten direkt anspricht (vgl. z.B. Hebr 10,32– 34; 12,4) und die Gemeindesituation zu kennen scheint, ist bis heute ein wichtiges Argument, an der Gattungszuschreibung „Brief“ festzuhalten. Andere plädieren hingegen dafür, den Hebräerbrief aufgrund des fehlenden Briefanfangs als Predigt zu begreifen.26 Der Aspekt des fehlenden „Briefanfangs“ leitet bereits zum nächsten paratextuellen Hinweis über, nämlich der Verwendung feststehender Formeln. C. Formeln und Symbole Nicht selten stößt man in Texten auf gattungstypische Formeln, die – ähnlich wie das bekannte „Es war einmal …“ in Grimms Märchen – kulturell vorgeprägt sind. Ein markantes Beispiel hierfür sind die weitgehend parallel formulierten und gestalteten Briefeingänge (Präskript, Proömium) im Neuen Testament. Dieser Briefeingang setzt sich zusammen aus: a. dem Präskript: ■ superscriptio: Angabe der Absender (im Nominativ) ■ adscriptio: Angabe der Empfänger (im Dativ) ■ salutatio: Segenswunsch b. dem Proömium: Eingangsgruß (häufig beginnend mit εὐχαριστεῖν)

26

So z.B. O. Michel, Der Brief an die Hebräer, KEK 12, Göttingen 141985, 4.

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Unterscheiden kann man jedoch zwischen einem griechischen und orientalischen Präskript. Jak 1,1 orientiert sich an der griechischen Konvention,27 weil hier superscriptio, adscriptio und salutatio in einem Satz erfolgen. Die meisten anderen Briefe des Neuen Testaments lassen Anklänge an das griechische Präskript erkennen, sind aber stärker vom orientalischen Präskript28 beeinflusst: Hier ist die salutatio stärker von der Angabe des Absenders und Empfängers abgesetzt, und zum Namen des Absenders werden nicht selten zusätzliche Bezeichnungen hinzugefügt (vgl. Röm 1,1–6!). Typisch ist hier auch die Verwendung des Friedensgrußes. Paulus hat diesen eigenständig erweitert. Bei ihm lesen wir sechsmal (1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,3; Röm 1,7b; Phil 1,2; Phlm 3) in nahezu identischem Wortlaut: „χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.“ Aufgabe: Auch die Proömien der neutestamentlichen Briefe weisen deutliche Gemeinsamkeiten auf. Vergleichen Sie Gal 1,6 (unten) mit den Proömien der anderen Paulusbriefe sowie dem hellenistischen und frühjüdischen Textbeispiel. Welche Ursache bzw. welches Motiv könnten hinter dieser Textabweichung stecken? Röm 1,8: Phil 1,3: 1 Thess 1,2: Phlm 4: 1 Kor 1,4: Apion: 2 Makk 1,11:

Gal 1,6:

„Zunächst danke ich meinem Gott (εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου) durch Jesus Christus“ „Ich danke meinem Gott (εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου) bei jeder Erinnerung an euch“ „Wir danken Gott (εὐχαριστοῦμεν τῷ θεῷ) allezeit für euch alle“ „Ich danke meinem Gott (εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου) allezeit, wenn ich eurer gedenke“ „Ich danke meinem Gott (εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου) allezeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus“ „Ich danke dem Herrn Serapis (εὐχαριστῶ τῷ κυρίω Σεράπιδι), dass er, als ich in Seenot war, mich sofort errettet hat.“ (Papyrus, 2. Jhdt.) „Wir danken ihm (εὐχαριστοῦμεν αὐτῷ) [sc. Gott] von Herzen, der uns aus großen Gefahren errettet hat. So sind wir bereit, selbst mit einem König zu streiten.“ „Ich wundere mich (θαυμάζω), dass ihr euch so schnell von dem, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, abwendet zu einem anderen Evangelium“

In erzählenden Texten können unter Umständen auch symbolhafte Orts- und Zeitbeschreibungen (z.B. „Berg“ oder „Nacht“) eine gewisse Signalwirkung haben und den Rezipienten einen Hinweis auf die zugrunde liegenden Gattung bieten. 27 Vgl. zu den Konventionen des griechischen Briefes H. Koskenniemi, Studien zu Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n.Chr., AASF B 102,2, Helsinki 1956, 155–158. 28 Vgl. zur Textgrundlage D. Pardee, An Overview of Ancient Hebrew Epistolography, JBL 97 (1978), 321–346 und Ders., Handbook of Ancient Hebrew Letters, SBL.S 15, Chico 1982.

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7.2.2 Schritt 2: Vergleichstexte finden und Gattungsschema zuordnen Nachdem man den zu untersuchenden Text auf seine charakteristischen Gattungsparameter hin untersucht und beschrieben hat, gilt es, in einem zweiten Schritt Referenztexte mit ähnlichen Parametern zu finden und diese nach Möglichkeit einem gemeinsamen Gattungsschema zuzuordnen. Wie bei unserem Einstiegsbeispiel ist auch hier damit zu rechnen, dass Gattungen einem kulturellen und zeitlichen Wandel unterliegen und die Überlagerung mehrerer Gattungen nicht die Ausnahme, sondern eher der Regelfall ist. Die Suche nach Vergleichstexten mit ähnlichen Parametern kann sich oftmals wie die berühmte Suche nach der „Nadel im Heuhaufen“ gestalten. Für einzelne Begriffe gibt es Suchmaschinen und Konkordanzen, aber eine Suchmaschine für strukturelle Parallelen muss erst noch erfunden werden. Wie soll man nur Referenztexte mit einer ähnlichen Erzählsituation oder einem ähnlichen Fiktionalitätsgrad aufspüren? Ohne Ihre Entdeckerlaune bremsen zu wollen, empfiehlt es sich für das Studium, ganz pragmatisch den Hinweisen in den Kommentaren sowie in der übrigen Sekundärliteratur nachzugehen. Welcher Gattung bzw. welchen Gattungen wird mein Text hier zugeordnet? Welche Vergleichstexte werden dafür genannt? Diese Angaben gilt es dann kritisch (!) – und unter Berücksichtigung des oben beschriebenen Wandels der formgeschichtlichen Methode (→ Exkurs) – zu prüfen. Stützt sich der Vergleich lediglich auf ein Kriterium (z.B. Thematik) oder auf eine ganze Fülle an Vergleichsaspekten? Lässt sich bei den Vergleichstexten eine ausreichende zeitliche, räumliche und kulturelle Nähe zu den neutestamentlichen Schriften erkennen? Während die ältere Formgeschichte hier aufgrund eines ontologischen statt kognitiven Gattungsverständnisses eher großzügig war und selbst entfernteste „Parallelen“ benennen konnte, ist man in der heutigen Exegese weitaus vorsichtiger geworden.29 Hat man mehrere Texte mit ähnlichen Gattungsparametern gefunden und kritisch geprüft, ist es letztlich sinnvoll, diese einer Gattung zuzuordnen bzw. mit einer Gattungsbezeichnung zu versehen. Hierbei lassen sich drei Möglichkeiten differenzieren:30 Der Text … ■ a) lässt sich einer bzw. mehreren antiken Gattungen zuordnen, ■ b) kann mit einer heutigen Gattungsbezeichnung/heutigen Gattungsbezeichnungen versehen werden oder ■ c) wird keiner spezifischen Gattung zugeordnet.

29 Im Zuge der Texterklärung II (Kap. 10.2) werden wir Ihnen entsprechende Kriterien der Parallelenbewertung vorstellen, die Sie auch an dieser Stelle anwenden können. 30 Ähnlich bereits Berger, Formgeschichte*, 9f.

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a) Der Text lässt sich einer bzw. mehreren antiken Gattungen zuordnen Gattungen wurden bereits in der Antike theoretisch reflektiert oder zumindest benannt. Eine große Prominenz besitzen hier die Ausführungen des Aristoteles (384–322 v.Chr.) zum Drama, zur Tragödie, zur Komödie und zum Epos. Allerdings sind auch diese und ähnliche Gattungszuordnungen mit Vorsicht zu behandeln. Man wird den neutestamentlichen Autoren deren Kenntnis nicht einfach unterstellen können. Bedeutsamer sind schon eher die Gattungsbezeichnungen, die sich im Neuen Testament selbst wiederfinden. So wird bei den Synoptikern häufig die παραβολή („Gleichnis“) als Gattung erwähnt, wobei damit verschiedene Texte bezeichnet werden, die nicht identisch sind mit den analytischen Gattungsbegriffen der heutigen Exegese.31 b) Der Text erhält eine heutige Gattungsbezeichnung Wesentlich häufiger müssen Texte mit einer heutigen Gattungsbezeichnung versehen werden. Solche Bezeichnungen dienen dazu, historisch rekonstruierte Gattungsmerkmale heutigen Lesern verständlich zu machen und in dieser Hinsicht eine hilfreiche Klassifikation zu ermöglichen. Es muss dann aber hinreichend zwischen der analytischen Erschließung einer Gattung, die durch historische und philologische Arbeit erfolgt, und der nachträglichen Systematisierung unterschieden werden. c) Der Text wird keiner spezifischen Gattung zugeordnet Letztlich erscheint uns der Hinweis wichtig, dass bei der Lektüre eines Textes gar nicht immer ein konkreter Gattungsframe aktiviert wird. Bei zahlreichen Textabschnitten reicht den Rezipienten der allgemeine Frame ‚Erzählung‘ aus. Man sollte also davon absehen, eine Gattungszuordnung rein pro forma vorzunehmen. Demo: Gattungsanalyse zu Mk 10,46–52 (von Esther Buck) Aufgrund der Heilungsthematik (V. 51f.) scheint es zunächst naheliegend, die Perikope der Gattung „Heilungserzählung“ zuzuordnen. So sieht es auch die Mehrheit der Exegeten. 32 Doch ein Vergleich mit anderen Heilungserzählungen bestätigt diesen Eindruck nicht. Nach Berger sind vor allem drei Ereignisse für eine Heilungserzählung kennzeichnend: Die Schilderung der Krankheit, das Heilmittel und der Heilerfolg.33 31 Als παραβολή bezeichnet werden Sprichworte (Lk 4,23; 6,39), Aussprüche (Mk 7,17; Mt 15,15), Bildworte (Mk 3,23; Lk 5,36), Rätselreden (Mk 4,11; Mt 13,10; Lk 8,10), Gleichnisse im engeren Sinne (Mk 4,13.30; 13,28; Mt 13,18.31.33.36; 24,32; Lk 8,4.9.11; 12,41; 13,6; 15,3; 21,29), Parabeln (Mk 12,12; Mt 13,24; 21,33; Lk 18,1; 19,11; 20,9.19) und Beispielerzählungen (Lk 12,16; 18,9). 32 So z.B. R. Pesch, Markusevangelium, 168; E. Lohmeyer, Evangelium, 224; P. Dschulnigg, Markusevangelium, 288 und bereits R. Bultmann, Geschichte, 228. 33 Vgl. K. Berger, Formen, 57. Ähnlich R. Bultmann, Geschichte, 237–238, M. Dibelius, Formgeschichte, 80–83 und K. Kertelge, Wunder, 44, die noch stärker die gleichbleibende Reihenfolge der Motive betonen.

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Im Gegensatz hierzu wird in Mk 10,46–52 die Blindheit des Bartimäus aber eher nur beiläufig erwähnt und es fehlen ein Heilmittel, ein Heilgestus und die Demonstration des Heilerfolgs (z.B. mittels Chorschluss). Demgegenüber ist es auffällig, dass die Figur des Bartimäus durch die Nennung des Namens und der Herkunft individuelle Züge erhält. 34 In den anderen Heilungsberichten des Markusevangeliums (vgl. Mk 1,40; 8,22b) sowie der gesamten synoptischen Tradition bleiben die Kranken hingegen anonym. Auffällig an der Erzählung ist zudem die klar hierarchische Figurenrelation. Jesus wird von Bartimäus ehrenvoll mit „Sohn Davids“ (V. 48) und „Rabbuni“ (V. 51) angesprochen. Der Königstitel „Sohn Davids“ ist vor dem Hintergrund des bisherigen Erzählverlaufs (Mk 1–10) untypisch und weckt daher gerade die Aufmerksamkeit der Rezipienten. 35 Der Titel Rabbuni („mein Gebieter“) verstärkt den Eindruck, dass sich Bartimäus Jesus unterordnet. Er spricht ihn als seinen „Herrn“ und „König“ an, der die Macht hat, ihn zu heilen. Statt der Erwähnung eines Heilmittels steht der Machterweis Jesu im Fokus: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen“ (V. 52). Auffällig ist auch die dringende und wiederholt vorgetragene Bitte des Bartimäus (V. 47f.) um „Erbarmen“, durch die seine Hilflosigkeit und Bedürftigkeit betont werden. Die Asymmetrie zeigt sich letztlich auch im Verhalten Jesu, der Bartimäus nicht persönlich ruft, sondern erst nach wiederholter Bitte zu sich rufen lässt (V. 49). Nicht das Ereignis der Heilung also, sondern die hierarchische Figurenrelation ist für die Perikope kennzeichnend, und diese Relation – so erkennen wir es an den verwendeten Titeln – entspricht dem Verhältnis zwischen einem König und einem Bittsteller. H.-J. Eckstein beschreibt Mk 10,46–52 in diesem Sinne als „die ausgeprägte Darstellung einer antiken herrscherlichen Audienz“36 und erklärt vor diesem Hintergrund auch die auffällige Verwendung des Davidssohn-Titels sowie die wiederholte Bitte um Erbarmen. 37 Ob die intendierten Rezipienten ein entsprechendes literarisches Vorwissen an den Text herantragen sollten und konnten oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um ein allgemeines Skript (Wissen um den Ablauf einer Audienz) handelte, kann m.E. an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Bezüge zu einer Audienz lassen sich in jedem Fall erkennen. An diese Beobachtung soll im Zuge der Texterklärung angeknüpft werden.

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Neben dem „vorbildlichen“ Glauben des Bartimäus ist es v.a. dieses Charakteristikum, das manche Exegeten dazu verleitet hat, die Erzählung als Beispielgeschichte (E. Schweizer, Evangelium, 120), Paradigma (M. Dibelius, Formgeschichte, 49f.) oder Glaubensgeschichte (J. Gnilka, Evangelium, 109) zu verstehen. M.E. beruht diese Gattungseinteilung aber nicht zuletzt auf einem einseitigen Glaubensverständnis, das zu wenig der beschriebenen Hilfsbedürftigkeit und Voraussetzungslosigkeit des Blinden gerecht wird. Die Wirkung der Perikope wird im späteren Teil dieser Proseminararbeit noch eingehend analysiert. 35 Vgl. H.-J. Eckstein, Glaube und Sehen, 41. 36 A.a.O., 41. 37 Vgl. v.a. TestSal 20,1 (βασιλεῦ Σολομῶν, υἱὸς Δαυείδ ἐλέησόν με) [nach neuerer Forschung stammt die Schrift wohl ganz aus dem 4. Jhdt. n.Chr.]. Als weitere Gattungsparallelen aus dem hellenistisch-römischen und alttestamentlichen Bereich kann Eckstein u.a. 2 Sam 14,4– 22; 2 Kön 6,26ff.; 8,3–6; Est 5,1ff.; Tac. Hist. 4,81 nennen. Vgl. daneben auch Suet. Vesp. 7.

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7.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Was ist der Unterschied zwischen der älteren Formgeschichte und der (neueren) Formanalyse? 2. Was ist in der neueren Literaturwissenschaft gemeint, wenn von Gattungen als kognitiven Schemata gesprochen wird? 3. Warum lässt sich am Beispiel von Wundern verdeutlichen, dass das Thema für sich genommen noch kein hinreichendes Gattungskriterium darstellt? 4. Warum muss nicht jeder Text einer Gattung zugeordnet werden?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ an einem neutestamentlichen Text inhaltliche, formale und paratextuelle Gattungsparameter benennen, ■ einen Text anhand von Gattungskriterien mit anderen Texten vergleichen und einem Gattungsschema zuordnen und ■ die Gattungszuordnungen anderer Exegeten kritisch prüfen. Sie kennen jetzt … ■ das Gattungsverständnis der klassischen Formgeschichte (M. Dibelius, R. Bultmann) und der neueren Formgeschichte (K. Berger) sowie ■ das kognitive Gattungsverständnis.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Form- und Gattungsanalyse erkennen und wo Sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, was die Form- und Gattungsanalyse im Blick auf biblische Texte leisten kann. Welche Vorzüge und Nachteile hat Ihres Erachtens eine kognitive Gattungstheorie?

7.4 Literatur 7.4.1 Exegetische Methodenlehren Formanalyse: Berger* 128–136, Bussmann/Sluis* 37–49, Conzelmann/Lindemann* 36–45, Dreytza/Hilbrands* 79–97, Ebner/Heininger* 179–235, Egger/Wick* 255–268, Fohrer/Hoffmann* 82–102, Koch* 100–110, Neudorfer/Schnabel* 279–305, Richter* 79–120.125–152, Söding* 128–173, Söding/Münch* 59–86, Utzschneider/Nitsche* 113–149; englischsprachig: Black/Dockery* 106–127, Croy* 29–52, Hayes/Holladay* 104–114, Marshall* 153–164, McKenzie/Haynes* 58–89, Stuart* 12–15.49f.118–120; französisch: Bauks/Nihan* 95–117; weitere Lit.: Lohfink, G., Jetzt verstehe ich die Bibel, Stuttgart 91978. Formgeschichte („Sitz im Leben“): Adam* 49–62, Adam/Kaiser* 41–50.66–68, Becker* 97– 115, Berger* 111–127, Conzelmann/Lindemann* 82–114.131–148, Dreytza/Hilbrands* 97–99, Ebner/Heininger* 205–235, Fenske* 97–105, Fohrer/Hoffmann* 96–99, Haacker* 48–63, Koch*

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3–44, Kreuzer/Vieweger* 67–79, Lührmann* 80–92, Meiser/Kühneweg* 84–101, Meurer* 81– 87, Richter* 123–125, Schnelle* 100–129, Steck* 98–125, Zimmermann* 125–214. Genrespezifische Auslegung (nur englischsprachig): Black/Dockery* 272–295, Bock/ Fanning* 197–254, Corley/Lemke* 243–354, Croy* 29–52, Duvall/Hays* 225–408, Fee* 6f., Kaiser/Silva* 67–158, Klein/Blomberg/Hubbard* 215–374, Marshall* 229–251, Osborne* 149– 260, Virkler/Ayayo* 147–191.

7.4.2 Lexikonartikel Dormeyer, D., Art. Formen/Gattungen. III. Neues Testament, in: RGG4 3 (2000), 190– 196. (Auflistung mündlicher und schriftlicher Gattungen) Kearns, M., Art. Genre Theory in Narrative Studies, in: RENT*, 201–205. Köster, H., Art. Formgeschichte/Formenkritik. 2. NT, in: TRE 11 (1983), 286–299. Wenzel, P., Art. Gattung, literarisch, in: MLLK4 *, 229f.

7.4.3 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Aune, D.E., The New Testament in its Literary Environment, Philadelphia 1989. (kurze Darstellung neutestamentlicher Formen) Berger, K., Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. (= Berger, Formgeschichte*) Berger, K., Formen und Gattungen im Neuen Testament, UTB 2532, Tübingen/Basel 2005. (Neuausgabe von Berger, Formgeschichte) Bultmann, R., Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen 101995 [1921]. (Standardwerk der klassischen Formgeschichte) Classen, C.J., Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991), 1–33. Doering, L., Ancient Jewish Letters and the Beginnings of Christian Epistolography, WUNT 298, Tübingen 2012. Gunkel, H., Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte, in: Ders., Reden und Aufsätze, Göttingen 1913, 29–38. (Vorläufer der formgeschichtlichen Methode) Karrer, M., Die Johannesoffenbarung als Brief, FRLANT 140, Göttingen 1986. Koch, K., Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 81981. (= Koch*) (Einführung in die formgeschichtliche Methode des Alten Testaments) Porter, St./Adams, S.A. (Hgg.), Paul and the Ancient Letter Form, Leiden u.a. 2010. Theißen, G., Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Untersuchung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 71998.

7.4.4 Literaturwissenschaftliche Gattungstheorie Conermann, St. (Hg.), Was sind Genres? Nicht-abendländische Kategorisierungen von Gattungen, Berlin 2011. Fix, U., Texte und Textsorten, Berlin 2008. Fix, U./Habscheid, St./Klein, J. (Hgg.), Zur Kulturspezifik von Textsorten, Tübingen 2001. Gymnich, M./Neumann, B./Nünning, A. (Hgg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, ELCH 27, Trier 2007. Hempfer, K., Gattungstheorie, UTB 133, München 1973. (älterer Diskussionsstand) Lamping, D. (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009. Zymner, R. (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart 2010.

8

Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

Leitbegriffe Text als „Netzwerk“, Verknüpfungsstärke, Gliederung, Kontext, grammatischsyntaktische Analyse, Satzmuster, textgrammatisches Schaubild, Rhetorik, Rhetorical Criticism, Stilmittel, Stilistik, Sprachstilanalyse, metrische Analyse

8.1 Einführung: Das „Gewebe“ des Textes Wir leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer digital vernetzten Gesellschaft. Familie, Freunde, Bekannte und die Mitstudenten verbinden sich in einer WhatsApp-Gruppe, in Googles Kreisen oder über Facebook miteinander. Wenn man versuchen würde, die verschiedenartigen Beziehungen zwischen Menschen in unterschiedlichen Farben abzubilden, würde man ein wirres Netz oder Abb. 8.1: Mit Wollfäden vernetzt einen Kabelsalat erhalten – jedenfalls ein ziemliches Durcheinander. Das abgebildete Foto zeigt einen Flashmob mit Wolle aus dem Jahr 2010 in Freiburg. Einen Text kann man auch mit einem solchen „Gewebe“ vergleichen1 (lat. textus = Gewebe, Geflecht von texere = weben, flechten). Die Frage nach der Textstruktur schaut auf dieses Gewebe: Welche Wörter sind miteinander „befreundet“? Wie könnte man die „Gruppe“ benennen? Gehören einige Textelemente zu mehreren Gruppen und „befreundete“ Textelemente stehen so im Mittelpunkt des Netzwerks? Gibt es Textelemente, die kaum vernetzt sind und die wie Außenseiter wirken? Wo sind zwei benachbarte Sätze nur wenig verknüpft, so dass die Verbindung leichter gekappt werden kann als zwischen anderen Sätzen? Natürlich kommunizieren die Wörter und Textelemente nicht direkt miteinander; die Verbindungen liegen im Auge (bzw. im Gehirn) des Rezipienten, der die Textelemente anhand der eigenen kognitiven Schemata einander zuordnet.2 (Näheres dazu finden Sie auch in Kap. 9.) Wenn man es 1

Vgl. die schematische Darstellung einer Textstruktur bei Egger/Wick* 44. Eine Kritik am Strukturalismus und an der Intertextualitätstheorie besteht darin, dass diese Literaturtheorien (zumindest in ihrer klassischen Form) sowohl Autor wie auch Leser programmatisch ausblenden, indem sie nur auf die Verknüpfung der Textelemente innerhalb des Textes (bzw. des Textes mit anderen Texten) schauen. Dagegen ist einzuwenden, 2

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

genau nimmt, richtet sich die Strukturanalyse eigentlich auf diejenigen Zuordnungen von Textelementen, die der vom Autor imaginierte Leser anhand seines (auch lückenhaften) Vorwissens möglicherkognitive Strukturanalyse: weise vornehmen kann. Das klingt kompliziert, sollte aber für Zweifelsfälle im Hinterkopf behalten werden. Denn es Welche Textstruktur passiert in der Exegese manchmal, dass bei der Analyse der kann der intenTextstruktur auch Textelemente als „befreundet“ erklärt dierte Leser erwerden, die gar nicht zusammengehören. kennen? Zur Orientierung: Nach der Textbestimmung (B) und der Textentstehung (E) sind wir nun schon seit dem vorigen Kapitel bei der Textstruktur (S) angelangt. In diesen beiden Abschnitten 7 + 8 stellen wir uns die Frage nach dem Wie des Textes. Schon die Analyse der Form und Gattung des Textes war eigentlich ein typisches Struktur-Thema. Nun versuchen wir uns der Struktur des Textes weiter zu nähern: Wie ist der Text aufgebaut, abgegrenzt, stilisiert? Man untersucht dabei, ■ 1. wie die Aussagen des Textes aufeinander bezogen sind, zum Beispiel die berichteten Ereignisse einer Erzählung oder der Aufbau einer Argumentation (Textgliederung); ■ 2. wie der einzelne (Bibel-)Text in den Textzusammenhang eingebettet ist (Textkontext); ■ 3. wie der Text grammatisch-syntaktisch aufgebaut ist (dies ist im Grunde eine Verfeinerung der Textgliederung) (Grammatik); ■ 4. welche stilistischen Mittel dazu verwendet werden (Stilistik). Natürlich können Sie diese vier Untersuchungsaspekte auch umkehren oder einzelne davon auswählen, die aus Ihrer Sicht am wichtigsten sind. Bei diesen vier Schritten folgen wir ganz einfach der bewährten Reihenfolge, vom „Allgemeinen“ zum „Besonderen“ vorzugehen – vom gesamten Text bis hin zu einzelnen grammatischen und stilistischen Details. Andersherum besteht die Gefahr (zugegeben: nur für besonders ehrgeizige Studierende), sich bei der Seminararbeit in zu vielen Einzelanalysen zu verlieren. Also stehen diese hier erst an zweiter Stelle. Aber die Reihenfolge hier ist kein Gesetz der Meder und Perser, das nicht geändert werden dürfte.

dass diese Verknüpfungen ja erst im Kopf des Lesers konstruiert werden, und zwar anhand dessen (auch lückenhaften) Vorwissens. Deswegen sollte man nicht dem klassisch-strukturalistischen Ansatz folgen, sondern kognitiv-konstruktivistisch arbeiten.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Übersicht: Methode (8.2-8.5) 1. Gliederungs- und Argumentationsanalyse: Den Text gliedern und beschreiben, wie Thesen und Argumente aufeinander bezogen sind. 2. Kontextanalyse: Das Verhältnis des Textes zum literarischen Kontext beschreiben (Abgrenzung und Einbindung). 3. Grammatisch-syntaktische Analyse: Die grammatischen und syntaktischen Besonderheiten des Textes beschreiben, insofern diese den Rezipienten auffallen. 4. Stilistisch-rhetorische Analyse: Stilistisch-rhetorische Mittel im Text finden und ihre Funktion beschreiben.

In fast allen Methodenbüchern zur biblischen Exegese wird die „klassische“ historisch-kritische Methode inzwischen schon durch Ausführungen zur Text- und Sprachanalyse ergänzt. Allerdings: Es variiert nicht nur die Bezeichnung des Methodenschritts, 3 sondern auch die Verortung im Methodenkanon4 und die Abgrenzung von anderen Methodenschritten. Zum Beispiel werden im Rahmen der ‚Sprachanalyse‘ nicht nur die syntaktische Analyse, sondern auch Aspekte der Semantik, der Narratologie und der Pragmatik behandelt. 5 In diesem Lehrbuch wird anders ausdifferenziert: Der Frage der Wortbedeutung und den narratologischen Aspekten werden eigene Abschnitte unter dem Stichwort „Texterklärung“ gewidmet. Die Textpragmatik (d.h. die Frage nach der beabsichtigten Wirkung auf den Leser) schließt sich in einem weiteren Kapitel „Textnachwirkung“ an.

Auf die Textstruktur folgen noch weitere Kapitel zur Texterklärung und Textwirkung. Die Untersuchung des „Wie“ des Textes ist also ein Zwischenschritt. Wenn wir uns im Rahmen dieses Kapitels mit der „Textstruktur“ beschäftigen, sollen daher nicht einfach abstrakte Strukturen und Gestaltungsmittel betrachtet werden. Es steht indirekt zugleich die Frage im Raum, wie die neutestamentlichen Autoren – bewusst oder intuitiv – diese Mittel eingesetzt haben, um ihre Leser und Hörer für sich bzw. ihre Botschaft zu gewinnen: Wie wird durch die gegebene Argumentationsstruktur das Textverständnis unterstützt? Welche Wirkungsabsicht verfolgt der Autor mit seiner Verwendung der 3

Vgl. die verschiedenen Bezeichnungen etwa bei Schnelle* 56–64 (Textanalyse); Egger/Wick* 115–136 (Sprachlich-syntaktische Analyse); Fenske* 89–96 (Linguistik) und Ebner/Heininger* 57–131 (Textbeschreibung: Die Sprachliche Analyse). 4 Zwischen Textkritik und Literarkritik (Schnelle*, Kreuzer/Vieweger*, Ebner/Heininger*), nach der Literarkritik (Fohrer/Hoffmann*), innerhalb einer Grundkategorie Textinterpretation (Söding*, Utzschneider/Nitsche*) oder im Rahmen der Redaktionsgeschichte (Meiser/Kühneweg*). Vgl. Finnern* 13f. 5 Unter dem Stichwort „sprachliche Analyse“ findet man manchmal auch narratologische Methoden, z.B. bei Ebner/Heininger* 75–78 (Aktanten), 79–81 (zeitliche Aspekte der Handlung), 81–86 (Perspektivenanalyse), 86–91 (Aspekte der Figurenanalyse). Tatsächlich kann man die narratologische discourse-Analyse zur „Textstruktur“ ziehen, anknüpfend an die in der Erzähltheorie übliche Differenzierung zwischen inhaltlichen Aspekten (story) einer Erzählung und den Aspekten der erzählerischen Vermittlung (discourse). Aus didaktischen Gründen haben wir uns in diesem Buch jedoch für eine zusammenhängende Darstellung der erzählwissenschaftlichen Aspekte entschieden.

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

rhetorischen Mittel? Daher ist die genaue Untersuchung der Struktur keine l’art pour l’art (keine Kunst um der Kunst willen), sondern sie dient einem anderen Ziel. 8.2 Textgliederung Eine Textgliederung verhilft dazu, sich den Aufbau des Textes bewusst zu machen: Welche Sätze gehören inhaltlich zusammen? Wo beginnt ein neuer Abschnitt? Welche Abschnitte bilden einen Sinnzusammenhang? Eine solche Gliederung ist auf der „Mikro-Ebene“ einer einzelnen Perikope (einem Textabschnitt aus der Bibel) wie auch auf der „Makro-Ebene“ des gesamten literarischen Werkes möglich. Zwei Vergleiche: Stellen Sie sich vor, der Bibeltext wäre eine Tafel Schokolade, die Sie lesend Stück für Stück aufessen (das ist nicht ganz abwegig, vgl. Psalm 119,103). Eine Schokoladentafel hat mehrere Einkerbungen als Sollbruchstellen. Wo in diesem Text ist die erste „Bruchstelle“, die das erste Häppchen abtrennt? Wenn man die verbleibenden Bruchstücke nimmt: An welchen Stellen beginnen die nächsten Textportionen? – Oder man kann das Lesen eines Textes mit der Aufführung von Musik vergleichen: So wie Noten durch Taktstriche oder Wiederholungszeichen gegliedert werden, so ist auch ein Text eine strukturierte Partitur.

Die Textgliederung ist nicht immer einfach. In heutigen Texten gibt es verschiedene Satzzeichen, die als Gliederungs- und Lesehilfe dienen, ja sogar Absätze und Zwischenüberschriften. Doch im griechischen Text des Neuen Testaments gab es dies alles noch nicht, auch nicht im ursprünglichen hebräischen Text des Alten Testaments. Vertrauen Sie also bitte nicht kritiklos den masoretischen Textgliederungszeichen in der Biblia Hebraica oder den Satzzeichen in der Ausgabe von Nestle-Aland! Als Annäherung an die eigene Gliederung wird empfohlen, zunächst intuitiv einen ersten Entwurf einer Textgliederung zu erstellen. Präzisieren kann man den Entwurf immer noch. In jede Gliederungszeile gehören Gliederungsziffer, ein zusammenfassender Satz bzw. Stichwort sowie die Angabe der Verse. Wenigstens bei den Haupt-Gliederungspunkten ist es hilfreich, einen kurzen zusammenfassenden Satz für diesen Abschnitt zu schreiben, d.h. mit Subjekt und Prädikat. Wenn Sie Unterpunkte eröffnen möchten, bedenken Sie, dass auf ein 1.1 auch ein 1.2 folgen muss (denn wer A sagt, muss auch B sagen) und dass alle Unterpunkte zusammen nicht mehr und nicht weniger als den Hauptgliederungspunkt ergeben. Sie können Ihre Gliederung auch mit den Inhaltsverzeichnissen von exegetischen Kommentaren vergleichen.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Methode der Gliederungsanalyse 1. Gliedern Sie den Text mit Hilfe der Dezimalgliederung. Fassen Sie die zu jedem Gliederungspunkt gehörenden Verse in einem Satz zusammen. Sinnvoll können Unterpunkte sein, die einen Gliederungspunkt weiter aufschlüsseln. 2. Geben Sie dem Text eine Überschrift, die den Inhalt des Textes möglichst gut zusammenfasst. 3. Zur genauen Analyse: Begründen Sie Ihre Gliederung, auch im Vergleich mit anderen Gliederungen. (4. Wenn Sie die weiteren Schritte Grammatisch-syntaktische Analyse, Texterklärung und Textnachwirkung fertig haben, schauen Sie Ihre Textgliederung mit den neuen Erkenntnissen nochmal an.)

Beispiel: Johannes 5,1–96 Jesus heilt einen Kranken am Teich Betesda 1. Jesus: Er geht zum Fest nach Jerusalem (V. 1). 2. Der Kranke: Er liegt in der Halle am Teich Betesda (V.2–5). 2.1 Der Ort (V. 2)

2.2 Die vielen Kranken (V. 3) 2.3 Der eine Kranke (V. 5)

3. Jesus sieht und kennt den Kranken (V. 6a).

4. Jesus spricht mit dem Kranken (V. 6b–7). 4.1 Die Frage Jesu (V. 6b) 4.2 Die Antwort des Kranken (V. 7) 4.2.1 Er hat niemanden, der ihm hilft (V. 7a)

4.2.2 Andere sind schneller (7b)

6

Johannes 5,1–9 (Übersetzung: Elberfelder) 1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2 Es ist aber in Jerusalem bei dem Schaftor ein Teich, der auf hebräisch Betesda genannt wird, der fünf Säulenhallen hat. 3 In diesen lag eine Menge Kranker, Blinder, Lahmer, Dürrer. 5 Es war aber ein Mensch dort, der achtunddreißig Jahre mit seiner Krankheit behaftet war. 6 Als Jesus diesen daliegen sah und wußte, daß es schon lange Zeit so mit ihm steht, spricht er zu ihm:

7

Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, daß er mich, wenn das Wasser bewegt worden ist, in den Teich werfe; während ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab.

Eine Textgliederung kann natürlich auch künstlerisch als „pictograph“ (Croy* 186, 188) umgesetzt werden, nur sollte dann eine gut begründete Gliederung zugrunde liegen.

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

5. Jesus heilt den Kranken (V. 8–9a). 5.1 Jesus spricht: Geh umher (V. 8).

5.2 Der Kranke geht umher (V. 9a).

6. Der Tag der Heilung: Sabbat (V. 9b).

Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher! 9 Und sofort wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett auf und ging umher. Es war aber an jenem Tag Sabbat. 8

Aufgabe: (1) Nehmen Sie sich Römer 12 vor und gliedern Sie diesen Text. (2) Vergleichen Sie Ihre eigene Gliederung anschließend mit der Gliederung in einem Bibelkommentar Ihrer Wahl. Kommentieren Sie die gefundenen Unterschiede: Wo ist Ihre Gliederung besser, wo hat Sie der Kommentar überzeugt? Welche Argumente haben Sie dafür? (3) Wenn möglich: Können Sie Ihre Argumente für die bessere Gliederung zu Argumente-Kategorien zusammenführen?

Vertiefung: Die Gliederung begründen Vielleicht merken Sie anhand der Aufgabe, dass es schwierig ist, sich auf die gleiche Gliederung zu einigen. „When dealing with the outline of a book, it is a simple fact that there are as nearly as many outlines as there are scholars.“ (Osborne* 124)

Wissenschaftlich arbeiten heißt, so genau wie möglich die eigene Analyse zu begründen. Wo beginnt und endet ein Satz, ein Absatz, eine wörtliche Rede, ein Gliederungspunkt? Leider gibt es bisher keine eindeutige Methodik – und selbst wenn man sich über Kriterien einig wäre, kann es weiterhin Grenzfälle geben. Eine Hilfe kann es sein, Gliederungssignale bzw. „Texttrenner“ zu suchen: In allen Texten finden sich explizite Gliederungssignale wie Konjunktionen („dann“, „deswegen“, „aber“ → vgl. Syntax) oder auch implizite Gliederungssignale, zum Beispiel ein Wechsel in der Gattung (z.B. bei einem neutestamentlichen Brief der Übergang vom Eingangsgruß zum Eingangsgebet), ein Wechsel des Grundgedankens oder der erzählten Szene. Bei erzählenden Texten sind die Gliederungsmöglichkeiten noch vielfältiger als bei argumentativen (Brief-)Texten. Zum Beispiel kann die Gliederung erzählender Texte nach allen Aspekten Verknüpfungsstärke einer Erzählung erfolgen. Die Aspekte Handlung, Raum, Figur und Perspektive werden in der Einheit Narratologie (Kap. 11) ausführlich dargestellt und können dort im Hinblick auf ihr Gliederungspotenzial befragt werden. Die genaue Verknüpfungsstärke zwischen mehreren Episoden kann mit Hilfe folgender Kriterien abgewogen werden:7 7

Vgl. jetzt F. Wilk, Erzählstrukturen im Neuen Testament, UTB 4559, Tübingen 2016.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

109

Kriterien für Verknüpfungsstärke 1.

kausaler Handlungszusammenhang

2.

Übereinstimmung der Thematik

Änderung der Thematik

3.

--

beim Ort

--

des Ortes

4.

--

bei der Zeit

--

des Zeitflusses

5.

--

bei den Objekten

--

der Objekte

6.

--

bei den beteiligten Figuren

--

der beteiligten Figuren

7.

gleiche Erzählperspektive

8.

gleiche Erzähltechnik

Tab. 8.2: Einflussfaktoren für die Verknüpfungsstärke zwischen Erzählabschnitten

Literatur zur Verknüpfungsstärke: E.-M. Becker, Was ist „Kohärenz“? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94 (2003), 97–121; einführend: H. Utzschneider/E.-M. Becker/Chr. Gansel, Art. Kohärenz/Inkohärenz, in: LBH*, 328–330. Siehe auch in Kapitel 3 den Exkurs zu Kohäsion und Kohärenz.

8.3 Kontextanalyse Wir selbst mögen es im Alltag nicht, wenn unsere Worte aus dem Zusammenhang gerissen werden, doch bei biblischen Texten geschieht es häufig. Eigentlich ist die viel verwendete Herrnhuter Tageslosung eine gute Sache, aber naja: Wer von Ihnen schlägt sie nochmal in der Bibel nach und schaut, was sie dort bedeutet? – Wissenschaftlich dagegen ist es unverzichtbar, die biblischen Aussagen nicht isoliert zu betrachten, sondern sie im Kontext zu lesen: Was steht davor und was danach? Wie hängt der eigene Textausschnitt damit zusammen? Daher ist nicht nur eine GlieAbb. 8.3: Kontexte derung des eigenen Textabschnitts erforderlich (nach Duvall/Hays* 122) (vgl. 8.2), sondern man sollte auch die „MakroGliederung“ des biblischen Buches anschauen. Die Kontextanalyse untergliedert sich in die Frage nach a) Abgrenzung und b) Einbindung. a) Formen und Stärken der Einbindung: Ein Text ist nicht nur in den historischen situativen Entstehungskontext eingebunden (→ Kap. 4), sondern auch in einen literarischen Kontext (linguistisch: „Kotext“ ohne „n“, im Gegensatz zum situativen Kontext). Zu diesem Kontext steht ein Textabschnitt immer in Beziehung. So beeinflusst die Stellung eines Textabschnitts im Textganzen die Rezeption und das Textverständnis. Informationen, die die

110

8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

Rezipienten zu einem früheren Zeitpunkt erhalten haben, können aktiviert werden, z.B. werden in Erzählungen Figuren wiedererkannt und Ereignisse aufgrund des vorherigen Erzählverlaufs erklärt. Bei nichterzählenden Texten werden z.B. Bezüge zu einer vorherigen Argumentation erkannt. b) Formen und Stärken der Abgrenzung: Umgekehrt lässt sich auch erkennen, dass sich Texte von ihrem Kontext abheben und abgrenzen lassen. Die in der Exegese gebräuchliche Bezeichnung „Perikope“ (gr. peri-koptein: ringsherum abschneiden) für einzelne Textabschnitte leitet sich von dieser Möglichkeit der Abgrenzung ab. Eine Einteilung biblischer Schriften nach Perikopen erfolgte bereits in der frühen Kirche, weil hier der Wunsch nach einer einheitlichen liturgischen Leseordnung aufkam (vgl. zu den sog. Lektionaren Kap. 2). Aber auch in unseren deutschen Übersetzungen finden sich Einteilungen und Abgrenzungen, wie z.B. die Kapitel- und Verszählung oder Zwischenüberschriften. Solche Einteilungen beruhen aber eher auf intuitiven Entscheidungen oder Traditionen und können in der Exegese nicht einfach unhinterfragt übernommen werden. Die Kapitelzählung der Bibel geht auf den englischen Theologen Stephen Langton (1150–1228) zurück. Die heutige Verszählung verbreitete sich erst im 16. Jahrhundert im reformierten Raum und setzte sich ab 1551 mit den Bibeldrucken des Verlegers Robert Estienne durch. Ob nun diese Kapitel- und Verszählung die Struktur des Bibeltextes angemessen wiedergibt, ist in jedem Fall klärungsbedürftig. Methode der Kontextanalyse 1. Wenn Sie einen einzelnen Textabschnitt untersuchen: Beschreiben Sie, was vor und was nach dem Text steht. Woran knüpft der Text an? Wie geht der Text weiter? 2. Welche Ähnlichkeiten finden Sie und in welcher Erinnerungs-Reichweite zu Ihrem Text? Wie und wo hängt der Text also mit dem Kontext zusammen? 3. Warum steht der Textabschnitt genau an dieser Stelle im Text? 4. Zur genaueren Analyse: Beschreiben Sie die Übergänge (Episodenwechsel) vom vorherigen Textabschnitt und zum nachfolgenden Textabschnitt.

Beispiel zu Schritt 1–3: Johannes 5,1–9 Vor der Heilung des Kranken am Teich Betesda steht eine andere Krankenheilung: Jesus heilt den Sohn eines königlichen Beamten (Joh 4,43–54). Diese zwei Heilungen sind wohl beispielhaft von Johannes so zusammengestellt, weil sie zwei Möglichkeiten in einem Spektrum repräsentieren (Heilung eines Jungen – Heilung eines „Alten“; Heilung in Galiläa – Heilung in Jerusalem; Heilung aufgrund von Bitten – Heilung ohne Bitte).

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Literatur: Söding* 117–127 („Kontextanalyse“), Stadelmann/Richter* 77–87; engl.: Blomberg* 93–116, Croy* 16–24.52–57, Duvall/Hays* 119–131, Klein/Blomberg/Hubbard* 156–171, Osborne* 21–40.

Zur genaueren Analyse kann man auch die Übergänge beschreiben (vgl. Teilschritt 4): Welche Szenen zu einer gemeinsamen Episode gehören, ist bei Erzählungen (Texten oder Filmen) an gemeinsamen Handlungs- und Geschehensinterferenzen zu erkennen sowie an Überschneidungen bei der Figurenkonstellation oder einer gewissen Konstanz beim setting und der Zeitangabe. Ein Veränderung bei einem oder mehreren dieser Aspekte kann hingegen für einen Einschnitt und damit einen Episodenwechsel sprechen. Dabei gibt es zwischen mehreren Episoden allerdings nicht immer einen harten cut. Übergänge sind nicht selten fließend. Deswegen kann es in der Kontext-Analyse auch darum gehen, diese Übergänge am Anfang und am Schluss des eigenen Textes zu beschreiben. Beispiel zu Schritt 4: Interferenzen und Veränderungen zwischen Mt 28,1–8 und 27,62–66 Untersucht man, wie die Perikope Mt 28,1-8 an die vorangehenden Episode Mt 27,62–66 anknüpft, so lässt sich zwischen beiden Abschnitten zunächst eine Geschehensinterferenz sowie eine punktuelle Kontinuität beim Figurenbestand feststellen. So wird die Anwesenheit der Wachen in Mt 28,1–8 durch den vorherigen Befehl des Pilatus plausibel gemacht. Andererseits wird in Mt 28,1 jedoch eine zeitliche Zäsur gesetzt („nach dem Sabbat“). Und während Mt 27,62–65 im Palast des Pilatus situiert ist und V. 66 von der Ausführung des Befehls berichtet, ist die Episode Mt 28,1– 8 am Grab Jesu platziert. Mit dem Auftreten der beiden Frauen (vgl. Mt 27,61) wird an die vorherige Grablegung Jesu angeknüpft und damit zugleich ein Einschnitt zu Mt 27,62–66 markiert. Insgesamt liegt zwischen den beiden Textabschnitten zwar kein harter cut vor, aber doch ein mittelstarker und erkennbarer Episodeneinschnitt.

Aufgabe: Beschreiben Sie den Episodenwechsel von Mt 28,11–15 zu V. 16–20.

8.4 Grammatisch-syntaktische Analyse Bei diesem Methodenschritt geht es darum, die Grammatik und Syntax des Textes zu beschreiben. Hierzu kann man auf die wissenschaftlichen Grammatiken zum Neuen Testament zurückgreifen (→ Literatur). Im Rahmen von Grammatik, Syntax und Textstruktur können drei Dinge aufeinander aufbauend untersucht werden: ■ ■

1. die Wortarten und Wortformen, 2. die Zusammenfügung einzelner Wörter zum Satz,

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

■ 3. die Verknüpfung von Sätzen. 8 Tatsächlich beschäftigt sich die grammatisch-syntaktische Analyse mit all diesen Kategorien. Aber Vorsicht: Man kann viel Zeit damit verbringen, alle Wortarten und Wortformen zu bestimmen, Satzbaupläne zu erstellen und und die Verknüpfungen zwischen den Sätzen zu skizzieren. Bei der GesamtExegese eines Textes im Rahmen einer Proseminararbeit sollten am Ende nur jene grammatisch-syntaktischen Aspekte des Textes herausgestellt werden, die im Lektüreprozess mehrdeutig oder besonders auffällig sind: Welche Wortarten, Wortformen oder Verknüpfungen sind auf den ersten Blick unklar? Welche grammatischen Phänomene sind auffallend? Methode der grammatisch-syntaktischen Analyse 1. Die Wortarten und Wortformen im Satz bestimmen, 2. die Zusammenfügung einzelner Wörter zum Satz beschreiben und 3. die Verknüpfung von Sätzen analysieren (Vertiefung und Kontrolle der Textgliederung).

1. Wortarten und Wortformen im Satz bestimmen Im Hinblick auf die Wortarten werden Substantive, Verben, Pronomen, Adjektive, Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen unterschieden. Im Zuge einer genauen Analyse können diese Wortarten im Text in verschiedenen Farben markiert werden. Zudem lässt sich diese Häufigkeit, mit der eine bestimmte Wortart im Textabschnitt verwendet wird, in eine Tabelle eintragen. Bibelprogramme wie Accordance oder BibleWorks (s. Literatur) sind dabei überaus hilfreich. Eine Analyse der Wortarten ist arbeitsaufwändig und stellt auch nur den Ausgangspunkt für die grammatische Beschreibung eines Textes dar. In einem zweiten Schritt gilt es auch zu klären, ob die relative Häufung einer bestimmten Wortart vielleicht signifikant ist: Fällt sie auch im unmittelbaren Lektüreprozess auf? Dabei können folgende Kontrollfragen hilfreich sein: ■ ■ ■

8

Hebt sich der Text vom literarischen Kontext oder vom Eindruck, den die Rezipienten bisher vom Schreibstil eines Autors gewonnen haben, ab? Ist die beobachtete Häufung auf die äußere Form bzw. Gattung zurückzuführen oder fällt sie den intendierten Rezipienten trotz bekannter Gattungskonventionen auf? Zeichnet sich der gesamte Textabschnitt durch die Häufung einer Wortart aus oder ist die Häufung eher punktuell (zu Beginn, in der Mitte, am Ende)?

Vgl. zu dieser Einteilung Hoffmann/von Siebenthal* § 126 (S. 169). Vgl. dort §§ 126–252 (Wortarten und Wortformen), §§ 253–265 (Verknüpfung der Worte), §§ 266–290 (Satzverknüpfungen). Es ist kein Fehler, sich mit diesen Abschnitten vertraut zu machen.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

113

In Analogie zu den Wortarten lassen sich auch die Wortformen eines Textes analysieren und tabellarisch auswerten. Hier ist dann auf den Kasus sowie das Tempus und den Modus des Verbs (Indikativ, Konjunktion, Optativ, Imperativ) zu achten. Zur Analyse von Wortarten und Wortformen: (a) Programme: Accordance 11, 2014 (auch für Mac; 49 € + 299 €), www.bibelonline.de; BibleWorks 10.0, Norfolk 2015 (389 US-$), www.bibleworks.com; Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB) 3.0, Stuttgart 2009 (249 €, wird nicht weiterentwickelt); nur elektronische Konkordanz: bibeldigital: Nestle-Aland Novum Testamentum Graece (28. Aufl.), CD-Rom, Stuttgart 2015 (39,99 €), www.bibeldigital.de; (b) Bücher: W. Haubeck/H. von Siebenthal, Neuer sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament, Gießen 22007; W.D. Mounce, The Analytical Lexicon to the Greek New Testament, Grand Rapids 1993. Grammatiken: H. von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Gießen 2011 (Neubearbeitung des ‚Klassikers‘ Hoffmann/von Siebenthal); F. Blass/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 182001 (Abkürzung „BDR“); D.B. Wallace, Greek Grammar Beyond the Basics. An Exegetical Syntax of the New Testament, Grand Rapids 1996. Aufgabe: Machen Sie sich mit einem elektronischen Bibelprogramm vertraut, zum Beispiel Accordance 11 oder BibleWorks 10. Recherchieren Sie, welche Funktionen das Programm anbietet, und tauschen Sie sich mit anderen Studierenden darüber aus. Falls Sie Zugriff auf eines der Programme haben, probieren Sie jeweils die Suchfunktion aus.

2. Zusammenfügung einzelner Wörter zum Satz beschreiben Eine bloße Ansammlung von Wörtern macht noch keinen Satz. Vielmehr gibt es in einem Satz immer konstitutive (notwendige) Satzglieder, ohne die ein Satz grammatisch betrachtet unvollständig Woraus besteht ein „Satz“? bliebe, und entbehrliche Satzglieder, die grammatisch gesehen nicht notwendig sind und die für sich genommen noch keinen Satz bilden können. Zu den notwendigen Satzgliedern zählen das Subjekt und das Prädikat. Daneben kann es noch den sogenannten Prädikatsverband geben. In diesem Fall ist ein Prädikat notwendigerweise auf die Ergänzung weiterer Satzelemente angewiesen. Ein Satz kann nun danach untersucht werden, inwiefern er sich lediglich auf notwendige Satzglieder beschränkt oder durch besonders viele Ergänzungen (Objekte, Subjekts- und Objektsergänzungen, Umstandsergänzungen und Attribute) gekennzeichnet ist. Die Abhängigkeit der Satzglieder lässt sich auch grafisch in einem Satzmuster (oder Satzbauplan) veranschaulichen.

114

8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil Beispiel: Satzmuster zu Mt 4,19 nach Hoffmann/von Siebenthal* § 254c (S. 453) Satz

Prädikatsverband Subjekt

(ἐγὼ)

Prädikat

1. Ergänzung: Akkusativobjekt

ποιήσω

ὑμᾶς

2. Ergänzung: Objektsergänzung

ἁλιεῖς

ἀνθρώπων

Achtung: Ein „Satz“ in diesem textlinguistischen Sinn ist unabhängig von der Interpunktion. Der Textlinguist Klaus Brinker gibt dazu folgendes Beispiel:9 Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. (Originaltext von M. Claudius) Textlinguistisch gesehen besteht dieses Textsegment eigentlich aus vier oder besser fünf Sätzen: Der Mond ist aufgegangen. Die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz. Und (der Wald) schweiget. Und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Man kann sich als Faustregel merken: Jedes Prädikat „macht“ einen eigenen Satz, wobei Wörter wie ἐστίν auch mal gedanklich ergänzt werden müssen. Verben, die in Form von Partizipien, Infinitiven oder im AcI vorkommen, ergeben zusammen mit den dazugehörigen Wörtern oft das Subjekt oder Objekt eines übergeordneten Satzes (Subjektsatz oder Objektsatz). Aufgabe: Nehmen Sie das Textsegment Röm 12,1–2 und unterteilen Sie diesen langen Paulus-Satz in grammatische Sätze. Erstellen Sie einen Satzbauplan. Vertiefen Sie die grammatischen Fragen mithilfe eines sprachlichen Schlüssels oder einer Grammatik.

In exegetischen Kommentaren findet man (bisher) keine grammatischen Satzbaupläne oder genauere Untersuchungen dazu. Freilich, dies gehört zur analytischen Vorarbeit, für die im gedruckten Bibelkommentar kein Platz (mehr) ist. Vielleicht finden Sie als neue studentische Generation einen Ort im Internet, wo Sie solche Satzbaupläne einstellen und diskutieren.

9

Brinker, Linguistische Textanalyse, 23f. (Berücksichtigung von Anm. 4 bei Brinker).

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Literatur zu Satzbauplänen: H. von Siebenthal, Sprachwissenschaftliche Aspekte, in: Neudorfer/Schnabel* 110–117 (‚lexikalisch-grammatische Textanalyse‘); engl.: Bock/ Fanning* 73–134 (‚sentence diagramming‘), Guthrie/Duvall* 27–37.122–124 (‚grammatical diagramming‘), Fee* 41–58 (‚sentence flow‘).

3. Verknüpfung der Sätze analysieren Nun lässt sich in einem dritten Schritt die Verknüpfung der einzelnen Sätze untersuchen. Die Textlinguistik hat hierzu ausgefeilte Modelle entwickelt, die bisher eher nur im englischsprachigen Raum für die Bibelexegese rezipiert worden sind. Oft – aber nicht immer – geben bereits die Partikeln und Konjunktionen einen entscheidenden Hinweis, wie die Sätze aufeinander bezogen sind. Die folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung wichtiger Konjunktionen und klassifiziert diese nach ihrer Funktion: nebenordnende Konjunktionen

unterordnende Konjunktionen

καί - καί, τε - τε / καί τε καί (sowohl – als auch) kopulativ (verbindend)

οὔτε - οὔτε μήτε - μήτε (weder – noch)

ὅτε, ἡνίκα, ὁπότε (als, nachdem) temporal (zeitbestimmend)

δέ, οὐδέ / μηδέ (und / und nicht)

disjunktiv (trennend)

ἤ, ἤ - ἤ (oder/ entweder – oder) εἴτε - εἴτε πότερον - ἤ (ob – oder)

adversativ/ restriktiv (entgegengesetzt/einschränkend)

ἀλλά, δέ, πλήν (aber; nur)

kausal (begründend) konsekutiv (Folge angebend)

komparativ (vergleichend)

ὡς (als, nachdem; während; wenn) ὅταν, ἐπάν (wenn, sobald, immer wenn) πρίν (bevor)

ὡς, ὥσπερ (wie) καθάπερ, καθώς (ebenso wie)

final (Absicht angebend)

ἵνα [μή], ὅπως [μή] (damit [nicht])

γάρ (denn)

kausal (begründend)

ὅτι, διότι (weil) ἐπεί, ἐπειδή (weil, da ja)

οὖν, ἄρα (also, folglich) διό (weshalb, deshalb)

konsekutiv (Folge angebend)

ὥστε, ἵνα (so dass)

μὲν - δέ (zwar - aber) μέντοι (jedoch)

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

konzessiv (einräumend) konditional (Bedingung angebend)

εὶ καί, ἐάν καί (wenn auch) nach Negation: εὶ μή (außer) ἐάν (wenn) εἴτε – εἴτε (ob – oder)

Tab. 8.4: Satzbeziehungen durch Konjunktionen

Die folgende Tabelle mit möglichen Beziehungen von Textteilen ist eng angelehnt an die Übersicht des Linguisten Heinrich von Siebenthal:10 A) Beziehungen zwischen einem Konzept und einer Proposition: Sache–Identifizierung Sache–Beschreibung

Die Bilder, die vom Künstler selbst sind, sind begehrter. Die Studierenden, die bester Laune waren, …

B) Beziehungen zwischen zwei Propositionen: Beziehungstyp 1. Proposition 2. Proposition 1) Die beiden Komponenten haben (kommunikativ) das gleiche Gewicht. a) Zeitorientierte Beziehungen zeitliche Folge: Er beendete seine Arbeit und ging daraufhin zu Bett. Kern1 – Kern2 Gleichzeitigkeit: Er begleitete sie auf dem während sie sang. Kern1–Kern2 Flügel, b) Nichtzeitorientierte Beziehungen Verknüpfung („und“) Sie ist Sängerin und hat blonde Haare. Kern1–Kern2 Alternativen („oder“) Warte vor der Tür, oder setz dich in diesen Kern1–Kern2 Sessel. Kontrast („doch“) Wenn er kommt … Doch wenn er nicht kommt Kern1–Kern2 … 2) Die beiden Komponenten haben (meist) unterschiedliches Gewicht a) Zeitorientierte Beziehungen Bewegung–Ziel (Handeln Er gab seine Karriere auf, um sich ganz der Kunst zu mit bewusster Absicht) widmen. Geschehen–Ergebnis (das Sie führte ein solch aufdass sie schließlich mittellos eine ist Auslöser des ande- wendiges Leben, dastand. ren) b) Nichtzeitorientierte Beziehungen 1. Die erste Proposition bestimmt die zweite näher. Einleitung–Inhalt Sie sagte, sie gehe jetzt. Umstände–Kern Als er das Signal hörte, marschierte er los. 10 H. von Siebenthal, Sprachwissenschaftliche Aspekte, in: Neudorfer/Schnabel* 125–127. Viele neutestamentliche Briefe sind im Rahmen der SSA-Kommentarreihe in dieser Weise analysiert worden (→ Literatur).

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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2. Die zweite Proposition stellt die erste neu dar. Kern–Entsprechung Pass auf und sei vorsichtig! Kurzform–VerdeutliEr ist Lehrer; er unterrichtet Mathematik. chung genus–specificum Er bereitete das Fleisch zu; er schnitt es klein und … . genus–specificum Er bringt sich mit fragwüres geht ihm nur ums Geld. (nur ein specificum) digen Motiven ein; negativ–positiv (mit inEr will dich nicht schikasondern das Beste aus dir haltlicher Entsprechg.) nieren, herausholen. 3. Vergleichende Beziehungen (ähnliche oder unähnliche Konzepte) Kern–Vergleich Er ist reich wie Krösus. Kern–Illustration Er ist immer so zuvorkomwie er sich heute ihr gegenmend, über verhalten hat. Entsprechung–Maßstab Er lebt so, wie es in der Bergpredigt steht. Kontrast–Kern Hans kann singen, Helmut nicht. 4. Logische Beziehungen (gemeinsam: Ursache – Wirkung) Grund–Ergebnis Weil sie übermüdet war, wurde sie krank. Ergebnis–Mittel Das notwendige Wissen erdurch intensives Studieren. warb er sich Mittel–Zweck Sie lernen intensiv, damit sie das Examen bestehen. Bedingung–Folge Wenn er das Examen behat er alle Voraussetzungen steht, für diesen Beruf. Einräumung–Nichterwar- Obwohl ich früh kam, erhielt ich keinen Platz. tetes Folgerung–Begründung Er muss da sein; denn sein Auto ist hier. Aufforderung–BegrünDu musst zum Schluss denn deine Zeit ist abgelaudung kommen; fen. 5. Assoziative Beziehungen Kern–Kommentar Er sang mehr als zwei Da wäre weniger auch Stunden lang. mehr gewesen. Kern–Parenthese Sie stiegen sorgfältig ange– Schon viele Berggänger seilt in die Wand. meinten, auf das Seil verzichten zu können. – Tab. 8.5: Mögliche Beziehungen von (elementaren) Sätzen

Jedes Propositionspaar (z.B. Aufforderung–Begründung) bzw. Propositionsgruppe (z.B. Aufforderung–Begründung1–Begründung2) bildet auf allgemeinerer Ebene wiederum ein Element, das mit anderen Propositionen oder Propositionsgruppen in Beziehung steht. Beispiel: „Er muss da sein; denn sein Auto ist hier. Aber ich finde ihn nicht. Komisch!“

Folgerung Begründung

Einräumung Nichterwartetes

Kern Kommentar

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

Demo: Textgrammatisches Schaubild zu Römer 6,22 (Einleitung) negativ Geschehen positiv Grund ‚καρπός‘ Ergebnis Identifizierung Ergebnis

νυνὶ δέ || Jetzt aber, ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας || da ihr von der Sünde befreit, δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ || dafür aber Sklaven Gottes geworden seid, ↑↑ ἔχετε τὸν καρπὸν ὑμῶν || werdet ihr als Ergebnis davon εἰς ἁγιασμόν, || ein heiliges Leben führen; τὸ δὲ τέλος ζωὴν αἰ ώνιον. || an dessen Ende aber steht das ewige Leben.

Aufgabe: Nehmen Sie noch einmal das Textsegment Röm 12,1–2 und fertigen Sie ein textgrammatisches Schaubild an, indem Sie die Tabelle von H. v. Siebenthal zu den möglichen Beziehungen zwischen den Sätzen verwenden. Vergleichen Sie Ihr Schaubild mit den Ergebnissen Ihrer Kommilitonen.

Literatur zur textlinguistischen Analyse: H. von Siebenthal, Sprachwissenschaftliche Aspekte, in: Neudorfer/Schnabel* 117–127 (einführend, auf deutsch); exegetisch Guthrie/Duvall* 39–53.125–128; Black/Dockery* 253–271 (empfehlenswert, Autor: Guthrie); Bock/Fanning* 73–134; D.A. Black (Hg.), Linguistics and New Testament Interpretation, Nashville 1992; P. Cotterell/M. Turner, Linguistics and Biblical Interpretation, Downers Grove 1989; St.E. Porter/D.A. Carson (Hgg.), Discourse Analysis and Other Topics in Biblical Greek, JSNT.S 72, Sheffield 1995; J.T. Reed, Discourse Analysis, in: St.E. Porter (Hg.), A Handbook to the Exegesis of the New Testament, Leiden 1997, 189–217. Vgl. die „SSA“-Reihe des Summer Institute of Linguistics zu den neutestamentlichen Briefen: z.B. E.W. Deibler, A Semantic and Structural Analysis of Romans, Dallas 1998 (http://www.sil.org/resources/publications/ssas [abger. 9.4.2016]). – Einblicke in die theoretische Diskussion bieten: E. Gülich/W. Raible, Linguistische Textmodelle, UTB 130, München 1977; T.A. van Dijk, Textwissenschaft, Tübingen 1980, 22– 67; H. Vater, Einführung in die Textlinguistik, UTB 1660, München 32001, 62–85; M. u. W. Heinemann, Grundlagen der Textlinguistik, Tübingen 2002, 68–81; K. Brinker, Linguistische Textanalyse, Berlin 52001, 21–82.

Ein „Spezialfall“ bei der Frage, wie die Sätze miteinander verknüpft sind, ist die Suche nach Argumentationsstrukturen. Auch ohne ein ausführliches textgrammatisches Schaubild kann man bei der Argumentationsanalyse untersuchen, wo im Text die (Haupt-)These und die jeweiligen Begründungen genannt werden.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Demo: Thesen und Argumente in 2 Tim 3,1–4,8:11 Begründung für Ermutigung (3,1–5a) negative Ermahnung: „Meide sie“ (3,5b) Weitere Begründungen (3,6–9) Begründungen (3,10–13) positive Ermahnung: „fahre fort“ (3,14a) Weitere Begründungen (3,14b–17)

Um die Begründungsstruktur „hinter“ einer These zu untersuchen, hilft das Modell von Stephen E. Toulmin (engl. The Uses of Argument, 1958):12 Daten

Modifikator (z.B. „vielleicht“) Schlussregel

Konklusion

Ausnahmebedingungen

Stütze Abb. 8.6: Argumentationsmodell von Toulmin

Bei einer genaueren Argumentationsanalyse bestünde die Aufgabe dann darin, die Konklusion (These) ausfindig zu machen, die dazugehörigen Argumente (Daten) zu suchen, die implizit verwendeten Schlussregeln und die stützenden Argumente. Bei der kritischen Betrachtung (→ Kritik des Textes) sollte diese Argumentation daraufhin überprüft werden, ob sie tatsächlich in der Weise zwingend ist, wie sie oft vorgibt zu sein, und ob sie alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt. Literatur zur argumentativen Analyse: Brinker, Linguistische Textanalyse (s.o.), 74–82; G. Brun/G. Hirsch Hadorn, Textanalyse in den Wissenschaften. Inhalte und Argumente analysieren und verstehen, UTB 3139, Zürich 2009, 193–306; M. Herrmann/M. Hoppmann u.a., Schlüsselkompetenz Argumentation, UTB 3428, Paderborn 22012; St.E. Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, Weinheim 1996 (engl. 1958).

8.5 Stilistisch-rhetorische Analyse „Liebe deinen Leser wie dich selbst!“, fordert der Journalist Wolf Schneider in seinem „Handbuch für attraktive Texte“.13 Ja: Texte attraktiv zu gestalten, ist Ausdruck der Nächstenliebe. Schneider will mit diesem in Anlehnung an Lev 19,18 formulierten Aufruf heutige „Liebe deinen Leser“ Autoren zu einem sorgsameren Umgang mit der deutschen Sprache ermutigen. Ein guter Schreibstil sei – so Schneiders 11

Näheres dazu bei Bauer/Traina* 152–157. Abbildung in Anlehnung an A. Linke/M. Nussbaumer/P.R. Portmann, Studienbuch Linguistik, Tübingen 31996, 242–245, hier 243. 13 W. Schneider, Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte, Reinbek 2007, 297. 12

120

8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

These – in der heutigen Zeit wichtiger denn je: Angesichts einer nie dagewesenen Informationsflut könnten sich nur noch solche Texte durchsetzen, die ihre Leser durch eine ästhetisch ansprechende Präsentation der Inhalte zu überzeugen wüssten. Schon in der Antike haben sich Rhetoriklehrer über den „guten Stil“ Gedanken gemacht, beispielsweise Quintilian (ca. 35–100 n.Chr.) mit seinem einflussreichen Werk „Ausbildung des Lehrer des guten Stils Redners“. Auch noch im Mittelalter bestand das „Grundstudium“ innerhalb der Sieben Freien Künste (septem artes liberales) aus folgenden drei Disziplinen (trivium): a) Rhetorik – der Kunst, gut zu sprechen (ars bene dicendi); b) Grammatik – der Kunst, richtig zu sprechen (ars recte dicendi) und schließlich c) Dialektik, d.h. Logik – der Kunst, wahr/Wahres zu sprechen (ars vere dicendi). Obwohl immer wieder kritisiert und an den Rand gedrängt,14 sind Rhetorik und Stilistik bleibend wichtig – in der Antike, im Mittelalter wie auch in Zeiten des Internets. Daher erscheint es auch bei neutestamentlichen Texten angemessen, auf den Schreibstil und die rhetorisch-stilistischen Mittel zu achten, mit denen die Inhalte präsentiert werden. Exkurs: Zur rhetorischen Analyse in der Exegese Dass biblische Autoren bei ihrer schriftlichen Kommunikation mit ihren Lesern und Hörern bewusst oder unbewusst auf bekannte rhetorische Text- und Sprachmuster ihrer Zeit zurückgriffen, rückt in der wissenschaftlichen Exegese etwa seit den 1970-er Jahren wieder in den Blick. Wichtig waren hier vor allem: a) für die Rhetorical NT-Exegese die Forschungen von Hans Dieter Betz, der in seiner Criticism Paulusexegese unter anderem zum Galaterbrief Aspekte der klassischen Rhetorik einbezog (1975/1979); b) für die AT-Exegese die „rhetorische Präsidenten-Ansprache von James Muilenburg vor den Mitgliedern Exegese“ der Society of Biblical Literature, der mit seiner presidential address „Form Criticism and Beyond“ im Jahr 1968 den sogenannten „Rhetorical Criticism“ salonfähig machte. Aber was dann im Einzelnen unter „rhetorischer Exegese“ verstanden wurde, hing vom Exegeten ab. Daher wird angemahnt: „Wenn man für seinen exegetischen Ansatz die Vokabel ‚rhetorisch‘ verwendet, muss man definieren, was man meint.“ 15 Bei genauerem Hinsehen begegnen unter Begriffen wie „rhetorischer Analyse“ bzw. rhetorical criticism konkret einige der folgenden Methodenschritte:16 14 Das frühe Christentum hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur „heidnischen“ Rhetorik, bis die rhetorische Theorie durch Augustinus zu allgemeiner Akzeptanz gelangte. Erst wieder die Aufklärung im 18. Jhdt. und in neuerer Zeit die naturwissenschaftlich orientierte Moderne haben die Rhetorik erneut verdächtig gemacht und in die „Schäm-dich-Ecke“ gestellt, da sie mit ihrer Kunst vermeintlich die Fakten verschleiere. 15 16

Neudorfer/Schnabel* 322.

Vgl. die integrative Methode der rhetorischen Analyse von Watson u.a., wie sie bei Osborne* 125f. wiedergegeben wird: 1. Determine the rhetorical unit (→ Textgliederung), 2. Analyze the rhetorical situation (→ Historischer Ort), 3. Determine the type of rhetoric

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben? ■



■ ■ ■ ■



121

die Zuordnung des Textes zu einer der drei Redegattungen: genus iudiciale (Gerichtsrede), genus deliberativum (politische Rede) oder genus demonstrativum (Festrede), → s. 7. Formanalyse; eine Textgliederung, indem die einzelnen Textabschnitte den rhetorischen Begriffen für Redeteile wie „exordium“, „narratio“, „argumentatio“ usw. zugeordnet werden, → s. 8.2 Textgliederung; die Frage nach den rhetorischen Stilmitteln (Rhetorik als stilistische Analyse), → s. 8.5 stilistische Analyse; die Frage nach der intendierten Textwirkung (Rhetorik als Persuasionsanalyse) → s. 12. Textnachwirkung; die Fragestellung, inwiefern eine Argumentation logisch ist (Rhetorik als Argumentationsanalyse) → s. Analyse der Argumentation; → 13c. Kritik des Textes; die drei rhetorischen Überzeugungsmittel nach Aristoteles: ethos (glaubwürdiger Charakter des Sprechers), pathos (emotionale Erregung) und logos (Argumente); diese kann man wiederfinden in der Perspektivenanalyse (Wahrnehmung des Erzählers, → Texterklärung III: Narratologie), in der Analyse der → 12.2.1 kurzfristigen Textwirkung sowie in der Argumentationsanalyse (→ 8.2). der Fünfschritt bei der Vorbereitung einer Rede: inventio (Stoffsammlung; Inhalt), dispositio (Gliederung; Struktur), elocutio (sprachliche Ausarbeitung; Stil), memoria (das Einprägen ins Gedächtnis) und actio (das eigentliche Halten der Rede). Nur die ersten drei Schritte betreffen schriftliche Texte. Sie sind hier unter → Texterklärung (inventio), → Textstruktur I/II (dispositio) und → Textstruktur II (elocutio) aufgenommen.

Fazit: Weil die Fragestellungen der rhetorischen Analyse schon in anderen Kapiteln methodisch genauer ausgearbeitet sind, ist ein eigener Abschnitt zur rhetorischen Analyse nicht sinnvoll. Im Folgenden werden Rhetorik und Stilistik aber in der Weise aufgegriffen, dass a) rhetorische Stilmittel, b) der Sprachstil des Autors untersucht werden. Hinzu kommt c) der lyrische Stil. Literatur zur rhetorischen Analyse a) Methodenlehren: Neudorfer/Schnabel* 307–324; engl.: Hayes/Holladay* 92–103, McKenzie/Haynes* 156–180, Osborne* 121–126; H.F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg [1971] 92001 (v.a. rhetorische Stilmittel). b) Lexikonartikel: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik [= HWRh], 10 Bde., Tübingen 1992–2011. (11. Band: Register, 2014; das umfassendste Lexikonprojekt zur Rhetorik) c) Weiterführende Literatur: 1) Antike Quellentexte: Aristoteles, Rhetorik, übs. v. F.G. Sieveke, UTB 159, München [1980] 51995; M.T. Cicero, Orator. Der Redner, Lateinisch/deutsch, übs. v. H. Merklin, Reclams Univ.-Bibl., Stuttgart 2004; M.F. Quintilianus, Ausbildung des Redners [Institutio Oratoria]. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch, hg. u. übers. v. H. Rahn, Darmstadt 2011.

employed and the question behind it (Zuordnung zu einer der drei Redegattungen, → Formanalyse), 4. Analyze arrangement, technique and style (→ stilistische Analyse, → erzählerische Mittel), 5. Evaluate rhetorical effectiveness (→ Textnachwirkung).

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

2) Zur (antiken) Rhetorik allgemein: M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Düsseldorf [1984] 52003; K.-H. Göttert, Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, UTB 1599, Paderborn [1991] 42009; H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart [1960] 31990; G. Ueding/B. Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, Stuttgart/Weimar 42005. 3) Zu biblischen Texten: C.J. Classen, Kann die rhetorische Theorie helfen, das Neue Testament, vor allem die Briefe des Paulus, besser zu verstehen?, ZNW 100 (2009), 145–172; Chr. Hoegen-Rohls, „Rhetorical Criticism“. Zur Bedeutung rhetorischer Analyse für das Verstehen neutestamentlicher Texte, PrTh 42 (2007), 93–99; P. Lampe/J.P. Sampley, Paul and Rhetoric, London 2010; R. Meynet, Rhetorical Analysis. An Introduction to Biblical Rhetoric, JSOT.S 256, Sheffield 1998.

8.5.1 Rhetorische Stilmittel Bei einer rhetorisch-stilistische Analyse der neutestamentlichen Texte kann man oft eine reiche Ernte einfahren. Dies gilt insbesondere rhetorische deshalb, weil viele der heutigen rhetorischen Stilmittel beStilmittel sind reits den geschulten Autoren und Rezipienten der Antike der Antike vertraut waren. Und so machten auch die neutestamentlivertraut chen Autoren von diesen Stilmitteln Gebrauch. Methode der stilistischen Analyse 1. Die Stilfiguren im Text (Parallelismus, rhetorische Frage, Metapher, …) benennen. Verwenden Sie eine Übersicht mit Stilmitteln. Schreiben Sie die Bezeichnungen neben oder in den Text. 2. Bei Figuren des Ersetzens (b): Was folgert aus der Stilfigur für die Bedeutung des Textes in diesem Zusammenhang? (vgl. → 10.2.2 semantische Emergenz) 3. Welche psychische Wirkung wird mit der Verwendung dieser Stilfigur jeweils angestrebt (→ Nachwirkung)? Soll sie einfach „schön“ sein, d.h. ästhetische Emotionen hervorrufen?

Die rhetorisch-stilistischen Mittel kann man auf unterschiedliche Weise klassifizieren. Eine denkbare Einteilung ist:17 ■ ■



17

(a) (Reine) Klangfiguren: Die Klangwirkung, der Wohllaut steht im Vordergrund. Psychische Wirkung: Erzeugung von (positiven) ästhetischen Gefühlen. (b) Figuren des Ersetzens (Tropen): Es wird mit der Bedeutung der Wörter gespielt. Die herkömmliche Bezeichnung wird durch die uneigentliche ersetzt (allgemein: Tropus). Psychische Wirkung: Ästhetische Gefühle, Merkbarkeit. (c) Figuren des Weglassens, des Hinzufügens und der Anordnung (Wort- und Satzfiguren): Die Zahl der Wörter oder Gedanken wird auffällig über- oder unterschritten; die Reihenfolge wird auffällig verändert. Psychische Wirkung: Ästhetische Emotionen, didaktische Funktion, argumentative Unterstützung. Auch hier ist oft zusätzlich eine Klangwirkung (a) vorhanden.

Vgl. Baumgarten, Compendium Rhetoricum, 3.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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Insgesamt fördern die Figuren nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Merkbarkeit (die Seligpreisungen Mt 5,1ff. beginnen beispielsweise alle mit π). Mögliche (intendierte) psychische Wirkungen von Stilmitteln sind: ■







Ästhetische Emotionen: Das Erkennen von Korrespondenzen (durch Gleichlaut, Parallelismus etc.) ruft in der Regel ästhetische (positive) Gefühle hervor. Dort, wo der Stil „unter Niveau“ bleibt, können bewusst oder unbewusst auch negative Gefühle erzeugt werden. Didaktische Funktion: Stilmittel fördern die Merkbarkeit des Gesagten. Die Worte bleiben also besser in Erinnerung, was meist zusätzlich durch die ästhetischen Emotionen unterstützt wird. Argumentative Unterstützung: Der Autor möchte gute (oder auch schlechte) Argumente in eine gute Form gießen; er geht davon aus, dass die Form der Präsentation auch zur Überzeugungskraft der Argumente beiträgt. Bewunderung des Autors: Indirekt könnte der Autor außerdem anstreben, dass man ihn/sie wegen eines künstlerischen Stils anerkennt, gar bewundert.

Hier eine Übersicht über wichtige Stilfiguren im Neuen Testament:18 (a) (Reine) Klangfiguren Alliteration: Gleiche Laute kommen in aufeinanderfolgenden Wörtern oder Satzteilen mehrfach vor, so dass es dem Leser/Hörer auffällt. Anapher: Dieselben Wörter werden am Anfang aufeinanderfolgender Sätze wiederholt. Beispiel: Seligpreisungen (Mt 5,3ff.: μακάριοι οἱ … μακάριοι οἱ …). Homoiokatarkton (vgl. Alliteration) (< ὅμοιος gleich + κατάρχω anfangen): Aufeinanderfolgende Wörter, Satzteile oder Sätze haben den gleichen Anfangslaut. Homoioteleuton (< ὅμοιος gleich + τελευτάω enden): Wiederholung der Endlaute, Endreim. Beispiel: ἐφανερώθη … ἐδικαιώθη … (1 Tim 3,16). Paronomasie: Anders als bei der Alliteration klingen nicht nur die Anlaute, sondern ganze Wörter ähnlich. Sie können auch zum gleichen Wortstamm gehören. Beispiel: λιμοὶ καὶ λοιμοί (Lk 21,11). Zweck: Merkbarkeit, ästhetische Emotion. (b) Figuren des Ersetzens (Tropen) Euphemismus: (< grch. εὐ gut + φημέω reden) Wörter, die schambesetzt oder angstauslösend sind, werden durch weniger anstößige Begriffe ausgetauscht. Beispiel: „erkennen“ für Geschlechtsverkehr (Mt 1,25), „entschlafen“ für „sterben“ (1 Thess 4,15). Zweck: Emotion verringern. Hyperbel: Ein Ereignis, Sachverhalt oder eine Zahl wird übertrieben dargestellt; als Leser/Hörer kann man die Übertreibung erkennen. Beispiel: „Du, Kafarnaum, … wirst bis zum Hades herabsteigen“ (Mt 11,23). Wirkung: Emotionalisierung, die Merkbarkeit steigern. Ironie: Der Autor/Sprecher meint das Gegenteil von dem, was er/sie vordergründig sagt. Beispiel: „Ihr ertragt gerne die Narren, ihr, die ihr klug seid“ (2 Kor 11,19). Wirkung: ästhetische Emotion.

18

Die neutestamentlichen Beispiele entstammen zum Teil aus Bühlmann/Scherer, Stilfiguren, bzw. aus Hoffmann/von Siebenthal*.

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

Litotes: Eine Aussage wird durch die Verneinung des Gegenteils ausgedrückt. Beispiel: „Ich will euch nicht in Unkenntnis lassen“ (Röm 1,13). Bedeutung: „Ich will, dass ihr gut kennt“. Eine Form der verhüllenden Ausdrucksweise. Merismus: Ein Ganzes wird durch zwei Pole beschrieben. Beispiel: „Ich bin das Alpha und das Omega“ (Apk 1,8). Eine Sonderform der Metonymie. Metapher: Ein impliziter Vergleich zwischen zwei Ausdrücken, die nicht direkt miteinander zu tun haben (sonst: Metonymie), außerdem ohne Vergleichspartikel (ὡς) (sonst: Vergleich). Beispiel: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Metonymie: Oberbegriff für mehrere Arten von Stilfiguren, bei denen ein begriffliches Konzept eigentlich für ein anderes steht, das ihm verwandt ist, z.B. ein Teil für das Ganze (→ Pars pro toto), Ursache für Wirkung, Gefäß für Inhalt, Abstraktes für Konkretes, Personhaftes für Unpersönliches (→ Personifikation). Paradoxie: Eine Aussage klingt auf den ersten Blick widersprüchlich und erregt so die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers, der Informationen ergänzen muss, um sie zu deuten. Beispiel: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Lk 9,24). Pars pro toto: Ein Bestandteil steht für das Ganze. Beispiel: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ (Mt 6,11). Bedeutung: Hier steht „Brot“ stellvertretend für „Nahrung“. Zweck/Wirkung: Merkbarkeit steigern. Passivum divinum: Ein Verb im Passiv beschreibt das Handeln Gottes, ohne dass Gott direkt genannt wird. Beispiel: „Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4) – nämlich von Gott. Eine besondere Form der verhüllenden Ausdrucksweise (vgl. → Euphemismus). Personifikation: Abstrakte Begriffe oder Dinge werden wie Personen dargestellt. Beispiel: „Tod, wo ist dein Sieg?“ (1. Kor 15,55) (c) Figuren des Weglassens, des Hinzufügens und der Anordnung (Wort- und Satzfiguren) 1. Figuren des Weglassens – Wörter werden weggelassen Ellipse: (< grch. ἐκ-λείπω auslassen) Eigentlich notwendige Wörter im Satz werden ausgelassen, können aber vom Leser/Hörer gedanklich ergänzt werden. Sonderformen: Zeugma, → Asyndese, Aposiopese. Beim Zeugma (ζεύγνυμι verbinden) ist ein Verb auf zwei Satzteile bezogen, obwohl es nur zu einem passt (1 Kor 3,2). Bei der Aposiopese (ἀποσιώπησις Verstummen) wird der Satz abgebrochen (Joh 6,61). Psychische Wirkung: eher unterhaltend, aufmerksamkeitssteigernd. Anakoluth: (< ἀν nicht + ἀκολουθεῖν folgen) Die angefangene Satzkonstruktion wird abgebrochen und ein neuer Satz wird begonnen. Beispiel: „Was ihr da seht … – es werden Tage kommen, in denen kein Stein auf dem andern gelassen wird“ (Lk 21,6). Wirkung: Das einschneidende Ereignis ist auch stilistisch ausgedrückt. Der Leser/Hörer kann fühlen, wie Jesus hier der Atem stockt. Asyndese (Asyndeton): (< ἀ nicht + συνδέω zusammenbinden) Das verbindende Wort zwischen Wörtern oder Satzteilen wird ausgelassen. Beispiel: „Predige das Wort, tritt dafür ein zu gelegener – zu ungelegener Zeit“ (2 Tim 4,2). rhetorische Frage: Es wird eine Frage gestellt, deren Antwort dem Rezipienten klar ist. Beispiel: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid?“ (1 Kor 3,16). Wirkung: Didaktische Funktion, argumentative Unterstützung.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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2. Figuren der Hinzufügung – Wörter werden hinzugefügt Figura etymologica: Zwei Wörter in demselben Satz gehören zum gleichen Wortstamm, meist ein (eigentlich) intransitives Verb mit Akkusativ-Objekt. Beispiel: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens!“ (1 Tim 6,12) Hendiadyoin: (< grch. ἕν ein + διά durch + δύο zwei) Dieselbe Bedeutung wird durch zwei verwandte, gleichgeordnete Begriffe ausgedrückt. Beispiel: „Regen und fruchtbare Jahreszeiten“ (ὑετοὺς … καὶ καιροὺς καρποφόρους, Apg 14,17). Polysyndese (Polysyndeton): (< πολύ viel + συνδέω zusammenbinden) Mehrere Wörter oder Satzteile werden über das notwendige Maß hinaus durch „und“ verbunden. Beispiel: Lk 7,11ff. 3. Figuren der Anordnung – die Reihenfolge der Wörter/Satzteile ist betroffen Chiasmus: (< grch. Χ chi) Anders als beim → Parallelismus sind die Satzteile nicht parallel, sondern über Kreuz (oder konzentrisch) angeordnet. Bsp.: 1 Kor 7,4. Inclusio: Ein Wort bzw. ein Satz bildet einen „Rahmen“, indem dasselbe oder Ähnliches am Anfang und dann wieder am Ende eines Abschnitts vorkommt. Beispiel: Mt 7,16–20 („an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ am Anfang und am Ende des Absatzes). Klimax: Steigerung in Form einer Kettenreihung, zum Beispiel Röm 8,29f.: ὅτι οὓς προέγνω, καὶ προώρισεν … οὓς δὲ προώρισεν, τούτους καὶ ἐκάλεσεν· καὶ οὓς ἐκάλεσεν, τούτους καὶ ἐδικαίωσεν· οὓς δὲ ἐδικαίωσεν, τούτους καὶ ἐδόξασεν. Parallelismus: Es gibt verschiedene Formen des Parallelismus – wichtig sind der synonyme und der antithetische Parallelismus; d.h. zwei Sätze sind parallel formuliert, entweder mit einer ganz ähnlichen Aussage (Mt 5,45) oder einer gegensätzlichen Entsprechung (Mt 6,24). Sehr häufig im Hebräischen, teilweise auch im NT. Zweck: Merkbarkeit, ästhetische Emotion. Prolepsis (im stilistischen Sinn, ≠ Prolepse in der Narratologie): (< grch. προλαμβάνω vor-wegnehmen) Ein Subjekt oder Objekt des Nebensatzes wird in den vorherigen Hauptsatz hinübergenommen. Beispiel: „Aber von ihm wissen wir, woher er kommt“ (τοῦτον vorangestellt, Joh 7,27). Exkurs: Bei der stilistischen Analyse begibt man sich in einen Begriffsdschungel. Nicht selten kann man über die genaue Zuordnung und auch über die Wahl der Begriffe streiten. In der Literatur gibt es eine Vielzahl an Benennungen, die sich teilweise überschneiden, z.B. „Metonymie“, „Antonomasie“, „Periphrase“ (s. Bühlmann/Scherer, Stilfiguren, 88). Oder wie soll man die figura etymologica einordnen, eher als Figur des Hinzufügens oder als Klangfigur? – Im Rahmen einer Proseminararbeit kann man es bei einer eher oberflächlichen Zuordnung der stilistischen Mittel belassen. Literatur zur stilistischen Analyse: a) Biblische Texte: W. Bühlmann/K. Scherer, Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein Nachschlagewerk, Gießen 21994; Blass/Debrunner/Rehkopf (s.o.), §§ 458–496. Methodenlehren: Stadelmann/Richter* 111–118 (Übersicht über die häufigsten Stilmittel in der Bibel). b) Allgemein: H. Baumgarten, Compendium Rhetoricum. Die wichtigsten Stilmittel, Göttingen 1998; K.H. Göttert/O. Jungen, Einführung in die Stilistik, UTB 2567, München 2004; H.W. Eroms, Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2007, 175ff.; H.F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg [1971] 92001 (S. 27–134: „rhetorische Stilistik“).

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

Demo: Stilmittel in Römer 12,15 χαίρειν μετὰ χαιρόντων, „fröhlich zu sein mit den Fröhlichen, κλαίειν μετὰ κλαιόντων zu weinen mit den Weinenden“ Homoiokatarkton Homoioteleuton

Parallelismus

Merismus für: mit allen Menschen mitfühlen

Intendierte Wirkung: Ästhetische Gefühle ansprechen und die Merkbarkeit erhöhen. Aufgabe: Welche Stilmittel finden Sie in Mt 5,45; Röm 3,1; 1 Kor 13,13; 2 Kor 12,13; Hebr 11,3–31? Falls Sie nicht weiterkommen, suchen Sie die Bibelstellen im Register bei Blass/Debrunner/Rehkopf, die auf die Stilmittel verweisen.

Exegetische Kommentare, die in einem eigenen Abschnitt die Stilmittel in einem biblischen Text gezielt erörtern, sind bisher Mangelware. Damit sie nicht jeder Exeget und jeder Student neu erarbeiten muss, wäre es sinnvoll, die Analyse-Ergebnisse in einer exegetischen Datenbank niederzulegen. 8.5.2 Allgemeiner Sprachstil des Autors Von der Frage nach bestimmten Stilmitteln ist die Analyse des Idiolekts zu unterscheiden, d.h. des Sprachstils (Schreibstil oder Redestil) eines Autors bzw. einer (Erzähler-)Figur. Hier geht es um bevorzugte Wörter, die Weise des Satzbaus und weitere Besonderheiten. Man kann mit Blick auf die Äußerungen des Autors, eines Erzählers oder einer Figur drei Arten von SprachstilKategorien untersuchen: ■ ■ ■

typischer Wortgebrauch: Welche Lieblingswörter? Häufigkeit von Wortarten? Viele Fremdwörter? Viele Komposita? Weite des verwendeten Wortschatzes? typische Grammatik und Syntax (Beispiel: parataktischer Stil des Markusevangeliums) typische Abweichungen von der „Normalsprache“, z.B. Dialekte, Solözismen (Beispiel: der auffällige Schreibstil der Johannesoffenbarung)

Mit solchen Beobachtungen lässt sich etwas über das „literarische Niveau“ sagen.19 An dieser Stelle geht es jedoch noch nicht über die Bewertung des Sprachstils (Stilkritik), sondern um eine reine Beschreibung (Stilanalyse).20 Die Analyse des individuellen Sprachstils eines Werkes hilft im übrigen auch, den wahren Autor zu eruieren (bei vermutlich pseudepigrafen Werken).21 Stilistische Argumente zählen ja auch bereits bei der Literarkritik, die 19 Vgl. Ebner/Heininger* 93. Klassischerweise spricht man von drei Stilebenen (genera elocutionis): dem schlichten, dem mittleren und dem erhabenen Stil (genus subtile, genus medium, genus grande). 20 Zur Stilkritik vgl. → Kritik des Textes. 21 Vgl. J. Tuklava, Stylistics, Author Identification, in: Köhler u.a. (Hgg.), Quantitative Linguistik, 2005, 368–387. In der Forensik gibt es das Arbeitsgebiet des Sprachprofiling.

Wie kann man Strukturelemente des Textes beschreiben?

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einen Text verschiedenen Autoren zuordnen möchte. – Achtung: Beim Sprachstil (Schreibstil, Redestil, sogar: Denkstil) kann der Autor auch eine andere Person imitieren wollen bzw. sich in unterschiedliche (Erzähler-)Figuren hineinversetzen. Es ist nicht selten, dass die Figuren eines Romans jeweils auf eine bestimmte Weise reden, obwohl der Text von demselben Autor stammt. Aufgabe: Lesen Sie den Abschnitt bei U. Schnelle, Einleitung in das NT, UTB 1830, Göttingen 82013, 379f. zur Verfasserschaft des Epheserbriefs. Welche sprachlich-stilistischen Besonderheiten dieses Briefes werden als Argumente für eine deuteropaulinische Verfasserschaft genannt? Äußern Sie sich zur Argumentation.

Literatur zur Sprachstil-Analyse: Mit Methoden der Sprachstil-Analyse beschäftigt sich insbesondere die quantitative Stilistik bzw. Stilometrie. Viele Veröffentlichungen setzen Grundwissen in Statistik voraus, z.B. V. u. G. Altmann, Anleitung zu quantitativen Textanalysen. Methoden und Anwendungen, Lüdenscheid 2008; K.-H. Best, Quantitative Linguistik. Eine Annäherung, Göttingen 32006; N. Bubenhofer, Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse, Berlin u.a. 2009; R. Köhler/G. Altmann/ R.G. Piotrowski (Hgg.), Quantitative Linguistik – Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch, HSK 27, Berlin u.a. 2005.

8.5.3 Lyrischer Stil (Metrik und Reime) Manche biblischen Bücher enthalten auch Gedichte und „Songtexte“. Man denke an die Psalmen oder auch an die neutestamentlichen „Hymnen“. Dazu zählen z.B. das berühmte Magnificat in Lk 1,46–55 oder der Christushymnus in Phil 2,6–11. Die Analyse von Gedicht- und Liedtexten vollzieht sich im Allgemeinen nach den bekannten Schritten (Textentstehung, Textstruktur, Texterklärung, Nachwirkung). Das Spezifische an Gedicht- und Liedtexten sind in der Regel das Metrum (der „Takt“) und der Reim. In der modernen Gedichtinterpretation gibt es daher eigene Methodenschritte zur metrischen Analyse und Reimanalyse. Ansonsten steht bei der Gedichtinterpretation die Analyse von Stilmitteln, Textaufbau, Satzbau, Wortwahl und Metaphorik im Mittelpunkt. Gerade bei Gedicht- und Liedtexten hilfreich sind narratologische Schritte wie die Perspektive des „lyrisches Ichs“ (d.h. des Ich-Erzählers), Figurenbeschreibung, Ereignisse, Zeit und Raum. Da die metrische Analyse und die Reimanalyse unseren neutestamentlichen Textkorpus nur am Rande betreffen, sei hier nur der Vollständigkeit halber darauf verwiesen, da diese Methodenschritte faktisch in das Kapitel „Textstruktur“ gehören. Literatur zur Lyrikanalyse: H.J. Frank, Wie interpretiere ich ein Gedicht? Eine methodische Anleitung, UTB 1639, Tübingen/Basel 62003; D. Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart/Weimar 21997; H.-D. Gelfert, Wie interpretiert man ein Gedicht?, Reclams Univ.-B. 15018, Stuttgart 2007. Für die Analyse von Liedtexten ist

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8. Textstruktur II – Gliederung, Kontext, Grammatik und Stil

hilfreich: M. Abou-Dakn, Songtexte schreiben. Handwerk und Dramaturgie im Songwriting, Berlin 22013. Für die Antike: B. Snell, Griechische Metrik, Göttingen 41982.

8.6 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Welche Kriterien für Verknüpfungsstärke können Sie nennen? 2. Warum sollte man sich bei der Textgliederung nicht unkritisch an den Versangaben und der Interpunktion bei Nestle-Aland orientieren? 3. Aus welchen drei Teilschritten besteht die grammatisch-syntaktische Analyse? 4. Was ist ein „Satz“ aus grammatischer Sicht? 5. Wie erstellt man ein textgrammatisches Schaubild? 6. Nennen Sie sieben rhetorische Stilmittel und erklären Sie sie kurz.

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ eine begründete Gliederung eines Textes aufstellen, ■ Kontext-Einbindung und -Abgrenzung einer Perikope beschreiben, ■ mit einem wissenschaftlichen Bibelprogramm wie Accordance oder BibleWorks nach griechischen Wörtern und Wortformen suchen, ■ zu einem neutestamentlichen Satz einen ungefähren Satzbauplan anfertigen, ■ ansatzweise ein textgrammatisches Schaubild erstellen ■ sowie rhetorische Stilmittel identifizieren. Sie kennen jetzt … ■ die strukturalistische Betrachtungsweise von Texten, ■ Kriterien für die Verknüpfungsstärke zwischen Textabschnitten, ■ wichtige Begriffe zur Erstellung eines textgrammatischen Schaubildes, ■ die logische Struktur einer Argumentation, ■ methodische Ansätze zur Übernahme der Rhetorik in die Exegese, ■ rhetorische Stilmittel, die für die biblische Exegese wichtig sind. Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Einheit erkennen und wo sie bei sich noch Lücken bemerken. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, welche Teilschritte der Textund Sprachanalyse Sie besonders ertragreich finden und wieviel Arbeitsaufwand man aus Ihrer Sicht in welchen Schritt hineinstecken sollte.

Literatur: Vgl. die zu den Teilschritten genannte Literatur.

9 Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden Leitbegriffe Verstehensschemata (Frames, Skripts), Lesebrille, Schlussfolgerungsprozesse, Religionsgeschichte, Zeit- und Sozialgeschichte, Motiv- und Traditionsgeschichte, semantische Analyse, Leer-/Inferenzstellen, Kriterien der Quellenbeurteilung

9.1 Einführung: Texterklärung als Beschreibung der Frames und Skripts der Adressaten gemäß der Intention des Autors Wer durch eine Gemäldegalerie geht, stößt vor allem bei älteren Werken immer wieder auf biblische Motive. Besonders die Maler der Renaissanceund Barockzeit hatten ein ausgeprägtes Interesse an biblischen Erzählungen und Figuren. Zwar können wir heutzutage die entsprechenden Texte des Alten und Neuen Testaments oder der klassischen Antike meist unmittelbar wiedererkennen – wie hier die Enthauptung des Täufers, gemalt von Sigmund Gleismüller (Abb. 9.1). Dennoch haben Bilder wie dieses oft etwas Ungewöhnliches oder gar Belustigendes an sich: Herodes und seine Gäste sind Abb. 9.1: Enthauptung Johannes’ des Täufers in die Kleidung der Renaissancezeit gehüllt, sie tragen Schnabelschuhe und essen von kleinen „Frühstücksbrettchen“. Der dargestellte Raum spiegelt architektonische Merkmale und Ausstattungsgewohnheiten des 15. Jhdt. wider. Und anders als im Neuen Testament (Mk 6,14–29) wird der Täufer in diesem Bild praktischerweise gleich bei Tisch enthauptet – statt im Gefängnis. Manche dieser Auffälligkeiten erklären sich durch die äußeren Zwänge, denen die Künstler unterliegen: So werden die Ereignisse einer Erzählung auf einem Gemälde zusammengedrängt und lediglich selektiv präsentiert, weil ein einzelnes Bild als ‚Momentaufnahme‘ die Abfolge der Ereignisse nur implizit darstellen kann.1 Andere Auffälligkeiten haben ihren Grund in der 1 Gleichwohl verweisen hier in Abb. 9.1 das Zurückstecken des Schwertes sowie die abgewandte Haltung des Henkers auf das vorangegangene Ereignis der Hinrichtung.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

„Phantasiearbeit“2, die ein Künstler in seine Verbildlichung biblischer Erzählungen eingebracht hat: Die Gestik und Mimik, die eine Figur zeigt, die Kleidung, die sie trägt, oder die Räume, durch die sich die Personen bewegen – all diese Dinge sind oft nicht direkt dem biblischen Text entnommen, sondern entspringen der Vorstellungskraft des Künstlers. Was hat nun das Malen von Bildern mit Exegese zu tun? Tatsache ist: Die Kraft der Phantasie, die hier bei der Umformung von Erzählungen in Bilder besonders anschaulich ist, wirkt letztlich bei jedem Lektüre- und Interpretationsprozess. Auch wir als heutige Leserinnen und Leser injeder hat eine terpretieren das, was auf dem Papier steht, durch unsere „Lesebrille“ „Lesebrille“, d.h. durch unsere eigenen kulturell geprägten Vorverständnisse. Wer liest, füllt mithilfe seiner Vorstellungskraft die Begriffe im Text mit Leben: die genannten Ereignisse, die beteiligten Figuren und auch die Orte, an denen sie sich aufhalten. Das Gelesene wird durch kognitive Schemata und Inferenzprozesse lebendig und sinnhaft. Später mehr dazu. Beispiel: Eintragung kulturell geprägter Vorverständnisse Wenn Sie die Episode von der Hinrichtung des Täufers bei Markus lesen (Mk 6,21– 28), werden Sie sicherlich eine Vorstellung von dem Ort des Festes und den Räumlichkeiten gewinnen. Gleichwohl: Im Bibeltext selbst findet sich keine Raumschilderung. Unser Bild vom Ort des Geschehens – vermutlich das eines Festsaals – wird durch die Erwähnung bestimmter Figuren (König, Vornehmste, Oberste), Ereignisse (Geburtstagsmahl) und Bewegungen (Hin-/Herausgehen, Tanz) evoziert.

Diese Vorverständnisse beim Lesen sind immer da, sie lassen sich nicht einfach „ausschalten“ – andernfalls sähe man nur noch leblose kognitive Buchstaben. Die exegetische Texterklärung ist dabei mit der Schemata Arbeit eines Künstlers vergleichbar. Nun besteht in der Wissenschaft der Anspruch, dass die Erklärung richtig oder plausibel ist. Denn anders als bei den Malern der Renaissance oder des Barock sollte man bei der Exegese ein möglichst historisch zutreffendes ‚Bild‘ zeichnen. Genauer: Das mentale Bild, das bei den Rezipienten des Textes im Kopf entstehen sollte, oder besser: die mentale mentale Bilder, ‚Kopfkino‘ Bildfolge (‚Kopfkino‘). Den Text verstehen heißt: Verstehen, was der Autor will, was der Leser verstehen soll. Ziel der exegetischen Texterklärung ist es, den Text Vers für Vers abzuschreiten und „die historisch-kulturellen Frames und Skripts [zu] explizieren, die vom Autor beim intendierten Rezipienten vorausgesetzt werden und mit denen der

2 Zum Begriff der Phantasiearbeit und ihrer Bedeutung für die Religionspädagogik: W. Neidhard/H. Eggenberger (Hgg.), Erzählbuch zur Bibel I, Zürich u.a. 61990, 37–55.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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Rezipient den Text ‚verarbeiten‘ soll.“3 Dazu müssen die jeweils aktivierten kognitiven Schemata mit Hilfe historisch-philologischer Arbeit oder auch unter Zuhilfenahme nichtliterarischer Quellen re-konstruiert werden. Welche Vorstellungen vom Ort des Festes, von den Obersten (z.B. Kleidung, Verhalten) oder von einem Tanz hatten die intendierten Rezipienten des Markusevangeliums? Letztlich ist es bei der Texterklärung ganz ähnlich wie bei der bildlichen Ausgestaltung: Ich muss mir überlegen, wie etwas im Einzelnen auszumalen ist. Neben der Rekonstruktion solcher allgemeinen textexternen Verstehensschemata gilt es zu beachten, dass Leser über den Lektüreprozess hinweg auch durch die bisherigen Informationen des Textes lektürebezogene Verstehensschemata aufbauen. Rezipienten haben vor lektürebezogene Verstehensder Lektüre zahlreiche Schemata im Kopf, die beim Leseschemata prozess aktiviert und zugleich bestätigt, ergänzt, mit anderen Schemata verknüpft oder auch hinterfragt werden. Deshalb muss man bei der Texterklärung auch den bisherigen Lektüreprozess des Lesers mit einbeziehen. Wenn in Mk 6,14 berichtet wird, dass Herodes von Jesu Taten gehört hat, so werden die Leser an die vorherige Darstellung der Wunder Jesu im Markusevangelium (Mk 4,35–5,43) und an die sich stetig ausbreitende Kunde von Jesu Taten (Mk 1,28; 1,45; 3,8; 5,20) erinnert. Sie ordnen diese Information also in ihr bisheriges Wissen von der erzählten Welt ein. Außerdem kann es vorkommen, dass die Rezipienten auf der Grundlage von Textaussagen bzw. ihres textexternen Vorwissens zu Schlussfolgerungen (auch: „emergente Bedeutungen“) angeregt werden sollen. Beispielsweise wird in Mk 6,21–28 nirgends explizit erSchlussfolgerungen wähnt, dass der Tod des Täufers bereits auf den Tod Jesu vorausweist. Aber der Autor gibt seinen Adressaten dafür verschiedene versteckte Hinweise: 1. Herodes identifiziert die beiden fälschlicherweise miteinander (V. 16), 2. es wird von den „Jüngern“ berichtet, die – in Analogie zur späteren Grablegung Jesu – ihren Lehrer bestatten (V. 29); 3. seit Mk 3,6 wissen die Rezipienten vom Mordkomplott gegen Jesus, in das auch die „Herodianer“ verwickelt sind.

3

Finnern* 461.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden Definition: Was ist die Bedeutung des Textes? Was ist Ziel der Interpretation?

Die Bedeutung eines Textes ist die vom Autor beabsichtigte Wahrnehmung des Textes durch die von ihm imaginierten Adressaten. (Nur bei manchen Textsorten, etwa bei einem Gedicht, kann der Autor durch Konvention beabsichtigen, die richtige Interpretation dem Leser zu überlassen.) Das Ziel wissenschaftlicher Interpretation ist es, heutigen Rezipienten diejenigen Verstehensvoraussetzungen (kognitive Schemata) und Verstehensleistungen (Schlussfolgerungsprozesse) bereitzustellen, die der Autor bei seinen imaginierten Adressaten in Bezug auf die Textelemente voraussetzt.

Literatur zur kognitiven Semantik: A. Ziem, Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz, Berlin/New York 2008; M. Schwarz, Kognitive Linguistik, UTB 1636, Tübingen/Basel 32008; S. Löbner, Semantik. Eine Einführung, Berlin/New York 22015, 318–395; D. Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium, Berlin u.a. 2012; exegetisch Finnern* 37–45.

Exkurs: Texterklärung innerhalb der klassischen Exegese Bisher fehlt der biblischen Exegese ein eigener Methodenschritt der „Texterklärung“, wenn man – wie es in Kommentaren zum Ausdruck kommt – unter „Erklärung“ die Vers-für-Vers-Interpretation des Textes versteht. Andererseits gibt es im „klassischen“ Methodenkanon mehrere Methodenschritte, die durchaus Aspekte der Texterklärung beinhalten. Diese Methodenschritte sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Dabei hat sich gezeigt, dass die bisherige Begrifflichkeit, die Aufteilung und die Methodik teilweise problematisch sind. ■

4

Religionsgeschichte:4 Der Religionsgeschichtliche Vergleich dient dazu, das Neue Testament bzw. einzelne religiöse Vorstellungen aus der rein innerbiblischen Betrachtungsweise zu lösen und auch Analogien bzw. Entwicklungszusammenhänge zur religiösen Umwelt aufzuzeigen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Autoren der neutestamentlichen Texte auch wesentlich von den religiösen Vorstellungen ihrer Umwelt geprägt, also von anderen zeitgenössischen (Religions-)Gruppen beeinflusst waren. Die methodische Grundfrage ist: Woher hat der Autor diese religiöse Anschauung? Während die erste und zweite Generation der Göttinger „Religionsgeschichtlichen Schule“5 besonders hellenistische Einflüsse auf das Neue Testament geltend machte (Mysterienreligionen, Philosophie der Kaiserzeit, Gnosis, Kaiserkult), haben andere Exegeten die religiöse Verwurzelung der neutestamentlichen Autoren in den Texten des Alten Testaments und im Judentum betont. Seit einiger Zeit hat sich im Anschluss an den Tübinger Neutestamentler Martin Hengel die Erkenntnis durchgesetzt, dass Judentum und Hellenismus zur Zeit Jesu bereits vielfältige

Vgl. beispielsweise Schnelle* 139–148; Lührmann* 48–58; Fenske* 122–140. Einführende Informationen beispielsweise bei H.-D. Betz, Art. Religionsgeschichtliche Schule. 2. Neues Testament und Urchristentum, in: RGG4 7 (2004), 323–325.

5

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?





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Überschneidungen aufwiesen und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.6 Die Textfunde von Qumran, aber auch die Erschließung weiterer frühjüdischer Quellen haben inzwischen zu einem umfassenderen Verständnis der neutestamentlichen Umwelt geführt. Zeit- und Sozialgeschichte:7 Neben dem Religionsgeschichtlichen Vergleich hat sich in den letzten Jahrzehnten „die“ Sozial- und Zeitgeschichte als eigener Methodenschritt etabliert. Hinter dieser Entwicklung steckt die Einsicht, dass die Rezipienten des Neuen Testaments nicht nur in ihrem religiösen Denken von den Vorstellungen ihrer Umwelt beeinflusst wurden, sondern auch in ihrem politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Denken und Leben. Das führt zu einem gesteigerten Interesse an Alltagszeugnissen und an nicht-literarischen Quellen der damaligen Zeit. Die Grundfrage lautet: Wie haben die Menschen damals tatsächlich gelebt? Wichtige Erkenntnisse kommen dabei insbesondere aus der Archäologie. Begriffs- und Motivgeschichte:8 Auch die Begriffs- und Motivgeschichte (manchmal auch „Traditionsgeschichte“ genannt) führt auf ihre Weise über den Religionsgeschichtlichen Vergleich hinaus. Die Begriffs- und Motivgeschichte untersucht in umfassender Weise die Herkunft von literarischen Motiven, Metaphern, Redewendungen und Themen im Text – also nicht nur die Herkunft religiöser Vorstellungen wie bei der Religionsgeschichte. Dabei ist die Begriffs- und Motivgeschichte – jedenfalls ursprünglich – nicht zuerst daran interessiert, was diese Wörter im vorliegenden Text bedeuten, sondern sie möchte nachzeichnen, wie sich die Bedeutung eines Begriffs oder eine Vorstellung entwickelt hat. Die methodische Grundfrage heißt hier: Woher stammen die im Text genannten Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen? In neuerer Zeit lässt sich jedoch eine Verschiebung der Methodik hin zur „semantischen Analyse“9 beobachten, bei der die Textinterpretation im Vordergrund steht.

Die Ausformulierungen der hier genannten üblichen ‚Methodenschritte‘ (oder besser: Fragestellungen) erweisen sich jedoch aus verschiedenen Gründen als unzureichend. Im Einzelnen lassen sich folgende Probleme festhalten: ■



6

1. Bei den genannten ‚Methoden‘ handelt es sich um Gegenstandsbereiche, nicht um eigenständige Methodenschritte. Tatsächlich ist das methodische Vorgehen grundsätzlich dasselbe, denn es wird versucht, auf der Grundlage weiterer Quellen die Bedeutung neutestamentlicher Begriffe zu erklären. Die ‚Methoden‘ unterscheiden sich lediglich nach ihrem Inhalt, was aber noch keine Ausdifferenzierung in verschiedene Methodenschritte rechtfertigt. 2. Die Begriffe sind schwer voneinander abzugrenzen. Nicht immer lässt sich eindeutig entscheiden, ob eine Vorstellung im eigentlichen Sinne „religiös“ ist oder vielmehr

Vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 31988, bes. 565–570. Vgl. dazu z.B. Ebner/Heininger* 240. Der Begriff ist auch in den Geschichtswissenschaften gebräuchlich, wo z.B. von der „Sozialgeschichte des Mittelalters“ oder „Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945“ gesprochen wird (engl. Social History). 8 So die Bezeichnung bei Schnelle* 134–138; Adam* 71–78. 9 Vgl. hierzu Egger/Wick* 138–173 (semantische Analyse); Ebner/Heininger* 96–98 (semantische Analyse als Teil der Sprachanalyse) u. 241 (Traditionskritik als Teil der Umweltanalyse); Neudorfer/Schnabel* 245–257; Söding* 173–190 (Motivanalyse). 7

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

dem politischen, philosophischen, wirtschaftlichen oder alltäglichen Lebensbereich zuzurechnen ist. „In der Praxis, bei der konkreten Arbeit am Text verwischen sich allzu scharf gezogene Trennlinien erfahrungsgemäß schnell.“10 3. Die inhaltliche Überschneidung geht einher mit begrifflicher Konfusion. Die Bezeichnung für die drei vorgestellten ‚Methoden‘ ist uneinheitlich und nicht immer finden Sie alle drei Zugänge in den Methodenbüchern. Während die „Religionsgeschichte“ in vielen Methodenlehren vorkommt, werden zeitgeschichtliche Bezüge oder der Aspekt der „Begriffs- und Motivgeschichte“ teilweise ausgelassen oder unter anderen Überschriften verhandelt bzw. zusammengefasst. Dafür ist manchmal von der „semantischen Analyse“ oder „Realien“ die Rede. Außerdem findet sich gelegentlich der Begriff der „Traditionsgeschichte“, der dann jedoch meist als Überbegriff fungiert und alle beschriebenen Untersuchungsaspekte zusammenfasst. Dies ist leicht zu verwechseln, weil auch die Analyse der Vorgeschichte teilweise als „Traditionsgeschichte“ bezeichnet wird. 11 4. Einige Bereiche der ‚Enzyklopädie‘ des intendierten Rezipienten bleiben unberücksichtigt. Die bisherigen Methodenschritte stellen noch keine systematische Aufschlüsselung kognitiver Verstehensschemata dar, sondern sie haben sich eher zufällig aus der Forschungsgeschichte heraus entwickelt. Sie decken damit keineswegs alle Wissensbereiche ab, die bei der Lektüre eines Textes aktiviert werden und die sich aus kognitionswissenschaftlicher Sicht differenzieren lassen. Beispielsweise bleibt der Bereich des prozeduralen Wissens (skripts) sehr oft außen vor. Die Berücksichtigung dieses Vorverständnisses ist aber wichtig, um die Erwartungen des Lesers an das Verhalten einer Figur zu beschreiben oder um das Phänomen der Spannung zu analysieren. 5. Die Untersuchung des Traditionshintergrunds überlagert die Frage nach den im Text vorausgesetzten Verstehensschemata. Manchmal wird bei der Exegese nicht klar, worauf die Analyse abzielt: a) auf die diachrone Entwicklung eines Begriffs bzw. die Traditionslinien einer Vorstellung oder b) auf das konkrete Vorwissen, das die intendierten Rezipienten dieses Textes während der Lektüre im Hinterkopf haben (können) und mit dem sie den Text verstehen. Beide Untersuchungsaspekte haben ihre Berechtigung, aber sie sind eindeutig voneinander zu unterscheiden. So interessant die Traditionsgeschichte, Religionsgeschichte oder Sozialgeschichte auch sind, sollte doch in einem zusätzlichen Schritt geprüft werden, ob auch die Adressaten dieses Textes nach der Vorstellung des Autors über ein kognitives Schema (bzw. den Bezugstext) verfügen konnten oder nicht (→ 10.2.1 Kriterien).

Aus diesen Kritikpunkten ergibt sich die Notwendigkeit, das bisherige methodische Vorgehen neu zu ordnen und es konkret auf die Textinterpretation auszurichten. Was bisher unter den Stichwörtern „Religionsgeschichte“, „Zeit- und Sozialgeschichte“ oder „Begriffs- und Motivgeschichte“ oder ähnlichen Termini verhandelt wird, müsste man demnach in einer gemeinsamen Methode der Texterklärung zusammenfassen.

10 11

Ebner/Heininger* 241. So z.B. Schnelle* 140–144; Berger* 160–186; Söding* 190–207.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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9.2 Methode Die Aufgabe der Texterklärung besteht also – gemäß unserer Definition – darin, (4) den eigenen Rezipienten (z.B. den Leserinnen des Bibelkommentars, den Schülern der Schulklasse, den Hörerinnen der Predigt, vielleicht auch: dem Leser der Proseminararbeit) (2) diejenigen kognitiven Schemata (Frames und Skripts) und Schlussfolgerungsmöglichkeiten bereitzustellen, (1) die sich auf Elemente des Textes beziehen und (3) über die aus Sicht des Autors auch seine imaginierten Adressaten verfügen konnten.12 Wie kann man diese Aufgabe in eine wissenschaftliche Schritt-für-SchrittMethode überführen? Wir schlagen vor, mit Aspekt Nr. 1 (s. oben) zu beginnen und zunächst alle Elemente des Textes durchzugehen und systematisch mögliche Verstehensfragen zu diesem Text aufzulisten, z.B. „Was bedeutet …?“, „Warum steht hier …?“, „Wie kann man sich … vorstellen?“, „Worauf bezieht sich …?“. Man beginnt also mit einer Art „Fragensammlung“ zu allen Textelementen. Das ist ein hilfreicher Ausgangspunkt für die eigenen Forschungen, die sich nun anschließen. Man „gräbt“ in Wörterbüchern, Kommentaren, theologischen Lexika und anderer einschlägiger Literatur nach Antworten auf diese Fragen. Dabei finden wir vielleicht (Nr. 2) kognitive Schemata, mit denen die damaligen, vom Autor intendierten Rezipienten den Text gelesen haben. Ob dieses Vorwissen aber auch den intendierten Adressaten zur Verfügung stand, muss kritisch überprüft werden (Nr. 3). Schließlich stellen wir unsere Ergebnisse in einer passenden Weise für unsere eigenen Rezipienten dar (Nr. 4). Zitat von Johann Jakob Wettstein (1693–1754): „Wenn du die Bücher des Neuen Testaments ganz und gar verstehen willst, versetze dich in die Person derer, denen sie zuerst von den Aposteln zum Lesen gegeben worden sind. Versetze dich im Geiste in jene Zeit und jene Gegend, wo sie zuerst gelesen wurden. Sorge, soweit dies möglich ist, dafür, daß du die Sitten und Gebräuche, Gewohnheiten, Meinungen, überkommenen Vorstellungen, Sprichwörter, Bildersprache, tägliche Ausdrucksweisen jener Männer erkennst und die Art und Weise, wie sie andere zu überzeugen versuchen oder Begründungen Glauben verschaffen.“ (zitiert nach G. Seelig, Einführung, IX)

12 Rezeptionsästhetisch formuliert: Wir erarbeiten uns für unsere eigenen Rezipienten die Rolle des „informierten Lesers“ (Stanley Fish), dessen „enzyklopädische Kompetenz“ (Umberto Eco), dessen „Textrepertoire“ (Wolfgang Iser) bzw. dessen „Erwartungshorizont“ (Hans Robert Jauß). Vgl. M. Mayordomo Marín, Den Anfang hören, 43–79.151–163; Finnern* 40. Die Ansätze der Rezeptionsästhetik sind in kognitiven Theorien genauer beschrieben.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden Methodenweg: Texterklärung

1. FRAGEN STELLEN: Zu allen Textelementen analytische Verstehensfragen formulieren und (aus arbeitsökonomischen Gründen) Fragen auswählen. 2. VORWISSEN NACHSCHLAGEN: In den Quellen (per Hilfsmitteln zu den Quellen) systematisch nach Antworten suchen: nach vorausgesetzten kognitiven Schemata und nach Prätexten, auf die konkret Bezug genommen wird. (Fortsetzung in Kapitel 10: Texterklärung II) 3. VORWISSEN AUSWÄHLEN: Kritisch überprüfen und abwägen, welche der gefundenen kognitiven Schemata (oder Prätexte) bei den intendierten Rezipienten des eigenen Textes vorausgesetzt sind (→ Kriterienkatalog). 4. INTERPRETIEREN: Beschreiben, wie ein informierter Rezipient den Text mit diesen kognitiven Schemata und Prätexte wahrnimmt (wenn sich kein plausibler Sinn ergibt, nochmals zurück zu 3.); auch Schlussfolgerungsprozesse (emergente Bedeutungen) nachzeichnen; Sonderfall: METAPHERN. 5. ERKLÄREN: Die Textinterpretation für die eigenen Rezipienten aufbereiten. Bei einem wissenschaftlichen Erklär-Text ist es unverzichtbar, auf Interpretationsspielräume und -alternativen hinzuweisen, d.h. auch die nicht gewählten kognitiven Schemata, Prätexte und Schlussfolgerungen aufzulisten und die Pro- und Kontra-Argumente zu benennen, warum man sich am Ende tendenziell für eine bestimmte Interpretation entschieden hat.

Literatur: D.R. Bauer/R.A. Traina, Inductive Bible Study, Grand Rapids 2011, 159– 277 (dort: 1. Erste Beobachtungen, 2. Fragen stellen, 3. Fragen auswählen, 4. Prämissen suchen, d.h. mögliche Verstehensvoraussetzungen, 5. Schlussfolgerungen ziehen, d.h. die Verstehensmöglichkeiten abwägen, 6. Interpretation).

9.2.1 Schritt 1: Verstehensfragen an den Text stellen Wer einen Text erklären will, sollte sich zunächst einmal Klarheit darüber verschaffen, was an diesem Text erklärungsbedürftig ist. Hierzu empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt auf systematischem Wege die VersteVerstehenshensfragen zu einem Text herauszuarbeiten und aufzulisfragen ten. Die Frage an dieser Stelle lautet also: „Was könnte ich alles erklären?“ Es geht in diesem Schritt nur darum, so viele Fragen an den Text wie möglich zu sammeln. Was davon beantwortbar ist und was nicht – und was vielleicht besonders interessant ist, das ist erst ein späterer Schritt.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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Beispiel: Markus 1,12–13 „Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ Mögliche Verstehensfragen sind (hier einfachheitshalber am dt. Text): 1. Was ist „alsbald“? Warum denn „alsbald“? 2. Wie hat man sich es vorzustellen, dass der Geist „treibt“? Warum treibt er? 3. „ihn“ – Wer ist Jesus für die Rezipienten zu diesem Zeitpunkt des Lektüreprozesses? 4. Welche Vorstellung verbinden die Adressaten mit dem „Geist“? Warum kommt er hier vor? 5. Wie hat man sich die „Wüste“ vorzustellen? Warum muss Jesus dorthin? 6. Was bedeuten „vierzig Tage“? Warum sind es vierzig Tage? 7. Was ist „versuchen“? Warum wird Jesus versucht? 8. Was weiß der Rezipient über den „Satan“? Warum taucht er hier auf? 9. Was sind die „wilden Tiere“? Warum tauchen sie hier auf? 10. Wie haben sich die Adressaten des Evangeliums „Engel“ vorgestellt? Warum tauchen sie hier auf? 11. Was bedeutet es, dass die Engel Jesus „dienen“? Warum steht das hier? Zu jeder Frage kann also jeweils eine „Warum-Frage“ kommen. All diese Fragen zu kognitiven Schemata sollte eine gute Vers-für-Vers-Kommentierung des Markusevangeliums beantworten, sofern sie beantwortbar sind.

Im Rahmen der Texterklärung ist darauf zu achten, nur Verstehensfragen zu stellen, die sich bereits die intendierten Rezipienten stellen konnten. Fragen, die mit heutigen Vorstellungen, Kenntnissen und Zweifeln zu tun haben, sind nicht Teil der exegetischen Texterklärung. Nicht für die Texterklärung in diesem Sinn geeignet ist die Frage: „Gibt es Engel?“, die sich aber gleichwohl für Schüler oder Predigthörer stellt und über den Text hinaus (psychologisch oder dogmatisch) erörtert werden könnte. Auch die Fragen, warum Herodes in Mk 6,21–29 historisch unpräzise als „König“ bezeichnet wird oder warum von einem Gefängnis die Rede ist, obwohl der Palast in Tiberias über kein solches verfügt hat, sind an dieser Stelle unangemessen bzw. lassen sich besser unter dem Blickwinkel des Historischen Interesses (→ Kap. 13a) verorten. Bei argumentativen Texten handelt es sich überwiegend um Fragen zur Semantik, beispielsweise „Was bedeutet ἱλαστήριον in Röm 3,25? (D.h. was sollen/können sich die von Paulus imaginierten römischen Christen unter diesem Wort vorstellen? Und wie sollen sie die Metapher auflösen?)“ Hieran können sich mitunter weitere Fragen anschließen. Bei Erzähltexten ist die Texterklärungs-Arbeit noch vielfältiger als bei argumentativen Texten. Denn es entsteht aufgrund der kognitiven Schemata eine „erzählte Welt“ im Kopf des Lesers. Hier kommt es auf die Rekonstruktion des „Kopfkinos“ an, die nach der Vorstellung des Autors im Kopf seiner Leser entstehen soll (→ 9.1 Einführung). Einfach gesagt, geht es darum, die

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

Leerstellen – oder besser gesagt: Inferenzstellen – eines Textes mittels historischer Arbeit zu „füllen“.13 (In der kognitiven Semantik „Leerstelle“/ spricht man tatsächlich auch von „slot“ und „filler“.14) DaInferenzstelle bei helfen narratologische Kategorien (Zeit, Raum, Handlung, Figur), auf bisher übersehene Fragestellungen aufmerksam zu machen, weil sie eine systematische Erschließung aller zugrunde liegenden Verstehensschemata bezogen auf die erzählte Welt ermöglichen. Welche konkreten Vorstellungen die intendierten Rezipienten von einer Sache, einer Person, einem Raum usw. hatten und welche konkreten Schlussfolgerungen sie zwischen einzelnen Aussagen ziehen konnten, lässt sich dann aber nur auf historischem Wege beantworten – mit genauem Blick in die Quellen. Die folgende Liste ist eine Zusammenstellung der Arten von Verstehensfragen speziell bei Erzähltexten (mit Beispielen aus Markus 6,21–29):15 Art der Inferenzstelle

Frage

Beispiele aus Mk 6,21–29

soziale Rollen/ Figurenrelationen

Wie ist das Verhältnis?

Wie ist das Verhältnis zwischen Herodes und seinen Gästen? (V. 21 u. 26)

Verhaltensweisen/ Motivation

Warum?

Warum verlangt Herodias den Kopf des Täufers? (V. 25)

Identität

Wer?

Was kann der Leser über Herodias wissen?

Figuren (Kap. 11b)

... und weitere Figurenmerkmale Handlung (Kap. 11c) Vorstellung expliziter Ereignisse

Wie geschieht etwas?

Wie hat man sich die Enthauptung vorzustellen?

Vorstellung impliziWas wird voter Ereignisse rausgesetzt? zeitliches Setting (Kap. 11d)

Bringt Herodias das Haupt des Täufers noch zu ihrem Mann? (V. 27 u. 28b)

Vorstellung von zeitlichen Angaben

Was bedeutet?

Was bedeutet „Geburtstag“? (V. 21) → Handlungsskript: „Geburtstag feiern“

chronologische Einordnung

Wann?

Wann hören die Jünger des Johannes von seinem Tod? (V. 29)

13 „Readers use schemata to make sense of events and descriptions by providing default background information for comprehension, as it is rare and often unnecessary for texts to contain all the detail required for them to be fully understood. Usually, many or even most of the details are omitted, and readers’ schemata compensate for any gaps in the text. As schemata represent the knowledge base of individuals, they are often culturally and temporally specific […]“ (Emmott/Alexander, Art. Schemata, 756). Die Theorie des Bibliologs spricht vom „weißen Feuer“ zwischen dem „schwarzen Feuer“, den schwarzen Buchstaben. 14 Ausführlich: D. Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium, Berlin u.a. 2012. 15 Vielleicht erkennen Sie hier den sogenannten „POZEK-Schlüssel“ wieder: Person – Ort – Zeit – Ereignis (– Kern). All diese Fragen beziehen sich auf kognitive Schemata des Lesers.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen? Dauer

Wie lange?

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Wie lange dauert der Weg des Henkers? (V. 27f.)

räumliches Setting (Kap. 11d) Vorstellung von räumlichen Angaben

Wie soll man sich … vorstellen?

Wie soll man sich die Räumlichkeiten des Geburtstagsfestes vorstellen?

Lokalisation und Relation von Räumen

Wo?

An welchem Ort befindet sich das Gefängnis? Wo liegt der „Palast“ des Herodes?

Tab. 9.2: Arten von Verstehensfragen speziell bei Erzähltexten

Aufgaben: 1) Lesen und übersetzen Sie Mk 6,22! Formulieren Sie eine analytische Frage zur chronologischen Einordnung, zu einem expliziten Ereignis sowie zur Figurenrelation. 2) Betrachten Sie noch einmal das eingangs vorgestellte Gemälde (Abb. 9.1). Nennen Sie Fragen aus Tab. 9.2, die sich der Künstler (bewusst oder unbewusst) gestellt haben muss.

Relevante Fragen auswählen: Die Anzahl analytischer Fragen, die sich auf systematischem Wege an einen Text richten lassen, ist immer begrenzt, kann aber gleichwohl groß sein. Demgegenüber fällt auf, dass in wissenschaftlichen Kommentaren meist nur eine kleine Anzahl an möglichen Fragen zum Text erklärt wird. Denn die Kommentatoren wählen zumeist intuitiv einzelne Aspekte aus, die ihnen interessant oder bedeutsam erscheinen oder die bereits in der vorherigen Forschungsgeschichte diskutiert wurden. Blickt man aber über den innerexegetischen und universitären Tellerrand, so sind es oftmals andere Verstehensfragen, die als relevante Fragen gelten können. Zum Beispiel, wenn eine biblische Erzählung verfilmt, im Theater inszeniert oder in einer narrativen Predigt nacherzählt wird (→ Kap. 14: Praktisches Interesse). Dann ist es auch interessant, wie sich die Adressaten das Äußere einer Figur vorzustellen haben oder welche Gefühle und Motive sie den Figuren zuschreiben. Ein umfassender Kommentar oder ein Internet-Textkommentar könnte auch diese Fragestellungen aufgreifen. Jedenfalls müssen Sie bei Ihrer Exegese aus arbeitsökonomischen Gründen eine Auswahl treffen. Für die Proseminararbeit empfiehlt es sich, ein klar abgegrenztes Thema zu wählen. Von diesem Thema aus lässt sich dann beurteilen, welche Leerstellen inhaltlich erklärt werden sollen und welche unbeantwortet bleiben können.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

9.2.2 Schritt 2: Quellen suchen, um Frames und Skripts zu rekonstruieren Bisher haben wir die Verstehensfragen zu einem Text aufgelistet und einige Fragen ausgewählt, zu denen wir passende kognitive Schemata finden möchten. Die Frage, welche historischen Frames und Skripts bei der Lektüre neutestamentlicher Texte aktiviert wurden, lässt sich nun durch historische Arbeit, d.h. durch ein entsprechendes Quellenstudium, rekonstruieren. Da für die Interpretation eines Textes das exegetische Quellenstudium immens wichtig ist, wollen wir Ihnen an dieser Stelle einen Überblick geben, wie Sie sich einen eigenständigen Zugang zu den Quellen verschaffen können. Eigentlich immer können Sie mit dem Lesen der Vers-für-Vers-Erklärung der einschlägigen wissenschaftlichen Bibelkommentare beginnen. Dort gibt es oft Hinweise auf Bibelstellen, auf frühchristliche, jüdische oder pagane hellenistisch-römische Texte. Bis zum Schluss Ihrer Arbeit sollten Sie jede Parallelstelle und Quellenangabe, die Sie aus einem Kommentar abschreiben möchten, in einer wissenschaftlichen Edition selbst gesehen und Sekundärquellen kritisch geprüft haben. Sie dürfen also gerne mit den Sekunund därquellen beginnen (den „Quellen zu den Quellen“), müsPrimärquellen sen aber am Ende bei den Primärquellen landen. Mit zunehmender Routine werden Sie dabei innerlich unabhängiger von den Sekundärquellen und selbständiger im Umgang mit den Primärquellen. Schauen Sie in Kommentare und Lexika und Suchprogramme: Siehe da! Und nicht vergessen: Bei allen Stellen prüfen Sie die Primärquellen.

Für die Erkundung der kognitiven Schemata, die der neutestamentliche Autor bei den Rezipienten voraussetzen kann, haben Sie folgende Arten von Hilfsmitteln zur Verfügung: ■ ■ ■ ■

1. Bibelkommentare (textbezogen) 2. Lexika (begriffsbezogen bzw. sachbezogen) 3. Suchprogramme 4. Primärquellen

1. Bibelkommentare a) Bibelkommentare im engeren Sinn Die Kommentare zu einem Text geben oft Hinweise, mit welchen kognitiven Schemata man einen Vers oder Textabschnitt verstehen kann. In der Bibelwissenschaft sind die Bibelkommentare meistens Teil einer Kommentarreihe. Folgende besonders umfangreiche Kommentarreihen sollten Sie kennen (der „EKK“ ist ganz unverzichtbar):

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen? AncB EKK HThK ICC NIGTC WBC

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The Anchor Bible Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament The International Critical Commentary The New International Greek Testament Commentary Word Biblical Commentary

Daneben können Sie immer wieder konsultieren: BECNT HNT HThA KEK NICNT ÖTK PKNT RNT ThHK ThK.NT

Baker Exegetical Commentary on the New Testament Handbuch zum Neuen Testament Historisch-Theologische Auslegung Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament The New International Commentary on the New Testament Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament Regensburger Neues Testament Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologischer Kommentar zum Neuen Testament

Und dann gibt es noch die „kleinen“ Kommentarreihen: NEB NTD

Die neue Echter-Bibel Das Neue Testament Deutsch

Nicht immer sind alle Kommentarbände einer Reihe schon geschrieben und nicht jede Bibliothek hat alle Kommentarbände. Praktischer Tipp: Geben Sie einfach den Titel des jeweiligen Kommentars im OPAC Ihrer Universitätsbibliothek ein. Dann erhalten Sie eine Auflistung, ob ein Einzelband zu diesem biblischen Buch auch bei Ihnen verfügbar ist. b) Beigaben am äußeren Rand des NTG28 Eine Art „impliziter Textkommentar“ sind die Verweise am äußeren Rand des Novum Testamentum Graece. In der 28. Auflage des NTG wurden die sogenannten „Beigaben“ sogar erweitert. Während die 27. Aufl. lediglich auf alttestamentliche Parallelstellen hingewiesen hat, werden nun zum ersten Mal auch frühjüdische Texte berücksichtigt. Allerdings ist hier nicht transparent, nach welchen Kriterien diese Parallelstellen ausgewählt wurden. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht nur um wörtliche Zitate, sondern oftmals auch um lose Anspielungen. Erschwert wird die Suche dadurch, dass weitere Paralleltexte an anderer Stelle notiert werden und dies lediglich durch ein „!“ hinter der Textstelle angedeutet wird. Die Benutzer müssen dadurch viel hin und her blättern. c) Textbezogene Quellensammlungen Eine Vorsortierung der Quellen bieten textbezogene Quellensammlungen. Das (veraltete) Standardwerk zu rabbinischen Quellen ist der vierbändige

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

Strack-Billerbeck (in sechs Teilbänden). Dieser ordnet den einzelnen neutestamentlichen Perikopen jüdische Texte aus Talmud und Midrasch zu. Oftmals lohnt es sich bei der Verwendung des Billerbeck, zu einem Evangelientext auch die synoptischen Parallelen nachzuschlagen. Wichtige zeitgenössische jüdisch-hellenistische Autoren wie Josephus oder Philo oder auch die alttestamentlichen Pseudepigraphen sind von Billerbeck jedoch nicht aufgenommen. Auch die Qumran-Texte findet man dort noch nicht. Es fehlt bei Billerbeck also vieles, was „den“ jüdischen Vorstellungshintergrund angeht. Für die Frames und Skripts der hellenistischen und römischen Welt gibt es den Neuen Wettstein. Man konzentrierte sich bei dieser Neubearbeitung der Quellensammlung u.a. auf: „Inhaltliche Parallelen zum Neuen Testament“, „Texte, die geeignet sind, zur Klärung von Realien … beizutragen“ und „Texte, die den Rezeptionshorizont des antiken Hörers/Lesers … beleuchten“. Trotzdem wird nicht immer klar, aus welchen Gründen ein bestimmter Paralleltext ausgewählt wurde und was diese Parallele vielleicht für die Interpretation des neutestamentlichen Textes bedeuten könnte.16 [Strack, H.L./]Billerbeck, P., Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 6 Bde., München 1922–1928. NW Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. v. G. Strecker/U. Schnelle, Berlin u.a. 1996ff.; bis 2015 erschienen: Bd. I/1: Texte zum Markusevangelium, 2008; Bd. I/1.2-1: Texte zum Matthäusevangelium 1–10, 2013; Bd. I/2: Texte zum Johannesevangelium, 2001; Bd. II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, 1996.

Dies sind die einzigen großen deutschsprachigen Werke, was textbezogene Quellensammlungen angeht. Teilweise gibt es auch Hintergrundkommentare zu einzelnen Textabschnitten, z.B. D.W. Chapman/E.J. Schnabel, The Trial and Crucifixion of Jesus. Texts and Commentary, Tübingen 2015 (speziell zum Prozess Jesu und zur Kreuzigung). Hilfreich ist C.S. Keener, The IVP Bible Background Commentary. New Testament, Downers Grove 22014 (dt.: Kommentar zum Umfeld des Neuen Testaments, 3 Bde., Neuhausen-Stuttgart 1998), der aber etwas knapp geraten ist und keine wissenschaftliche Diskussion bietet. Das geplante Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT) umfasst Texte aus dem jüdisch-hellenistischen Bereich, ausgenommen Qumran und rabbinische Texte; bisher sind Tagungsbände erschienen.

16 Vgl. drei der fünf angegebenen Kriterien bei G. Seelig, Einführung, XV. „Allerdings wäre es durchaus hilfreich, die Autoren würden sich über die Art des Bezuges und evtl. auch über seine vermutete Tragweite nicht nur in weises Schweigen hüllen.“ (J. Frey, Der „Neue Wettstein“ auf der Zielgeraden. Reflexionen zu religionsgeschichtlicher Arbeit und ihren Hilfsmitteln, ThLZ 138 [2013], 892–904, hier 902.)

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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2. Lexika (begriffs- und sachbezogene Nachschlagewerke) a) Theologische und exegetische Wörterbücher Die beiden Standardwerke unter den deutschsprachigen theologischen Wörterbüchern sind das – etwas in die Jahre gekommene, aber äußerst umfangreiche – Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) und das – neuere, wesentlich komprimiertere – Exegetische Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT) in der 3. Auflage. Sehr hilfreich ist auch das Theologische Begriffslexikon zum Neuen Testament (TBLNT). Zur Vertiefung kann man noch den jeweiligen Literaturhinweisen folgen, die unter oder über den meisten Artikeln zu finden sind. Nicht zuletzt findet man auch im Wörterbuch von Bauer/Aland die Belegstellen zu einem neutestamentlichen Begriff. EWNT = Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. H. Balz/H. Schneider, Stuttgart 32011. HGANT = Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, hg. v. A. Berlejung/Chr. Frevel, Darmstadt 32012. ThWNT = Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, begr. v. G. Kittel, hg. v. G. Friedrich, Stuttgart u.a. 1933–1979. TBLNT = Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, hg. v. L. Coenen/K. Haacker, Witten 22010. Bauer/Aland = W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. u. B. Aland, Berlin/New York 61988.

b) Bibellexika (v.a. für Realien, aber auch für theologische Begriffe) Schlagen Sie auch einige Begriffe aus Ihrem Text in Bibellexika nach. Im exegetischen Bereich werden besonders Herders neues Bibellexikon, das Neue BibelLexikon und das Calwer Bibellexikon empfohlen. Auch das WiBiLex, ein wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, ist zitierfähig; nur bitte nicht Wikipedia. Möglicherweise werden Sie auch in den „großen“ Nachschlagewerken fündig: dem LThK, der TRE, der RGG oder auch der EJ. Besonders ergiebig für den antiken Hintergrund ist das RAC, nur ist es noch nicht fertiggestellt. Anchor Bible Dictionary, hg. v. D.N. Freedman, 6 Bde., New York 1992. Biblisch-Historisches Handwörterbuch, hg. v. B. Reicke/L. Rost, 4 Bde., Göttingen 1962-1979. HNBL Herders neues Bibellexikon, hg. v. F. Kogler, Freiburg u.a. 2008. NBL Neues Bibel-Lexikon, 3 Bde., hg. v. M. Görg/B. Lang, Zürich 1991–2001. Calwer Bibellexikon, 2 Bde., hg. v. O. Betz u.a., neu bearb., Stuttgart 62006. WiBiLex = Alkier, St. / Bauks, M. / Koenen, K. (Hgg.), Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2007ff., http://www.wibilex.de (abger. 9.4.2016). ABD BHH

Zu den großen Nachschlagewerken: EJ LThK TRE RAC RGG4

Encyclopaedia Judaica, 16 Bde., Jerusalem 1971. Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Freiburg 1993–2001. Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde., Berlin/New York 1977–2004. Reallexikon für Antike und Christentum, 26 Bde. (bis 2015), Stuttgart 1950ff. Religion in Geschichte und Gegenwart, 8 Bde., Tübingen 41997–2004.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

c) Sozialgeschichte und Archäologie Den antiken Lebensverhältnissen widmet sich das Sozialgeschichtliche Wörterbuch zur Bibel. Besonders die Archäologie kann die damaligen Lebensverhältnisse erhellen, über die überlieferten Text- und Bildzeugnisse hinaus. Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, hg. v. F. Crüsemann u.a., Darmstadt 2009. Claußen, C./Frey, J. (Hgg.), Jesus und die Archäologie Galiläas, BThSt 87, NeukirchenVluyn 22009. Vieweger, D., Archäologie der biblischen Welt, Gütersloh 2012. Zwickel, W., Leben und Arbeit in biblischer Zeit. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart 2013. SWB

d) Gesamtdarstellungen zur Zeitgeschichte Es ist hilfreich und wichtig bei der Interpretation neutestamentlicher Texte, sich im politischen und religiösen „Resonanzraum“ des Neuen Testaments orientieren zu können. Dazu gibt es einführende Gesamtdarstellungen. Hervorgehoben seien: „Neues Testament und Antike Kultur“ (NTAK) und die „Texte zur Umwelt des Neuen Testaments“ (Schröter/Zangenberg). Christ, K., Die römische Kaiserzeit. Von Augustus bis Diokletian, Beck Wissen 2155, München 42011. Ebner, M., Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt Bd. 1, Göttingen 2012. NTAK Erlemann, K. u.a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, 5 Bde., Neukirchen–Vluyn 2004–2008. (Gesamtausgabe in einem Band: 2011) Garnsey, P./Saller, R., Das römische Kaiserreich. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Hamburg 1989. Green, J.B./McDonald, L.M., The World of the New Testament. Cultural, Social, and Historical Contexts, Grand Rapids 2013. Klauck, H.-J., Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 2 Bde., Stuttgart 1995/1996. Kollmann, B., Einführung in die neutestamentliche Zeitgeschichte, Darmstadt 32014. Lohse, E., Umwelt des Neuen Testaments, Göttingen 102000. Pilhofer, P., Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung, Tübingen 2010. Schefzyk, J./Zwickel, W. (Hgg.), Judäa und Jerusalem. Leben in römischer Zeit, Stuttgart 2010. Schröter, J./Zangenberg, J. (Hgg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, UTB M 3663, Tübingen 2013. (löst die ältere Ausgabe von C.K. Barrett/C.-J. Thornton ab) Stegemann, H., Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg 91999. Stegemann, W., Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010. Tilly, M., So lebten Jesu Zeitgenossen. Alltag und Frömmigkeit im antiken Judentum, Stuttgart 2008. Zwickel, W., Einführung in die Biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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e) Atlanten (für Ortsangaben) Atlanten wie der Tübinger oder Stuttgarter Bibelatlas oder auch Herders neuer Bibelatlas bieten eine wichtige Orientierungshilfe, wenn es um die Nachvollziehbarkeit geografischer Details und um die Lokalisation einzelner Orte geht. Doch gerade bei der Verwendung von Atlanten sollte man sich bewusst machen, dass es sich hierbei um moderne Sekundärdarstellungen handelt. So gilt es zu beachten, dass die Rezipienten im 1. Jhdt. n.Chr. sicherlich eine wesentlich weniger komplexe „kognitive Karte“ im Kopf hatten. Und geografische Angaben erfolgten damals längst nicht so präzise, wie wir es heute gewohnt sind. Vor diesem Hintergrund gilt es aufzupassen, dass man keine falschen Maßstäbe an biblische Erzählungen und Texte anlegt. HNBA Herders neuer Bibelatlas, hg. v. W. Zwickel u.a., Freiburg u.a. 2013. Mittmann, S. u.a., Tübinger Bibelatlas. Auf der Grundlage des Tübinger Atlas des Vorderen Orients (TAVO), Stuttgart 2001. Strange, J., Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 1998.

f) Lexika in den Altertumswissenschaften Eine weitere „Quelle zu den Quellen“ stellen die eher thematisch orientierten Lexika aus dem altertumswissenschaftlichen Bereich dar. Der Klassiker der Altertumswissenschaften ist Paulys Realenzyklopädie, ein 49-bändiges Monumentalwerk mit enormer Detaildichte. Komprimierter und zugleich durch zahlreiche Abbildungen und Grafiken aufbereitet kommt Der Neue Pauly daher. Die Reihe ANRW ist ebenfalls eine wichtige Fundgrube. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. v. G. Wissowa u.a., Stuttgart 1894–1980 teilweise online: https://de.wikisource. org/wiki/Paulys_Realencyclopädie_der_classischen_Altertumswissenschaft (abger. 9.4.2016) KlP Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 5 Bde., hg. v. K. Ziegler/W. Sontheimer, München 1979. DNP Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 16 Bde., hg. v. H. Cancik/H. Schneider, Stuttgart 1996–2003. ANRW Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, begr. v. H. Temporini, hg. v. W. Haase, Berlin/New York 1972ff. (thematische Bände zu vielen Themen, u.a. Religion), http://www.bu.edu/ict/anrw/pub/index.html (abger. 9.4.2016) Metzler-Lexikon antiker Autoren, hg. v. O. Schütze, Stuttgart 1997. RE

g) Rezeption biblischer Texte Um die eigene Interpretation mit der Rezeptionsgeschichte abzugleichen (vgl. 10.2.1 Texterklärung II: Plausibilität), ist es hilfreich nachzuschlagen, wie neutestamentliche Texte in den ersten Jahrhunderten verstanden wurden. Auch hier ist aber eine große Vorsicht geboten. Nicht selten verrät die Rezeption eines neutestamentlichen Textes mehr über die Lebenswelt späterer Generationen und führt von der ursprünglichen Textbedeutung fort.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

Encyclopedia of the Bible and its Reception, hg. v. H.-J. Klauck u. D.C. Allison, Berlin 2009ff. (ca. 30 Bände sind geplant) LCI Lexikon der christlichen Ikonographie, 8 Bde., Freiburg 1968–1976. (Neubearbeitung ist in Aussicht) ACCS Ancient Christian Commentary on Scripture, 29 Bde., hg. v. Th.C. Oden, Downers Grove 1998ff. NTP Novum Testamentum Patristicum, hg. v. A. Merkt, T. Nicklas u.a., Göttingen 2007ff. (45 Bände geplant, bisher erst wenige Bände erschienen) EBR

3. Suchprogramme und Konkordanzen Inzwischen gibt es auch elektronische Textsammlungen mit Suchfunktionen, die mit ihren komplexen Suchmöglichkeiten die früheren gedruckten Konkordanzen weit übertreffen. Für biblische Texte sind hier die Programme Accordance und BibleWorks zu empfehlen (die Stuttgarter Elektronische Studienbibel wird nicht mehr weiterentwickelt). Bibelprogramme können natürlich nur Wörter und Wortverbindungen finden, die man direkt eintippt. Lose Anspielungen, thematische Parallelen oder ganze Vorstellungskomplexe (die teilweise mit anderen Begriffen ausgedrückt werden) lassen sich eher schwer entdecken. Die Suchfunktion kann man auch bei anderen Textsammlungen über die Bibel hinaus anwenden. Der Thesaurus Linguae Graecae oder Perseus stellen große digitalisierte Datenbanken dar, in denen griechische literarische Texte aus mehreren Jahrhunderten zu finden sind. Diese digitalen Textsammlungen sind heutzutage ein hervorragendes Instrument, um ein möglichst umfassendes Quellenmaterial zu einem Begriff bzw. Begriffsfeld zu erfassen. Hilfreich ist hierbei, dass die Suche auf bestimmte Autoren und/oder Zeiträume konzentriert werden kann. Zur Sicherheit sollten die Textpassagen, die man später zitieren möchte, anschließend in entsprechenden Quellenausgaben in der Bibliothek nachgeschlagen und direkt aus den Primärquellen zitiert werden. Accordance 11, 2014 (auch für Mac; 49 € + 299 €), www.bibelonline.de BibleWorks 10.0, Norfolk 2015 (389 US-$), www.bibleworks.com Perseus Digital Libary: http://www.perseus.tufts.edu/hopper (abger. 9.4.2016) Thesaurus Linguae Graecae: http://stephanus.tlg.uci.edu/inst/fontsel (9.4.2016) (Datenbank kann im Intranet vieler Universitäten aufgerufen werden) Oxyrhynchus Project: http://www.papyrology.ox.ac.uk/POxy (abger. 9.4.2016) (Papyrussammlung)

4. Primärquellen zum Vorstellungshintergrund neutestamentlicher Texte (Auswahl) a) Biblische (alttestamentliche) Bezüge BHS BHQ LXX LXX.D

Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg. v. K. Elliger/K. Rudolph, Stuttgart 41990. Biblia Hebraica Quinta, hg. v. A. Schenker u.a., Stuttgart 2004–ca. 2020. Septuaginta, hg. v. A. Rahlfs, 2 Bde., Stuttgart 1935. M. Karrer/W. Kraus (Hg.), Die Septuaginta Deutsch, Stuttgart 22010.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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b) Jüdische bzw. jüdisch-hellenistische Umwelt Flavius Josephus, De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, hg. v. O. Michel/O. Bauernfeind, 4 Bde., Darmstadt 1977. Ders., Jüdische Altertümer, übers., mit Einleitung und Anm. v. H. Clementz, Wiesbaden 22006. Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, 7 Bde., hg. v. L. Cohn u.a., Berlin 1962–1964. Maier, J., Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, 3 Bde., UTB 1862/1863/ 1916, München/Basel 1995/96. JSHRZ/JSHRZ.NF = Jüdisches Schrifttum aus hellenistisch-römischer Zeit, hg. v. W.G. Kümmel, Gütersloh 1973ff.; NF = Neue Folge, hg. v. H. Lichtenberger/G.S. Oegema, Gütersloh 2005ff. OTP The Old Testament Pseudepigrapha, hg. v. J.H.C. Charlesworth, 2 Bde., London 1983/1985.

c) Sammlungen frühchristlicher Texte NHD Nag Hammadi Deutsch, 2 Bde., hg. v. H.-M. Schenke u.a., GCS.NF 8/12, Berlin 2001/03. (Studienausgabe: 22010) ACA Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. Chr. Markschies u. J. Schröter, Bd. 1 in 2 Teilbänden: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012. Geplant: Bd. 2: Apostelgeschichten, Bd. 3: Apokalypsen. (7. Auflage, völlige Neubearbeitung der Ausgabe von Hennecke/Schneemelcher). Bis zum vollständigen Erscheinen vgl. die 6. Auflage: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. E. Hennecke u. W. Schneemelcher, 2 Bde., Tübingen 61999. (vgl.: Klauck, H.-J., Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 32008 und ders., Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005.) Lindemann, A./Paulsen, H., Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992. (v.a. für die frühe Rezeption)

d) Griechisch-römische Umwelt Cassius Dio, Römische Geschichte, 5 Bde., übers. v. O. Veh, Zürich 1985–1987. Die Frühen Römischen Historiker, 2 Bde., Bd. I. Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius/II. Von Coelius Antipater bis Pomponius Atticus, hg., übers. u. komment. v. H. Beck/U. Walter, TzF 76/77, Darmstadt 2001/2004. Sueton, Cäsarenleben, übertr. u. erl. v. M. Heinemann, Stuttgart 82001. Tacitus, Historien: lateinisch-deutsch, hg. v. J. Borst, Mannheim [1959] 72010. Ders., Annalen: lateinisch-deutsch, hg. v. E. Heller, Mannheim [1982] 62010.

e) Nichtliterarische Primärquellen Einige Primärquellensammlungen widmen sich dezidiert gegenständlichen und bildlichen (Alltags-)Quellen. Erwähnenswert sind hier aus dem Bereich der Inschriftenkunde („Epigraphik“) die Inscriptiones Graecae (IG) und das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL), die eine Zusammenstellung griechischer und lateinischer Inschriften bieten. Zunehmend an Bedeutung gewinnen auch auf diesem Gebiet Internetdatenbanken, wie z.B. die Epigraphische Datenbank Heidelberg (EDH) oder die Datenbank des Packard Humanities Insti-

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

tute (PHI). Ähnliche Datenbanken gibt es im Bereich der Münzkunde („Numismatik“) oder zur antiken Bildkunst sowie zu Objekten und Bauten. Von der Arbeitsstelle für Digitale Archäologie in Köln wird z.B. die Bild- und Objektdatenbank „Arachne“ betrieben. Ein wesentliches Problem bei der Auswertung nichtliterarische Quellen stellt nach wie vor die uneinheitliche Indexierung dar. Nicht immer findet man über die entsprechenden Suchbegriffe auch die richtigen Zeugnisse. CIJud Corpus Inscriptionum Iudaicarum, 2 Bde., hg. v. J.-B. Frey, Rom 1936/1952. (Sammlung jüdischer Inschriften) CIG Corpus Inscriptionum Graecarum, hg. v. A. Boeckh, Berlin 1828/1877. (Sammlung griechischer Inschriften) ILS Inscriptiones Latinae Selectae, hg. v. H. Dessau, Berlin 1892–1916 [Nachdr. 1962]. (Sammlung lateinischer Inschriften) Arachne: http://arachne.uni-koeln.de/drupal/ (abger. 9.4.2016)

9.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Was versteht man als „Leerstelle“ bzw. Inferenzstelle? 2. Beschreiben Sie, wie im Zuge der Texterklärung erzählwissenschaftliches und historisches Arbeiten zusammenwirken! 3. Welche Methodenschritte der ‚klassischen‘ Exegese erfassen Aspekte der Texterklärung und mit welchen Problemen sind diese Methodenschritte behaftet?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ auf systematische Weise die Leerstellen eines Textes erkunden, bei denen ein Rezipient kognitive Schemata (Vorwissen) zum Verstehen benötigt, ■ Sekundär- und Primärquellen in der Bibliothek finden und reflektiert benutzen. Sie kennen jetzt … ■ die methodischen Prämissen der Religions-, Zeit- und Sozial- sowie Begriffsund Motivgeschichte; ■ wichtige Sekundär- und Primärquellen zur Interpretation neutestamentlicher Texte. Notieren Sie in Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie bei sich nach dieser Sitzung zur Texterklärung erkennen und wo sie noch offene Fragen haben.

Was muss jemand wissen, um die Bedeutung des Textes zu verstehen?

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Vernetzen Sie sich: Ein wesentliches Anliegen dieses Kapitels war es, Sie im Hinblick auf die Texterklärung auf die Probleme einiger klassischer Methodenschritte hinzuweisen. Zugleich wollen wir hiermit eine neue Methodik der Texterklärung zur Diskussion stellen. Was überzeugt Sie an diesem Ansatz und was lässt sich Ihres Erachtens präzisieren/anders gestalten?

9.4 Literatur 9.4.1 Exegetische Methodenlehren Die methodische Untersuchung, was ein Text bedeutet, findet man sonst unter verschiedenen Bezeichnungen: a) Sprachliche bzw. semantische Analyse: Adam/Kaiser* 55–58, Alkier* 139–184 (‚semiotisch-kritische Exegese’, auch Intertextualität und Numismatik), Berger* 137–159 (semantische Felder), Dreytza/Hilbrands* 66–69, Ebner/Heininger* 57–130, bes. 96–98, Egger/Wick* 138–191, Fenske* 91–93, Fohrer/Hoffmann* 58–83, bes. 76–78 Semantik (auch 153–155 Einzelauslegung), Neudorfer/Schnabel* 69–154 (ausführlich), Reinmuth/Bull* 31– 34, Richter* 179–187 (‚textimmanente‘ Exegese), Schweizer* 52–77 (strukturalistisch), Stadelmann/Richter* 121–129, Reinmuth/Bull* 65–73 (Intertextualität), Zimmermann* 283f. – englischsprachig: Bauer/Traina* 159–277, Black/Dockery* 230–252, Blomberg* 117–142 u. 167–194, Bock/Fanning* 135–153 u. 155–166 (‚Exegetical Problem Solving‘), Corley/Lemke* 21–38, Croy* 64–79, Duvall/Hays* 132–156, Fee* 79–95, Guthrie/Duvall* 129–135, Kaiser/Silva* 47–64, Klein/Blomberg/Hubbard* 183–199, Marshall* 75–104, Osborne* 64–92, Stuart* 10f.46–49.107–118, Virkler/Ayayo* 102–113. b) Sacherklärung/Realien: Adam/Kaiser* 60–65, Erlemann/Wagner* 35–41 (Sozialgeschichte, Realienkunde), Meiser/Kühneweg* 81–83, Söding/Münch* 109–115 (Sachanalyse). c) Traditions- bzw. Motivgeschichte (als Stichwort): Adam* 71–78, Adam/Kaiser* 58f., Becker* 115–128 (Traditionsgeschichte, inkl. Religions- und Sozialgeschichte u. Archäologie), Berger* 169–187, Bussmann/Sluis* 51–55, Ebner/Heininger* 237–276 (Zeitgeschichte, Traditionskritik, Religionsgeschichte), Erlemann/Wagner* 82–91, Fenske* 113– 121, Fohrer/Hoffmann* 102–119, Kreuzer/Vieweger* 88–95, Meurer* 87–92, Neudorfer/ Schnabel* 231–244, Richter* 152–165, Schnelle* 134–138, Söding* 173–190 (Motivanalyse), Söding/Münch* 115–127 (Motivanalyse), Steck* 126–149, Utzschneider/Nitsche* 187–212. d) Religionsgeschichtlicher Vergleich: Adam* 79–92, Berger* 186–201, Dreytza/Hilbrands* 146–151, Erlemann/Wagner* 91–98, Fenske* 122–140, Haacker* 68–78, Lührmann* 48–58, Reinmuth/Bull* 62–65, Schnelle* 139–148. e) Darstellungen der Zeitgeschichte in Methodenlehren: Conzelmann/Lindemann* 149–222 (Umwelt des Urchristentums), Meiser/Kühneweg* 67–81, Neudorfer/Schnabel* 155–230 (R. Deines: Die jüdische Mitwelt und V. Gäckle: Die griechisch-römische Umwelt). f) Wirkungsgeschichte (als Teil der Exegese): Erlemann/Wagner* 12–16.

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9. Texterklärung I – Fragen stellen und Quellen finden

9.4.2 Weitere Literatur Emmott, C./Alexander, M., Art. Schemata, in: P. Hühn/J.Chr. Meister u.a. (Hgg.), Handbook of Narratology, Berlin/Boston 2014, Bd. 2, 756–764, online: http://wikis.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php/Schemata (22.1.2011, abger. 11.3.2016). Mayordomo Marín, M., Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998. Seelig, G., Einführung, in: Neuer Wettstein, Bd. II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin/New York 1996, IX–XXIII. Seelig, G., Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 7, Leipzig 2001. Theis, J., Biblische Texte verstehen lernen, PTHe 64, Stuttgart 2005 (Bibeldidaktik).

10 Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation Leitbegriffe Parallelomanie, Kriterien der Quellenauswahl, Einzelprobleme der Interpretation, kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, Fragmentarität, Selektivität, Prototypensemantik, Priming, Primär- und Rezenzeffekt, Salienz, Interpretationsfallen, Intertextualität, emergente Bedeutung, Metapher

10.1 Einführung: „Parallelomanie“ Mit „Parallelomanie“ wird die Tendenz bezeichnet, alle möglichen „Parallelen“ (auch Kontrastparallelen) zu einem Wort oder Vers aufzulisten: Man sammelt viele Belegstellen, wo dieses Wort sonst Parallelomanie noch vorkommt und wo dieser Gedanke ähnlich oder ganz anders geäußert wird. Oft wird dabei nicht kritisch geprüft, ob die Parallelen auch wirklich für das Verständnis eines bestimmten Textes wichtig sind oder welcher Art diese Parallelen vielleicht sind. So etwas passiert exegetischen Anfängern natürlich leicht. Vergessen Sie daher bitte nicht: Das Sammeln von „Parallelen“ zum Verständnis einer Bibelstelle (Kapitel 9) ist nur ein erster Schritt! Der Begriff „Parallelomanie“ geht auf einen gleichnamigen Aufsatz von Samuel Sandmel aus dem Jahr 1962 zurück. 1 Es handelte sich um die Präsidenten-Ansprache bei der Tagung der Society of Biblical Literature aus dem Jahr 1961. Der nach eigenen Angaben religiös liberale Jude Sandmel gibt zu bedenken: „I am speaking words of caution about exaggerations about the parallels and about source and derivation.“ (1) Und weiter: „Detailed study is the criterion, and the detailed study ought to respect the context and not be limited to juxtaposing mere excerpts. Two passages may sound the same in splendid isolation from their context, but when seen in context reflect difference rather than similarity.“ (2) Sandmel hat hier insbesondere das im Blick, was die (christlichen) Bibelwissenschaftler so alles aus den rabbinischen Parallelen „herausholen“. Dabei kritisiert er [Strack/]Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, erschienen 1922–1928. Unter anderem fordert er dies von den Textauslegern: ■ ■

■ ■

1

Man darf nicht einfach nur „Parallelen“ nebeneinanderstellen, sondern man muss den jeweiligen Kontext beachten. Parallelen müssen nicht auf die Abhängigkeit des einen Textes vom anderen hindeuten, sondern können auch auf einem gemeinsamen sprachlichen oder geistigen Hintergrund basieren. Und bei vorhandenen Parallelen ist auch darauf zu achten, wie der Autor seine Vorlage verändert hat (→ Kap. 6: Redaktionsanalyse). Außerdem dürfen die Vergleiche von Parallelen nicht vorurteilsbeladen sein, um den einen Text in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Speziell bei Strack/BilS. Sandmel, Parallelomania, JBL 81 (1962), 1–13.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

lerbeck besteht das Problem darin, dass die Rabbinen in vielen Bereichen als Negativfolie für das Neue Testament herhalten müssen. Wenn Jesus betont: „Liebe deine Feinde“, dann müssen die Rabbinen wohl den Hass auf die Feinde lehren. „StrackBillerbeck concede that parallels are here lacking, yet they manage to conclude that Judaism actually teaches the hatred of enemies, almost as a central doctrine.“ Diese Unreflektiertheit führt zu einer quantitativen Anhäufung von Parallelen: „Third, in the major sins of Strack-Billerbeck is the excessive piling up of rabbinic passages. Nowhere else in scholarly literature is quantity so confused for quality as in Strack-Billerbeck.“ (S. Sandmel, Parallelomania, 10)

Nun ist dies eine alte Kritik, die bereits vor mehr als 50 Jahren geäußert wurde. Manche dieser Probleme sind aber immer noch aktuell. Denn einerseits werden die alten „Materialsammlungen“ wie Billerbeck oder das ThWNT2 bis heute genutzt. Und andererseits stößt man auch heute noch in Kommentaren und exegetischer Literatur immer wieder auf dort genannte Parallelen, mit denen man kritisch umgehen muss. Deswegen geht es nun daran, unter den von Ihnen gefundenen kognitiven Schemata diejenigen auszuwählen, die der Rezipient kennen konnte.

10.2 Methode (Schritte 3–5) Wir setzen nun den im vorigen Kapitel vorgestellten Methodenweg der Texterklärung fort: Methodenweg: Texterklärung (Fortsetzung) 3. VORWISSEN AUSWÄHLEN: Kritisch überprüfen und abwägen, welche der gefundenen kognitiven Schemata (oder Prätexte) bei den intendierten Rezipienten des eigenen Textes vorausgesetzt sind. Drei Hauptkriterien: a) Konkretes Vorwissen: Kennt der Rezipient dieses Schema überhaupt? b) Aktivierung: Welche Hinweise und Signale gibt der Autor, so dass dieses (Nicht-Standard-)Schema aktiviert wird? c) Plausibilität: Ist die Interpretation mit diesem Schema plausibel (vgl. 4)? 4. INTERPRETIEREN: Beschreiben, wie ein informierter Rezipient den Text mit diesen kognitiven Schemata und Prätexte wahrnimmt (wenn sich kein plausibler Sinn ergibt, nochmals zurück zu 3.); auch Schlussfolgerungsprozesse (emergente Bedeutungen) nachzeichnen; Sonderfall: METAPHERN. 5. ERKLÄREN: Die Textinterpretation für die eigenen Rezipienten aufbereiten. Bei einem wissenschaftlichen Erklär-Text ist es unverzichtbar, auf Interpretationsspielräume und -alternativen hinzuweisen, d.h. auch die nicht gewählten kognitiven Schemata, Prätexte und Schlussfolgerungen aufzulisten und die Pro-

2 Ein ähnliche Vorsicht muss man auch bei der Materialsammlung im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, begr. von Gerhard Kittel (der sich außerdem in der Zeit des Nationalsozialismus antisemitisch hervortat), 1933ff. walten lassen.

Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?

153

und Kontra-Argumente zu benennen, warum man sich am Ende tendenziell für eine bestimmte Interpretation entschieden hat. Denn jede Interpretation ist ein Wahrscheinlichkeitsurteil.

10.2.1 Schritt 3: Diejenigen Schemata bzw. Prätexte auswählen, die für den vorliegenden Text wichtig sind Welche anderen Texte und nichttextliche Quellen zum Verstehen des eigenen Textes relevant sind und welche nicht, muss also nach nachvollziehbaren Kriterien herausgearbeitet werden. Um diese Kriterien soll es hier gehen. Grundsätzlich erhalten wir bei unserer Suche nach „Quellen“ bzw. „Parallelen“ (wie man ja in der Exegese sagt) zwei Arten von Informationen, wobei das zweite ein Spezialfall des ersten ist. ■



1. Kognitive Schemata („Was wissen die Adressaten?“): Dazu gehören alle Vorstellungsinhalte von Menschen, Dingen, Eigenschaften, Sachverhalten (Frames) sowie Ereignissen und Ereignisfolgen (Skripts). Beispielsweise im NT die Ausdrücke εἶπεν (er sagte), φῶς (das Licht), τεσσεράκοντα (vierzig), σχίζω (auftun, zerreißen), κόσμος (Welt, Ordnung), θεός (Gott), συνείδησις (Gewissen), ἔρημος (Wüste), πειράζω (versuchen), ἀρχιερεύς (Hoherpriester), παῖς (Kind, Knecht). Zwischen theologischen, soziologischen, räumlichen und „sonstigen“ Vorstellungsinhalten braucht aus Sicht der kognitiven Semantik methodisch nicht unterschieden werden, da der kognitive Prozess jeweils gleich abläuft. Auch wenn wir diese Schemata heute in unterschiedlichen (d.h. spezialisierten) Wörterbüchern und Lexika nachschlagen, besteht kognitiv gesehen kein Unterschied. Ein eigener kognitiver Vorgang ist allein das metaphorische Verstehen, bei dem das Gehirn zusätzliche Schritte gehen muss und die Interpreten ebenso (10.2.2, Beispiel: Christus als ἀρχιερεύς im Hebr). 2. Prätexte („Können die Adressaten einen Textbezug erkennen?“): Neben dem eigentlichen kognitiven Vorstellungsinhalt ist hier auch das Quellengedächtnis der Adressaten angesprochen. D.h. bei den Adressaten wird zusätzlich metakommunikativ eine (mindestens grobe) Vorstellung vom „Ort“ des Vorstellungsinhalts vorausgesetzt. Dazu gehören alle konkreten referenziellen Bezüge, z.B. auf einen gelesenen Text oder eine selbst erlebte Kommunikationssituation. – Beispiele: matthäische Erfüllungszitate („damit [die Schrift] erfüllt würde“), ob markiert oder unmarkiert; Joh 3,14: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat (Num 21,9), so wird auch der Menschensohn (Dan 7,13) erhöht werden (Joh 19)“ mit drei konkreten Bezügen in einem Satz; Mt 4,1ff.: ἔρημος (Wüste) – τεσσεράκοντα (vierzig) – πειρασθῆναι (versuchen, Pass.) usw. in dieser Kombination assoziiert die Israeliten in der Wüste (Ex–Dtn); Mt 12,34/23,33: der Ausdruck γεννήματα ἐχιδνῶν (Giftschlangenbrut) ruft die Predigt Johannes des Täufers ins Gedächtnis (Mt 3,7).

Für die Überprüfung, ob der Bezug auf einen Prätext vom Autor intendiert ist, hat sich in der Bibelwissenschaft die Liste mit sieben Kriterien von Richard B. Hays etabliert. Er benennt für die von ihm aufgefundenen „Echos“ des Alten Testaments in den paulinischen Briefen folgende Prüfsteine: 1. availability, 2. volume, 3. recurrence, 4. thematic coherence, 5. history of interpretation, 6. histo-

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

rical plausibility, 7. satisfaction.3 Diese Kriterien sind zwar speziell für das Aufspüren von relevanten Bezugstexten entwickelt worden, gelten aber sicherlich auch allgemein für kognitive Schemata im Rezeptionsprozess. Hier wird dieser bekannte Kriterienkatalog von Richard B. Hays etwas modifiziert. Die möglichen Kriterien, um relevante Schemata und Prätexte einzugrenzen, teilen wir in drei Hauptkategorien auf: 1. Konkretes Vorwissen, 2. Aktivierung und 3. Plausibilität. Bei der ersten Kategorie wird überprüft, wie wahrscheinlich ein Schema oder Prätext überhaupt zum ‚Wissensbestand‘ der Adressaten gehört; bei der zweiten Kategorie, welche Hinweise und Signale der Autor im Text gibt, so dass man sich auf ein bestimmtes (nicht prototypisches) kognitiv-semantisches Schema oder einen Prätext festlegen kann; drittens, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Deutung in verschiedener Hinsicht plausibel ist.4 Die Kriterien in der Übersicht:

1. Kriterium des konkreten Vorwissens (auch „Erinnerungsnähe“): Der Rezipient, den sich der Autor vorstellt (= der Adressat), hat das entsprechende kognitive Schema oder den Prätext tatsächlich im Gedächtnis bzw. „im Ohr“. ■ a) Hörbarkeit (availability): Hat der Leser nach der Vorstellung des Autors überhaupt Zugang zu diesem kognitiven Schema oder dem Prätext (kulturellen Artefakt), wenn man die Hörbarkeit zeitlich, örtlich und soziologisch doppelt filtert (als Gemeinsamkeit im sprachlichen „Code“)? ■ b) Lautstärke (vgl. volume)5: Wie „laut“ bzw. prominent ist das mögliche kognitive Schema bzw. der Prätext für die Adressaten nach Vorstellung des Autors? Gibt es unter den möglichen Schemata und Prätexten, die in Frage kommen, „VIP-Schemata“ und „VIP-Texte“?

2. Kriterium der Aktivierung (auch „Parallelität“): Der Autor gibt Hinweise, so dass der Abruf einer bestimmten Erinnerung erleichtert wird, im Sinne einer Rekognition oder Assoziation. Beispiele: Der Text weist eine starke Parallelität zum Prätext auf, die Quelle wird explizit genannt oder es liegt semantisches Priming vor. ■ a) wörtliche Nähe (volume): Wie sehr nimmt der Autor Wörter/Satzteile aus dem Prätext wörtlich auf? 3

R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 29–32. Möglicher Merksatz: „Konkretes Vorwissen zu aktivieren ist plausibel.“ 5 R.B. Hays hatte ja bei seinen Kriterien nur den Bezug auf einen konkreten Prätext im Blick, nicht den Abruf eines kognitiven Konzepts (Schemas); man könnte aber sein Kriterium volume auch als „Lautstärke“ in diesem Sinn verstehen. 4

Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?

155

■ b) Häufigkeit (recurrence): Wie häufig wird sonst bei diesem Autor auf den Prätext (oder dessen Zusammenhang) angespielt? ■ c) Priming bzw. Prägung eines kognitiven Schemas im Lektüreprozess (nicht bei Hays): Wird ein bestimmtes Verständnis dieses Ausdrucks oder Satzes durch das vorher Gelesene/Gehörte nahegelegt? ■ d) Metakommunikativer Hinweis (nicht bei Hays): Wird ein expliziter Hinweis bzgl. (der Existenz) eines Prätextes gegeben? Z.B. „was gesagt ist von den Propheten: Er soll Nazoräer heißen“ (Mt 2,23).

3. Kriterium der Plausibilität (auch „Passung“): Die Passung des kognitiven Schemas bzw. Prätextes in diesem Zusammenhang erscheint plausibel (vgl. Schritt 4). ■ a) thematische Plausibilität (thematic coherence): Passt die Bedeutung, die sich mit dem Bezug auf den Prätext ergibt, bzw. das kognitive Schema (Bsp.: „Kiefer“ in einem Text über Bäume ist anders zu verstehen als in einem medizinischen Text) in den vorliegenden thematischen Zusammenhang? Dies ist also nicht nur für intertextuelle Echos wichtig, sondern überhaupt ein ganz zentrales Kriterium der Semantik. ■ b) autorbezogene Plausibilität (historical plausibility): Kann der vermutete Prätext bzw. diese Bedeutung der Intention des Autors entsprechen? ■ c) rezipientenbezogene Plausibilität (history of interpretation): Wurde dieser Prätext bzw. diese Bedeutung in der Vergangenheit schon von anderen (antiken) Auslegern gesehen? ■ d) Sinnplausibilität (satisfaction): Ergibt der Bezug auf den Prätext bzw. diese Bedeutung hier einen Sinn? Diese drei Kriterien mit ihren insgesamt zehn Unterkriterien sollen nun kurz erläutert werden. Im Grunde ist das Verstehen ein sehr komplexes Thema, zu dem die kognitive Semantik viel beitragen kann, aber auch die Psychologie, die Soziologie oder die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Hinweis: Als Studierender fragen Sie sich vielleicht, warum hier so ausführlich darauf eingegangen wird, welcher Prätext bzw. welches kognitive Schema an einer bestimmten Stelle des Textes für das Verständnis relevant ist. Denn in – sagen wir – 90 % der Fälle gibt es auch für heutige Interpreten gar nicht dermaßen viel zu überlegen. Diese Kriterien helfen aber besonders bei Einzelproblemen der Interpretation, um die jeweilige Diskussion zur Bibelstelle systema- Einzelprobleme der tisch zu ordnen und weiterzuführen. Tatsächlich können Sie mitInterpretation hilfe dieser Kriterien gerade auch an die kniffligen, heiß umstrittenen Interpretationsprobleme methodisch herangehen.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

1. Kriterium: Konkretes Vorwissen Ob der intendierte Adressat ein kognitives Schema oder einen Prätext tatsächlich im Gedächtnis bzw. „im Ohr“ hat, kann man anhand von zwei Teilkriterien prüfen: a) Hörbarkeit und b) Lautstärke. Es geht bei dieser Kriterienkategorie um die den Abruf6 erleichternden Merkmale, die nicht erst vom Autor des Textes evoziert werden. a) Hörbarkeit (availability): Konnten Autor und Adressaten das Wort bzw. den Text in dieser Weise verstehen? Bei dem Kriterium der „Hörbarkeit“ wird überprüft, ob dem Autor überhaupt das jeweilige Verstehensschema bzw. der Prätext zur Verfügung stehen konnte. Und nur wenn der Autor annimmt, dass seine Rezipienten den sprachlichen Code verstehen bzw. den Prätext kennen können, wird er diese Schemata und Textbezüge auch verwenden. Man muss also doppelt prüfen, ob der Prätext oder das kognitive Schema sowohl dem Autor als auch den Rezipienten bekannt gewesen sein könnte. Quelle A

Autor

Quelle B

Adressaten

„doppelte“ Hörbarkeit des Prätextes A (gemeinsamer sprachlicher Code)

Abb. 10.1: Hörbarkeit eines Prätextes bzw. Schemas

In Abb. 10.1 sind uns heute sowohl Primärquelle A als auch Primärquelle B bekannt, die als mögliche Bezugstexte für das Verständnis des Textes in Frage kommen. Aber nur bei Quelle A erscheint es plausibel, dass sie dem Autor und dessen Adressaten zur Verfügung stand. Quelle B ist an einem weiter entfernten Ort entstanden (zeitlich, räumlich oder kulturell entfernt) und sie ertönt auch in eine andere Richtung. Bei der Beurteilung der Hörbarkeit steht zunächst die Frage nach dem zeitlichen und räumlich-kulturellen Abstand der Quelle, die ein kognitives Schema bzw. den Prätext bezeugt, im Vordergrund. In zeitlicher Hinsicht besitzen natürlich diejenigen Quellen eine besondere Qualität, die der Zeit der Entstehung des Textes zuzuordnen sind. Anders als bei Prätexten ist es bei kognitiven Schemata auch möglich, dass eine parallele Quelle erst kurz nach dem Ausgangstext entstanden ist, weil sich Wissensbestände über eine Generation meist gut erhalten. Zu beachten ist allerdings, dass die Bemessungsgrundlage 6

„Abruf“ ist hierbei ein Fachbegriff. Vgl. A. Mecklinger, Art. Abruf, in: Pethes/Ruchatz (Hgg.), Gedächtnis und Erinnerung, 22–24.

Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?

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für die zeitliche Nähe der Entstehungskontext eines Textes ist (nämlich die Zeit von Autor und Adressaten – z.B. 90 n.Chr.; vgl. Kap. 4) und nicht die Zeit der erzählten Welt (z.B. 30 n.Chr.). Im zeitlichen Abstand von zwei oder drei Generationen ist die Aussagekraft einer Quelle bereits stärker an die zeitlichen Relationen gebunden. Quellen, die vor dem Text entstanden sind, sind nun tendenziell vorzuziehen. Sie können (aller Wahrscheinlichkeit nach) mehr über das semantische und textuelle Wissen des Autors verraten als jüngere Quellen. Für das Wissen, das zwischen mehreren Generation überliefert wird, haben Jan und Aleida Assmann den Begriff des „Kommunikativen Gedächtnisses“7 geprägt. Auch sie nennen als Zeitspanne drei Generationen.8 Einzelne Quellen, die sich in noch größerem zeitlichen Abstand zum Ausgangstext befinden, sind zunehmend kritisch zu beurteilen bzw. als unergiebig einzustufen. Hier muss in jedem Fall plausibel begründet werden, warum die Vorstellungen einer Quelle über einen noch längeren Zeitraum als drei Generationen tradiert wurden. Ein Grund hierfür kann z.B. ein großes kulturelles oder religiöses Interesse an einer Quelle bzw. ihrem Inhalt sein, wenn diese Quelle nämlich Teil des gelebten „Kulturellen Gedächtnisses“ wird, z.B. durch regelmäßige Verlesung alttestamentlicher Texte und durch das jüdische Festjahr, das von Erinnerungsritualen geprägt ist. Bei solchen Texten handelt es sich zudem um VIPs, „very important pre-texts“, könnte man sagen. Aber das gehört schon zur „Lautstärke“. Mit solch einem Interesse ist zugleich der Aspekt des verbindenden „Kulturraums“ angesprochen. Die Hörbarkeit eines Textes hängt auch vom Kulturraum ab, in dem er entstanden ist, und natürlich vom Entstehungsort. Zu bedenken ist freilich, dass sich bereits in der Antike eine starke Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kulturräumen erkennen lässt. Literatur zur Gedächtnis- und Erinnerungsforschung (bezieht sich in der Regel auf fremd- oder selbsterlebte Ereignisse): B. Neumann, Erinnerung – Identität – Narration, MCM 3, Berlin 2011; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 42002; A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 2005; A. Erll/A. Nünning (Hgg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, MCM 2, Berlin/New York 2010; M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991 (frz. 1950); N. Pethes/J. Ruchatz (Hgg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001; H. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. Zur

7 A. Assmann, Vier Formen von Gedächtnis. Von individuellen zu kulturellen Konstruktionen der Vergangenheit, Wirtschaft & Wissenschaft 9 (2001), 34–45. 8 Zwei, drei Generationen später ist die mündliche Überlieferung noch lebendig; sicherlich kennen Sie noch Menschen, die Ihnen vom Krieg erzählt haben. Vgl. auch Papias (ca. 120 n.Chr.), der von Eus. h.e. 3,39,4, zitiert wird, er ziehe die mündliche „lebendige und bleibende Stimme“ den Büchern der Evangelien vor (vgl. A.D. Baum, Papias, der Vorzug der Viva Vox und die Evangelienschriften, NTS 44 (1998), 144–151).

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

Übertragung gedächtnistheoretischer Entwürfe auf die Markusforschung vgl. S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, FRLANT 253, Göttingen 2014.

b) Lautstärke Wenn eine Quelle nun grundsätzlich „hörbar“ ist, gibt es weitere textexterne Faktoren, die für die Wahl eines bestimmten Prätextes bzw. Schemas sprechen. Das Kriterium der „Lautstärke“ meint, dass einige Prätexte und kognitive Schemata besser im Gedächtnis bzw. „im Ohr“ verfügbar sind als andere. In der Linguistik gibt es für prominente kognitive Schemata den Forschungszweig der „Prototypensemantik“. Wenn man zum Beispiel den Begriff „Vogel“ hört, denkt man in Deutschland eher an einen Spatz oder eine Amsel als an einen Pinguin.9 In dieser Weise sind auch bestimmte Deutungen des griechischen Textes natürlicherweise naheliegender als andere, z.B. κόσμος heißt meistens „Welt“ und nur, wenn das nicht geht, probiert es ein Leser mit „Ordnung“. Man könnte dieses prototypische Verständnis ein VIP-Schema nennen, es ist erst einmal das „Standard-Verständnis“. Ähnliches gilt auch für eminente Texte, für besonders bedeutsame Prätexte (für die neutestamentlichen Autoren die Schriften des Alten Testaments). Allgemein kann ein Autor bei kulturell bedeutsamen Persönlichkeiten, Ereignissen und Orten oder Stereotypen damit rechnen, dass wenige Hinweise im Text genügen, um ein entsprechendes Wissen der Rezipienten abzurufen. Zur ‚Lautstärke‘ eines kognitiven Schemas zählt auch die Bezeugungsbreite. Wenn eine bestimmte Vorstellung in verschiedenen Texten aus verschiedenen Zeiten vorkommt, ist dies ein positiver Hinweis. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – und eine Quelle, selbst wenn sie ‚hörbar‘ war, schafft noch keine verlässliche Basis für eine Interpretation. So reicht es in der Exegese meist nicht aus, wenn man lediglich auf der Grundlage eines einzigen Textes eine Begriffsbedeutung konstituiert. Es ist auch in besonderer Weise nach Belegen außerhalb des Neuen Testaments zu suchen, und umgekehrt ergibt sich der Sinn eines Begriffs nicht allein aus dessen Verwendung in außerbiblischen Kontexten. Neben der bloßen Anzahl ist zudem die mediale Verbreitung einer Vorstellung ein wichtiges Indiz. Werden bestimmte Wissensbestände nicht nur durch literarische Quellen i.e.S. bezeugt, sondern auch durch Alltagszeugnisse, wie z.B. Münzfunde, Schmuckstücke oder Inschriften, so erscheint eine Kenntnis dieser Vorstellung umso plausibler. Interpretationsfallen: In englischen Methodenlehren ist es teilweise üblich, typische Interpretationsfallen (fallacies) aufzulisten.10 Einige möchten auch wir abschließend zusammenstellen, weil wir dies nützlich finden: 9

A. Blank, Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001, 44–54. Zu anderen, längeren Listen vgl. Bauer/Traina* 249–269; D.A. Carson, Exegetical Fallacies, Grand Rapids 21996 (dt.: D.A. Carson, Stolpersteine der Schriftauslegung. Wie man sorgfältig 10

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Typische Interpretationsfallen bei der Nichtbeachtung des ersten Kriteriums „konkretes Vorwissen“: ■











Fehler der referenziellen bzw. semantischen Anachronie (fallacy of referential anachronism): Es werden Quellen als Prätexte oder Schemata verwendet, die interessant, aber dem Verfasser des Textes nicht bekannt sind. Fehler der theologischen Anachronie (theological anachronism): Man interpretiert neutestamentliche theologische Begriffe wie ‚Heiligung‘, ‚Gerechtigkeit‘ oder ‚Glaube‘ mit dem kognitiven Schema der eigenen kirchlichen Tradition. Fehler des Totaltransfers (illegitimate totality transfer): Es wird angenommen, dass der Adressat alle Quellen „hört“ und aufnimmt. Daher werden alle Schemata und Prätexte in den eigenen Text hineingelesen. Fehler des Überhörens: Ein wichtiges Schema bzw. wichtiger Prätext wird nicht gehört, aus Gründen der Arbeitsökonomie oder der lückenhaften Quellenlage (Selektivität und Fragmentarität). Fehler der Überbetonung: Eine weiter entfernte Quelle, z.B. aus dem römischen Bereich, wird so wichtig erachtet, dass eine andere, nähere Quelle (z.B. aus dem jüdischen Bereich) in den Hintergrund gerückt wird. Fehler der einseitigen Quellenkenntnis: Man kann dann nur plausibilisieren, dass die Adressaten (z.B. die Christen in Rom) einen Prätext bzw. ein Schema kennen; aber es ist zusätzlich wichtig, plausibel zu machen, dass der Autor davon ausgeht, dass die Adressaten den Prätext bzw. das Schema kennen.

2. Kriterium: Aktivierung Dieses Kriterium fragt danach, inwiefern der Autor des Textes dazu beiträgt, dass ein bestimmtes kognitives Schema aktiviert bzw. ein Prätext wiedererkannt oder assoziiert wird: a) durch wörtliche Nähe zu Prätexten, b) durch Häufigkeit des Abrufs, c) durch Priming oder nicht zuletzt d) durch einen metakommunikativen Hinweis. Die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Interpretation steigt, wenn sich Formulierungen oder Aussagen des Textes in prägnanter Weise auf diese Vorstellung oder diesen Prätext beziehen lassen. a) Wörtliche Nähe (volume) Die wörtliche Übereinstimmung zwischen Text und möglichem Prätext ist ein wichtiges Kriterium, ob ein Bezug vorliegt. Es kann aber auch sein, dass mehrere Stichwörter und Konzepte im vorliegenden Text vielleicht gemeinsam den Abruf des Prätextes erleichtern. Die Kombination der Wörter ἔρημος (Wüste), τεσσεράκοντα (vierzig), πειρασθῆναι (versuchen, hier Pass.) usw. bei der Versuchung Jesu (Mt 4,1ff.) erinnert die Rezipienten sehr wahrscheinlich und korrekt mit der Bibel umgeht, Oerlinghausen 22011; lehrreiches „Horrorkabinett“ falscher Bibelinterpretationen und wie man Interpretationsfehler vermeidet). Der Begriff illegitimate totality transfer geht auf J. Barr, The Semantics of Biblical Language, Oxford 1961, 218 zurück. Barr forderte von den Exegeten, sich mehr mit der linguistischen Semantik vertraut zu machen, und kritisierte besonders das ThWNT aus linguistischer Sicht.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

an die Israeliten in der Wüste (Ex–Dtn). Auf der anderen Seite sollte dieser Aspekt nicht überstrapaziert werden, besonders wenn man nur einzelne gemeinsame Wörter findet. Einzelne Wörter und Formulierungen, sofern sie nicht prominent platziert sind (s.u.), gehören zu den überaus flüchtigen Bestandteilen eines Textes, die eben noch im Bewusstsein der Rezipienten waren und gleich wieder in Vergessenheit geraten. V.a. bei der Verwendung von elektronischen (Bibel-)Konkordanzen, die uns viel Material finden lassen, ist immer auch eine gewisse Vorsicht geboten. b) Häufigkeit (recurrence) Wenn Paulus oft auf bestimmte AT-Texte Bezug nimmt, erhöht er die Aufmerksamkeit dafür, dass die Rezipienten auch an anderen Stellen Anspielungen auf diese Texte finden (vgl. Hays). Auch auf textinterne Prätexte lässt sich dies übertragen: Informationen, die häufig oder ausführlich thematisiert werden, bleiben im Lesegedächtnis besser erhalten und sind den Rezipienten aller Voraussicht nach präsent. Hierher gehört etwa der für den Anfang der markinischen Erzählung typische Hinweis auf die Ausbreitung der Jesuskunde (Mk 1,28; 1,45; 3,8; 5,20). Vor diesem Hintergrund erscheint es den Adressaten dann in Mk 6,14 plausibel, dass die Kunde letztlich auch zu Herodes und den Mächtigen dringt. c) Priming bzw. Prägung durch den Leseprozess Auch der vorherige Lektüreprozess bestimmt mit, ob man einen Prätext erkennt oder eine bestimmtes kognitives Schema zur Interpretation verwendet. Dieses Phänomen nennt man in der kognitiven Linguistik und Psychologie (semantisches) Priming.11 Oft gewinnen Rezipienten erst über den Textverlauf einen Eindruck davon, wie ein Ausdruck oder eine Vorstellung in der Textwelt bzw. erzählten Welt gemeint oder beschaffen ist. Hierzu können prinzipiell alle Informationen, die der Autor im Text über eine Entität bereitstellt, herangezogen werden. Bei Erzählungen ist es zum Beispiel wichtig, wie sich das mentale Modell der handelnden Personen entwickelt (vgl. Kap. 11b: Figurenanalyse). Weil im Laufe des Matthäusevangeliums Jesus als der „neue Mose“ präsentiert wird12 – dies ist das Priming –, legt es sich nahe, die Abschiedsworte Jesu auf dem Berg in Galiläa (Mt 28,18–20) ebenfalls mit einem mosaischen Prätext zu assoziieren, nämlich mit Mose und den Israeliten am Sinai (Ex 20–23).

11 Unter Priming versteht man die „Verbesserung der Verarbeitung, Wahrnehmung oder Identifikation ( → Wiedererkennen) eines Reizes, die darauf beruht, dass der gleiche oder ein ähnlicher Reiz kurz zuvor verarbeitet wurde (→ Assoziation, → Bahnung, → Wiederholung)“ (K. Grote, Art. Priming, in: Pethes/Ruchatz (Hgg.), Gedächtnis und Erinnerung, 457). 12 Vgl. D.C. Allison, The New Moses. A Matthean Typology, Minneapolis 1993.

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Allerdings gilt es bei der Analyse solcher Schlussfolgerungsprozesse zu beachten, dass das menschliche Lesegedächtnis keineswegs alle Informationen über den Lektüreprozess hinweg behält, was sicherlich auch ein neutestamentlicher Autor weiß (selbst wenn er Paulus heißt). Viele Informationen, die wir aufnehmen, kommen nicht über die kurzfristige Speicherung im Arbeitsgedächtnis hinaus und geraten gleich wieder in Vergessenheit (dies gilt leider auch für die Informationen eines Methodenbuches). Aus diesem Grund reicht es bei der Analyse nicht aus, allein auf den Tatbestand einer vorherigen Nennung eines Wortes zu verweisen und sämtliche Informationen, die sich in einem Text finden lassen, zur Interpretation einer Textstelle heranzuziehen und zu addieren. Es gilt stattdessen zu zeigen, dass die Rezipienten eine bestimmte Information im Gedächtnis behalten konnten und sollten. Hierfür lassen sich Faktoren nennen (Beispiele): ■







13

Das „A und O“ des Textes: Aus der Gedächtnisforschung weiß man, dass menschliche Rezipienten die Informationen am Anfang und am Ende eines Textes besonders gut memorieren (im Gedächtnis behalten). Man spricht hier vom Primäreffekt bzw. Rezenzeffekt. Informationen, die die Rezipienten zu Beginn eines Textes erhalten, haben sie deshalb aller Wahrscheinlichkeit noch vergleichsweise gut im Gedächtnis. Ähnliches lässt sich für das erste Auftreten einer Figur in einer Erzählung sagen (man denke an den Spruch: ‚You never get a second chance to make a first impression‘) oder für die Ersterwähnung eines Ortes. Darum werden Anfang und Schluss eines Textes von einem Autor oft besonders sorgfältig gestaltet. Jesusworte: Die oft prägnanten Aussprüche Jesu konnten nicht nur von den Nachfolgern Jesu memoriert werden13, sondern bleiben auch den Rezipienten der Evangelien besser im Gedächtnis als übrige Textteile. Auch der synoptische Vergleich zeigt, dass es bei den Jesusworten eine signifikant größere Wortlautübereinstimmung zwischen den Synoptikern gibt als bei der jeweils einleitenden Erzählszene. Kausalität: Anknüpfend an die Ergebnisse der Textstrukturanalyse und der Narratologie lässt sich überprüfen, ob der Rezipient einer vorherigen Information im Text eine kausale Relevanz zuweist. Aussagen, die eine wichtige Basis für die spätere Argumentation sind oder die eine kausale Funktion für die Handlung haben, bleiben in aller Regel besser im Gedächtnis. Inkohärenz: Was man ohnehin kennt und erwartet, vergisst man schneller als Aussagen, die überraschen und die im Widerspruch zum bisherigen Wissen stehen. Dies gilt sowohl für Inkohärenzen, die sich zwischen einer Textaussage und dem Frame/Skript der intendierten Rezipienten ergeben, als auch für Spannungen zwischen dem bisherigen Leseeindruck und einer späteren Textaussage. Dadurch ergibt sich eine höhere Salienz (Auffälligkeit) im Sinne eines erhöhten ‚FigurGrund-Kontrastes‘. Wichtig ist hierbei, dass es um solche Wahrnehmungs-‚Brüche‘ geht, die die intendierten Rezipienten bemerken sollten, und nicht um Inkohärenzen, die ein Versehen des Autors sind oder die sich aufgrund heutiger Kenntnisse ergeben (z.B. die geografischen Ungereimtheiten in Mk 5,1ff.).

Vgl. R. Riesner, Jesus als Lehrer, WUNT II/7, Tübingen 31988.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

d) Metakommunikativer Hinweis Am deutlichsten ist ein Textbezug dann gegeben, wenn ein Autor einen expliziten Hinweis darauf gibt. Dazu zählen nicht nur expliziten Einleitungen alttestamentlicher Zitate im Neuen Testament.14 Auch in der neutestamentlichen Briefliteratur gibt es solche Vor- und Rückverweise: So knüpft die Formulierung Τί οὖν ἐροῦμεν („Was sollen wir nun sagen?“) bei Paulus oft an vorherige Aussagen an, leitet jedoch durch eine weitere Frage zugleich zu einem vertiefenden Argumentationsgang über (z.B. Röm 4,1; 6,1; 7,7; 9,14 usw.).15 Auch in Erzählungen kann es Vor- und Rückverweise auf andere Erzählszenen geben, z.B. durch explizite Zeitangaben („Am Abend desselben Tages“) oder Temporaladverbien („Als er wieder nach Kapernaum kam …“). In Redetexten16 sind dies zumeist kulturell standardisierte Formulierungen (z.B. „Wie bereits oben erwähnt …“), in heutigen Texten auch grafische Signale (z.B. Nummerierungen, Querverweise). Aufgabe: In Mk 15,34 greift der sterbende Jesus auf bekannte Psalmworte zurück. Mit dem Anzitieren des 22. Psalms („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”) soll möglicherweise zugleich der gesamte Psalm ins Bewusstsein rücken, so dass weitere Parallelen erkennbar werden. Prüfen Sie dies: 1) Lesen Sie Psalm 22 und Mk 15,20ff. 2) Welche Beschreibungen, die in Psalm 22 vorkommen, finden sich im Kreuzigungsbericht wieder? 3) Inwiefern bestätigen diese Anspielungen die Vermutung, dass Markus eine bewusste Bezugnahme zum gesamten Psalm 22 herstellen wollte?

3. Kriterium: Plausibilität Ob ein bestimmtes kognitives Schema oder ein Prätext vom Autor intendiert ist, hängt zum Schluss auch noch von einem dritten „Filter“ ab, dem Kriterium der Plausibilität. Vier der sieben Kriterien von R.B. Hays betreffen diese – aus unserer Sicht – abschließende Prüfung. Die autorbezogene Plausibilität (historical plausibility) fragt danach, ob das Schema (bzw. der Prätext) in diesem Zusammenhang der Intention des Autors entsprechen kann; die rezipientenbezogene Plausibilität (history of interpretation), ob es für historische Rezipienten erkennbar war; die thematische Plausibilität (thematic coherence), ob das angenommene Schema (oder der Prätext) thematisch in den Kontext passt, und die Sinnplausibilität (satisfaction), ob der Bezug auf dieses Schema bzw. diesen Prätext überhaupt einen zufriedenstellenden Sinn ergibt. 14

Auf der Skala der Referenzialität (Markierung) decken die sogenannten Erfüllungszitate, die besonders häufig und programmatisch im Matthäusevangelium auftauchen (Mt 1,22f.; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,18–21; 13,35; 21,4f.; 27,9), tatsächlich eine große Bandbreite ab. 15 Vgl. hierzu J.A. Fitzmyer, Romans, AncB 33, New York 1993, 57. 16 Vernachlässigt werden hier alle Pro-Formen, d.h. Adverbien, Pronominaladverbien, Demonstrativpronomen usw., die innerhalb eines Mikrokontextes eine verstehensnotwendige Referenz herstellen, z.B. „Das ist Marlies. Sie ist Studentin.“

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Aufgabe: In Mk 15,38 wird im Kontext des Kreuzestodes vom Zerreißen des Tempelvorhangs berichtet. Die verwendete Vokabel „σχίζω“ taucht nur hier sowie in Mk 1,10 (Taufvision) auf. Wenden Sie die genannten Faktoren auf diese Textstelle an und diskutieren Sie, ob die Adressaten des Markusevangeliums hier einen bewussten Bezug erkennen konnten und sollten.

Ähnlich wie bei den textkritischen Lesarten könnte man auch die Abwägung verschiedener Schemata bzw. Prätexte tabellarisch zusammenfassen: Lesart 1

Lesart 2

Lesart 3

Kognitives Vorwissen? Aktivierung? Plausibilität? Gesamtbeurteilung Tab. 10.2: Vorschlag für eine Vergleichstabelle zur Abwägung verschiedener Interpretationen

Unser Erkennen bleibt Stückwerk (1 Kor 13,8ff.): In der Exegese streitet man sich immer wieder gerne und lange (vielleicht jahrhundertelang) wegen der Interpretation einer Bibelstelle. In 2 Tim 2,14 wird einem Gemeindeverantwortlichen geraten: „Daran erinnere sie und ermahne sie inständig vor Gott, dass sie nicht um Worte streiten, was zu nichts nütze ist, als die zu verwirren, die zuhören.“ Bei allem Bemühen um methodische Präzision gilt es trotzdem, bescheiden zu bleiben. Wissenschaftlich spricht man vom Problem der Fragmentarität und Selektivität: 17 Unser Wissen über die damalige Zeit ist erstens fragmentarisch. Die Texte des Neuen Testament sind in einer Zeit entstanden, die uns trotz aller Bemühungen und trotz intensiver Auswertung vorhandener Quellen immer fremd bleiben muss. Letztlich können wir immer nur von unserem heutigen Standpunkt aus die historische Umwelt betrachten und re-konstruieren. Wir laufen dabei immer Gefahr, heutige Vorstellungen – ohne es zu bemerken – in die Texte einzutragen. Mit dem Begriff der „Fragmentarität“ lässt sich auch das Problem eines prinzipiellen Quellenmangels zusammenfassen. Unser Blick auf die Antike ist auch deswegen fragmentarisch, weil zahlreiche Zeugnisse über die Jahrhunderte hinweg zerstört wurden oder sich nicht erhalten haben. Im Vergleich zur jüngeren Zeitgeschichte fehlen uns v.a. bewegte Bilder und Tondokumente. Gerade prozessuale Wissensbestände und Alltagskenntnisse lassen sich daher nur schwer rekonstruieren. Zum Problem der Fragmentarität kommt das Problem der Selektivität hinzu. Je nachdem, wo wir uns als Exegeten aufhalten, haben wir immer nur einen begrenzten Zugriff auf das heute bekannte Quellenmaterial. Selbst in einer guten Unibibliothek steht nicht alles. Außerdem verfügen wir im Studien- und Berufsalltag immer nur über einen begrenzten Zeitraum, um das vorhandene Quellenmaterial zu sichten und auszuwerten. Dessen sollte man sich bei allem Abwägen bewusst sein. Diese Bescheidenheit gehört zum Ethos guter Wissenschaft.

17 Vgl.

zur hier verwendeten Terminologie P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild, NeukirchenVluyn 2006, 180.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

Exkurs: Intertextualität Die Kriterien von Richard Hays begegnen in der bibelwissenschaftlichen Literatur oft unter dem Stichwort „Intertextualität“, auch wenn Hays mit der ursprünglichen poststrukturalistischen Theorie eigentlich nichts zu tun hat. Die ursprüngliche Intertextualitätstheorie wurde von Julia Kristeva (*1941) begründet. Kristeva betont 1967 in einem Essay über M. Bachtin, dass jeder Text immer schon die Aufnahme und Umformung eines anderen Textes sei, und sieht „eine Entdeckung, die Bachtin als erster in die Theorie der Literatur einführt: jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“18 Literatur hat demnach eine doppelte Beziehungsdimension: Intertextualität nach J. Kristeva Es gibt nicht nur die Beziehung zwischen Autorsubjekt und Adressaten, sondern Literatur lasse sich auch als Text-Text-Beziehung lesen (von Kristeva „Intertextualität“ genannt). Der Poststrukturalismus wendete sich ab Ende der 60-er Jahre gegen literarische Herrschaftsstrukturen jeder Art, d.h. auch gegen die „Autorität“ der Autorintention. Wenn ein Text die Aufnahme und Umformung eines anderen Textes ist, kann dieser Text nicht mehr als das „individuelle“ Produkt eines Autors bzw. einer Autorin begriffen werden. Die Autoren sind beim Schreiben bereits von vorgegebenen Begriffen, Vorstellungen und Prätexten geleitet. Der Lehrer und Freund Kristevas, Roland Barthes, prägte für diesen Paradigmenwechsel in der Literaturtheorie das Schlagwort vom „Tod des Autors“ (1968).19 Mit dem Tod des Autors geht einher, dass es keinen intendierten Textsinn geben könne. Damit ist nach Kristeva jegliche Interpretation, die einen wie auch immer verstandenen Wahrheitsanspruch erhebt, abzulehnen. Ziel der Auslegung kann es nicht sein, den einen wahren Sinn zu erheben, sondern immer nur neue, individuelle Auslegungen vorzulegen und zur Diskussion zu stellen. Ist die Interpretation subjektiv, so macht es auch keinen Sinn, nach der historischen Bedeutung eines Textes zu fragen. Dieses ursprüngliche ‚textontologische‘ Verständnis von Intertextualität ist also auch ahistorisch. Letztlich werden von Kristeva sogar die Grenzen zwischen Text und ‚Wirklichkeit‘ aufgelöst, denn eigentlich alles wird zum ‚Text‘, der interpretiert werden kann. Der Textbegriff wird hier „so radikal generalisiert, daß letztendlich alles, oder doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, Text sein soll.“ 20 In der Exegese hat es Versuche gegeben, diese radikale Form von Intertextualität auf alt- und neutestamentliche Texte anzuwenden. Denn schließlich werden durch den Kanon auch neue Text-Text-Beziehungen konstituiert. In diesem Fall könnte man z.B. von der Apostelgeschichte direkt in den Römerbrief weiterlesen und siehe da: Paulus predigt den Christen in Rom (Apg 28,30f.) dann den Römerbrief. Hier steht die ‚kanonische Exegese‘ auf den tönernen Füßen der postmodernen Literaturtheorie der 1960er und 70-er Jahre (die seit dieser Zeit niemals positiv-konstruktiv weiterentwickelt 18 J. Kristeva, Bachtin, 348; vgl. den Teilabdruck bei D. Kimmich u.a. (Hgg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2003, hier 337. 19 R. Barthes, Der Tod des Autors (1968), in: F. Jannidis/G. Lauer u.a. (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 185–193. 20 M. Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: Broich/Pfister (Hgg.), Intertextualität, 1–30, hier 7 (Hervorhebung im Original).

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wurde, auch die Zeitschrift der Poststrukturalisten „Tel Quel“ wurde 1982 schließlich eingestellt). In diesem Lehrbuch wird der Modebegriff „Intertextualität“ weitgehend vermieden. Denn aus heutiger Sicht ist der Begriff der „Inter-Textualität“ im Grunde missverständlich und sogar irreführend: Eigentlich sind es gar nicht die Texte, die miteinander in Beziehung treten (so als ob man Autor und Adressaten und auch sich selbst als Interpret/in völlig ausblenden könnte), sondern die Verknüpfungen zwischen Texten geschehen im Kopf des Schreibenden bzw. der Rezipienten, sind also immer kognitiv bestimmt. Die Intertextualitätstheorie hat zwar geholfen, die Textbezüge in der Exegese systematisch und wertfrei(!) in den Blick zu nehmen und terminologisch zu ordnen, aber aus kognitiver Sicht ist die Autorintention dabei nicht aufzugeben. In neuerer Zeit ist man daher zu einer „moderaten“ Auffassung von Intertextualität übergegangen, wonach der Textbezug vom Autor intendiert sein soll. Dieser Ansatz ist mit der kognitiven Wende in Linguistik und Literaturwissenschaft vereinbar, die sich seit den 1990-er Jahren durchsetzt und die postmodernen Theorien zurückdrängt. Bereits 1985 formuliert der Anglist U. Broich „Intertextualität“ folgendermaßen um: 21 (Neu-)Definition: Intertextualität „Intertextualität [liegt] dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt.“ Auch wenn der Begriff „Intertextualität“ weiterhin problematisch ist, so ist dieses neue Verständnis inhaltlich hilfreich und kognitiv anschlussfähig. In diesem neuen Sinn hat sich in der Literaturwissenschaft eine an den Problemen der konkreten Textanalyse 22 orientierte intertextuelle Methodik etabliert. M. Pfister hat dazu einige Begriffe vorgeschlagen, die einen analytischen Blick auf den Textbezug ermöglichen: Referenzialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität.23 Dies seien die ‚qualitativen‘ Untersuchungskategorien. Die quantitative Analyse richte sich außerdem auf die Häufigkeit (Frequenz) eines verwendeten Prätextes sowie die Anzahl bzw. Streubreite und Dichte aller verwendeten Prätexte innerhalb eines Textkorpus. Diejenigen Kategorien Pfisters, die für die eigentliche Interpretation relevant sind, wurden bei den Kriterien oben berücksichtigt. Literatur zur Intertextualitätstheorie: a) grundlegend: J. Kristeva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: J. Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, Frankfurt 1972, 345–375 (frz. 1967); U. Broich/M. Pfister (Hgg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, 21 U. Broich, Formen der Markierung von Intertextualität, in: Broich/Pfister (Hgg.), Intertextualität, 31–47, hier 31. 22 Zur Unterscheidung von „textontologischem“ und „textanalytischem“ Intertextualitätsverständnis: Helbig, Intertextualität, 58–82. 23 M. Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: Broich/Pfister (Hgg.), Intertextualität, 1–30, hier 25–30.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35, Tübingen 1985; b) wichtige Literatur: St. Alkier/R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, NET 10, Tübingen/Basel 2005; Z. Garský, Das Wirken Jesu in Galiläa bei Johannes. Eine strukturale Analyse der Intertextualität des vierten Evangeliums mit den Synoptikern, WUNT II/325, Tübingen 2012; M. Gymnich/B. Neumann/A. Nünning (Hgg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität – Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, ELCH 22, Trier 2006; J. Helbig, Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3/141, Heidelberg 1996; S. Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993; St. Seiler, Text-Beziehungen. Zur intertextuellen Interpretation alttestamentlicher Texte am Beispiel ausgewählter Psalmen, Stuttgart 2013; c) Kurzdarstellungen: St. Alkier, Intertextualität – Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, BThSt 55, Neukirchen-Vluyn 2003, 1–26; A. Böhn, Intertextualitätsanalyse, in: Th. Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2, Stuttgart 2007, 204–216; T. Köppe/S. Winko, Neuere Literaturtheorien, Stuttgart 2008, 127–132; St. Seiler/D. Sänger u.a., Art. Intertextualität, in: LBH*, 300–306.

10.2.2 Schritt 4: Interpretation Bei diesem vierten Schritt geht es nun darum zu beschreiben, wie der intendierte Rezipient den Text mit den gefundenen intendierten kognitiven Schemata und Prätexten, die der Überprüfung standgehalten haben, wahrnimmt. Und hier kommt noch etwas „Neues“ ins Spiel: Über den „normalen“ Verstehensvorgang hinaus, bei denen die Rezipienten den Sinn eines Ausdrucks mit Hilfe ihres Vorwissens verstehen, kann es im Lektüreprozess vorkommen, dass die Rezipienten zur Konstruktion neuer Sinngehalte angeregt werden: Man spricht hier von „emergenten Bedeutungen“. Die Berücksichtigung solch emergenter Bedeutungen ist für die Texterklärung immens wichtig; ohne sie bleibt eine Interpretation oft unvollständig. Nehmen wir wieder Mk 15,38 als Beispielvers: Im Hinblick auf Mk 15,38 (der Tempelvorhang zerreißt beim Tod Jesu) kann man erklären, wie sich die intendierten Rezipienten den Tempel vorgestellt haben und welcher Vorhang konkret gemeint ist (Erklärung der kognitiven Schemata). Man kann zweitens darlegen, ob die Rezipienten durch das Zerreißen des Vorhangs (σχίζω) an die Vision Jesu bei der Taufe erinnert werden sollten oder nicht (Bezug auf einen Prätext). Aber damit ist noch nicht erklärt, ob das beschriebene Geschehen zugleich auf eine zweite, hintergründige Bedeutungsebene verweist und um welche Aussage es sich dabei handelt: In den Kommentaren wird das Zerreißen zumeist als Hinweis auf ein „Offenbarungsgeschehen“ verstanden oder aber als Hinweis auf die bevorstehende Zerstörung des gesamten Tempels. Nur: Wie lässt sich die eine oder andere Interpretation begründen? Und: Könnte es sich bei dem beschriebenen Ereignis nicht schlichtweg um eine historische Sachinformation handeln, die dem Autor beim Schreiben spontan eingefallen ist?

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Bei möglichen emergenten Bedeutungen gilt es zunächst einmal zu erkennen, dass eine Textstelle über das vordergründig Gesagte hinaus auf eine zweite, hintergründige Bedeutungsebene verweist. Ein Indiz hierfür können manchmal Textelemente sein, „die im Erzählfluss sperrig oder unwahrscheinlich wirken.“24 Allerdings handelt es sich bei diesem Hinweis keineswegs um ein eindeutiges Indiz, weil durch solche Inkohärenzen lediglich die Aufmerksamkeit der Rezipienten gesteigert wird, dies aber auch andere Gründe haben kann (z.B. Unachtsamkeit des Autors, Aufnahme eines Prätextes). Helge Skirl definiert „Emergenz“ innerhalb der Semantik folgendermaßen:25 Definition: semantische Emergenz „Emergente Merkmale sind […] Bedeutungsmerkmale, die kein herkömmlicher Bestandteil der einzeln betrachteten Lexeme sowie der an sie gekoppelten Konzepte sind, die im Verstehensprozess kombiniert werden.“

Gleichnisse und Metaphern (s.u.) sind ein Spezialfall von semantischer Emergenz. Zugleich zeigt die Interpretationsfrage, ob das Zerreißen des Tempelvorhangs in Mk 15,38 noch eine übertragene Bedeutungsebene besitzt, dass sich Emergenz nicht auf Metaphern im herkömmlichen Sinn beschränkt, sondern ganz verschiedene Formen von „Bedeutungskombination“ erfasst. Sonderfall: Deutung von Metaphern Die Deutung von Metaphern ist durch eine indirekte Verstehensstrategie gekennzeichnet, weil man – einfach gesagt – das eine Wort durch ein anderes Wort versteht. Ein Hörer oder Leser muss also zunächst sein Vorwissen bezogen auf dieses Wort oder Ausdruck aktivieren. Anschließend bemerkt er die fehlende Passung im Kontext und prüft Vergleichspunkte, ob einzelne semantische Merkmale übertragen werden können (vgl. ausführlicher Kapitel 12.2.2: Methode zur Bestimmung indirekter Anwendungen). Folgenden Methodenweg können Sie zum Nachvollzug des Metaphernverstehens nehmen:26

24

So Andreas Bedenbender im Hinblick auf einen „allegorischen Sprachgebrauch“ im Markusevangelium (A. Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, 17–31, hier 30). 25 Skirl, Emergenz, 14. Beispiel: Die Metapher „der Marmor unserer Gehirne“ könne mit dem emergenten Merkmal „starrsinnig“ interpretiert werden (14). – Die hilfreiche Dissertation über semantische Emergenz von Skirl ist zugleich auch eine Präzisierung der BlendingTheorie von G. Fauconnier/M. Turner, The Way We Think, New York 2002. 26 Vgl. auch die guten Anregungen bei R. Zimmermann, Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108–133, hier 130–133. – Zimmermann unterteilt seine ausführliche Methodik in die drei Hauptschritte syntaktische, semantische und pragmatische Analyse.

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation Methodenweg: Deutung von Metaphern

1. Herausarbeiten, was das Wort oder der Textteil ‚eigentlich‘ bedeutet; d.h. das ‚normale‘ kognitive Schema, das in diesem Zusammenhang aktiviert wird. 2. Prüfen, ob eine uneigentliche Redeweise vorliegt (Metaphernsignale oder fehlende Passung bzw. Plausibilität). 3. Bestimmen, welche herausragenden semantischen Merkmale das ‚normale‘ kognitive Schema aufweist. 4. Anhand des Kontextes sondieren, was die Bezugsgröße sein könnte. 5. Prüfen, welche semantischen Merkmale des Wortes oder Textteils auf die mögliche Bezugsgröße übertragen werden können und welche tertia comparationis (Vergleichspunkte, semantische Vergleichsmerkmale) bestehen. 6. Die Emergenz, d.h. die Neukombination der Sinnbereiche, nachvollziehen.

Literatur zur Deutung von Metaphern und zur kognitiven Metapherntheorie: a) exegetisch: R. Zimmermann, Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108–133; R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2008; R. Banschbach Eggen, Gleichnis, Allegorie, Metapher. Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung, TANZ 47, Tübingen 2007; b) allgemeine Einführungen: H.G. Coenen, Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede, Berlin/New York 2002; K. Kohl, Metapher, Stuttgart 2007; G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 2004; H. Skirl/M. Schwarz-Friesel, Metapher, Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik 4, Heidelberg 22013; c) kognitive (konzeptuelle) Metapherntheorie: G. Lakoff/M. Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 82014 (engl. Klassiker: Metaphors We Live By, 1980); dann: C. Baldauf, Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher, Frankfurt a.M. 1997; S. Handl/H.-J. Schmid (Hgg.), Windows to the Mind. Metaphor, Metonymy and Conceptual Blending, Berlin/New York 2011; O. Jäkel, Wie Metaphern Wissen schaffen. Die kognitive Metapherntheorie und ihre Anwendung in Modell-Analysen […], Hamburg 2003; R. Müller, Die Metapher. Kognition, Korpusstilistik und Kreativität, Paderborn 2012; U. Schröder, Kommunikationstheoretische Fragestellungen in der kognitiven Metaphernforschung, Tübingen 2012; H. Skirl, Emergenz als Phänomen der Semantik am Beispiel des Metaphernverstehens, Tübingen 2009; C. Spieß/K.-M. Köpcke (Hgg.), Metapher und Metonymie. Theoretische, methodische und empirische Zugänge, Berlin/New York 2015.

10.2.3 Schritt 5: Den Text erklären Zum Abschluss der Untersuchung wird ein fortlaufender Kommentar geschrieben, der den Text Vers für Vers oder auch anhand der eigenen Gliederung (→ Kap. 8.2) abschreitet und eine Klärung der Bedeutungen sowie ggf. eine Klärung von Schlussfolgerungsprozessen und emerInterpretationsgenten Bedeutungen vornimmt. Bei einer wissenschaftliprobleme genau chen Darstellung empfiehlt es sich, dass bei der Kommenabwägen tierung von „größeren“ exegetischen Interpretationsproblemen sämtliche Lösungsvorschläge aufgelistet und jeweils Pro- und Kontra-

Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?

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Argumente aufgeführt werden (die Argumente kann man gerne nach den Kriterien sortieren, die wir oben genannt haben). Hier bietet sich zugleich die Möglichkeit, Erklärungen aus den Kommentaren sowie der Fachliteratur aufzugreifen und hierzu eine eigene Stellungnahme zu formulieren. Und vergessen Sie natürlich nicht, Ihre eigene Entscheidung zu begründen. Zu einer Texterklärung gehört es unseres Erachtens auch, dass der Kommentator bzw. die Kommentatorin gegebenenfalls auf fehlendes Quellenmaterial hinweist (vgl. Fragmentarität und Selektivität). Ziel der Auslegung ist es zwar, eine möglichst kohärente und plausible Erklärung vorzulegen – aber man sollte auch ebenso offen damit umgehen, dass das eigene Interpretationsergebnis immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, eben soweit es sich nach heutigem Kenntnisstand und Quellenlage nahelegt. Auf der anderen Seite sollten Sie ihre Texterklärung nicht mit zusätzlichen Aspekten „überfrachten“. Die Frage nach den historischen Hintergründen (Kap. 13a), nach der Theologie eines Textes (Kap. 13b) oder der Hinweis auf das kirchliche Anwendungspotenzial (Kap. 14) haben hier (noch) nicht ihren Platz. Es handelt sich dabei jeweils um eigenständige Interessen des Umgangs mit dem Text, die einer eigenen Reflexion bedürfen. Außerdem kann es bei der Vermischung mehrerer Textdimensionen schnell zu Missverständnissen kommen, wenn nicht unterschieden wird, ob z.B. historische oder geographische Angaben von einem heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus bekannt sind oder ob die intendierten Rezipienten tatsächlich über diese Kenntnisse, d.h. kognitiven Schemata, verfügten und sie beim Lesen aktivierten. Aufgabe: Lesen Sie folgenden (fiktiven) Abschnitt aus einer Seminararbeit zu Mk 10,46-52, wo der Student kein klares Problembewusstsein hat für die vom Autor intendierte Bedeutung, sondern alles, was er gefunden hat, durcheinanderwirft. Differenzieren Sie, welche der hier dargebotenen Hintergrundinformationen (Frames) den intendierten Rezipienten vertraut waren und welche anderen Informationen erst auf modernen Kenntnissen beruhen. „Mk 10,46: Zu Beginn der Perikope bricht Jesus mit seinen Jüngern aus Jericho auf. Der Ort, dessen Ursprünge bis ins 10. Jahrtausend v. Chr. reichen, erlebte unter Herodes dem Großen und dessen Sohn Archelaos einen bedeutenden Ausbau. 250 Meter unter dem Meeresspiegel gelegen, stellt er für Jesus und seine Jünger die letzte Etappe vor Jerusalem dar. Von Jericho geht es 24 km steil hinauf zum Ziel des Weges, Jerusalem. Für jüdische Festpilger war Jericho zumeist ebenfalls die letzte Station vor dem beschwerlichen Anstieg in die Hauptstadt. Aus diesem Grund lässt sich die Menge, die Jesus aus Jericho nachfolgt, wohl als Pilgergruppe begreifen.“

Demo: Die Bedeutung und Interpretation von ἱλαστήριον in Röm 3,25 Die Frage, was Paulus aussagen will, wenn er Jesus Christus in Röm 3,25 als ἱλαστήριον bezeichnet, beschäftigt die Ausleger seit Jahrzehnten. Drei Interpretationsvorschläge haben größere Aufmerksamkeit erfahren und sollen hier kritisch geprüft werden:

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

(1) ἱλαστήριον stehe für die goldene Abdeckung der Bundeslade (hebr. kapporaet), d.h. den Ort der Gegenwart Gottes (Ex 25,22; 30,6; Num 7,89), an den der Hohepriester am Versöhnungstag das Blut eines Jungstiers sprengen soll (Lev 16). Dieser Bezug zum Sühnekult wird beispielsweise von P. Stuhlmacher 27 stark gemacht. ■ (2) ἱλαστήριον stehe für das Sühnopfer, d.h. einen unfreiwilligen und unverschuldeten Märtyrertod eines Einzelnen mit sühnender Wirkung, wie er in 4 Makk 17,22 anklingt. Diese Bedeutung wird etwa von E. Lohse28 favorisiert. ■ (3) ἱλαστήριον sei vor dem Hintergrund griechischer Inschriften zu verstehen, „wobei Paulus auf die in der Antike verbreitete Praxis von Weihegeschenken als Vorleistung bzw. Dankesleistung für eine Gottheit angesichts erbetener/erhaltener Hilfe anspielt.“ 29 Beurteilen wir diese drei Vorschläge in umgekehrter Reihenfolge, so ist der Vorschlag (3) zunächst mit dem Problem behaftet, dass die Wortbedeutung „Weihegeschenk“ lediglich in einem sehr begrenzten Raum bezeugt ist, nämlich durch sechs Inschriften auf Kos und in Lindos auf Rhodos. 30 Es liegt damit keine „doppelte Hörbarkeit“ dieser Quellen vor. Auch die „Lautstärke“ dieser Quellen ist sehr gering, weil griechische Quellen zur Bezeichnung von Weihegeschenken in aller Regel die Vokabel ἀναθήματα verwenden. Diese tausendfach (!) bezeugte Wortwahl überwiegt selbst in den von Schreiber angeführten Quellen. Letztlich lässt sich die von Schreiber vorausgesetzte Wortbedeutung aufgrund des fragmentarischen Charakters der Quellen keineswegs zweifelsfrei bestätigen. 31 Da Paulus in seinem Brief an die Römer vielfach auf das Alte Testament rekurriert, kann der intendierte Rezipient kaum mit einem Bezug auf diese spezifisch hellenistische Vorstellung rechnen. Letztlich ist Schreibers Interpretation mit dem Problem behaftet, dass in Röm 3,25 gerade nicht von einem menschlichen Geschenk die Rede ist, sondern Gott als Akteur erscheint (= fehlende kontextuelle/thematische Plausibilität). Dies räumt Schreiber selber ein, will in dieser ‚Umkehrung‘ aber gerade eine theologische Pointe erkennen. Gerade wenn der Rezipient eine solche Umdeutung nachvollziehen soll, müsste die Anspielung aber deutlicher sein und eine klare Markierung erfahren. Auch der Vorschlag (2) von Eduard Lohse vermag quellenkundlich nicht zu überzeugen. Mit 4 Makk 17,22 kann nur ein einziger Beleg dafür angeführt werden, dass ἱλαστήριον die Bedeutung Sühnopfer haben kann. In diesem Fall müsste man schon von einer bewussten Intertextualität ausgehen, für die es allerdings keine ausreichenden Indizien gibt. Da es sich bei 4 Makk 17,22 um einen Text des späten 1. Jhdts. handelt und die Vokabel ἱλαστήριον hier nur als Adjektiv vorkommt, ist ein bewusster Text-zuText-Bezug sogar auszuschließen. Letztlich stellt sich im Kontext von Röm 3 das inhaltliche Problem, dass Paulus gerade nicht der unverschuldete Tod eines Einzelnen vor ■

27 Vgl. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Göttingen 1992– 1999, hier Bd. I, 194f.; P. Stuhlmacher, Zur neueren Exegese von Röm 3,24-26, in: Ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 117– 135. 28 Vgl. E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht, FRLANT 64, Göttingen 21963. 29 St. Schreiber, Der Römerbrief, in: M. Ebner/St. Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 277–302, hier 293f.; vgl. auch St. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97 (2006), 88–110. 30 Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 100f. 31 Vgl. zu diesen Kritikpunkten sowie der Quellenlage A. Weiß, Christus Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilasterion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105 (2014), 294–302, bes. 296–301.

Wie kann man die richtige Bedeutung finden und beschreiben?

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Augen steht (Jesus als „Opfer“ im Sinne des engl. victim), sondern ein durch Gott initiiertes Heilsgeschehen. Das griechische Wort ἱλαστήριον als Übersetzung des hebräischen kapporaet zu verstehen und damit einen Bezug zwischen dem alttestamentlichen Sühnekult und dem Kreuzestod Jesu Christi zu erkennen, hat demgegenüber eine große Plausibilität. Bereits in der griechischen Übersetzung der Tora wird kapporaet mit ἱλαστήριον übersetzt (vgl. etwa LXX Ex 25,17 [ohne Artikel]; 31,7; 35,12; 38,5–8; Lev 16,2–15; Num 7,89 vgl. auch Philo Cher. 25; Philo Mos. II,95ff.). Eine entsprechende Wortkenntnis kann Paulus bei seinen intendierten Rezipienten voraussetzen, weil es sich bei diesen um judaistische Gegner handelt, wie der vorherige Argumentationsaufbau (Röm 1,18–3,24) und die Aufnahme entsprechender Einwände (Röm 3,1.3.5.7) erkennen lassen. 32 Diesem Rezipientenkreis muss die kapporaet als wichtigster Kultgegenstand im Allerheiligsten (Ex 15,17–22) bekannt sein. Durch die Rede vom Blut Jesu wird der Bezug zum Sühneritus noch einmal verstärkt (vgl. Lev 16; Ez 43). Es ist eine doppelte Hörbarkeit und ausreichende Lautstärke vorauszusetzen. Dass Paulus im Unterschied zum Alten Testament und Hebr 9,5 den Artikel auslässt, kann hingegen recht ungezwungen damit erklärt werden, dass hier auf eine ältere Tradition rekurriert wird. Paulus bedient sich eines formelhaften, prädikativen Sprachgebrauchs. 33 Die von Stuhlmacher vorgeschlagene Interpretation besitzt auch die größte historische, inhaltliche und theologische Plausibilität. Enthielt der zweite Tempel historisch gesehen keine Lade mehr, so verweist Paulus nun auf die sichtbare Restitution dieses Kultes. Er wertet den alttestamentliche Sühnekult gerade auf, indem er ihn durch Gottes Heilshandeln bestätigt und erneuert sieht. 34 Gott hat mit dem Kreuzestod Jesu ein öffentliches Zeichen vor die Augen der Menschen gestellt (V. 25a: προτίθημι; ähnlich Gal 3,1: προεγράφη). Indem Gott einen solchen Ort der Schuldbeseitigung neu erschaffen hat und so eine umfassende Sühne ermöglicht, wird von Paulus zugleich festgehalten, dass Heiden und Juden nun geschenkweise gerecht gemacht werden (3,21–24). Dies schließt unmittelbar an die Erkenntnis an, dass sich kein Mensch vor Gott Gerechtigkeit erwerben kann (1,18–3,20). Die Deutung von ἱλαστήριον als gottgegebener Sühneort bzw. kapporaet fügt sich also besonders gut in die bisherige Argumentation ein.

10.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Welche Kriterien kennen Sie, um aus verschiedenen Möglichkeiten die richtige Bedeutung eines Wortes in Ihrem Text abzuwägen? Nennen Sie auch einige Unterkriterien. 32 Nach J. Jervell, Der Brief nach Jerusalem, StTh 25 (1971), 61–73, stehen Paulus bei seiner Argumentation sogar die Jerusalemer Autoritäten vor Augen. Dies passt zwar zur unmittelbar bevorstehenden Kollektenreise, lässt sich aber methodisch kaum verifizieren. Es genügt aber zu sehen, dass sich Paulus im Römerbrief nahezu durchgängig mit Einwänden auseinandersetzt, die er im Streitgespräch mit judaistischen Gegnern erwarten muss. 33 Sollte es sich bei Röm 3,25 um Traditionsgut handeln (vgl. dazu P. Stuhlmacher, Biblische Theologie, Bd. 1, 192f.), ist erst recht von einer doppelten Hörbarkeit auszugehen. 34 Anders P. Stuhlmacher, Biblische Theologie, Bd. I, 193: „Die Gleichsetzung von Christus auf Golgatha mit der kapporaet impliziert eine radikale Kritik am Sühnopferkult im Jerusalemer Tempel: Der von Gott gewollte Sühnetod Jesu am Kreuz hebt den Sühnekult auf dem Zionsberg auf.“

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10. Texterklärung II – Quellenauswahl und Interpretation

2. Beschreiben Sie drei Interpretationsfallen. 3. Erklären Sie die Probleme der Fragmentarität und Selektivität in Bezug auf den Umgang mit Primärquellen. 4. Was sind Probleme der Intertextualitätstheorie in der Fassung von Kristeva? 5. Erklären Sie: semantisches Priming, Prototypensemantik, semantische Emergenz.

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ anhand wissenschaftlicher Kriterien überprüfen, welche Quellen inwiefern für die Interpretation eines Textes relevant sind; ■ Schemata und Prätexte als Lösungen für knifflige Einzelprobleme der Interpretation argumentativ abwägen; ■ eine Vers-für-Vers-Erklärung schreiben. Sie kennen jetzt … ■ Kriterien zur Frage, welche Prätexte bzw. kognitiven Schemata für den eigenen Text herangezogen werden können; ■ die Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis; ■ Hintergründe und Probleme der poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie; ■ einige kognitionswissenschaftliche Fachbegriffe (Priming, Primär- und Rezenzeffekt, Salienz, Prototypensemantik, semantische Emergenz).

Notieren Sie in Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Texterklärung erkennen und wo sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie die genannten Kriterien der ‚richtigen‘ Interpretation. Finden Sie sie einleuchtend? Fehlt Ihnen etwas?

10.4 Literatur Vgl. die zu den Teilschritten sowie die unter 9.4 genannte Literatur.

11 Texterklärung III – Analyse von Erzähltexten Leitbegriffe Narrative Criticism – Erzähltextanalyse – narrative Analyse, Strukturalismus, textzentrierte Ansätze, kognitive Wende, kognitive Narratologie, kognitive Schemata: Frames und Skripts (situational, instrumental, personal, narrative scripts)

11.1

Einführung: Der Weg zur kognitiven Narratologie

Obwohl ein großer Teil der Bibel aus Erzähltexten besteht (im NT: die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes), kam dieses Faktum lange Zeit nur wenig in das Blickfeld der Die frühe bibelwissenschaftlichen Auslegungsmethodik. Die frühen Erzähltheorie erzählwissenschaftlichen Theorien haben seit den 1980-er in der Exegese Jahren einen Weg in die Bibelexegese gefunden, allerdings mit verschiedenen Bezeichnungen. Unter den frühen narratologischen Modellen waren in der neutestamentlichen Exegese besonders einflussreich: ■







In der englischsprachigen Forschung zum Neuen Testament begegnet der Ansatz des „Narrative Criticism“. Der Begriff wurde 1982 von D. Rhoads analog zu den anderen „criticisms“ geprägt. 1 Der Narrative Criticism fußte auf dem Methodenbuch von S. Chatman* (1978), der die erzähltheoretischen Ausführungen u.a. von G. Genette* (1972) innovativ bearbeitet hatte, wurde aber darüber hinaus kaum weiterentwickelt. Der Narrative Criticism nahm jedoch Einflüsse des „New Criticism“ auf und behauptete, textimmanent zu arbeiten. Daher positionierte man sich oft gegen das historisch-kritische Arbeiten mit Quellen. Die eher in der deutschsprachigen Exegese bekannte Erzähltextanalyse basierte auf dem gleichnamigen Methodenbuch von Kahrmann/Reiß/Schluchter2 (1977). H.-J. Klauck hatte die neutestamentliche Zunft im Jahr 1982 auf dieses Buch aufmerksam gemacht. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Unterscheidung mehrerer Erzählebenen, darüber hinaus ist es methodisch wenig ausführlich. In der deutschsprachigen neutestamentlichen Forschung bekannt ist auch der Abschnitt zur „narrativen Analyse“ aus der Methodenlehre von W. Egger* (1987), der die neutestamentliche Exegese mit dem textzentrierten Ansatz des frühen Strukturalismus (Propp, Greimas, Bremond) vertraut machte. Hierbei geht es vor allem um Aspekte der Handlungsanalyse. Einige exegetische Arbeiten verwenden die Erzähltheorie von Martinez/Scheffel* (1999) als Referenzwerk. Die beiden Lehrbuch-Autoren orientieren sich noch größtenteils an den Analysevorschlägen von Genette* (1972); in der 9. Aufl. 2012 wurden nun auch kürzere Abschnitte zur Figuren- und Raumanalyse ergänzt.

1 D. Rhoads, Narrative Criticism and the Gospel of Mark, JAAR 50 (1982), 411–434. Vgl. einführend M.A. Powell, What is Narrative Criticism?, Minneapolis 1990; J.L. Resseguie, Narrative Criticism of the New Testament. An Introduction, Grand Rapids 2005. 2 Vgl. C. Kahrmann/G. Reiß/M. Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung. Mit Studienund Übungstexten, Weinheim (1977) 41996.

174

11. Texterklärung III – Narratologie

Während die Bibelexegese die Narratologie zunehmend rezipiert,3 aber noch längere Zeit eher den älteren Forschungsstand aufnahm, hat sich die Narratologie inzwischen enorm weiterentwickelt. Nachdem sich das Unbehagen an den formalen Kategorisierungen des Strukturalismus mehrte und die Narratologie lange Zeit wenig vorankam, ist in den Literaturwissenschaften (und nicht nur dort) seit Mitte der 1990-er wieder ein regelrechter Boom der Narratologie zu beobachten. Woran liegt das? ■



Ein wichtiger Grund für diesen „Neuanfang“ in der Narratologie war, dass der bisherige textzentrierte Ansatz der strukturalistischen Narratologie, der die Rolle von Autor und Leser völlig ausblendete, aufgegeben wurde. Der literaturwissenschaftliche Strukturalismus der 1960-er und 70-er Jahre hatte textzentrierte damals einige Grundannahmen der europäischen „werkimmaAnsätze nenten Interpretation“ bzw. des amerikanischen New Criticism (Strukturalismus) (ca. 1920–1960) indirekt übernommen, wonach der Sinn eines Textes nur aus diesem selbst erhoben werden könne. Man kennt aus dieser Zeit vielleicht auch die Begriffe „impliziter Autor“ oder „impliziter Leser“ oder die Abwendung von der Autorintention und das Schlagwort vom „Tod des Autors“ (die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Theorien zugeordnet werden können, die aber Gemeinsamkeiten haben). Dieser rein textzentrierte oder textimmanente Ansatz, der sich in verschiedenen Literaturtheorien äußerte, hat sich als nicht angemessen erwiesen. Ein anderer Grund war, dass man zunehmend disziplinübergreifend arbeitete und die bisherigen Einzeltheorien zur Erzählanalyse aus den verschiedenen Wissenschaften zusammenzuführen begann. „Narratologie“ wurde Narratologie als nun nicht mehr als eine spezifische Erzähltheorie der französiQuerschnittsschen Strukturalisten Anfang der 1970-er Jahre verstanden, disziplin sondern tatsächlich als Wissenschaftsbereich, als „Wissenschaft von der Erzählung“, wie es schon T. Todorov 1969 bei der Einführung dieses Begriffs gefordert hatte.

Die bisherigen Analysekategorien aus der Zeit des Strukturalismus erfahren in der heutigen Narratologie eine deutliche Modifizierung, Präzisierung und Umdeutung. Unter den neueren, sogenannten „post-klassischen“ Narratologien ist besonders die kognitive Narratologie zu erwähnen. Im Zuge der „kognitiven Wende“ (engl. cognitive turn) haben die am LektüreProzesse der Textrezeption bzw. Textproduktion an Beprozess orientiert (kognitive Wende) deutung gewonnen. So hat sich im Unterschied zum textzentrierten Ansatz des Strukturalismus die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Leser eines Textes immer über ein kulturspezifisches Vorwissen verfügen. Ohne dieses Vorwissen, das bei der Lektüre immer mit aktiviert wird, blieben Texte letztlich unverständlich. Und genau dieses Vorwissen setzt ein Autor beim Schreiben eines Textes voraus. Einen Textsinn 3 Vgl. neben Egger* bzw. Egger/Wick* folgende Methodenlehren, die narratologische Methoden einbeziehen: Ebner/Heininger*, Söding* 140–151 (Narrative Criticism) und Utzschneider/Nitsche*.

Einführung und Überblick

175

„an sich“ kann es nicht geben. Andererseits ist das Verstehen nicht rein subjektiv (so die Behauptung des radikalen Konstruktivismus), sondern lässt sich als ein wechselseitiger Vorgang verstehen, bei dem kulturell vorgeprägte Wissensbestände und Informationen eines Textes miteinander abgeglichen werden und aufeinander bezogen werden. Um das vom Autor vorausgesetzte Vorwissen der Rezipienten möglichst präzise zu beschreiben – die kognitiven Schemata –, unterscheidet man zwischen statischen „Frames“ und dynamischen „Skripts“. Wissen: Die Frames sind das deklarative Wissen. Wenn wir z.B. eine Frames bestimmte, meist prototypische Vorstellung von einem und Skripts Ostfriesen oder Schwaben, von einem Kirchengebäude oder einem Möbelstück im Kopf haben, dann spricht man in der kognitiven Semantik von „Frames“; ein Frame ist wie eine ‚eingerahmte‘ Vorstellung. Die Skripts sind dagegen handlungsorientierte bzw. ablauforientierte Wissensbestände. Skripts beschreiben das prozessuale Wissen, wobei manchmal noch zwischen (a) situational scripts, (b) instrumental scripts und (c) personal scripts differenziert wird. Das heißt, wir haben eine Vorstellung davon, was uns (a) in einer bestimmten Situation erwartet (z.B. beim Restaurantbesuch), wie man (b) ein bestimmtes Gerät bedient (z.B. ein Auto fährt) oder wie sich (c) eine Person aufgrund bestimmter Eigenschaften in einer Situation verhalten wird (z.B. ein Elefant im Porzellanladen). In einem literarischen Kontext kann es zudem narrative scripts geben. In diesem Fall sind es bekannte Genrevorgaben, die unsere Erwartungshaltung beeinflussen. So rechnen wir bei einer Tragödie mit einem leidvollen Schicksal des Protagonisten. Auch die anderen Skripts ermöglichen es dem Rezipienten, die Handlung zu antizipieren. Umgekehrt können solche Skripts dazu führen, dass der Rezipient durch den tatsächlichen Fortgang der Handlung überrascht wird (vgl. Kap. 11c.2.3). Überhaupt kommen durch den cognitive turn auch Aspekte der Textwirkung ins Blickfeld: z.B. die Emotionen des Rezipienten, aber auch die Lenkung von Empathie und Sympathie sowie die ideologische Beeinflussung. Literatur: a) zur Geschichte der Narratologie allgemein: M. Fludernik, Histories of Narratology (II): From Structuralism to the Present, in: J. Phelan/P.J. Rabinowitz (Hgg.), A Companion to Narrative Theory, Malden u.a. 2005, 36–59; S. Lahn/J.Chr. Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar 2008, 19–34; Finnern* 29–36; b) zur kognitiven Wende in der Narratologie: B. Zerweck, Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und „natürliche“ Narratologie, in: A. Nünning/V. Nünning (Hgg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, 219–242; M. Jahn, Art. Cognitive Narratology, in: RENT*, 67–71; D. Herman, Art. Cognitive Narratology, in: P. Hühn u.a. (Hgg.), Handbook of Narratology, 2 Bde., 2. erw. Aufl. Berlin/New York 2014, Bd. 1, 46–64; Finnern* 36–45.

176

11. Texterklärung III – Narratologie

11.2

Überblick: Analyseaspekte einer Erzählung

Die kognitive Wende innerhalb der Narratologie in den letzten Jahren hat auch zu einer Verlagerung der Analyseschwerpunkte geführt. Während die strukturalistische Erzähltheorie die Erzählung vor allem von der Handlung her betrachtete und Figuren weitgehend auf ihre handlungsrelevanten Aspekte reduzierte, lässt sich aktuell ein starkes Interesse an der inhaltlichen Deutung der Figuren erkennen. Aber auch die Interpretation des erzählten Raums und der Erzählperspektive hat an Bedeutung gewonnen. Es wird deutlich, vielleicht auch in diesem Methodenbuch, dass durch die Einsichten der kognitiven Wende zahlreiche Aspekte einer Erzählung systematisch in den Blick kommen. Wenn man die Rezeption eines Erzähltextes mit dem Schauen eines Films oder dem Betrachten eines Theaterstücks vergleicht, werden vier Bereiche anschaulich, die man bei allen Arten von Erzählungen4 analysieren kann: a) die Personen/Figuren, die etwas tun; b) das, was die Figuren tun (= die Handlung); c) die Bühne/der Hintergrund, wo die Figuren etwas tun (= der Raum); d) die Seite, von der man auf die handelnden Personen im Raum schaut (= die Perspektive).

Figuren Perspektive

Raum

Handlung Abb. 11.1: Aspekte einer Erzählung 5

In den folgenden Unterkapiteln sollen die verschiedenen Aspekte einer Erzählung (Abb. 11.1) ausführlich vorgestellt werden. In einem Seminar könnte man sie zum Beispiel im Rahmen eines Studientags behandeln: ■ ■ ■ ■

Kap. 11a: Perspektivenanalyse Kap. 11b: Figurenanalyse Kap. 11c: Handlungsanalyse Kap. 11d: Raumanalyse

4 Die Narratologie als Methode ist grundsätzlich intermedial und interdisziplinär angelegt. Mit ihr werden heutzutage Erzähltexte aller Epochen analysiert, aber auch Filme und Theaterstücke, Comics und Computerspiele, Alltagserzählungen und Geschichtsschreibung. 5 Grafik entnommen aus Finnern* 74, dort mit dem fünften Aspekt der „Rezeption“ (hier Kap. 12: Textnachwirkung) und mit dem Begriff „Umwelt“ statt „Raum“.

11a Perspektivenanalyse Leitbegriffe Erzählebenen, Beteiligung, Modus (Distanz, Innenperspektive, Fokalisierung), Figurenrede (erzählte, transponierte, zitierte Rede), Innen-/Außenperspektive, Wahrnehmungszentrum, Perspektivenstruktur, Perspektivische Interaktion

11a.1 Einführung: Perspektivwechsel Um eine gute Vorstellung von einem Objekt zu erhalten, reicht es meist nicht, sich dieses nur von einer Seite aus anzuschauen. Erst, wenn ich einen Gegenstand von allen Seiten und aus verschiedenen Blickwinkeln begutachtet habe, kann ich mir ein detailliertes Bild von ihm machen. Auch eine Architektin, die ihre Entwürfe vom neuen Eigenheim oder vom öffentlichen Gebäude an den Mann bringen will, zeichnet keineswegs nur ein zweidimensionales Bild. Sie präsentiert ihrem Kunden verschiedene Ansichten des geplanten Bauwerks. Bei diesen Ansichten kann es sich um Perspektiven handeln, die es auch im realen Leben gibt, z.B. wenn die Vorder- oder Rückseite des geplanten Gebäudes dargestellt wird. Die Architektin kann sich aber auch solcher Ansichten bedienen, die es im realen Leben nicht oder nur sehr selten gibt: eine Querschnittsansicht etwa, die mich – wie bei einer Puppenstube – in das Innere eines Bauwerks hineinschauen lässt; oder eine Darstellung des Grundrisses, Abb. 11a.1: Baupläne einer Synagoge (Max Fleischer) durch die das Gebäude auf seine wichtigsten technischen Daten und geometrischen Formen reduziert wird; oder ein Blick aus der Vogelperspektive. Die Arbeit eines Autors ist in mancher Hinsicht mit der Arbeit einer Architektin vergleichbar. Auch er muss sich bei seiner Erzählung überlegen, von welcher Seite er seinen Leser an das Er- Perspektive: die Seite, von der zählte heranführen will. Dazu kann der Autor eine Erzäh- aus erzählt wird lerfigur erschaffen, die Teil der erzählten Ereignisse ist oder außen vor bleibt. Und ein Autor hat auch die Möglichkeit, Perspektiven zu

178

11. Texterklärung III – Narratologie

wählen, die es im echten Leben so nicht gibt. So kann er Einblicke in die Gedanken und Gefühlswelten seiner Figuren gewähren oder den Leser an Orte entführen, die ihm normalerweise verborgen blieben (vgl. Mt 4,1–11). Es gibt aber auch einen Unterschied zwischen der Arbeit eines Autors und einer Architektin. Wenngleich die Architektin ungewöhnliche Perspektiven wählen kann, so sind diese in aller Regel zuverlässig. Der Querschnitt entspricht möglichst exakt dem späteren Fundament des Gebäudes und die Ansichten von vorne, hinten oder oben entsprechen den tatsächlichen Ansichten auf das fertige Gebäude. Ein Autor erschafft demgegenüber auch unzuverlässige Perspektiventräger. Das können Figuren sein, die eine Sache, eine Ereignis oder andere Personen der erzählten Welt falsch oder lediglich einseitig wahrnehmen, wie z.B. Herodes, der in Jesus unzuverlässige Erzähler den auferstandenen Johannes sieht (Mk 6,14–16). In modernen Erzählungen kann es sogar unzuverlässige (Haupt-)Erzähler geben – ein erzählerisches Mittel, das im Neuen Testament noch keine Anwendung findet. Im Zuge der Perspektivenanalyse geraten all jene Aspekte einer Erzählung in den Fokus, die das Verhältnis zwischen einem Autor, seinem Erzähler und seiner Erzählung beschreiben. Allerdings lässt sich die Perspektivenanalyse nicht allein auf die Frage nach dem „Wie“ der Vermittlung discourse: Wie? reduzieren. Es gilt darüber hinaus auch nach dem Perspekund story: Was? tiveninhalt zu fragen, also danach, was der Erzähler oder einzelne Figuren der Erzählung wahrnehmen. Um es an unserem Architekturbeispiel zu verdeutlichen: Die Frage, ob ich auf einer Zeichnung die Vorder- oder Rückseite eines Gebäudes sehe, ist das eine. Etwas anderes ist es, ob ich auf der Skizze eine Synagoge (vgl. Abb. 11a.1), ein schwäbisches Eigenheim oder eine neue Konzerthalle sehe. discourse: Wie wird es dargestellt?

story: Was wird inhaltlich dargestellt?

Erzählebenen: Welche Komplexität weist die Erzählung auf? Wie viele Erzählebenen lassen sich unterscheiden?

Inhaltlicher Standpunkt: Welchen Standpunkt soll der Rezipient dem Erzähler zuschreiben? Welche Standpunkte soll er einzelnen Figuren zuschreiben?

Beteiligung: In welchem Ausmaß ist der Erzähler Teil des Geschehens?

Perspektivenstruktur: In welcher inhaltlichen Relation stehen die einzelnen Standpunkte zueinander?

Modus: Welche Instanz nimmt in der Erzählung etwas wahr und wie mischt sich der Erzähler ein?

Perspektivische Interaktion: Zu welchem mentalen Modell fügen sich die einzelnen, voneinander zu unterscheidenden Wahrnehmungen zusammen?

Tab. 11a.2: story-Ebene und discourse-Ebene bei der Perspektivenanalyse

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

179

In den Erzählwissenschaften spricht man hier von discourse (Wie ist etwas dargestellt?) und story (Was wird inhaltlich dargestellt?) (Abb. 11a.2). 11a.2 Methode Übersicht: Methoden der Perspektivenanalyse 1. Erzählebenen: Die Anzahl der Erzählebenen bestimmen und deren Symmetrie beschreiben. 2. Beteiligung: Klären, ob es sich um einen Ich-/Wir- oder Er-Erzähler handelt, ob der Erzähler mit einer der Figuren der Erzählung identisch ist oder als unbeteiligter Beobachter bzw. unbeteiligter Erzähler zu deuten ist. 3. Modus: a. Distanz: Die Darstellung der Figurenrede untersuchen. Beschreiben, ob angesichts des hauptsächlichen Modus von einer Erzähler- oder Figurendominanz bzw. narrativen oder dramatischen Darstellung zu sprechen ist. b. Fokalisierung: – Bestimmen, wie genau der Erzähler die Innenwelt einzelner Figuren (Gefühle, Wissen, Motivation usw.) beschreibt und ausgestaltet (starke Außenperspektive – starke Innenperspektive). – Mit Hilfe eines Figurenvergleichs die Gleichmäßigkeit der Innensicht beschreiben (fokalisiert – unfokalisiert). – Auf den Erzählverlauf achten und beschreiben, ob sich das Innensichtzentrum innerhalb eines Erzählabschnitts ändert oder auf andere Figuren verlagert (statische Fokalisierung – variable Fokalisierung). – Bestimmen, welche Figuren über den Erzählverlauf hinweg in ihrer Wahrnehmung begleitet werden (hier: „Wahrnehmungszentrum“). 4. Inhaltlicher Standpunkt: Auf der Grundlage a) der Figurenrede und b) weiterer Eigenschaften die explizit und implizit thematisierte Meinung und Überzeugung einer Figur bestimmen. 5. Perspektivenstruktur: Anhand fester Analysekategorien die Perspektivenstruktur eines Erzählabschnitts beschreiben und bestimmen, wie stark die Aufmerksamkeit ist, die der intendierte Rezipient einzelnen Perspektiveninhalten zuteil werden lässt. 6. Perspektivische Interaktion: Das Zusammenspiel aller Einzelperspektiven beschreiben und das mentale Modell überlegen, das aus dieser Interaktion abzuleiten ist.

11a.2.1 Erzählebenen Erzählungen sind eine Form zwischenmenschlicher Kommunikation. Wie bei einem Gespräch, einer SMS oder einer WhatsApp–Statusmeldung wird auch hier eine Nachricht zwischen einem Sender (= Autor) und einer Gruppe von Empfängern (= intendierte Rezipienten) ausgetauscht. Erzählungen unterscheiden sich zugleich von anderen Kommunikationsformen. Vor allem zeichnen sie sich durch eine geringere Unmittelbarkeit aus. So wenden sich die meisten Autoren nicht direkt an ihre Empfänger, sondern „erschaffen“ einen oder

180

11. Texterklärung III – Narratologie

mehrere Erzähler. Eine weitere Zwischeninstanz stellen die Figuren einer Erzählung dar. Zudem kann es vorkommen, dass einzelne Figuren ihrerseits als Erzähler innerhalb der Erzählung auftreten. In solchen Fällen spricht man von einem intradiegetischen Erzähler. Ein Beispiel hierfür ist die Figur Jesu, die in allen Evangelien Gleichnisse erzählt. Die Tatsache dass sich Erzählungen durch mehrere „Zwischeninstanzen“ zwischen Sender und Empfänger auszeichnen, führt dazu, dass hier zwischen mehreren Erzählebenen zu unterscheiden ist: Zur ersten Erzählebene (E1), die die Kommunikationsebene zwischen Autor und intendierten Rezipienten bezeichnet, tritt häufig eine zweite, dritte Erzählebenen oder sogar vierte Erzählebene hinzu. Das kognitive Modell der Erzählebenen (Abb. 11a.3) verdeutlicht, dass es auf allen Erzählebenen Sender, Nachricht und Empfänger geben kann. Um die unterschiedlichen Erzählebenen zu unterscheiden, schlagen wir vor, diese einfach durchzunummerieren.1 Ebene

Autor

Nachricht

Rezipient

1

„ich“ (Selbstbild des Autors) Bild des Autors (= Erzähler1) z.B. der Erzähler des Lukasevangeliums

2

Bild des Erzählers2 z.B. Jesus in Lk 15,4–32

Erzählung2

Bild des Rezipienten2 z.B. Sünder und Zöllner; Pharisäer usw. Lk 15,1–3

3

Bild des Erzählers3 älterer Sohn in Lk 15,29f.

Erzählung3

Bild des Rezipienten3 der Vater in Lk 15,29f.







Erzählung1

„ich“ (Selbstbild des Rezipienten) Bild des intendierten Rezipienten z.B. Theophilus (Lk 1,1–4)



Abb. 11a.3: Kognitives Modell der Erzählebenen (vgl. Finnern* 53)

Nicht in jeder Erzählung liegt jedoch eine symmetrische Verteilung der Erzählebenen vor. Es kann durchaus mehr Sender als Empfänger oder mehr Empfänger als Sender geben. So ist es z.B. möglich, dass der Autor selbst als Erzähler auftritt und keinen von sich unterscheidbaren Erzähler erschafft.

1

Dies ist einfacher als die von Genette* 162–167 vorgeschlagenen Fachbegriffe: extradiegetischer, intradiegetischer, metadiegetischer, metametadiegetischer Erzähler usw.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

181

11a.2.2 Beteiligung

Beteiligung

Um die Beteiligung des Erzählers zu beschreiben, hat man in der Erzählwissenschaft die Unterscheidung zwischen einem unbeteiligten Er-Erzähler und einem beteiligten Ich-Erzähler eingeführt. Alternativ kann auch von einer heterodiegetischen Erzählung und einer homodiegetischen Erzählung gesprochen werden. – Allerdings lässt sich die Beteiligung des Erzählers noch etwas weiter ausdifferenzieren: Beim Ich- oder auch Wir-Erzähler kann es sich um einen (un)beteiligten Beobachter, eine Nebenfigur oder die Hauptfigur (= autodiegetische Erzählung) handeln. Somit ergeben sich folgende Beteiligungs-Stufen: 1. Hauptfigur/en

autodiegetisch

2. eine der Hauptfiguren

homodiegetisch

Ich-/WirErzähler

3. Nebenfigur/en 4. beteiligte/r Beobachter 5. unbeteiligte/r Beobachter ------------------------------------------------------------------------------------------------------6. unbeteiligte/r Erzähler heterodiegetisch Er-Erzähler

Abb. 11a.4: Beteiligung des Erzählers am Geschehen

Aufgabe: Beteiligung neutestamentlicher Erzähler Schlagen Sie die folgenden Textstellen nach und bestimmen Sie, wie hier der Erzähler jeweils an der Erzählung beteiligt ist: 1) Lk 1,1–4 2) Gal 2,1–10

3) Joh 21,24 4) Apg 16,11–13

11a.2.3 Modus (Distanz, Fokalisierung) Mit dem Begriff Modus wird in diesem Buch die Untersuchung der sprachlichstilistischen Mittel bezeichnet, mit deren Hilfe ein Erzähler ■ ■

die Figuren seiner Erzählung beschreibt bzw. nachahmt (Distanz), einen Einblick (Innenperspektive) in seine Figuren gewährt und seine Figuren zum Wahrnehmungszentrum des Erzählten macht (Fokalisierung).

a) Distanz: Während bereits Platon zwischen einem berichtenden Erzählen (διήγησις) und einer dramatischen Nachahmung (μίμησις) von Gesprächen unterschied2 und die ältere Erzähltheorie weithin an dieser binären Differenzie-

2

Vgl. Plato rep. 392c-394b und Plato Phaidr. 266e.

182

11. Texterklärung III – Narratologie

rung festhielt, hat man in den letzten Jahrzehnten weitere Zwischenformen in den Blick genommen. Denn der Erzähler kann auch Formen der indirekten bzw. transponierten Rede verwenden. Zudem kann man zwischen der Darstellung von Rede und Gedanken (bzw. Gefühlen) unterscheiden. Mit Hilfe der fünf Submodi der Figurenrede (Abb. 11a.5) lässt sich präzise beschreiben, ob eher von einer Erzähler- oder eher einer Figurendominanz zu sprechen ist.

Erzählte Rede

Transponierte Rede

Darstellung von Rede

Darstellung von Gedanken

Redebericht

Bewusstseinsbericht

Und mit ihm [sc. Petrus] heuchel- Er aber wurde unmutig über ten auch die anderen Juden. das Wort und ging traurig (Gal 2,13) davon […]. (Mk 10,22) indirekte Rede

indirektes Gedankenzitat

Und er gebot ihnen streng, dass sie ihn nicht offenbar machten. [ἵνα μὴ αὐτὸν φανερὸν ποιήσωσιν] (Mk 3,12)

Und er […] betete, dass, wenn es möglich sei, die Stunde an ihm vorüber ginge. (Mk 14,35)

Erzählerdominanz (διήγησις)

freie indirekte Rede / freier indirekter Gedankenbericht (= erlebte Rede) Siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit leuchtenden Gewändern. (Lk 24,4b)

Zitierte

direkte Rede

direktes Gedankenzitat

Thomas antwortete und sprach: „Mein Herr und mein Gott.“ (Joh 20,28)

Und sie dachten in ihren Herzen: „Wie redet der so? Er lästert Gott […]!“ (Mk 2,6b-7)

Rede

freie direkte Rede / freies direktes Gedankenzitat (= autonome direkte Rede, Bewusstseinsstrom) [nicht im NT]

Figurendominanz3 (μίμησις)

Abb. 11a.5: Die fünf Submodi der Figurenrede

Im Neuen Testament werden die direkte Rede und das direkte Gedankenzitat am weitaus häufigsten verwendet. Auf ein Verb des Sagens oder Denkens folgt dann im griechischen Urtext eine unmittelbar im Wortlaut angeführte Äußerung einer Figur bzw. Figurengruppe.

3 Eine Figurendominanz in reiner Form kann es bei der erzählerischen Vermittlung natürlich nicht geben. Es kann aber im Rezeptionsprozess und d.h. aus Sicht der intendierten Rezipienten zur weitgehenden Ausblendung der vermittelnden Instanz kommen.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

183

Die indirekte Rede und die freie indirekte Rede (= erlebte Rede) stellen demgegenüber eine Erzählweise dar, bei der der Erzähler den Wortlaut der Figuren nahezu wörtlich wiedergibt und die Figurenrede zugleich transponiert, d.h. an die personale Erzählsituation (meist 3. Person) und das jeweils aktuelle Erzähltempus (z.B. Imperfekt) anpasst. Insofern bei der erlebten Rede auf ein einleitendes verbum dicendi (z.B. „Er sagte …“) bzw. verbum credendi (z.B. „Sie dachte …“) und damit auf eine eindeutige Markierung der Figurenrede verzichtet wird, können Erzähler- und Figurenstimme regelrecht oszillieren. Franz Karl Stanzel hat diesbezüglich von einer „‚Ansteckung‘ der Erzählersprache durch Figurensprache“4 gesprochen. Allerdings lässt sich eine derartige Überlagerung von Erzähler- und Figurenstimme nicht rein textimmanent, sondern erst im Rezeptionsprozess feststellen. In eben dieser Hinsicht präzisiert Fotis Jannidis Stanzels Aussage: „Der intendierte Leser konstruiert im Laufe der Lektüre eine Erzählerstimme. Phänomene wie […] erlebte Rede werden erst wahrnehmbar durch Abweichungen von dieser Erzählerstimme.“5 Beim Rede- und Bewusstseinsbericht tritt der Wortlaut der Figurenrede (nahezu) gänzlich zurück. Es herrscht ein narrativer Modus vor. Auf der anderen Seite der Skala befindet sich die „autonome direkte Rede“ bzw. der „Bewusstseinsstrom“. Hier wird auf eine narrative Einbettung und ein verbum dicendi und verbum credendi verzichtet. Die Figur kommt – meist monologartig und im Sinne ungeordneter, assoziativ-strömender Bewusstseinsinhalte – zu Wort. Diese Form der Figurenrede ist im Neuen Testament nicht anzutreffen.6 Beispiel: Erlebte Rede in Lk 24,4b: „Siehe, da traten zu ihnen zwei Männer“ Der Erzähler des Lukasevangeliums hat zu Beginn seiner Erzählung mehrfach von Engeln berichtet und diese auch als solche benannt (Lk 1,13; 1,19; 1,30; 1,35; 1,38; 2,10). Auch in der Gethsemane-Episode kann er noch einen Engel erwähnen (22,43). Im Auferstehungsbericht, der nur zwei Kapitel später folgt, „sieht“ er hingegen lediglich zwei Männer mit leuchtenden Gewändern. Der Rezipient soll diese Aussage keineswegs so verstehen, dass am Grab tatsächlich nur zwei menschliche Gestalten gestanden hätten. Aufgrund des Figurenäußeren wird er die beiden Männer sofort als Engelsgestalten erkennen. Der Erzähler lässt sich hier durch die Wahrnehmung der Frauen anstecken. Er beschreibt die beiden Engel so, wie sie die Frauen – im

4

F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, UTB 904, Göttingen (1979) 61995, 247f. F. Jannidis, Wer sagt das? Erzählen mit Stimmverlust, in: A. Blödorn/D. Langer/M. Scheffel (Hgg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Narratologia 10, Berlin/New York 2006, 151–164, hier 159. 6 Anders Eisen* 117f., die verschiedene Textstellen aus der Apostelgeschichte als autonome direkte Rede deutet (Apg 2,38; 5,9; 9,11; 26,27). Das Auslassen des verbum dicendi ist hier aber eher als Ellipse und damit als rhetorisches Stilmittel oder als sprachliche Eigenart des Autors zu begreifen. 5

184

11. Texterklärung III – Narratologie

Moment der überraschenden Begegnung – beschrieben hätten. Hierzu passt, dass die Nachfolger Jesu im Zuge der Auferstehungsberichte auch sonst durch eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit charakterisiert werden (vgl. Lk 24,13–35). Vgl. zu diesem Beispiel ausführlich U.E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA 58, Göttingen 2006, 116.

b) Fokalisierung: Ein wesentlicher Reiz von Erzählungen besteht darin, dass man Einblicke in Figuren und deren Gedanken bekommt, die einem in Wirklichkeit verborgen bleiben. Unter dem Stichwort der „Fokalisierung“ wird untersucht, wie der Erzähler solche Einblicke in die Figuren seiner Erzählung gewährt (Innenperspektive). Der Erzähler kann zudem aus der Perspektive seiner Figuren heraus erzählen, d.h. diese zum Wahrnehmungszentrum seiner Erzählung machen. 1. Bei der Innenperspektive kann methodisch beschrieben werden, in welcher Detailliertheit der Erzähler das Innenleben einer Figur wiedergibt: Erhalten die Rezipienten besonders viele Informationen (z.B. Innen-/Außen- über die Gedanken, die Gefühle, das Erleben), kann man perspektive von einer starken Innenperspektive (auch: interne Fokalisierung) sprechen. Sind die Informationen zum Innenleben der Figur eher spärlich, so lässt sich dies als eine starke Außenperspektive (auch: externe Fokalisierung) bezeichnen. Bildlich gesprochen: Bei der externen Fokalisierung schauen die Rezipienten der Figur dann „vor“ den Kopf und können nicht in sie hineinschauen. Eine starke Innenperspektive kann die Identifikation mit einer Figur erleichtern. Eine starke Außenperspektive fordert die Rezipienten heraus, selbst über die Hintergründe eines Verhaltens nachzudenken. Dies lässt mehr Interpretationsspielraum. Häufig ist es zudem interessant, die Innenperspektive mehrerer Figuren miteinander zu vergleichen: Gewährt der Erzähler in eine Figur mehr Einblicke als in alle anderen, so ist die Erzählung auf diese Figur fokalisiert. Ist die Innenperspektive bei allen Figuren in etwa gleich, ist die Erzählung unfokalisiert. 2. Als Wahrnehmungszentrum wird die (evtl. gar nicht explizit berichtete) Figur einer Erzählung verstanden, aus deren Blickwinkel heraus ein Erzähler erzählt. Das Wahrnehmungszentrum ist – bildlich gesproWahrnehmungs- chen – der Ort, an dem in der Erzählung die Kamera steht. zentrum Gegenstand der Wahrnehmung ist dabei, was man von diesem Ort aus sieht, hört, riecht, schmeckt oder fühlt. In einer Erzählung können das Wahrnehmungszentrum und die Innenperspektive oft in einer Person zusammenfallen, tun dies aber nicht immer.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

185

Aufgabe: Innenperspektive und Wahrnehmungszentrum bestimmen In Mk 1,9–11 und Joh 1,29–34 wird jeweils von der Taufe Jesu erzählt. Die beiden Episoden unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf das Wahrnehmungszentrum und die Innenperspektive. Vergleichen Sie beide Erzählungen miteinander und beschreiben Sie mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Terminologie die Unterschiede!

Außerdem muss das Wahrnehmungszentrum im Verlauf einer Episode nicht auf einer einzigen Figur ruhen. Es kann innerhalb einer einzigen Episode oder sogar Szene wechseln, etwa wenn in einem Dialog das Gespräch jeweils aus der Sichtweise der Gesprächspartner geschildert wird. In den Evangelien werden zahlreiche Heilungsberichte nicht allein von außen oder aus der Sicht Jesu, sondern auch aus der Sicht der Kranken bzw. Hilfesuchenden beschrieben. Möglich ist aber auch, dass das Wahrnehmungszentrum nicht mit einer berichteten Figur identisch ist, sondern von einem „neutralen“ Standort auf die Figuren und Ereignisse geblickt wird. Methode: Analyse der Fokalisierung 1. Innen-/Außenperspektive: Analysieren Sie, wie genau und in welchem Umfang der Erzähler die Wahrnehmung, das Wissen, die Gefühle und die Intentionen der einzelnen Figuren beschreibt. Achten Sie auf Entwicklungen innerhalb des Erzählverlaufs. 2. Setzen Sie die Analyseergebnisse zu den einzelnen Figuren in ein Verhältnis und bestimmen Sie, ob die Erzählung auf eine Figur fokalisiert ist. Achten Sie auch hier auf Entwicklungen. 3. Wahrnehmungszentrum: Beschreiben Sie, welche Figur zu welchem Zeitpunkt im Erzählverlauf das Wahrnehmungszentrum darstellt.

11a.2.4 Inhaltlicher Standpunkt Bisher sind wir ausschließlich darauf eingegangen, wie das Verhältnis von Erzähler und Figuren beschrieben werden kann. Damit ist aber noch nicht beantwortet, welcher Inhalt durch die einzelnen Perspektiven in den Fokus gerückt wird. Was ist der inhaltliche Standpunkt einer Figur oder eines Erzählers? Die Exegese verfährt bisher zumeist so, dass nahezu ausschließlich die explizite Figurenrede und Erzählerkommentare berücksichtigt werden. Mit dem Gießener Anglisten Ansgar Nünning lässt sich die Perspektive einer Figur aber umfassender als subjektive Wirklichkeitserfahrung verstehen. Ähnlich wie bei realen Menschen bleibt auch bei den Figuren einer Erzählung die Wahrnehmung an zahlreiche individuelle Vorbedingungen geknüpft. Um

186

11. Texterklärung III – Narratologie

den Inhalt einer Perspektive zu bestimmen, muss „das System aller Voraussetzungen“7 geklärt werden, auf deren Grundlage eine Figur etwas wahrnimmt. Konkret bedeutet dies: Um den Inhalt einer Perspektive hinreichend zu bestimmen, sind nicht nur die expliziten Äußerungen und Gedanken in einem Text zu berücksichtigen, sondern alle Merkmale (→ Kap. 11b), die die Figur in ihrem Denken und Handeln beeinflussen und die der intendierte Rezipient erschließen kann und soll. Beispiel: Keine Übereinstimmung zwischen Figurenrede und Figurenstandpunkt (Mk 14,66–72) In der markinischen Verleugnungsszene (Mk 14,66–72 par) ist für den Rezipienten ersichtlich, dass das Sprechen und das Verhalten des Petrus durch die gegebene Konfliktsituation beeinflusst sind und nicht dem Figurenstandpunkt entspricht. Mit der Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane (14,43–49), der anschließenden Flucht seiner Anhänger (14,50–52) und dem nächtlichen Verhör vor dem Hohen Rat (14,53– 65) wurde eine entsprechende Bedrohungskulisse aufgebaut. Die anklagenden Worte der Magd (14,67b), ihr wiederholtes Insistieren (14,69) und die Einbeziehung der „Dabeistehenden“ (14,70) unterstreichen diese Gefährdung. Dementsprechend versucht Petrus der Gefahrenzone zu entgehen und zieht sich räumlich vom Hof in den Vorhof zurück. Zugleich wird sich der Rezipient in Mk 14 noch gut an das Bekenntnis des Petrus bei Cäsarea Philippi (8,29) erinnern. Deshalb wird er die bewusste Falschaussage des Petrus intuitiv auf seine Angst und sein Bedürfnis beziehen, nicht selber verhaftet und überstellt zu werden.

Selbst wenn sich eine Figur gar nicht äußert, kann man ihr aufgrund des Verhaltens häufig eine Meinung oder Überzeugung zuschreiben. Wird Jesus von einem Kranken aufgesucht, so setzt dies meist eine Haltung des Glaubens voraus. Methode: Analyse des inhaltlichen Figurenstandpunkts 1a. Die explizite Meinung notieren, die eine Figur(engruppe) in einem Erzählabschnitt über eine bestimmte Entität äußert (transponierte Rede, zitierte Rede). 1b. Aus dem Verhalten und anderen Figurenmerkmalen (z.B. soziale Stellung, Wissen) die implizit zu erschließende Meinung einer Figur rekonstruieren. 2a. Den inhaltlichen Standpunkt der Figur in Bezug zu anderen Episoden der Gesamterzählung setzen. Erweist sich der Standpunkt der Figur als konstant, inhaltlich konsistent oder widersprüchlich? 2b. Überprüfen, ob sich mögliche Widersprüche oder Inkonsistenzen durch äußere Umstände oder andere Figureneigenschaften erklären lassen, z.B. äußere Bedrohung, Charakter, Bedürfnisse/Wünsche usw.

7 A. Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots, Horizonte 2, Trier 1989, 71.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

187

11a.2.5 Perspektivenstruktur Eine gute Architektin wird bei der Planung eines Gebäudes auf wichtige Proportionen achten. Die Längen-, Breiten- und Höhenmaße eines Bauwerks, aber auch einer einzelnen Fassade oder eines kleineren Bauteils müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Ganz ähnlich ist es bei Erzählungen. Damit der Standpunkt einer Figur über den Erzählverlauf im Lesegedächtnis der Rezipienten bleibt, damit dieser Standpunkt im Wechselspiel mit anderen Figurenperspektiven hervorsticht und sich absetzt, kommt es ebenfalls auf das Verhältnis an. Eine einmalige Äußerung gerät schneller in Vergessenheit, als wenn eine Figur ihre Meinung fünfmal wiederholt. Und explizite Äußerungen bleiben stärker hängen als solche Meinungen und Überzeugungen, die sich der Rezipient indirekt aus dem Verhalten erschließen muss. Die Analyse der Perspektivenstruktur hat ihren besonderen Wert bei der Untersuchung des Gesamttextes. Auf das Markusevangelium angewendet, lässt sich erkennen, dass der Vorwurf der Blasphemie, den die religiösen Autoritäten gegenüber Jesus erheben, einen klaren Anfangs- (Mk 2,1–3,6) und Endpunkt (14,53–15,31) hat und dass der Erzähler darum bemüht ist, die Streitgespräche zwischen Jesus und den Autoritäten so über das Erzählganze zu verteilen und zu bündeln, dass der Konflikt im Bewusstsein der Rezipienten bleibt (Mk 3,22–30; 7,1–22; 11,27–12,34). In eingeschränkter Weise können die Analysekategorien aber auch auf kürzere Textabschnitte übertragen werden. In der folgenden Tabelle sind zwölf Analysekategorien festgehalten, die sich zur Untersuchung der Perspektivenstruktur anbieten.8 Analysekategorie 1. Anzahl 2. Heterogenität

Skalierung monoperspektivisch



polyperspektivisch

homogen



heterogen

9

3. Explizität

wenig konkretisiert



stark konkretisiert

4. Hierarchie

bei-/gleichgeordnet



über-/untergeordnet

ausgewogen



unausgewogen

5. Quantität

8 Vgl. zu den hier vorgestellten Analysekategorien ausführlich V. Nünning/A. Nünning, „Multiperspektivität – Lego oder Playmobil, Malkasten oder Puzzle?“ Grundlagen, Kategorien und Modelle zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte, Literatur in Wissenschaft und Unterricht 32 (1999), 367–388 (Teil 1) und 33 (2000), 59–84 (Teil 2). 9 Vera und Ansgar Nünning differenzieren an dieser Stelle noch einmal zwischen der Explizität der Figuren- und Erzählerperspektive. Wenngleich diese Differenzierung sicherlich dem forschungsgeschichtlichen Interesse an der Erzählerfigur entspricht, ist eine Unterscheidung in analytischer Hinsicht irritierend. Konsequenterweise müsste man dann auch bei den übrigen Kategorien jeweils zwischen Figuren- und Erzählerperspektiven differenzieren.

188

11. Texterklärung III – Narratologie

Analysekategorie

Skalierung

6. Erzählordnung

sukzessiv

alternierend

simultan

7. Zeitdimension

synchron



diachron

8. Raumdimension

monolokal



polylokal

9. Zuverlässigkeit

zuverlässig



unzuverlässig

10. Informiertheit

beschränkt



privilegiert

11. Normativität

äquivalent



nichtäquivalent

additiv

korrelativ

kontradiktorisch

12. Inhalt

Abb. 11a.6: Analysekategorien zur Untersuchung der Perspektivenstruktur





Anzahl und Heterogenität: In einem Erzählabschnitt kann es vorkommen, dass sich lediglich einer einzelnen Figur eine bestimmte Meinung oder Überzeugung zuschreiben lässt. Häufiger kommt es aber vor, dass sich mindestens zwei Figuren zu einer Sache oder Person äußern bzw. verhalten. Bei der Analyse der Anzahl ist festzuhalten, wie viele Perspektiventräger zu einem Ereignis, einer Figur, einer Aussage usw. eine Meinung haben. Bei der Analyse der Heterogenität wird hingegen bestimmt, ob die Wahrnehmungen, Meinungen und Überzeugungen der Perspektiventräger stark voneinander abweichen oder sich als (weitgehend) homogen erweisen. Explizität: Ein Figurenstandpunkt kann explizit geäußert werden (mittels Figurenrede/Erzählerkommentar) oder er ist lediglich implizit zu erschließen. Explizite Äußerungen bleiben eher in der Erinnerung der Rezipienten. Aufgabe: Anzahl, Heterogenität und Explizität der Figurenstandpunkte in Mk 2,1ff. 1. Bestimmen Sie, wie viele Figuren und Figurengruppen sich in Mk 2,1–12 ein Bild von der Person Jesu machen. 2. Erklären Sie, warum die Standpunkte in diesem Fall heterogen sind. 3. Bestimmen Sie die Explizität der einzelnen Figurenstandpunkte. Welche Standpunkte werden explizit – mittels Figurenrede – vermittelt? Welche sind lediglich implizit zu erschließen?



Quantität und Erzählordnung: Auch die Frage, wie häufig und an welchen Stellen des Erzählverlaufs eine Meinung oder Überzeugung artikuliert wird, ist mit entscheidend dafür, ob der Rezipient den Perspektiveninhalt im Lesegedächtnis behält. Ganz allgemein schenkt der Rezipient solchen Informationen, die am Anfang oder Ende thematisiert werden, mehr Aufmerksamkeit als anderen Informationen (= Primär-/Rezenzeffekt). Und häufig wiederholte Informationen bleiben eher im Bewusstsein hängen als einmal erwähnte Standpunkte. Darum lohnt es sich, auch bei der Analyse eines kürzeren Textabschnitts darauf zu achten, ob der eigene Erzählabschnitt am Anfang oder Ende platziert ist und ob sich die hier artikulierte Meinung oder Überzeugung an anderer Stelle wiederfindet.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

189

■ Zeit- und Raumdimension: Die Perspektiventräger eines Erzählabschnitts müssen nicht alle auf einer gemeinsamen zeitlichen und räumlichen Ebene angesiedelt sein. So ist denkbar, dass die Meinung bzw. Überzeugung vergangener Generationen zur Sprache gebracht wird oder eine spätere Erkenntnis in Form einer Prolepse vorweggenommen wird (vgl. Joh 2,22). Die Perspektiventräger können sich zudem an unterschiedlichen Orten aufhalten.

Methode: Analyse der Perspektivenstruktur 1. Beschreiben Sie die Perspektivenstruktur eines Erzählabschnitts, indem Sie die vorgestellten Analysekategorien (Anzahl, Heterogenität, Explizität, Quantität, Erzählordnung) auf Ihren Text anwenden und wichtige Auffälligkeiten herausstellen. 2. Geben Sie an, wie groß die Aufmerksamkeit ist, die die einzelnen Perspektiveninhalte im Lektüreprozess erhalten (Explizität, Quantität, Erzählordnung).

11a.2.6 Perspektivische Interaktion Erzählungen zeichnen sich, wie eingangs dargestellt, durch eine vergleichsweise geringere Unmittelbarkeit aus. Das hat zur Folge, dass der Standpunkt des Autors (der also indirekt vermittelt wird) zumeist nur aus dem Wechselspiel der Perspektiven erschlossen werden kann. Explizite Erzählerkommentare sind in Erzählungen – auch in neutestamentlichen – eine Seltenheit. Doch zu welcher eigenen Anschauung soll der Rezipient die vielen Einzelperspektiven einer Erzählung oder eines Erzählabschnitts zusammenfügen? Soll er eine Meinung oder Überzeugung für „wahr“ halten und die anderen als „falsch“ ansehen? Soll er die verschiedenen Blickwinkel im Kopf zusammenfügen – wie die diversen Ansichten auf ein Gebäude? Oder sind die Ansichten so widersprüchlich und unvereinbar, dass der Rezipient ratlos zurückgelassen wird und letztlich erkennen muss, dass alle Ansichten rein subjektiv bleiben? Auch wenn der Erzähler nur selten explizit seine Meinung äußert, kann er auf vielfältige Weise die Erzähladressaten in ihrer Wahrnehmung der Figurenstandpunkte beeinflussen. Bei der Analyse der perspektivischen Interaktion ist auf entsprechende Indikatoren zu achten: 1) Explizite und implizite Beurteilung (Erzähler): Dort, wo sich ein Erzähler mit expliziten Beurteilungen, d.h. Erzählerkommentaren in die Erzählung einschaltet, ist dies immer von hoher Relevanz und sorgt für eine große Eindeutigkeit. Im Johannesevangelium trifft man auf das sog. Motiv des Missverständnisses. Die Figuren deuten die Aussagen und Ankündigungen Jesu falsch. Diese Fehldeutungen werden vom Erzähler immer wieder explizit als solche benannt (vgl. etwa Joh 2,21; 11,13). Eine weitere, indirektere Möglichkeit der Beurteilung besteht darin, das Verhalten oder andere Figurenmerkmale zu kommentieren und die Figur dadurch auf- oder abzuwerten. Diese Beurteilung überträgt sich dann auf die Gesamtwahrnehmung einer Figur. Ganz ähnlich können sich auch die Kommentare anderer Figuren auswirken. Auch das

190

11. Texterklärung III – Narratologie

Schicksal, das eine Figur am Erzählende ereilt, kann Auskunft darüber geben, wie der Erzähler diese Figur und ihren Standpunkt bewertet. In Joh 21,15–17 erfährt Petrus in der Begegnung mit dem Auferstandenen eine Rehabilitation. Das Markusevangelium kündigt eine solche Begegnung mit Petrus lediglich an (Mk 16,7). Die abschließende erzählerische Beurteilung ist also unterschiedlich und dies, obwohl beide Erzählungen auf eine historische Person Bezug nehmen. 2) Zuverlässigkeit und Informationsverdoppelung: Die Zuverlässigkeit ist für die Perspektivenrezeption und die Beurteilung der einzelnen Perspektiven von großer Bedeutung, denn „[je] mehr die Verläßlichkeit einer Figuren- oder Erzählperspektive in Zweifel gezogen wird, desto mehr verliert sie an Gewicht (…).“10 Ob ein Rezipient eine literarische Figur für zuverlässig hält, hängt dabei nicht allein von der Erzählung ab, sondern auch vom Vorwissen der Rezipienten. Auf der Textebene können bereits logische Inkonsistenzen oder die autoreferenzielle Reflexion eines Perspektiventrägers über sein (unzureichendes) Wissen dazu führen, dass der Rezipient dessen Zuverlässigkeit in Zweifel zieht. 11 Ähnlich wie bei der Wahrnehmung realer Personen schätzt der Rezipient die Figuren und den Erzähler auf der Grundlage seiner Alltagspsychologie ein und überprüft über den Rezeptionsprozess hinweg seine Meinung. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit sind zudem das Weltwissen sowie die kulturellen Vorprägungen eines Rezipienten von Bedeutung. So wird der Leser skeptisch, wenn ein Sachverhalt anders dargestellt wird, als es seinem Weltwissen entspricht. Umgekehrt kann eine Figur von den Rezipienten als zuverlässig eingestuft werden, weil es sich um einen kulturell bzw. religiös akzeptierten Normträger handelt (z.B. Gott, Engel, Jesus). Ein weiteres erzählerisches Stilmittel ist die Informationsdoppelung bzw. -vervielfachung. Hierbei nehmen mehrere zuverlässige Perspektiventräger denselben oder einen inhaltlich weitgehend kongruenten Standpunkt ein. Dies sorgt dafür, dass die Zuverlässigkeit der einzelnen Perspektiven verstärkt wird. 3) Informiertheit: Aus dem Erzählverlauf lässt sich ableiten, ob die Überzeugung einer Figur auf einem umfassenden oder weitgehend eingeschränkten Wissen fußt. Aufgrund der Auferstehungskunde der beiden Engel (Lk 24,7) und seiner eigenen nachösterlichen Überzeugung weiß der Rezipient bei der Lektüre der Emmauserzählung, dass es der auferstandene Jesus ist, der die beiden Jünger begleitet (Lk 24,13–32). Der Begleiter wird auch vom Erzähler explizit als Jesus vorgestellt (V. 15). Das Wissen und die Wahrnehmung der beiden Jünger sind demgegenüber eingeschränkt. Das Bild, das sie sich von ihrem Begleiter machen, ist defizitär. In diesem Fall wird ihnen das durch die Offenbarung des Sohnes deutlich (V. 31.35) und sie erkennen, dass es der auferstandene Herr war, der auf dem Weg an ihrer Seite ging. 4) Inhalt: Die Meinungen und Überzeugungen einzelner Perspektiventräger können nicht nur im Widerspruch zueinander stehen oder identisch sein, sondern es ist auch an eine partielle Kongruenz zu denken. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, die inhaltlichen Überschneidungen zwischen den Perspektiven grafisch darzustellen (vgl. Demo). Um die inhaltliche Übereinstimmung einzelner Ansichten hinreichend zu beurteilen, muss bei biblischen Erzähltexten zumeist das textexterne Vorverständnis rekonstruiert und berücksichtigt werden. So erscheinen die Meinungen, die über den markinischen Jesus in der Bevölkerung und am Hofe des Herodes kursieren, nur aus 10

V. Nünning/A. Nünning, Multiperspektivität I, 384. Der umgekehrte Fall liegt in Lk 1,1–4 vor, wo die autoreferenzielle Reflexion des Erzählers die Zuverlässigkeit der folgenden Darstellung betonen soll. Er hat die Ereignisse von Anfang an sorgfältig recherchiert. 11

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

191

heutiger Sicht weit auseinanderzuliegen. Die einen halten Jesus für einen (endzeitlichen) Propheten. Die anderen erkennen in ihm den wiedergekommenen Elia. Und Herodes meint, Jesus sei der auferstandene Johannes (Mk 6,14–16). Da Johannes jedoch zuvor dem Äußeren nach als Prophet vorgestellt wurde (Mk 1,7) und Elia im Frühjudentum (neben Mose) als endzeitlicher Prophet par excellence galt, sind die Vorstellungen durchaus miteinander verwandt. Es steht die Frage im Raum, ob Jesus mit einem der endzeitlichen Propheten gleichzusetzen ist. Eine Überzeugung, die im weiteren Erzählverlauf verneint wird (Mk 8,27–29).

Demo: Perspektiven auf den auferstandenen Jesus in Mt 28 In Mt 28 stehen mehrere Überzeugungen zur Person Jesu nebeneinander, die Jesu Kreuzigung, seine Auferstehung und sein Erscheinen in Galiläa betreffen (Abb. 11a.7):12

Jesus wurde gekreuzigt

Jesus wurde gestohlen

Jesus ist auferstanden

Jesus ist in Galiläa erschienen

Überzeugungen des Engels, der Jünger Überzeugungen der Hohenpriester, der Wachen Überzeugungen unter den Juden (V. 15)

Abb. 11a.7: Unterschiedliche Meinungen über die Person Jesu in Mt 28

Betonung findet dabei insbesondere die in V. 15 explizit thematisierte Überzeugung „unter den Juden“, dass der Leib Jesu von seinen Jüngern in der Nacht gestohlen worden sei. Diese Überzeugung erhält durch ihre Endstellung und die Ausführlichkeit des Dialogs (V. 11f.: Redebericht; V. 13f.: direkte Rede) zwischen den Wachen und den jüdischen Autoritäten die besondere Aufmerksamkeit des Rezipienten. Da die Schilderung mit dem Hinweis endet, dass die Juden bis „zum heutigen Tag“ an dieser Überzeugung festhalten, lässt sich vermuten, dass die Leugnung der Auferstehung Jesu für den Rezipienten eine wichtige Bedeutung besitzt. Vermutlich sieht sich der Rezipient mit ähnlichen Vorwürfen seiner jüdischen Umwelt konfrontiert und ist daran interessiert, die „wahre“ Geschichte der Auferstehung Jesu zu erfahren. Die Bestechung der Wachen (V. 12) und deren Annahme des Bestechungsgeldes (V. 15) lassen erkennen, dass keine der beiden Parteien von einem tatsächlichen Diebstahl des Leichnams überzeugt ist, sondern dass die Öffentlichkeit bewusst falsch informiert werden soll. Das Gespräch dient der moralischen Disqualifizierung der Perspektiventräger. 13 Um die

12

Abb. aus Finnern* 389. Bereits in Mt 27,62–66 erfolgt durch die Beauftragung der Wachen eine moralische Disqualifizierung, weil die Autoritäten entgegen ihres eigenen Wertesystems am Sabbat poli13

192

11. Texterklärung III – Narratologie

Wachen zur Mithilfe zu überreden, soll zugleich einer möglichen Bestrafung durch Pilatus entgegengewirkt werden (V. 14). Die Autoritäten versuchen hierdurch, die Wachen für ihre Lüge zu gewinnen und der Rezipient wird diese Überzeugung dadurch als „falsche“ Sichtweise erkennen. Wenngleich die Überzeugung der Juden im Mittelpunkt des Interesses steht, so wird diese vom Erzähler eindeutig als bewusste Desinformation dargestellt. Die religiösen Autoritäten wissen ebenso wie die Wachen, die Jünger (Mt 28,16–18) und der Engel, dass Jesus – gemäß seiner vorherigen Ankündigung – auferstanden ist. Diese Überzeugung erhält auch durch die textextern begründete Zuverlässigkeit der Perspektiventräger eine Bestätigung. Dass die Darstellung des Engels (V. 5–7) als unzuverlässig eingestuft werden soll, widerspricht der allgemeinen Erwartung, die der Rezipient im Hinblick auf ein solches himmlisches Wesen hat. Zudem ist von einer Informationsdoppelung zu sprechen, weil Jesus – als weiterer zuverlässiger Perspektiventräger – seine Auferstehung im vorherigen Erzählverlauf mehrfach angekündigt hat (vgl. Mt 16,21; 17,22f.; 20,17–19). Ohnehin ist anzunehmen, dass der Rezipient aufgrund seines nachösterlichen Standpunkts und der frühchristlichen Bekenntnisse von der wahrhaftigen Auferstehung Jesu überzeugt ist (1 Kor 15,4; vgl. Lk 24,34) und seine eigene Überzeugung durch das Erzählte bestätigt wird.

11a.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Erklären Sie, was man unter einer asymmetrischen Verteilung der Erzählebenen versteht und geben Sie hierfür ein Beispiel. 2. Nennen Sie die fünf Modi der Figurenrede und ordnen Sie diese den beiden Polen (Erzählerdominanz – Figurendominanz) zu. 3. Erklären Sie, warum es nicht reicht, den Standpunkt des Erzählers aus dessen expliziten Kommentaren zu erheben. 4. Nennen Sie zwei erzählerische Mittel, mit denen ein Erzähler eine Figur und deren Standpunkt schwächen bzw. disqualifizieren kann.

tisch aktiv werden. Wird hier zugleich mittels direkter Rede an Jesu Auferstehungsankündigung erinnert und mit einem potenziellen Diebstahl des Leichnams gerechnet, so wirkt sich dies spannungssteigernd aus und lenkt die Aufmerksamkeit auf den nachfolgenden Auferstehungsbericht bzw. die bewusste Lüge der Autoritäten. Zugleich ist eine Entwicklung des Figurenstandpunkts zu erkennen. In Mt 27,62–66 rechnen die Autoritäten noch nicht mit Jesu Auferstehung. Erst der Bericht der Wachen überzeugt sie.

a) Wie beschreibt man die Erzählperspektive?

193

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ die Erzählebenen einer Erzählung bestimmen und deren Symmetrie beschreiben; ■ auf differenzierte Weise die Beteiligung des Erzählers beschreiben; ■ fünf Submodi der Figurenrede unterscheiden und die Distanz zwischen Erzähler und Figuren analysieren; ■ die Innenperspektive und das Wahrnehmungszentrum untersuchen; ■ unter Berücksichtigung expliziter und impliziter Textinformationen die inhaltliche Perspektive einer Figur bestimmen; ■ die Perspektivenstruktur in einer Erzählung beschreiben und angeben, wieviel Aufmerksamkeit einzelne Perspektiveninhalte im Rezeptionsprozess erhalten; ■ die perspektivische Interaktion beschreiben und dabei analysieren, wie sich der Erzähler beurteilend in die Erzählung einmischt und die Meinung seiner Rezipienten beeinflusst. Sie kennen jetzt … ■ erzählwissenschaftliche Fachbegriffe zur Beschreibung der Perspektive.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie für sich erkennen und wo sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, welchen analytischen Mehrgewinn es hat, bei der Analyse des Perspektiveninhalts nicht nur explizite Informationen zu berücksichtigen, sondern das umfassende mentale Modell der Figuren.

11a.3 Literatur 11a.3.1 Exegetische Methodenlehren Ebner/Heininger* 81–86, Söding* 146–148, Utzschneider/Nitsche* 161–165.170–173.

11a.3.2 Erzählwissenschaftliche Einführungen in die Perspektivenanalyse Genette* 115–188; Chatman* 151–158; vgl. Martinez/Scheffel* 27–107; Finnern* 164–186. Bal, M., Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto (1985) 21997. Fludernik, M., Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006. Jahn, M., Art. Focalization, in: RENT*, 173–177. Lahn, S./Meister, J.Chr., Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar 2008. Neumann, B./Nünning, A., An Introduction to the Study of Narrative Fiction, Anglistik|Amerikanistik, Stuttgart 2008. Niederhoff, B., Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz, Poetica 33 (2001), 1–22. Quinkertz, U., Zur Analyse des Erzählmodus und verschiedener Formen von Figurenrede, in: P. Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse, Trier 2004, 141–161. Stanzel, F.K., Theorie des Erzählens, UTB 904, Göttingen (1979) 61995. (bes. 68–239)

194

11. Texterklärung III – Narratologie

Strasen, S., Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung, in: P. Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse, Trier 2004, 111–140. Surkamp, C., Art. Perspective, in: RENT*, 423–425. Surkamp, C., Die Perspektivenstruktur narrativer Texte. Zu ihrer Theorie und Geschichte im englischen Roman zwischen Viktorianismus und Moderne, ELCH 9, Trier 2003. Uspenskij, B.A., Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform, Ed. Suhrkamp 673, Frankfurt a.M. 1975. (17–116)

11a.3.3 Exegetische Studien und beispielhafte Durchführungen Pramann, S., Point of View im Markusevangelium. Eine Tiefenbohrung, EHS.T 887, Frankfurt u.a. 2008. Yamasaki, G., Perspective Criticism. Point of View and Evaluative Guidance in Biblical Narrative, Eugene 2012. Yamasaki, G., Watching a Biblical Narrative. Point of View in Biblical Exegesis, New York/London 2007.

11b Figurenanalyse Leitbegriffe mentales Modell, Figurensynthese, Figurenmerkmale, Figurenkonzeption (Kohärenz, Dynamik, Dimensionalität, Konventionalität, Transparenz), Figurenkonstellation, Hauptfigur, Nebenfigur, Randfigur, Handlungsrollen

11b.1 Einführung: Figuren als mentales Modell Sonntagabend, 20.15 Uhr: Tatortzeit. Millionen Zuschauer fiebern bei der Verbrecherjagd mit und versuchen vom Sofa aus dem Mörder das Handwerk zu legen. Viel Menschenkenntnis und Alltagspsychologie ist bei der „Polizeiarbeit“ gefragt: Was könnte den Mörder zu seiner Tat veranlasst haben? Warum verschweigt die Zeugin ganz offensichtlich wichtige Details? Versucht sie jemanden durch ihre Falschaussage zu decken oder schweigt sie aus Angst? Und die Kommissarin: Warum reagiert sie diesmal auf alles so aggressiv? Sie ist doch sonst immer der gelassene Typ …! Ein wesentlicher Reiz des sonntäglichen „Tatorts“ besteht gerade darin, dass die Zuschauer auf vielfältige Weise in den Fall involviert sind. Oder anders formuliert: Der Reiz des Tatorts besteht vor allem in dem, was sich zwischen den Charakteren auf der Mattscheibe und den Zuschauern auf dem Sofa ereignet. Und diese Rezeptionsprozesse sind keineswegs zufällig. Ein gut gemachter Tatort setzt bestimmte Zuschauererwartungen voraus und spielt mit diesen. So wird das Fernsehpublikum auf eine falsche Fährte gelockt, indem das Verhalten einer Figur zunächst besonders verdächtig erscheint. Oder der wahre Täter bleibt von den Zuschauern unerkannt, weil dieser aufgrund seines Verhaltens oder seiner Persönlichkeit besonders sympathisch erscheint. Was beim wöchentlichen „Tatort“ zweifelsohne besonders gut umgesetzt wird, gilt letztlich für jede Erzählung. Figuren lassen sich nie allein auf das explizit Gezeigte reduzieren. Auch literarische Figuren sind nie als bloße Textstruktur zu begreifen, sondern als mentales Modell. So ergänzen Rezipienten das Erzählte imFigur mer durch ihre Menschenkenntnis, ihre Alltagspsychologie, als mentales ihre literarischen oder historischen Vorkenntnisse und vieModell les mehr. Sie leiten z.B. aus einem Verhalten oder auch aus dem äußeren Aussehen eine bestimmte Charaktereigenschaft oder Motivation ab. Der Filmwissenschaftler Jens Eder spricht diesbezüglich zutreffend von einer Figurensynthese. Diese Prozesse der Figurensynthese laufen weitgehend in Analogie zur Wahrnehmung realer Personen ab:

196

11. Texterklärung III – Narratologie

„Readers by default assume that they will encounter real-life characters and make a concerted effort to fill in the schematic gaps to produce human-like constructs.“ 1

Während Figuren innerhalb einer strukturalistischen Erzählwissenschaft lange Zeit nur auf ihr Verhältnis zur Handlung reduziert und als reine Textstrukturen betrachtet wurden, ermöglicht der kognitive Zugang eine weitaus umfassendere Analyse – auch für den Bereich neutestamentlicher Erzählungen: ■





Implizite Figurenmerkmale werden berücksichtigt: Die Figurenanalyse lässt sich nicht allein auf explizit erwähnte Figurenmerkmale reduzieren. Gegenstand der Analyse ist das umfassende mentale Modell einer Figur, das sich erst aus a) sämtlichen Textinformationen, b) dem Lektüreprozess und c) den diversen Vorkenntnissen der Rezipienten ableiten lässt. Figurenmerkmale werden historisch und anhand nachvollziehbarer Kriterien erschlossen: Um die genauen Schlussfolgerungsprozesse der intendierten Rezipienten zu rekonstruieren, müssen alle zum Verstehen notwendigen Vorkenntnisse, d.h. die entsprechenden frames und skripts, historisch erhoben werden. Demgegenüber fällt auf, dass man innerhalb der Exegese noch häufig intuitiv vorgeht. Ausleger projizieren nicht selten ihre heutige Alltagspsychologie in die Texte hinein. Es wird stärker berücksichtigt, dass Figuren über den Handlungsverlauf hinweg wandelbar sind: Im Unterschied zum innerexegetischen Diskussionsstand ist stärker zu differenzieren, ob das aktuelle Modell einer Figur untersucht werden soll, das der Rezipient zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lektüreprozesses herausgebildet hat (z.B. der Mann ist zu diesem Zeitpunkt verdächtig) oder ob das abschließende Modell einer Figur von Interesse ist, das die Rezipienten am Erzählende im Gedächtnis haben (z.B. der Gärtner war tatsächlich der Mörder).

11b.2 Methode Im Folgenden stellen wir Ihnen vier Untersuchungsbereiche der Figurenanalyse vor (11b.2.1-2.4). Prinzipiell können diese Bereiche weitgehend unabhängig voneinander untersucht werden; d.h. es ist im Zuge der Exegese abzuwägen, welche Analyse dem eigenen Forschungsinteresse dient. Methode der Figurenanalyse (11b.2.1–2.4) 1. Figurenbestand: Den Figurenbestand des Textes bestimmen. 2. Figurenmerkmale und -konzeption: a. Die Merkmale, die die Rezipienten einer Figur zuschreiben sollen, rekonstruieren, b. die Merkmale gewichten (wichtige Merkmale/Nebenmerkmale) und c. auf Grundlage der Merkmale und ihrer Gewichtung die Figurenkonzeption beschreiben.

1

M. Bortolussi/P. Dixon, Psychonarratology. Foundations for the Empirical Study of Literary Response, Cambridge u.a. 2003, 152f.

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?

197

3. Figurenkonstellation: Das Verhältnis der Figuren zueinander analysieren. Hierbei können die Beziehungen auch grafisch abgebildet werden. 4. Figur und Handlung: a. Figuren nach ihrer Wichtigkeit für die Erzählung sortieren und klassifizieren sowie b. Handlungsrollen bestimmen und illustrieren.

11b.2.1 Figurenbestand Bei der Analyse des Figurenbestandes geht es zunächst darum, die in einer Episode oder Erzählung vorkommenden Figuren aufzulisten. Dieser Methodenschritt hat oft eine vorbereitende Funktion, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Bei dieser Bestimmung darf der Begriff der „Figur“ nicht zu eng gefasst und allein auf menschliche Personen reduziert werden. Als Figur lassen sich vielmehr alle Entitäten einer Erzählung begreifen, denen die Rezipienten die Möglichkeit intentionalen Handelns zuschreiben Was ist eine Figur? können. Es reicht aus, „daß die Figur aufgrund ihrer Merkmale einer Klasse von Wesen zugeordnet wird, die im kulturellen Wissen als prinzipiell handlungsfähig angesehen wird.“2 Diese kognitive Definition des Figurenbegriffs umschließt Tiere und Fabelwesen ebenso wie transzendente Entitäten (Gott3, Heiliger Geist, Engel, Satan) oder sogar personifizierte Gegenstände, Ideen und Naturgewalten. Außerdem gehören zum Figurenbestand auch all jene Figuren, die lediglich Gegenstand eines Gesprächs oder eines Gedankengangs sind. Solche Äußerungen über eine Figur können sogar sehr entscheidend für die Interpretation sein: Obwohl sich im Markusevangelium keine Episode findet, in der der auferstandene Jesus auftritt, ist das Ereignis der Auferstehung von zentraler Bedeutung für das Personenverständnis. Die entsprechende Botschaft des Engels am Grab (Mk 16,7) ist unbedingt zu berücksichtigen! Aufgabe: Schlagen Sie bei Lukas die Episode von der Versuchung Jesu auf (Lk 4,1–12). Notieren Sie alle Figuren, die in diesem Text vorkommen!

2 F. Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Narratologia 3, Berlin/New York 2004, 120. 3 Vgl. den Sammelband U.E. Eisen/I. Müllner (Hgg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016.

198

11. Texterklärung III – Narratologie

11b.2.2 Figurenmerkmale und -konzeption a. Merkmale rekonstruieren Um das mentale Modell einer Figur möglichst umfassend zu rekonstruieren, ist es hilfreich, sich auf systematischem Wege alle Merkmale vor Augen zu führen, auf die Rezipienten im Lektüreprozess achten können. Die folgende Liste bietet einen solchen Überblick:4 Nr.

Merkmal Wahrnehmung

Analysefrage

1 2

Gefühle

Welche Gefühle sollen der Figur zugeschrieben werden?

3

Standpunkte

Welche Werte, Normen und Meinungen sollen bei der Figur angenommen werden?

4

äußerliche Attribute

Welche äußerlich sichtbaren Eigenschaften sollen der Figur zugeschrieben werden?

5

soziokulturelles Umfeld

In welchem soziokulturellen Umfeld soll die Figur verortet werden?

6

Wissen

Welches Wissen soll bei der Figur vorausgesetzt werden?

7

Pflichten

Welche (eigenen/fremden) Pflichten sollen bei der Figur angenommen werden?

8

Wünsche/ Bedürfnisse

Welche grundlegenden Wünsche sollen bei der Figur vermutet werden? Welche Bedürfnisse sollen bei der Figur vorausgesetzt werden?

9

Charakter

Welche Charaktereigenschaften sollen der Figur zugeschrieben werden?

10

Verhalten

Welche Verhaltensweisen sollen erschlossen und von der Figur erwartet werden?

11

Motivation

Auf welche Motivationen soll bei einer konkreten Handlung der Figur geschlossen werden?

Welche sinnlichen Wahrnehmungen sollen der Figur zugeschrieben werden?

Tab. 11b.1: Arten von Figurenmerkmalen (im mentalen Modell des Rezipienten)

1) Wahrnehmung: Die Frage, was Figuren in einer Erzählung mit ihren Sinnen wahrnehmen (oder auch nicht), wird in exegetischen Kommentar bereits häufig diskutiert. Leider erfolgt die entsprechende Analyse des Figurenerlebens jedoch – wie eingangs erwähnt – noch meist intuitiv. Etwas systematischer geht man vor, wenn bei der Analyse folgende Aspekte berücksichtigt werden:

4 Chatman* 120–123 versteht unter character traits lediglich die Charaktereigenschaften einer Figur (hier: Nr. 9). Ausführlicher ist bereits die Merkmalliste bei Eder* 300: Wahrnehmungen, Kognition, Emotion, Motivation. Zur hier vorgestellten Merkmalliste vgl. Finnern* 134–143.

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung? ■





199

Äußere Situation: Lässt sich aus der explizit beschriebenen oder indirekt vorausgesetzten Situation ableiten, dass die Wahrnehmung einer Figur eingeschränkt ist (z.B. durch äußere Bedrohung, innere Unruhe, Sichtverhältnisse)? Schlussfolgerungen: Welchen Eindruck hat der Rezipient über den bisherigen Lektüreprozess hinweg von einer Figur bekommen? Wurde die Figur zuvor als (un)aufmerksam charakterisiert? Textexternes Wissen: Eine Figur kann bereits aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Alters und anderer Eigenschaften als zuverlässig oder unzuverlässig eingestuft werden. Im Neuen Testament sind der Erzähler, die Figur Gottes und die Figur Jesu immer zuverlässige Perspektiventräger. Aufgabe: Lesen Sie die Episode Mk 8,14–21. Obwohl Jesus seine Jünger in 8,15 deutlich ermahnt, bleibt im Folgenden eine Reaktion der Jünger aus. Peter Dschulnigg bemerkt in seinem Kommentar hierzu: „Die Jünger scheinen die eindringliche Warnung Jesu zu überhören“ (P. Dschulnigg, Das Markusevangelium, ThKNT 2, Stuttgart 2007, 223). Listen Sie Argumente auf, die für oder gegen diese Interpretation sprechen! Beziehen Sie abschließend Stellung zu Dschulniggs These.

2) Gefühle: Die explizite Nennung von Gefühlen ist sowohl in biblischen als auch außerbiblischen Erzählungen eher die Ausnahme (vgl. z.B. Mt 10,17– 27). Die intendierten Rezipienten tragen Gefühle meist in die Erzählung ein. Dieser Vorgang lässt sich als „emotionale Perspektivenübernahme“5 beschreiben, d.h. die Rezipienten versetzen sich automatisch in die Lage einer Figur und empfinden aufgrund ihrer eigenen Wirklichkeitserfahrung nach, was diese spürt. Genauere Rückschlüsse können die Rezipienten vor allem aus dem Verhalten und den äußeren Eigenschaften ziehen. Auch Aussagen zur Mimik, Gestik und Körperhaltung, sofern diese in Erzählungen genannt werden oder indirekt zu erschließen sind, können beim Nachvollziehen von Gefühlen hilfreich sein. Es ist aber unbedingt zu beachten, dass sowohl die eigentlichen Gefühle als auch die äußeren Ausdrucksweisen eines Gefühls kulturell variabel sind.6 Bei der Interpretation der Figur im Rahmen der Exegese sollte man sich bewusst sein, dass die heutigen Gefühlszuschreibungen aufgrund unserer eigenen Alltagspsychologie von den damals intendierten Inferenzprozessen abweichen können. 3) Standpunkte: Figuren haben ebenso wie der Erzähler einen Standpunkt zu einzelnen Ereignissen und Vorgängen der Erzählung. Sie verfügen über eine eigene Meinung und vertreten bestimmte ethische Normen und Werte. Der Standpunkt einer Figur muss dabei nicht explizit zum Ausdruck gebracht werden, sondern lässt sich oftmals aus dem beschriebenen Verhalten ableiten.

5 R.K. Silbereisen/L. Ahnert, Soziale Kognition, in: R. Oerter/L. Montada (Hgg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel/Berlin 52002, 590–618, hier 598. 6 So auch P. von Gemünden, Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA/StUNT 73, Göttingen 2009, bes. 14.

200

11. Texterklärung III – Narratologie

Aufgrund ihres textexternen Vorwissens schreiben die Rezipienten auch Personen, die einem bestimmten soziokulturellen Umfeld angehören, bestimmte Standpunkte zu. 4) Äußere Attribute: Die äußeren Eigenschaften einer Figur betreffen nicht nur das Aussehen und Geschlecht, sondern z.B. auch die Kleidung oder das Alter einer Figur. Obwohl solche Attribute im Neuen Testament nur äußerst selten explizit beschrieben werden (vgl. Lk 3,23), besitzen die Rezipienten auch diesbezüglich sehr konkrete Vorstellungen, z.B. wissen sie um das Aussehen eines römischen Centurios. Dieses Bild leitet sich aus dem Vorwissen der Rezipienten, dem soziokulturellen Umfeld der Figur sowie der Charakterbeschreibung oder auch bestimmten Verhaltensweisen ab. 5) Soziokulturelles Umfeld: So wie sich reale Menschen immer in einem oder mehreren sozialen Kontexten bewegen und das Menschsein auf Sozialität hin angelegt ist, lassen sich auch Figuren in sozialen Zusammenhängen verorten, z.B. durch ihren Beruf als Fischer oder Zöllner. Das Verhältnis zu einem sozialen Kontext wird nicht allein durch physische Verhaltensweisen zum Ausdruck gebracht, sondern kann sich auch in der Sprache, den Werten oder einzelnen Statussymbolen widerspiegeln. 6) Wissen: Was eine Figur weiß oder nicht weiß, erschließen sich die Rezipienten nicht allein auf der Grundlage expliziter Aussagen. Vielmehr ziehen sie ihre Rückschlüsse aus dem Verhalten einer Figur sowie aus dem bisherigen Erzählverlauf. Zudem rechnen die Rezipienten damit, dass sie bei Figuren das allgemeine Weltwissen ihrer Zeit und Kultur voraussetzen können, v.a. wenn die Figur als interessiert dargestellt wird oder aufgrund ihrer sozialen Stellung als gebildet gelten kann. 7) Pflichten: Figuren unterliegen impliziten oder expliziten Pflichten. Sie müssen den Werten und Normen der erzählten Welt entsprechen oder einer konkreten Beauftragung folgen. Hierzu zählen auch Selbstverpflichtungen, die sich eine Figur auferlegt. Solche Pflichten sind für den Handlungsverlauf meist entscheidend, insofern hierdurch Konflikte angebahnt werden: etwa dort, wo sich eine Person zwischen eigenen Wünschen und Pflichten aufreibt oder eine Pflicht zwangsläufig zur Konfrontation mit anderen Figuren führt. Der Pflichtenkatalog einer Figur beeinflusst zudem die moralische Beurteilung durch die Rezipienten: Sind die Pflichten einer Figur aus Sicht der Leser nachvollziehbar, edel und erstrebenswert? 8) Wünsche/Bedürfnisse: Stärker als bei den Pflichten lassen sich mit dem Begriff „Wunsch“ alle körperlichen, sozialen, emotionalen und ästhetischen Bedürfnisse einer Figur bezeichnen. Auch hier gibt es meist neben explizit geäußerten Wünschen implizite Bedürfnisse, die von den Rezipienten erschlossen oder aufgrund einer bestimmten Situation vorausgesetzt werden. Im Kontext der Versuchungserzählung vermuten die Rezipienten, dass Jesus nach 40 Tagen von unsagbarem Hunger geplagt ist, ohne dass dies explizit thematisiert werden müsste.

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?

201

9) Charakter: Der Blick in das Innere von Figuren und die Auseinandersetzung mit ihrer Persönlichkeit machen einen wesentlichen Reiz des Lesens, Zuhörens und Erzählens aus. Allerdings werden in Erzählungen wiederum nur selten direkte Hinweise auf die Charaktermerkmale einer Figur gegeben. Methodisch angemessener ist es, die Persönlichkeitsattribute über das Verhalten, die Figurenrede (Themen, Sprachstil), äußerliche Attribute sowie die soziokulturelle Verortung der Figur zu erschließen. Bei der eigentlichen Erklärung ist man wiederum auf die Rekonstruktion des historischen Vorwissens der Rezipienten angewiesen: Welche Charaktereigenschaften leitete man in der Antike aus einem bestimmten Verhalten ab? Was galt als mutig, ehrbar usw.? 10) Verhalten: Figuren werden durch ihr jeweiliges Verhalten innerhalb einer Szene oder einer Episode (einmaliges Verhalten) sowie ihre längerfristigen Verhaltensweisen (habitualisiertes Verhalten) charakterisiert. Die Rezipienten achten jedoch nicht allein auf das tatsächlich beschriebene Verhalten, sondern versuchen immer zugleich die folgende Handlung zu antizipieren, indem sie im Vorfeld auf ein bestimmtes Verhalten spekulieren. Insbesondere die Pflichten, Wünsche/Bedürfnisse, Motivationen sowie die sozialen Stellung und der Charakter können hier hilfreiche Indizien bieten. Ein Erzähler kann mit solchen Erwartungen spielen, indem die Figuren abweichend vom erwarteten Verhalten agieren, z.B. der barmherzige Samariter (Lk 10,33–35). 11) Motivation: Die Motivation ist als „Schnittstelle zwischen Figur und Handlung“7 ein wichtiger Untersuchungsgegenstand. Es gilt die Frage zu beantworten, was eine Figur in ihrem Handeln antreibt. Um dies zu ergründen, können die Rezipienten sowohl auf die Informationen des bisherigen Erzählverlaufs (‚Kausalgeschichte‘8) zurückgreifen als auch auf ihre Alltagspsychologie (Psychische Gründe). Außerdem kann ein Verhalten durch bestimmte Ermöglichungsfaktoren begünstigt werden, weil z.B. entsprechende geografische, biologische, politische oder ethnische Rahmenbedingungen vorausgesetzt sind.9 Mit Hilfe von Bertram Malles10 Modell alltagspsychologischer Motivationen lässt sich das konkrete Zusammenspiel dieser Faktoren wie folgt veranschaulichen:

7

Eder* 428. Unter ‚Kausalgeschichte‘ (Malle) lassen sich alle kausal zusammenhängenden Ereignisse verstehen, die die Situation erklären, aus der eine Figur heraus handelt. 9 Vgl. Eder* 194: „Die mentalen Dispositionen, mit denen wir die Welt und andere Menschen erfassen, fügen sich zu impliziten ‚Alltagstheorien‘, die sich in Aussagen und Verhaltensweisen manifestieren und die man daraus rekonstruieren kann. […] Solche naiven ‚Theorien‘ betreffen den gesamten Bereich physischer, psychischer und sozialer Eigenschaften, man könnte also von einer Alltagsphysik, Alltagsbiologie, Alltagssoziologie und Alltagspsychologie sprechen.“ 10 Vgl. B.F. Malle, How People Explain Behavior. A New Theoretical Framework, Personality and Social Psychology Review 3.1 (1999), 23–48, dazu Finnern* 141 (dort erweitert). 8

202

11. Texterklärung III – Narratologie Psychische Gründe

Intention

Kausalgeschichte

Verhalten

Ermöglichungsfaktoren

Abb. 11b.2: Faktoren der Figurenmotivierung

Beispiel: Motivation des geheilten Geraseners in Mk 5,18 In Mk 5,18 bittet der geheilte Gerasener darum, Jesus nachfolgen zu dürfen. Joachim Gnilka vermutet, dass der Geheilte aus Furcht agiere (= psychischer Grund), weil „die Bevölkerung nicht bereit sein wird, ihn zu integrieren“ (J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 206). Diese Interpretation ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Nicht der Geheilte wird für den Verlust von 2000 Schweinen verantwortlich gemacht (=Kausalgeschichte), sondern Jesus (V. 17). Der Aufruf Jesu, dass der Gerasener in sein Haus zurückkehren solle (V. 19), impliziert zudem, dass eine Integration durchaus erwartet wird. In V. 20 erfahren wir zudem von der Verkündigungstätigkeit des Geraseners, ohne dass hier von Repressalien berichtet würde. Naheliegender ist es das Verhalten auf die erfahrene „Wohltat“ (= Kausalgeschichte) und den Glauben des Mannes (= psychischer Grund) zurückzuführen. Jesu Überfahrt stellt sodann einen Ermöglichungsfaktor dar und bietet dem Geheilten die vermeintliche Chance, seiner Intention entsprechend, bei Jesus zu bleiben (V. 18). Die Nachfolge wird bei Markus auch sonst als Ausdruck eines vorbildlichen Glaubens gewürdigt (vgl. 1,17f.; 2,14; 3,7; 10,52; als Leidensnachfolge: 8,34–38; 10,21; 10,28–31).

b. Merkmale gewichten (wichtige Merkmale/Nebenmerkmale) Theoretisch können alle gerade skizzierten Figurenmerkmale für die Analyse eines Textabschnitts oder einer Gesamterzählung relevant sein. Faktisch schenken die Rezipienten aber keineswegs allen Merkmalen gleich viel Aufmerksamkeit. Im Zuge einer wissenschaftlichen Interpretation ist es daher geboten, die einzelnen Merkmale nach ihrer Bedeutung zu gewichten.11 Wichtige Merkmale sind jene Eigenschaften, die die besondere Aufmerksamkeit der intendierten Rezipienten erhalten sollen und die prominenter im Lesegedächtnis gespeichert werden. Konkret sind dies solche Merkmale, die ■ ■

im Zuge der Erzählung häufig wiederholt werden,12 zu Beginn und am Ende erwähnt werden bzw. dort von den Rezipienten zu erschließen sind (Primär-/Rezenzeffekt),

11 Tatsächlich können in verschiedenen Praxisfeldern, wie z.B. im Religionsunterricht, andere Figurenmerkmale für die Anwendung relevant sein (→ Kap. 14). 12 Auch hier sind nicht nur explizite Merkmalsnennungen zu berücksichtigen, sondern auch implizite Merkmale, die immer wieder vorkommen (z.B. die Motivation hinter Jesu Schweigegeboten im Markusevangelium).

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung? ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

203

der Erschließung weiterer Eigenschaften dienen, d.h. die innerhalb eines Merkmalsystems eine Art Persönlichkeitskern13 bilden, durch perspektivische Mittel in den Vordergrund gerückt werden (z.B. durch „Informationsverdoppelung“ 14), eine wichtige Funktion bei der Erschließung der Handlung besitzen, aus Sicht der Rezipienten mit starken Emotionen und Werten belegt sind, überraschend wirken und zu einer differenzierteren Betrachtung der Figur herausfordern, im Vergleich mit anderen Figuren hervortreten (→ 11b.2.3), explizit erwähnt werden.

Je mehr Kriterien auf ein einzelnes Merkmal zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Rezipienten diese Eigenschaft mit einer Figur assoziieren und über den Lektüreprozess längere Zeit im Gedächtnis behalten. c. Figurenkonzeption beschreiben Auf der Grundlage der einzelnen Merkmale sowie deren Gewichtung lässt sich abschließend die Figurenkonzeption beschreiben. Vielleicht ist Ihnen aus dem Englisch- oder Deutschunterricht noch die Differenzierung zwischen einem flat character und einem round character geläufig.15 Allerdings ist diese Einteilung noch vergleichsweise grob. Außerdem werden hier mehrere Kategorien miteinander vermischt. Eine stärkere Ausdifferenzierung bieten folgende Analysekategorien: ■



13

Kohärenz: Dort, wo in einer neutestamentlichen Erzählung eine Figur mehr als einmal auftritt, lässt sich analysieren, ob die Darstellung kohärent ist oder ob sich Widersprüche ergeben. Das Johannesevangelium ist in seinen Porträts zumeist um eine kohärente Darstellung bemüht (z.B. bei der Figur des Nikodemus). Im Unterschied hierzu wird im Markusevangelium zwar von der Nachfolge des Bartimäus berichtet (Mk 10,52), aber im nachfolgenden Passionsbericht scheint die Anwesenheit des einstigen Bettlers nicht mehr vorausgesetzt zu werden. Aufgrund des Tradierungsprozesses (→ Kap. 5: Analyse der Vorgeschichte) ist in neutestamentlichen Erzählungen prinzipiell mit stärkeren Inkohärenzen zu rechnen. Dynamik: Es lässt sich auch untersuchen, ob die Merkmale einer Figur über den Erzählverlauf hinweg statisch bleiben (statische Figur) oder ob sich gerade umgekehrt Entwicklungen erkennen lassen (dynamische Figur). Hierbei kann es auch vorkommen, dass einzelne Merkmale einem Veränderungsprozess unterworfen sind, während sich andere als statisch erweisen.

Vgl. hierzu Eder* 210f. Bei dieser Strategie wird eine Information über die Figur durch mehrere Perspektiventräger artikuliert, z.B. durch den Erzähler (auktorial) und eine der Figuren (figural) oder durch verschiedene Figuren. Vgl. hierzu bereits J. Vette, Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des Samuelbuches, Beiträge zum Verstehen der Bibel 13, Münster 2005, 33–37. 15 Die Unterscheidung von runder und flacher Figur geht auf E. Forster zurück: E.M. Forster, Aspects of the Novel (1927), Penguin Twentieth-Century Classics, London u.a. 1990, 73–81. 14

204 ■





11. Texterklärung III – Narratologie

Dimensionalität: Figur können in ihrer Darstellung auf einzelne Merkmalsbereiche reduziert werden (z.B. auf ihre Krankheit) oder sich als mehrdimensional erweisen, d.h. die Rezipienten erhalten direkte oder indirekte Informationen über mehrere der oben skizzierten Merkmalsbereiche. Konventionalität: Unter dem Stichwort der Konventionalität lassen sich die Bezüge zwischen der textextern geprägten Erwartungshaltung der Rezipienten und der textlichen Darstellung untersuchen. Folgt das Figurenporträt einem kulturellen Stereotyp oder besitzt die Figur individuelle Züge? Auch hier kann es freilich Zwischenformen geben, z.B. wenn eine Figur zuerst stereotyp dargestellt wird und dann über den Erzählverlauf immer individuellere Züge entwickelt. Transparenz: Letztlich lässt sich schauen, ob eine Figur „verständlich“ agiert. Eine Figur kann als mysteriös bezeichnet werden, wenn über das Erzählende hinweg offen bleibt, warum sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten hat. Die Figur des Judas ist beispielsweise eine solch mysteriöse Figur. Eine Figur lässt sich hingegen als transparent bezeichnen, wenn die Handlungen erwartbar und leicht nachzuvollziehen sind. Letzteres schafft beim Rezipienten „ein angenehmes Gefühl der Orientierungsfähigkeit und Situationsmächtigkeit […]“.16

Beachten Sie: Die hier vorgestellte Analyse der Figurenkonzeption setzt eine eingehende Beschäftigung mit dem Gesamttext voraus. Auf der Grundlage einer einzelnen Episode ist zumeist noch nicht zu beurteilen, ob sich ein Figurenmodell als kohärent, dynamisch, mehrdimensional usw. erweist.

11b.2.3 Figurenkonstellation Analysieren lässt sich nicht allein die einzelne Figur einer Erzählung, sondern auch das Verhältnis, das mehrere Figuren zueinander haben. In welche Beziehung sollen die intendierten Rezipienten die unterschiedlichen Figuren setzen?17 Die Figurenkonstellation ergibt sich hierbei ■ ■ ■ ■ ■

aus der Korrespondenz/dem Kontrast einzelner Figurenmerkmale, aus der Sympathie/Antipathie, die die Figuren zueinander haben, aus Konfliktkonstellationen (divergierende Pflichten, Wünsche, Bedürfnisse, Motivationen), in einigen Fällen aus kulturell vorgegebenen Handlungsrollen (→ 11b.2.4) und aus ähnlichen Situationen, in denen die Figuren auftreten.

Die Figurenkonstellation wird manchmal auch grafisch dargestellt, wobei verschiedene Arten von Pfeilen bzw. Zeichen unterschiedliche Beziehungen zwischen den Figuren kennzeichnen. Beachten Sie allerdings, dass die Konstellationen zwischen Figuren nicht immer konstant bleiben müssen. Häufig ist es für die Interpretation wichtig, gerade auf Veränderungen in der Konstellation zu achten: Gibt es eine Annäherung zwischen Figuren (z.B. Paulus wird

16

Eder* 395. Vgl. Eder* 464: „Die Zuschauer bilden in jeder Phase des Films ein Situationsmodell, das – unter anderem – Modelle der beteiligten Figuren und ihrer Beziehungen umfasst.“ 17

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?

205

in der Apostelgeschichte vom Verfolger der Gemeinde zum Anhänger) oder geraten Figuren erst allmählich in einen Konflikt (z.B. Judas wird zum Verräter)? Außerdem kann es nicht nur zwischen Figuren derselben Erzählung Analogien geben (interne Analogie), sondern auch zwischen Figuren mehrerer Erzählungen (externe Analogie). Die externe Analogie gehört im weitesten Sinn zur Figurenkonstellation.18 Die Bezugs-Figur ist aus Sicht der kognitiven Narratologie ein (mögliches) kognitives Schema, mit dessen Hilfe der intendierte Rezipient die vorliegende Figur deuten soll (Kap. 10.2.1). Ein Beispiel für eine externe Analogie ist die Parallelisierung der Person Jesu im Matthäusevangelium mit der alttestamentlichen Person des Mose.19 11b.2.4 Figur und Handlung In der strukturalistischen Erzählwissenschaft galt das Hauptinteresse lange Zeit dem Verhältnis zwischen den Figuren und der Handlung. Zugespitzt gesagt: Figuren waren nur insofern interessant, als man ihnen eine feste Handlungsfunktion zuschreiben konnte. Auch wenn sich innerhalb der Erzählwissenschaft der Analyseschwerpunkt deutlich verschoben hat, bleibt das Verhältnis von Figur und Handlung als Analyseaspekt weiter relevant. Es lässt sich diesbezüglich noch einmal unterscheiden zwischen der Wichtigkeit, die eine Figur für die Handlung besitzt, und möglichen Handlungsrollen, die sie innerhalb der Erzählung übernehmen kann. a. Wichtigkeit der Figur(engruppe): Im Hinblick auf die Wichtigkeit hat sich im erzählwissenschaftlichen (und exegetischen) Diskurs eine nicht ganz einheitliche Terminologie etabliert. Wir schlagen folgende Begriffe vor: Figurenbezeichnung

Definition

alternative Bezeichnungen

Hauptfigur

Die Figur bekommt eine hohe Aufmerksamkeit durch die Rezipienten. Sie besitzt meist individuelle Züge.

Protagonist, Held

Nebenfigur

Der Figur kommt eine vergleichsweise geringere Aufmerksamkeit zu. Sie besitzt nicht selten stereotype Züge.

minor character (v.a. in der Exegese), secondary character

Hilfsfigur

Ein Spezialfall einer Nebenfigur; sie ist nur dazu da, um die Handlung voranzutreiben.

ficelle character, functionary, agent

18 Die Unterscheidung zwischen externer und interner Analogie findet sich auch bei Ebner/ Heininger* 89f. 19 Vgl. D.C. Allison, The New Moses. A Matthean Typology, Minneapolis 1994.

206

11. Texterklärung III – Narratologie

Schaufigur

Figur, die durch einzelne Merkmale Interesse weckt, aber keine Funktion für die Handlung besitzt.

Episodenfigur

Eine Nebenfigur, die lediglich in einer einzelnen Episode auftritt.

Randfigur(engruppe)

Eine Figur(engruppe), die nur im Vorübergehen erwähnt wird und passiv bleibt (z.B. die Gäste in Mk 6,21.26).

Hintergrundfigur

Eine Figur, über die gesprochen wird, die aber selbst nie auftritt (z.B. der Kaiser in Mk 12,13–17).

card

walk-ons, crowd, chorus

Tab. 11b.3: Wichtigkeit der Figur – Terminologie und Definition

Während sich in der älteren Erzählwissenschaft noch kaum ein Hinweis findet, woran sich die Wichtigkeit einer Figur bzw. Figurengruppe konkret festmachen lässt, kann auch hier aus kognitiver Perspektive eine Präzisierung vorgenommen werden. Die Wichtigkeit orientiert sich an der Aufmerksamkeit, die die Rezipienten einer Figur schenken und die durch bestimmte Mittel beeinflusst wird. Maßgeblich dafür sind (vgl. Eder* 468f.): ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

die Häufigkeit, Dauer und Dichte, mit der eine Figur dargestellt wird, die Ungewöhnlichkeit und Normabweichung der Figur, die kausale Involviertheit innerhalb der Handlung (Handlungsfunktionalität), das Potenzial der Figur, bedeutsame Entscheidungen zu treffen, der Fokus, den andere Figuren auf eine Figur haben, dass eine Figur Wahrnehmungszentrum ist, die emotionale Anteilnahme der Zuschauer an der Figur.

b. Handlungsrollen: In der strukturalistischen Erzähltheorie besaß die Einteilung der Figuren in bestimmte Handlungsrollen eine wichtige Funktion, weil über solche Rollen ein Vergleich verschiedener Erzählungen ermöglicht werden sollte. Recht bekannt ist das „Aktantenmodell“ des französischen Strukturalisten A.J. Greimas: Sender

Objekt

Empfänger

Helfer

Subjekt

Widersacher

Abb. 11b.4: Aktantenmodell nach A.J. Greimas

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?

207

Greimas unterscheidet in seinem Modell zwischen sechs „aktantiellen Kategorien“20, nämlich einem Sender, Empfänger, Helfer, Widersacher, Objekt und einem Subjekt. Der hohe Abstraktionsgrad dieses Modells führt aber dazu, dass der analytische Gewinn für die Handlungsrollen Untersuchung eines konkreten Textes eher gering ist. Selbst bei einfachen Erzählungen erweist sich das Aktantenmodell meist als zu statisch und unpräzise. So müssen häufig Kategorien doppelt besetzt werden, lassen sich gar nicht füllen oder erscheinen unpassend. Lediglich dort, wo ein konkreter Parteienkonflikt vorausgesetzt ist, d.h. wenn es einen Protagonisten und einen Antagonisten gibt, stellen das Aktantenmodell oder neuere Handlungsrollenmodelle21 eine hilfreiche Möglichkeit der Illustration dar. Beispiel: Grenzen des Aktantenmodells am Beispiel von Mk 2,1–12 In der Heilungsszene Mk 2,1–12 kann man die Handlungsfunktionen so verteilen: Der Gichtbrüchige („Subjekt“) sucht Heilung („Objekt“). Jesus „sendet“ dem Gichtbrüchigen („Empfänger“) diese Heilung. Der Gichtbrüchige hat in Form seiner Freunde „Helfer“. Die Pharisäer könnte man als seine „Widersacher“ bezeichnen, wobei es aber eigentlich Jesu Widersacher sind. Jesus und der Kranke kommen hier letztlich an zwei Stellen im Aktantenmodell vor. Das Objekt (Heilung) ist zudem keine Figur. Bereits dieses einfache Beispiel zeigt, dass das strukturalistische Modell in der klassischen Form zu schematisch ist.

Demo: Joh 20,24–29 – Figurenanalyse zu Thomas dem Zweifler (von Simon Blatz) Die folgende Analyse untersucht das mentale Modell, das sich die intendierten Rezipienten in Joh 20,24–29 von der Figur des zweifelnden Thomas machen sollen. Die Darstellung knüpft an den vorherigen Eindruck an, den die Rezipienten über den Lektüreprozess von der Person des Thomas erhalten haben. Es ist von einer kohärenten Figurenkonzeption zu sprechen, wenngleich die Rezipienten durch das abschließende Verhalten des Thomas, insbesondere durch seinen Glauben und sein Bekenntnis, überrascht werden. Bereits in Kap. 11 und 14 des Johannesevangeliums tritt Thomas zweimal aus der Gruppe der Jünger hervor und zieht die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich. Die erste explizite Erwähnung findet sich in Joh 11,1–16: Thomas, der hier – ähnlich wie in Joh 20 – mit dem Beinamen „Zwilling“ vorgestellt wird (V. 16),22 zeichnet sich in dieser

20 Vgl. Greimas* 161–165, zur exegetischen Rezeption dieses Konzepts vgl. Egger/Wick* 181 und Ebner/Heininger* 75–80. Näheres auch bei Finnern* 150f. 21 Weitere Modelle finden sich etwa bei Eder* 487–492. 22 Diese Hinzufügung zum eigentlichen Namen dient primär der Unterscheidung von anderen Personen mit gleichlautendem Vornamen. Da eine solche Präzisierung innerhalb der johanneischen Erzählung überflüssig erscheint und die Bezeichnung in Joh 20,24 und 21,2

208

11. Texterklärung III – Narratologie

Episode v.a. durch seine Entschlossenheit (= Charakter) sowie eine gewisse Autorität innerhalb der Jüngergruppe aus.23 Trotz der zuvor beschriebenen Todesgefahr will er Jesus nach Judäa folgen und animiert auch die anderen Jünger zur Leidensnachfolge bzw. zum Martyrium (Joh 11,16).24 Allerdings besitzt die Darstellung durchaus eine gewisse Ambivalenz: Gerade durch seine Entschlossenheit wird Thomas als eine Person vorgestellt, die nur das Vordergründige und Augenscheinliche – in diesem Fall die Bedrohung durch die „Juden“ (Joh 10,31-39; 11,8.16) – wahrnimmt. So verkennt Thomas zusammen mit den anderen Jüngern die Situation des Lazarus25 und bleibt trotz der nachträglichen Erklärung Jesu (V. 14) auf das eigene Martyrium konzentriert. Mit der Möglichkeit einer Auferweckung rechnet er nicht. Auch in Joh 14,5 fungiert Thomas erneut als Sprecher des Jüngerkreises, wobei er nun das Unverständnis der Jünger gegenüber der metaphorischen Rede Jesu zum Ausdruck bringt: „Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie könnten wir den Weg wissen?“ (Joh 14,5). In dieses ambivalente Bild des Thomas fügt sich die Erzählung Joh 20,24–29 ein.26 Die Episode stellt auf exemplarische Weise vor Augen, wie sich der Zweifelnde in der Begegnung mit dem Auferstandenen zum Bekennenden wandelt. Gerade weil dieses Verhalten aufgrund des vorherigen Erzählverlaufs überraschend wirkt und zu einer differenzierteren Betrachtung des Thomas herausfordert, schenken die Rezipienten ihm große Aufmerksamkeit.

11b.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Erklären Sie, was man unter dem Prozess der Figurensynthese versteht! 2. Warum reicht eine heutige „Alltagspsychologie“ nicht aus, um die Gefühle oder Charaktereigenschaften einer biblischen Figur zu erschließen? 3. Nennen Sie zwei erzählinterne und zwei außerdiegetische Erklärungsmöglichkeiten für die Motivation von Figuren! 4. Beschreiben Sie, was man unter einer Schaufigur und einer Episodenfigur versteht! 5. Warum hat das Aktantenmodell von Greimas eher einen geringen analytischen Wert?

nahezu wörtlich wiederholt wird, könnte es sich hierbei um eine traditionelle und der Gemeinde bekannte Namensgebung handeln. 23 Diese Beobachtung passt in das Gesamtbild des Johannesevangeliums, weil hier – im Vergleich zur synoptischen Tradition – die hervorgehobene Stellung des Petrus relativiert wird. So tritt nicht nur der „Lieblingsjünger“ an die Stelle des Hauptrepräsentanten und erscheint gerade als Kontrastfigur zu Petrus (13,23–26; 20,8; 21,7; 21,20–23), sondern auch die anderen Jünger erhalten größere Aufmerksamkeit und gewinnen an Individualität. 24 Dass die Freundesliebe bis in den Tod zu reichen hat, kann innerhalb der Antike als allgemein anerkannte Überzeugung gelten; vgl. hierzu die Belege bei G. Stählin, Art. φίλος κτλ., ThWNT 9 (1973), 151 sowie Joh 15,13. 25 Vgl. den expliziten Erzählerkommentar Joh 11,13: εἰρήκει δὲ ὁ Ἰησοῦς περὶ τοῦ θανάτου αὐτοῦ, ἐκεῖνοι δὲ ἔδοξαν ὅτι περὶ τῆς κοιμήσεως τοῦ ὕπνου λέγει. 26 Ähnlich bereits R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK 3, Freiburg 1975, 392.

b) Wie beschreibt man Personen in einer Erzählung?

209

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ definieren, was man unter einer literarischen Figur versteht, ■ die Merkmale literarischer Figuren analysieren und gewichten, ■ die Figurenkonzeption untersuchen, ■ Figurenkonstellationen beschreiben, ■ bestimmen, welche Bedeutung eine Figur für die Handlung besitzt, und ■ mögliche Handlungsrollen benennen und die Defizite einer entsprechenden Analyse erkennen. Sie kennen jetzt … ■ ansatzweise den Unterschied zwischen einem rein textimmanenten Figurenverständnis (des Strukturalismus) und einem kognitiven Verständnis der Figur als mentalem Modell sowie ■ den analytischen Wert und die Grenzen des Aktantenmodells und anderer Handlungsrollenmodelle.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Figurenanalyse erkennen und wo sie noch Mängel bemerken. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, was die Figurenanalyse im Blick auf biblische Texte leisten kann. Überlegen Sie auch, welche Anwendungsmöglichkeiten sich ggf. über den wissenschaftlichen Kontext hinaus ergeben (z.B. für Schule, Gemeinde, Kunst und Kultur).

11b.4 Literatur 11b.4.1 Exegetische Methodenlehren Ebner/Heininger* 75–78 (Aktanten) u. 86–90 (Charakterisierung), Egger/Wick* 181.191 (Aktanten), Söding* 144f., Utzschneider/Nitsche* 167–170. Ausführlichere Darstellung der Methodik: Finnern* 125–164; Marguerat, D./Bourquin, Y., How to Read Bible Stories. An Introduction to Narrative Criticism, SCM, London 1999 (frz. 1998), 58–76; Resseguie, J.L., Narrative Criticism of the New Testament. An Introduction, Grand Rapids 2005, 121–165.

11b.4.2 Aktuelle erzählwissenschaftliche Einführungen Bachorz, St., Zur Analyse der Figuren, in: P. Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse, Trier 2004, 51–67. Eder, J., Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008 (neueres Grundlagenwerk mit kognitivem Ansatz). Eder, J./Jannidis, F./Schneider, R. (Hgg.), Characters in Fictional Worlds. Interdisciplinary Perspectives, Revisionen 3, Berlin/New York 2010. Jannidis, F., Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Narratologia 3, Berlin/New York 2004.

210

11. Texterklärung III – Narratologie

Schneider, R., Grundriß der kognitiven Theorie der Figurenkonzeption am Beispiel des viktorianischen Romans, ZAA Studies 9, Tübingen 2000.

11b.4.3 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Bennema, C., Encountering Jesus. Character Studies in the Gospel of John, Minneapolis 22014. Berger, K., Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 146–147, Stuttgart 1991. (betont die historische Variabilität psychologischer Eigenschaftszuschreibungen) Eisen, U.E., Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA/ StUNT 58, Göttingen 2006 (bes. 131–139). (= Eisen*) Eisen, U.E./Müllner, I. (Hgg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016. Gemünden, P. von, Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA/StUNT 73, Göttingen 2009. Hunt, St.A./Tolmie, D.F./Zimmermann, R. (Hgg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John, WUNT 314, Tübingen 2013. Inselmann, A., Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, WUNT II/322, Tübingen 2012. Malbon, E. Struthers (Hg.), Characterization in Biblical Literature, Semeia 63, Atlanta 1993. (textimmanenter Ansatz des narrative criticism) Müller, Chr. G., Mehr als ein Prophet. Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk, HBS 31, Freiburg u.a. 2001. Poplutz, U., Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100, Neukirchen-Vluyn 2008. (S. 60–74) Rhoads, D./Dewey, J./Michie, D., Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis (1982) 21999, 98–136. (inzwischen in 3. Auflage) Rhoads, D./Syreeni, K. (Hgg.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, JSNT.S 184, Sheffield 1999. (textimmanenter Ansatz des narrative criticism) Schultheiß, T., Das Petrusbild im Johannesevangelium, WUNT II/329, Tübingen 2012. Skinner, Chr.W. (Hg.), Characters and Characterization in the Gospel of John, London u.a. 2013. Skinner, Chr.W./Hauge, M.R. (Hgg.), Character Studies and the Gospel of Mark, London u.a. 2014. Williams, J.F., Other Followers of Jesus. Minor Characters as Major Figures in Mark’s Gospel, JSNT.S 102, Sheffield 1994. Zimmermann, R., Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, ZNW 105 (2014), 20–53.

11c Handlungsanalyse Leitbegriffe Ereignis, Aussage, Handlungsintensität, zeitliche Aspekte der Handlungsdarstellung (Anachronie: Analepse, Prolepse), Handlungsverläufe, Plot map, Handlungsstränge, Verknüpfungsstärke

11c.1 Einführung: Von der Handlungsstruktur zum Inhalt Sonntagabend, 20.15 Uhr: Zeit für das „Herzkino“. Was in den folgenden neunzig Minuten auf das Fernsehpublikum zukommt, ist erwartbar: Zu Beginn verschlägt es den Fremden aus der Stadt aufs Land, wo er eigentlich nur kurz bleiben will. Aber aufgrund eines Zwischenfalls muss er dort länger verweilen. Es kommt zur ersten BeAbb. 11c.1: Herzkino gegnung mit der „Schönen vom Lande“, die allerdings kurz vor der Hochzeit mit einem anderen Mann steht. Weil der Städter nun schon einmal unfreiwillig bleiben muss, kann er sich immerhin in die bestehenden Konflikte vor Ort einmischen. Keineswegs zu seinem Nachteil, denn der Filmheld scheint das Herz der Schönen im Nu zu erobern. Liebe auf den ersten Blick. Doch – so wissen es alle Herzkinokundigen – auf dem Höhepunkt der Ereignisse muss es zwangsläufig zum „unerwarteten“ Unglück und zum Konflikt zwischen den beiden Liebenden kommen. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und die Schöne scheint, dem anfänglichen Plan entsprechend, den Falschen zu heiraten. Aber natürlich geht am Ende alles gut aus: Die Hochzeit wird in letzter Sekunde abgesagt, sämtliche Konflikte lösen sich auf und der Städter erkennt, dass der wahre Lebenssinn und die große Liebe nur auf dem Land zu finden sind. Es folgen die eigentliche Traumhochzeit und ein Happy End. Wer sich am Sonntagabend das „Herzkino“ anschaut, der wird in aller Regel einen mit dem gerade skizzierten Schema vergleichbaren Handlungsverlauf erwarten können. Die Liebesromane von Rosamunde Pilcher, Inga Lindström oder Cecelia Ahern, die den Verfilmungen zu Grunde liegen, lassen sich nämlich der sogenannten Schemaliteratur zurechnen. Sie folgen bewusst einem konventionellen Handlungsschema, weil sich so in kürzester Zeit Erzählungen multiplizieren lassen und die Zuschauer ein Gefühl größtmöglicher Orientierung behalten.

212

11. Texterklärung III – Narratologie

Die Feststellung einer immer gleich bleibenden Handlungsstruktur ist im Fall des „Herzkinos“ recht offensichtlich. Gleichzeitig sollte das Feststellen konstanter Strukturmerkmale nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich selbst innerhalb dieses Genres inhaltliche Verschiebungen und thematische Entwicklungen erkennen lassen: Während die Filme von Rosamunde Pilcher noch weitgehend am klassischen Familienmodell orientiert waren, tauchen im heutigen Liebesfilm plötzlich alleinerziehende Väter oder Mütter auf. Hin und wieder kommt es am Ende nicht mehr zur (kirchlichen) Hochzeit, sondern der Film endet mit einem anderen romantischen Höhepunkt. Oder der Held kehrt zu seiner Verlobten zurück. Den Herzkinofans fallen derartige Abweichungen aufgrund ihrer Sehgewohnheiten auf, wie sich nicht zuletzt an hitzigen Diskussionen in Fanforen oder der Boulevardpresse erkennen lässt. Zugegebenermaßen spielt der Liebesfilm in der Narratologie eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Dennoch lässt sich an diesem Beispiel demonstrieren, dass die Rekonstruktion gleichbleibender Tendenzen der Handlungsstrukturen noch nicht ausreicht, um den konkreneueren ten Inhalt einer Erzählung und die vielfältigen VariationsNarratologie möglichkeiten zu erfassen. In der heutigen Narratologie ist zu erkennen, dass sich der Schwerpunkt bei der Handlungsanalyse von rein strukturellen Beobachtungen und Abstraktionen auf den Inhalt sowie die Rezeptionsprozesse verlagert hat. Während sich die strukturalistische Erzähltheorie des 20. Jhdts. noch durch ein Interesse an den gemeinsamen Handlungsschemata1 auszeichnete und man hier versuchte, den Bedeutungskern einer Erzählung über vermeintliche Tiefenstrukturen herauszufinden, wird die Analyse nun durch die kognitive Perspektive erweitert. Die Neuerungen der kognitiven Narratologie bezogen auf die Handlungsanalyse sind: ■





1

Orientierung am Inhalt des Einzeltextes: Trotz wiederkehrender Handlungsschemata steht nun die Interpretation der Einzelerzählung im Mittelpunkt des Interesses. Auch die Vorstellung einzelner Ereignisse und komplexer Handlungsverläufe wird durch die kulturellen Skripts der Rezipienten beeinflusst. Handlungserwartungen: Die Rezipienten stehen einer Erzählung nie neutral gegenüber, sondern antizipieren diese. Aufgabe der Handlungsanalyse muss es deshalb sein, neben den „tatsächlich“ berichteten Ereignissen auch „virtuelle Ereignisse“ zu berücksichtigen: Warum ist ein bestimmter Handlungsverlauf aus Sicht der Rezipienten überraschend, während andere Ereignisse leicht vorhersagbar wirken? Methodische Ausdifferenzierung: Während die strukturalistische Erzähltheorie die Analysekategorien zumeist auf binäre Oppositionspaare reduziert hat, ist die neuere Erzählwissenschaft um eine möglichst präzise Ausdifferenzierung bemüht.

Beispiele hierfür sind das „triadische Handlungschema“ von C. Bremond oder das „semiotische Quadrat“ von A.J. Greimas, die auch in der Exegese teilweise rezipiert wurden; vgl. etwa Egger/Wick* 178f.186.189 (zu Bremond) und 148f.162 (zu Greimas). Eine ausführliche Darstellung und Kritik dieser Handlungsschemata finden Sie bei Finnern* 99–107.

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

213

11c.2 Methode Obwohl das Interesse der neueren Erzählforschung nicht mehr allein der Handlungsstruktur gilt, sondern eine Hinwendung zum Inhalt sowie zur Analyse der Rezeptionsprozesse erkennbar ist, bleiben zahlreiche Kategorisierungen des Strukturalismus weiterhin sinnvoll. Dies gilt vor allem für die Bezeichnung einzelner Handlungselemente (11c.2.1) sowie die Beschreibung zeitlicher Handlungsaspekte (11c.2.2). Die neueren Entwicklungen innerhalb der Erzählwissenschaft machen sich dann v.a. bei der Analyse von Handlungsverläufen (11c.2.3) bemerkbar. Methode der Handlungsanalyse (11c.2.1–2.4) 1. Die Handlungselemente bestimmen und die Handlungsintensität beschreiben: a. Ereignisse sowie dynamische und statische Aussagen bestimmen, b. Ereignisse und Aussagen nach ihrer Wichtigkeit sortieren und c. die Handlungsintensität analysieren. 2. Zeitliche Aspekte der Handlungsdarstellung untersuchen: a. Die Ordnung analysieren und Prolepsen sowie Analepsen bestimmen und b. die Anachronien näher beschreiben (Modus, Reichweite, Umfang, Informationsgehalt, Explizität, Zuverlässigkeit). 3. Eine „Plot map“ erstellen: a. die tatsächlichen Handlungskerne aufzeichnen, b. auf der Grundlage kognitiver Faktoren mögliche Handlungsalternativen rekonstruieren und eintragen und c. die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen und virtuellen Ereignisse bestimmen. 4. Die Verknüpfungsstärke zwischen einzelnen Episoden untersuchen.

11c.2.1 Handlungselemente benennen und Handlungsintensität beschreiben Jede Handlung setzt sich aus bestimmten „Bausteinen“ zusammen. Weil die Bezeichnungen für diese Handlungselemente und deren Definitionen nicht einheitlich sind, wollen wir zunächst die hier verwendete Terminologie erklären. a. Ereignisse und Aussagen bestimmen Die kleinste Einheit einer Handlung ist das Ereignis (engl. event). Konstitutiv für ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung, z.B. wenn eine Ereignis: Figur von einem Raum A in einen Raum B geht. Eine solche ZustandsZustandsveränderung kann aber nicht nur ein physischer veränderung Akt sein, sondern schließt ebenso Sprech- und Denkakte ein. Die Ereignisse können danach unterschieden werden, ob sie durch eine Figur intendiert sind oder nicht: Ein intendiertes Ereignis kann als Aktion (engl. action) und ein nicht intendiertes Ereignis als Geschehnis (engl. happening) bezeichnet werden.

214

11. Texterklärung III – Narratologie

Erzählungen bestehen aber nicht nur aus Ereignissen. Vielmehr finden sich hier zugleich statische Aussagen, d.h. Beschreibungen. Aussagen: Zum einen kann es sich dabei um Zustandsbeschreibungen Zustände/ handeln, z.B. „und es war gerade Sabbat“. Zum anderen finEigenschaften den sich in Erzähltexten auch Eigenschaftsbeschreibungen einer Person, einer Sache oder eines Ortes, z.B. „er war von kleiner Gestalt“. Bei der Analyse ist es oftmals hilfreich, den Erzähltext zunächst in eigenen Worten zu paraphrasieren und dann zu bestimmen, ob es sich bei den einzelnen Textabschnitten um eine Aktion, ein Geschehnis, eine Zustands- oder Eigenschaftsbeschreibung handelt. Beispiel: Bestimmung von Ereignissen und Aussagen in Mt 28,1–4 Aussage: 1. Ereignis: Aussage: 2. Ereignis: 3. Ereignis: 4. Ereignis: 5. Ereignis: 6. Ereignis: Aussage: Aussage: 7. Ereignis: 8. Ereignis:

Nach dem Sabbat, als es zum ersten Tag der Woche hin dämmert. Die beiden Frauen gehen zum Grab (V. 1). Die beiden Frauen wollen das Grab sehen. Es geschieht ein starkes Erdbeben (V. 2a). Der Engel des Herrn steigt vom Himmel herab (V. 2) Der Engel des Herrn kommt hinzu (V. 2). Der Engel des Herrn rollt den Stein weg (V. 2). Der Engel des Herrn setzt sich auf den Stein (V. 2). Die Gestalt des Engels ist wie ein Blitz (V. 3). Das Kleid des Engels ist weiß wie Schnee (V. 3). Die Wächter zittern (V. 4a). Die Wächter werden wie tot (V. 4b).

(Zustand) (Aktion) (Eigenschaft) (Geschehnis) (Aktion) (Aktion) (Aktion) (Aktion) (Eigenschaft) (Eigenschaft) (Geschehnis) (Geschehnis)

b. Ereignisse und Aussagen nach ihrer Wichtigkeit sortieren Auch wenn jede Zustandsveränderung als Ereignis verstanden wird, so besitzt nicht jeder physische Akt bzw. jede Sprech- und Denkhandlung dieselbe Wichtigkeit für den weiteren Erzählverlauf. Auf die Möglichkeit, Ereignisse nach ihrer Handlungsrelevanz zu unterteilen, hat bereits Roland Barthes aufmerksam gemacht. Seymour Chatman hat in Anknüpfung hieran die Begriffe Erzählkern und Erzählsatellit geprägt.2 Kerne sind dabei solche Ereignisse, die den weiteren Handlungsverlauf bestimmen und neue Handlungsalternativen eröffnen. Als Satelliten lassen sich hingegen solche Ereignisse bezeichnen, die für den weiteren Handlungsverlauf entbehrlich sind und ausschließlich die Funktion der Erläuterung oder Ausschmückung übernehmen. Auch statische Aussagen lassen sich nach ihrer Wichtigkeit sortieren. So lässt sich von eigentlichen Aussagen bzw. eigentlichen Indizien sprechen, wenn

2 Vgl. Chatman* 53–56. Barthes verwendet für diesen Sachverhalt die Begriffe „Kern“ (noyau) und „Katalyse“ (catalyse). Vgl. R. Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1966), in: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, 112.

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

215

die Beschreibung eines Zustands oder einer Eigenschaft für den weiteren Handlungsverlauf eine hohe Relevanz besitzt. Demgegenüber können Aussagen, die nur der ästhetischen Illusion dienen, als Informationen bezeichnet werden. Hierzu zählen etwa sämtliche Landschaftsaufnahmen im Liebesfilm. Hinweis: Die Differenzierung nach Wichtigkeiten ist durchaus lohnenswert und fördert eine eingehende Beschäftigung mit dem Erzählten. Bei Nacherzählungen oder Zusammenfassungen unterscheiden wir automatisch zwischen wichtigen und unwichtigen Aussagen. Nichtsdestotrotz bleibt die genaue Zuordnung immer ein Stück weit intuitiv. Außerdem erweist sich die von der älteren Narratologie vorausgesetzte Binarität (Kern/Satellit – Indiz/Information) nicht selten als unterkomplex.

c. Die Handlungsintensität beschreiben Aus dem Verhältnis von Kernen und Satelliten sowie eigentlichen Indizien und Informationen lässt sich die Handlungsintensität ableiten. Erzählungen oder einzelne Erzählabschnitte mit überdurchschnittlich vielen Kernen und Indizien besitzen eine hohe Handlungsintensität (z.B. die Schlussszenen des Herzkinos). Die Handlungsintensität kann auf einer Skala festgehalten und beschrieben werden: geringe Intensität

––



0

+

++

hohe Intensität

Aufgabe: 1. Paraphrasieren Sie den Erzählabschnitt Mt 28,1–7, benennen Sie alle Handlungselemente (Aktion/Geschehnis, Eigenschaft/Zustand) und gewichten Sie die Ereignisse und Aussagen nach ihrer Wichtigkeit (Kern/Satellit, eigentliches Indiz/Information). – 2. Vergleichen Sie das Ergebnis Ihrer Analyse anschließend mit der Darstellung bei Finnern* 291. Welche Unterschiede stellen Sie fest und wie lassen sich diese ggf. erklären?

11c.2.2 Zeitliche Aspekte der Handlungsdarstellung beschreiben In dem Moment, wenn ein Handlung erzählt wird, haben wir es automatisch mit zeitlichen Aspekten zu tun. Genau genommen lässt sich eine Handlung immer im Hinblick auf ihre erzählte Zeit und die Erzählzeit analysieren. Die erzählte Zeit ist jene Zeit, die ein Ereignis erzählte Zeit/ Erzählzeit innerhalb der Geschichte umfasst (z.B. ein Tag in Cornwall von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang). Die Erzählzeit ist hingegen jene Zeit, die ein Erzähler braucht, um etwas zu erzählen (z.B. dauert das Herzkino etwa 90 Minuten). Da die Erzählzeit allerdings je nach Inszenierung stark variieren kann (Performanzgeschwindigkeit3), werden zu ih3

Genette* 213.

216

11. Texterklärung III – Narratologie

rer „Messung“ objektivere Größen herangezogen, z.B. im Neuen Testament die Anzahl der Verse oder Wörter. Das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit wird – seit Gérard Genette4 – in dreifacher Hinsicht untersucht, nämlich im Hinblick auf die ■





Ordnung: In welcher Reihenfolge werden die Ereignisse erzählt? Die Ereignisse werden … a. in Analogie zur natürlichen5 Reihenfolge erzählt (Synchronie), b. in Abweichung zur natürlichen Reihenfolge erzählt (Anachronie), c. ohne erkennbare Zeitrelation erzählt (Achronie). Geschwindigkeit: Wie lange wird etwas erzählt? Die Ereignisse … a. werden in Analogie zur natürlichen Dauer erzählt (Szene). b. erfahren im Vergleich zur natürlichen Dauer eine Verkürzung (Raffung). c. nehmen im Vergleich zur natürlichen Dauer einen längeren Zeitraum ein (Dehnung). d. Es werden im Vergleich zum natürlichen Ablauf Ereignisse ausgelassen (Ellipse). e. Im Unterschied zum natürlichen Ablauf pausiert die Erzählung, z.B. durch den Einschub eines längeren Erzählerkommentars (Pause). Frequenz: Wie oft wird etwas erzählt? a. Ein einmal geschehenes Ereignis wird einmal erzählt (singulatives Erzählen).6 b. Ein einmal geschehenes Ereignis wird mehrfach erzählt (repetitives Erzählen). c. Ein wiederholt geschehenes Ereignis wird einmal erzählt (iteratives Erzählen).

Die beiden letzten Analyseaspekte sind für neutestamentliche Erzählungen nicht ganz so relevant. Die Geschwindigkeit ändert sich zwar manchmal, aber zumeist liegt eine mehr oder weniger starke Raffung vor, d.h. ein Ereignis, das in Wirklichkeit eine längere Zeitspanne umfasst, wird in wenigen Versen berichtet.7 Lediglich in längeren Reden, z.B. bei der Bergpredigt, liegt eine annähernd szenische Erzählweise vor, d.h. erzählte Zeit und Erzählzeit stimmen hier weitgehend überein. Auch im Hinblick auf die Frequenz gibt es in neutestamentlichen Erzähltexten wenig Abwechslung: Ereignisse, die in der erzählten

4

Genette* 210f. Was in der älteren Erzählwissenschaft noch nicht ausreichend reflektiert wurde, ist, dass auch die natürliche Reihenfolge nie an sich gegeben ist, sondern ebenfalls als kulturell beeinflusstes Skript zu begreifen ist. Die intendierten Rezipienten haben eine Vorstellung vom gewöhnlichen Ablauf und der gewöhnlichen Dauer bestimmter Ereignisse. 6 Denkbar ist zudem, dass ein n-mal geschehenes Ereignis genau n-mal erzählt wird (multisingulative Erzählung) oder ein n-mal geschehenes Ereignis (n+1)-mal bzw. (n-1)-mal berichtet wird (vari-singulative Erzählung). Aber diese Erzählformen finden sich im Neuen Testament nicht. 7 Analysieren ließe sich hier lediglich die Intensität der jeweiligen Raffung, wobei im Blick zu behalten ist, ob ein entsprechender Tempowechsel in der Erzählung den Rezipienten auffallen konnte und sollte. Vgl. etwa die vergleichsweise geringe Raffung in Mk 1,9–11 (Taufe Jesu) im Vergleich zur starken Raffung in Mk 1,12f. (40 Tage der Versuchung). 5

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

217

Welt einmal geschehen sind, werden zumeist auch nur einmal erzählt (singulatives Erzählen). Beispiel

Text/Erklärung

a. Geschwindigkeit Ellipse – explizit – implizit

Apg 5,78 Mk 16,1

Pause

[Apg 10,1f.] 10







Dehnung

„Nach drei Stunden kam seine Frau …“ „Und als der Sabbat vergangen war …“ 9

b. Frequenz repetitiv

Apg 9; 22; 26

dreimaliger Bericht von der Berufung des Paulus

iterativ

Lk 2,41

„Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest …“

Tab. 11c.2 Beispiele für abweichende Geschwindigkeit und Frequenz im Neuen Testament

Hinweis: Häufig wird innerhalb der Exegese der Fachbegriff „Summarium“ verwendet. Hiermit können, erzählwissenschaftlich betrachtet, entweder Formen der Raffung oder auch eine iterative Erzählweise gemeint sein. Der Begriff wird in der Exegese nicht einheitlich gebraucht.

Im Folgenden konzentrieren wir uns nun auf den Aspekt der Ordnung: a. Anachronien (Analepsen und Prolepsen) analysieren Bei der Ordnung der Ereignisse gibt es nach Genette drei Möglichkeiten: Die Ereignisse einer Erzählung können entweder von jeglicher zeitlichen Bestimmung losgelöst sein („Achronie“), in der „normalen“ Reihenfolge berichtet werden („Synchronie“) oder von dieser Reihenfolge abweichen („Anachronie“). Formen der Achronie kommen im Neuen Testament nicht vor und lassen sich an dieser Stelle vernachlässigen. Die synchrone Darstellungsweise stellt innerhalb der neutestamentlichen Erzähltexte hingegen den Regelfall dar. Nicht selten kommen aber auch Formen der Anachronie vor, wobei man noch einmal zwischen Analepsen und Prolepsen differenzieren kann:

8 Dieses Beispiel findet sich bereits bei Eisen, Poetik* 102f. Als Beispiele für implizite Ellipsen nennt Eisen zudem Apg 6,1; 10,48; 11,27. 9 Die Handlung reicht in Mk 15 nur bis zum Abend des Rüsttags (vgl. 15,42). Die Ereignisse am Sabbat, während Jesus im Grab liegt, werden ausgelassen. 10 So Eisen* 103, die Apg 10,1f. als längere Blockcharakterisierung versteht. Aber vermutlich haben die intendierten Rezipienten diese Charakterisierung im Lektüreprozess kaum als Pause erlebt. Hierfür ist sie nicht ausführlich genug. Auch andere Erzählerkommentare im Neuen Testament sind zu kurz, um sie als Pause im eigentlichen Sinne zu verstehen.

218 ■



11. Texterklärung III – Narratologie

Analepse (= Rückblende): Zurückliegenden Ereignisse werden im Vergleich zur natürlichen Reihenfolge nachgetragen, z.B. beim Krimi, wo die genauen Umstände des Mordes erst am Ende erzählt werden (= Reihenfolge B-C-D-E-A). Prolepse (= Vorschau): Ereignisse werden im Vergleich zur natürlichen Reihenfolge vorweggenommen, z.B. durch eine Weissagung (= Reihenfolge A-E-B-C-D).

b. Analepsen und Prolepsen näher charakterisieren Für einen genauen Blick reicht es jedoch nicht, das Vorkommen von Analepsen und Prolepsen rein formal festzustellen. Sie lassen sich mit Hilfe der folgenden Analysekategorien noch näher charakterisieren: ■







Modus: Durch welche erzählerische Instanz wird die Anachronie vermittelt? a. durch den Erzähler/die Erzählerin, z.B. Mk 6,17–29 b. durch eine der Figuren, z.B. Mt 29,7b Reichweite: Wie weit reicht die Anachronie zurück bzw. voraus? a. interne Anachronie: höchstens bis zum zeitlichen Anfangspunkt bzw. Endpunkt der Erzählung, z.B. Mt 28,7b (vgl. Mt 28,16–20) b. externe Anachronie: über den zeitlichen Anfangspunkt bzw. Endpunkt der Erzählung hinaus, z.B. Mk 16,7 (hier: fehlender Erscheinungsbericht) Umfang: Welche Zeitspanne wird durch die Anachronie beschrieben? a. komplette Anachronie: Es gerät der gesamte Zeitraum zwischen der eigentlichen Erzählung und dem Ereignis in der Vergangenheit bzw. Zukunft in den Blick, z.B. Mk 5,26 (gesamte Krankheitsgeschichte). b. partielle Anachronie: Es gerät nur eine klar abgegrenzte Zeitspanne aus der Vergangenheit bzw. Zukunft in den Blick, z.B. Mk 10,33f. (Passion u. Auferstehung). Informationsgehalt: a. kompletive Anachronie: Die Rezipienten erhalten durch die Anachronie eine wichtige Information, die sie durch die übrige Erzählung nicht erhalten hätten, z.B. Joh 11,57. b. repetitive Anachronie: Die Rezipienten erhalten durch die Anachronie eine Information, die sich auch an anderer Stelle der Erzählung bekommen haben, z.B. Mk 10,33f. (vgl. Mk 8,31; 9,31).

Zu diesen vier Kategorien, die bereits Genette benennt,11 lassen sich zwei weitere hinzufügen: ■

11

Explizität: Wie deutlich wird die Anachronie im Text markiert? a. explizite Anachronie: Die Rezipienten werden durch autoreflexive Kommentare o.ä. auf das Vorliegen einer Anachronie hingewiesen, z.B. Mt 27,19. b. oblique Anachronie: Die Rezipienten bemerken nur indirekt (oder im Nachhinein12), dass eine Aussage spätere Ereignisse vorwegnimmt bzw. vergangene Ereignisse aufgreift, z.B. Mk 2,20 (hier: im Bildwort).

Genette* 17–52. Eine „Täuschung“ im eigentlichen Sinne gibt es im Neuen Testament nicht; ein prominentes Filmbeispiel hierfür ist der Anfang von Quentin Tarantinos Pulp Fiction, insofern sich hier die Anfangsszene im Verlauf der Erzählung als eigentliches Ende entpuppt. 12

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung? ■

219

Zuverlässigkeit: Wie zuverlässig sind die geschilderten Ereignisse? a. zuverlässige Anachronien: Die Darstellung soll den Rezipienten zuverlässig erscheinen, 13 z.B. Lk 22,22. b. unzuverlässige Anachronien: Die Darstellung soll den Rezipienten unzuverlässig erscheinen, z.B. Mk 14,58.

Hinweis: Auch im Hinblick auf die hier präsentierten Analysekategorien erweist sich die vorausgesetzte Binarität oftmals als unterkomplex. Präziser ist es, die meisten Unterkategorien (kompletiv – repetitiv, explizit – oblique; zuverlässig – unzuverlässig) erneut als Extrempunkte einer Skala zu begreifen und die Anachronien möglichst präzise zu beschreiben. Aufgaben: 1) Ordnen Sie die Episode Mk 6,17–29 einer der beiden beschriebenen Anachronien (Analepse/Prolepse) zu. 2) Beschreiben Sie den Modus, die Reichweite, den Umfang und den Informationsgehalt dieser Anachronie. 3) Begründen Sie, warum die Ankündigung des Engels in Mt 28,7 (= Prolepse) aus Sicht der intendierten Rezipienten zuverlässig erscheint.

11c.2.3 Handlungsverläufe und ‚Plot map‘ Erzählungen lassen sich nicht nur im Hinblick auf die tatsächlich berichteten Ereignisse untersuchen, sondern auch darauf, wie die Rezipienten den Handlungsverlauf über den Lektüreprozess hinweg antizipieren und mit welchen folgenden Entwicklungen sie rechnen sollen. In der neueren Erzählwissenschaft haben an dieser Stelle v.a. die Arbeiten von Marie-Laure Ryan große Aufmerksamkeit gefunden.14 Die amerikanische Narratologin vergleicht Handlungen mit einem Spielplan, auf dem die Figuren an bestimmten Positionen unterschiedliche „Spielzüge“ machen können. Das Gegenüber (hier: der Rezipient) spekuliert seinerseits auf ein bestimmtes Verhalten, wobei der Prozess der Antizipation durch mehrere Faktoren beeinflusst wird (s.u.). a. Handlungskerne benennen und aufzeichnen Um einen „Spielplan für Handlungen“ (eine Plot map) zu erstellen, können zunächst – wie in 11c.2.1 b beschrieben – alle tatsächlichen Handlungskerne benannt, nummeriert und in ihrer Abfolge aufgezeichnet werden. Oftmals lohnt es 13 Die Zuverlässigkeit hängt v.a. von der Zuverlässigkeit der einzelnen Perspektiventräger ab. Im Neuen Testament können die Figur Gottes, die Figur Jesu und überirdische Wesen (z.B. Dämonen, Engel) als zuverlässig gelten. Gleiches gilt für den Erzähler bzw. die Erzählerin. Die (Un-)Zuverlässigkeit einer Anachronie kann durch a) Kommentare des Erzählers/der Erzählerin, b) das Mittel der Informationsverdoppelung (Mk 3,6; 8,31) oder c) den tatsächlichen Erzählverlauf (Mt 28,7 ⇒ Mt 28,16–20) zusätzliche Betonung erfahren. 14 Vgl. zur sog. Plot map M.-L. Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington/Indianapolis 1991, 157–161.

220

11. Texterklärung III – Narratologie

sich, die Ereignisse für die inhaltliche Analyse dabei zu paraphrasieren. Anders als bei einem Brett- oder Computerspiel, wo die Züge immer wieder anders erfolgen können, lässt sich bei einer neutestamentlichen Erzählung nachlesen, was explizit berichtet wird. tatsächliche Kerne

1

2

3

4

5

6

Abb. 11c.3: Plot Map (Schritt 1) – tatsächliche Handlungskerne

b. Auf Grundlage kognitiver Faktoren Handlungsmöglichkeiten rekonstruieren In einem zweiten Schritt ist – je nach Forschungsinteresse – für eine ausgewählte Anzahl an Handlungskernen zu untersuchen, ob die intendierten Rezipienten jeweils auf andere Handlungsalternativen spekulieren können (Handlungsmöglichkeiten). Dabei gibt es für jeden Handlungskern nicht einfach beliebig viele Alternativen. Vielmehr werden die Rezipienten durch konkrete und definierbare Faktoren zur Konstruktion alternativer Handlungsverläufe angeregt. Folgende kognitive Faktoren besitzen für die Analyse eine hohe Relevanz: ■

Figurenmerkmale: Wie in Kap 11b beschrieben, entwickeln die Rezipienten über den Lektüreprozess hinweg ein mentales Modell von den beteiligten Figuren einer Erzählung. Manche Merkmale, die die Rezipienten den Figuren zuschreiben, haben einen starken Einfluss auf die Handlungserwartungen. a. Pflichten, Wünsche, Bedürfnisse, Motivationen: Äußere und innere Zwänge sowie persönliche Ziele können einen wichtigen Aufschluss darüber geben, wie sich eine Figur in einer bestimmten Situation verhalten wird. Was muss eine Figur tun, um ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erreichen? Welchen Pflichten muss sie dabei gerecht werden, z.B. aufgrund ihrer sozialen Verortung oder ihres individuellen Standpunktes (Normen, Werte)? Figuren begeben sich durch divergierende Pflichten, Wünsche, Bedürfnisse und Motivationen immer wieder in einen inneren Konflikt. So muss sich der Held im Herzkino etwa zwischen der beruflichen Sicherheit des „alten Lebens“ und der großen Liebe entscheiden. Außerdem ist zu beachten, in welche äußeren Konflikte eine Figur gerät. So kann ein bestimmtes Verhalten zum Konflikt mit anderen Figuren führen. Im Herzkino wäre dies der Streit zwischen den beiden Rivalen. Hilfreich bei der Analyse ist es, nach dem „Handlungsrisiko“ zu fragen. Es ist abzuwägen, welche inneren und äußeren Konflikte sich aus unterschiedlichen „Spielzügen“ ergeben können. b. Charakter: Bei Figuren ist es wie im echten Leben. Manche scheuen lieber das Risiko und die Konfrontation, andere scheinen gerade die Herausforderung zu suchen. Der Eindruck, den wir über den Lektüreprozess vom Charakter einer Figur erhalten, beeinflusst unsere Erwartungen. Während die Pflichten, Wünsche, Bedürfnisse und Motivationen mögliche Konfliktszenarien begründen, beeinflusst der Charakter, den wir einer Figur zuschreiben, unsere konkrete Erwartungshaltung:

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

221

Welche der Optionen wird eine Figur wählen? Entscheidet sie sich für Lösung A mit geringem Handlungsrisiko oder für Lösung B mit hohem Handlungsrisiko? Konkret: Kämpft der Held des „Herzkinos“ um die Frau seiner Träume oder gibt er frühzeitig auf? ■

Wissen über erzählte Welt und Weltwissen: Auch das Wissen über die erzählte Welt beeinflusst unsere Erwartungen. Während sich die Figuren bei „Raumschiff Enterprise“ von einem Ort zum anderen „beamen“ können, müssen die Figuren der neutestamentlichen Erzählungen vorgegebene Raumgrenzen in aller Regel einhalten. Die Rezipienten rechnen damit, dass sich die Figuren gemäß der vorgegebenen Erzähllogik verhalten, d.h. sie setzen bestimmte biologische, geografische, physikalische, ethische oder politische Rahmenbedingungen und Beschränkungen voraus. Vor diesem Hintergrund ist es eine provokative Überraschung, wenn die Freunde des Gelähmten (Mk 2,1–12) das Hausdach durchstoßen, um sich Zugang zu Jesus zu verschaffen. Da Erzählungen nie eine ganz eigene Welt evozieren, sondern immer auf die erfahrbare Wirklichkeit der Rezipienten bezogen bleiben, können die Leser bzw. Zuhörer oftmals auf ihr allgemeines Weltwissen (die Skripts) zurückgreifen und so die weitere Handlung antizipieren.



Literarisches und historisches Wissen: Ein Sonderfall ist es, wenn die intendierten Rezipienten über ein ganz bestimmtes literarisches oder historisches Wissen verfügen und auf dessen Grundlage eine bestimmte Entwicklung der Erzählung erwarten können. Die Leser der Evangelien kennen vermutlich vorab die Eckdaten des Lebens Jesu und erwarten, dass vom Tod Jesu und seiner Auferstehung erzählt wird.

Nachdem man die Figurenmerkmale, das Wissen über die erzählte Welt sowie das Weltwissen und ggf. das literarische und historische Wissen der intendierten Rezipienten historisch rekonstruiert hat, lässt sich abschätzen, mit welchen Handlungsalternativen gerechnet werden kann. Die virtuellen Ereignisse können in die Plot map integriert werden. tatsächliche Kerne 6d

5c

5d

virtuelle Ereignisse 1

2

3

5

4 5b 5a

6 6b

Abb. 11c.4: Plot map (Schritt 2) – virtuelle Ereignisse

c. Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen und virtuellen Ereignisse bestimmen Die Handlungsalternativen, die sich über den Verlauf einer Erzählung ergeben, sind zumeist nicht gleich wahrscheinlich. Vielmehr ist es so, dass die Rezipienten aufgrund der gerade beschriebenen Faktoren mit manchen Ereignissen eher rechnen und von anderen Ereignissen völlig überrascht werden. Nicht immer ist der tatsächliche Handlungsverlauf der wahrscheinlichste,

222

11. Texterklärung III – Narratologie

sondern der Erzähler bzw. die Erzählerin kann auch bewusst mit den Erwartungen der Rezipienten spielen. Solche Ereignisse, die aus Sicht der Rezipienten überraschend wirken, ziehen im Lektüreprozess eine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der Erzähler bzw. die Erzählerin kann zudem durch die Aneinanderreihung bestimmter Szenen oder Episoden die Handlungserwartungen der Rezipienten lenken. Dass der „reiche Jüngling“ (gr. ἄρχων) in Lk 18,18–25 an seinem Hab und Gut hängt und betrübt davongeht, lässt die darauffolgende Freigiebigkeit und Freude des Oberzöllners Zachäus (Lk 19,1–10) um so überraschender wirken. Bei der Analyse kann die folgende Typologie zur Beschreibung von Rezeptionserwartungen hilfreich sein: I II

III IV

V VI

Klare Bestätigung: Die Rezipienten haben genau eine Handlungserwartung und diese erfüllt sich auch. Bestätigung: Die Rezipienten erwarten eine bestimmte Handlung (a), erwägen aber mindestens einen anderen Handlungsverlauf (b). Die wahrscheinlichere Handlung (a) geht in Erfüllung. Uneindeutigkeit: Die Rezipienten halten mehrere Handlungsverläufe für wahrscheinlich. Eine der erwogenen Handlungen erfüllt sich. Leichte Überraschung: Die Rezipienten erwarten eine bestimmte Handlung (a), erwägen aber mindestens einen anderen Handlungsverlauf (b). Die unwahrscheinlichere Handlung (b) geht in Erfüllung. Überraschung: Die Rezipienten haben eine Handlungserwartung. Es geschieht etwas anderes, was nicht erwartbar war, jedoch erzähllogisch möglich ist. Provokante Überraschung: Die Rezipienten haben eine Handlungserwartung. Es geschieht etwas völlig anderes, was zudem im Widerspruch zur bisherigen Erzähllogik steht.

In den Handlungsplan kann nun eingetragen werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Rezipienten bestimmte Ereignisse erwarten und welche tatsächlich berichteten Ereignisse im Lektüreprozess besonders auffällig sind. tatsächliche Kerne 6d

III

5d

III

5c virtuelle Ereignisse

IV 1

I

2

II

3

4 I

II

5

I

III

6 I-IV Handlungserwartung

5b

5a

IV

6b

Abb. 11c.5: Plot Map (Schritt 3) – Handlungserwartungen

größte Überraschung

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

223

11c.2.4 Verknüpfung einzelner Episoden Die meisten modernen Erzählungen haben nicht nur eine einheitliche, einsträngige Handlung, sondern zeichnen sich durch mehrere Handlungen aus, d.h. es werden immer wieder längere oder kürzere Nebenhandlungen eingeschoben. Beim Herzkino kann dies z.B. ein Vater-Kind-Konflikt sein oder der Kampf der Dorfbewohner gegen einen scheinbar übermächtigen Monopolisten, der das Dorfidyll gefährdet. Die neutestamentlichen Evangelien zeichnen sich – überlieferungsgeschichtlich bedingt – durch einen eher episodenhaften Erzählstil aus. Lohnenswert ist es hier gleichwohl, die genaue Verknüpfung der einzelnen Episoden, Szenen oder Aussagen zu untersuchen. Erzählabschnitt

nur dynamische Aussagen

dynamische und statische Aussagen zusammen

kleinste Einheit

Ereignis

Aussage

größere Einheit

Handlungsphase

Geschehen (Szene)

große Einheit

Handlungssequenz

Episode (Akt)

ganze Einheit

Handlung

Geschichte

Tab. 11c.6: Bestandteile einer Handlung und ihre Bezeichnung

In exegetischen Kommentaren wird die Verknüpfungsstärke zwischen einzelnen Erzählabschnitten zumeist noch recht intuitiv bestimmt. Auch hier lassen sich jedoch konkrete Kriterien benennen. Prüfen Sie die entsprechenden Textabschnitte, ob diese vielleicht Folgendes enthalten: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

metakommunikative Hinweise, z.B. Mk 4,35 („am Abend desselben Tages“) kausale Handlungszusammenhänge, z.B. Joh 11,53 ⇒ Joh 11,54 (Tötungsbeschluss der Eliten ⇒ Jesus „ging nicht mehr frei umher unter den Juden“) Übereinstimmung bei Figurenbestand/-konstellation, z.B. Lk 5,27–32/Lk 19,1–10 (Zöllner/Oberzöllner – Jesus als „Entscheider“ – murrende „Widersacher“) Übereinstimmung bei Ort, Zeit oder Gegenständen, z.B. Heilung in einer Synagoge am Sabbat (Mk 1,21–27; 3,1–6) oder das „Boot“ als Kohärenzsignale in Mk 3,9–8,2115 thematische Parallelen, z.B. die sieben Wunder in Joh 2,1–12; 4,43–54;16 Joh 5,1–18; 6,1–15; 6,16–21; Joh 9,1–12; Joh 11,1–57 semantische Übereinstimmung (Figurenrede, Erzählerkommentar), z.B. Mk 1,11/9,7 („Du bist mein lieber Sohn“/„Das ist mein lieber Sohn“) identische Erzählperspektive oder -technik, z.B. Wir-Stücke in Apg 16,10–17; 20,5–8; 21,1–18; 27,1–28,16

15 Vgl. zum Boot als Kohärenzsignal H.-J. Eckstein, Markusevangelium, in: Ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben, Beiträge zum Verstehen der Bibel 5, Münster 22008, 228–231. 16 Die explizite Zeichenzählung in Joh 2,11 und 4,54 ist ein metakommunikativer Hinweis. In Joh 20,30f. findet sich zudem eine explizite Begründung für die Auswahl der dargestellten Zeichen.

224

11. Texterklärung III – Narratologie

Auf Grundlage der genannten Kriterien lässt sich relativ präzise die Verknüpfungsstärke beschreiben. Sind zwei Episoden durch mehrere dieser Faktoren verknüpft, ist es sehr wahrscheinlich, dass die intendierten Rezipienten zwischen diesen Erzählabschnitten einen direkten Bezug herstellen sollen. Beschränkt sich die Verknüpfung ausschließlich auf einen Faktor, z.B. eine thematische Parallele, ist eher Zurückhaltung geboten. Aufgabe: Die Episoden Mk 5,35–43, 9,2–13 und 14,32–42 weisen eine gewisse Übereinstimmung beim Figurenbestand auf (Jesus, Petrus, Jakobus, Johannes). Bestimmen Sie anhand der oben genannten Kriterien die Verknüpfungsstärke zwischen diesen drei Textstellen. Gudrun Guttenberger meint, die Gethsemane-Episode stehe in einem bewussten Kontrast zu Mk 5,35–43 und 9,2–13 (vgl. G. Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, BZNW 123, Berlin 2004, 190–195). Lesen Sie den angegebenen Abschnitt. Können Sie der These von Guttenberger zustimmen? Begründen Sie Ihre Entscheidung!

Demo: Plot map zu Lk 18,18–25 (von Lea Schlenker) Die Perikope in Lk 18,18-25 hat zum einen zur Aufgabe, eine Aussage über das Verhältnis von Reichtum und Nachfolge zu treffen, zum anderen werden die Konsequenzen an der konkreten Figur des Oberen illustriert. Der Verlauf der Handlung steht für den Rezipienten nicht von vornherein fest, sondern wird im Prozess zu einem dynamischen Eindruck, der mit Erwartungen verbunden ist. Diese werden kontinuierlich mit Möglichkeiten und Tatsachen abgeglichen. Wie alternative Handlungsverläufe aussehen könnten, zeigt das obige Schaubild. Der tatsächliche Handlungsverlauf wird von der Figur Jesu bestimmt, seine Autorität – die ihre Begründung sowohl im bisherigen Verlauf des Evangeliums als auch in der Anerkennung des Oberen hat – lenkt das Gespräch. Der Obere entwickelt sich aus der Sicht des Rezipienten im Kontrast zu den Aussagen Jesu. In der Einleitung (V. 18f.) ist er eine sozial höher gestellte Figur; er achtet Jesus als Autorität, da dieser ihm die Frage nach dem Weg zum ewigen Leben beantworten kann. Doch statt auf seine Frage konkret zu antworten, weist Jesus die Bezeichnung „guter Lehrer“ von sich und geht auf die Frage erst in zweiter Linie ein, als er in V. 20 auf die Gebote verweist – die der Obere auch hält (V. 21). Dies setzt der Rezipient aufgrund seines kulturell-religiösen Vorwissens wohl geradezu voraus. Alternativen sind sehr unwahrscheinlich. Umso brisanter ist die überraschende Wende in V. 22, Jesu Aussage, dem Oberen fehle noch etwas. Er soll auf seinen Besitz verzichten, ist jedoch reich und wird „sehr traurig“ (V. 23). Der Rezipient erwartet nun wohl, dass der Obere sich auflehnt oder geht. Doch Lukas (anders als Markus und Matthäus) lässt das offen und leitet mit einer allgemeinen Erklärung, die durch das Sprichwort von Kamel und Nadelöhr unterstützt wird, zur Perspektive auf die Umstehenden über. Es bleibt ein offener Schluss, Jesus formuliert pointiert die Problematik, die Entscheidung des Oberen kommt aber nicht mehr zur Sprache. V. 26 zeigt, dass selbst den Jüngern der Sachverhalt noch nicht klar geworden ist.

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

18 Oberer fragt Jesus nach dem ewigen Leben

Jesus antwortet nicht

19 Jesus rügt den Oberen

Jesus gibt konkrete Hinweise

der Obere befolgt sie

der Obere nimmt Anstoß daran

20 Jesus verweist auf die Gebote

Jesus kritisiert die Frage allgemein

dem Oberen sind die Gebote egal

damit erfüllt der Obere die Bedingungen

21 der Obere befolgt die Gebote

der Obere gehorcht Jesus

22 dem Oberen fehlt noch etwas

der Obere gehorcht Jesus nicht

der Obere geht

23 der Obere wird traurig, er ist reich

der Obere nimmt Anstoß am Konflikt

der Obere reagiert

24–25 der Obere bleibt, allgemeine Erklärung + Sprichwort

Jesus weist den Oberen ab

der Obere gehorcht nun doch

26 Ausgang ist uneindeutig, Zuhörer fragen nach

möglicher Verlauf erwarteter Verlauf tatsächlicher Verlauf starke Überraschung

die Gebote sind überholt

225

226

11. Texterklärung III – Narratologie

11c.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. 2. 3. 4.

Wie lässt sich der Begriff „Ereignis“ aus erzählwissenschaftlicher Sicht definieren? Was versteht man unter der „erzählten Zeit“ und der „Erzählzeit“? Nennen Sie ein Beispiel für eine repetitive Erzählung im Neuen Testament. Worin liegt der analytische Mehrgewinn, wenn man bei der Handlungsanalyse nicht nur tatsächliche Ereignisse, sondern auch „virtuelle“ Ereignisse berücksichtigt?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ Handlungselemente eines Erzähltextes benennen und gewichten, ■ die Handlungsintensität eines Erzählabschnitts bestimmen, ■ Zeitaspekte einer Erzählung beschreiben, ■ tatsächliche und virtuelle Ereignisse einer Handlung rekonstruieren und mithilfe einer Plot map visualisieren und ■ die Verknüpfungsstärke einzelner Episoden bestimmen. Sie kennen jetzt … ■ eine erzählwissenschaftliche Definition für die Begriffe ‚Ereignis‘ und ‚Aussage‘, ■ wichtige Termini zur Beschreibung der erzählten Zeit (z.B. Ordnung, Geschwindigkeit, Frequenz, Prolepse, Analepse) und ■ mit der ‚Plot map‘ einen neueren Theorieansatz zur Beschreibung von Handlungsverläufen.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Handlungsanalyse erkennen und wo sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Die in diesem Kapitel vorgestellten Möglichkeiten einer kognitiv-narratologischen Handlungsanalyse kommen innerhalb des exegetischen Fachdiskurses noch kaum zur Anwendung. Doch vielleicht können sie helfen, um neue Aspekte neutestamentlicher Erzähltexte zu beschreiben, ältere Forschungsthesen kritisch zu hinterfragen, zu verfeinern oder auf eine differenzierte Weise zu bestätigen. Überlegen Sie anhand eines konkreten Textes, worin die Potenziale der vorgestellten Handlungsanalyse liegen könnten. Wo erkennen Sie Schwierigkeiten bei der Anwendung? Diskutieren Sie miteinander, was die Analyse im Blick auf biblische Texte leisten kann. Welche konstruktiven Impulse lassen sich Ihres Erachtens für die Predigt und andere Praxisfelder gewinnen?

c) Wie beschreibt man die erzählte Handlung?

227

11c.4 Literatur 11c.4.1 Andere exegetische Methodenlehren Ebner/Heininger* 79–81 (Genette), Söding* 141–144, Utzschneider/Nitsche* 173–176. Die Handlungsanalyse in Darstellungen der narrativen Exegese: Eisen* 100–110 (dort zu Genette); D. Marguerat/Y. Bourquin, How to Read Bible Stories. An Introduction to Narrative Criticism, London 1999, 85–100 (zu Genette, mit Illustrationen); U. Poplutz, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100, Neukirchen-Vluyn 2008, 1–56; zu allen Kategorien: Finnern* 87–125.

11c.4.2 Einschlägige erzählwissenschaftliche Literatur Busse, J.-Ph., Zur Analyse der Handlung, in: P. Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004, 23–49. Chatman, S., Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca (1978) 1993. (= Chatman*) Genette, G., Die Erzählung, UTB 8083, München (1994) 21998 (frz. 1972 u. 1983). (= Genette*) Gutenberg, A., Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung im englischen Frauenroman, Anglistik 285, Heidelberg 2000, 25–152. (hilfreiche Darstellung, auch zu Ryan) Martínez, M./Scheffel, M., Einführung in die Erzähltheorie, München (1993) 42003, 30–47 (zu Genette) und 108–159. (= Martínez/Scheffel*) Ryan, M.-L., Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington 1991.

11c.4.3 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen du Toit, D.S., Prolepsis als Prophetie. Zur christologischen Funktion narrativer Anachronie im Markusevangelium, WuD 26 (2001), 165–189. Koenen, K., Prolepsen in alttestamentlichen Erzählungen. Eine Skizze, VT 47 (1997), 456–477. (jeweils zu Prolepsen nach Genette)

11d Raumanalyse Leitbegriffe Raum, Raumdarstellung (Intensität und Genauigkeit, Reihenfolge und Verknüpfung, Wandelbarkeit), Aktionsraum, Grenze, revolutionäre/restitutive Grenzüberschreitung, Schauplatz, erzählte Welt, Kompatibilitätskriterien

11d.1 Einführung Der Vorhang geht auf, die Strahler beleuchten die Bühne, das Theaterstück beginnt. Noch ehe der erste Schauspieler auftritt, sehen die Zuschauer bereits das Bühnenbild: ein bis ins Detail liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer mit Möbeln und diversen Accessoires aus dem frühen 20. Jhdt. Hinter der Tür hört man plötzlich das hitzige Gespräch zweier Personen, die im nächsten Moment lamentierend den Wohnraum betreten. Die Schauspieler im Theater agieren nie im luftleeren Raum. Ihre Handlungen finden immer in einem mehr oder weniger detailliert eingerichteten Raum statt. Und diese Raumgestaltung hat einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Erwartungshaltung. Aufgrund eines bestimmten Bühnenbildes rechnen wir bereits vor dem Auftritt mit „passenden“ Charakteren (hier: mit Persönlichkeiten des frühen 20. Jhdts.). Zudem ermöglicht der Raum bestimmte Aktionen und setzt diesen zugleich eine Grenze. So kann das Wohnzimmer – in aller Regel – nur durch die Tür betreten werden. Schleicht sich ein Schauspieler durchs Fenster hinaus, wirkt dies zumindest überraschend (und lässt uns zugleich mit einer bestimmten Absicht rechnen). Letztlich erAbb. 11d.1: Bühnenbild gänzen wir in unserem Gedächtnis zusätzlich zu dem vordergründig dargestellten Raum immer weitere Räume: Das Wohnzimmer platzieren wir in einem Haus, auch wenn wir nie die anderen Räume gezeigt bekommen. Zugleich verorten wir das Haus am Rand eines Dorfes oder in einer Großstadt. Kurzum: Die Räume eines Theaterstücks sind mehr als das bloß vordergründig dargestellte Bühnenbild. Auch bei Erzählungen lässt sich der Raum nicht auf explizite Raumbeschreibungen reduzieren. Er umfasst auch hier alle räumlichen Vorstellungen, die der Rezipient im Lektüreprozess aufgrund der textlichen Informationen

d) Wie beschreibt man den erzählten Raum?

229

und seines Vorwissens gewinnt. Hinzu kommen zudem alle zeitlichen Beschreibungen, d.h. etwa die Frage, wie viel Zeit zwischen zwei Ereignissen verstrichen ist oder wann ein Ereignis in der erzählten Zeit zu datieren ist. Im Folgenden stellen wir Ihnen verschiedene Raumkategorien vor, die für neutestamentliche Erzähltexte relevant sind, und erklären Ihnen, wie sich diese methodisch untersucht lassen. 11d.2 Methode Methode der Raumanalyse (11d.2.1–2.4) 1. Die Raumdarstellung analysieren: a. Die Intensität und Genauigkeit der Raumdarstellung beschreiben und mit dem literarischen Kontext (ggf. mit anderen zeitgenössischen Texten) vergleichen. b. Die Reihenfolge und Verknüpfung der Teilräume beschreiben. c. Die Wandelbarkeit des Raums beschreiben. 2. Den Aktionsraum und die Grenzüberschreitungen analysieren: a. Untersuchen, ob der explizit beschriebene oder implizit vorausgesetzte Raum Aktionen der Figuren ermöglicht oder begrenzt. b. Untersuchen, ob eine Grenze überschritten wird, und bestimmen, ob es sich dabei um eine restitutive oder revolutionäre Grenzüberschreitung handelt. 3. Den Schauplatz und den erzählten Raum analysieren: a. Schauplatz: Analytische Verstehensfragen zum zeitlichen und räumlichen Schauplatz formulieren (Tab. 9.2). Fragen – aus arbeitspraktischen Gründen – auswählen. Das entsprechendes Vorwissen quellenkundlich erschließen (Suche, Auswahl). Den Schauplatz interpretieren und erklären. b. Erzählter Raum: Auch Orte bestimmen, die durch die Erzählung vorausgesetzt werden, ohne als eigentlicher Schauplatz gelten zu können (z.B. Mt 2: Morgenland). Die Rahmenbedingungen des erzählten Raumes rekonstruieren und anhand von neun Kriterien die Kompatibilität zwischen dem erzählten Raum und dem Weltbild der Rezipienten bestimmen.

11d.2.1 Die Raumdarstellung analysieren Zum Theater gehört das Handwerk des Bühnenbildners. In Rücksprache mit der Regie konzipiert und gestaltet dieser die Kulissen und ist dafür zuständig, dass diese während der Aufführung gewechselt werden. Bei der Analyse der Raumdarstellung geht es auch ums Handwerkliche, also erzählwissenschaftlich gesprochen um die discourse-Ebene. Es wird analysiert, wie die Räume in einer Erzählung und über den Verlauf der Erzählung dargestellt werden. Im Detail lassen sich folgende Analysekategorien unterscheiden: ■

Intensität und Genauigkeit: Zunächst lässt sich analysieren, wieviel Platz eine Raumbeschreibung innerhalb eines Erzählabschnitts einnimmt (Intensität) und ob die In-

230

11. Texterklärung III – Narratologie

formationen zu Raum und Zeit präzise oder unpräzise sind (Genauigkeit). Zu beachten ist allerdings, dass die Intensität und Genauigkeit einer Raumbeschreibung a) einem zeitgeschichtlichen Geschmack folgt, und b) zumeist von der Gattung eines Textes abhängt. Neutestamentliche Erzählungen zeichnen sich zumeist durch eine vergleichsweise geringe Intensität und Genauigkeit aus. Nicht selten ist hier ein Vergleich mit dem erzählerischen Kontext aufschlussreicher als eine Kontrastierung mit anderen antiken Erzähltexten. Warum wird plötzlich ein bestimmtes Detail erwähnt (z.B. Mk 4,36b: Begleitboote), obwohl der Autor die Räume sonst nur sehr oberflächlich und ungenau beschreibt? ■ Reihenfolge und Verknüpfung: Räume können durch eine Erzählung auf unterschiedliche Weise verknüpft werden. Die einfachste Form ist die Aneinanderreihung (z.B. Apg 18,1). Daneben gibt es andere Verknüpfungen, wie z.B.: ■ die „Parallelmontage“1 (z.B. Mk 14,53–14,72: Synhedrium/Vorhof), ■ die kausale Verknüpfung (z.B. Mk 6,6: weil Jesus in Nazareth verworfen wird, geht er in die umliegenden Orte), ■ den „Zoom“ (z.B. Joh 2,13–16: Jerusalem – Tempel – Händler/Wechsler), ■ den „Zwischenstopp“ (Apg 18,18: Frisörtermin in Kenchreä). ■ Wandelbarkeit: Wird ein Raum mehrfach erwähnt, so kann analysiert werden, inwiefern sich dieser als wandelbar oder konstant erweist. Ein Beispiel für die Wandelbarkeit eines Raums ist die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums in Mk 11,12–14 und 11,20–25.2 Hier wird gerade ein starker Kontrast vor Augen gestellt (Feigenbaum mit Blättern/verdorrter Feigenbaum).

11d.2.2 Den Aktionsraum und die Grenzüberschreitungen analysieren Im Hinblick auf die Handlung können Räume entweder Aktionen ermöglichen oder begrenzen. Der Raum lässt sich in dieser Hinsicht als Aktionsraum bezeichnen. Zu den handlungsermöglichenden Größen können Gegenstände bzw. Tatwerkzeuge zählen, die einem Raum explizit zugeschrieben werden oder die der Rezipient in diesem Raum aufgrund seines kulturellen Wissens voraussetzt. Jesus und seine Jünger verfügen über ein Boot, mit dem sie den See Genezareth überqueren können. Die Synagoge in Nazareth, in der Jesus eine Schriftrolle gereicht wird, wird zum Ort seiner Antrittspredigt (Lk 4,16– 21).

1 Vgl. zu diesem Begriff, der den Filmwissenschaften entlehnt ist: Th. Koebner, Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 32011, 435. 2 Auch hier ist bei der Analyse freilich zu beachten, dass von der Antike bis in die Vormoderne mit weitaus größeren Inkohärenzen zu rechnen ist. Zuweilen wird ein „Handlungsraum […] entworfen und imaginiert, aber er überdauert in der fiktionalen Welt die Handlungssequenz nicht, für die er gedacht war, sondern er entsteht und erlischt mit ihr“ (U. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007, 76).

d) Wie beschreibt man den erzählten Raum?

231

Umgekehrt können die Räume das Handeln der Figuren begrenzen. Werden solche Grenzen3 überwunden, weckt dies im Lektüreprozess die Aufmerksamkeit des Rezipienten. Hierbei kann es entweder zu einer vorübergehenden oder permanenten Grenzüberschreitung kommen (restitutive/revolutionäre Grenzüberschreitung).4 Der johanneische Bericht von der Tempelreinigung (Joh 2,13–25) beschreibt eine restitutive Grenzüberschreitung. Jesus wirbelt das bestehende Ordnungssystem Grenzüberschreitungen nur vorübergehend durcheinander. Anders ist es in Mk 2,1– 12: Die Menschenmenge und die Mauern des Hauses stellen keine unüberwindbare Grenze für den Gelähmten und seine Freunde dar, weil sie sich einen Weg durch das Dach bahnen. Die Heilung des Mannes sorgt dafür, dass diese Grenzüberschreitung eine nachhaltige Wirkung behält. Der Mann kann das Haus auf seinen eigenen Beinen verlassen und aus eigener Kraft nach Hause gehen. 11d.2.3 Den Schauplatz und den erzählten Raum analysieren Über die rein textlichen Informationen hinaus lässt sich bei der Raumanalyse untersuchen, welche Vorstellung der Rezipient über den Erzählverlauf vom Schauplatz (engl. setting) und vom erzählten Raum gewinnt. ■

3

Schauplatz: So wie der Zuschauer im Theater das Wohnzimmer in einem Haus und das Haus möglicherweise in einer Stadt verortet, fügt auch der intendierte Leser der neutestamentlichen Erzählungen einzelnen Räume zu einem Schauplatz zusammen und ergänzt dabei die textlichen Informationen durch sein textexternes Vorwissen. Will man diesen Schauplatz analysieren, so reicht es nicht – wie bisher in der Exegese üblich – alle Ortsangaben (z.B. Synagoge, Kapernaum, See) herauszuschreiben und aufzulisten. Vielmehr müssen darüber hinaus alle Frames und Skripts rekonstruiert werden, die dem Rezipienten zur Erschließung räumlicher und zeitlicher Vorstellungen zur Verfügung stehen: Wie muss man sich eine Synagoge zur Zeit der Evangelisten vorstellen? An welchem Ort in Kapernaum soll sich die Synagoge nach der Vorstellung des Autors befinden? Wie in Kap. 9 (Texterklärung I) beschrieben, sind zur Beschreibung des Schauplatzes alle Leer- bzw. Inferenzstellen zu benennen, an denen der Rezipient sein Vorwissen eintragen kann und soll. Hierzu können Sie auf die bereits benannten Analysefragen zum zeitlichen und räumlichen Setting zurückgreifen (Tab 9.2). Danach gilt es, das Vorwissen der Rezipienten mit Hilfe von Quellen zu rekonstruieren und das Quellenmaterial anhand des in Kap. 10 (Texterklärung II) vorgestellten Kriterienkatalogs zu bewerten, bevor ein eigener Kommentar geschrieben werden kann.

Der Begriff der Grenze geht zurück auf J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, 311–329 u. 337. Bei Lotman ist der Begriff der Grenze aber nicht allein auf räumliche Strukturen im engeren Sinne begrenzt, sondern umfasst auch soziale, religiöse und ethnische Gegensätze (vgl. a.a.O., 312). 4 Vgl. zu diesen Begriffen Martínez/Scheffel* 158.

232 ■

11. Texterklärung III – Narratologie

Erzählter Raum: Der Rezipient gewinnt über den Lektüreprozess hinweg nicht nur eine Vorstellung von den einzelnen Schauplätzen, sondern er verbindet diese zugleich zu einer kognitiven Vorstellung, die in diesem Methodenbuch als erzählter Raum5 bezeichnet wird. Zum erzählten Raum gehören dabei nicht allein alle explizit genannten Schauplätze, sondern auch all jene Orte, die durch die Erzählung indirekt vorausgesetzt werden. Wenn in Mt 2,1ff. Magier aus dem Orient kommen, so ist das Morgenland Teil des erzählten Raums, wenngleich dieser Ort nie zum eigentlichen Schauplatz wird. Außerdem erzählter Raum werden durch den erzählten Raum wichtige Rahmenbedingungen vorausgesetzt, ohne die manche Ereignisse oder Verhaltensweisen der Figuren schlichtweg unerklärlich blieben. So wird in Mk 15,1 nicht ausdrücklich erklärt, warum die religiösen Autoritäten Jesus nach dem Prozess vor dem Hohen Rat an Pilatus ausliefern. Der intendierte Rezipient versteht diese Textinformation jedoch aufgrund der vorausgesetzten politischen Rahmenbedingungen. Er weiß, dass bei Kapitalverbrechen allein der römische Statthalter entscheiden durfte (vgl. Flav. Jos. Bell. 2,117; Joh 18,30f.). Anhand der implizit vorausgesetzten und explizit thematisierten Rahmenbedingungen lässt sich abschließend bestimmen, inwieweit der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten kompatibel sind. Bei der Analyse sind die folgenden neun Kompatibilitätskriterien hilfreich. 6 1. physikalische Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten setzen dieselben Naturgesetze voraus.“ 2. taxonomische Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten setzen die Existenz derselben Wesen voraus und diese Wesen werden mit denselben Eigenschaften charakterisiert.“ 3. logische Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten setzen beide dieselben Prinzipien der Logik voraus.“ 4. linguistische Kompatibilität: „Der erzählte Raum wird in einer Sprache beschrieben, die die intendierten Rezipienten verstehen können.“ 5. ethisch-religiöse Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten stimmen in religiösen und moralischen Vorstellungen überein.“ 6. geografisch-topografische Kompatibilität: „Zwischen dem erzählten Raum und dem Weltbild der intendierten Rezipienten besteht eine Übereinstimmung darüber, wo einzelne Schauplätze zu verorten sind und wie diese topografisch und klimatisch beschaffen sind.“ 7. ethnische Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten stimmen in der Beschreibung einzelner Ethnien überein.“ 8. politische Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten setzen dasselbe politische System voraus.“

5 Oft wird diese kognitive Größe auch als erzählte Welt (engl. narrative world) bezeichnet. Wir differenzieren an dieser Stelle noch einmal, weil die erzählte Welt über den erzählten Raum hinaus auch alle Figuren und deren Handlungen beinhaltet. 6 Die Kriterien 1–4 orientieren sich an M.-L. Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington/Indianapolis 1991, 31–47, bes. 32f.45f. Die Kriterien 5–9 stellen eine Ergänzung bzw. Ausdifferenzierung dar, die für die Analyse neutestamentlicher Erzähltexte hilfreich erscheint.

d) Wie beschreibt man den erzählten Raum?

233

9. soziale und wirtschaftliche Kompatibilität: „Der erzählte Raum und das Weltbild der intendierten Rezipienten setzen dieselben sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen voraus.“ Beachten Sie: Die Analyse des erzählten Raums sollte nicht voreilig mit der historischen Rückfrage gleichgesetzt werden. Es geht hier um die Kompatibilität des erzählten Raums mit dem Weltbild der Adressaten, an die der Autor die Erzählung richtet.

Demo: Raumanalyse zu Mk 5,1–20 Nachdem die bisherigen Ereignisse der markinischen Erzählung in der Wüste am Jordan (Mk 1,1–13) und Galiläa (1,14–4,34) – schwerpunktmäßig in der Gegend von Kapernaum (1,21; 2,11) – zu verorten waren, wird in 4,35–41 von einer lebensbedrohlichen Überfahrt berichtet, die Jesus und seine Jünger an das „andere Ufer“ bringt. Erstmals wird dadurch der bisherige Schauplatz verlassen. Dieser erschien durch den Auftritt religiöser Autoritäten und die wiederholte Erwähnung einer Synagoge als jüdisches Terrain. Das Gebiet der Gerasener wird im Kontrast hierzu als heidnisches Gebiet vorgestellt. Für diese Assoziation sorgt v.a. die Erwähnung einer großen Schweineherde, 7 die hier keineswegs nur ein erzählerisches Detail darstellt (= Raumdarstellung), sondern als handlungsrelevantes Element zugleich die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich zieht. Analog hierzu wird später von (Schweine-)Bauern berichtet (V. 14). Ohne eine genaue Ahnung von der geografischen Lage des Schauplatzes haben zu müssen, gewinnt der Rezipient eine räumliche Orientierung, indem ihm zwei ethnisch differente Teilräume vorgestellt werden, die durch den See (= Grenze) voneinander getrennt sind. Einzig Jesus und seine Jünger vermögen es, mit Hilfe des zuvor bereitgestellten Bootes (3,9) zwischen beiden Räumen hin- und herzuwechseln. Alle anderen Figuren verbleiben – auch im weiteren Erzählverlauf – in ihren jeweiligen Herkunftsgebieten. Dies gilt gerade auch für den geheilten Gerasener, der entgegen seines eigenen Wunsches in der Dekapolis verbleiben muss (vgl. 5,17–20). Nichtsdestotrotz kann im Hinblick auf Mk 5,1–20 und den Geheilten von einer revolutionären Grenzüberschreitung gesprochen werden. Der von Dämonen besessene Mann, der allein in entlegenen Höhlen hausen musste und von keinem gebändigt werden konnte, wird nach seiner Heilung von Jesus entlassen und verkündigt sodann in der gesamten Dekapolis die Heilstat des Kyrios bzw. die Heilstat Jesu (V. 19f.). Ein in der Kommentarliteratur vieldiskutiertes Lokalisierungsproblem stellt die Ortsbeschreibung in 5,1 dar. Es wird erzählt, dass Jesus in das Gebiet der Gerasener gekommen sei. Die damals bekannte Stadt Gerasa liegt aber 55 km südöstlich vom See

7

Auf Grundlage der jüdischen Speisegebote (vgl. Lev 11,2b–8; Dtn 14,7f.; 2 Makk 6,18–20; 7,1–13; 1 Makk 1,62f.) wird hier eine stereotype Vorstellung bedient: „Heiden halten im Unterschied zu Juden Schweine“ (vgl. aus heidnischer Perspektive Tac. Hist. 5,4). Unerheblich ist an dieser Stelle, dass Juden mitunter durchaus Schweinefleisch aßen. Dies bleibt in literarischen Quellen immer Gegenstand von Kritik (Jes 65,4; 66,3; 66,17). Dass sich für die östliche Uferseite des Sees – archäologisch betrachtet – keine homogene Bevölkerungszusammensetzung nachweisen lässt (vgl. H. Bietenhard, Die syrische Dekapolis von Pompeius bis Trajan, ANRW II/8, Berlin/New York 1977, 220–261), ist ebenfalls zu vernachlässigen. Die intendierten Rezipienten des Markusevangeliums dürften gerade kein solch differenziertes Bewusstsein für Bevölkerungsminoritäten gehabt haben.

234

11. Texterklärung III – Narratologie

und ist zudem durch das Yarmuktal von diesem getrennt. Wie konnte die Schweineherde angesichts dieser Distanz in den See stürzen und ersaufen? Zwei Lösungsansätze erscheinen diskutabel: 1) Markus und seine Rezipienten kannten die genaue Lage Gerasas nicht. Im Unterschied zur „Realität“ liegt Gerasa nach der Auffassung der Rezipienten am See, 2) Markus und seine Rezipienten wussten um die Lage und Bedeutung Gerasas. Sie wussten zudem, dass zu dieser polis (vgl. Plin. nat. 5,16) weitere Landpartien gehörten, die von Schweinehirten bewirtschaftet wurden. Sie konnten vermuten, dass solche Bewirtschaftungszonen (auch) am See lagen. Zu Vorschlag 2) scheinen einige Formulierungen in Mk 5,1–20 zu passen: So ist explizit davon die Rede, dass Jesus nur in das „Gebiet der Gerasener“ (V. 1) kommt und nicht nach Gerasa. Und die Hirten erzählen vom geschehenen Unglück (V. 14) in der Stadt und auf den Gehöften bzw. in den Dörfern (ἀγρός). Allerdings verwendet Markus politische und topografische Begriffe sonst eher in einem umgangssprachlichen Sinn, ohne eine entsprechende Präzision erkennen zu lassen. Außerdem wird in 2) ein überaus facettenreiches Vorwissen vorausgesetzt, das sich aufgrund der spärlichen Quellenlage kaum verifizieren lässt. Lösungsansatz 1) ist deshalb vorzuziehen. Im erzählten Raum des Markusevangeliums liegt das heidnische Gerasa in Seenähe. Die intendierten Rezipienten, bei denen kein geografisches Detailwissen vorausgesetzt wird, nehmen hieran keinen Anstoß. Somit besteht eine geografisch-topografische Kompatibilität zwischen dem erzählten Raum und dem Weltbild der Rezipienten. Auch im Hinblick auf alle anderen Kriterien lässt sich eine Kompatibilität feststellen. Drei Übereinstimmungen seien hier kurz erläutert: ■ taxonomische Kompatibilität: Im erzählten Raum und nach dem Weltbild der Rezipienten existieren Dämonen und Besessene. Beide verhalten sich so, wie man es von ihnen erwartet und wie es sich – aufgrund des bisherigen Erzählverlaufs – nahelegt (vgl. 1,21–27; 1,39; 3,11f.). ■ ethnische Kompatibilität: Heiden halten Schweine (s.o.). ■ soziale und wirtschaftliche Kompatibilität: Der Verlust von 2000 Schweinen wiegt wirtschaftlich schwer. Das Entsetzen der Bauern und ihre Reaktion erscheinen vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.

11d.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Nennen Sie die drei Analysekategorien, die bei der Untersuchung der Raumdarstellung angewandt werden können. 2. Was versteht man unter einer revolutionären Grenzüberschreitung? Geben Sie ein Beispiel. 3. Warum lässt sich der erzählte Raum nicht auf die Summe aller Schauplätze reduzieren? 4. Nennen Sie mindestens vier Kompatibilitätsbereiche, wie sich die Kompatibilität zwischen dem erzählten Raum und dem Weltbild der Rezipienten beschreiben lässt.

d) Wie beschreibt man den erzählten Raum?

235

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ die Raumdarstellung innerhalb einer Erzählung auf ihre Intensität und Genauigkeit, ihre Reihenfolge und Verknüpfung sowie Wandelbarkeit untersuchen. ■ den Aktionsraum analysieren und revolutionäre sowie restitutive Grenzüberschreitungen bestimmen. ■ zwischen den Schauplätzen einer Erzählung und dem erzählten Raum differenzieren und beide als kognitive Größen analysieren. ■ die Kompatibilität zwischen dem erzählten Raum und dem Weltbild der intendierten Rezipienten beschreiben. Sie kennen jetzt … ■ zentrale Analysekategorien, die für die Raumanalyse neutestamentlicher Erzähltexte relevant sind.

Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Raumanalyse erkennen und wo Sie noch offene Fragen haben. Vernetzen Sie sich: Lesen Sie miteinander einen Kommentar zu Mk 5,1–20. Vergleichen Sie die Darstellung dort mit der Demo in diesem Kapitel. Diskutieren Sie miteinander, welchen Mehrwert die hier vorgestellte Methode der kognitiven Beschreibung des erzählten Raums besitzt. Wo sehen Sie umgekehrt Schwierigkeiten bei der Anwendung der hier vorgestellten Methodik?

11d.4 Literatur 11d.4.1 Aktuelle erzählwissenschaftliche Einführungen Dennerlein, K., Narratologie des Raumes, Narratologia 22, Berlin/New York 2009. Ryan, M.–L., Art. Space, in: P. Hühn u.a. (Hgg.), The Living Handbook of Narratology, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/space (abger. 9.4.2016).

11d.4.2 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Bork, A., Die Raumsemantik und Figurensemantik der Logienquelle, WUNT II/404, Tübingen 2015. Bosenius, B., Der literarische Raum des Markusevangeliums, WMANT 140, Neukirchen-Vluyn 2014. (strukturalistische Raumanalyse) Rüggemeier, J., Ein See – zwei Ufer. Raum und erzählte Welt im Markusevangelium, in: Chr. Bartsch/F. Bode (Hgg.), Welten erzählen, Narratologia, Berlin u.a. 2016 (im Druck). Störmer-Caysa, U., Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007.

12 Analyse der Textnachwirkung Leitbegriffe intendierte Wirkung, Empathiefaktoren, Sympathie und Antipathie, Spannungsfaktoren, Emotion, direkte Anwendung, indirekte Applikation, Identifikation, intendierte Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderung

12.1

Einführung

Die Spätvorstellungen sind vorbei. Aus den beiden Sälen strömen zahlreiche Kinobesucher. Die Menschen, die aus dem einen Saal kommen, sind überaus heiter gestimmt. Es wird viel geredet und gelacht. In der anderen Gruppe dagegen herrscht Schweigen. Es sind lauter nachdenkliche Mienen zu sehen. Erst draußen auf der Straße fangen einige aus der zweiten Gruppe Abb. 12.1: Der Film ist aus – was bleibt? an, sich über das Gesehene auszutauschen. Die Wortfetzen, die man aufschnappt, verraten, dass die anderen Kinobesucher einen bedrückenden Dokumentarfilm gesehen haben … Dieses kurze Beispiel zeigt: Filme „machen“ etwas mit ihren Zuschauern – sie wirken nach, kurzfristig und vielleicht langfristig. Filme erzeugen Emotionen oder können sogar Denken und VerFilmwirkungen halten beeinflussen. Welche kurzfristigen und langfristigen Wirkungen Filme genau haben, ist dabei nicht ganz zufällig. Viele Gattungsbezeichnungen leiten sich von der intendierten Wirkung ab. Zwar wird eine ‚Komödie‘ nicht jeden zum Schmunzeln bringen, aber sie versucht es immerhin. Bei einem ‚Thriller‘ sind spannungserzeugende Elemente zu erwarten. Eine ‚Dokumentation‘ möchte Wissen vermitteln und vielleicht auch zum Handeln anregen. Was beim Medium Film offensichtlich ist, gilt ebenso für andere Kommunikationsmedien. Auch Texte – in unserem Zusammenhang kurzfristige und also Erzähltexte wie die Evangelien oder Brieftexte wie die langfristige Paulusbriefe – wollen die Rezipienten kurzfristig emotional Wirkung bewegen und/oder langfristig in ihrem Denken und Verhalten beeinflussen. Der römische Dichter Horaz (65–8 v.Chr.) benennt diese zwei Arten von Wirkungen in seinem bekannten Vers: „Aut prodesse volunt

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

237

aut delectare poetae“1 („Die Dichter wollen entweder nützen oder unterhalten“). Wie man diese Absicht der kurzfristigen Unterhaltung und der langfristigen Nutzanwendung wissenschaftlich genau beschreiben kann, darum wird es nun in diesem Kapitel gehen: Was ist die Wirkung, die der Autor beim Rezipienten erzielen möchte? Anders geintendierte Wirkung fragt: Was will der Autor/Sprecher eigentlich mit seinen Äußerungen erreichen? Man spricht von der Intention (Absicht) des Autors, genauer von der intendierten Wirkung.2 Definition: Textnachwirkung Die Analyse der Textnachwirkung beschäftigt sich mit der Grundfrage: Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben? Die Untersuchung der Textwirkung (oder allgemein: Medienwirkung) kann man im Einzelnen so aufschlüsseln: 1. Kurzfristige bzw. rezeptionsbegleitende Wirkungen (delectare; ἔλεος und φόβος): Intendierte a) Empathie, b) Sympathie, c) Spannung und d) Emotionen 2. Langfristige, den Rezeptionsvorgang deutlich überdauernde Wirkungen (prodesse; κάθαρσις): Intendierte Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderung (b), vermittelt durch intendierte Anwendung (direkt/indirekt) (a)

Beachten Sie: Innerhalb der Exegese geht es um die Textwirkung, die vom Autor beabsichtigt war, nicht um die tatsächliche Wirkung des Textes auf historische und heutige Rezipienten. 3 Aufgabe: Lesen Sie Ps 119,130, Joh 20,31f., 2 Tim 3,15–17 und Hebr 4,12. Welche Wirkungen biblischer Texte werden hier erwartet? Versuchen Sie, diese Wirkungen den oben erwähnten Kategorien zuzuordnen.

1 Horaz, Ars poet. 333. Horaz ergänzt, dass auch beides zugleich möglich sei. – Auch die Begriffe ἔλεος, φόβος und κάθαρσις aus der Definition der Tragödie bei Aristoteles (Poetik 1449b) kann man der kurzfristigen und der langfristigen Wirkung von Texten bzw. Medien zuordnen. Worin die κάθαρσις („Reinigung“) besteht und wie sie zustande kommt, ist freilich interpretationsbedürftig. 2 Die Intention des Autors lässt sich sowohl auf den Inhalt als auch auf die Wirkung des Textes beziehen (intendierte Bedeutung und intendierte Wirkung). Im engeren Sinn soll mit „Intention“ (Absicht, Zweck) die intendierte Wirkung bezeichnet werden. 3 Während die Bibelauslegung auf die damals intendierte Textwirkung ausgerichtet ist, kann historisch und praktisch-theologisch auch die reale Textnachwirkung von Interesse sein. Beispiel: Die Wirkungsgeschichte der Aufforderung zur Feindesliebe (Mt 5,44). Die tatsächliche Wirkung eines Textes lässt sich durch Analyse von Quellen (historische Textwirkung) oder durch Interview/Beobachtung (empirische Textwirkung) ermitteln.

238

12. Textnachwirkung

Exkurs: Die Textnachwirkung in der biblischen Exegese Bei der Beschäftigung mit einem Text ist es naheliegend zu fragen: Was möchte der Autor eigentlich mit seinem Text erreichen? Auslegungen und Kommentare zu biblischen Texten geben darauf in vielen Fällen eine Antwort. Oft wird auch bereits die Wirkungsgeschichte bzw. Rezeptionsgeschichte biblischer Texte, also die tatsächliche Textwirkung, aufgearbeitet. In der exegetischen Praxis ist die Frage nach der Textnachwirkung also durchaus zentral. Auf der anderen Seite ist die Frage nach der Textnachwirkung in der Exegese bisher kaum methodisch erfasst. In der klassischen historisch-kritischen Methode fehlt sie als eigener Schritt und wird an einigen Stellen am Rande mitbehandelt (im Rahmen der Redaktionsgeschichte bei der Untersuchung redaktioneller Motive, in der Traditionsgeschichte bei der Frage nach Überzeugungen des Verfassers, im Rahmen der Formgeschichte als „Sitz im Leben“ einer Gattung4 und beim Historischen Ort bei der Frage nach der Identität der Adressaten). Offen bleibt: Wie kann die „Intention des Autors“ – im Sinne der intendierten Wirkung des Textes – systematisch beschrieben werden? Welche Kategorien sind dafür hilfreich? Diese methodische Lücke in der Exegese hat man in den letzten Jahrzehnten unterschiedlich zu füllen versucht, um die historisch-kritischen Methodenschritte zu ergänzen. Um den Aspekt der Textwirkung besser zu erfassen, hat man in der Exegese verstärkt Theorien der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik oder der linguistischen Pragmatik aufgegriffen, bisweilen auch Modelle aus der Rhetorik und aus der Kommunikationswissenschaft. In Frage kommen alle methodischen Ansätze, die die Wirkung von Medieninhalten – insbesondere Text und Rede – auf irgendeine Weise beschreiben. Hier ist in der exegetisch-hermeneutischen Diskussion vieles in Bewegung. Die Rezeptionsästhetik beispielsweise hat der RezeptionsBibelexegese in den letzten zwei Jahrzehnten geholfen, den Blick ästhetik auf den „Leser“ des Bibeltextes zu richten. Leider sind ihre theoretischen Grundannahmen problematisch und sie bietet außerdem wenig konkrete Analysekategorien. Die Rezeptionsästhetik hat auch in der Literaturwissenschaft an Bedeutung verloren. 5 Nun sollte die Exegese keinem „Trend“ hinterherlaufen, der sich in der eigenen Ursprungsdisziplin bereits als überholt erwiesen hat. Wenn andere Modelle von der Exegese aufgegriffen werden (z.B. die Sprechakttheorie aus der Pragmatik), wendet man in der Regel nur wenige Analysekategorien isoliert an, anstatt verschiedene Ansätze miteinander zu vermitteln. Auch wenn die rezeptionstheoretische Diskussion – wie Sie sehen – keineswegs zu einem Endpunkt gekommen ist, soll in diesem Kapitel ein einheitliches analytisches Modell vorgestellt werden. Die methodischen Ausführungen sind von Theorien aus der kognitiven Erzählforschung, Medienwirkungsforschung, Sozialpsychologie und Gleichnishermeneutik beeinflusst. Sie ergänzen an dieser Stelle auch andere Lehrbücher, die in die Methodik der Exegese einführen.

4

Vgl. ausführlicher dazu Steck* 116–121. Vgl. T. Köppe/S. Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2008, 85: „Seit den 1980er Jahren verliert die Rezeptionsästhetik als eigene Forschungsrichtung an Einfluss. Die Untersuchung der Beziehungen von Text und Leser werden allerdings von anderen theoretischen Ansätzen aufgenommen und ansatzspezifisch reformuliert bzw. präzisiert.“ 5

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

12.2

239

Methode

In methodischer Hinsicht können die verschiedene Bereiche der intendierten Textwirkung nacheinander am Text untersucht werden. Diese Bereiche sollen im Folgenden je einzeln beschrieben werden. Nicht alle Punkte sind bei jedem Text sinnvoll zu bearbeiten. Im Zuge der Exegese müssen Sie selbst entscheiden, welche dieser Aspekte für Ihren Text und Ihren Forschungsschwerpunkt relevant sind: Methode: Analyse der intendierten Wirkung des Textes Leitfrage: Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben? Beschreiben Sie die vom Autor beabsichtigten 1. kurzfristigen Textwirkungen: a) Intendierte Empathie, b) intendierte Sympathie, c) intendierte Spannung, d) intendierte Emotionen. 2. langfristigen Textwirkungen: a) Intendierte Anwendungen, b) intendierte Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen.

12.2.1 Beabsichtigte kurzfristige Wirkungen a) Empathie: „Empathie“ (dt. „Einfühlung“) bedeutet, dass sich die Rezipienten mit einer Person, die für sie „im“ oder „hinter“ dem Text erkennbar ist, innerlich nahe fühlen. Die Adressaten sollen intendierte Empathie sich also verstärkt in diese Personen hineindenken können; sie sind darauf konzentriert, deren Gefühle, Motivationen usw. (vgl. Kap. 11b) zu verstehen. Die Analyse der intendierten Empathie ist besonders für Erzähltexte wie die Evangelien aufschlussreich, kann aber ebenso auch bei den neutestamentlichen Brieftexten auf das „Ich“ des Paulus oder auf im Text geschilderte Gegner angewendet werden. Um nun die vom Autor intendierte Empathie zu einzelnen Personen – die Empathielenkung – zu beschreiben, ist der Text auf literarische und erzählerische Mittel zu prüfen, die die Empathie typischerweise beeinflussen (Empathiefaktoren). Methode: Analyse der intendierten Empathie Leitfrage: In welche Personen sollen sich die Adressaten wie stark einfühlen können? 1. Überprüfen Sie, welche der Faktoren empathischer Nähe (Tab. 12.2) auf die Figuren/Personen in Ihrem Textabschnitt zutreffen. Wie „nah“ oder „fern“ sind den Adressaten die geschilderten Personen? 2. Unabhängig von den Empathiefaktoren: Bei welchen Personen ist es plausibel,

240

12. Textnachwirkung

2. Unabhängig von den Empathiefaktoren: Bei welchen Personen ist es plausibel, dass die Empathie der Adressaten schon beim ersten Auftreten der Person vom Autor vorausgesetzt ist (z.B. weil die betreffende Person als bereits bekannt gilt)? 3. Manchmal ist es interessant festzustellen, ob sich die Intensität der intendierten Empathie im Textverlauf ändert (Empathiedynamik).

(1) hohe Innensicht in die Figur

(5) häufige Präsenz der Figur

(2) Figur ist Wahrnehmungszentrum der Erzählung („camera eye“)

(6) große Bedeutung der Figur für den Handlungsfortschritt

(3) dramatischer Darstellungsmodus (z.B. Wiedergabe wörtlicher Rede)

(7) Komplexität und Offenheit der Figur („runde“ Figur)

(4) häufige Erzählerkommentare/ Kommentare anderer Figuren

(8) Ähnlichkeit zu Problemen und Lebenssituationen der Rezipienten

Tab. 12.2: Faktoren für empathische Nähe (Auswahl)

Beachten Sie bei der Frage nach der intendierten Empathie, dass Ihre Perikope immer Teil eines Gesamtwerkes ist: So lassen sich z.B. die Kriterien, ob eine Figur einer Erzählung häufig präsent ist (5) oder eine große Bedeutung für die Handlung besitzt (6), nur im Rückgriff auf die gesamte Erzählung beantworten. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die Rezipienten im Lektüreprozess einzelne Figuren gruppieren: Auch wenn der Besessene im Textabschnitt lediglich eine Episodenfigur darstellt, kann durch das vorherige Auftreten von „Dämonisierten“ eine hohe Empathie angebahnt werden. Und drittens sollte man die kulturell geprägten Eigenheiten von Erzählungen im Blick haben: Antike Erzähltexte wählen manchmal andere erzählerische Mittel, um die Empathie zu einzelnen Figuren zu fördern, als spätere Epochen der Literaturgeschichte. Aufgabe: In unserer Gesellschaft wird der Einfluss von Computerspielen immer wieder diskutiert. Erklären Sie mit Hilfe der genannten Faktoren, warum Ego-Shooter ein hohes Maß an Empathie ermöglichen.

Beispiel: Empathie gegenüber den Hohenpriestern in Matthäus 26–28 In der Passionsgeschichte nach Matthäus ist der Autor offensichtlich darauf bedacht, bei seinen Adressaten keine allzu große Empathie mit den Hohenpriestern, den Gegnern Jesu, zu wecken. Die Pläne der Gegner werden weitgehend in Form von knappen Gesprächsberichten dargestellt anstatt in direkter Rede (3). Die Erzählerkamera schwenkt nur jeweils kurz auf die Hohenpriester und Ältesten (2) und bleibt ansonsten bei Jesus und den Jüngern. Zwar sind die Hohenpriester wichtig für den Handlungsfortschritt (6), doch als Figurengruppe erscheinen sie „flach“ und eindimensional (7).

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

241

b) Sympathie: Während die genannten Empathiefaktoren die Intensität beeinflussen, mit der sich die Adressaten in Figuren einfühlen können, ist damit noch nicht gesagt, wie eine Figur dann bewertet wird. Empathie und Sympathie sind zwei verschiedene Dinge:6 IntenIntendierte Sympathie dierte Empathie meint, dass der Adressat eine innere Nähe zu einer Person aufbauen soll, mit ihren Augen sehen, in ihren Schuhen gehen kann (Einfühlung); intendierte Sympathie dagegen heißt, dass der Adressat eine positive Einstellung zu dieser Person haben soll, sie also gut findet, sie sozusagen (im Fall der Social Media) „liket“. Antipathie ist „negative Sympathie“, also die entsprechende negative Einstellung zu der Person. Die Sozialpsychologie erfasst Einstellungen auf einer Skala, etwa so:

Antipathie

––



0

+

++

Sympathie

Bei der Textanalyse kann man sympathiebeeinflussende Faktoren untersuchen, die die Einstellung zu einer genannten Person oder Personengruppe in Richtung Sympathie oder Antipathie verschieben. Die Analyse von Einstellungen (zu Personen, aber auch zu Eigenschaften und Verhaltensweisen) wird uns später wieder begegnen (unter 12.2.2 b). Methode: Analyse der intendierten Sympathie bzw. Antipathie Leitfrage: Wie groß ist die Sympathie/Antipathie der Adressaten zu einzelnen Figuren im Verlauf des Textes? 1. Überprüfen Sie, welche der sympathiebeeinflussenden Faktoren (Tab. 12.3) auf die Figuren/Personen in Ihrem Textabschnitt zutreffen. Wie sympathisch oder unsympatisch sollen die geschilderten Personen den Adressaten sein? 2. Unabhängig von den Sympathiefaktoren: Bei welchen Personen ist es plausibel, dass die Sympathie (oder Antipathie) der Adressaten schon beim ersten Auftreten der Person vom Autor vorausgesetzt ist (z.B. weil die betreffende Person zu einer sympathischen Gruppe gehört)? 3. Manchmal ist es interessant festzustellen, ob sich die Intensität der intendierten Sympathie im Textverlauf ändert (Sympathiedynamik).

Die Beurteilung einer Person kann vom Autor eines Textes durch zwei Arten von Strategien beeinflusst werden: 1. durch „Testimonials“: Die Einstellungsbeeinflussung geschieht durch positiv oder negativ wertende Kommentare glaubwürdiger Instanzen (jedenfalls glaubwürdig aus Sicht der vom Autor gedachten Adressaten), also durch ein direktes Urteil des Autors (Gal 5,12), Zitate von Autoritäten, zuverlässige Erzähler- und Figurenkommentare (z.B. Äußerungen Jesu über Personen, Mt 26,24).

6

Vgl. zur Differenzierung von Empathie und Sympathie V. Barthel, Empathie, 39–41.

242

12. Textnachwirkung

2. durch Schilderung „guter“ oder „schlechter“ Eigenschaften, Worte und Handlungen der Person: Ob ein beschriebenes Verhalten als „gut“ oder „schlecht“ eingeordnet wird, richtet sich nach dem Normensystem der Rezipienten. 7 Daher ist in der Exegese das kulturelle Normensystem der intendierten Adressaten wichtig. Also: Wie wurde ein bestimmtes Verhalten damals beurteilt, z.B. Prostitution, Umgang mit Zöllnern, Berührung von Unreinen, Tätigkeiten am Sabbat? Welche Formen der Reglementierung und Sanktion bestanden diesbezüglich? Dieses vom Autor vorausgesetzte Wissen ist in der Regel über externe Quellen zur Sozialgeschichte zu erschließen, auch wenn (wie bei Jesus)8 im Text neue Normhierarchien etabliert werden können. Tab. 12.3: Strategien der Sympathielenkung

Beispiel: Sympathielenkung in den Evangelien durch „Testimonials“ Die Evangelisten sichern die Sympathie der Adressaten gegenüber Jesus gleich zu Beginn mit verschiedenen „Testimonial“-Strategien: durch die Erfüllungszitate (= die Schrift als Zeuge für Jesus) im Matthäusevangelium, durch die Himmelsstimme (Bat Qol) nach der Taufe Jesu bei Markus, durch das Auftreten der Engel bei Lukas, durch das Zeugnis des Täufers im Johannesevangelium. Bei genauerem Hinsehen schildert jeder Evangelist sogar eine Mehrfachbezeugung: Die Schrift, Gott, Engel, der Heilige Geist, Johannes der Täufer und weitere Figuren geben alle ihr „Testimonial“ (vgl. μαρτυρία) für Jesus (vgl. 1). Worte, Handlungen und Wunder Jesu, die alle im Einklang mit dem vorausgesetzten oder neu geprägten Wertesystem der Adressaten sind, verstärken die Sympathie (vgl. 2).

c) Spannung: Viele Erzählungen sollen vor allem unterhalten; und für das ‚delectare‘ (Horaz) ist es nicht selten wesentlich, dass der Text spannend ist: Wie geht die Handlung weiter? Wird der Held überleben? Wer war der Mörder? usw. – Auch biblische Erzähler wollen die intendierte Spannung Leser und Hörer so in ihren Bann ziehen: Die Erzählungen von Kain und Abel, David und Goliath sind nicht nur theologisch und anthropologisch tiefgründig, sondern zunächst ganz einfach spannend. Wenn in einem Text Spannung aufgebaut werden soll, ist es hilfreich, die Spannungsbögen näher zu untersuchen.

7 Vgl. V. Barthel, Empathie, 42: „Wertschätzung wird dann gefördert, wenn eine Einzelinformation über eine Figur […] eine positive Beurteilung vor den für diesen Text aktivierten Normen- und Wertehorizonten zulässt“. 8 Jesus verhält sich in den Evangelien teilweise nicht den üblichen Normen entsprechend; das wirkt sich aber interessanterweise nicht auf die Sympathie aus (nur bei den Gegnern Jesu), sondern relativiert umgekehrt die Norm (z.B. Mk 2,28: „Der Menschensohn ist ein Herr auch über den Sabbat“).

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

243

Methode: Analyse der intendierten Spannung Leitfrage: Wie hoch ist die Spannung an welcher Stelle des Textes? 1. Überprüfen Sie den Text auf die zwei Typen von Spannung: Gibt es eine a) Rätselspannung, bei der die Adressaten eine Informationslücke haben und die Information erwarten, oder eine b) Konflikt- und Bedrohungsspannung, bei der die Adressaten einen Konflikt (Handlungsanalyse, Kap. 11c) empathisch mitverfolgen sollen? Wie lang sind die Spannungsbögen (Mikrospannung nur in diesem Textabschnitt oder Makrospannung über den gesamten Text hinweg)? 2. Für die Höhe der Spannung beachten Sie die Spannungsfaktoren (Tab. 12.4). Wenn Sie die verschiedenen, sich überlagernden Spannungsbögen nun an jeder Stelle addieren: An welchen Punkten ist die Spannung besonders hoch (Spannungshöhepunkte), wo eher niedrig? Möglicherweise kann es interessant sein, den Spannungsverlauf grafisch zu illustrieren.

Auch wenn es schwierig ist – außer bei empirischen Studien zur Wirkungsforschung, die die Leitfähigkeit der Haut oder die Herzfrequenz während des Filmsehens messen –, ein absolutes Maß für die Höhe der Spannung beim Rezipienten zu finden, lassen sich dennoch einige Faktoren benennen, die zu einer hohen Spannung beitragen und die teilweise auch zur Alltagstheorie antiker Autoren gehört haben könnten. Die Liste in Tab. 12.4 dient dementsprechend als grobe Orientierung. (1) Limitierung der Handlungsalternativen (auf zwei Extreme, z.B. Sieg oder Tod)

(4) häufige oder ausführliche Erwähnung der Handlungsalternativen

(2) Sympathie zu der Figur/Figurengruppe

(5) geringe Wahrscheinlichkeit des erhofften Geschehens

(3) partielle Informiertheit der Rezipienten über Vergangenes oder Zukünftiges

(6) thrill durch „biologisch fundierte Triebstrukturen“: Angriff, Nahrung, Fortpflanzung (crimen, fructus, sexus) 9

Tab. 12.4: Faktoren zur Erzeugung von Spannung (Auswahl)

Beispiel: Ankündigung von Leiden und Auferstehung (Mk 8,31; 9,31; 10,33f.) Mit den Ankündigungen von Leiden und Auferstehung Jesu (narratologisch: Prolepsen) baut das Markusevangelium Spannung auf. Auch wenn der Rezipient so den Ausgang der Geschichte kennt – doch der tatsächliche Bericht des Leidens steht über mehrere Kapitel aus („unerfüllte Pflicht“, Konfliktspannung), der Bericht der Auferstehung unterbleibt sogar völlig (Rätselspannung).

9

Vgl. P. Wenzel, Analyse der Spannung, 184f., mit Verweis auf den Ödipusmythos.

244

12. Textnachwirkung

d) Emotionen: Die Kinobesucher aus unserem Anfangsbeispiel verlassen die beiden Filme mit sehr unterschiedlichen Gefühlen. Doch muss sich die Analyse von Rezeptionsemotionen nicht allein auf das (glückliche) Ende konzentrieren. Die Rezipienten eines Films oder Intendierte Emotionen eines Textes werden nicht erst am Schluss mit einer gewissen Mischung an Emotionen entlassen, sondern schon über den gesamten Erzählverlauf werden Gefühle evoziert. Auch bei biblischen Erzähltexten ist zu beobachten, dass bestimmte Emotionen der Adressaten hervorgerufen werden sollen. Methode: Analyse der intendierten Emotionen Leitfrage: Welche Emotionen sollen bei den Rezipienten an welcher Stelle des Textes ausgelöst werden? Überprüfen Sie verschiedene Arten von möglichen Emotionen: 1. ästhetische Emotionen: Diese – oft positiven – Gefühle sind auf die Textstruktur, d.h. den Text als „Kunstwerk“ bezogen, hervorgerufen z.B. durch Reime, Stilmittel oder Erkennen von Intertextualität. 2. figurenmerkmalsbezogene Emotionen: Eigenschaften und Verhaltensweisen als solche sollen Emotionen auslösen, z.B. bei komischen Figuren. 3. situationsbezogene Emotionen: vgl. Tab. 12.5. 4. perzeptuelle Emotionen: Diese Gefühle entstehen z.B. durch die Stimmung des geschilderten Raums und sind bei biblischen Texten eher selten. Überlegen Sie, wie stark die intendierten Emotionen jeweils sind. Sie können außerdem ein Verlaufsdiagramm der Emotionen erstellen.

Bei den intendierten Gefühlen sind neben den ästhetischen Emotionen10 vor allem situationsbezogene Emotionen besonders häufig, sozusagen das „Mitfiebern“ der Rezipienten mit einzelnen Figuren im Verlauf einer Erzählung. Situation der Figur

bei Sympathie

bei Antipathie

abgeschlossene Situation

positiver Ausgang

Freude/Erleichterung

Ärger

negativer Ausgang

Mitleid/Enttäuschung

Schadenfreude

erwartete Situation

positiver Ausgang

Hoffnung

Furcht

negativer Ausgang

Furcht

Hoffnung

Tab. 12.5: Rezeptionsemotionen abhängig von Situation und Wertschätzung der Figur 11

10 11

Zu den Artefakt-Emotionen C. Hillebrand, Das emotionale Wirkungspotenzial, 128–136. Nach Finnern* 202, basierend auf R. Schneider, Grundriß, 111–116.

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

245

Rezipienten haben Befürchtungen und Hoffnungen in Bezug auf den Fortgang der Handlung; sie freuen sich oder empfinden Mitleid, wenn den Figuren etwas Gutes oder Schlechtes widerfährt. Die Gefühle im Handlungsverlauf hängen auch davon ab, ob man der Figur eher Sympathie oder Antipathie entgegenbringt (Tab. 12.5). Die Stärke der situationsbezogenen Emotionen ist in der Regel vom Ausmaß der Sympathie bzw. Antipathie abhängig und wohl auch von der Spannungsintensität. Erlebt eine Figur ein schweres Schicksal oder ist gar ihr Leben bedroht, so ist auch das Mitleid bzw. die Furcht umso größer.12 Die in der Tabelle systematisch dargestellten Rezeptionsemotionen wirken übrigens selbst dann, wenn den Rezipienten aufgrund ihres Vorwissens spätere Elemente der Handlung bekannt sind, z.B. dass Jesus am Ende tatsächlich gekreuzigt wird. Beispiel: Emotionale Wirkungen im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu Bei der Perikope von der Gefangennahme Jesu (Mt 26,47ff.) rechnet der Evangelist Matthäus offensichtlich mit Emotionen bei seinen Adressaten: Als die bewaffnete Schar erscheint, haben sie Angst um „ihren“ Jesus. Sie sind dann enttäuscht, als er sich tatsächlich gefangen nehmen lässt (vgl. Tab. 12.5). Um der Enttäuschung bei seinen Adressaten zu begegnen, lässt Matthäus dann die Reflexion im Munde Jesu (V. 52–56) folgen. Die intendierten Adressaten ärgern sich über den Kuss des (unsympathischen) Verräters Judas; deswegen schildert Mt auch dessen Tod (Mt 27,5).

Empfohlene Literatur zur vertieften Diskussion der kurzfristigen Wirkungen: C. Hillebrandt, Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Berlin 2011; W. Schweiger/A. Fahr (Hgg.), Handbuch Medienwirkungsforschung, Wiesbaden 2013. Beide Bücher gehen auf Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen ein – und auf einiges mehr. Hinweis: Kritisch kann man gegen diese Methodenschritte – die Untersuchung intendierter Empathie, Sympathie, Spannung, Emotionen – einwenden, dass die Ergebnisse oft hypothetisch sind. Vielleicht werden dem antiken Autor auch Intentionen z.B. hinsichtlich der Empathiesteuerung unterstellt, die ihm gar nicht so sehr bewusst waren. Hüten Sie sich deswegen vor aller Selbstgewissheit, was die Ergebnisse Ihrer Exegese betrifft, und unterscheiden Sie zwischen gut begründeten und eher hypothetischen Aussagen zur intendierten Textwirkung. Auf der anderen Seite sind in biblischen Texten tatsächlich sehr differenzierte Strategien zur Steuerung von Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen vorhanden – auch wenn deren theoretische Formulierung erst seit Ende des 20. Jahrhunderts erfolgt und lange noch nicht abgeschlossen ist –, die auf die langfristig beabsichtigten Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen Einfluss nehmen und nicht ohne exegetischen Schaden übersprungen werden können. Wer also ganz auf diesen 12

Diese emotionale Anteilnahme kann aber „kippen“ zu Artefakt-Emotionen, wenn Glück und Unglück in einem – aus Sicht der Adressaten – realitätsfernen Maß dargestellt werden.

246

12. Textnachwirkung

Analyseschritt verzichtet, wo es sinnvoll wäre – insbesondere bei Erzähltexten –, übersieht die Feinheiten im Aussageschwerpunkt des Textes; Feinheiten, die bei exegetischen Streitfragen für die Argumentation entscheidend sein können. Daher gehört die Einbeziehung der intendierten kurzfristigen Wirkungen aus heutiger Sicht zu einer verantwortungsvollen wissenschaftlichen Bibelauslegung.

12.2.2 Beabsichtigte langfristige Wirkungen Über die bisher geschilderten rezeptionsbegleitenden Wirkungen hinaus (Empathie, Sympathie, Spannung, Emotionen) verfolgen Autoren mit ihren Texten sehr oft auch eine langfristige Absicht bei ihren Adressaten. Gerade biblische Texte sind nicht einfach bloß zur Unterhaltung geschrieben – anders als viele Romane. Sie zeichnen sich (a) durch einen bestimmten intendierten Anwendungsbezug zur Lebenswelt der Adressaten aus und versuchen so, (b) Einfluss auf die Meinung und das Verhalten ihrer Rezipienten zu nehmen. Während die Frage nach der intendierten kurzfristigen Wirkung eher für die Analyse von Erzähltexten bedeutsam ist (natürlich auch bei emotionalen oder stilistisch kunstvollen Reden und Briefen), lässt sich die beabsichtigte langfristige Wirkung bei allen Arten von Texten sinnvoll untersuchen. a) Intendierte Anwendungen (Lebensbezüge, Identifikation) Im Rahmen der Predigtvorbereitung suchen Pfarrerinnen und Pfarrer oft nach der „Anwendungsmöglichkeit“ biblischer Texte: Was hat der „fremde“ Bibeltext mit dem Leben heutiger Hörer Anwendung zu tun? Wo und wie kann sich dieser biblische Text heute als wichtig erweisen? In der Bibeldidaktik, im Blick auf den Schul- und Konfirmandenunterricht, geht es in ähnlicher Weise um Bezüge des Bibeltextes zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Und auch bei der Bibellektüre allein oder gemeinsam steht fast immer die Frage im Raum: Wo kann ich den Text heute für mich anwenden (und wo nicht)?13 Die „Anwendung“ des biblischen Textes ist für heutige Rezipienten im außeruniversitären Kontext also äußerst intendierte Anwendung wichtig. Anders verhält es sich in der wissenschaftlichen Bibelexegese14, weil es bei der Exegese um das Verstehen des Textes im damaligen historischen Kontext geht und nicht um heutige Sinnpo-

13 Vgl. zur applicatio („Anwendung“) schon J.A. Bengels Motto aus der Vorrede zu dessen Textausgabe des griechischen NT (1734): Te totum applica ad textum, rem totam applica ad te („wende dich ganz dem Text zu, den ganzen Inhalt wende auf dich an“). 14 Im englischen Sprachraum gibt es Methodenlehren der biblischen Exegese, die auch die Methodenschritte „Kontextualisierung“ und Predigtvorbereitung erfassen, welche die exegetischen Ergebnisse auf spezifische Weise weiterverarbeiten, aber nicht zu den methodischen Schritten im Rahmen des philologischen Interesses gehören. Vgl. dazu hier Kap. 14: Praktisches Interesse/Neudarstellung.

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

247

tenziale und Anwendungsmöglichkeiten für die jeweiligen Adressaten (Predigthörer, Gemeindegruppen, Schüler usw.). Letzteres zu bedenken und methodisch zu beschreiben, ist dann Aufgabe der Praktischen Theologie. Dennoch: Analog zur Praktischen Theologie sollte die Exegese nach der historisch intendierten Anwendung fragen – mit ähnlichen Differenzierungen, aber hier noch auf die Autorintention bezogen. Es ergibt sich so eine Brücke zwischen Exegese und Praktischer Theologie (→ Kap. 14: Praktisches Interesse/Neudarstellungen). Um in historischer Hinsicht den intendierten Lebensbezug zu beschreiben, ist es hilfreich, zwischen direkten und indirekten Anwendungen zu unterscheiden. Definition: „Anwendung“ Unter „Anwendung des Textes“ (Lebensbezug, Praxisbezug, Applikation) wird hier der Vorgang verstanden, bei dem der Rezipient eines Textes Elemente des Geschilderten mit seinem eigenen Leben vergleicht. Die Grundfrage der Anwendungsanalyse lautet also: „Wo/wie kommt das Genannte im Leben der Rezipienten vor?“ Die Frage nach der intendierten Anwendung beschränkt sich auf die vom Autor intendierten Adressaten: „Wo/wie kommt das Gesagte nach der Vorstellung des Autors im Leben seiner Rezipienten vor?“ Aus methodischer Sicht ist es hilfreich, zwei Arten von kommunikativen Strategien der Anwendung zu unterscheiden: 1. direkte Anwendung: A (im Text) ist identisch mit B (im Leben der Rezipienten). 2. indirekte Anwendung: A (im Text) ist (in einer bestimmten Hinsicht) vergleichbar mit B (im Leben der Rezipienten). Im Grunde geht es bei dieser Unterscheidung darum, dass die indirekte Anwendung weitaus schwieriger methodisch nachzuvollziehen ist.

1. Direkte Anwendungen des Textes liegen dort vor, wenn eine Person, ein Ort, ein Ereignis oder eine Aussage im Text auch zur vorausgesetzten Lebenswirklichkeit der intendierten Rezipienten gehört. Die Adressaten des Textes müssen keine gedankliche Überdirekte Anwendung tragung von A nach B vornehmen, sondern das Genannte betrifft direkt ihr eigenes Universum. Der Rezipient erfährt zum Beispiel etwas über die Eigenschaften Jesu, über die Ereignisse rund um die Kreuzigung oder etwas darüber, wie „die“ Athener sind (Apg 17,21). Es handelt sich immer um Aussagen, die der Autor als faktual aufgefasst wissen will bzw. die Faktualität einfach voraussetzt (das muss nicht bedeuten, dass sie tatsächlich faktual sind) und die das bisherige Weltwissen der Rezipienten ergänzen bzw. bereichern sollen.

248

12. Textnachwirkung

Man kann bei der Analyse des Textes auf mehrere Bereiche achten, in denen eine direkte Anwendung vorgenommen werden soll:15 Einige Arten direkter Anwendbarkeit des Textes 1. Figur im Text = real vorausgesetzte Person; d.h. grundsätzliche Aussagen über die Pharisäer, über Nachfolger Jesu, über Gott und Jesus. Methodische Frage: Was soll der Rezipient über Personen, die ihm wichtig sind, – z.B. über Jesus, dem er nachfolgt – erfahren (vgl. ein Prinzip persönlicher geistlicher Bibellektüre: „Schau Jesus an“)? 2. erzählte Ereignisse und Räume = real vorausgesetztes Ereignis oder Setting; also Informationen über vergangene (Ex 13) oder zukünftige Ereignisse (Mt 24–25), die vom Rezipienten als real aufgefasst werden sollen. Frage: Was erfährt der Rezipient über Ereignisse, Zeiten und Orte? 3. Aussage = real gemeinte, allgemeingültige Aussage über die Welt. Frage: An welchen Erkenntnissen kann sich der Rezipient im Leben orientieren? Beispiel: „Was der Mensch sät, das wird er ernten“ (Gal 6,7). 4. Aufforderungen = real gemeinte, allgemeingültige Aufforderungen. Methodische Frage: Was soll der Rezipient in seinem Leben tun? Beispiel: „Seid nicht geldgierig“ (Hebr 13,5).

Aufgabe: Lesen Sie die Geschichte von der Heilung eines Kranken am Teich Betesda (Joh 5,1–3a.5–9). Welche Aspekte wollte der Verfasser den Adressaten des Johannesevangeliums direkt als Anwendung kommunizieren? Achten Sie auf die Ortsangaben und die Charakterisierungen Jesu.

2. Anders als bei direkten Anwendungen wird dagegen bei der indirekten Anwendung eine Aussage im Text gemacht, die stellvertretend für eine andere Sache in der Lebenswirklichkeit der Adressaten steht (A ist wie B). Bei solchen Formen der Applikation müssen die indirekte Anwendung Adressaten sozusagen „parallel denken“. Das kommt viel häufiger vor, als man im ersten Augenblick meinen könnte, und auch oft zusätzlich zur direkten Anwendung. Im Grunde funktionieren viele Erzähltexte wie ein Gleichnis, da Identifikationen vorgenommen werden sollen. Gerade die neutestamentlichen Evangelien sind so erzählt, dass sich die Adressaten beispielsweise im Verhalten der Jünger oder in anderen Menschen, mit denen Jesus zu tun hat, „wiederentdecken“ sollen.

15 In Anleitungen zur Bibelarbeit wird dies – unter Aufgabe der wissenschaftlichen Präzision – manchmal verkürzt zum „POZEK-Schlüssel“: Person, Ort, Zeit, Ereignis, Kern. Vgl. dazu z.B. M. Zimmermann, Erzählen, in: M. & R. Zimmermann (Hgg.), Handbuch Bibeldidaktik, UTB 3996, Tübingen 2013, 475–482, dort (479) auf die Nacherzählung des Textes angewendet.

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

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Aufgabe: Schauen Sie noch einmal in den Erzählabschnitt Joh 5,1–3a.5–9. Mit wem sollen sich die Adressaten des Johannesevangeliums hier wahrscheinlich identifizieren? Was genau sind die Vergleichspunkte? (Auflösung s.u.)

Indem Menschen sich mit Figuren aus Erzählungen – historisch oder nicht – identifizieren, werden sie in ihrem Denken und Verhalten beeinflusst. Deshalb sollte man, wenn man die indirekten Figurenapplikationen wissenschaftlich analysieren möchte, die im Text beschriebenen Figuren im Einzelnen durchgehen und prüfen, an welchen Stellen Identifikationsmöglichkeiten für die Adressaten bestehen. Bei Texten mit zwei kommunikativen Ebenen, z.B. Gleichnissen innerhalb der Evangelien, muss man zwei Rezipienten-Ebenen betrachten: die erzählten Adressaten (die Gesprächspartner Jesu) und die Adressaten des Evangeliums.

Man kann drei Arten der Identifikation unterscheiden: Selbstidentifikation („So bin ich auch“), Fremdidentifikation („So sind auch andere, und zwar …“) und existenziale Identifikation („So ist der Mensch“). ■





16

Selbstidentifikation: Bei dieser Identifikation können die intendierten Rezipienten der jeweiligen Erzählebene einen Bezug zu ihrem eigenen Leben herstellen. Sie erkennen sich in einer Figur wieder: „So bin ich auch bzw. so will ich auch sein“ (z.B. Lk 10,37). Manchmal wird ihnen auch ein schlechtes Vorbild vor Augen geführt (Negativ-Identifikation). Die Rezipienten sollen dann im genau gegenteiligen Verhalten bestärkt werden: „So bin ich nicht bzw. will ich nicht sein“ (z.B. Mt 26,69–75). Vgl. dazu die nebenstehende Abb. 12.6.16 Fremdidentifikation: Die Figur einer Erzählung soll von den Rezipienten mit anderen Menschen bzw. einer Gruppe aus ihrem Lebensumfeld identifiziert werden: „So sind Abb. 12.6: Identifikation auch ‚die‘ Juden heute!“ (z.B. Mt 28,15, aus heutiger Sicht natürlich problematisch, vgl. → Kap. 13c: Kritisches Interesse). Existenziale Identifikation: In einigen Texten kommt es vor, dass die Rezipienten in einer Figur Grundsätzliches über den Menschen erkennen sollen: „So ist der Mensch!“. Solche prototypischen Aussagen begegnen zum Beispiel zu Beginn der Genesis, in der Erzählung vom Sündenfall. Aber auch das „Ich“ in Röm 7 lässt sich hier verorten, wobei Missverständnisse dieses Textes gerade daher kommen, dass das „Ich“ fälschlicherweise mit der Person des Paulus identifiziert wird. Beschrie-

Abbildung aus D. Marguerat/Y. Bourquin, How to Read Bible Stories. An Introduction to Narrative Criticism, SCM, London 1999 (frz. 1998), 65.

250

12. Textnachwirkung

bene Personen repräsentieren in diesem Fall nicht nur bestimmte konkrete Menschen, sondern stehen für die existenzialen Grundbedingungen des menschlichen Lebens. Allerdings ist der Übergang zu den konkreten Identifikationen manchmal fließend. Ausgehend von der Charakterisierung einer Figur lassen sich oft allgemeinmenschliche Aussagen abstrahieren, wie es z.B. bei einer (tiefen)psychologischen Auslegung geschieht, aber das entspricht eben nur in seltenen Fällen der intendierten Textwirkung. In der Exegese müssen Argumente genannt werden, warum die allgemeinmenschliche Ebene bereits beim Autor im Blick war. Dagegen haben im Bereich der Predigt oder Andacht solche Abstraktionen durchaus ihren Wert.

Wenn man eine viel versprechende „Paarung“ zwischen der Textwelt und der Welt der intendierten Adressaten gefunden hat, dann kann man sich für die Analyse eine Vergleichstabelle anlegen. Es zählen die Merkmale der Entität im Text, die von den Rezipienten erkannt werden sollen. Grundlage für die Bestimmung solcher Gemeinsamkeiten und Unterschiede ist also eine gründliche Analyse der intendierten Wahrnehmung der entsprechenden Entität im Text (→ Figurenanalyse). Vergleichspunkte, z.B. Eigenschaften, Verhalten

Entität A im Text, z.B. eine Person oder ein Senfkorn

Bezugsgröße B, z.B. die Adressaten selbst oder das Reich Gottes

c1 , c2 … Tab. 12.7: Vergleichstabelle für die Analyse indirekter Anwendungen

Beispiel: Johannes 5,1–9 (ohne V. 3b–4) Vergleichspunkte

A Kranker

B Adressaten des JohEv

c1 krank sein

a1 ist seit 38 Jahren krank

b1 einige haben Erfahrung mit langer Krankheit

c2 benachteiligt sein, beeinträchtigt sein, einsam sein

a2 hat keinen Menschen, der ihn zum Teich bringt

b2 kennen Benachteiligung, körperl. Beeinträchtigung und damit verbundene Einsamkeit

c3 gefragt werden

a3 „Willst du gesund werden?“

b3 auch sie werden von Jesus „gefragt“ (Intention des Joh!)

c4 geheilt werden

a4 wird geheilt

b4 Wunsch wird aktualisiert bzw. Erinnerung an gemachte Heilungserfahrung

Die Geschichte Joh 5,1ff. hat sicherlich unmittelbar etwas mit den Rezipienten des Evangeliums zu tun. Zur Erklärung: b1 ist allgemein plausibel und lässt sich daher begründen, dass diese Geschichte ohne eine entsprechende

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Lebensrelevanz nicht überliefert worden wäre; b2 lässt sich außerdem mit Ausgrenzungserfahrungen der Adressaten in Verbindung bringen (vgl. ἀποσυνάγωγος Joh 9,22); b3 und b4 haben dann therapeutische Funktion für die Adressaten (wobei Joh das „geistliche“ Gesundwerden ebenfalls im Blick hat, vgl. V. 14). In der endgültigen Darstellung, zum Beispiel in einer Seminararbeit, wirkt eine entsprechende Tabelle zu ausführlich. Stellen Sie in der Seminararbeit nur die relevanten Ergebnisse dar. Als Zwischenschritt, für die zwischenzeitliche Analyse, ist sie jedoch oft nützlich. Besonders bei der Untersuchung von Gleichnissen oder bei der manchmal kniffligen Frage nach Anspielungen auf die Lebenswelt der Rezipienten (z.B. auf die römische Kaiserverehrung17) ist zur Vorarbeit eine noch genauere Analyse wichtig. In diesem Fall – also nur wenn der Aufwand lohnt – kann man sich nach den folgenden Schritten richten: Methode: Genaue Analyse von intendierten indirekten Lebensbezügen 1. Plausibilität prüfen, ob eine Entität A im Text auf eine bestimmte Bezugsgröße B aus der Lebenswelt der Rezipienten gerichtet ist: Gibt es explizite Referenzsignale im Text, die darauf hinweisen? Ansonsten ist mit möglicher Erinnerungsnähe und Parallelität aus Sicht der Rezipienten zu argumentieren. 2. Vergleichspunkte (tertia comparationis) im Text bestimmen und Aussagen der Sachhälfte bezogen auf B in der Lebenswelt der intendierten Adressaten benennen. 3. Pointe herausarbeiten: Welchem Vergleichspunkt sollen die Adressaten die meiste Aufmerksamkeit widmen?

1. Plausibilität des angenommenen Lebensbezugs nachweisen: Bei der Analyse kann der Text auf Hinweise untersucht werden, die den Rezipienten signalisieren, dass ein Bezug zwischen Text und Lebenswirklichkeit hergestellt werden soll. Am einfachsten ist es natürlich, wenn der Autor oder eine Figur als intradiegetischer Erzähler konkrete Referenzsignale setzt, im Sinn von: „Das Gesagte bedeutet für dich …“. Hierzu zählen EinleitungsReferenzsignale formeln wie bei den Reich-Gottes-Gleichnissen („Das Himoder Erinnemelreich gleicht …“) oder auch eine anderweitige explizite rungsnähe Identifikation („Ihr seid das Salz der Erde“). In vielen Fällen jedoch gibt es keine expliziten Signale. Hier wird das Entdecken des Lebensbezugs einfach vom Autor vorausgesetzt, weil den Rezipienten die Größe B besonders präsent ist („Erinnerungsnähe“), insbesondere bei der Selbstidentifikation. Dann gilt es, dem Autor eine bewusste Schaffung von „Parallelität“ nachzuweisen, indem er z.B. zu einzelnen Personen im Text 17 Vgl. M. Ebner, Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, BN 116 (2003), 28–42. Einen ausführlichen methodischen Vorschlag macht Chr. Heilig, Hidden Criticism?, WUNT II/392, Tübingen 2015 bezogen auf die Paulusbriefe.

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12. Textnachwirkung

Empathie aufbaut, die eine gewisse Ähnlichkeit zum Leben der Rezipienten besitzen. Außerdem gibt es Bezüge, die nur erkannt werden können, wenn man den „Verstehenshorizont“ (die kognitiven Frames und Skripts), der bei den Adressaten vorausgesetzt wird, kennt. Bei den intendierten Lebensbezügen sind also wie bei den Textbezügen (Kap. 10.2.2) „kognitive Schemata“, „Aktivierung“ und „Plausibilität“ nachzuweisen. 2. Vergleichspunkte bestimmen und Aussagen der Sachhälfte benennen: Wenn vermutet wird, dass der Autor zwischen einer Entität im Text (Person, Sache, Ort) und einer anderen Größe im Leben der Rezipienten einen Bezug hergestellt haben möchte, müssen die auch konkreten Vergleichspunkte – Begriffe, Aussagen oder Eigenschaften, die zu vertertia comparationis gleichen sind – bestimmt werden. Hierbei ist zu bedenken, dass sich in einem Text oftmals mehrere tertia comparationis finden lassen. Diese tertia rücken unterschiedlich stark in die Wahrnehmung der intendierten Rezipienten (→ Schritt 3: Pointe). Daneben ist prüfend zu fragen, wofür diese tertia stehen. Dies ist die eigentliche Deutung: die Übertragung der Aussagen der Bildhälfte auf die Sachhälfte. Also: Wie sollen die intendierten Rezipienten den jeweiligen Vergleichspunkt auf Entität B übertragen (wenn es einer ist)? Beispiel: Der jüngere Sohn in Lk 15 steht für „Zöllner und Sünder“ (Referenzsignal in Lk 15,1). Zu Beginn des Gleichnisses in Lk 15,13 nimmt der jüngere Sohn sein Erbe mit. Beim systematischen Durchsehen möglicher Vergleichspunkte stößt man also auf die Frage, was nun das „Erbteil“ von Gott ist, das ein Zöllner mit seinem Tun verprasst: Zeit und Begabungen? Dieser Vergleichspunkt hat wenig Gewicht, weil man kaum Argumente für eine Entsprechung auf der Sachhälfte findet. Nur selten findet sich im Neuen Testament selbst eine explizite Aufschlüsselung einer Figurenapplikation oder eines Gleichnisses (vgl. Mk 4,13–20). 3. Pointe herausarbeiten: Meistens sind nicht alle Vergleichspunkte gleich wichtig. Während die intendierten Rezipienten vermutlich sehr intuitiv die Pointen herausgehört haben, müssen wir diese heute auf der Grundlage des entsprechenden Vorwissens der Rezipienten und einer Analyse des Erzählverlaufs rekonstruieren. Nur so lässt sich allzu vorschnellen Urteilen und Interpretationen entgegenwirken. Aufgabe: Lesen Sie das Gleichnis „vom verlorenen Sohn“ (Lk 15, 11–24[25–32]). Was ist die Pointe des Gleichnisses? Antworten Sie intuitiv. Schauen Sie dann in die Auslegung von Christof Landmesser: Chr. Landmesser, Die Rückkehr ins Leben nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), ZThK 99 (2002), 239–261. Welche Pointe arbeitet der Tübinger Neutestamentler heraus und wie begründet er diese?

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

253

b) Intendierte Meinungs- und Verhaltensänderungen Oftmals sollen Texte am Ende – wie schon Horaz meinte – „nützen“, d.h. sie sollen die Rezipienten in ihrer Meinung und ihrem Verhalten positiv beeinflussen. Wenn man die neutestamentlichen Briefe liest, scheint an vielen Stellen das Anliegen durch, die Adressaten zu einem veränderten Denken und Verhalten führen zu wollen. Ein ähnliches Ziel haben aber auch Erzähltexte. Vermutlich tragen Erzählungen faktisch sogar mehr zur Prägung ethischer Standpunkte bei, als es theoretische Erörterungen vermögen.18 Die bisherige Untersuchung der vom Autor intendierten Lebensbezüge (a) hängt eng zusammen mit der Frage nach angestrebten Meinungs- und Verhaltensänderungen. Im Grunde ist dies nun ein zweiter Systematisierungsschritt. Methode: Analyse der Meinungs- und Verhaltensänderungen 1. Die bei den Textadressaten angestrebten Meinungen (Überzeugungen und Einstellungen) und Verhaltensweisen systematisch auflisten. Handelt es sich im Blick auf bisher vorausgesetzte Meinungen und Gewohnheiten um eine Schwächung, Neuschaffung oder Verstärkung? Welche Überzeugungsstrategie verwendet der Autor? 2. Die intendierte Textwirkung klassifizieren und zusammenfassen.

1. Die angestrebten Meinungen und Verhaltensweisen systematisch auflisten: In diesem Schritt können die Ergebnisse aus (a), der Frage nach der direkten Anwendung und der Untersuchung indirekter Anwendungen, umsortiert werden, und zwar in die Kategorien „Überzeugungen“, „Einstellungen“ und „Verhaltensweisen“19 (vgl. die klassische Dreiteilung, die Pestalozzi zugeschrieben wird: „Kopf“, „Herz“ und „Hand“). Ob dabei eine Schwächung, Neuschaffung oder Verstärkung einer Meinung bzw. Verhaltensweise angestrebt ist, hängt davon ab, welches Bild der Autor von den bisherigen Meinungen und Verhaltensweisen des Adressaten hat. Dies zu rekonstruieren, ist nicht immer einfach. Unser Wissen über die damaligen Rezipienten ist zwangsläufig begrenzt, umso mehr unsere Vorstellung vom Bild des Autors seiner Rezipienten. Meinte man in der älteren Exegese 18

Dies ist das Forschungsfeld der sogenannten „narrativen Ethik“. Meinungen, also kognitive Dispositionen, werden hier in Überzeugungen und Einstellungen aufgeteilt. Eine Überzeugung ist der alethische Standpunkt, also die Frage, was jemand für „wahr“ oder „falsch“ hält. Unter Einstellungen verstehen wir den axiologischen Standpunkt, also die Frage, wen oder was jemand als „gut“ oder „schlecht“ erachtet. Entsprechendes kann im Blick auf die Figuren einer Erzählung und den Autor des Textes untersucht werden (vgl. → Figurenanalyse und → Perspektivenanalyse). Lohnenswert für Theologinnen und Theologen sind Grundkenntnisse der psychologischen Einstellungs- und Persuasionsforschung (z.B. Schweiger/Fahr (Hgg.), Handbuch Medienwirkungsforschung, Wiesbaden 2013). 19

254

12. Textnachwirkung

noch, man könne „die“ markinische oder matthäische Gemeinde rekonstruieren, so ist man heute wesentlich zurückhaltender geworden. Außerdem kommen bei einer Beschreibung der allgemeinen Gemeindesituation noch längst nicht alle vorausgesetzten Wissensbestände der intendierten Rezipienten in den Blick. Um überhaupt eine mutmaßliche Aussage über die vom Autor angenommenen Vor-Einstellungen und Vor-Überzeugungen der Adressaten zu treffen, gilt es, das vorausgesetzte Wissen – so gut eben möglich – textextern zu re-konstruieren und zudem textintern auf erzähltechnische Mittel und Argumentationszusammenhänge zu achten, die Indizien für gezielte Beeinflussung sein können: Wird in einer Erzählung lediglich ein gutes Verhalten vorgeführt und damit an dessen prinzipiellen Wert erinnert oder wird zugleich verdeutlicht, dass die Rezipienten ähnliche Fähigkeiten besitzen? Wird ein Verhalten nur sachlich wiedergegeben oder werden die Rezipienten vielmehr auf einer emotionalen Ebene angesprochen? Erscheint ein Verhalten eher zufällig oder wird dieses logisch und rational plausibilisiert? Beispiel: Mt 28,16–20 – Matthäus überzeugt zur Heidenmission In Mt 28,16–20 ruft Jesus seine Jünger zur Heidenmission auf – und Matthäus seine Adressaten. Weil sich die Adressaten des MtEv in den vorherigen Kapiteln mit den Jüngern identifizieren konnten und der Aufruf nun über die erzählte Zeit hinaus verweist („alle Tage bis an der Welt Ende“), werden sie durch den Auftrag ebenfalls angesprochen. Dadurch, dass Mt beschreibt, dass der Auferstandene selbst den Auftrag gibt (und nicht bloß der Autor), werden die Rezipienten zusätzlich motiviert. Außerdem hatte Mt im vorherigen Erzählverlauf bereits Vorbehalte gegenüber Heiden abgebaut (Mt 8,5–13; 15,21–28). Letztlich werden die Adressaten darin bestärkt, dass sie die Fähigkeiten zur Mission besitzen: Jesus selbst sichert ihnen seinen Beistand zu (Mt 28,18.20b).

2. Die intendierte Textwirkung klassifizieren und zusammenfassen: Am Ende der Analyse und zur späteren Neudarstellung ist es hilfreich, wenn abschließend die beabsichtigte Textnachwirkung noch einmal auf den Punkt gebracht wird („Der Autor will …“). Zugleich kann in diesem Schritt überprüft werden, ob die Rezipienten möglicherweise zu mehreren Meinungs- und Verhaltensänderungen bewegt werden sollen und wie sich diese Textwirkungen zueinander verhalten. Lässt sich eine Hierarchie der Wirkungen erkennen, sind mehrere Wirkungen auf ein gemeinsames Ziel gerichtet oder sind diese weitgehend unabhängig oder heben sich gar gegenseitig auf? Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über verschiedene Arten von Persuasion.

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

255

Klassifikation von Persuasionswirkungen („Der Autor will …“) Bereich

positive Persuasion

negative Persuasion

1) Einstellungen der Rezipienten zu sich selbst: allgemein:

„stärken“, erbauen

„schwächen“

Beispiele: - Selbstwert

Wertschätzung geben

Wertgefühl schwächen z.B.

- Gelassenheit/Angst

trösten, ermutigen

- Hoffnung/Sorge

Hoffnung wecken

Sorge verstärken

- Schuld

Schuldgefühle lindern (z.B. durch Vergebung)

Schuldgefühle hervorrufen

- Persönlichkeitszüge

rechtfertigen

als schlecht erweisen

Angst verstärken, (warnen)

2) Einstellungen der Rezipienten zu anderen Menschen(gruppen), auch zu Gott, Jesus: allgemein:

Sympathie fördern, Antipathie begrenzen

Antipathie fördern, Sympathie verringern

Vertrauen/Glauben fördern (Gott: fides qua creditur)

Misstrauen/Unglauben hervorrufen/verstärken

Beispiele: - Vertrauenswürdigkeit

- Standpunkt (dieser Per- Zustimmung herbeiführen, son) Ablehnung schwächen

für Ablehnung sorgen, Zustimmung verringern

- Verhaltensweisen (dieser Person)

rechtfertigen, verständlich machen

für Ablehnung sorgen, Zustimmung verringern

– Autor, Erzähler

sich legitimieren

sich diskreditieren (selten)

3) Einstellungen der Rezipienten zu Eigenschaften/Verhalten (= Normen und Werte): - Identität, Verhaltensweisen u.a.

von der Vorbildlichkeit überzeugen, (motivieren)

von der Schlechtigkeit überzeugen

- Normkonflikt

von der Höherwertigkeit einer Norm überzeugen

von der Minderwertigkeit einer Norm überzeugen

(z.B. Sabbat halten)

4) Überzeugungen der Rezipienten über Menschen, Gott und die Welt: allgemein:

überzeugen, inhaltliche Überzeugung stärken

eine Überzeugung in Frage stellen

- Glaubenskenntnis

Inhalte vermitteln (fides quae creditur)

Glaubenssätze in Frage stellen

- Menschenkenntnis

lehren, wie Menschen sind (soziales Wissen)

eine Überzeugung über Menschen in Frage stellen

- Wahrnehmung

Kategorien schaffen

Stereotypen auflösen

- Verhaltensweisen in Situationen

lehren, wie man sich in Situationen verhalten kann

das bisherige Verhalten in Frage stellen

Beispiele:

- Welt-Erleben der Rezi- Situation/Welt verstehbar mapienten chen

von einer Situationsdeutung abbringen

Tab. 12.8: Klassifikation von langfristigen Textwirkungen nach Finnern* 240–243 (gekürzt)

256

12. Textnachwirkung

Demo: Zur Textwirkung von Mk 5,25–34 (von Daniel Zimmermann) Im Folgenden soll im Hinblick auf die markinische Erzählung von der Heilung einer blutflüssigen Frau (Mk 5,24b–34) gezeigt werden, wie der Verfasser den Aufbau von Empathie systematisch fördert und die Rezipienten hierdurch in ihrer Antipathie gegenüber der kranken Frau bestärkt. Erst vom Ende der kurzen Episode her lässt sich erkennen, dass die Rezipienten durch die abschließende und angesichts des vorherigen Erzählverlaufs überraschende Zuwendung Jesu in ihrer bisherigen Wertevorstellung hinterfragt werden. Zu Beginn der Episode wird gleich durch mehrere erzählerische Mittel der Aufbau von Empathie begünstigt. Hier lässt sich zuerst die vergleichsweise20 ausführliche Vorstellung der Frau anführen, wobei der Erzähler in Form einer externen Analepse von der zwölfjährigen Leidensgeschichte und den finanziellen Konsequenzen berichtet. 21 Empathiefördernd wirkt sich auch die interne Fokalisierung bzw. starke Innenperspektive aus, die besonders im Vergleich zur externen Fokalisierung des Jairus hervorsticht (V. 22f.). Das Selbstgespräch der Frau (V. 28) sorgt drittens für eine geringe sprachliche Distanz. Letztlich fungiert die Frau über einen längeren Erzählabschnitt hinweg als Wahrnehmungszentrum, insofern davon berichtet wird, wie sie von Jesus „hört“ (V. 27) und wie sie sich Jesus nähert, um sein Gewand zu berühren (V. 28f.). Wird durch diese vier Kriterien der Aufbau von Empathie ermöglicht, so stellt sich jedoch die Frage, mit welcher erzählerischen Intention dies geschieht. M.E. ist es evident, dass die Rezipienten anfangs keineswegs Sympathie mit der blutflüssigen Frau empfinden sollen, sondern vielmehr zunächst in ihrer Antipathie bestärkt werden sollen. Zum einen hält die Frau innerhalb des übergeordneten Erzählverlaufs von Mk 5,21–43 den so dringend erwarteten Jesus unnötig auf und verschuldet dadurch den zwischenzeitlich eintretenden Tod des Mädchens,22 mit dem die Rezipienten bereits angesichts der Schilderung in V. 22f. rechnen müssen. Die ausführliche Vorstellung der Frau und das zitierte Selbstgespräch sorgen an dieser Stelle für eine Verlangsamung der Erzählung und wirken somit spannungssteigernd. Zum anderen stigmatisiert bereits die spezielle Art des Leidens die Frau als (kultisch) unrein. Dem ethischen Vorwissen der Rezipienten entsprechend wird sie durch ihren Blutfluss als Unreine porträtiert, die nicht nur vom rituellen bzw. religiösen Leben, sondern zugleich auch aus der umfassenden menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Da sie ihre Unreinheit durch Berührung übertragen könnte, gilt sie für ihre Mitmenschen gar als Bedrohung. 23 Die sprachlichen Parallelen legen hier die Vermutung nahe, dass der Autor unmittelbar auf das levitische Reinheitsgebot (Lev 12–15, bes. 15,19–27) anspielt und die entsprechende

20 Selbstverständlich ist diese Figurendarstellung nicht mit der Detailtreue und Ausführlichkeit moderner Erzählungen vergleichbar und auch in antiken Erzählungen finden sich bereits durchaus ausführlichere Figurenporträts. Innerhalb der markinischen Erzählung fällt die Fülle der hier präsentierten Informationen gleichwohl auf. 21 Er bestärkt seine Rezipienten dadurch zugleich in einem bekannten und stereotypen Vorurteil gegenüber Ärzten (vgl. hierzu Hi 13,4; 2 Chr 16,12; Tob 2,10; Philo sacr. 70). 22 Ähnlich J. Gnilka, Markus, 216; R. Pesch, Markusevangelium, 306; J. Marcus, Mark, 364; L. Schenke, Markusevangelium, 151. 23 Vgl. T. Seidl, Art. Rein und unrein, 317. P. Dschulnigg, Markusevangelium, 160 verweist auf zwei Stellen in Talmud und Mischna (bNid 16a; mNid 2,4), die möglicherweise Ausnahmen von Unreinheit vorsehen.

Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?

257

Gesetzesregelung bei den Rezipienten wachrufen will. Um so mehr überrascht, ja provoziert die abschließende Reaktion Jesu (V. 34). Dieser spricht die Frau vertrauensvoll als „θυγάτηρ“ an, würdigt explizit ihren Glauben und geht mit keiner Silbe auf das gesetzeswidrige Verhalten ein. So kippt auch die intendierte Bewertung dieser Frau durch die Rezipienten ins Positive, also von der Antipathie zur Sympathie. Wie wichtig dieser letzte Aspekt mit Blick auf die intendierten Rezipienten ist, ergibt sich aus der zu vermutenden Gemeindesituation. So lässt sich mit Udo Schnelle annehmen, dass der markinischen Gemeinde sowohl Heidenchristen als auch Judenchristen angehörten. 24 Eine solche Zusammensetzung der Gemeinde begründet die Annahme, dass es immer wieder Auseinandersetzungen gab, auch in der Frage von rein und unrein (vgl. auch Mk 7). Vor diesem Hintergrund ist es gut denkbar, dass der Verfasser die judenchristlichen Rezipienten, die in traditioneller Weise die Frage von rein und unrein an geschöpflichen Gegebenheiten festmachen, umzustimmen beabsichtigt. Die Gemeindeglieder sollen in der Auffassung bestärkt werden, dass sich die Reinheitsfrage allein in der Beziehung zu Christus entscheidet. Der Glaube stellt die adäquate, d.h. dem Willen Gottes gemäße Reaktion dar und überwindet alle geschöpflichen Defizite (ἴσθι ὑγιὴς ἀπὸ τῆς μάστιγός σου, V. 34).

12.3

Lernportfolio

Wiederholungsfragen: 1. Warum muss methodisch zwischen der „tatsächlichen“ bzw. „empirisch messbaren“ Wirkung einerseits und der „intendierten Wirkung“ andererseits unterschieden werden? 2. Nennen Sie vier Faktoren, die den Aufbau von Empathie begünstigen! 3. Was versteht man unter einem tertium comparationis? 4. Benennen Sie die verschiedenen Formen der Identifikation!

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ kurzfristige Wirkungen eines Textes beschreiben (Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen) ■ langfristige Wirkungen eines Textes analysieren (intendierte Anwendungen, Meinungs- und Verhaltensänderungen) Sie kennen jetzt … ■ Kategorien zur Beschreibung der Textwirkung: intendierte Empathie, Sympathie, Spannung, Emotionen, Anwendungen, Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderung.

Notieren Sie in Ihrem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie bei sich nach dieser Sitzung zur Analyse der Textwirkung erkennen und welche Fragen für Sie noch offen sind.

24

Vgl. Schnelle, Einleitung*, 245.

258

12. Textnachwirkung

Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, was die Analyse der Textwirkung im Blick auf biblische Texte leisten kann. Welche konstruktiven Impulse lassen sich Ihres Erachtens für die Predigt und andere Praxisfelder gewinnen?

12.4

Literatur zur Vertiefung

12.4.1 Einführungen in die Medienwirkungsforschung Jäckel, M., Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden 52011. Wünsch, C. u.a. (Hgg.), Handbuch Medienrezeption, Baden-Baden 2014.

12.4.2 Zu Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen Barthel, V., Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs, Berlin/New York 2008. Dimpel, F.M., Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters, Berlin 2011. Eder, J., Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. Fehlberg, K., Gelenkte Gefühle. Literarische Strategien der Emotionalisierung und Sympathielenkung in den Erzählungen Arthur Schnitzlers, Marburg 2014. Hillebrandt, C., Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Berlin 2011. Inselmann, A., Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, WUNT II/322, Tübingen 2012. Junkerjürgen, R., Spannung – narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne, Frankfurt a.M. u.a. 2002. Keen, S., Empathy and the Novel, Oxford/New York 2007. Schneider, R., Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. Wenzel, P., Zur Analyse der Spannung, in: Ders. (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004, 181–195.

12.4.3 Applikation, Identifikation und Überzeugungsänderungen Appel, M., Realität durch Fiktionen. Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen, Berlin 2005. Erlemann, K., Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen u.a. 1999. Schweiger, W./Fahr, A. (Hgg.), Handbuch Medienwirkungsforschung, Wiesbaden 2013, 313–438 (Beiträge zu „Einstellung & Verhalten“). Schulte, S., Gleichnisse erleben. Entwurf einer wirkungsästhetischen Hermeneutik und Didaktik, PTHe 91, Stuttgart 2008.

13a Historisches Interesse – Ist das Erzählte wahr? Leitbegriffe Leben-Jesu-Forschung, historischer Jesus, ipsissima verba, Third Quest, Kontextplausibilität, Wirkungsplausibilität, Querschnittsbeweis, Kohärenzkriterium, Fiktionalitätsstufen

13a.1 Einführung: Auf Tuchfühlung mit dem historischen Jesus Auf dem Turiner Grabtuch ist das schemenhafte Konterfei eines Verstorbenen zu erkennen (Abb. 13a.1). Über Jahrhunderte hinweg hat dieses Stück Stoff die religiöse Phantasie vieler Menschen angeregt. Allem wissenschaftlichen Gegenbeweis zum Trotz (z.B. durch Radiokarbondatierung) halten manche den Abdruck bis heute für authentisch und Abb. 13a.1: Das Turiner Grabtuch glauben, hierin die wahren Gesichts(Positiv und Negativ) züge Jesu zu sehen. Aber ist der Wunsch, mit Jesus auf Tuchfühlung zu gehen, nicht nachvollziehbar? Wäre es nicht faszinierend, Jesu Äußeres vor Augen zu haben und auch sonst zu wissen, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke 1824)? Auch die neutestamentliche Wissenschaft hat in ihrer langen Forschungsgeschichte immer wieder Versuche unternommen, „hinter“ die neutestamentlichen Texte zu schauen und dem historischen Jesus auf die Spur zu kommen. Man versuchte, aus den Textzeugnissen die ipsissima verba Jesu (die „ureigensten Worte“) literarkritisch (und später formgeschichtlich) herauszuschälen.1 Auch heute noch finden Sie Untersuchungen, die aus den neutestamentlichen Texten die wahre Ethik Jesu oder sein historisches Selbstverständnis herausarbeiten oder die den historischen Jesus sozialgeschichtlich verorten. Allerdings hat sich gezeigt, dass auch in der neutestamentlichen Wissenschaft die Imaginationskraft sehr groß sein kann.2 Die rekonstruierten Jesusbilder unterliegen immer dem subjektiven Blickwinkel der einzelnen Exegeten; nur selten 1 Weiterführend ist die Unterscheidung der Begriffe ipsissima verba und ipsissima vox. Letzteres bezeichnet eine zwar nicht wörtliche, aber inhaltliche Authentizität der Worte Jesu. Vgl. A.D. Baum, Die Authentizität der synoptischen Worte Jesu, in: H.-W. Neudorfer/E.J. Schnabel (Hgg.), Das Studium des Neuen Testaments 2, Wuppertal 2000, 155–177, hier 156. 2 Allgemein auf den konstruktivistischen Charakter der Geschichtswissenschaft hat besonders Hayden White hingewiesen, z.B. H.V. White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, Stuttgart (1986) 1991, wenngleich manchmal allzu pointiert. Vgl. Finnern* 58f.

260

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

können sie breitere Zustimmung gewinnen.3 Um so wichtiger ist es heute, 1. die Methoden, mit denen die historischen ‚Fakten‘ rekonstruiert werden, immer wieder neu zu bedenken und 2. die Forschungsergebnisse mit weitaus größerer Vorsicht zu formulieren, als dies lange Zeit üblich war. Die „Leben-Jesu-Forschung“ ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie berechtigte Einwände und neue Erkenntnisse der Wissenschaft zur permanenten Weiterentwicklung der Methodik anregen können. Und ganz aufgeben4 sollte man die historische Rückfrage allein schon deshalb nicht, weil sie – jedenfalls grundsätzlich – dem Selbstanspruch der neutestamentlichen Autoren und ihrem deutlich erkennbaren Interesse an historischen Personen und Ereignissen entspricht. Die neutestamentlichen Schriften wollen vieles sein, aber ganz sicher nicht pure Fiktion im Sinne phantastischer Literatur (vgl. 13a.2.1: Fiktionalitätsstufen). Exkurs: Die Leben-Jesu-Forschung und ihr Methodenwandel Am Anfang der historischen Jesusforschung stand der Zweifel an der Zuverlässigkeit der frühchristlichen Textzeugnisse. So vertrat Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) erstmals die These, dass die neutestamentlichen Darstellungen einer strikt historischen Rückfrage nicht standhielten. Mit seinem Buch „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (1835) wandte sich David Friedrich Strauß (1808–1874) sowohl gegen den sogenannten ‚Supranaturalismus‘ seiner Zeit, der tatsächlich von Wundern ausging, aber auch gegen den Rationalismus, der im 18. Jhdt. die Taten Jesu einer ‚vernünftigen‘ Erklärung unterziehen wollte. 5 Vielmehr seien die Jesuserzählungen eine spätere Dichtung der frühen Christen gewesen, eben „Mythen“. Man hätte das Leben Jesu automatisch vor dem Hintergrund alttestamentlicher Vorstellungen gedeutet bzw. neu imaginiert. Im Zuge der nachfolgenden liberalen Leben-Jesu-Forschung wurden dann unterschiedliche Jesusbilder propagiert. In der Regel wurde die Verkündigung Jesu dabei auf ein ethisches Ideal reduziert. Von einer wirklichen Methodik lässt sich bei dieser LebenJesu-Forschung noch kaum sprechen. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich mit Heinrich Julius Holtzmann (1832– 1910) die Zwei-Quellen-Theorie durch, die der Leben-Jesu-Forschung wieder neuen Auftrieb gab. Denn nun konnte man sich am Aufriss des Markusevangeliums orientieren – das ja nun anerkanntermaßen das älteste Evangelium war –, um eine Lebensgeschichte Jesu zu rekonstruieren.

3

Den projektiven Charakter der Forschung im 19. Jhdt. deckte bereits Albert Schweitzer auf (vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984, 1. Aufl. 1906). Bis heute wird die Subjektivität und der konstruktive Charakter neuerer Jesusbilder bemängelt (vgl. etwa R. Zimmermann, Fiktion des Faktischen, zeitzeichen 6/2015, bes. 17). 4 Für das Aufgeben ist K. Berger, Kriterien für echte Jesusworte?, ZNT 1 (1998), 52–58. 5 So erklärte der Rationalismus etwa Jesu Seewandel damit, dass Jesus über Treibholz gelaufen sei, oder bei der Brotvermehrung habe er Essensvorräte in Höhlen gelagert. Das wohl bekannteste Werk des Rationalismus ist H.E.G. Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 2 Bde., Heidelberg 1828.

a) Ist das Erzählte historisch wahr?

261

Diesem literarkritischen Zugang zur Leben-Jesu-Forschung folgte aber schon bald die Ernüchterung. Im Zuge der älteren Formgeschichte (ab ca. 1920) wurde klar, dass die Anordnung des Erzählstoffs bei Markus keineswegs historisch verlässlich sein muss, sondern oft kompositorischen Überlegungen folgt. Und die Redaktionsgeschichte (seit den 1950-ern) richtete die Aufmerksamkeit der Forschung darauf, dass die Evangelisten als ‚Redakteure‘ den überlieferten Stoff mit einem bestimmten (theologisches) Anliegen bearbeitet haben. Überhaupt führte die dialektische Theologie dazu, dass man sich jahrzehntelang kaum noch für den ‚historischen Jesus‘ interessierte. In einer Art Gegenbewegung versuchte dann die Schülergeneration Rudolf Bultmanns seit den 1950-er und 1960-er Jahren, die Diskussion um den historischen Jesus wiederzubeleben (diese Phase wird nachträglich New Quest genannt). Ernst Käsemann (1906–1998) und andere mit ihm vertraten nun die Auffassung, dass sich aus den Quellen und Textzeugnissen zumindest ein Minimum echter Jesusüberlieferungen ableiten lasse. Hierzu müsse man aus den Erzähltraditionen lediglich all das ausscheiden, was sich weder aus dem Frühjudentum noch aus dem Urchristentum ableiten lasse (das sogenannte [doppelte] „Differenzkriterium“). Ende des 20. Jahrhunderts löste sich die neutestamentliche Wissenschaft aber auch von diesem methodischen Ansatz. Unter dem Einfluss angelsächsischer Exegeten etablierte sich nun die sogenannte „Dritte Frage“ (Third Quest)6. Ihr Anliegen ist es, das Leben Jesu a. sozialgeschichtlich in den Blick zu nehmen, b. es vor dem Hintergrund eines weitaus umfassenderen Quellenkorpus zu erschließen7 und c. das Judesein Jesu stärker zu berücksichtigen, d.h. Jesu Lehre und sein Wirken im Kontext des Frühjudentums zu verorten (wobei also das Differenzkriterium gegenüber dem Judentum zurückgenommen wird).

Für die historische Rückfrage wurden seit dem „Third Quest“ erstmals genauer reflektierte Kriterienkataloge formuliert. Theißen/Merz unterteilen das „historische Plausibilitätskriterium“ in: 1) Historische Kontextplausibilität (Jesus im Verhältnis zum Judentum): In den Jesusüberlieferungen sind jene Taten und Lehrinhalte tendenziell authentisch, die sich in den Kontext frühjüdischer Meinungen und Überzeugungen einordnen lassen und individuell wahrnehmbar sind. Dabei lässt sich zwischen zwei Polen unterscheiden, nämlich einer vollständigen „kontextuellen Korrespondenz“ und einer „kontextuellen Individualität“. 2) Historische Wirkungsplausibilität (Jesus im Verhältnis zum frühen Christentum): In den Jesusüberlieferungen sind jene Taten und Lehrinhalte tendenziell echt, die in unabhängigen Quellen bezeugt, in verschiedenen Gattungen genannt werden und die

6 Der Begriff „Third Quest“ wurde 1988 von N.T. Wright vorgeschlagen. Vgl. Porter, Criteria for Authenticity, 28f. 7 In der angelsächsischen Forschung gibt es dabei die Tendenz, außerkanonische Evangelien wie das Thomasevangelium den kanonischen Evangelien vorzuziehen. Die deutschsprachige Exegese steht dem größtenteils skeptisch gegenüber.

262

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

sich nicht aus der späteren Tendenz des Urchristentums erklären lassen (Mehrfachbezeugung, Gattungsinvarianz und Tendenzwidrigkeit). Beispiel: Wenn in allen synoptischen Evangelien, bei Joh und auch in den außerkanonischen Quellen die Verkündigung des „Reiches Gottes“ im Mittelpunkt des Wirkens und der Lehre Jesu steht, dann gewinnt dies eine hohe historische Plausibilität.8 Hat man mit Hilfe der Kontext- und Wirkungsanalyse einige Taten und Worte rekonstruiert, denen sich ein hohe historische Plausibilität zuschreiben lässt, so können weitere berichtete Textelemente danach beurteilt werden, ob sie sich in dieses Gesamtbild integrieren lassen oder im Widerspruch hierzu stehen. Man mag es aus theologischer Sicht beklagen oder nicht: Die Möglichkeit von Wundern im Sinne eines besonderen Handelns Gottes in der „kausalen Struktur der Welt“ 9 wird bei dieser Rekonstruktion des Lebens Jesu methodisch ausgeblendet. Anfänge

Leben-JesuForschung („old quest“)

Vertreter Reimarus, Holtzmann Strauß Methode, Kriterien



Niedergang („no quest“)

Neue Frage („new quest“)

Bultmann

Bornkamm, Crossan, Theißen Käsemann

Literarkritik Formge(„Zwei-Quel- schichte, len-Theorie“) Redaktionsgeschichte

Differenzkriterium

Third Quest

– Kontextplausibilität (Korrespondenz und Individualität) – Wirkungsplausibilität (Kohärenz und Tendenzwidrigkeit)

Abb. 13a.2: Leben-Jesu-Forschung im Methodenwandel (nach Theißen/Merz)

Literatur zu den Phasen der Leben-Jesu-Forschung: Theißen/Merz, Der historische Jesus, 21ff.; J. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: Schröter/Brucker (Hgg.), Der historische Jesus, 273–336, hier 275–293.

13a.2 Methode Die Einführung hat sich ganz auf die Frage nach dem historischen Jesus konzentriert. Dies lässt sich mit der großen forschungsgeschichtlichen Bedeutung dieses Themas innerhalb der neutestamentlichen Exegese rechtfertigen. Mit-

8 Diese Kriterien sind eine Verfeinerung der drei Prinzipien des historischen Arbeitens, die einst Ernst Troeltsch (1865–1923) formuliert hat: „Kritik“, „Analogie“ und „Korrelation“. Die historische Kritik führt nach Troeltsch dazu, dass man über die Wahrheit biblischer Texte nur noch in Form von Wahrscheinlichkeitsurteilen sprechen kann; die Analogie (mit gleichartigen Vorgängen) sei das Kennzeichen von Wahrscheinlichkeit; die Korrelation ist das dritte Prinzip, dass nämlich alles in einen historischen Zusammenhang gestellt wird (Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie [1900], in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. v. F. Voigt, UTB 2452, Tübingen 2003, hier 4–7). 9 Vgl. zur Möglichkeit eines Handelns Gottes D. v. Wachter, Die kausale Struktur der Welt. Eine philosophische Untersuchung über Verursachung, Naturgesetze, freie Handlungen, Möglichkeit und Gottes Wirken in der Welt, Freiburg 2009.

a) Ist das Erzählte historisch wahr?

263

unter stand die Frage nach dem historischen Jesus sogar im Zentrum der Exegese. Dies führt seit einiger Zeit dazu, dass man sich auch über die Methodik der historischen Rückfrage Gedanken macht. Zur Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums (z.B. anhand der Apostelgeschichte als Quelle) gibt es bis heute keine auch nur annähernd vergleichbare methodische Diskussion. Die große Bedeutung der Leben-Jesu-Forschung für die neutestamentliche Exegese sollte den Theologinnen und Theologen keineswegs den Blick dafür verstellen, dass die historische Rückfrage – methodisch gesehen – eigentlich in einem größeren Horizont steht. Theoretisch lässt sich die historische Plausibilität aller im Text artikulierten zeitlich gebundenen (vergangenen und vom damaligen Standpunkt aus ggf. zukunftsbezogenen) Informationen untersuchen, denn bei dem historischen Interesse an Texten handelt sich eigentlich um das ureigenste Feld der Geschichtswissenschaft. Theodor Mommsen fand 1874 in seiner Rektoratsrede passende Worte über das Wesen und die Schwierigkeit der Geschichtsschreibung10: „Die Geschichte ist ja nichts anderes als die deutliche Erkenntnis tatsächlicher Vorgänge, also zusammengesetzt teils aus der Ermittelung und der Sichtung der darüber vorliegenden Zeugnisse, teils aus der Zusammenknüpfung derselben nach der Kenntnis der einwirkenden Persönlichkeiten und der bestehenden Verhältnisse zu einer Ursache und Wirkung darlegenden Erzählung. Jenes nennen wir historische Quellenforschung, dieses pragmatische Geschichtschreibung. […] Die richtige Schätzung der vorliegenden Zeugnisse, die rechte Verknüpfung des scheinbar Unzusammenhängenden oder Sichwidersprechenden zur tatsächlichen Folge treten überall in so unendlicher Einfachheit der Prinzipien und so unendlicher Mannigfaltigkeit der Anwendung auf, daß jede Theorie entweder trivial ausfallen müßte oder transzendental.“

In der Geschichtswissenschaft heißt eine ähnliche Methodik „Quellenkritik“. Hier unterscheidet man äußere Quellenkritik (Entstehungszeit klären, Echtheitskritik, Formkritik) und innere Quellenkritik (Tendenzkritik, Traditionskritik, Redaktionskritik u.a.). Beachten Sie: Es gibt in der Geschichtswissenschaft oft auch ein zweites, eingeschränktes Verständnis von Quellenkritik, bei der es primär darum geht, die „W-Fragen“ zu einer Quelle zu beantworten (insbesondere „Wer schreibt wo wann warum?“, vgl. hier Kap. 4: Entstehungskontext). Literatur: C. Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte, UTB 1857, Tübingen 1995. (hier S. 102–132; die Methode der historischen Analyse ist natürlich nicht nur biblischexegetisch, sondern auch kirchengeschichtlich relevant)

10

Abgedruckt in: F. Stern/J. Osterhammel (Hgg.), Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 2011, hier 262f.

264

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Trotz der zur Vorsicht mahnenden Worte des Historikers Mommsen, dass „jede Theorie entweder trivial ausfallen müßte oder transzendental“, wollen wir nun – in aller Kürze – eine Methode der historischen Analyse vorstellen. Methode der historischen Analyse 1. Machbarkeitsanalyse: a. eine Entität/Textinformation aussuchen, b. Quellenlage beurteilen, c. Fiktionalitätsgrad und Tiefenschärfe der Analyse bestimmen. 2. Plausibilitätsprüfung: Plausibilitäten beschreiben und beurteilen – a. Kontextplausibilität beschreiben und beurteilen, b. Wirkungsplausibilität beschreiben und beurteilen sowie die c. Passungsplausibilität beschreiben und beurteilen.

13a.2.1 Schritt 1: Machbarkeitsanalyse Im Vorfeld größerer Bauprojekte wird nahezu immer eine ausführliche Machbarkeitsstudie vorgelegt, die das Vorhaben beschreibt und Auskunft darüber geben soll, ob sich dieses durchführen lässt (ein Buchprojekt gleicht hier sozusagen einem „Turmbau“, vgl. Lk 14,28–30). Es empfiehlt sich daher, auch der historischen Rückfrage eine Art „Machbarkeitsanalyse“ voranzustellen. a. Entität/Textinformation aussuchen: Gegenstand der historischen Analyse können ja theoretisch alle Textinformationen sein, die sich auf (vergangene) Ereignisse und Sachverhalte beziehen. In Frage kommen also erwähnte Figuren (z.B. Johannes der Täufer), erwähnte Figurenmerkmale (z.B. das Äußere des Täufers), beschriebene Handlungen (z.B. die Tempelaustreibung Jesu, der Bericht des Paulus in Gal 2,1ff.) und Geschehnisse (z.B. die Finsternis während Jesu Kreuzigung), Raumbeschreibungen (z.B. der Altar für „den unbekannten Gott“ in Apg 17,23) oder Raumrelationen (z.B. die Lage Gerasas am See). b. Quellenlage beurteilen: In Kap. 9 wurde im Rahmen der Texterklärung dargestellt, wie man zu einer Textinformation Quellenmaterial sucht und findet. Das Vorgehen bei der Geschichtsrekonstruktion verläuft analog hierzu. Sie sammeln alle Informationen, die sich zur historischen Plausibilitätsbeschreibung nutzen lassen. Ratsam ist es jedoch, die Suche nicht zu eng einzugrenzen, sondern auch solche Informationen zu berücksichtigen, die der Aufhellung des historischen Umfelds dienen. Wenn Sie die Figur des Täufers untersuchen, empfiehlt es sich auch, andere Täufergestalten und die Vorstellung des wiederkommenden Elias in den Blick zu nehmen. Im Sinne des Kriteriums der Mehrfachbezeugung ist sodann zu bewerten, ob die verfügbaren Quellen unabhängig voneinander sind oder – wie im Fall der synoptischen Evangelien – einer gemeinsamen Tradition entspringen. Quellen, die sich einer gemeinsamen Tradition zuordnen lassen oder zumindest Abhängigkeiten aufweisen, werden wie eine einzige Quelle bewertet.

a) Ist das Erzählte historisch wahr?

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c. Fiktionalitätsgrad bestimmen: Es macht bei der historischen Rückfrage einen Unterschied, ob die (lukanische) Gestalt des Täufers oder der barmherzige Samariter aus dem Gleichnis in Lk 10 untersucht wird. Beispielsweise könnte man anführen, dass die stereotype Charakterisierung der Personen erkennen lasse, dass es sich in Lk 10,30–35 um (weitgehend) fiktive Figuren handelt. Allerdings lassen sich fiktionale und faktuale Erzählungen nicht kategorial, sondern nur graduell unterscheiden. Auch das Lukasevangelium bedient sich fiktiver Ausschmückungen. Umgekehrt besitzt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter durchaus historische Anhaltspunkte. Um den Fiktionalitätsgrad des eigenen Textes möglichst präzise zu bestimmen und vor diesem Hintergrund dann zu fragen, welche Entitäten und Textaussagen auf ihre historische Plausibilität befragt werden können, lassen sich mehrere Teilprüfungen durchführen: ■



■ ■



Möglichkeitsprüfung: Erscheinen die erwähnten Figuren, Räume, Raumrelationen, Ereignisse, Zeitverhältnisse vor dem Hintergrund des rekonstruierbaren Weltwissens möglich oder nicht möglich? Wahrscheinlichkeitsprüfung: Sind die Figuren, Orte, Ereignisse vom intendierten Rezipienten als wahrscheinlich anzuerkennen? Handelt eine Figur gemäß einer erwartbaren Intention oder scheint ihr Verhalten extrinsisch motiviert zu sein (z.B. Genrevorgabe)? Zugänglichkeitsprüfung: Konnte der Autor bestimmte Informationen erlangen (durch eigene Anwesenheit, Berichte anderer)? Prüfung direkter Fiktionalitätssignale: Lassen sich paratextuelle Hinweise, explizite Kommentare des Autors (bzw. Erzählers) oder gattungsspezifische Formeln finden, die auf einen fiktiven oder faktualen Charakter des Textes schließen lassen? Prüfung indirekter Fiktionalitätssignale: Weist der Text eine hohe Poetizität auf, d.h. kommen viele literarische Mittel zur Anwendung (Metalepsen, Innensicht in Figuren, Erzählerfigur, Anachronien, poetische Sprache).

Auf Grundlage dieser Teilprüfungen kann dann bestimmt werden, welcher Fiktionalitätsstufe11 sich ein Text zuordnen lässt und in welcher „Tiefenschärfe“ die historische Rückfrage dementsprechend erfolgen kann. ■





11

Fiktionalitätsstufe 1: (Fast) alle Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real und wahrscheinlich. Die Tiefenschärfe ist groß und die historische Rückfrage dient der genaueren Prüfung. Fiktionalitätsstufe 2: Viele Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real und wahrscheinlich; einige Ereignisse oder Figurenmerkmale (z.B. Figurenrede, Äußeres) sind fiktiv bzw. dienen der erzählerischen Ausschmückung. Die Tiefenschärfe ist mittelgroß. Fiktionalitätsstufe 3: Einige Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real und wahrscheinlich; viele Ereignisse, Figurenmerkmale oder Raumbeschreibungen sind fiktiv. Die Tiefenschärfe ist gering.

Vgl. Finnern* 71f.

266 ■



13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Fiktionalitätsstufe 4: Wenige Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real. Fast alle Entitäten sind fiktiv, aber aus Sicht des intendierten Rezipienten nicht unmöglich. Die Tiefenschärfe ist sehr gering. Fiktionalitätsstufe 5: (Fast) keine Orte, Zeiten, Ereignisse, Personen sind real. Teilweise gibt es aus Sicht des intendierten Rezipienten unmögliche Entitäten. Eine historische Rückfrage erübrigt sich. Aufgabe: Ordnen Sie jeder Fiktionalitätsstufe eine heutige Textgattung zu (Autobiografie, Märchen, historischer Roman usw.). Überlegen Sie im Anschluss, welcher Fiktionalitätsstufe Sie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zuordnen würden. Begründen Sie Ihre Entscheidung!

Auf Basis der Quellenlage (Anzahl, Abhängigkeit) und des Fiktionalitätsgrades ist ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Erscheint eine historische Rückfrage machbar? Welche Zuverlässigkeit hat eine solche Analyse? Lässt sich primär nur die Existenz bzw. historische Plausibilität einer Person rekonstruieren (Fiktionalitätsstufe 3–4: geringe Tiefenschärfe) oder können auch weitere Figurenmerkmale auf ihre Authentizität überprüft werden (Fiktionalitätsstufe 1–2: hohe Tiefenschärfe). 13a.2.2 Schritt 2: Plausibilitäten beschreiben a. Kontextplausibilität beschreiben: Das zur Verfügung stehende Quellenmaterial wird im Sinne einer Szenerie zusammengefügt. Hierbei können folgende Analysebereiche und -fragen hilfreich sein: 1) synchrone Ebene: Welche Informationen zu einer Person, einer Meinung, einem Ereignis usw. kommen in den verschiedenen Quellen gehäuft vor? Welche Informationen tauchen nur in einer Quelle auf? Wie sind die einzelnen Informationen aufeinander bezogen (Abhängigkeiten, Wichtigkeiten, Explizität, Häufigkeit, Inhalt usw.)? 2) diachrone Ebene: Lässt sich zwischen den Quellen eine Entwicklung bzw. Umdeutung einzelner Sachverhalte oder Informationen erkennen (Transformation, Relecture, Neuapplikation)? 3) kontextuelle Ebene: Wie fügt sich die neutestamentliche Darstellung in die Szenerie ein? Sind erkennbare Differenzen weitgehend vernachlässigenswert (= Kohärenz) oder ist von einer (kontextuellen) Individualität bzw. Singularität der neutestamentlichen Darstellung zu sprechen?

Beispiel: Jesu Aufhebung der Speisegebote in Mk 7,19b In Mk 7,19b wird in Form eines Erzählerkommentars festgehalten, dass Jesus die Speisegebote autoritativ aufgehoben habe. Dieser Standpunkt steht in einem sehr deutlichen Widerspruch zu den alttestamentlichen Reinheitsvorschriften und deren späterer Aktualisierung (vgl. Dan 1,8–16; 1 Makk 1,48.62; 2 Makk 5,27; 6,19; 4 Makk 1,32–35; Jdt 12,1–4; JosAs 7,1; Jub 6,7.12–14; 22,16; TestLev 9,13; Arist 144–154.161– 168; CD 12,8–15; Philo spec. IV,97–118; Flav. Jos. Ant. 3,259f.). Andererseits können

a) Ist das Erzählte historisch wahr?

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die Reinheitsgebote schon im Alten Testament und auch später auf das Innere des Menschen bezogen werden (vgl. Jer 33,8; Hes 36,25–28; Ps 51,4.9.12; Spr 20,9; Philo spec. III,208f. [zu Num 19,22]). Innerhalb dieser Gedankenwelt bleibt die Jesus zugeschriebene Aufhebung der Speisegebote dennoch eine Provokation. Sie lässt sich aber als radikale Fortführung der andernorts zu beobachtenden Aufwertung des Inneren begreifen (vgl. V. 20–23).

b. Rezeptionsgeschichte und Wirkungsplausibilität beschreiben: Historisch stellen die Erzähltexte des Neuen Testaments eine zufällige Momentaufnahme dar. Sie sind Teil eines über sie selbst hinaus verweisenden – teils mündlichen, teils schriftlichen – Diskurses und Deutungsprozesses. Umgekehrt sind die neutestamentlichen Texte ihrerseits zur Vorlage für spätere (urchristliche) Fortschreibungen und eine frühkirchliche Praxis geworden. Um die Rezeptionsgeschichte und Wirkungsplausibilität zu beschreiben, ist auf Kohärenzen und Differenzen zu achten, die sich zwischen der frühjüdischen oder hellenistischen Umwelt und einer späteren christlichen Darstellung oder Praxis beobachten lassen. Hierbei empfiehlt es sich, die Kohärenzen und Differenzen möglichst detailliert zu beschreiben. In einem zweiten Zwischenschritt ist zu fragen, wie sich die spätere Praxis oder Darstellung historisch plausibel machen lässt, d.h. es ist nach logischen und plausiblen Ursachen und Motiven zu suchen. Die veränderte Bedeutung der Speisegebote, die sich bereits im Neuen Testament abzeichnet und in der frühchristlichen Praxis fortsetzt, könnte auf den historischen Standpunkt Jesu zurückgeführt werden. Möglich ist zweitens, dass eine solche Liberalisierung erst durch die Missionstätigkeit des Paulus und die damit einhergehende Öffnung gegenüber den Heiden notwendig wurde. Drittens ist denkbar, dass eine Liberalisierung im Ansatz durch Jesus erfolgte, dann von Paulus (und anderen) aufgegriffen und unter gewandelten Rahmenbedingungen zugespitzt bzw. als Aufhebung umgedeutet wurde. Andere Ursachen sind kaum plausibel zu machen. c. Passungsplausibilität beschreiben: In Anlehnung an das Kohärenzkriterium der Leben-Jesu-Forschung kann drittens von einer Passungsplausibilität gesprochen werden. Hierbei ist zu klären, wie gut sich eine vermeintliche historische Personeneigenschaft, ein Ereignis usw. in ein rekonstruierbares Gesamtbild einfügen lässt. Passt die Aufhebung der alttestamentlichen Speisegebote zu Jesu Selbstverständnis und Autoritätsanspruch, seinem Konflikt mit den religiösen Autoritäten, seiner Lehre insgesamt? 13a.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Nennen Sie die zentralen Neuerungen beim „Third Quest“. 2. Beschreiben Sie in eigenen Worten, was in der Leben-Jesu-Forschung unter der Kontext- und Wirkungsplausibilität verstanden wird.

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

3. Worin besteht die „Machbarkeitsanalyse“ und warum ist sie sinnvoll?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ die Fiktionalitätsstufe eines Textes bestimmen; ■ eine historische Plausibilitätsprüfung durchführen. Sie kennen jetzt … ■ Entwicklungslinien der Leben-Jesu-Forschung; ■ „Quellenkritik“ als Begriff der Geschichtswissenschaft; ■ Kriterien zur historischen Analyse eines Erzähltextes. Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie bei sich nach dieser Sitzung zur historischen Analyse erkennen und wo sie noch Vertiefung möchten. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, wie man anhand von historischen Kriterien mit den Wunderberichten in den neutestamentlichen Erzählungen umgehen kann.

13a.4 Literatur 13a.4.1 Exegetische Methodenlehren zur Historischen Rückfrage Adam/Kaiser* 65f., Ebner/Heininger* 277–323, Fenske* 109–113, Koch* 58–60, Meiser/Kühneweg* 90f., Söding* 276–294, Söding/Münch* 147–155; engl.: McKenzie/Haynes* 17–34. Vgl. außerdem die ältere Ausgabe von W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg u.a. 1987, 195–203 (diesen Abschnitt gibt es nicht mehr in Egger/Wick*).

13a.4.2 Historische Darstellungen Blomberg, C.L., The Historical Reliability of the Gospels, Downers Grove 22007; ders., The Historical Reliability of John’s Gospel, Downers Grove 2001. Funk, R./Hoover, R.W. (Hgg.), The Five Gospels. The Search for the Authentic Words of Jesus, New York 1996. (Evangelienausgabe des umstrittenen „Jesus Seminars“) Holmén, T./Porter, St.E. (Hgg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus (= HSHJ), 4 Bde., Leiden/Boston 2011. (Standardwerk, 3.600 Seiten) Ratzinger, J. (Benedikt XVI.), Jesus von Nazareth, 3 Bde., Freiburg 2007/2011/2012. Strotmann, A., Der historische Jesus. Eine Einführung, UTB 3553, Paderborn 22015. Theißen, G./Merz, A., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011. Zur Geschichte des frühesten Christentums: Koch, D.-A., Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014. Schnelle, U., Die ersten 100 Jahre des Christentums, 30–130 n.Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, UTB 4411, Göttingen 22016.

a) Ist das Erzählte historisch wahr?

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13a.4.3 Allgemeines zur Forschungsgeschichte Evans, C.A., Life of Jesus Research. An Annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996. Kähler, M., Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892. Merkel, H., Zwei Jahrzehnte Jesusforschung nach 1985, Teil 4, ThR 79 (2013), 35–82. Reiser, M., Kritische Geschichte der Jesusforschung. Von Kelsos und Origenes bis heute, SBS 235, Stuttgart 2015. Schweitzer, A., Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984. Wedderburn, A.J.M., Jesus and the Historians, WUNT 269, Tübingen 2010. Wengst, K., Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013. Zager, W. (Hg.), Jesusforschung in vier Jahrhunderten. Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur „Dritten Frage“ nach dem historischen Jesus, Berlin/Boston 2014. (kommentierte Textsammlung)

13a.4.4 Diskussion der Kriterien Chilton, B.D./Evans, C.A. (Hgg.), Authenticating the Words and Activities of Jesus, NTTS 28.1+2, Leiden 1990/1999. (Kriterien sowie Einzelstudien) Häfner, G., Das Ende der Kriterien? Jesusforschung angesichts der geschichtstheoretischen Diskussion, in: K. Backhaus/Ders., Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BThSt 86, NeukirchenVluyn 2007, 97–130. Meier, J.P., A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Bd. 1: The Roots of the Problem and the Person, New York 1991. (Kriterien S. 167–195) Porter, St.E., The Criteria for Authenticity in Historical Jesus Research. Previous Discussion and New Proposals, JSNT.S 191, Sheffield 2000. Schröter, J./Brucker, R. (Hgg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin/New York 2002. Scriba, A., Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007. Theißen, G./Winter, D., Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg(CH)/Göttingen 1997.

13b Thematisches Interesse – Welche Themen kommen im Text vor? Leitbegriffe Theologie und Ethik eines Autors, Biblische Theologie, Thematologie, Screening, Tagging, Hauptthemen und Nebenthemen, Aussagensammlung/-gewichtung

13b.1 Einführung Stellen Sie sich vor: Sie waren bei einem wissenschaftlichen Vortrag und im Nachhinein werden Sie von einem Freund gefragt, worüber die Rednerin eigentlich gesprochen habe. Wahrscheinlich werden Sie zunächst das Thema nennen („es ging um …“) und einige Ausführungen dazu grob skizzieren. „Worum geht es hier eigentlich?“ Diese Frage stellt sich auch im Alltag immer wieder. Das Thema eines Vortrags, eines Polit-Talks oder eines literarischen Textes benennen und darstellen zu können, ist etwas sehr Praktisches! Während die Details eines Referats nämlich schnell in Vergessenheit geraten, bietet ein thematisch orientierter Überblick Vorteile: Vorteile eines thematischen Zugangs ■ ■



Systematisierbarkeit: Man kann die Themen, die im Text vorkommen, aufzählen und die wichtigsten Aspekte benennen, die über das Thema gesagt werden. Memorierbarkeit: Die Hauptthemen und Hauptaussagen können einprägsam formuliert werden. Beispiel: die vier „Soli“ als Grundsätze der reformatorischen Theologie. Kommunikabilität: Man kann die Themen eines Textes in ein Verhältnis zu anderen Aussagen, Themen oder übergreifenden Diskursen setzen.

Dieses kurze Kapitel soll eine methodische Hilfestellung bieten, um die in einem biblischen Text vorhandenen Themen Schritt für Schritt zu beschreiben. In der Bibelwissenschaft spricht man meistens von der „Theologie“ „Theologie“ des Autors, im Einzelnen beispielsweise von des Autors der Christologie des Markusevangeliums, der Ekklesiologie ‚der‘ Pastoralbriefe oder von der Soteriologie des Paulus. Bei der Frage nach den Themen des Textes möchten wir hier aber etwas grundsätzlicher vorgehen. In Anlehnung an erzähltheoretische Kategorien könnte man Themen in (biblischen, aber auch anderen) Texten folgendermaßen in Gruppen einteilen (biblische Beispiele kursiv):1 1 Vgl. die Fragensammlung für die Bibellektüre bei Meurer* 96f.: „Macht der Text eine Aussage über Gott? … Sagt der Text etwas über den Menschen aus …? … Gibt es im Text auch Aussagen über die Welt, über die Schöpfung, über die Gesellschaft?“

b) Welche Themen kommen im Text vor?

271

1) Aussagen über Figuren(gruppen), Räume und Ereignisse – mentale Modelle, die durch Texte geprägt werden ■ Aussagen über Figuren/Personen: Gott, Jesus, Maria, Abraham, Paulus, Juden – deren Charakterzüge: Gottes Zorn, Gott als „Vater“ im Matthäusevangelium – deren Verhaltensweisen: Gottes (typisches) Handeln – deren Verhältnis zu Dingen oder zu anderen Personen: Feindesliebe ■ Aussagen über Räume: Himmel, Erde, Jerusalem ■ Aussagen über Ereignisse und deren Deutung: Tod Jesu, Jüngstes Gericht 2) Aussagen über Sachverhalte – mentale Modelle, die durch Texte geprägt werden: Gewissen bei Paulus, Tod im AT, Mann und Frau, das Älterwerden im Buch Prediger 3) Einstellungen und Normen – ethische Aspekte des Textes 2 ■ Einstellungen zu Personen(gruppen) und Dingen, zu Eigenschaften und konkretem Verhalten: Bewertung der ‚Juden‘ im Johannesevangelium, Nächstenliebe, Einstellung zu körperlicher Behinderung,3 Bewertung des Gesetzes bei Paulus Die genannten Kategorien und Beispiele zeigen, dass eine „Checkliste“ mit den klassischen dogmatischen Themen, angewendet auf biblische Texte, zu kurz greift. Würde man einen Text nacheinander auf die Themen der Dogmatik abklopfen (Gotteslehre, Christologie, Pneumatologie, Anthropologie, SoterioBlick über die logie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre usw.), würden viele vom klassische DogText behandelte Themen unberücksichtigt bleiben. Ein biblischer matik hinaus Autor macht nicht nur Aussagen über Gott („Theologie“ im engeren Sinn) und über die klassischen Themenbereiche der Systematischen Theologie, die sogenannten „Loci“, sondern sagt vieles mehr. Dennoch sind viele Lehrbücher zur neutestamentlichen Theologie von der Einteilung der christlichen Dogmatik her aufgebaut oder zumindest stark beeinflusst. 4

Exkurs: Zwei Verständnisse von Biblischer Theologie Es gibt in der Forschung zum Alten und Neuen Testament zahlreiche Entwürfe, die die thematischen Linien biblischer Texte möglichst angemessen darstellen möchten – unabhängig von der „Lesebrille“ einer konfessionellen (katholischen, lutherischen, reformierten, baptistischen usw.) Dogmatik. Die Abgrenzung gegenüber der Vereinnahmung der Bibel durch die dogmatische Theologie war der ursprüngliche 1. Biblische gegen Impuls der sogenannten Biblischen Theologie (J.Ph. Gabler 1787). dogmatische Die klassische Leitfrage der so verstandenen Biblischen Theologie Theologie ist: „Was sagt die Bibel tatsächlich zu einem bestimmten Thema?“ Historisch-kritisch ausformuliert: „Was sagt ein biblischer Autor bzw. Redaktor an einem Punkt seiner gedanklichen Entwicklung zu diesem Thema?“

2

Vgl. zur Analyse von Einstellungen und Normen im Text S. Finnern, Narrative Ethik und Narratologie. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen, in: U. Volp/ F.W. Horn/R. Zimmermann (Hgg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie, WUNT 356, Tübingen 2016, 141–168. 3 Vgl. H. Avalos/S.J. Melcher/J. Schipper (Hgg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, Atlanta 2007. 4 Sehr bewusst an den dogmatischen Themen orientiert sich Schnelle, Theologie des NT.

272

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Weil aber inzwischen eine andere Forschungsfrage als drängend erscheint, nämlich wie man die große Anzahl an Einzelmeinungen biblischer Autoren/Redaktoren wieder zusammenschauen (nicht: harmonisieren) kann, steht das Schlagwort „Biblische Theologie“ in einer dramatischen Umkehrung des Verständnisses seit einigen Jahrzehnten eher für einen Brückenschlag von der historischen Kritik hin zur dogmatischen Theologie (B. Childs, P. Stuhlmacher). Mit dem Bemühen um eine 2. (Gesamt-) „Biblische Theologie“ verbindet man nun eine andere FragestelBiblische lung: Wie gelangt man von der (Einzel-)Beschreibung der jesuanischen Theologie Verkündigung, der matthäischen, markinischen, paulinischen Theologie usw. wieder zu einer (gesamt-)biblischen Theologie, mit der die Dogmatik etwas anfangen kann? Wie diese Zusammenschau in einer angemessenen Weise erfolgen kann, ist in der Forschung allerdings noch strittig. Weiterführende Literatur: C. Breytenbach/J. Frey (Hgg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007.

Für die Methodik der Themenanalyse kann auch auf andere Textwissenschaften verwiesen werden. Viele wissenschaftliche Disziplinen haben ja mit Texten zu tun und reflektieren ihren Umgang damit – sie stehen vor ähnlichen Fragen und erfinden das Rad jeweils neu. Es gibt hier verschiedenste Begriffe, um die Beschäftigung mit den Themen eines Textes zu bezeichnen: ■











„Stoff- und Motivgeschichte“: Diese klassische Methode der Literaturwissenschaft verfolgt ein Motiv als „kleinste gestaltbildende Einheit“ (z.B. Vatermord) bzw. den Stoff als Kombination von Motiven (z.B. Ödipusmythos) über verschiedene Autoren, Zeiten oder Kulturen hinweg. Es geht also speziell um die ‚großen‘ Themen der Literatur. „Thematologie“: Dieser Begriff aus der Komparatistik steht entweder für eine Neufassung der Stoff- und Motivgeschichte, die nicht nur die Belege sammelt und beschreibt, sondern stärker den individuellen Kontext der jeweiligen Texte wahrnimmt. Oder es wird – bei anderen Autoren – darunter die Methode einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Inhaltsanalyse verstanden, die sich primär auf den Einzeltext bezieht. „Thematics“ heißt die Themenanalyse aus Sicht der kognitiven Literaturwissenschaft. Hier wird Wert gelegt auf die mentale Leistung von Lesern, die ein Thema ‚konstruieren‘ (A. Scarinzi). „Inhaltsanalyse“ stammt aus der empirischen Sozialforschung. Zeitungsartikel oder Interviews sollen thematisch ausgewertet werden. Das methodische Vorgehen wird sehr detailliert beschrieben (W. Früh). „Thema-Rhema-Gliederung“: Bei dieser Methode aus der Linguistik unterscheidet man, vereinfacht gesagt, in jedem Satz zwei Elemente: das Bekannte (Thema) und das Neue oder das zu Betonende, was über das Thema ausgesagt werden soll (Rhema). Es gibt inzwischen ausgefeilte linguistische Modelle, um die „Themenentfaltung“ in einem Text nachzuvollziehen (K. Brinker). Und nur in der Bibelwissenschaft spricht man von der „Theologie“ des Autors – auch bei Themen, die sich nicht auf eine Vorstellung von Gott beziehen.

b) Welche Themen kommen im Text vor?

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Literatur: Chr. Lubkoll, Art. Stoff- und Motivgeschichte/Thematologie, in: MLLK*, 685–687; Chr. Lubkoll, Thematologie, in: J. Schneider (Hg.), Methodengeschichte der Germanistik, Berlin u.a. 2009, 747–762; A. Scarinzi, Thematics. Zu einer undisziplinierten Disziplin. Bausteine für die Entwicklung eines kognitiven Modells thematischen Lesens literarischer Kunstwerke, Aachen 2009; W. Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, UTB 2501, Konstanz 72011; Ph. Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, UTB 8229, Weinheim/Basel 112010; K. Brinker, Linguistische Textanalyse, Berlin 52001; Systematische Theologie: M. Leiner, Methodischer Leitfaden Systematische Theologie und Religionsphilosophie, UTB 3150, Göttingen 2008, 89–121.

Definitionen Analog zum Erfolg der „Narratologie“ als Querschnittsdisziplin für die Wissenschaft der Erzählung (Kap. 11) könnte man folgende Begrifflichkeiten verwenden: ■ ■ ■

„Thematologie“ = die Querschnittsdisziplin für die Wissenschaft von den Themen eines Textes (vgl. „Narratologie“). „thematische Analyse“, „Themenanalyse“ = die Untersuchung der Themen eines Textes, vgl. narrative Analyse, Erzähltextanalyse. „thematologische Methode“ = Methode der Themenanalyse, vgl. „narratologische Methode“.

13b.2 Methode der Themenanalyse Welche Themen ‚stecken‘ eigentlich im Text? – Als ‚Laien‘-Bibelleser würde man bei dieser Fragerichtung eher intuitiv vorgehen, indem man z.B. thematisch zusammengehörige Wörter in gleicher Farbe unterstreicht und sie in einem Schlüsselwort („Gebet“) zusammenfasst oder festgelegte Symbole an den Rand des Textes zeichnet. Dagegen ist es eine echte Herausforderung, die in einem Text vorhandenen Themen mit wissenschaftlicher Präzision nachvollziehbar zu erkennen und zu benennen.5 Nehmen wir ein relativ „einfaches“ Beispiel: Was sind die Themen des Galaterbriefes? Wenn man den Text des Galaterbriefes durch eines der kostenlosen Online-Tools schickt (und die Wortformen zuvor Wortwolke (Tag Cloud) noch ein wenig aufbereitet hat), erhält man als Wortwolke (Tag Cloud) ein interessantes Ergebnis. Die Bibelcloud zum Galaterbrief6 Abb. 13b.1: Bibelcloud zum Galaterbrief 5

Vgl. zu einem Entwurf der maschinellen Themenidentifikation vgl. M. Bärenfänger, Ebenen des Themas, Diss. Gießen 2011 (online unter http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/ 2012/8924 [abger. 9.4.2016]). 6 Grafik aus M. Wolters, Bibelclouds. Die Bibel anders sehen, Ostfildern 22014, 127 (hier nach der Einheitsübersetzung). Siehe auch http://www.bibelclouds.de (abger. 9.4.2016).

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

macht sichtbar, dass es darin wohl vor allem um das Thema „Gesetz“ geht, außerdem um „Gott“, „Glaube“ und „(Jesus) Christus“. Ist es so? Faktisch hat das Computerprogramm einfach diejenigen Wörter größer abgedruckt, die häufiger im Text vorkommen. Wörter wie „und“ werden dabei vom Programm ausgelassen. Auch wenn dieses Ergebnis anhand des Programmcodes nachvollziehbar und reproduzierbar ist und damit zwei der Kriterien von Wissenschaftlichkeit erfüllt sind, bleiben bei diesem Vorgehen einige Schwächen: ■ ■ ■

a) Ein Thema kann hier nur etwas sein, das als Wort im Text explizit genannt ist. b) Es wird vorausgesetzt, dass dasjenige Thema am wichtigsten sei, das am häufigsten wörtlich genannt ist. c) Themen, die inhaltlich verwandt sind, werden grafisch nicht einander zugeordnet: Müsste man „Gesetz“ und „Evangelium“ in der Abbildung nicht nebeneinander schreiben?

Wie kann man diese Schwächen beheben? Den drei genannten Schwächen entsprechen drei Postulate für eine Methode der Themenanalyse: ■





a) Bei der Themenanalyse muss man sich von der Ebene des Ausdrucks (den Wörtern) wegbewegen7 hin zur Ebene des Inhalts, indem man nach zugrunde liegenden thematischen Konzepten fragt (= kognitiver Ansatz). Das erfordert: 1. passende Bezeichnungen zu finden, auch wenn sie nicht wortgleich im Text vorkommen (Bsp.: „Kreuzestheologie“, „christliche Freiheit“, „Abendmahl“), aber die das mentale Konzept benennen, 2. jeder Benennung konkrete Fundstellen zuzuordnen und 3. dabei auf nachvollziehbare Regeln für die Benennung und Zuordnung zurückzugreifen. → „Screening“ und „Tagging“ b) Es müsste auch das ‚logische Gewicht‘ des jeweiligen Themas im Text im mentalen Modell des Autors angesichts des von ihm wahrgenommenen Schreibkontextes deutlich werden. → „Themengewichtung“ c) Die erkannten Themen im Text müssen einander inhaltlich zugeordnet werden8, so wie sie im mentalen Modell des Autors verknüpft sind. → „Themenverknüpfung“

Diese Schritte der Themenanalyse sind zunächst noch auf einen Einzeltext bezogen. Denn erst nach einer genauen thematischen Analyse des Einzeltextes ist eine intertextuelle und diachrone Korrelation präzise genug.

7 Dies kann aber ein erster Schritt sein, z.B. bei der Erstellung eines semantischen Inventars und der anschließenden Gruppierung der Wörter zu Sinnlinien (Egger/Wick* 143–164). Für „Sinnlinie“ wird hier die Bezeichnung „Themencluster“ bevorzugt. 8 Die inhaltliche Zuordnung von Themen kann man auch grafisch veranschaulichen; bekannt ist z.B. das sogenannte „semiotische Viereck“ (vgl. Egger/Wick* 148–151).

b) Welche Themen kommen im Text vor?

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Methode der Themenanalyse 1. Themenidentifikation a. Herausfinden, welche Themen in einem Text vorhanden sind bzw. ob ein gesuchtes Thema im Text vorkommt (Screening). b. Für die Themen im Text passende Bezeichnungen finden (Tagging). c. Die Themen gewichten und ein Thema auswählen. 2. Aussagensammlung, -gewichtung, -beschreibung a. Aus jedem Textabschnitt die expliziten und impliziten Aussagen zu diesem Thema sammeln, die aus Sicht des Autors vom intendierten Rezipienten wahrgenommen werden können. b. Die Aussagen sortieren und korrelieren. c. Eine Aussagengewichtung vornehmen. d. Einen zusammenhängenden Text verfassen. 3. Aussagen über ein Thema textübergreifend beschreiben Vorgehensweisen: textorientiert, themenorientiert oder entwicklungsorientiert.

Zunächst: Was ist eigentlich ein Thema? Definition: Thema Ein Thema (im Text) ist jedes Element des Überzeugungssystems und des Einstellungssystems eines Autors, das im Text direkt oder indirekt zum Ausdruck kommt. Ein solches Element ist ein mentales Modell von Figuren, Dingen, Räumen, Ereignissen und Sachverhalten oder eine Einstellung dazu.

In diesem allgemeinen Sinn beinhaltet ein Einzeltext in der Regel viele Themen und mehrere zusammengehörige Themencluster. Anderswo wird ein Hauptthema innerhalb des Haupt-Themenclusters als „das“ Thema eines Textes verstanden.9 Das ist aus unserer Sicht eine Engführung, weil dann mögliche andere Themen im Text gedanklich ausgeblendet werden. Hauptthemen Entsprechend zu Haupt- und Nebenfiguren, Haupt- und und Nebenkonflikten, Haupt- und Nebenereignissen könnte Nebenthemen man besser von Hauptthemen und Nebenthemen sprechen. 13b.2.1 Schritt 1: Themenidentifikation Dieser Schritt 1 lässt sich in zwei Teilschritte aufschlüsseln: „Screening“ und „Tagging“. Hinzu kommt die Frage nach der individuellen Themenauswahl.

9

Nach diesem Verständnis ist das Thema die „Leitidee“ des Textes. Beispiel: „Unter Thema versteht man das zentrale Organisationsprinzip, dem sich alle anderen Elemente und Strukturen eines Textes oder Textabschnitts, aber auch einer Textgruppe nachordnen lassen.“ (A. Schulz, Art. Thema, in: RLW*, Bd. 3, 634f., hier 634).

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

a. Screening: Es ist im Zeitalter von elektronischen Hilfsmitteln sehr einfach, in einem Text nach vorgegebenen Begriffen (Schlüsselwörtern) zu suchen. Die Untersuchung richtet sich hier auf das Verständnis eines Begriffs, z.B. das Verständnis der πίστις oder der συνείδησις bei Paulus. Neben dem Keyword-Screening kann man nach inhaltlichen Konzepten (ganzen Überzeugungssystemen) suchen. Dazu muss man den Suchvorgang mit verwandten Wörtern im mentalen Lexikon des Autors10 wiederholen. Für die Einzelperson ist es dabei fast unvermeidlich, bei größeren Textkorpora relevante Stellen zu übersehen (deswegen bräuchte es unseres Erachtens Internetplattformen für social screening und social tagging biblischer Texte). Etwas anders geht man beim Screening vor, wenn man einen spezifischen Textabschnitt auf vorhandene Themen untersucht. Nach dem untenstehenden Beispiel finden sich in Galater 5,1 insgesamt 16 thematische Konzepte. Oder bemerken Sie ein weiteres? Ein Thema im Text kann – vgl. die Definition – nicht nur das mentale Konzept des Autors sein (die Vorstellung), sondern auch eine Einstellung des Autors, z.B. die Einstellung des Paulus zum Gesetz. Im Themen = bisherigen Sprachgebrauch würde man in Spalte 2 „Zur Vorstellungen + Theologie des Galaterbriefes“ und in Spalte 3 „Zur Ethik des Einstellungen Galaterbriefes“ schreiben. Beispiel: 16 mögliche Themen (Vorstellungen + Einstellungen) in Galater 5,1 Text Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.

10

Überzeugungen (Vorstellungen) Vorstellungen von: 1. „Freiheit“ 2. „Freiheit durch Christus“ 3. „Freiheit der Christen [uns]“ 4. „Standhaftigkeit“ 5. „Standhaftigkeit der Christen“ 6. „nicht zulassen“ 7. „Christen sollen nicht zulassen“ 8. „ein Joch auflegen“ (wörtl.) 9. „ein Joch auflegen“ (metaphor.) 10. „Sklaverei“ (wörtl.) 11. „Sklaverei“ (metaphor.)

Einstellungen 12. Freiheit = erwünscht/positiv 13. fest stehen = erwünscht 14. sich ein Joch auflegen lassen = unerwünscht 15. Sklaverei = unerwünscht 16. Sklaverei (metaph.) = unerwünscht

„Often tracing a theme via one key term leads into a study of a cluster of related terms. For example, ‘call’ in Pauline usage connects also with ‘choice,’ ‘foreordination,’ ‘foreknowledge,’ ‘appointment,’, ‘purpose,’ ‘will,’ ‘counsel,’ ‘good pleasure,’ ‘grace,’ ‘gift,’ ‘love,’ and so forth.“ (Bock/Fanning* 287f.) Es wird empfohlen, die theologischen Lexika zum NT zu diesen Nachbarthemen zu konsultieren. Eine weitere Hilfe bei der Suche nach sinnverwandten Wörtern kann sein: J.P. Louw/E.A. Nida, Greek-English Lexicon of the NT, based on Semantic Domains, 2 Bde., New York 21989, auch wenn dieses Wörterbuch noch nicht die Erkenntnisse der kognitiven Linguistik einbezieht.

b) Welche Themen kommen im Text vor?

277

b. Tagging (Schlagwortvergabe): Bei der Themenanalyse ist es immer auch eine Herausforderung, angemessene thematische Tags (Schlagwörter)11 zu vergeben. Mit welchem Begriff beschreibt man den Aspekt, der in diesem Text beschrieben wird? Zwar könnte man als „Schlagwort“ einen Begriff aus der Dogmatik oder biblischen Theologie verwenden, aber dabei ist kritisch zu fragen, ob dieser Begriff das mentale Konzept des Autors tatsächlich erfasst.12 Die Vergabe thematischer Schlagwörter darf nicht willkürlich geschehen. In den Sozialwissenschaften ist es bereits üblich, bei der qualitativen Inhaltsanalyse von Texten die Regeln für die Vergabe thematischer Schlagwörter in einem Codebuch festzuhalten. Verschiedene „Codierer“ sollen möglichst zu denselben Schlagwörtern kommen (Früh, Inhaltsanalyse, 52001). Und die Dokumentationswissenschaft spricht von einem ‚kontrollierten Vokabular‘, damit die Indexerstellung einheitlich geschieht.

c. Themengewichtung und Themenauswahl: Möchte man ein einzelnes Thema herausgreifen und näher untersuchen, bietet es sich an, eines der wichtigsten Themen im Text zu nehmen. Doch woran erkennt man ein ‚wichtiges‘ Thema? Grundsätzlich ist ein Thema im Text dann wichtig, wenn diesem Thema ein großes ‚logisches Gewicht‘ im mentalen Modell des Autors angesichts des von ihm wahrgenommenen Kommunikationskontextes zukommt. Davon hängt ab, ob es sich für den Autor eher um ein Hauptthema oder um ein Nebenthema handelt. Analog zu den Kriterien für Hauptfiguren13 könnte man folgende Kriterien für die Identifikation von (erkennbaren) Hauptthemen aufstellen: Ein Hauptthema (für diesen Abschnitt) liegt tendenziell dann vor, wenn … ■ dieses Thema in mehreren Versen des Abschnitts begegnet (Quantitätskriterium); ■ diesem Thema andere Themen des Abschnitts inhaltlich-logisch zugeordnet werden können, z.B. in der rekonstruierten ‚Mind Map‘ des Autors oder im semiotischen Viereck (Kohärenzkriterium) (Beispiel: Sklaverei als Kontrastthema zur genannten Freiheit in Gal 5,1); ■ dieses Thema in vorherigen Abschnitten des Textes vorbereitet wird und später wieder aufgegriffen wird (literarisches Kontextkriterium); ■ dieses Thema (ggf. auch verschlüsselt ausgedrückt) im wahrgenommenen Schreibkontext des Autors hohe Relevanz besitzt (z.B. implizite Kritik am Kaiserkult) (gesellschaftliches Kontextkriterium).

11

Vgl. die entsprechenden Metatexte in anderen Bereichen des Alltags: Viele Blogeinträge enthalten „Tags“; die OPACs arbeiten mit „Schlagwörtern“ bezogen auf ein Buch. 12 Ein Beispiel für die Vergabe von thematischen Schlagwörtern ist die „Thompson Studienbibel“, die im Wesentlichen auf die Randnotizen eines methodistischen Predigers Anfang des 20. Jhdts. zurückgeht. Z.B. das Schlagwort „falscher Glaube“ für den Text Gal 5,1 erscheint zu generell und willkürlich. 13 Eder* 468f.; vgl. Finnern* 149.

278

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Die Wahl, welcher Aspekt der Theologie (allgemein: des Überzeugungssystems) eines Autors beschrieben werden soll, hängt aber auch vom heutigen Interesse ab. Ein Wissenschaftler will beispielsweise Aussagen über Gottes Zorn untersuchen, weil er meint, heute werde zu sehr Gottes Liebe betont, oder weil es einfach lange keine Studien mehr dazu gab. Manchmal ist es aufschlussreich, sich zu überlegen, warum sich ein Forscher einem bestimmten Thema widmet. Aufgabe: Überlegen Sie sich ein Thema im Neuen Testament, das Sie besonders interessiert. Forschen Sie für zehn Minuten drauflos. Wie sind Sie vorgegangen? Tauschen Sie sich mit Ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen darüber aus.

13b.2.2 Schritt 2: Aussagensammlung, -gewichtung, -beschreibung Nachdem man in einem ersten Schritt die Themen eines Textes herausgefunden und stichwortartig benannt hat, gelangt man zum zweiten Schritt: die jeweiligen Aussagen zu einem Thema sammeln und sortieren, diese korrelieren und gewichten und schließlich einen beschreibenden Text verfassen, der das mentale Konzept des Autors bezogen auf dieses Thema möglichst angemessen wiedergibt. a. Themenwahl und Aussagensammlung: Wählen Sie aufgrund eines eigenen (Forschungs-)Interesses ein Thema und sammeln Sie auf Grundlage der bisherigen Schlagwortvergabe alle Aussagen, die sich im gewünschten Textkorpus zu diesem Thema finden. Wichtig ist, dass Sie an dieser Stelle noch keine Vorauswahl treffen, d.h. Aussagen unberücksichtigt lassen, weil ihnen diese unbedeutend erscheinen. Bei einer gründlichen thematischen Untersuchung sollten Sie die Schritte der Texterklärung (vgl. Kap. 9–10) bei jeder dieser Aussagen durchgeführt haben. D.h. jede Textpassage, in der eine Aussage zu diesem Thema vorkommt, wird in einem eigenen Absatz oder Teilkapitel ausgelegt. b. Aussagen sortieren und korrelieren: Nehmen wir an, Sie sind in Ihrer Untersuchung sämtliche Texte durchgegangen, die im Johannesevangelium implizite oder explizite Hinweise auf das Abendmahl enthalten (könnten), und haben diese Aussagen dargestellt. Nun folgt ein nächster Absatz bzw. ein Teilkapitel, wo die Aussagen inhaltlich sortiert werden – welche sind wortgleich, ähnlich, inhaltlich verwandt, unverbunden oder evtl. auch gegensätzlich? Hier findet schon ein erster Systematisierungsschritt statt. Manchmal werden in einem Text auch scheinbar gegensätzliche Aussagen korreliert, z.B. Gottes Wirken und menschliche Werke in Eph 2,10.

b) Welche Themen kommen im Text vor?

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Typische Fehler bei den Teilschritten a und b (vgl. Bauer/Traina* 346ff.): ■ ■

■ ■

1. Fehler der Verallgemeinerung (fallacy of overgeneralization): Das Spezifische des Abschnitts zum Thema wird nicht gesehen. 2. Fehler der unnötigen Separierung (fallacy of invalid separation): Aussagen werden voneinander isoliert und gegeneinander ausgespielt, dort wo es gar nicht notwendig ist. 3. Fehler der Gleichmacherei (fallacy of total uniformity): Die Unterschiede zwischen den Texten werden übersehen. 4. Fehler des ‚flachen‘ Buches (fallacy of the flat book, ein Spezialfall des dritten Fehlers): Die Entwicklung mentaler Konzepte (Bauer/Traina: das Fortschreiten der Offenbarung) wird nicht berücksichtigt. Ein ‚flaches‘ Buch weist keine Entwicklung auf, anders als ein ‚rundes‘ Buch (vgl. flache/runde Figur).

Auch innerhalb desselben Textabschnitts sind Aussagen oft nicht auf gleicher Ebene zu lesen (vgl. „fallacy of the flat book“). Das betrifft insbesondere Erzähltexte. Bei erzählenden Texten ist auf die zusätzlichen Zwischeninstanzen zu achten (z.B. Figuren, die etwas sagen oder durch die fokalisiert wird) und auf die perspektivische Interaktion. Die Korrelation der Aussagen ist daher auch von Zuverlässigkeit und Hierarchie der Perspektiventräger abhängig. Beispiel: Bei den zwei Einstellungs-Themen in Lk 15,15f. (die Einstellungsobjekte 1. Kontakt mit Heiden, 2. Umgang mit Schweinen als unreinen Tieren) ist im Wertesystem der Pharisäer und Schriftgelehrten als figuralen Adressaten des Gleichnisses (15,1) zwar eine negative Einstellung vorauszusetzen, aber nicht bei der ethischen Einstellung des Lukas (auf der Ebene des primären Erzählers; vgl. Apg 10,28; 10,9ff.).

c. Aussagengewichtung: Sind alle Aussagen zu einem Thema gesammelt, sortiert und inhaltlich korreliert, versucht man, die Wichtigkeit einzelner Aussagen im mentalen Modell des Autors zu rekonstruieren. Das ist anspruchsvoll und psychologisch-hypothetisch zugleich14; aber es entspricht guter Wissenschaft, wenn man überhaupt Kriterien für das eigene Vorgehen nennen kann. 1) Wichtigkeit der Aussagen: Von der Themengewichtung (siehe oben) ist die Aussagengewichtung zu unterscheiden. Hier geht es um die Frage, welches ‚logische Gewicht‘ einer einzelnen Aussagen im mentalen Modell des Autors angesichts des von ihm wahrgenommenen Themenkomplexes zukommt. Beispiel: Steht die Aussage aus Röm 7,12 („das Gesetz ist heilig und das Gebot ist heilig, gerecht und gut“) im Mittelpunkt des paulinischen Gesetzesverständnisses, ist sie anderen (negativen) Aussagen gleichberechtigt beigeordnet oder handelt es sich lediglich um eine Randnotiz, die an-

14 Friedrich Schleiermacher (1768–1834) unterteilt die ‚psychologische‘ Auslegung in einen Schritt des Vergleichens („komparative Methode“) und einen Schritt des Sich-Hineindenkens („divinatorische Methode“) (F.D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. v. M. Frank, Frankfurt 71999, 169). Schritt c könnte man als Konkretion der divinatorischen Methode sehen, die Schritte a+b als Anwendung der komparativen Methode.

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

gesichts der vorherigen Gesetzeskritik geradezu vernachlässigenswert ist bzw. bestenfalls ein geringes Gegengewicht (vielleicht zur Beruhigung der Gegner) schaffen soll? Analog zu den oben skizzierten Kriterien der Themengewichtung könnte man formulieren: Eine Hauptaussage liegt tendenziell dann vor, wenn … ■ sich diese Aussage inhaltlich wiederholt (Quantitätskriterium); ■ dieser Aussage andere Aussagen inhaltlich-logisch zugeordnet werden können (Kohärenzkriterium); ■ diese Aussage in vorherigen Abschnitten vorbereitet wird und später wieder aufgegriffen wird (literarisches Kontextkriterium) (Beispiel: In Röm 7,13 meint das „das Gute“ weiterhin „das Gebot“, d.h. der Gedankengang wird fortgeführt); ■ eine Aussage im Text (ggf. auch verschlüsselt ausgedrückt) im wahrgenommenen Schreibkontext des Autors hohe Relevanz besitzt (z.B. wendet sich Paulus mit der Aussage in 7,12 gegen den Vorwurf seiner Gegner, das Gesetz sei ihm eine sündhafte Macht) (gesellschaftliches Kontextkriterium). ■ Weitere Kriterien zur Gewichtung einer Aussage können die Explizität und (bei erzählenden Texten) die Zuverlässigkeit sowie die Informationsverdoppelung sein (vgl. 11a.2.6 Perspektivische Interaktion).

d. Einen zusammenhängenden Text verfassen: Abhängig von der gewünschten Ausführlichkeit der Darstellung und von der Zielgruppe kann dieselbe Analyse in verschiedene Arten von Texten umgeformt werden. Als halb-ausführliche Darstellung bietet sich an, eine Paraphrase der wichtigsten Belegstellen zu bieten, die auch schon die Systematisierungsarbeit erkennen lässt, die man geleistet hat (vgl. das Beispiel von Schnelle). Möchte man eine ausführliche Analyse bieten, sollten auch die in dieser Methode dargestellten Zwischenschritte dokumentiert werden. Aufgabe: Kritische Lektüre einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ 1) Lesen Sie den folgenden Abschnitt zum Gesetzesverständnis des Galaterbriefes aus U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen 22013, 273: „Paulus demontiert die Tora, indem er sie zeitlich (Gal 3,17) und sachlich (Gal 3,19f.) als sekundär einstuft. Ihr kam innerhalb der Geschichte lediglich die Aufgabe zu, die Menschen zu beaufsichtigen (vgl. Gal 3,24). Diese Zeit der Unfreiheit ist nun in Christus zu ihrem Ende gekommen, er befreite die Menschen zur Freiheit des Glaubens (Gal 5,1). Die Glaubenden aus Juden- und Heidentum sind jenseits der Beschneidung und der Tora die legitimen Erben der Verheißungen an Abraham (vgl. Gal 3,29).“ 2) Beurteilen Sie den Textabschnitt auf seine Angemessenheit. Sie können sich hierbei an folgenden vier Fragen orientieren: a. Erscheinen Ihnen die Begriffe „demontiert“ (Zeile 1) und „Zeit der Unfreiheit“ (Zeile 3f.) passend zu sein? Wie wird diese Wortwahl begründet?

b) Welche Themen kommen im Text vor?

281

b. Woher stammt der Begriff „Freiheit des Glaubens“ in Zeile 5? (Wie) ist dieser Ausdruck zu begründen? c. Wägen Sie ab, ob man bei der Wiedergabe von Gedanken eher den Konjunktiv verwenden sollte (Zeile 2–6). d. Überprüfen Sie die Aussagen, indem Sie selbst den Galaterbrief durchsehen: Hat der Autor alle wesentlichen Stellen zum Gesetzesverständnis (d.h. zum mentalen Modell von „Gesetz“) bei Paulus erfasst? 3) Reformulieren Sie den Abschnitt von Schnelle unter Berücksichtigung Ihrer gerade durchgeführten Beurteilung neu. (Achtung: In einer Seminararbeit sollten Sie natürlich von Anfang an eigenständig formulieren, weil der Übergang zum Plagiat sonst fließend ist.)

13b.2.3 Schritt 3: Aussagen über ein Thema textübergreifend beschreiben Bei exegetischen Untersuchungen mit thematischem Interesse gibt es verschiedene Grund-Herangehensweisen (davon sind b+c textübergreifend): ■ ■



a) textorientierte Themenstudie: Man untersucht alle Themen in jeweils einem Text („Theologie des Matthäusevangeliums“). Dies ist sozusagen der ‚simpelste‘ Fall. b) autororientierte Themenanalyse: Man beschreibt die Aussagen zu einem Thema in verschiedenen Texten bzw. Textabschnitten desselben Autors („Das Gewissen bei Paulus“, „Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften“). Teilweise kann es sinnvoll sein, zunächst immer nur eine einzelne Schrift als Untersuchungseinheit zu nehmen, da sich auch Anschauungen bei demselben Autor entwickeln können, und erst dann die Aussagen zum Thema in verschiedenen Schriften desselben Autors zu vergleichen. c) entwicklungsorientierte Themenanalyse: die gedankliche (Weiter-)Entwicklung eines Themas bei verschiedenen Autoren („Babylon-Texte in der Bibel“). Wenn es kein einzelner Autor ist, der untersucht wird, muss man zuerst differenzieren und anschließend die verschiedenen Anschauungen vergleichen.

Außerdem – in Kombination mit b+c – kann man unterscheiden zwischen: ■ 1) begriffsorientierten Wortanalysen – Orientierung an der Bezeichnung: Man untersucht, welche unterschiedlichen Bedeutungen ein bestimmter Begriff (im Laufe der Jahrhunderte) annehmen kann, z.B. das Wort εὐαγγέλιον. Bei diesem Untersuchungsansatz ist die Bezeichnung vorgegeben, man analysiert die verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes („Bedeutungswandel“ – Semasiologie). ■ 2) inhaltsorientierten Themenanalysen – Orientierung an der kognitiven Vorstellung: Man untersucht, mit welchen Begriffen ein bestimmtes inhaltliches Konzept bzw. mentales Modell (im Laufe der Jahrhunderte) ausgedrückt wird. Bei diesem Analyseansatz ist der Themenbereich vorgegeben, man sucht passende Begriffe und Umschreibungen dafür („Bezeichnungswandel“ – Onomasiologie). Bei der Verknüpfung von thematischen Aussagen in mehreren unterschiedlichen Texten muss natürlich darauf geachtet werden, welche Texte man zusammenführt und welche nicht. Ein gutes Beispiel für einen bewussten Umgang mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den neutestamentlichen Texten sind die zwei

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Bände der Theologie des NT von Ferdinand Hahn (1926–2015). Unter der Überschrift „3.2 Bereitschaft zu Versöhnung und Vergebung“ beschreibt F. Hahn in getrennten, aber vergleichenden Absätzen den Inhalt von Mt 5,23f.; Mt 6,14f.; Mt 5,25f.; Mt 18,23– 34; Kol 3,13b; Eph 4,32b (Hahn, Theologie II, S. 706–708). Thematisch geht es hier um eine Einstellung – um, wie man klassisch sagt, die christliche „Ethik“.

13b.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Warum ist bei der Themenanalyse ein Blick über die Dogmatik hinaus wichtig? 2. Welche zwei Verständnisse von Biblischer Theologie lassen sich unterscheiden?

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ methodisch reflektiert Themen im Text finden und bezeichnen (screening, tagging), auch solche, die über die klassische Themeneinteilung der Dogmatik und Ethik hinausreichen; ■ explizite (und implizite) Aussagen zu einem Thema sammeln, sortieren und korrelieren; ■ Aussagen und Themen in einem Text gewichten; ■ kritisch mit Themendarstellungen anderer Autoren umgehen; ■ ein Thema innerhalb desselben Textes oder textübergreifend beschreiben. Sie kennen jetzt … ■ zwei Verständnisse von „Biblischer Theologie“; ■ verschiedene Begriffe, mit denen man in anderen Disziplinen die Themenanalyse bezeichnet; ■ typische Fallen, in die man bei der Themenanalyse tappen kann. Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur thematologischen Analyse erkennen und wo sie noch Mängel bemerken. Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie, welchen Beitrag eine methodisch reflektierte Themenanalyse für den Dialog zwischen Exegese und Dogmatik leisten kann. Welche Anknüpfungspunkte ergeben sich für die Gemeinde- oder Schulpraxis?

13b.4 Literatur 13b.4.1 Exegetische Methodenlehren Dreytza/Hilbrands* 153–169 („Theologische Auslegung“), Haacker* 87–97 („Biblische Theologie“), Meurer* 95–98; engl.: Bauer/Traina* 337–360 („Correlation“: Frage, wie man Aussagen aus unterschiedlichen Texten korreliert), Black/Dockery* 481–505, Blomberg* 219–237, Bock/Fanning* 277–291, Croy* 107–115, Hayes/Holladay* 152–166, Kaiser/Silva*

b) Welche Themen kommen im Text vor?

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192–206, Klein/Blomberg/Hubbard* 382–390, McKenzie/Haynes* 142–155, Osborne* 263– 317, Stuart* 23–25.58f.147–149.

13b.4.2 Neutestamentliche Theologien und Ethiken Berger, K., Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 21995. Breytenbach, C./Frey, J. (Hgg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007. (grundsätzliche Überlegungen) Bultmann, R., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984. Childs, B.S., Die Theologie der einen Bibel, 2 Bde., Freiburg 1994/96. (AT/NT) Gnilka, J., Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i.Br. 1994. Goppelt, L., Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 31980. Hahn, F., Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Tübingen 32011. Klumbies, P.G., Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015. (Grundsätzliches) Ladd, G.E., A Theology of the New Testament, Grand Rapids 21993. Lohse, E., Grundriß der neutestamentlichen Theologie, Theologische Wissenschaft 5/1, Stuttgart 41989; ders., Theologische Ethik des Neuen Testaments, Theologische Wissenschaft 5/2, Stuttgart 1988. Lugioyo, B./Reynolds, B./Vanhoozer, K. (Hgg.), Reconsidering the Relationship Between Biblical and Systematic Theology in the New Testament. Essays by Theologians and New Testament Scholars, WUNT II/369, Tübingen 2014. Marshall, I.H., New Testament Theology, Downers Grove 2004. Pokorný, P./Heckel, U., Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007. Schnelle, U., Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen 22013. Schrage, W., Ethik des Neuen Testaments, Grundrisse zum NT 4, Göttingen 51989. Strecker, G., Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.W. Horn, Berlin u.a. 1996. Stuhlmacher, P., Biblische Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Göttingen 21997/1999. Theißen, G., Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. Wilckens, U., Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Neukirchen-Vluyn 2014. Wright, N.T., Paul and the Faithfulness of God, 2 Bde., Minneapolis 2013. Neuer Entwurf; ausführlich dazu: Heilig, Chr./Hewitt, J.Th./Bird, M.F. (Hgg.), God and the Faithfulness of Paul. A Critical Examination of the Pauline Theology of N. T. Wright, WUNT II/413, Tübingen 2016.

13b.4.3 Einzelstudien und beispielhafte Durchführungen Frey, J./Schröter, J. (Hgg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, UTB 2953, Studienausgabe, Tübingen 22012. Luther, S., Sprachethik im Neuen Testament, WUNT II/394, Tübingen 2015. Rabens, V., The Holy Spirit and Ethics in Paul, WUNT II/283, Tübingen 22013. Wagener, F., Figuren als Handlungsmodelle, WUNT II/408, Tübingen 2015. (narratologisch-ethische Analyse am Beispiel des Johannesevangeliums)

13c Kritisches Interesse: Wie ist der Text zu beurteilen? Leitbegriffe Ästhetik (das „Schöne“), Inhalt (das „Wahre“), Wirkung („das Gute“), engagierte Exegese (feministisch, befreiungstheologisch, postkolonial)

13c.1 Einführung Es gibt sie noch: die großen zeitgenössischen Romane, die von den Literaturkritikern gelobt und gefeiert werden. Juli Zeh ist mit ihrem Gesellschaftsroman „Unterleuten“ (2016) solch ein Erfolg gelungen. Doch wer vermag schon zu beurteilen, ob ein Buch gelungen oder misslungen ist? Bleibt eine Buchkritik nicht immer subjektiv? Ist es nicht eine Frage des individuellen Geschmacks, ob ich ein Buch mag oder nicht? – Nun, ernsthafte Literaturkritik orientiert sich zumindest an nachvollziehbaren Kriterien und bezieht sich auf bekannte Literaturtheorien und Fachbegriffe. Hierzu ein Beispiel: Aufgabe: Lesen Sie die nachfolgenden Auszüge aus einer Buchkritik. Schreiben Sie danach alle Kriterien heraus, die dem Urteil von Jörg Magenau zu Grunde liegen.

„[…] Juli Zeh erzählt kapitelweise in wechselnden Perspektiven. Da ist zwar immer die auktoriale, allwissende Erzählerin (die sich in einem Schlusskapitel als Journalistin zu erkennen gibt), doch indem sie allen Figuren reihum nahe zu kommen versucht, gelingt es ihr, sie aus der Innenund Außenperspektive zu zeigen, sodass sie mal massiv unsympathisch, mal vom Schicksal gezeichnet und höchst bemitleidenswert wirken. Diese Sichtwechsel machen den Reiz des Romans aus und lassen nach und nach komplexe Figuren entstehen, die mehr sind als die Abziehbilder, als die sie zwischenzeitlich auch erscheinen. Juli Zeh setzt ganz auf Handlung und Psychologie, aber ohne zu erklären und auszudeuten: Warum die Menschen so sind, wie sie sind, so bitter, so schweigsam, so naiv, muss jeder Leser aus den einzelnen Mosaikteilchen herauslesen. […] Sprachlich ist Abb. 13c.1: Buchcover „Unterleuten“ einfach und konventionell gestrickt, geschrieben in einem ungebrochenen Vertrauen auf realistische Erzählweise […] und das ist der Sache ja auch durchaus angemessen. Schließlich ist das Dorf nicht die Heimat ästhetischer Avantgarde. ‚Unterleuten’ ist ein Kriminalroman, indem tatsächlich auch ein Mord aufgedeckt wird und Gewalt alltäglich ist. […] Wie man Cliffhanger baut und Spannung produziert, weiß sie auch.“ 1 1 Jörg Magenau: Die Landidylle, in der Gewalt alltäglich ist. Süddeutsche Zeitung, 21.03.2016. © Süddeutsche Zeitung. Cover: © Luchterhand Literaturverlag in der Verlagsgruppe Randomhouse, 2016. Mit freundlicher Genehmigung.

c) Wie ist der Text zu beurteilen?

285

Bereits die ersten Zeilen der Buchkritik verraten, dass der Kritiker erzählwissenschaftlich geschult ist. So verweist er auf die „auktoriale, allwissende Erzählerin“, spricht von der „Innen- und Außenperspektive“ oder lobt die „komplexen Figuren“. Der Roman wird mittels erzählwissenschaftlicher Analysekategorien beschrieben und beurteilt. Die Geschichte der deutschen Literaturkritik ist alt und reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Hier stoßen wir erstmals auf Versuche, eine sogenannte „Regelpoetik“ zu formulieren.2 Und wenngleich uns heute beim Stichwort „Buchbesprechung“ zuallererst die populären Formate im Fernsehen einfallen mögen, bleibt die Literaturkritik ein wissenschaftlich anerkannter Teilbereich der Literaturwissenschaft. Demgegenüber fällt auf, dass es in den Bibelwissenschaft bisher keinen entsprechenden Forschungszweig gibt. Hier stoßen wir in der Kommentarliteratur bestenfalls auf kurze RandnotiExegese: zen, wobei wahlweise die scharfsinnige Argumentation des Methode der Paulus gelobt oder der hölzerne Schreibstil eines EvangelisKritik fehlt ten bemängelt wird. Solche Bemerkungen haben aber meist den Charakter eines ad hoc-Urteils und es wird immer nur auf Einzelaspekte hingewiesen. Exkurs: Darf man biblische Texte kritisieren oder sie positiv herausstellen? In der Bibelexegese herrscht – aus Respekt vor der biblischen Tradition – eine gewisse Scheu, was die Formulierung eines eigenen Methodenschritts „Textbewertung“ angeht. Auf der anderen Seite werden – nebenher 3 – in der exegetischen Praxis immer wieder Werturteile gefällt. Wenn man sich mit Blick auf die menschliche Seite der Bibel doch zur Textbewertung durchringt, stellt sich dann die Frage, welche Kriterien angelegt werden. Nehmen wir das bekannte Beispiel Martin Luthers. Luther hat einerseits die Frage bejaht, ob man (bestimmte) biblische Texte beurteilen dürfe. Er schreibt: Darin „stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu beurteilen: zu sehen, ob sie Christum treiben oder nicht, da alle Schrift Christum zeiget, Röm. 3 und der heilige Paulus nichts als Christum wissen will, 1. Kor. 2,2“.4 Auf der anderen Seite ist sein ‚Kriterium‘ auch nicht völlig beliebig oder von vornherein offenbarungskritisch, sondern er denkt von der „Mitte der Schrift“ her. Und er bleibt offen für das mildere Urteil anderer. Daher setzt er den Hebräerbrief, den Jakobus- und Judasbrief und die Offenbarung unnummeriert ans Ende des Neuen Testaments, ohne aber den ‚kanonischen‘ Stab über diese biblischen Schriften zu brechen. Für die grundsätzliche Legitimität einer Methode der Textbewertung könnten auch Überlegungen der Interpretationsethik sprechen. Als Interpret eines Textes ist man im-

2

Vgl. etwa J.C. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 1751. Nur in einigen populärwissenschaftlichen Büchern zur Bibel, die entweder zornig mit ihr abrechnen oder sie huldigend verteidigen, nimmt die Textbewertung größeren Raum ein. Ausgewogenheit: Fehlanzeige. 4 Aus Luthers Vorrede zum Jakobus- und Judasbrief, 1522 (WA DB 7, 384,25ff.). 3

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13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

mer „Anwalt des Textes“ gegenüber den eigenen Lesern, aber auch „Anwalt der (heutigen) Leser“ gegenüber dem Text. Es würde dann bei manchen Texten (z.B. bei antijudaistischen Äußerungen im NT) unverantwortlich erscheinen, sie gegenüber heutigen Lesern ohne eine zusätzliche Textbewertung rein erklärend fortzuschreiben. Bei der Frage der Textbewertung geht es außerdem nicht nur um (negative) Kritik. Was hindert die christliche Apologetik daran herauszustellen, dass viele biblische Texte ja eine enorm positive Wirkung entfalten, so dass der einst von G.E. Lessing eingeforderte „Beweis des Geistes und der Kraft“ auf der Basis der Analyse der Textnachwirkung detailliert geführt werden könnte? Vernetzen Sie sich: Diskutieren Sie miteinander, ob man aus Ihrer Sicht biblische Texte kritisieren darf oder soll. Warum (nicht)? Welche Vorteile oder Nachteile ergeben sich jeweils daraus? Wenn Sie sich für die Kritik entscheiden: Was wären Ihre Kriterien? Wo wären Ihre persönlichen Grenzen?

Für alle Texte gilt: Eine wissenschaftlich reflektierte Textbeurteilung sollte sich an nachvollziehbaren und wissenschaftlich kommunikablen Kriterien orientieren und den Text immer als Ganzes in den Blick nehmen. Wer entdecken will, dass sich Juli Zehs Charaktere als komplexe Figuren zu erkennen geben, der muss eben das Gesamtwerk auf sich wirken lassen und darf sein Resümee nicht nach dem ersten Kapitel ziehen. Aus diesem Grund sollte die Kritik eines Textes erst am Ende einer Analyse stehen, um auf die vielfältigen Ergebnisse der eigenen Exegese zurückgreifen zu können. Noch eine Bemerkung zur Vorsicht: Die Kriterien der Textbewertung sind wandelbar. Nimmt man eine der Regelpoetiken des 18. oder 19. Jahrhunderts zur Hand, so fällt zugleich auf, dass uns manche der dort Kriterien sind genannten Kriterien für „gute“ Literatur überraschen. Um kulturell wanes mit den Worten des verstorbenen Literaturkritikers delbar Marcel Reich-Ranicki zu sagen: „Was der Kritiker Lessing hinterlassen hat, ist längst verblaßt und bestenfalls von historischer Bedeutung.“5 In dieser Feststellung bringt Reich-Ranicki zum Ausdruck, dass die Kriterien, mit denen Literatur beurteilt wird, ihrerseits kulturell und zeitgeschichtlich variabel sind. Eine gute Kritik sollte zwar nie rein individuell sein, aber sie unterliegt zwangsläufig dem zeitgenössischen Geschmack: So hätte man noch vor einigen Jahrzehnten Juli Zeh ihre einfache Sprache kritisch vorgehalten. Doch heute erkennt man gerade hierin ein besonderes Gespür für die erzählte Welt, für die Eigentümlichkeiten eines brandenburgischen Dorfes und seiner Bewohner.

5

M. Reich-Ranicki, Meine Bilder. Porträts und Aufsätze, Frankfurt a.M. u.a. 2003, 20.

c) Wie ist der Text zu beurteilen?

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13c.2 Methode Die heutige Literaturkritik bezieht sich zumeist auf die Untersuchung der Gestaltung und Ästhetik eines Textes und damit auf die Frage, ob dieser im weitesten Sinne „ansprechend“ und „schön“ ist. Prinzipiell kann sich die Kritik aber auch auf andere Aspekte beziehen – insbesondere, ob ein Text die Wahrheit abbildet oder ob er moralisch nützlich ist. Es lassen sich insgesamt drei Kriterienbereiche unterscheiden,6 für die jeweils ein eigenständiger Kriterienkatalog formuliert werden kann. Methode der Textbewertung ■





1. Ist der Text „schön“, d.h. sind die Form, die Gliederung, die Grammatik, der Stil und das Metrum, die rhetorischen Mittel und erzählerischen Darstellungsmittel (discourse) ansprechend? (= kritisches Interesse an der Gestaltung und Ästhetik des Textes; Bereich „S“: Kap. 7–8 inkl. erzählerische Mittel in Kap. 11) 2. Ist der Text „wahr“, d.h. sind die Aussagen sachlich und historisch zutreffend und vollständig? (= kritisches Interesse am Inhalt des Textes; Bereich „E“: Kap. 9–11 inkl. historische Wahrheit, Kap. 13a) 3. Ist der Text „gut“, d.h. hat er kurzfristig und langfristig eine positive Wirkung? (= kritisches Interesse an der Nachwirkung des Textes; „N“: Kap. 12).

13c.2.1 Kriterienbereich 1: Ist der Text „schön“ bzw. gut gemacht? Kriterienbereich 1: Bewertung der ästhetischen Dimension des Textes Gehen Sie mit dem Text, den Sie gerade bearbeiten (z.B. für die Seminararbeit), die nachfolgende Checkliste mit möglichen Kriterien durch. Wählen Sie diejenigen Kriterien aus, die Sie für Ihren Text als relevant erachten. Notieren Sie, wo Ihr Text einem Kriterium besonders entspricht oder das Kriterium auffällig nicht erfüllt. Beziehen Sie dazu die Ergebnisse Ihrer bisherigen Exegese in Ihr Urteil ein. Verfassen Sie eine Textbewertung hinsichtlich der ästhetischen Dimension Ihres Textes.

□ Form/Gattung: Ist/sind die gewählte Gattung(en) des Textes dem, was dargestellt wird, angemessen? (→ 7 Gattungsanalyse)

□ Konsistenz: Ist der Argumentationsgang des Redetextes klar und nachvollziehbar dargestellt? Gibt es möglichst wenig „Brüche“ (Inkohäsionen und Inkohärenzen)? (→ 8.2 Gliederungs- und Argumentationsanalyse) □ Grammatik: Werden die grammatischen Regeln der jeweiligen Sprache eingehalten? (→ 8.4 Grammatisch-syntaktische Analyse)

6 Vgl. K. Sonek, Truth, Beauty and Goodness in Biblical Narratives, Berlin/New York 2009. Sonek unterscheidet die kognitive, ästhetische und praktische Dimension eines Bibeltextes und bringt sie mit der klassischen Trias des Wahren, Schönen und Guten in Verbindung.

288

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

□ Stilmittel: Ist der Text von seiner Struktur her kunstvoll gestaltet, d.h. werden Stilmittel in einem guten Maß eingesetzt? (→ 8.5 Stilistisch-rhetorische Analyse)

□ Anregende Zusätze: Gibt es Zusammenfassungen und konkrete Beispiele? □ Wortwahl: Werden treffende, spezifische, farbige Wörter verwendet? Lässt sich eine Korrespondenz zwischen Sprachstil und dem Ausschnitt der erzählten Welt (z.B. dem Mentalstil) feststellen? (→ 8.5.2 Allgemeiner Sprachstil des Autors; 8.5.3 Lyrischer Stil) □ Prätexte: Gibt es eine Fülle von Anspielungen/Zitaten, die von den Adressaten erkannt werden können? (→ 10.2.2 Kriterien der Semantik) Weitere Kriterien bei Erzählungen (vgl. Narratologie, Ebene der Darstellung): □ Erzählperspektive: Kann der Erzähler emotionale Nähe zu bestimmten Figuren schaffen? Variiert der Erzähler die Form der Wiedergabe von Gesprächen? Ist die Erzählung multiperspektivisch, d.h. haben die Figuren unterschiedliche Standpunkte? (→ 11a Perspektivenanalyse) □ Figurendarstellung: Gibt es Auffälligkeiten bei der Verteilung der Figuren auf die Szenen (Figurenbestand/Figurenkonfiguration)? Gibt es vergleichbare Figuren (erzählintern, erzählextern, historisch)? Kann der Erzähler die Mittel der Figurendarstellung variieren? Sind die Figuren komplex und „interessant“?7 (→ 11b Figurenanalyse) □ Handlungsdarstellung: Gibt es Abwechslung durch Variationen in der Reihenfolge der erzählten Ereignisse (Analepsen/Prolepsen), der Erzähldauer oder der Erzählfrequenz? Sind diese Variationen angemessen? (→ 11c Handlungsanalyse) □ Anfang/Schluss: Sind Anfang und Schluss der Erzählung bzw. der Rede besonders gestaltet? (→ 11c Handlungsanalyse) □ Raumdarstellung: Gibt es symbolische oder gestimmte Räume? Ist die Umwelt dynamisch, komplex, offen, realistisch? (→ 11d Raumanalyse) Beachten Sie: Diesem Kriterienkatalog liegt folgendes heutiges Ideal zugrunde: Ein Text muss logisch sein, auf andere Texte Bezug nehmen, passende Stilmittel und Wörter verwenden, grammatisch einwandfrei sein und in eine angemessene Form gekleidet sein. Bei Erzählungen können außerdem ein ausführlich geschildertes Setting, eine abwechslungsreiche Handlungsdarstellung, ein besonders gestalteter Erzählanfang und Erzählschluss, komplexe Figuren sowie Variationen in der Erzählperspektive als erstrebenswert gelten.

Speziell zur Stilkritik gibt es auch weitere Kataloge des „guten Stils“. Beispiele hierfür sind: ■

7

Die vier Stilkriterien (virtutes elocutionis) in der Rhetorik: perspicuitas (Klarheit), puritas/latinitas (sprachliche Richtigkeit), aptum (Angemessenheit) und ornatus (Redeschmuck, d.h. Stilmittel).8 Man könnte noch brevitas (Kürze) hinzufügen.

Zu Geschmacksfragen bei der Bewertung der Figurenkonzeption vgl. Finnern* 161. Dazu vgl. G. Ueding/B. Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart/Weimar 42005, 221–231. 8

c) Wie ist der Text zu beurteilen? ■

289

Die vier Grundkriterien für die Verständlichkeit eines Textes: 1. Einfachheit, 2. Gliederung/Ordnung, 3. Kürze/Prägnanz und 4. anregende Zusätze.9

13c.2.2 Kriterienbereich 2: Ist der Text wahr? Die Autorin Juli Zeh ist bekannt dafür, dass sie sich mit ihren Büchern in gesellschaftliche Diskurse einbringt. Nach ihren eigenen Worten10 sollen die Konfliktursachen, die sich innerhalb der von ihr erzählten Welt erkennen lassen, mit den Konfliktursachen einer heutigen, globalisierten Welt korrespondieren. Was im Kleinen zum Streit und Mord führe, löse im Großen Kriege aus. Aber stimmt diese Diagnose? Die Frage nach der inhaltlichen Wahrheit einer solchen Sachaussage kann ebenfalls Gegenstand der Kritik sein. Außerdem kann beurteilt werden, ob der Raum, die Ereignisse und die Figuren wahrheitsgemäß dargestellt wurden. Freilich gilt dies nur bei Texten, die diesbezüglich einen Wahrheitsanspruch erheben oder erkennen lassen. Juli Zehs Roman lässt sich einer solchen Kritik nicht unterziehen, weil sie bewusst fiktive Orte, Personen und Ereignisse kreiert. Bei einer Biographie oder einem historischen Text lässt sich dieser Kriterienbereich aber sehr wohl anwenden! Kriterienbereich 2: Bewertung des Wahrheitsgehalts des Textes Sofern man einen sachlichen und/oder historischen Wahrheitsanspruch voraussetzen kann: Gehen Sie mit Ihrem Text folgende Checkliste durch und notieren Sie sich, wo Ihr Text einem Kriterium besonders entspricht oder das Kriterium auffällig nicht erfüllt:

□ Sachverhalte: Sind die nicht-zeitgebundenen (allgemein-menschlichen, theologischen, naturgesetzlichen) Aussagen wahr? Weitere Kriterien bei Erzählungen (vgl. Narratologie, Ebene der Story): □ Raum: Ist das Setting zutreffend beschrieben? Wird alles Wissenswerte erwähnt? (→ 13a Historisches Interesse; evtl. → 11d Raumanalyse) □ Handlung: Sind die Ereignisse wirklich so geschehen, wie sie erzählt werden? (→ 13a Historisches Interesse; evtl. → 11c Handlungsanalyse) □ Figuren: Sind die historischen oder heute lebenden Personen hinsichtlich ihrer Worte und Taten, Charakterzüge, Meinungen usw. – soweit man es rekonstruieren kann – richtig und vollständig und in angemessener Komplexität beschrieben? (→ 13a Historisches Interesse; evtl. → 11d Raumanalyse)

9

Dies wird sehr verständlich geschildert bei I. Langer/F. Schulz v. Thun/R. Tausch, Sich verständlich ausdrücken, München/Basel 82006. 10 Vgl. http://www.unterleuten.de/index.html#derRoman (abger. 9.4.2016).

290

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse Diesem Kriterienkatalog liegt folgendes Ideal zugrunde: Ein Text muss das, was er beschreibt, zutreffend und vollständig abbilden.

Exkurs: Kriterien der Wahrheitsbeurteilung theologischer Aussagen Während man bei der Frage nach der historischen Wahrheit einer neutestamentlichen Aussage unmittelbar auf die Methode der historischen Rückfrage verweisen kann, scheint sich eine Beurteilung der „theologischen“ Wahrheit zunächst schwieriger zu gestalten. Innerhalb einer protestantischen Tradition mag man sich zuerst an das sog. sola scriptura erinnern, also daran, dass die „Schrift allein“ Quelle und normgebende Norm der Lehre und Verkündigung sein soll (und nicht eine individuelle Meinung, Eingebung oder Reflexionsleistung). Nun kommt dieses evangelische Schriftprinzip aber dort an seine Grenzen, wo man in den neutestamentlichen Texten auf eine Pluralität der theologische Überzeugungen stößt. Welche Meinung ist als schriftgemäß und damit als „wahr“ anzuerkennen, wenn Paulus einerseits von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Glauben spricht und der Glaube dabei als Geschenk charakterisiert wird, während Jakobus seine Rezipienten andererseits dazu ermahnt, sich in den Werken des Glaubens zu üben, weil ein Glaube ohne Werke tot sei? Insofern das Neue Testament selbst von Unstimmigkeiten und Lehrstreitigkeiten zwischen den Aposteln berichtet (z.B. Gal 2), sollten derartige Widersprüche nicht übergangen oder nivelliert werden. Vielmehr lohnt es sich, nach den impliziten Kriterien zu fragen, die in solch neutestamentlich überlieferten Konfliktfällen als Richtschnur und Maßstab ausgegeben werden. Literatur: H.-J. Eckstein, Die implizite Kanonhermeneutik des Neuen Testaments, in: B. Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel, Theologie Interdisziplinär 1, Neukirchen-Vluyn 2007, 47–68; P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild, Neukirchen-Vluyn 2006 (konstruktivistische Sicht).

13c.2.3 Kriterienbereich 3: Ist der Text gut, d.h. entfaltet er eine gute Wirkung? Gesellschaftsromane wie der von Juli Zeh wollen zumeist nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen und ihre Leser von etwas überzeugen. Durch den Roman „Unterleuten“ soll einer allzu einfachen Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“ Menschen widersprochen werden, weil diese zu kurz greife und sich Konflikte viel eher aus einem verworrenen Zusammenspiel diverser – für sich genommen jeweils guter – Wünsche und Intentionen ergeben. Auch die Wirkung und Moral eines Textes lässt sich einem kritischen Urteil unterziehen, wobei sich noch einmal zwischen einem „Unterhaltungsaspekt“ und einem „Nützlichkeitsaspekt“ differenzieren lässt:11 11 Vgl. auch S. Finnern, Narrative Ethik und Narratologie. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen, in: U. Volp/F.W. Horn/R. Zimmermann (Hgg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie, WUNT 356, Tübingen 2016, 141–168.

c) Wie ist der Text zu beurteilen?

291

Kriterienbereich 3: Bewertung der (intendierten/tatsächlichen) Textwirkung Gehen Sie mit Ihrem Text folgende Checkliste durch, inwiefern der Text unterhaltend und nützlich ist. Wählen Sie passende Kriterien aus (z.B. nicht jede Textsorte soll primär unterhalten). Notieren Sie sich, wo Ihr Text einem Kriterium besonders entspricht oder das Kriterium auffällig nicht erfüllt. a) Unterhaltungsaspekt (kurzfristige Wirkungen) □ Spannung: Ist die Erzählung bzw. die Rede spannend? (→ 12.2.1c; → 11c Handlungsanalyse) □ Humor: Ist die Erzählung bzw. die Rede humorvoll? (→ 12.2.112; → 11c Handlungsanalyse) □ Emotionalität: Schafft die Erzählung weitere Emotionen (Freude/Erleichterung, Hoffnung, Staunen, Lust, Mitleid/Enttäuschung, Furcht, Ärger)? (→ 12.2.1d Textnachwirkung) □ Immersion: Vergisst man beim Lesen des Textes Raum und Zeit (Realitätseffekt)? b) Nützlichkeitsaspekt (langfristige Wirkungen) □ Überzeugungsänderungen: Bietet der Text neue (wahre) Erkenntnisse für den Rezipienten, die für sein Leben relevant sind? Vermeidet der Text, falsche oder einseitige Überzeugungen zu vermitteln? □ Einstellungsänderungen: Verschaffen Sie sich noch einmal einen Überblick über die vom Autor angestrebten (und tatsächlich bewirkten) Einstellungsänderungen (erzählintern; erzählextern: Rezipient, andere Menschen, Sachverhalte, Erzähler, Erzählung; Einstellungen zu Merkmalen). Im Blick auf die Persuasionskonfiguration – ist ein Teil der negativen oder positiven Persuasion lobenswert oder problematisch? (Beispiel: Durch die Darstellung der Jüngerinnen in Mt 28 wird eine positive Einstellung zu Frauen gefördert; das ist aus heutiger Sicht gut. In Mt 28,19 wird die Norm etabliert, alle Völker zu Jüngern zu machen; selbst innerkirchlich regt sich dagegen Widerspruch.) □ Verhaltensänderungen: Werden durch den Text Verhaltensweisen gefördert, die allgemein als gut angesehen werden? Werden Verhaltensweisen abgeschwächt, die als schlecht angesehen werden? Kommt der Rezipient auf diese Weise besser mit den Herausforderungen des Lebens zurecht? Zugrunde liegendes Ideal: a) Ein unterhaltender Text (delectare) muss spannend, immersiv, humorvoll oder auf andere Weise emotional sein; er darf keine schädliche Wirkung entfalten. – b) Ein nützlicher Text (prodesse) muss neue (wahre) Erkenntnisse bieten bzw. Einstellungen und Verhaltensweisen stärken oder schwächen, die den Rezipienten „fit“ fürs Leben in seinem Umfeld machen; er darf dabei spannend, humorvoll oder sonstwie emotional sein.

12

Vgl. zur genaueren Analyse R. Müller, Theorie der Pointe, Paderborn 2003: Eine Pointe ist die überraschende Durchbrechung eines kognitiven Schemas.

292

13. Historisches, thematisches und kritisches Interesse

Exkurs: Engagierte Exegesen In den letzten Jahrzehnten haben sich verschiedene „engagierte Exegesen“ im wissenschaftlichen Diskurs etablieren können. Hierzu zählen beispielsweise die „feministische Exegese“ oder die „befreiungstheologische Exegese“ und „postkoloniale Exegese“. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich mithilfe der Bibelauslegung für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, Völkern, Religionen oder sozialen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft und in der globalisierten Welt einsetzen. Obwohl sich viele Vertreter dieser engagierten Exegesen häufig zu einem Methodenpluralismus bekennen, lässt sich der methodische Grundansatz durchaus dem hier behandelten Aspekt der Kritik bzw. Textbeurteilung zuordnen. So wird versucht, erzählerisch vermittelte Klischees aufzudecken und aufzuzeigen, wie durch biblische Texte bestehende Machtstrukturen (z.B. zwischen Männern und Frauen) zementiert oder Rassismus befördert werden. Befreit von ihrer bisherigen Rezeptions- und Auslegungsgeschichte können aber genauso auch die emanzipatorischen Impulse und frei machende Traditionen der biblischen Texte wiederentdeckt werden. Da sich die engagierten Exegesen bei ihrer Analyse und Kritik zumeist nur auf eine einzige semantische Achse der Erzählung (z.B. Mann/Frau, arm/reich, soziale Zugehörigkeit) konzentrieren und eine genaue Methode für eine umfassende Bewertung der Textnachwirkung bislang fehlt, wäre es wichtig, die Forschungsbemühungen methodisch noch stärker zu bündeln und im Sinne einer hier vorgeschlagenen allgemeinen Methode der Textbewertung weiter auszuformulieren. Literatur: L. Schottroff/M.-T. Wacker (Hgg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 32007 (Beispielexegesen zu kanonischen und außerkanonischen Büchern); R.S. Sugirtharaja, The Postcolonial Biblical Reader, Oxford 2006; A. Nehring/S. Wiesgickl, Postkoloniale Interpretationen biblischer Texte, VuF 58/2 (2013), 150–157; E. Hahn, Anmerkungen zur Lektüre der Heiligen Schriften in Brasilien, KuD 36 (1990), 111–155 (primär kritische Auseinandersetzung mit dem befreiungstheologischen Ansatz); G. Theißen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 127–140.

13c.3 Lernportfolio Wiederholungsfragen: 1. Ordnen Sie die Grundwerte des Schönen, Wahren und Guten den drei Kriterienbereichen der Textbewertung zu und skizzieren Sie jeweils in eigenen Worten den Untersuchungsgegenstand. 2. Erklären Sie, warum die Kriterien der Textbewertung kulturell variabel sind. 3. Nennen Sie zwei Beispiele für eine engagierte Exegese und geben Sie an, welche semantische Achse des Textes hierbei besonders im Blick ist.

c) Wie ist der Text zu beurteilen?

293

Überprüfen Sie sich selbst anhand der Lernziele: Sie können jetzt … ■ die drei Kriterienbereiche (Ästhetik, Inhalt, Wirkung) der Textbewertung unterscheiden; ■ die vorgestellten Kriterienkataloge auf einen Textabschnitt anwenden und auf dieser Grundlage eine eigenständige Bewertung verfassen. Sie kennen jetzt … ■ Beispiele für eine engagierte Exegese; ■ Kriterien, mit deren Hilfe sich die Ästhetik, der Inhalt und die Wirkung eines Textes beurteilen lassen. Notieren Sie in einem Lernportfolio, welche Lernfortschritte Sie nach dieser Sitzung zur Textbewertung erkennen und wo sie noch Mängel bemerken.

13c.4 Literatur 13c.4.1 Exegetische Methodenlehren Fohrer/Hoffmann* 161–179 („Theologische Kritik“); ansonsten nur im Rahmen der „engagierten Exegesen“, z.B. bei einer feministischen oder befreiungstheologischen Kritik bzw. Indienstnahme der Texte. Englischsprachig: Hayes/Holladay* 167–177, Klein/Blomberg/Hubbard* 450–457 („Advocacy Groups“), McKenzie/Haynes* 268–306. Vgl. auch das systematisch-theologische Methodenbuch: M. Leiner, Methodischer Leitfaden Systematische Theologie und Religionsphilosophie, UTB 3150, Göttingen 2008, hier 138–144: „Wie kritisiere ich einen Text?“

13c.4.2 Literaturwissenschaftliche Einführungen in die Textbewertung Anz, Th., Theorien und Analysen zur Literaturkritik und zur Wertung, in: Ders./R. Baasner, Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis, München 52008, 194–219. Gelfert, H.-D., Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet, Beck’sche Reihe 1591, München 22006. Heydebrand, R. von/Winko, S., Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, UTB 1953, Paderborn 1996. Kaulen, H./Gansel, Chr. (Hgg.), Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung, Göttingen 2015. Neuhaus, St., Literaturkritik. Eine Einführung, UTB 2482, Göttingen 2006. Winko, S., Textbewertung, in: Th. Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart/Weimar 2007, 233–266. Worthmann, F., Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, Wiesbaden 2004.

14 Praktisches Interesse – Verwendungsmöglichkeiten der Exegese Leitbegriffe analytische/darstellende Methoden, mündliche Darstellungen, schriftliche Darstellungen, (audio)visuelle Darstellungen (Malerei, Musik, Film), interaktive Formen (Bibliodrama, Bibliolog, Bibel-Teilen), Seminararbeit

14.1

Einführung

Wir stehen am Ende eines langen Weges aus vielen einzelnen Methodenschritten des Umgangs mit Texten: Sie haben sich mit der (Handschriften-) Bestimmung, der Entstehung, der Struktur, der Erklärung und der Nachwirkung von Texten beschäftigt; dies sind die philologischen, textorientierten Methodenschritte. Außerdem haben Sie Methoden kennengelernt, mit denen man aus historischem, thematischem oder kritischem Interesse heraus an Texte herangehen kann. Aber all diese Methoden haben eines gemeinsam: Es sind analytische Methoden. Analytische Methoden produzieanalytische und ren einen Berg an „Informationen“ und „füllen“ Ihren Kopf darstellende mit Wissen über den Text. In diesem Kapitel geht es darum, Methoden wie Sie dieses Wissen in einer sinnvollen Weise an andere Menschen weitergeben können, also um die Darstellung. Die Darstellung kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Eine entsprechende Methodenlehre könnte sich mit darstellenden Methoden beschäftigen, wofür man eigentlich einen eigenen Fortsetzungsband bräuchte. Bereits Augustinus (354–430 n.Chr.) unterschied in seiner Hermeneutik zwischen dem modus inveniendi („Methode des Entdeckens“) und dem modus proferendi („Methode des Weitergebens“).1 Die beiden Haupttätigkeiten an einer Universität sind in ähnlicher Weise „Forschung“ und „Lehre“. In diesen doppelten Prozess sind auch Sie als Studierende eingeschlossen. Bei einer Seminararbeit geht es zum Beispiel darum, den Dozenten zu „lehren“, was man „erforscht“ hat. Weil normalerweise diese Seminararbeit am Ende eines Semesters steht, finden Sie in diesem Kapitel Tipps zum Verfassen einer Hausarbeit (14.3).

1

Aug. doctr. christ. I,1,1: „Zwei Dinge sind es, von denen die gesamte Auslegung der Hl. Schrift abhängt: erstens die Methode, wie man diejenigen Dinge entdeckt, die man verstehen muß, und zweitens die Methode, wie man die Dinge, die man verstanden hat, weitergibt. “ (Augustinus, Die christliche Bildung, übers. v. K. Pollmann, Stuttgart 2002, 15). Augustinus selbst widmet der Textanalyse die Bücher 1–3 und fügte drei Jahrzehnte später den ausführlichen vierten Band zum modus proferendi an. Vgl. auch Finnern* 245f.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

295

Allerdings muss sich die Darstellung exegetischer Ergebnisse keineswegs nur auf den universitären Bereich beschränken. Bei der klassischen Seminararbeit handelt sich sogar um eine ver- Seminararbeit als „künstliche“ gleichsweise „künstliche“, praxisferne Darstellungsform. Anwendung Sie soll primär zeigen, dass Sie die erlernten Analyseschritte beherrschen und die Formalia einer wissenschaftlichen Arbeit kennen und umsetzen können. Die Ergebnisse der Textanalyse können aber auch, wie gesagt, in ganz andere Darstellungsformate überführt werden. Dazu gehören „ephemere“ (vergängliche, performative) Kunstformen wie Theater, Tanz und Medienkunst, aber auch ein freier Textvortrag, Formen der erklärenden Neudarstellung (Spezialfall: Predigt) oder die ‚interaktive Bibelauslegung‘ wie beispielsweise ein moderierter Bibliolog. In Kap. 14.2 erhalten Sie einen Überblick über einige solcher Darstellungsmöglichkeiten. Zugleich soll deutlich werden, welche Analyseaspekte für welche Form der Darstellung besonders relevant sein könnten. Im Neuner-Schema, das in Kap. 1 vorgestellt wurde, heißt der letzte Methodenschritt „praktisches Interesse“. Das gezielte Nachdenken über diese DarstellungsMethoden ist eigentlich ureigenster Gegenstand der Praktischen Theologie. Nur mit diesen Methoden wird die mühevolle Kleinarbeit am Text fruchtbar, nur so trifft sie ins „echte“ Leben hinein. Karl Marx schrieb einmal: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“2 Beim praktischen Interesse machen Sie aus Ihrem Text, den Sie analysiert haben (also dem „Prätext“), ebenfalls einen ‚Text‘ im weitesten Sinn (den „Posttext“), mit dem Sie Ihren eigenen Lesern, Hörern oder Zuschauern etwas Wahres, Nützliches und Schönes bieten wollen – vielleicht einfach zur Unterhaltung oder zum Schmunzeln, mit dem Sie aber auch faktisch deren Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen (vgl. Kap. 12). Tatsächlich können manche Interpretationen das Leben von Menschen verändern, ja – die Welt verändern. Auch die neuere Interpretationsethik weist auf die Verantwortung der Interpreten gegenüber den eigenen Lesern, Hörern und Zuschauern hin. Daher müssten auch die verschiedenen Formen und Kontexte der Darstellung der Ergebnisse immer wieder wissenschaftlich durchdacht werden.

14.2

Darstellungsformen

Biblische Texte kommen natürlich nicht nur im universitären Bereich zur Anwendung. Ob bei der Schriftlesung im Gottesdienst, bei der Verwendung von Bibelcomics im Religionsunterricht oder bei der aufwendigen Verfilmung bib-

2 Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845), 11. These. Der Satz begegnet auch als universitäres Motto in der Haupthalle der Berliner Humboldt-Universität. – Daraus könnte man eine fundamentalistisch anmutende ‚Wut‘ ableiten, die keinen Humor und keine Fähigkeit zur Selbstdistanzierung kennt, in kommunistischer, islamistischer, ökonomistischer oder gar christlicher Gestalt. Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, den künstlerischen bzw. Entertainment-Aspekt von (Post-)Texten im Blick zu behalten und nicht alle Neudarstellungen im Sinne des gesellschaftlichen oder missionarischen Nutzens zu ‚verzwecken‘.

296

14. Praktisches Interesse

lischer Erzählungen – in ganz unterschiedlichen Kontexten stoßen wir auf Neudarstellungen. Nun ist jedoch offensichtlich, dass in den meisten praktischen Betätigungsfeldern eine komprimiertere Form der Exegese notwendig wird. Eine Sonntagspredigt kann nicht mit der gleichen Intensität vorbereitet werden wie eine Seminararbeit. Außerdem sind gar nicht alle Analyseergebnisse für jede Darstellungsform relevant. Oft sind es vor allem die Ergebnisse der Texterklärung und Textnachwirkung, die für die Praxis besonders wichtig sind3 – und die hier als eigenständige Methodenpraxisrelevante schritte vorgestellt wurden. Um die richtigen „Zutaten“ für Methoden die verschiedenen Präsentationsformen zu finden, möchten wir Ihnen im Folgenden einen kurzen Überblick geben. Wir beschränken uns dabei auf einige grundlegende Präsentationsmöglichkeiten oder auf solche Darstellungsformen, die im interdisziplinären Diskurs und der Fachdidaktik Aufmerksamkeit erhalten haben.4 Oft liegen diese Darstellungsweisen nicht in Reinform vor, sondern es ergeben sich – nicht zuletzt durch den technischen Wandel – neue, multimediale Darstellungstechniken. Übersicht: Formen der Neudarstellung eines Textes 1. Mündliche Darstellungsformen a) Schauspielerischer Textvortrag/Schriftlesung im Gottesdienst b) Mündliche Nacherzählung (Religionspädagogik, Predigt) 2. Schriftliche Darstellungsformen a) Textkommentar (erklärend, emotional, anwendend) b) Gedicht/Liedtext c) Text in Leichter Sprache/Kinderbibeln d) Kritik/Rezension 3. (Audio)visuelle und akustische Darstellungsformen a) Visuelle Darstellung: Malerei und Skulpturkunst b) Auditive Darstellung: musikalische Untermalung c) Comics und Graphic Novels d) Darstellende Kunst: Theater und Film 4. Interaktive (moderierte) Formen zur Beteiligung a) Bibliodrama und Bibliolog b) Moderiertes Bibelgespräch und Twitterwall

3 Den Nutzen der narratologischen Analyse biblischer Texte im Hinblick auf die Bibeldidaktik betont auch U. Poplutz, Erzählte Welt, Neukirchen-Vluyn 2008, 140–144. 4 Eine umfassende Einführung bieten M. & R. Zimmermann (Hgg.), Handbuch Bibeldidaktik, UTB 3996, Tübingen 2013. Vgl. außerdem die instruktiven Übersichten bei A. Hecht, Kreative Bibelarbeit. Methoden für Gruppen und Unterricht, Stuttgart 2008 (Textarbeit und WortFormen, Visuelle Formen, Formen der Inszenierung, Gesprächsmethoden, Psychologische Bibelinterpretation, Gebetsformen) oder – für die Arbeit mit Kindern – bei Brügge-Lauterjung u.a., Erzählen mit allen Sinnen, hg. im Auftrag des Rheinischen Verbandes für Kindergottesdienst, Leinfelden-Echterdingen 32006.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

297

14.2.1 Mündliche Darstellungsformen a) Schauspielerischer Textvortrag/Schriftlesung im Gottesdienst Bereits für eine (professionelle) Textlesung muss man sich gründlich mit dem Text und seiner erzählten Welt beschäftigt haben. Schauspieler machen es uns vor. Folgende „Zutaten“ aus der Analyse können hier hilfreich sein: Aspekte des Textvortrags

Dafür wichtige Elemente der Analyse

Betonung, Pausen, Tempo

Struktur Textgliederung Handlungselemente/Handlungsintensität

Lautstärke, Melodie, Stimmlage, Stimmfarbe Emotionalität der Erzählung Betonung, Pausen

Erklärung Figurenmerkmale (Motivation, Charakter; Emotionen usw.) Nachwirkung Empathie, Sympathie Spannung Rezeptionsemotionen

Beispiel: Prätext: „Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,17f.) – Posttext: „Und als sie ihn sahen,↑ fielen sie vor ihm nieder;↑ | einige aber ZWeifeltèn.↓ || Und Jesus trat herzu↑ | und sprach zu ihnen:↑ | Mir ist gegeben alle GEwalt im Himmel und auf Erden.↓“ Literatur: M. Rossié, Sprechertraining. Texte präsentieren in Radio, Fernsehen und vor Publikum, München 32004; vgl. B. Becker, Die Bibel – eine gesprochene Symphonie, 2014 (Kostprobe: http://www.youtube.com/watch?v=IaEq50X2SzE [abger. 9.4.2016]); B. Oestreich, Performanzkritik der Paulusbriefe, WUNT 296, Tübingen 2012 (einschlägige Studie zum mündlichen Vortrag der Paulusbriefe).

b) Mündliche Nacherzählung (erklärend, emotional, anwendend) Sehr häufig gibt es in der Praxis auch Formen der mündlichen Nacherzählung von Bibeltexten, zum Beispiel in der Religionspädagogik oder bei einer narrativen Predigt (wobei in der Regel nur einzelne „moves“ innerhalb der Predigt eine Nacherzählung des Textes sind). Die Großgattung der Nacherzählung bzw. Paraphrase kann man weiter unterteilen, je nachdem, ob der Posttext den Schwerpunkt eher bei der Texterklärung (1.), bei der emotionalen Wirkung (2.) oder bei der Applikation (3.) hat. 1. Erklärendes Nacherzählen. Liegt der Schwerpunkt auf der Interpretation eines Textes (z.B. bei einer eher erklärenden Predigt), so benötigt man insbesondere die Ergebnisse aus Kap. 9–11. Ausgehend von der eigenen Intention

298

14. Praktisches Interesse

und dem Wissensstand der Rezipienten ist dann zu bestimmen, welche exegetischen Informationen für sie relevant und interessant sein könnten und in welcher Detailliertheit diese vorgetragen werden sollen. 2. Emotionales Nacherzählen. Bei dieser Form der Nacherzählung geht es vor allem um das Wecken von Emotionen. Wenn dies methodisch reflektiert geschehen soll, sind aus der Textanalyse zum einen die Figurenemotionen (im Bereich Texterklärung/Narratologie) wichtig, außerdem die Analyse der Rezeptionsemotionen, des Realitätseffekts und der Spannung (Textnachwirkung). In der Nacherzählung könnten solche Emotionen dann durch geeignete Mittel verstärkt werden. Im Vergleich zu heutigen Rezeptionserwartungen sind biblische Erzählungen durch eine eher geringe Detailliertheit bei der Raum- und Figurendarstellung gekennzeichnet. Eine emotionale Nacherzählung wird das Erzählte daher anreichern und ausschmücken. 3. Anwendendes Nacherzählen. Hier sind die intendierten Applikationen naturgemäß sehr wichtig. Sie dienen dazu, Bezüge zum Leben der Hörer herzustellen bzw. sie anhand der Autorintention zu überprüfen. Wichtig aus der Exegese sind hier die Figurenmerkmale (im Bereich Texterklärung/Narratologie), die Empathie/Sympathie, die intendierte Applikation und die intendierten Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen (d.h. die Analyse der vom Autor intendierten Textwirkung). Beispiele zum emotionalen und anwendenden Nacherzählen: a. emotionales Nacherzählen: Prätext: „Und sie [die Frauen] gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen.“ (Mt 28,9) – Posttext: „Sprachlos, fassungslos, völlig verwirrt vor Schrecken und Angst, andererseits voll Jubel und Freude, so sind die Frauen gepackt und gebannt“ (F. Rienecker, Das Evangelium des Matthäus, WStB, Wuppertal 41966, 373). b. anwendendes Nacherzählen: Prätext: „… kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.“ (Mt 28,1) – Posttext: „Stehen wir mit Maria von Magdala am leeren Grab, mit unseren verlorenen Träumen, unserer begrabenen Hoffnung, unserer vagabundierenden Sehnsucht nach heilem, befreitem, ganzem Leben. …“ (I. Spieckermann, Ostersonntag – 4.4.1999. Matthäus 28,1–10, GPM 88 (1999), 199–205, hier 201).

Da die mündliche Nacherzählung immer auf eine Aufführung vor einem Publikum ausgerichtet ist, sind über die sprachliche Ausarbeitung eines entsprechenden Textes (elocutio) hinaus weitere Aspekte zu berücksichtigen. In der Rhetorik unterscheidet man seit der Antike insgesamt fünf Schritte auf dem Weg vom „Stoff“ bis zum Textvortrag:

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit) inventio (Findung des Stoffes) dispositio (Gliederung) elocutio (sprachliche Ausarbeitung) memoria (Auswendiglernen) actio (Vortrag)

299

analytische Methoden (Text u. Hörer)

darstellende Methoden

Die actio als eigener „Methodenschritt“ ist nicht zu unterschätzen, denn im Moment des Vortrags sollte sich der Redner eine Reaktionssensibilität bewahren, beispielsweise wenn sich ein Prediger innerlich auf eine wesentlich ältere Zuhörerschaft ausgerichtet hat und seine anwendende Nacherzählung nicht mehr zur Lebenswirklichkeit der jüngeren Generation passt – es ist immer hilfreich, flexibel zu bleiben. Außerdem ist der Körper des Redners ein wichtiges Medium bei der Aufführung. Zwischen dem Inhalt bzw. der Intention der Rede und der Stimme, Mimik, Gestik und Proxemik (räumliche Distanz) muss eine Kohärenz bestehen. Dass nicht allein der Predigtrede, sondern dem gesamten Gottesdienstgeschehen ein ‚Performance‘-Charakter zu eigen ist, hat die Liturgik seit längerem erkannt und herausgearbeitet. Literatur: a) zur Dramaturgischen Homiletik: M. Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen (2002) 22005; b) zum Gottesdienst als ‚Performance‘: D. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007.

14.2.2 Schriftliche Darstellungsformen a) Textkommentar (erklärend, emotional, anwendend) Bibelkommentare haben in der Auslegungsgeschichte unterschiedliche Formen angenommen. Jahrhundertelang war der Übergang zwischen niedergeschriebenen Predigten und eigens verfassten exegetischen Kommentaren fließend. Heute sind Textkommentare – jedenfalls zu biblischen Texten – meistens folgendermaßen gegliedert: Übersetzung mit Textkritik; Anmerkungen zur Struktur, Entstehung, Gattung; fortlaufende Texterklärung; ggf. eine Darstellung theologischer Hauptthemen und der Wirkungsgeschichte. Die meisten Kommentare orientieren sich an akademischen Erfordernissen, d.h. sie nehmen ausführlich Bezug auf forschungsgeschichtlich relevante Fragen und Diskussionen. Daneben gibt es einige Kommentare, die dezidiert für die Gemeindepraxis gedacht sind (z.B. das Neue Testament Deutsch), von denen manche wenig mit der wissenschaftlichen Forschung verknüpft sind (Wuppertaler Studienbibel, Edition C-Bibelkommentar). Und es gibt Kommentare, die dem schulischen Religionsunterricht dienen.5

5 Speziell die im Religionsunterricht häufig behandelten Textpassagen will der „OnlineBibelkommentar“ (OBK, hg. v. P.-G. Klumbies und I. Müllner) abdecken, der im Internet frei verfügbar ist: https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkommentar/.

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14. Praktisches Interesse

Aus unserer Sicht ist die Praxis des Kommentierens reformbedürftig, gerade im digitalen Zeitalter. Angesichts der vielfältigen Verwendbarkeit der textanalytischen Ergebnisse erscheint es hochgradig unökonomisch, wenn jeder für jeden Anlass die Exegese/Textauslegung erneut durchführen muss oder aus dem Textkommentar eines anderen die für ihn relevanten Informationen herausfiltern muss. Besser wäre es, die Ergebnisse der Analyse strukturiert in frei zugänglichen Datenbanken niederzulegen und dem Nutzer eine adäquate Suchmaske zur Verfügung zu stellen, die ein rasches Finden der richtigen Daten ermöglicht. In eine solche Datenbank ließen sich dann auch detaillierte Analyseergebnisse z.B. zur Textstruktur, zur Narratologie oder zur Textnachwirkung integrieren, die jenseits der klassischen exegetischen Forschungsprobleme liegen und für die im „statischen“ Buchkommentar auch kaum Platz wäre. Wenn man beispielsweise eine emotionale Nacherzählung zu einem Text schreiben möchte, lässt man sich speziell die hierfür relevanten Datensätze (etwa zu Figurenemotionen, Rezeptionsemotionen) anzeigen.6 Eine solche Kommentar-Datenbank wäre für alle Philologien praktisch, nicht nur für die Exegese des Alten und Neuen Testaments. Literatur zur Theorie und Praxis des Kommentars: J. Assmann/B. Gladigow (Hgg.), Text und Kommentar, München 1995; K. Bracht, Hippolyts Schrift „In Danielem“. Kommunikative Strategien eines frühchristlichen Kommentars, STAC 85, Tübingen 2014 (vorbildliche Studie über einen frühen Kommentar); G.W. Most (Hg.), Commentaries – Kommentare, Göttingen 1999; R. Häfner/N. Oellers, Artt. Kommentar1/2, in: RLW* II (2000), 298–303; F. Neumann, Kommentartraditionen und Kommentaranalysen, in: G. Regn (Hg.), Questo leggiadrissimo poeta!, Münster 2004, 25–77; St.E. Porter (Hg.), On the Writing of New Testament Commentaries. FS G.R. Osborne, Leiden 2013 (hilfreich); Th. Wabel/M. Weichenhan (Hgg.), Kommentare, Frankfurt a.M. 2011; W. Wischmeyer/A. Samely u.a., Art. Kommentar, in: LBH*, 330–335; vgl. Finnern* 255–265.

b) Gedicht/Liedtext Es kommt nicht selten vor, dass Prosatexte als Gedicht umgeschrieben werden, oft mit einem leichten Augenzwinkern und neuen Applikationsmöglichkeiten für die eigene Leser- bzw. Zuhörerschaft. Verbunden mit einer Vertonung (s.u.) ergibt sich ein biblisches Erzähllied (z.B. EG 311: Abraham, Abraham, verlass dein Land und deinen Stamm). Literatur: K.-P. Hertzsch, Der ganze Fisch war voll Gesang. Biblische Balladen zum Vorlesen, Stuttgart 131994.

6 Dass sich ein heutiger Prediger oder Schriftsteller nicht nur an die explizit erwähnten und implizit zu erschließenden Eigenschaften einer Figur halten muss, sondern durchaus neue Figurenmerkmale „hinzudichten“ kann und sollte (z.B. um neue Applikationsmöglichkeiten zu schaffen), steht nicht im Widerspruch hierzu. Eine wissenschaftlich verantwortete Texterklärung kann auch für diesen kreativen Prozess hilfreich sein.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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c) Text in Leichter Sprache/Kinderbibeln Für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit Demenz und für solche, die nicht gut Deutsch können, werden seit einigen Jahren bewusst Texte in „Leichter Sprache“ verfasst. Zum Beispiel ist das Katholische Bibelwerk bemüht, die Evangelienlesungen in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen. Um einen Text in Leichte Sprache umzuformen, sind besonders die Analyseergebnisse zur Gliederung und Grammatik (Textstruktur), aber auch die Ergebnisse der Texterklärung wichtig. Ähnliches gilt für das wissenschaftlich reflektierte Verfassen des Textes von Kinderbibeln, wobei auch eine narratologische Analyse des Bibeltextes einfließen wird. Seit einiger Zeit werden Kinderbibeln selbst wissenschaftlich untersucht, besonders auch Aspekte der Texterklärung und Textwirkung, da sie als wichtige „Posttexte“ interpretationsethisch relevant sind. Literatur: Th. Schlag/R. Schelander (Hgg.), Moral und Ethik in Kinderbibeln. Kinderbibelforschung in historischer und religionspädagogischer Perspektive, Arbeiten zur Religionspädagogik 46, Göttingen 2011.

d) Kritik/Rezension Zum Schreiben einer Rezension bzw. einer Kritik ist natürlich der analytische Schritt „kritische Methoden“ wichtig. Aber es braucht auch weitere Analyseschritte aus dem Methodenkanon, etwa um den Text zusammenzufassen (Textstruktur II: Gliederung, Handlungsanalyse, thematisches Interesse) und um die Bedeutung sowie Nachwirkung des Textes adäquat beurteilen zu können. Literatur: St. Porombka, Kritiken schreiben. Ein Trainingsbuch, UTB 2776, Konstanz 2006. Vgl. auch die Literatur zu Kapitel 13c.

14.2.3 (Audio)visuelle und akustische Darstellungsformen Über das rein Gesprochene und Geschriebene hinaus gibt es visuelle und akustische Darstellungsmöglichkeiten sowie Präsentationsformen, bei denen es zu einer Verschränkung verschiedener Medien kommt. Im Folgenden stellen wir Ihnen einige (audio)visuelle und akustische Darstellungsformen vor, wobei wir uns von den weniger komplexen Medien zum multimedialen Film vorarbeiten. a) Visuelle Darstellung: Malerei und Skulpturkunst Der Maler oder die Bildhauerin stehen bei ihrer Arbeit zunächst vor der Herausforderung der Auswahl. Aus dem biblischen Erzählstoff muss ein einzelnes Motiv herausgegriffen werden. Hierbei kann es sich um ein wichtiges Ereignis handeln, das die Botschaft einer Erzählung im Kern widerspiegelt (z.B. Rembrandts „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“) oder auch um ein

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14. Praktisches Interesse

Ereignis, das neue Applikationsmöglichkeiten eröffnet. So rückte in der niederländischen Malerei des 17. Jhdts. das Motiv der Hurerei des jüngeren Sohnes in den Fokus, weil die Erzählung so moralisierend (um)gedeutet werden konnte und sich – dem Lebensgefühl der damaligen Zeit entsprechend – die Vergänglichkeit der Leibeslüste thematisieren ließ. Die „Phantasiearbeit“ des Künstlers kann aber nicht nur durch eine Auseinandersetzung mit der Handlungsdarstellung angeregt werden, sondern auch durch die Beschäftigung mit der Figuren- und Raumdarstellung sowie der Erzählperspektive. Außerdem können auch die intendierte Empathie und Sympathie sowie die intendierten Applikationen und Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen aus der Exegese bei der visuellen Umsetzung relevant werden. Im Religionsunterricht können solche Gemälde eingesetzt werden, um sich einem biblischen Erzähltext von einer ganz bestimmten (künstlerischen) Deutung her anzunähern und dabei zugleich die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Im Sinne einer moderierten Bildbetrachtung kann die Lehrerin erzählwissenschaftliche Kategorien einsetzen, um das Augenmerk auf unterrichtsrelevante Aspekte zu richten: Wie fühlt sich der verlorene Sohn in den Armen des Vaters (Gefühl)? Wie ist der Vater bekleidet (Äußeres)? Welche Details erkennt man im Hintergrund (Raumdarstellung)? Andererseits können die Schülerinnen und Schüler ihrerseits zur Kunstproduktion angeregt werden (Bild malen, Pantomime), wodurch eine intensive Beschäftigung mit (ausgewählten) Erzähldetails angeregt werden kann. Interessant ist hierbei u.a., welche eigenständige „Phantasiearbeit“ bei diesem Transfer von den Schülern geleistet wird. Literatur: G. Büttner, Bibel und Kunst, in: M. & R. Zimmermann (Hgg.), Handbuch Bibeldidaktik, UTB 3996, Tübingen 2013, 554–559.

b) Auditive Darstellung: Musikalische Untermalung/Vertonung Musik vermittelt an sich primär emotionale Inhalte. Vor diesem Hintergrund legt es sich nahe, bei der musikalischen Untermalung biblischer Texte auf die Analyse der Rezeptionsemotionen, Figurenemotionen sowie die Spannung im Textverlauf zurückzugreifen und diese durch entsprechende Techniken zu unterstreichen. Die Musik kann auch zu einer intensiven Beschäftigung mit Schauplätzen und deren jeweiliger Gestimmtheit anregen. Beispiel: Musikalische Untermalung von Mt 28,2 Prätext: „Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf.“ (Mt 28,2) – Posttext: Erdbeben – dramatische Musik (Schlagzeug); Engel des Herrn – Harfen zu Schlagzeug; Wegwälzen des Steines – Streicher, dissonant.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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Erhält der Rezipient keine Innensicht in eine Figur und erscheint diese deshalb als mysteriös (vgl. Figurenkonzeption), so kann dies mitunter auch durch eine fehlende Geräuschkulisse bzw. Pause unterstrichen werden. Im Zusammenhang mit Bildern und Texten zeigt sich zugleich, dass die Musik bzw. einzelne Musikzeichen einem „Semantisierungsprozeß“ (N.J. Schneider) unterliegen. Ein musikalisches Motiv wird mit (sprachlich artikulierbarer) Bedeutung aufgeladen und kann dem Rezipienten helfen, den weiteren Handlungsverlauf zu antizipieren. Literatur: C. Bullerjahn, Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Forum Musikpädagogik 43, Augsburg 22014; B. Flückiger, Sound Design, Marburg 52012; J. Kloppenburg (Hg.), Das Handbuch der Filmmusik, Laaber 2012; N.J. Schneider, Handbuch Filmmusik I. Musikdramaturgie im neuen deutschen Film, München 1990.

c) Comics und Graphic Novels Die postklassische Erzählwissenschaft hat sich von einer bislang primär auf Texte (im eigentlichen Sinne) fokussierten Erzähltheorie zu einer intermedialen Narratologie weiterentwickelt. Infolgedessen lässt sich seit Mitte der 1990iger Jahre ein steigendes wissenschaftliches Interesse an Comics bzw. Graphic Novels7 erkennen.8 Es handelt sich hierbei um ein Medium, das seiner äußeren Gestalt nach mit der Malerei verwandt ist, sich mit seiner sequentiellen Erzählweise aber v.a. dem filmischen Erzählen annähert. Im Unterschied zu den bewegten Bildern des Films besteht jedoch beim Comiclesen die Herausforderung darin, einzelne Bilder aufgrund ihrer räumlichen (statt zeitlichen) Anordnung in einen logischen Verstehenszusammenhang zu setzen. Für die Produktion bedeutet dies, dass der Auswahl wichtiger Ereignisse (der Handlungskerne, vgl. Kap. 11c) eine hohe Relevanz zukommt. Da im Comic wesentlich weniger Schriftsprache Platz findet als in traditionellen Worterzählungen, sind die vom Erzähler vermittelte Inhalte einerseits in dichte Bilder und andererseits in Sprech- und Gedankenblasen umzuwandeln. Bei der grafischen Umsetzung ist – ähnlich wie bei der Malerei – eine eingehende Beschäftigung mit den räumlichen und zeitlichen Relationen sowie zahlreichen Figurenmerkmalen (Wahrnehmung, Gefühle, Äußeres, Verhalten, Motiva-

7 Der Begriff „Graphic Novel“ wurde erstmals von Will Eisner verwendet (W. Eisner, A Contract with God. A Graphic Novel, New York/London 1978). Der Ausdruck sollte primär den literarischen Anspruch des Werkes verdeutlichen. Eine dadurch indirekt angedeutete Differenz zwischen literarisch anspruchsvollen Graphic Novels und eher populären Comics lässt sich aber kaum aufrechterhalten. Literaturgeschichtlich besteht der Unterschied darin, dass Comics vormals v.a. seriell erzeugte Kunstprodukte waren. 8 Diese neuen Entwicklungen übersieht G. Buschmann, wenn er dem Comic nur eine kurze Notiz widmet und diesen inhaltlich auf einen mythischen Erzählinhalt reduziert (vgl. G. Buschmann, Bibel und Popkultur, in: M. & R. Zimmermann [Hgg.], Handbuch Bibeldidaktik, UTB 3996, Tübingen 2013, 575). Comics sind mehr als Batman und Spiderman!

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14. Praktisches Interesse

tion) und der perspektivischen Vermittlung wichtig. In Analogie zur Theaterinszenierung können Gefühle und andere Eigenschaften durch die dargestellte Gestik und Mimik einer Figur zum Ausdruck gebracht werden. Ein vergrößerter Bildausschnitt („Zoom“) kann diese dann besonders zur Geltung bringen. Während das textgebundene Erzählen immer an eine zeitliche Linearität gebunden bleibt, kann im Comic eine Simultanität der Ereignisse geschaffen werden. Literatur: J. Abel/Chr. Klein (Hgg.), Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart 2016; S. McCloud, Understanding Comics. The Invisible Art, New York 1994 (Comic-Lehrbuch in Comicformat); H.A. Hatton, Translating Scripture in the Comic Medium, The Bible Translator 4 (1985), 430–437 (exemplarische Analyse älterer englischsprachiger Bibel-Comics aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive).

d) Darstellende Kunst (Theater und Film) Bei audiovisuellen Formen wie dem Film und Theater besteht eine besondere Notwendigkeit darin, dass nach Möglichkeit alle impliziten Informationen eines Textes sichtbar gemacht werden, jedenfalls dann, wenn eine textgetreue bzw. textnahe/bibelnahe Darstellung angestrebt wird. An dieser Stelle können sämtliche Möglichkeiten der narratologischen Texterklärung zur Anwendung kommen. Da der Detailgrad beim Film besonders groß ist und die Genauigkeit der Raumdarstellung oder Charakterisierung in biblischen Erzähltexten demgegenüber vergleichsweise gering ist, müssen die einzelnen Schauplätze und das Figurenäußere zugleich mit Hilfe der historischen „Phantasiearbeit“ (vgl. Kap. 10) ergänzt werden. Bei aufwendigen Produktionen wirken darum Historiker und Archäologen beratend mit. Wir sind uns natürlich bewusst, dass die wenigsten von Ihnen eine Karriere im Filmbusiness anstreben werden. Aber auch beim Filmeinsatz im Religionsunterricht können die Methoden der Narratologie, die Sie in diesem Buch kennengelernt haben, eine wichtige Hilfe sein: Führt die Länge und Informationsfülle eines Films schnell dazu, dass sich das spätere Unterrichtsgeschehen kaum mehr präzise strukturieren lässt, kann ein Filmprotokoll helfen, die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf wichtige Aspekte zu lenken, z.B. auf einzelne Figurenmerkmale, Figurenkonstellationen oder Konfliktverläufe. Literatur: M. Meier/S. Slanička (Hgg.), Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln u.a. 2007; J. Solomon, The Ancient World in the Cinema, New Haven u.a. 2001; Chr. Feichtinger, Filmeinsatz im Religionsunterricht, Göttingen 2014, bes. 46–51.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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14.2.4 Interaktive moderierte Formen zur Beteiligung a) Bibliodrama und Bibliolog Beim Bibliodrama werden die Teilnehmer mit Hilfe kreativer, religionspädagogischer und psychologischer Methoden dazu angeregt, ihre eigenen lebensweltlichen Erfahrungen mit den Erfahrungen einer biblischen Geschichte zu korrelieren. Dies geschieht unter Anleitung eines Moderators, der zu einer gruppendynamischen Textdeutung anregt, ohne selbst interpretatorisch einzugreifen. Eine solche Moderation setzt nichtsdestotrotz eine eingehende narratologische Beschäftigung mit dem jeweiligen biblischen Text voraus. Bereits bei der Rollenwahl kann der Moderator durch eine Kenntnis des Figurenensembles auf implizite Figuren aufmerksam machen (z.B. transzendente Wesen), die den Teilnehmern zunächst nicht bewusst sind. Zugleich kann eine Kenntnis zahlreicher Figurenmerkmale helfen, einseitige Fixierungen während der Inszenierung zu erkennen und durch gezielte Fragen neue Sinnpotenziale freizulegen. Eine vorherige Auseinandersetzung mit dem Handlungsverlauf und v.a. die plot map können Anregungen dafür bieten, an welcher Stelle das Theaterspiel angehalten wird – etwa, weil an diesem Punkt verschieden Handlungsverläufe gleich wahrscheinlich sind und Anregung für das nachfolgende Gespräch bieten oder weil ein Konflikt zu diesem Zeitpunkt des Erzählverlaufs besonders deutlich hervortritt. Auch der Bibliolog soll eine Begegnung zwischen Text- und Lebenswelt ermöglichen und die Lebensrelevanz biblischer Texte erfahrbar werden lassen. Die narrative Hinführung setzt eine Kenntnis des historischen und literarischen Kontexts voraus (vgl. Texterklärung). Für das enroling, bei dem die Teilnehmer dazu eingeladen werden, sich mit einer Figur zu identifizieren, ist es wichtig, sich vorab narratologisch mit den Figuren und der Textwirkung auseinandergesetzt zu haben. Indem die Leitung die Äußerungen der Gruppe, Gemeinde oder Schulklasse aufnimmt und zugleich die emotionalen Gehalte betont, erhält die Erzählung in der Interaktion eine bewusst neue Zuspitzung. Literatur: M.E. Aigner, Bibliodrama und Bibliolog als pastorale Lernorte, PTHe 138, Stuttgart 2015; J. Lehnen, Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht, PTHe 80, Stuttgart 2006; U. Pohl-Patalong, Bibliolog. Gemeinsam die Bibel entdecken – im Gottesdienst – in der Gemeinde – in der Schule, Stuttgart 22007; Th. Stühlmeyer, Veränderungen des Textverständnisses durch Bibliodrama, Eine empirische Studie zu Mk 4,35–41, Paderborn 2004.

b) Moderiertes Bibelgespräch und Twitterwall Schon Origenes empfahl, die Heiligen Schriften mit Ausdauer zu lesen und während der Lektüre zu beten, um den rechten Sinn hinter den Buchstaben zu finden. Im 12. Jhdt. formulierte der Mönch Guigo der Kartäuser dann eine vierschrittige Methode der lectio divina, indem er zwischen Lesen (lectio), Me-

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14. Praktisches Interesse

ditieren (meditatio), Beten (oratio) und dem stillen Verweilen (contemplatio) unterschied – manchmal wird das Handeln als fünfter Schritt ergänzt. Angestoßen durch das Zweite Vatikanische Konzil, das diese klösterliche BibelleseMethode als spirituelle Leseform für alle Glaubenden öffnete, etablierten sich in den katholischen Gemeinden Afrikas, Asiens und Lateinamerikas interaktive Bibellese-Methoden, die unter dem Schlagwort des „Gospel sharing“ bzw. Bibel-Teilen bekannt wurden. Das Bibel-Teilen besteht aus sieben Schritten gemeinschaftlicher Bibellektüre. Anknüpfungspunkte an die wissenschaftlichen Exegese ergeben sich insbesondere beim Schritt der Textbegegnung: Wenn im Lectio-Divina-Projekt des Katholischen Bibelwerks eine Auseinandersetzung mit den Akteuren, Bildern oder Bewegungen des Textes angeregt wird, so legt es sich nahe, dass verschiedene Aspekte einer narratologischen Analyse der intensiven Begegnung mit dem Wort der Heiligen Schrift dienen können. Die gemeinsame geistliche Lektüre eines Bibelabschnitts muss nicht an einen bestimmten Ort oder Zeitraum gebunden sein. Im Internet lassen sich bereits Angebote dafür finden: Eine Idee ist die sogenannte Twitterwall, bei der die User des Mikroblogging-Dienstes Twitter ihre Gedanken zu einem Bibeltext unter einem vereinbarten Hashtag mitteilen. Die Sammlung dieser Tweets auf einem Monitor ermöglicht einen Dialog zwischen ortsanwesenden Diskutanten und online zugeschalteten Nutzern. Literatur: Guigo der Kartäuser, Scala Claustralium – Die Leiter der Mönche zu Gott. Eine Hinführung zur Lectio divina, übs. u. eingel. v. D. Tibi, Nordhausen 22009; Chr. Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, SBB 61, Stuttgart 2008; S.A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft, Berlin u.a. 2009; K. Vellguth, Eine neue Art, Kirche zu sein. Entstehung und Verbreitung der Kleinen Christlichen Gemeinschaften und des Bibel-Teilens in Afrika und Asien, Freiburg 2005 (zur Methode des Bibel-Teilens); Lectio-Divina-Projekt: https://www.bibelwerk.de/Lectio+Divina.89122.html (abger. 9.4.2016).

14.3

Die Seminararbeit

Obwohl sich die Studienordnungen in Deutschland teils stark voneinander unterscheiden, steht ja am Ende eines Methodenseminars zumeist eine exegetische Hausarbeit. Zur Zeiteinteilung, zur Verwendung eines Textverarbeitungsprogramms und zur Formatierung gibt es auch sehr hilfreiche Tipps in einer eigenen „Buchgattung“ über das wissenschaftliche Schreiben. Schauen Sie doch einmal in eines der folgenden Bücher: Literatur zum wissenschaftlichen Schreiben: H. Esselborn-Krumbiegel, Von der Idee zum Text. Eine Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben, UTB 2334, Paderborn 42014; M. Karmasin/R. Ribing, Die Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten, UTB 2774, Wien 82014; M. Kornmeier, Wissenschaftlich schreiben leicht gemacht. Für Bachelor, Master und Dissertation, UTB 3154, Bern 72016; O. Kruse, Lesen und Schreiben.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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Der richtige Umgang mit Texten im Studium, UTB 3355, Konstanz u.a. 22015; Ph. Mayer, 300 Tipps fürs wissenschaftliche Schreiben, UTB 4311, Paderborn 2015; B. Moennighoff/ E. Meyer-Krentler, Arbeitstechniken Literaturwissenschaft, UTB 1582, Paderborn 172015; J. Niederhauser, Die schriftliche Arbeit kompakt, Duden-Ratgeber, Berlin 22015.

14.3.1 Die Form der Seminararbeit Machen Sie sich zunächst (also als erstes!) mit den formalen Vorgaben Ihrer Fakultät bzw. Ihres Dozenten vertraut. Formatieren Sie Ihr Dokument, noch bevor sie etwas geschrieben haben, nach diesen formalen Vorgaben. Das hilft, den Seitenumfang von Anfang an richtig einzuschätzen. Beim nachträglichen Formatieren haben schon viele Studierende eine böse Überraschung erlebt, wenn die Arbeit auf einmal nicht mehr 25, sondern 35 Seiten umfasste. Außerdem hilft es sehr, in die Arbeit hineinzukommen, wenn man schon gleich zu Anfang das Inhaltsverzeichnis anlegt (als Muster-Gliederung), die dazugehörigen Überschriften hineinschreibt und wenn man die ersten Literaturangaben, die wahrscheinlich auch in der Endfassung der Arbeit wichtig sind, bereits mit der richtigen Zitationsweise am Ende des Dokuments in einer Bibliografie erfasst. Achtung: Bitte speichern Sie Zwischenfassungen Ihrer Arbeit regelmäßig auf einem externen Datenträger. Manche Studierende können davon erzählen, dass ihr Computer kurz vor Abgabe eines wichtigen Textes kaputt ging. Vielleicht speichern Sie die Zwischenfassungen auf dem USB-Stick oder auf einer externen Festplatte, aber noch besser in der Cloud. Man kann sie auch anderen oder sich selbst als Email schicken – und die Mail im Postfach behalten.

14.3.2 Der Inhalt der Seminararbeit Jeder Arbeit steht das Inhaltsverzeichnis voran, d.h. eine Gliederung mit Seitenangaben. Bei der Gliederung kann man sich an den fünf vorgestellten Untersuchungsaspekten (B-E-S-E-N) orientieren, denen dann wiederum die jeweiligen Teil-Methodenschritte zugeordnet werden. Am übersichtlichsten ist eine rein numerische Gliederung der Kapitel und Unterkapitel (1.; 1.2; 1.3.1 usw.). Zusätzlich zu den eigentlichen Analyseaspekten schreibt man eine kurze Einleitung und ein Schlussfazit. Außerdem enthält die Arbeit eine Übersetzung der Perikope für den wissenschaftlichen Kontext sowie ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis.9 Im Regelfall sollte die Texterklärung den größeren Teil des Textumfangs

9 Dieser Vorschlag entfaltet sich entlang der – ausführlich dargestellten – philologischen, textorientierten Methoden. Eine Seminararbeit, die mit einem historischen, thematischen oder kritischen Interesse (Kap. 13) an den Text herangeht, wäre anders aufgebaut, weil sie ein anderes Endziel verfolgt. Denkbar ist aber ein mehrseitiger Exkurs im Anschluss an die Arbeit, wenn entsprechendes Interesse besteht.

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14. Praktisches Interesse

in Anspruch nehmen (ca. 25% der Arbeit). Sollte sich ein einzelner Methodenschritt (z.B. Gattungsanalyse) oder ein Untersuchungsaspekt (z.B. Textbestimmung) im Hinblick auf die zu untersuchende Perikope als unergiebig erweisen, lässt man diesen weg und vertieft demgegenüber andere Aspekte. Die richtige Auswahl der Methoden ist eine wichtige Methodenkompetenz! 1. Einleitung Eine wirklich „vollständige“ Exegese einer Perikope ist in Seminararbeiten angesichts der Seitenvorgaben gar nicht möglich. Daher ist es gut, wenn Sie sich neben dem allgemeinen Durchgang durch die exegetischen Methodenschritte einen besonderen Forschungsschwerpunkt vornehmen, den Sie mit der Dozentin/dem Dozenten am besten kurz absprechen. Ziel der Einleitung ist es dann, a) das spezifische Forschungsinteresse am Text und b) die methodischen Schwerpunktsetzungen knapp und prägnant darzustellen. Je klarer der Fokus Ihrer Arbeit ist, desto leichter fällt es im Zuge der einzelnen Analyseschritte, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Ein häufiger Fehler besteht darin, die Arbeit mit Ergebnissen und Informationen zu überfrachten, die bestenfalls am Rande zum Thema passen. Bleiben Sie stringent und achten Sie darauf, dass der berühmte ‚rote Faden‘ in ihrer Arbeit erkennbar ist. Achten Sie darauf, dass Forschungsinteresse und Methodik zueinander passen. Stellen Sie sich die Frage: Mit welchen Methoden gelange ich zu Informationen, die für mein Thema relevant sind? Wenn Sie beispielsweise den „zweifelnden Thomas“ in Joh 20,24–29 untersuchen, liegt es nahe, den Schwerpunkt auf die Figurenanalyse zu legen. Aufgabe: Schlagen Sie Mk 4,35–41 auf. Notieren Sie sich zu dieser Perikope vier mögliche Forschungsthemen. Überlegen Sie im Anschluss, welche methodischen Schwerpunktsetzungen sich für den jeweiligen Forschungsfokus nahelegen. Tauschen Sie sich im Anschluss mit einer/m Mitstudierenden aus.

Muss die Arbeit innovativ sein? Manche Dozenten und Dozentinnen erwarten, dass eine Seminararbeit ein innovatives Potenzial aufweist. Dann wird verlangt, dass nicht nur der aktuelle Forschungsstand zum Thema wahrgenommen und wiedergegeben wird, sondern dass Sie zugleich Auskunft darüber geben können, welche offenen Forschungsfragen Sie im bisherigen wissenschaftlichen Diskurs erkennen und welchen neuen Beitrag Ihre Arbeit in inhaltlicher und methodischer Hinsicht leisten soll. Wir meinen, dass dies erst die Leistungsanforderung an eine Dissertation sein sollte. Gleichzeitig kann es natürlich die eigene Motivation fördern, wenn man sich mit seiner Arbeit auf wissenschaftliches Neuland hinauswagt. Klären Sie mit Ihrem Dozenten bzw. Ihrer Dozentin den jeweiligen Erwartungshorizont ab.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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2. Textbestimmung (vgl. Kapitel 2–3) In diesem ersten Analyseschritt wird entsprechend der Methode der Textkritik die Textgrundlage der weiteren Arbeit gelegt. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, ist eine Textvariante, die für das Verständnis des Textes bedeutsam ist oder die für die Themenwahl relevant erscheint, nach „äußeren“ und „inneren Kriterien“ zu analysieren. Am Ende mündet die Analyse in ein kurzes Fazit, wobei man sich für oder gegen die Lesart des NTG28 entscheidet. Für die ausführliche Diskussion mehr als einer Textvariante wird der Platz kaum reichen. Allerdings sollten Sie die weiteren Textvarianten durchaus begutachten und eine Auskunft darüber geben, an welchen Stellen Sie mit dem NTG28 lesen oder sich für andere Lesarten entscheiden. 3. Textentstehung (vgl. Kapitel 4–6) 3.1 Entstehungskontext (vgl. Kapitel 4) Ausgehend von den eigenen Textbeobachtungen wird der rekonstruierte Entstehungskontext (Autor, Adressaten, Situation) skizziert. Sie sollten zwar auf die Literatur zu den „Einleitungsfragen“ zurückgreifen, aber eine reine Wiedergabe gängiger Forschungsmeinungen ist zu wenig. Ziel dieses Abschnitts ist es, die für Ihren Text relevanten Aspekte des Entstehungskontextes zu beleuchten. Achten Sie darauf, dass der Entstehungskontext auch bei der Texterklärung zu berücksichtigen ist. Wenn Sie das Markusevangelium zuvor in Rom verortet haben, wäre es unplausibel, dem Autor später bei der Raumanalyse detaillierte Kenntnisse der galiläischen Geografie zuzuschreiben. 3.2 Analyse der Vorgeschichte (vgl. Kapitel 5) Der Text wird auf ‚Brüche‘ hin untersucht, wobei es zumeist reicht, sich auf einzelne bedeutsame Inkohärenzen und Inkohäsionen zu konzentrieren. Die Inkohärenzen und Inkohäsionen kann man textanalytisch feststellen; alle Rekonstruktionen, die auf diesen Beobachtungen aufbauen, sollten dann als Hypothesen und dementsprechend vorsichtig betrachtet werden. Soweit es machbar und sinnvoll erscheint, können mündliche oder schriftliche Vorstufen des Textes voneinander geschieden und rekonstruiert werden. Die eigene Analyse soll auf den bisherigen Forschungsdiskurs Bezug nehmen. Bitte versuchen Sie auch, die ungefähre Wahrscheinlichkeit der von Ihnen gewählten Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte abzuschätzen. Handelt es sich um einen Text aus dem MtEv oder LkEv und gibt es zu diesem Text synoptische Parallelen, ist hier in jedem Fall der synoptische Vergleich durchzuführen. 3.3 Redaktionsanalyse (vgl. Kapitel 6) Auf der Grundlage der vorherigen Analyseergebnisse (3.2) werden in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur die redaktionellen Bearbeitungen und die dahinterliegenden Motivationen bzw. Ursachen erklärt. Wie hat der Autor das vorliegende Material bearbeitet (→ Liste möglicher redaktioneller Eingriffe)

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14. Praktisches Interesse

und welche Gründe gibt es hierfür? Eventuell ergeben sich dadurch auch Modifikationen beim Entstehungsmodell des Textes; in diesem Fall gehen Sie nochmals zurück zu Abschnitt 3.2 Ihrer Arbeit. – Die Analyse der Motive für die Textbearbeitung kann eine Vorbereitung für die Texterklärung und Textnachwirkung sein, sollte aber nicht mit diesen Schritten gleichgesetzt werden. 4. Textstruktur (vgl. Kapitel 7–8) 4.1 Form- und Gattungsanalyse (vgl. Kapitel 7) Der Text wird auf Grundlage der beschriebenen Formparameter und eines Textvergleichs mit ähnlichen Formen einer Gattung bzw. mehreren Gattungen zugeordnet. Oder es ist zu begründen, warum sich der Text einer klaren Gattungszuordnung entzieht und dass der Rezipient bei der Lektüre vielleicht einfach auf den allgemeinen Gattungsframe „Erzählung“ zurückgreift. Die beschriebenen Parameter können helfen, auch ältere Gattungszuordnungen kritisch zu reflektierten. Wenn man sowohl die ältere (Bultmann, Dibelius) als auch die neuere Formgeschichte (Berger, Kommentare) in die Diskussion einbezieht, so ist auf den Paradigmenwechsel im Verständnis von ‚Formgeschichte‘ zu achten. 4.2 Strukturelle und stilistische Analyse (vgl. Kapitel 8) Bei der Analyse der Textstruktur erscheint es verlockend, dass alle grammatikalischen und syntaktischen Beobachtungen oder stilistischen und rhetorischen Mittel aufgelistet werden. Das könnte man vielleicht bei einem Internetkommentar machen, aber kaum innerhalb der Seitenbegrenzung einer Seminararbeit. Hier ist es wichtig, sich auf Wesentliches zu konzentrieren: Zunächst wird der Textabschnitt gegliedert und – bei einem argumentativen Text – beschrieben, wie die Thesen und Argumente aufeinander bezogen sind. Danach erfolgt die Kontextanalyse, bei der der Textabschnitt im Verhältnis zum literarischen Kontext beschrieben wird. Anschließend können einzelne (!) grammatische und syntaktische Besonderheiten sowie stilistische und rhetorische Auffälligkeiten festgehalten werden – insbesondere dann, wenn diese für die spätere Erklärung von Bedeutung sind. Insgesamt soll es darum gehen, das besondere Gepräge des Text herauszuarbeiten. 5. Texterklärung (vgl. Kapitel 9–11) Die Texterklärung schreitet den zu untersuchenden Text Vers für Vers ab. Auch wenn es bei der Untersuchung wichtig ist, potenzielle Analysefragen zu formulieren und aus diesen – gemäß dem eigenen thematischen Interesse – einen Auswahl zu treffen, sollte der Kommentar nicht dem Grundmuster des Heidelberger Katechismus entsprechen (Frage – Antwort, Frage – Antwort usw.). Ein fortlaufender Text ist besser lesbar. Versuchen Sie, den Leser Ihrer Arbeit so durch den Text zu führen, dass ihm die wichtigsten Aspekte zu Ihrem Thema bewusst werden. Je nach Themenwahl und methodischer Schwer-

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

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punktsetzung kann es interessant und wichtig sein, längere Exkurse in die fortlaufende Erklärung einzufügen, z.B. eine ausführliche Handlungs- oder Perspektivenanalyse. Dasselbe gilt für ein exegetisches Interpretationsproblem, das ausführlicher abgewogen werden soll. Die einzelnen Absätze sollen in sich logisch aufgebaut sein. Versuchen Sie, große Gedankensprünge zu vermeiden. Der Bezug zum Thema Ihrer Arbeit sollte jederzeit erkennbar bleiben. Kurze einleitende oder überleitende Sätze können helfen, den „roten Faden“ zu behalten. Auch Grafiken können helfen, die Analyseergebnisse anschaulich zu präsentieren. Beispiele hierfür finden Sie auch in diesem Buch (z.B. Kap. 11c: Plot map zu Lk 18,18–25). Eine gute Grafik ist dabei selbsterklärend und muss nicht zusätzlich umfassend erläutert werden. 6. Textnachwirkung (vgl. Kapitel 12) Der zu untersuchende Text ist abschließend auf seine kurzfristigen, rezeptionsbegleitenden Wirkungen (Empathie, Sympathie, Spannung, Emotionen) sowie auf seine langfristigen Wirkungen und auf die intendierten Verhaltensänderungen zu untersuchen. Beispiel: (Wie) wird eine (positive/negative) Identifikation mit bestimmten Figuren ermöglicht und (wie) wirkt sich diese auf die Rezipienten aus? Welche langfristigen Meinungs- und Verhaltensänderungen könnten vom Autor intendiert sein? Soll die Erzählung primär Stereotypen hinterfragen oder Antipathien verstärken, soziales Wissen vermitteln oder ein Verhalten in Frage stellen (→ Tabelle „Arten der Persuasion“)? Da der Bereich der intendierten Textnachwirkung in der Exegese bisher noch nicht so systematisch und umfassend im Blick ist, wird die Darstellung teilweise ohne Rückgriff auf die Kommentarliteratur erfolgen müssen. 7. Wissenschaftliche Übersetzung Die wissenschaftliche Analyse bezieht sich auf den griechischen Originaltext des Neuen Testaments. Auf die Darstellung einer Arbeitsübersetzung, wie sie manchmal vorgeschlagen wird, kann aus unserer Sicht verzichtet werden. Natürlich können Sie während der Analyse des Textes immer wieder für sich Arbeitsübersetzungen anfertigen, aber diese sollten nicht in die fertige Hausarbeit wandern. Am Ende muss jedoch – natürlich unter Einbeziehung der eigenen analytischen Ergebnisse – eine wissenschaftlich begründete und reflektierte Übersetzung angefertigt werden. Die Übersetzung ist, wie die gesamte Hausarbeit, eine Form der Neudarstellung des griechischen Textes. Im wissenschaftlichen Kontext wie bei der Seminararbeit wird sich die Übersetzung recht nah am griechischen Text orientieren. Kurze Begriffserklärungen können im Text eingefügt werden (z.B. mit Hilfe eckiger Klammern). Über die Text- und Sprachanalyse hinaus sind alle sprachlichen und grammatikalischen Aspekte des Textes zu nennen, die einen Einfluss auf die Übersetzung haben. So wird beispielsweise erklärt, warum man das griechische Präsens als deutsches Präteritum übersetzt (Präsens historicum), warum bei der

312

14. Praktisches Interesse

Auflösung einer griechischen Partizipialkonstruktion eine bestimmte Temporal-Konjunktion gewählt wurde oder warum man sich für eine bestimmte Wortbedeutung entschieden hat. Es reicht hier, im Text entsprechende Anmerkungen zu setzen und auf die gebräuchlichen Grammatiken und Wörterbücher (→ Literatur) zurückzugreifen. Literatur: a) Grammatiken: F. Blass/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 182001; H. von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Gießen 2011; b) Wörterbücher: W. Bauer, Griechischdeutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. u. B. Aland, Berlin/New York 61988 (dem Wörterbuch wird zuweilen eine allzu große Nähe zur Lutherübersetzung vorgeworfen); F.W. Danker (Hg.), A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature, Chicago/London 32000 (englische Überarbeitung des Wörterbuchs von Walter Bauer; im internationalen Kontext gebräuchlich).

8. Schlussfazit Im Schlussfazit werden auf einer Seite die wesentlichen Aspekte der Analyse noch einmal gebündelt und zusammengefasst. Eine wörtliche Wiederholung des vorher Geschriebenen greift hier allerdings zu kurz. Es geht vielmehr darum, die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung in theologisch reflektierter und sprachlich pointierter Weise zu Papier zu bringen. Weiterführende Ausblicke in die Gemeinde- oder Schulpraxis oder persönliche Erfahrungen sind hier ebenso zu vermeiden wie gesamtbiblische Exkurse. Das sind andere (legitime) Formen des praktischen Interesses am Text, aber nicht Inhalte der Seminararbeit. Fassen Sie einfach das Wesentliche aus Ihrer Hausarbeit kurz zusammen; das hilft Ihnen und dem, der es liest. 9. Abkürzungs- und Literaturverzeichnis Im Literaturverzeichnis sind alle Schriften aufzulisten, die in der Arbeit zitiert oder deren Aussagen paraphrasiert und indirekt wiedergegeben wurden (und die natürlich in den Fußnoten der Arbeit genannt wurden, z.B. mit Kurztitel). Auch Internetquellen sind anzugeben, ergänzt um den entsprechenden Link und das Datum des letzten Aufrufs. Innerhalb des Literaturverzeichnisses ist die alphabetische Reihenfolge einzuhalten. Die Titel im Literaturverzeichnis werden nicht abgekürzt. Hingegen sollten Monografiereihen und Zeitschriften mit den üblichen Kürzeln aufgelistet werden. Literatur: S.M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (= IATG3), 3. überarb. Aufl., Berlin/New York 2013; Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4, UTB 2868, Tübingen 2007.

Wofür kann ich die Analysen verwenden? (Beispiel: Seminararbeit)

313

Zum Stil der Arbeit: Nicht nur Romane verdienen einen guten Stil, sondern auch wissenschaftliche Texte sollten ansprechend, verständlich und schön geschrieben sein. Um der eigentlichen Aussage mehr Raum und Gewicht zu verleihen, empfiehlt es sich, auf Nominalphrasen, Schachtelsätze, Wiederholungen, Sperrungen und komplizierte Wortstellungen zu verzichten. Allzu saloppe und alltagssprachliche Formulierungen untergraben den wissenschaftlichen Anspruch. Da man sich bis zum Studium bereits einen eigenen Sprachstil mit einem persönlichen Vorzugsvokabular und grammatischen Eigenheiten angewöhnt hat, kann es sich empfehlen, den Schreibprozess mit fremder Hilfe zu reflektieren. Mittlerweile gibt es an zahlreichen Universitäten Schreibzentren, die Ihnen helfen, Ihre akademische Schreibkompetenz zu stärken.

Beim Schreiben der Arbeit wünschen wir Ihnen viele gute Erkenntnisse. Jetzt sind Sie an der Reihe – Sie gehören zur neuen Generation der Exegetinnen und Exegeten!

Anhang: Literatur, Sach- und Personenregister 1. Häufig zitierte Literatur Die im folgenden aufgeführten Methodenbücher und weiteren Titel werden im Buch mit Sternchen(*) zitiert, da in der Regel in mehreren Kapiteln auf sie verwiesen wird (Beispiel: Söding*). Am Ende eines Kapitels und teilweise auch am Ende eines Textabschnitts finden sich weitere Literaturhinweise zu einzelnen Methodenschritten, auf die im laufenden Kapitel mit Kurztiteln verwiesen wird (Beispiel: Chanquoy, Revision Processes, 87). Adam, J., Verstehen Suchen. Ein Kompendium zur Einführung in die neutestamentliche Exegese, Mannheim (2004) 52008. (Adam*) Adam, G./Kaiser, O./Kümmel, W.G./Merk, O., Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 62000. (Adam/Kaiser*) Aland, K./Aland, B., Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989. (Aland/Aland*) Alkier, St., Neues Testament, UTB basics 3404, Tübingen 2010. (Alkier*) Bauer, D.R./Traina, R.A., Inductive Bible Study. A Comprehensive Guide to the Practice of Hermeneutics, Grand Rapids 2011. (Bauer/Traina*) Bauks, M./Nihan, Ch. (Hg.), Manuel d’exégèse de l’Ancient Testament, Le Monde de la Bible 61, Genève 2008. (Baucks/Nihan*) Becker, U., Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch, UTB 2664, Tübingen 32011. (Becker*) Berger, K., Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, UTB 658, Heidelberg/Wiesbaden 31991. (Berger*) Berger, K., Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. (Berger, Formgeschichte*) Black, D.A./Dockery, D.S., Interpreting the New Testament. Essays on Methods and Issues, Nashville 2001. (Black/Dockery*) Blomberg, C.L., A Handbook of New Testament Exegesis, Grand Rapids 2010. (Blomberg*) Bock, D.L./Fanning, B.M., Interpreting the New Testament Text. Introduction to the Art and Science of Exegesis, Wheaton 2006. (Bock/Fanning*) Bussmann, C./van der Sluis, D., Die Bibel studieren. Einführung in die Methoden der Exegese, Studienbücher Theologie für Lehrer, München 1982. (Bussmann/Sluis*) Chatman, S., Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca (1978) 1993. (Chatman*) Conzelmann, H./Lindemann, A., Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 121998. (Conzelmann/Lindemann*) Corley, B./Lemke, S.W./Lovejoy, G.I., Biblical Hermeneutics. A Comprehensive Introduction to Interpreting Scripture, Nashville 22002. (Corley/Lemke*) Croy, N.C., Prima Scriptura. An Introduction to New Testament Interpretation, Grand Rapids 2011. (Croy*) Dreytza, M./Hilbrands, W./Schmid, H., Das Studium des Alten Testaments. Eine Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal 2002. (Dreytza/Hilbrands*)

Literatur, Sach- und Personenregister

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Duvall, J.S./Hays, J.D., Grasping God’s Word. A Hands-On Approach to Reading, Interpreting, and Applying the Bible, Grand Rapids 22005. (Duvall/Hays*) Ebner, M./Heininger, B., Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis. Paderborn 22007. (Ebner/Heininger*) Eder, J., Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. (Eder*) Egger, W., Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg/Basel/Wien 1987. (Egger*) Egger, W./ Wick, P., Methodenlehre zum Neuen Testament. Biblische Texte selbständig auslegen, Freiburg/Basel/Wien 62011 [Neubearbeitung]. (Egger/Wick*) Eisen, U., Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA/ StUNT 58, Göttingen/Fribourg 2006. (Eisen*) Erlemann, K./Wagner, Th., Leitfaden Exegese. Eine Einführung in die exegetischen Methoden für das BA- und Lehramtsstudium, Tübingen 2013. (Erlemann/Wagner*) Fee, G.D., New Testament Exegesis. A Handbook for Students and Pastors, Louisville 32002. (Fee*) Fenske, W., Arbeitsbuch zur Exegese des Neuen Testaments. Ein Proseminar, Gütersloh 1999. (Fenske*) Finnern, S., Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II/285, Tübingen 2010. (Finnern*) Fohrer, G./Hoffmann H.W./Huber, F. u.a., Exegese des Alten Testaments. Einführung in die Methodik, UTB 267, Heidelberg/Wiesbaden 61993. (Fohrer/Hoffmann*) Genette, G., Die Erzählung, Paderborn 32010. (Genette*) Greimas, A.J., Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig 1971. (Greimas*) Guthrie, G.H./Duvall, J.S., Biblical Greek Exegesis. A Graded Approach to Learning Intermediate and Advanced Greek, Grand Rapids 1998. (Guthrie/Duvall*) Haacker, K., Neutestamentliche Wissenschaft. Eine Einführung in Fragestellungen und Methoden, Wuppertal 1981. (Haacker*) Hayes, J.H./Holladay, C.R., Biblical Exegesis. A Beginner’s Handbook, Louisville/London 32007. (Hayes/Holladay*) Hoffmann, E.G./von Siebenthal, H., Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Riehen 1985. (Hoffmann/von Siebenthal*) Kaiser, W.C., Jr./Silva, M., An Introduction to Biblical Hermeneutics. The Search for Meaning, Grand Rapids 1994. (Kaiser/Silva*) Klein, W.W./Blomberg, C.L./Hubbard, R.L., Jr., Introduction to Biblical Interpretation, Dallas/London u.a. 1993. (Klein/Blomberg/Hubbard*) Koch, K., Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 51989. (Koch*) Kreuzer, S./Vieweger, D. u.a., Proseminar I. Altes Testament. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 22005. (Kreuzer/Vieweger*) LBH = Wischmeyer, O. (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin/New York 2009. Lührmann, D., Die Auslegung des Neuen Testaments, Zürcher Grundrisse zur Bibel 2, Zürich 21987. (Lührmann*) Marshall, I.H. (Hg.), New Testament Interpretation, Carlisle 1977, ND 1997. (Marshall*) Martinez, M./Scheffel, M., Einführung in die Erzähltheorie, München 92012. (Martinez/ Scheffel*)

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Anhang

McKenzie, St.L./Haynes, St.R. (Hgg.), To Each Its Own Meaning. An Introduction to Biblical Criticisms and Their Application, Louisville 1999. (McKenzie/Haynes*) Meiser, M./Kühneweg, U. u.a., Proseminar II. Neues Testament – Kirchengeschichte. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart/Berlin/Köln 2000. (Meiser/Kühneweg*) Meurer, T., Einführung in die Methoden alttestamentlicher Exegese, Münsteraner Einführungen: Theologische Arbeitsbücher 3, Münster u.a. 1999. (Meurer*) MLLK = Nünning, A. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 42008. Neudorfer, H.-W./Schnabel, E.J. (Hgg.), Das Studium des Neuen Testaments, Bd. 1: Eine Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal 1999. (Neudorfer/Schnabel*) Osborne, G.R., The Hermeneutical Spiral. A Comprehensive Introduction to Biblical Interpretation, Downers Grove 1991. (Osborne*) Reinmuth, E./Bull, K.-M., Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen-Vluyn 2006. (Reinmuth/Bull*) RENT = Herman, D./Jahn, M./Ryan, M.-L. (Hgg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London/New York 2005. Richter, W., Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971. (Richter*) RLW = Weimar, K./Fricke, H. u.a. (Hgg.), Reallexikon der Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin/New York 1997/2000/2003. Schnelle, U., Einführung in die neutestamentliche Exegese, UTB 1253, Göttingen 72008. (Schnelle*) Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 82013. (Schnelle, Einleitung*) Schweizer, H., Biblische Texte verstehen. Arbeitsbuch zur Hermeneutik und Methodik der Bibelinterpretation, Stuttgart u.a. 1986. (Schweizer*) Söding, Th., Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, Freiburg/Basel/Wien 1998. (Söding*) Söding, Th./Münch, Chr., Kleine Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg/Basel/Wien 2005. (Söding/Münch*) Stadelmann, H./Richter, Th., Bibelauslegung praktisch. In zehn Schritten den Text verstehen, Wuppertal 2006. (Stadelmann/Richter*) Steck, O.H., Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen, Neukirchen-Vluyn 141999. (Steck*) Stuart, D., Old Testament Exegesis. A Handbook for Students and Pastors, Westminster 42009. (Stuart*) Theißen, G., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, Fribourg 1989. (Theißen*) Theißen, G./Merz, A., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001. (Theißen/ Merz*) Utzschneider, H./Nitsche, St.A., Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 42014. (Utzschneider/Nitsche*) Virkler, H.A./Ayayo, K.G., Hermeneutics. Principles and Processes of Biblical Interpretation, Grand Rapids 22007. (Virkler/Ayayo*) Zimmermann, H., Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode, bearb. v. K. Kliesch, Stuttgart 71982. (Zimmermann*)

Literatur, Sach- und Personenregister

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2. Sach- und Personenregister A Abruf (Gedächtnisforschung) 154, 156f. Abschrift (vgl. Textkritik) 13 „abwägen, nicht zählen“ (Prinzip der Textkritik) 24 Accordance (Bibelprogramm) 112f., 146 actio (Rhetorik) 121, 299 Adressaten (s. auch Entstehungskontext, Leser, Textnachwirkung) 7, 9f., 43–51, 152–169 adscriptio (Briefanfang) 96f. Aktantenmodell (jede Figur übernimmt eine Handlungsrolle) 94, 206f. Aktion (Handlung) 213f. Aktionsraum 229–231 Aktualisierung s. Applizierung Aland, K. 15, 24 alethische Kritik 289f. alethischer Standpunkt (vgl. ästhetisch, axiologisch) 253 Alliteration (Stilfigur) 123 Alltagspsychologie 70, 79, 93, 190, 195f., 201f., 243, 245f. Alltagstheorien 201, 243 altlateinische Handschriften 21 Altphilologie s. klassische Philologie Amen (Gebetsabschluss) 31f. Anachronie (Erzählreihenfolge) 217–219 Anakoluth (Stilfigur) 124 Analepse (Rückblende) 217–219 Analyse und Darstellung 294 – gattungsspezifische Analyse s. dort – grammatische Analyse s. dort – narrative Analyse s. dort – sprachliche Analyse s. dort – sozialgeschichtliche Analyse s. dort – thematische Analyse s. dort Anapher (Stilfigur) 123 Anfangsverdacht (Textkritik) 28–31 Anspielung 53f., 56f. Antipathie s. Sympathie Anwendung (Lebensbezug, Identifikation) 246–252, 300 Apophthegma 75, 89f. Apparat s. textkritischer Apparat Applikation s. Anwendung Applizierung (Fortschreibung) 79 Apologetik 286 Arachne (Datenbank) 148

Archäologie 133, 144 Architektur 177f. Argumentationsanalyse 105, 118f., 121 Aristoteles 99, 121, 237 Artefakt-Emotion s. ästhetische Emotion Assmann, A. und J. 157 Assoziation 154 ästhetische Emotion (vgl. Textnachwirkung) 122–125, 244 ästhetische Kritik 287–289 Asyndese/Asyndeton (Stilfigur) 124 AT-Zitate 53, 76, 78, 153–155, 162 Augustinus, A. 120, 294 Auslegungsgeschichte s. Wirkungsgeschichte Auslegungspluralismus 5, 10f. Außenperspektive (externe Fokalisierung) 179, 184f. äußere Bezeugung s. Textkritik Autobiografie (Gattung) 85–87, autobiografischer Pakt 86, 91, 96 autodiegetische Erzählung 181 Autor (vgl. Erzähler, Entstehungskontext) 7, 9f., 43–51, 173–175, 179f. Autorintention 130–132, 164f., 174f., 237 axiologische Kritik 290–292 axiologischer Standpunkt 253 B Barthes, R. (Autor) 93, 164, 214 Bechdel, A. (Zeichnerin) 87 Bedeutung s. Texterklärung Bedeutungswandel 281 bedingte Wahrscheinlichkeit 70 Bedrohungsspannung 243 Beeinflussung 54 befreiungstheologische Exegese 292 Begriffsgeschichte 133f. Behinderung (als Thema) 271 Beispielerzählung s. Gleichnis Bekenntnisformel 53 Bengel, J.A. 28, 246 Beobachter (Erzählperspektive) 181 Berger, K. 90 Berlinale 12 Berufung (des Levi/des Paulus) 77f. BESEN (Erklärung) 7–10, 307–311 Beteiligung (des Erzählers an der erzählten Welt) 178f., 181

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Anhang

Betz, H.D. 120 Bewusstseinsbericht 182 Bewusstseinsstrom 182 Bezeichnungswandel 281 Bezeugungsbreite (Kriterium) 158 Bibelatlanten 145 Bibelcloud 273f. Bibeldidaktik 246f., 295–306 Bibelkritik s. kritisches Interesse Bibellexika 143 Bibel-Teilen 306 BibleWorks (Bibelprogramm) 112f., 146 Bibliodrama 305 Bibliolog 138, 305 Biblische Theologie 271f. Bildwort s. Gleichnis Bilingue (zweisprachiger Text) 20 Billerbeck (Quellensammlung mit rabbinischen Paralleltexten zum NT) 142, 151f. Biografie (vgl. Autobiografie) 94, 96 Blending-Theorie (Semantik) 167 Blockcharakterisierung 217 Bodmer-Papyri 19 bohairisch (koptischer Dialekt) 21 Brief (Gattung) 96f. Brinker, K. (Textlinguist) 114, 272 Broich, U. (Anglist) 165 Bruch (Textanalyse) s. Kohärenz Bühnenbild (Theater) 228 Bultmann, R. 70, 89f., 261f. byzantinischer Text s. Mehrheitstext C Charakter (Figur) s. Figurenmerkmale Chatman, S. 93, 214 Chester-Beatty-Papyri 19 Chiasmus 125 Childs, B.S. 272 Claudius, M. 114 Codebuch (Indexerstellung) 277 Codex (Handschrift) 20 – Codex Alexandrinus (A) 20 – Codex Bezae Cantabrigiensis (D) 20 – Codex Claromontanus (D) 20 – Codex Ephraemi Syri rescriptus (C) 20 – Codex Sinaiticus (ℵ) 20 – Codex Vaticanus (B) 20 Coetzee, J.M. (Autor) 86 cognitive turn s. kognitive Wende contra textum (textkritischer Apparat) 16 Comic (vgl. Graphic Novel) 176, 303f.

Computerspiel 176, 220, 240 Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti 142 Corpus Paulinum (die 14 Briefe des Neuen Testaments, die traditionell auf Paulus zurückgeführt werden) 20f. Coverversion 52 cut (Filmwissenschaft) 111 D Darstellung (von Ergebnissen) 294–313 Dehnung (Erzählgeschwindigkeit) 216f. Deuteromarkus 55, 74 Deutsche Presse-Agentur 68 Dialekt (Sprache) 126 Dialektik (als Teil des trivium) 120 dialektische Theologie 261 Dibelius, M. 89f. Differenzkriterium (Leben-Jesu-Forschung) 261f. dikanische Gattungen 90 Director’s Cut (Filmversion) 12 direkte Anwendung 247f. direkte Rede 182 discourse (Narratologie) s. story/discourseUnterscheidung discourse linguistics s. Textlinguistik dispositio (Rhetorik) 121, 299 Distanz s. Erzähldistanz Dittographie (versehentliche Doppelschreibung) 33 Dogmatik 271f., 282 Dokumentationswissenschaft 277 Doppelüberlieferung 56, 58f. Doppelung 58f., 63 Dramatisierung 78 dramaturgische Homiletik 297–299 Dschulnigg, P. 199 Dublette s. Doppelüberlieferung E Eco, U. 135 Eder, J. (Filmwissenschaftler) 195, 206 Editionswissenschaft 12, 68 Egger, W. 173 Ego-Shooter 240 Einfühlung s. Empathie Einleitungsliteratur 43f., 51 Einstellung (Sozialpsychologie) 241f., 253–255 Ellipse (Erzählgeschwindigkeit) 216f.

Literatur, Sach- und Personenregister Ellipse (Stilfigur) 124 elocutio (Rhetorik) 121, 299 emergente Bedeutung, Emergenz (Semantik) 131, 136, 166–168 Emotionen (der Figur) s. Figurenemotionen Emotionen (des Rezipienten) s. Rezeptionsemotionen Empathie (Einfühlung in eine Person) 239f. Endredaktion (vgl. Redaktionsgeschichte) 14, 69 Endtext (vgl. Urtext) 69 engagierte Exegese 292 Enthauptung des Täufers 129 Entstehungskontext 7f., 41–51, 70f., 157 Enzyklopädie (U. Eco) 134f. epideiktische Gattungen 90 Epigraphik (Inschriftenkunde) 147f. Episodenfigur 206, 240 Episodenstil 223 Episodenwechsel 110f. Erasmus von Rotterdam 22 Ereignis (Handlung) 92f., 213–226 – Definition 213 – virtuelles Ereignis 212, 221f. Er-Erzähler 87, 95, 179, 181 Erfüllungszitate 76, 153, 162 Erinnerungsforschung s. Gedächtnisforschung, Kognitionspsychologie Erinnerungsnähe (Kriterienbereich) 154 erlebte Rede 182–184 Erstdruck 56 Erwartungen des Lesers s. Lese-Erwartungen Erwartungshorizont (H.R. Jauß) 135 Erzähldistanz (Art der Wiedergabe der Figurenrede) 181–184 Erzähler (s. auch Autor) 177–235, bes. 179f. – Er-Erzähler s. dort – Erzählerdominanz (Modus) 179, 181f. – Erzählerkamera (vgl. Wahrnehmungszentrum) 179, 184f. – Erzählerkommentar 96, 241 – Erzählerstandpunkt 58, 62, 178f., 185– 192 – extradiegetischer Erzähler 180 – Ich-Erzähler s. dort – intradiegetischer Erzähler 180 – unzuverlässiger Erzähler 178, 190, 219

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Erzähl-/erzählte(r)/Erzählung – autodiegetische/heterodiegetische/homodiegetische Erzählung 181 – Erzählebenen (Kommunikationsebenen) 178–180 – Erzählfrequenz 216f. – Erzählgeschwindigkeit 216f. – Erzählkern/-satellit 93, 214f., 219f. – Erzähllogik 221, 232f. – Erzählmodus 178f., 181–184 – Erzählperspektive 176–194 – Erzählreihenfolge 216f. – erzählter Raum (der Raum in der erzählten Welt) 229, 232f. – erzählte Rede 182 – erzählte Welt („Welt“, die dargestellt wird bzw. die im Kopf des Lesers entsteht) 41f., 137, 157, 232f. – erzählte Zeit (die Zeitdauer eines Ereignisses in der erzählten Welt, vgl. Erzählzeit) 215f. – Erzähltextanalyse s. Narratologie – Erzähltheorie s. Narratologie – Erzählverlauf s. Handlungsverlauf – Erzählzeit (die Zeit, die man für das Erzählen benötigt) 215f. Estienne, R. 110 Ethik s. narrative Ethik, Interpretationsethik, axiologische Kritik Ethik des Neuen Testaments 276 Euphemismus (Stilfigur) 123 event s. Ereignis existenziale Identifikation 249f. exordium (Teil einer Rede) 121 externe Fokalisierung s. Außenperspektive F Faktualität s. Fiktionalität Fälschung (Minuskel 2427) 20f. falsifizieren (als falsch beweisen) 31 Fehler bei der Exegese 159, 279 feministische Exegese 8, 292 Ferrar-Gruppe (Minuskelfamilie) 20 Figur/Figurenanalyse 176, 195–210 – Definition (kognitiv) 197 – Figurenäußeres 200 – Figurenbestand 197 – Figurendarstellung 60f. – Figurendominanz (Erzählperspektive) 182

320 – – – – – – –

Anhang

Figurenemotionen 198f. Figurenkonstellation 94, 100, 204f. Figurenkonzeption 94, 203f. Figurenmerkmale 94, 198–203 Figurenrede (Modus) 179, 181–184 Figurenredestil 127 Figurenstandpunkt (vgl. Erzählerstandpunkt) 185–192, 198–200 – Figurensynthese (Personenwahrnehmung) 195f. – Figurenwahrnehmung 198f. – flache/runde Figur 203f. – Hauptfigur s. dort – Handlungsrollen s. dort – individuelle Figur 94 – mentales Modell 160, 195f., 198–210 – Nebenfigur s. dort – Spielzüge der Figur 219–222 – stereotype Figur 94 – Wichtigkeit der Figur 205f. Figur-Grund-Kontrast (Wahrnehmungspsychologie) 161 Figura etymologica 125 Fiktionalität 94f. – Fiktionalitätsgrad (Ausmaß an fiktiven Elementen in einer Erzählung) 42, 94f., 265f. – Fiktionalitätsskala 95, 265f. filler (kognitive Semantik) 138 Film/Filmwissenschaft 12, 304 Filmmusik 302f. Fish, St. 135 Flashmob 103 flat character s. Figur, flach/rund Flugzeuge im Bauch (Lied) 52 Fokalisierung (Erzählperspektive) 179, 181, 184f. – externe Fokalisierung s. Außenperspektive – interne Fokalisierung s. Innenperspektive – statische Fokalisierung 179 – variable Fokalisierung 179 – unfokalisiert (nullfokalisiert) 179, 184 Formalismus (literaturwissenschaftliche Theorie) 92 Form- und Gattungsanalyse 6–9, 85–102, 121 Formgeschichte (ältere) 6, 8f., 77, 88–90, 98, 238, 261f.

Formgeschichte, neuere s. Form- und Gattungsanalyse Forschung und Lehre 294 Fortschreibung 57, 79f. Fragment (Handschrift, Papyrus) 13f. Fragmentarität 159, 163, 169 Frame (s. auch Skript) (Begriff aus der Kognitionswissenschaft: Vorstellung davon, wie etwas ist) 8, 31, 62, 130–132, 135–172, 174f., 196 Frey, J. 142 Friedensgruß 97 G Gabler, J.Ph. 271 Gattung 85–102 – Gattungsanalyse s. Form- und Gattungsanalyse – Gattungskriterien: inhaltlich, formal, paratextuell 91–97 – gattungsspezifische Analyse 7 – Gattungsverständnis, kognitives 85–88, 91–102 – Gattungsüberschneidung 86, 88, 93, 98f. – Gattungswechsel 62, 93, 98f. Gedächtnisforschung 155–159, 161 – kommunikatives Gedächtnis 157 – kulturelles Gedächtnis 157 Gedankenzitat 182 Gedicht/-analyse 56, 127f., 132, 300 Gefühle (der Figur) s. Figurenemotionen Gefühle (des Rezipienten) s. Rezeptionsemotionen Genealogie der Lesarten s. Stammbaum Genette, G. 181, 184f., 215–219 genus iudiciale/deliberativum/demonstrativum (Rhetorik) 121 genus subtile/medium/grande (Stilistik) 126 Germanistik s. Literaturwissenschaft, germanistische Geschehnis 213f. Geschichtsschreibung 76, 94, 96, 133 Geschichtswissenschaft 12, 48, 259–269 Geschwindigkeit (des Erzählens) s. Erzählgeschwindigkeit Gleichnis (Gattung) 94, 99 – Gleichnisauslegung 167f., 238, 248–252 Gleismüller, S. (Maler) 129 Gliederung 7–9, 43, 70f., 104f., 106–109, 121

Literatur, Sach- und Personenregister Glosse 56f. Gott (in der Erzählung) 197 grammatische Analyse 7–9, 111–118, 120 Graphic Novel (vgl. Comic) 87, 303f. Gregory, C.R. (Textkritiker) 19 Greimas, A.J. (Semiotiker) 94, 206f., 212 Grenze/Grenzüberschreitung 230f. Grönemeyer, H. 52 Grundriss 177 Grundtext 56 Guigo der Kartäuser 305f. Guttenberger, G. 224 H Hahn, F. 282 Handlung/Handlungsanalyse 92f., 176, 211–227 – Handlungsalternativen 220–222 – Handlungselement 213–215 – Handlungserwartungen 212, 219–225 – Handlungsintensität 215 – Handlungskern 219f. – Handlungsrisiko 220f. – Handlungsrollen 94, 206f. – Handlungsschema 211f. – Handlungsstränge 223 – Handlungsverlauf 31, 219–225 Handschriften (des NT) 12–40 Haplographie (versehentliche Einzelschreibung doppelter Buchstaben bzw. Buchstabengruppen) 33 Harklensis (syrische Übersetzung) 21 Hauptfigur 181, 205f. Hausarbeit s. Seminararbeit Hausbau (Gleichnis) 77f. Haustafel (Gattung) 93 Hays, R.B. 153f., 155–162, 164, 166 Heilungserzählung (Gattung) 99f. Held (Figur) s. Hauptfigur Hendiadyoin (Stilfigur) 125 Hengel, M. 132f. Hermeneutik s. Interpretation, Methode Herzkino (Liebesfilm) 211f., 215 heterodiegetische Erzählung 181 Hilfsfigur 205 Hintergrundfigur 206 Historiographie s. Geschichtsschreibung historisch-kritische Methode 4, 6, 238 historisch-kultureller Kontext (s. auch Entstehungskontext, Frames und Skripts) 7f., 129–150

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historische Rückfrage 57, 137, 259–269 historischer Jesus 8, 259–263 historischer Ort (s. auch Entstehungskontext) 9, 51, 238 historisches Arbeiten 4–7, 259–269 historisches Interesse 7–9, 137, 259–269 Holtzmann, H.J. 260, 262 Homiletik s. Predigt homodiegetische Erzählung 181 Homoiokatarkton/-teleuton (Stilfigur) 123, 126 Horaz (Dichter) 236f. Hörbarkeit (Kriterium) 154, 156–158 Hörfehler 29, 33, 80 Humorisierung 79f. Hymnus (Gattung) 94, 127 Hyperbel (Stilfigur) 123 I Ich-bin-Wort 89 Ich-Erzähler 86f., 95, 179, 181 Identifikation 246–252 impliziter Autor/Leser (vgl. Rezeptionsästhetik) 174 Inclusio (Stilfigur) 125 indirekte Anwendung 248–252 indirekte Rede 182 indirekte Verstehensstrategie 167 individuelle Figur s. Figur Indiz (R. Barthes) 214f. inductive bible study (Methode) 135–139 Inferenzprozesse s. Schlussfolgerungen Inferenzstelle 138 Information (R. Barthes) 214f. Informationsverdoppelung 190, 203, 219 Inhaltsanalyse (vgl. thematische Analyse) 272f. Inkohärenz s. Kohärenz Inkohäsion s. Kohäsion Innenperspektive (interne Fokalisierung) 179, 181, 184f. Innensicht s. Innenperspektive innere Kriterien s. Textkritik innerer Konflikt 220 Inschriften(kunde) 147f. Institut für neutestamentliche Textforschung (Münster) 15, 19, 21, 24 Intention/intendiert 237 – intendierte Anwendungen (Lebensbezüge, Identifikation) 246–252

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Anhang

– intendierte Bedeutung 151–172 (bes. 165), 237 – intendierte Meinungs- und Verhaltensänderung 253–255 – intendierter Rezipient/Leser (vgl. Leser) 130–132, 179f., 195–258 – intendierte Wirkung 9, 237, 239–255 interne Fokalisierung s. Innenperspektive Interpretation s. Texterklärung – Interpretationsethik 1, 285f. – Interpretation, fehlerhafte 1, 158f. – Interpretation nach „Schema F“ 5 Intertextualität (Literaturtheorie) 9, 34, 103f., 164–166 inventio (Rhetorik) 121, 299 ipsissima verba (die originalen Worte Jesu) 259 ipsissima vox (die inhaltlich authentischen Worte Jesu) 57, 157, 259 Ironie (Stilfigur) 123 Iser, W. (vgl. Rezeptionsästhetik) 135 Itazismus (Aussprache griechischer Vokale wie „i“) 33 J Jannidis, F. 183 Jesus s. historischer Jesus Jesusworte (vgl. Logion, ipsissima vox) 161 Journalismus (vgl. Kommunikationswissenschaft) 68 K Kaiserkult/-verehrung 251 Kamera s. Erzählerkamera kanonische Exegese 164 Kapitelzählung der Bibel 110 Käsemann, E. 261f. Kasus (Grammatik) 113 Kausalattribution 79, 201f. Kausalgeschichte (Handlungstheorie) 201f. Kinderbibeln/-bücher 27, 301 King-James-Version (engl. Bibelübersetzung) 22 Kirchengeschichte 7, 34 Kirchenväterzitate 18, 21f., 44 Kittel, G. 152 Klangfigur (Stilistik) 122f. klassische Philologie/Altphilologie 14

Kleinliteratur (Einschätzung der Formgeschichte) 89f. Klimax (Stilfigur) 125 Kognition/kognitiv – Kognitionspsychologie 28, 34, 79, 154– 163 – kognitives Gattungsverständnis s. Gattung – kognitive Karte 145 – kognitive Metapherntheorie 168 – kognitives Modell der Figuren, der Handlung, des Raums 195–235 – kognitive Narratologie s. Narratologie – kognitives Schema (Überbegriff für Frames und Skripts, s. dort) 129–140, 152– 172, 174f. – kognitive Semantik 130–140, 152–172, 276 – kognitive Wende (s. auch kognitive Semantik, kognitive Narratologie, kognitives Gattungsverständnis) 9, 165, 173–176 Kohärenz (Textlinguistik) 34–37, 54, 57– 66, 93, 106–111, 161 Kohäsion (Textlinguistik) 34–37, 54, 57– 66, 93, 106–111 Kommentar – als wissenschaftl. Kommentar 106, 108, 135–142, 299f. – Erzählerkommentar s. dort – Kommentarreihen 140f., 299 Kommunikationsebenen s. Erzählebenen Kommunikationswissenschaft 42f., 68, 79, 238 kommunikatives Gedächtnis 157 Kompilation 56 Komposition 56 Konfirmandenunterricht s. Bibeldidaktik Konflikt s. Handlung(sanalyse), innerer Konflikt, Parteienkonflikt Konfliktspannung 243 Konjunktion (Grammatik) 112, 115f. Konstantinische Wende (Zeit, in der sich das Christentum zur Staatsreligion entwickelte) 22 Konstruktivität s. Kognition, kognitive Wende – radikaler Konstruktivismus 163, 175 Kontext – Definition 41 – literarischer K. 7–9, 104f., 109–111

Literatur, Sach- und Personenregister – situativer K. s. Entstehungskontext – Kontextplausibilität 261f. – Kontextualisierung 7f., 246 Kontrastfigur/-paar (Figuren) 94 Kontrastparallele 151f. Kopfkino 130, 137 koptische Übersetzungen des NT 21 Ko-Text s. Kontext, literarischer Kristeva, J. 164 Kriterien der Quellenauswahl 152–163 kritisches Interesse 7–9, 76, 284–293 kulturelles Gedächtnis 157 Kulturraum 157 Kunstgeschichte 12 L Lahm, Ph. (Fußballer) 85f. Lake-Gruppe (Minuskelfamilie) 20 Lampe, P. 163 Landmesser, Chr. 252 Langton, St. 110 Lasswell-Formel (Kommunikationswissenschaft) 42f. Latinismus (lateinische Formulierung in einem anderssprachigen Text) 46, 48 Lautstärke der Quellen (Kriterium) 154, 158f. Leben-Jesu-Forschung 259–263 lectio brevior (textkritischer Anfangsverdacht: die kürzere Lesart ist die ursprüngliche) 28–30 lectio difficilior (textkritischer Anfangsverdacht: die schwierigere Lesart ist die ursprüngliche) 28–30 lectio divina (Bibel lesen) 306 lectio perturbata (textkritischer Anfangsverdacht: die chaotischere Lesart ist die ursprüngliche) 28–30 Leerstelle (Rezeptionsästhetik) 138 Leichte Sprache (Verständlichkeit) 301 Lektionar (Textausgabe für Lesungen im Gottesdienst) 18, 21, 110 Lektüreprozess s. Leseprozess Lesart s. Textvariante Lesebrille (vgl. kognitive Schemata) 130 Leseerwartungen (vgl. Skripts) 134, 175 Leseprozess 131, 155, 160f., 174f., 183–191, 195–258 Leser (s. auch Rezipient, Adressaten, Rezeptionsästhetik, kognitive Wende) 9f., 104, 130–132, 135–139, 151–258

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Lesestrategie s. Rezeptionsstrategie Lessing, G.E. 286 Liebesroman 93, 211 Lied s. Gedicht, Hymnus, Songtext Ligatur (Buchstabenverbindung) 20 Linguistik (s. auch Textlinguistik, Semantik) 34–37, 158f. literarisches Niveau (s. Stilkritik) 126 Literarkritik 6, 8f., 14, 43, 57–67, 70, 126 Literaturkritik 285f. Literaturwissenschaft – germanistische L. 12, 14 Litotes (doppelte Verneinung) 124 Logienquelle „Q“ 55, 57, 75 Logik der Erzählung s. Erzähllogik Logion (Ausspruch, Satz) 75, 89 Lohse, E. 170f. lukanische Lücke (als Problem der Zweiquellentheorie) 74 Luther, M. 285 lyrisches Ich 127 M Machbarkeitsanalyse (Vorabprüfung) 264 Mahnwort (Gattung) 90, 95 Majuskelhandschrift (3.–9. Jhdt.) 18–20 Malerei 129, 301f. Malle, B. (Psychologe) 201f. Marx, K. (Philosoph) 295 Marxsen, W. 68 Mediävistik (Mittelalterforschung) 14 Medienwirkungsforschung 238–255 Mehrheitstext ( ) (vgl. Textus Receptus) 22 Meinung (Rezipient) (vgl. auch kognitive Schemata, Erzählerstandpunkt) 253f. memoria (Rhetorik) 121, 299 Menschenkenntnis s. Alltagspsychologie mentales Lexikon (Semantik) 276 mentales Modell der Figuren s. Figur Merismus (Stilfigur) 124, 126 Metapher 8, 124, 136, 152f., 166–168 Metaphernsignal 168 Methode 1–11 – Methoden als Werkzeugkasten 5f. – historisch-kritische Methode s. dort – implizites Methodenlernen 3 – latentes/explizites Methodenwissen 2, 5 – Methodenbücher 6–9 – Methodenkanon 6–9, 105

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Anhang

Metonymie (Stilfigur) 124 Metrum/Metrik 127f. minor character s. Nebenfigur Minuskelhandschrift (9.–15. Jhdt.) 18, 20f. – Minuskel 461 (835 n.Chr.) 20 – Minuskel 2427 (Fälschung) 20f. – Minuskelfamilien (f 1, f 13) 20 Mitte der Schrift (vgl. auch thematische Analyse) 285 Modus (Erzählperspektive) s. Erzählmodus Modus (Verb) 113 modus inveniendi/proferendi 294 Mommsen, Th. 263f. Motiv (Handlungselement) 92 Motivationspsychologie 79 Motive (der Textrevision) 63, 79f. Motivgeschichte (vgl. Traditionsgeschichte) 8f., 133f., 149 move (Teil der Predigt) s. dramaturgische Homiletik Muilenburg, J. 120 Mündlichkeit s. Überlieferungsgeschichte, Verschriftlichung Münzkunde 148 Mystifizierung 79f. N Nacherzählung 297–306 Nachvollziehbarkeit 1 narrativ – narrative Analyse (s. auch Narratologie) 6, 8, 173 – Narrative Criticism 173 – narrative Ethik 253, 291f. – narrative Predigt s. Predigt Narratologie 5, 8f., 105, 130–132, 137–139, 173–258, 296 – kognitive N. 5, 8f., 130–132, 137–139, 173–176, 177–258 – postklassische N. 303 – strukturalistische N. s. Strukturalismus Nebenfigur 181, 205f. Nebenhandlung 223 negativer Apparat (Textkritik) 16 Nestle-Aland (Textausgabe) s. Novum Testamentum Graece „Neuer Wettstein“ (Quellensammlung) 135, 142 New Criticism (Literaturtheorie) 173f. New Quest (Leben-Jesu-Forschung) 261f.

Novum Testamentum Graece (NTG28) 15– 26, 141 Numismatik (Münzkunde) 148 Nünning, A. (Anglist) 185–191

O Onomasiologie (Bezeichnungswandel) 281 Original (Handschrift) 14 Ort s. Raum P Palimpsest (ältere Handschrift wurde radiert) 20 Papyrushandschrift 13f., 18f. – Bodmer-Papyri 19 – Chester-Beatty-Papyri 19 – Papyrus 52 13f., 18f. Parabel s. Gleichnis Paradoxie (Stilfigur) 124 „Parallelen“ (Textinterpretation) 151–172 Parallelismus membrorum (Stilmittel) 59, 125f. Parallelmontage (Filmwissenschaft) 230 Parallelomanie (unkritisches Sammeln von Paralleltexten) 98, 151f. Paränese (Gattung) 93 parataktischer Stil (MkEv) 76, 126 Paratext 96 Parodisierung 79f. Paronomasie (Stilfigur) 123 Pars pro toto (Stilfigur) 124 Parteienkonflikt 207, 220 Partikeln (Grammatik) 115 Partitur (Musik) 106 Passivum divinum (Stilfigur) 124 Passung (Kriterienbereich) 155 Passungsplausibilität 267 Performanzgeschwindigkeit 215 Performanzkritik 297 Perikope (Textabschnitt) 21, 110 Person (im Text) s. Figur Personifikation (Stilfigur) 124 Persönlichkeitskern (Figur) 203 Perspektive s. Erzählperspektive Perspektivenstruktur 178f., 187–189, 203 perspektivische Interaktion 178f., 189–191 Persuasionsforschung 253–255 Peschitta (syrische Übersetzung) 21 Pfister, M. (Anglist) 165

Literatur, Sach- und Personenregister Phantasiearbeit (vgl. Kopfkino) 129f. phantastische Literatur 260, 266 philologisches Interesse 7 pictograph (Textgliederung) 107 Plagiat 57, 281 Plot map (Handlungskarte) 219–225 pm (permulti: viele Handschriften) 22 Pointe (Gleichnis) 251f. Pointe (Witz) 291 Poldi (Hallo Spencer) 36f. Polysyndese (Stilfigur) 125 positiver Apparat (Textkritik) 16 postklassische Narratologie s. Narratologie, postklassische postkoloniale Exegese 8, 292 postmoderne Literaturtheorie 164 Poststrukturalismus 164f. Posttext (der spätere Text, der einen Prätext aufnimmt) s. Prätext POZEK-Schlüssel (Methode der Bibellektüre) 138, 248 Prädikat (Grammatik) 113 praesens historicum 76 Pragmatik (s. auch Entstehungskontext, Textnachwirkung) 8f., 43, 105, 238 Praktische Theologie (vgl. Bibeldidaktik) 7, 246f., 294–306 praktisches Interesse 7–9, 139 Präskript (Briefanfang) 96f. Prätext (mündliche oder schriftliche Vorüberlieferung, die im Text aufgenommen wird) 53f., 55–67, 69, 136, 152–171, 295 – Vorher-Nachher-Beziehungen 56 Predigt 7f., 226, 246f., 250, 258, 294–299 Primäreffekt (Gedächtnisforschung) 161, 188f., 202 Primärquellen 140, 146–148 Priming (Wortbedeutung) 154f., 160f. pro textu (textkritischer Apparat) 16 Produktionsästhetik s. Textproduktion Prolepse (Vorausschau) 217–219 Prolepsis (Stilfigur) 125 Proömium (Briefanfang) 96f. Proposition (Linguistik) 116f. Propp, V. 92 Protagonist s. Hauptfigur Prototypensemantik (Linguistik) 158, 175 Proseminararbeit s. Seminararbeit prozessuales Wissen s. Skript

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Pseudepigrafie (falsche Verfasserangabe) 21, 45, 126f. Psychologie s. Alltagspsychologie, Kognitionspsychologie, Figurenwahrnehmung Q Q (Quelle) s. Logienquelle Quellen 6, 8, 52–84, 140–148, 151–172 – Quellen- und Einflussforschung 68 – Quellenauswahl 152–163 – Quellengedächtnis 153 – Quellenkritik (Geschichtswissenschaft) 263 – Quellenmangel (vgl. Fragmentarität) 42, 48 – Quellen-Stammbaum s. Stammbaum der Quellen Quintilian, M.F. 120f. R Rahmenerzählung 95 Randfigur 206 Ranke, L. von 259 Rationalismus (Theologie) 260 Rätselspannung 243 Raum (in der Erzählung) 145, 176, 228– 235 Raumdarstellung 61, 229f. Raumschiff Enterprise (Beispiel) 41f. Raumwahrnehmung 45–47, 145 Realien 9, 134, 142f., 149 Redaktion – Redaktionsanalyse 8, 54, 63, 68–84, 151 – Redaktionsgeschichte (s. auch Redaktionsanalyse) 6–9, 68–71, 238, 261f. – Redaktionskritik (Begriff) 68 Redebericht 182 Redegattungen 121 Redestil s. Sprachstil Reich-Ranicki, M. (Literaturkritiker) 286 Reim 127f. Reimarus, H.S. 260 Rekognition (Gedächtnisforschung) 154 Rekurrenz (Wiederaufnahme eines Begriffs im Text) 35f. Relecture 77f. Religionsgeschichte 6, 8f., 132f., 149 Religionsgeschichtliche Schule 132 Religionsunterricht s. Bibeldidaktik Revisionsforschung s. Textrevision

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Anhang

Rezension 284–293, 301 Rezenzeffekt (Gedächtnisforschung) 161, 188f., 202 Rezeption – Rezeptionsästhetik 135, 238 – Rezeptionsemotionen 244–246 – Rezeptionserwartungen s. Frames/ Skripts – Rezeptionsgeschichte s. Wirkungsgeschichte – Rezeptionsstrategien 36 Rezipient, intendierter (mentales Modell des Autors von seinen Adressaten; vgl. Leser, kognitive Wende) 31, 62, 152f. Rhetorik/rhetorische Exegese 90, 120– 122, 297–299 – Rhetorical Criticism 120–122 – rhetorische Frage 124 round character s. Figur, flach/rund Rushdie, S. (Autor) 87 Ryan, M.-L. 219–221, 227, 232f. S Sachbuch (Gattung) 86 Sachkritik s. alethische Kritik sahidisch (koptischer Dialekt) 21 Salienz (Auffälligkeit) 161 salutatio (Gruß am Briefanfang) 96f. Sandmel, S. 151f. Satire (Gattung) 94 Satz (Definition) 113f. Satzmuster/Satzbauplan 113–115 Schaufigur 206 Schauplatz 229, 231 Schemaliteratur 211 Schemata s. kognitive Schemata Schlagwort (Tag, Indexerstellung) 277 Schleiermacher, F.D.E. 279 Schlüsselwort (Keyword, Textsuche) 276 Schlussfolgerungsprozesse (vgl. Emergenz) 130–132, 135–139, 152, 166– 168, 196 Schneider, W. (Journalist) 119 Schnelle, U. 271, 280f. Schreiben – Schreibfehler 29, 33, 80 – Schreibkompetenz 64, 79 – Schreibmotivation 79 – Schreibprozessforschung (vgl. auch Textrevision) 68, 79f. – Schreibstil s. Sprachstil

Schreiber, St. 170f. Schriftbeweis s. AT-Zitate Schriftlesung im Gottesdienst 297 Schweitzer, A. 260 Screening (Text durchsuchen) 274–276 script s. Skript secondary orality (ein schriftlicher Text durchläuft erneut eine mündliche Überlieferungsphase) 56 Sekundärquellen 140–146 Selektivität 159, 163, 169 Semantik (Bedeutungslehre) 7–9, 105, 130–133, 137–140, 155–168, 276 – kognitive Semantik s. dort – semantische Analyse 7–9, 43, 133f., 149 – semantisches Inventar (Themen) 274 – semantisches Priming 154f., 160f. – Semasiologie (Bedeutungswandel) 281 Seminararbeit 8, 294f., 306–313 semiotisches Quadrat 212, 274, 277 Semitismus (semitische, d.h. hebräische oder aramäische Formulierung im griechischen Text) 32 Septuaginta 1, 14 Setting s. Schauplatz, Raum Sieben Freie Künste (septem artes liberales) 120 Sigel/Siglum, Pl. Sigla (Abkürzung im textkritischen Apparat) 21f. Sinnlinie (Themencluster) 274 Situationsanalyse s. Entstehungskontext Sitz im Leben (die Überlieferungssituation eines mündlichen Textes; vgl. Entstehungskontext) 77, 88f. Skirl, H. (Linguist) 167 Skript (s. auch Frame) (Begriff aus der Kognitionswissenschaft: Vorstellung davon, wie etwas abläuft = prozessuales Vorwissen) 31, 62, 100, 130–132, 134–172, 174f., 196, 211f., 219–225 Skriptorium (Schreibstube im Kloster, wo Handschriften abgeschrieben wurden) 32f. slot (kognitive Semantik) 138 Sohn-Gottes-Titel (Mk 1,1) 25f. sola scriptura (Schriftprinzip) 290 Solözismus (Sprachstil) 126 Sondergut (Zweiquellentheorie) 55 Songtext (vgl. Hymnus, Filmmusik) 52, 127f., 300

Literatur, Sach- und Personenregister sozialgeschichtliche Analyse 7, 9, 133, 144, 242 Sozialpsychologie 238, 241f. Spannung (suspense) 134, 242f. Spannung (tension) s. Kohäsion Spielplan (plot map) 219–225 „sprachliche Analyse“ (Begriff in Methodenbüchern) V, 105, 149 Sprachprofiling (Forensik) 126 Sprachstil(analyse) 46, 58f., 76, 80, 95, 112, 119–127, 313 Sprechakttheorie 238 Stammbaum 12, 28f., 34 – Stammbaum der Handschriften 28f., 34 – Stammbaum der Quellen 12, 55, 64f. ständige Zeugen (Handschriften) 15 Stanzel, F.K. 183 Stemma s. Stammbaum stereotype Figur s. Figur Stichwortkomposition 75 Stil/Stilistik 104, 119–127 – quantitative Stilistik 127 – Stil eines Autors s. Sprachstil – Stilanalyse s. Sprachstil – Stilkritik 126f., 287–289 – Stilmittel 8f., 59, 122–126 Stoff- und Motivgeschichte 272 story/discourse-Unterscheidung („Was“ und „Wie“ der Erzählung) 105, 178f. Stuhlmacher, P. 170f., 272 Strack-Billerbeck s. Billerbeck Strauß, D.F. 260, 262 Strukturalismus (literaturwissenschaftliche Theorie) 9, 92, 103f., 173f., 196, 205– 207, 211–219 Subjekt (Grammatik) 113f. Summarium (Raffung oder iterative Erzählweise) 217 superscriptio (Briefanfang) 96 Supranaturalismus 260, 262 symbuleutische Gattungen 90 Sympathie 241f. Synopse (Zusammenschau) 68, 72f. synoptische Evangelien 72f. synoptischer Vergleich (vgl. Literarkritik) 57, 72f., 161 Syntax s. Satzmuster Systematische Theologie 7, 270–272 systematisches Interesse 7–9, 270–283 Szene (Erzählabschnitt) 223 Szene (Erzählgeschwindigkeit) 216

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T Tag/Tagging (Schlagwort) 273–277 Tatort (Krimi) 195 Tel Quel (Zeitschrift) 165 Tempus (Grammatik) 113 terminus ad/ante quem (Zeitpunkt, vor dem etwas datiert wird) 48 terminus post quem (Zeitpunkt, nach dem etwas datiert wird) 48 tertia comparationis s. Vergleichspunkte Testimonial (Kommentar einer glaubwürdigen Instanz) 241f. Textänderung s. Textrevision Textbestimmung (die Textfassung, die man untersuchen möchte, herausarbeiten; hier = Textkritik) 14 Textbewertung 284–293 Texteingriff s. Textrevision Texterklärung (vgl. kognitive Semantik, Frame, Skript) 70f., 129–235 – Definition Bedeutung, Interpretation 132 Textgliederung s. Gliederung Textkritik 6–9, 12–40, 69 – äußere Bezeugung 14, 22–24 – genealogische Kohärenz 24 – innere Kriterien 14, 27–40 – textkritischer Apparat 15–22 – textkritische Zeichen 17, 29, 72 Textlinguistik (vgl. Kohäsion/Kohärenz) 7f., 34–37, 113–119 Textnachwirkung 8f., 121–125, 175, 236– 258 – kurzfristige T. 237, 239–246 – langfristige T. 237, 246–255 Textproduktion/textproduktionsbezogene Fehler (vgl. Schreibprozessforschung) 63f., 68 Textrevision (vgl. Schreibprozessforschung, Textlinguistik, Kognitionspsychologie) 27–32, 54, 63f., 68f., 73–80, 84 – Motive für T. 27f., 63 Textstruktur 7–9, 85–128, bes. 103f. Textthema/-themen 275 Texttrenner (vgl. Gliederung) 108 Textus Receptus (Textfassung des NT von Erasmus von Rotterdam) 22 Textvariante 12–40 Textwelt („Welt“, die im Kopf des Lesers entsteht) s. erzählte Welt Textwirkung s. Textnachwirkung

328

Anhang

Theißen, G. 92 Thema 270–283 – Definition 275 – Thema-Rhema-Gliederung 272 – thematics (Themenanalyse) 272f. – thematische Analyse (s. auch Thematologie, Theologie eines Autors) 47, 93, 270–283 – Thematologie 270–283, bes. 272f. – Themencluster 274 – Themenwechsel 60, 93 Theologie eines Autors (s. auch thematische Analyse) 7–9, 43, 70f., 270f. theologische Kritik 285, 290 Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) 143, 152, 159 Thesaurus Linguae Graecae 146 Third Quest (Leben-Jesu-Forschung) 261f. Thompson Studienbibel 277 tiefenpsychologische Interpretation 250 Tiefenschärfe (historische Rekonstruktion) 265f. Tiefenstrukturen (der Erzählung) 212 Titelei (Paratext) 44 „Tod des Autors“ (R. Barthes) 164, 174 Toulmin, St.E. 119 Tradition s. Überlieferung Traditionsgeschichte 6, 8f., 57, 238 – Begriff mehrdeutig 134 – als Motivgeschichte s. dort – als Überlieferungsgeschichte s. dort transponierte Rede 182 trivium (Rhetorik, Grammatik, Dialektik) 120 Troeltsch, E. 262 Tropus/Tropen (Stilistik) 122–124 Turiner Grabtuch 259 Twitterwall 306 U/Ü Überlieferung (vgl. Prätext) 53–67 Überlieferungsgeschichte 6, 8f., 57, 70, 88f. Überschrift 96 Übersetzungen des NT 13, 18, 21f. – Einheitsübersetzung 13 – Elberfelder Bibel 13 – King James Version 22 – nach Martin Luther 22 – Schlachter-Bibel 13, 22 – Übersetzungsvergleich 9

überzeugen/Überzeugung (vgl. auch Vorwissen, Frame, Skript) 254f. unbeteiligter Erzähler/Beobachter s. Beteiligung unzuverlässiger Erzähler s. Erzähler Ursachen (für Textänderungen) 63f. Urtext 14, 26 V Vaterunser (Textkritik) 13f., 16–18, 30–32 vaticinium ex eventu (Prophezeiung, die einer historischen Person in den Mund gelegt und erst nach Eintreffen des Ereignisses aufgeschrieben wurde) 50 verbum credendi/dicendi 183 Vergleichspunkte 168, 250–252 Verhalten (einer Figur) s. Figurenmerkmale Verhaltensänderung (Rezipient) 253–255 verifizieren s. falsifizieren Verknüpfungsstärke (vgl. Gliederung) 108f., 223f. Vermündlichung 56 Verschriftlichung 53, 56 Vers-für-Vers-Interpretation (s. Texterklärung) 130, 132, 135–139, 168f. Versionsgeschichte 68f. Verständlichkeit (eines Textes) 289, 301, 313 Verstehensfragen 135–139 Verstehenshorizont/-schemata s. kognitive Schemata Versuchung Jesu 137 Verszählung der Bibel 110 Vertonung 302 VIP (very important pre-texts) 157 virtuelles Ereignis s. Ereignis Vorgeschichte (des Textes) 52–67 Vorlage (des Textes) s. Quelle Vorverständnis s. Vorwissen Vorwissen (s. auch Frames/Skripts, Kognition/kognitiv) 31, 104, 130–166, 174f., 220f. Vorzugsvokabular (s. auch Sprachstil) 59, 80, 126f., 313 W Wahrheitskritik s. alethische Kritik Wahrnehmungspsychologie s. Kognitionspsychologie

Literatur, Sach- und Personenregister Wahrnehmungszentrum (vgl. Erzählerkamera) 87, 179, 181, 184f. Wahrscheinlichkeit (der eigenen Ergebnisse, vgl. Fragmentarität) 70, 163 werkimmanente Interpretation 174 Wettstein, J.J. 19, 135 White, H. 95, 259 Wiederholung (vgl. Dublette) 58f., 63 Wikipedia 68f., 143 Wir-Erzähler 179, 181 Wirkungsgeschichte (vgl. Textnachwirkung) 69, 145f., 149, 155, 162, 237f., 267 Wirkungsplausibilität 261f., 267 Wissen s. Vorwissen, Frame, Skript Wissensmanagement 3 Wortarten/Wortformen 111–113

329

Wortbedeutung s. semantische Analyse Wortwolke 273f. Wundergeschichte (Gattung) 89, 93f. XYZ Xavier Naidoo (Sänger) 52 Zeh, J. (Schriftstellerin) 284 Zeit- und Sozialgeschichte 133f., 144, 149 Zeitangaben 61 Zensur (Texteingriff) 27 Zitat (vgl. AT-Zitate) 54, 56f., 59, 69 zitierte Rede 182 Zoom (Filmwissenschaft) 230 Zusammenschau s. Synopse Zweiquellentheorie 55, 70, 74

330

Bildnachweis

Bildnachweis Seite und Bildquelle 2 13 19 20 36 41 85

103 129 177 211 228 236 249 259

273

284

Navigationssystem Navigon 40 Easy. Bernard Grenfell (1920), mit freundlicher Genehmigung der John Rylands Library. The S. S. Teacher’s Edition: The Holy Bible. New York 1896. S. P. Tregelles: An Introduction to the Textual Criticism of the New Testament. London 1856. www.hallo-spencer.de/home/episoden/picsguide/274.jpg (T. Zywietz, © worxplus) (14.07.2016). Star Trek, Episode 3 (1968–1969), i300.photobucket.com/albums/nn13/etmassey/ star-trek-cast.jpg (14.07.2016). Cover: © 2014 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, Lahm, P., Der feine Unterschied, ISBN 978-3-426-78610-9. Text: Mit freundlicher Genehmigung der Augsburger Allgemeinen Zeitung (Sportteil), 24.08.2011, Autor: Franz Neuhäuser. Wollknäuelflashmob, 30. April 2010, Freiburg im Breisgau, stand still aus www.fudder.de (14.07.2016). Sigmund Gleismüller: Enthauptung Johannes des Täufers. Pierre Genée: Wiener Synagogen 1826-1938. Wien 1987. 46. www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/36208832/3/data.jpg (14.07.2016). Bühnenbild Stadttheater Grein, https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Bühnenbild_Stadttheater_Grein.jpg, © Greiner 123 (14.07.2016). https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9e/Metro_Kino_Wien.jpg, © Otto Normalverbraucher. D. Marguerat/Y. Bourquin: How to Read Bible Stories. An Introduction to Narrative Criticism. London 1999. 67. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/23/Turin_shroud_positive_ and_negative_displaying_original_color_information_708_x_465_pixels_94_KB.jpg, © Dianelos Georgoudis. Aus: Martin Wolters: Bibelclouds. Die Bibel anders sehen. © Verlagsgruppe Patmos der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2014. 2. Auflage. 127. www.verlagsgruppe-patmos.de. Cover: © Luchterhand Literaturverlag in der Verlagsgruppe Randomhouse, 2016. Mit freundlicher Genehmigung. Text: Jörg Magenau: Die Landidylle, in der Gewalt alltäglich ist. Süddeutsche Zeitung, 21.03.2016. © Süddeutsche Zeitung.

Trotz aller Bemühungen konnten nicht alle Rechteinhaber ausfindig gemacht werden. Berechtigte Anspruchsinhaber können sich gern an den Verlag wenden.

Christian Danz

Systematische Theologie utb basics 2016, 334 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4613-6

Die Systematische Theologie gehört zu den grundlegenden Fächern des akademischen Studiums der Evangelischen Theologie. Der Band bietet eine elementare Einführung sowie einen Überblick über das Fach, seine innere Gliederung und wichtige Themen für Theologiestudierende in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen. Ohne Spezialkenntnisse vorauszusetzen, schlägt das Lehrbuch einen Bogen von Alltagsphänomenen zu deren religiöser Deutung und erschließt auf diese Weise grundlegende theologisch-dogmatische Probleme in ihrem Zusammenhang.

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Kurt Erlemann, Thomas Wagner

Leitfaden Exegese utb M 2013, 168 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4133-9

Die historisch-kritische Analyse biblischer Texte ist die Grundlage des Studiums der Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Im Zuge ihrer Erforschung bildete sich ein Methodenkanon aus, der eine wissenschaftlich gesicherte Auslegung der biblischen Texte in ihrem historischen Kontext ermöglicht. In diesem Band werden alle Methoden der Textarbeit erläutert und an Beispielen vorgeführt. Der ‚Leitfaden Exegese’ wendet sich ausdrücklich sowohl an Studierende der universitären Lehramts- und BA-Studiengänge als auch an Teilnehmer der Angebote der Erwachsenenbildung, die biblische Schriften historisch-kritisch auslegen möchten, jedoch die Texte in ihren Ursprachen (Hebräisch und Griechisch) nicht oder nur eingeschränkt lesen und verstehen können.

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Kurt Erlemann, Irmgard Nickel-Bacon, Anika Loose

Gleichnisse, Fabeln und Parabeln utb S 2014, 220 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4134-6

Dieser Band überwindet das bisherige Nebeneinander der Gleichnisforschung in Exegese, Literaturtheorie und Religionspädagogik. Die Gattung der Gleichnisse wird disziplinenübergreifend von den biblischen Erzählungen bis zu den Parabeln des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Formkritische Fragen sind dabei ebenso leitend wie die Analyse unterschiedlicher Auslegungsmethodiken sowie Anwendungsmöglichkeiten in der literaturdidaktischen und religionspädagogischen Praxis.

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Matthias Luserke-Jaqui

„Ein Nachtigall die waget“ Luther und die Literatur

2016, 239 Seiten €[D] 32,80 ISBN 978-3-7720-8590-1

Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektionsfläche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Einfluss sie vorwegnehmend für die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker.

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Martin H. Jung

Kirchengeschichte utb basics 2014, 304 Seiten €[D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4021-9

Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben werden, die das Christentum als Religion unter Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wirkungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläutert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Musterklausuren, Glossar und Register komplettieren den Band.

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Melanie Köhlmoos

Altes Testament utb basics 2011, 334 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-3460-7

Das kompakte Lehrbuch bietet Theologiestudierenden in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen, die das komplexe Fach Altes Testament in wenigen Lehrveranstaltungen erfassen müssen, einen Gesamtüberblick über Entstehung, Geschichte und Theologie des Alten Testaments. Die verständliche Einführung in die historischen, literaturwissenschaftlichen und theologischen Grundlagen der alttestamentlichen Wissenschaft setzt keine bibelwissenschaftliche Vorbildung oder Kenntnisse der alten Sprachen voraus und nimmt immer auch die spätere Berufspraxis der Studierenden in Schule oder Gemeinde in den Blick.

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Stefan Alkier

Neues Testament utb basics 2010, 325 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-3404-1

Den Theologiestudierenden in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen stehen für den Erwerb der nötigen Grundkenntnisse im Fach Neues Testament in der Regel nur wenige Lehrveranstaltungen zur Verfügung. Zugeschnitten auf dieses Zielpublikum bietet das durch ein OnlineLernportal ergänzte Lehrbuch eine Einführung in die historischen, literaturwissenschaftlichen, hermeneutischen und theologischen Grundlagen der neutestamentlichen Wissenschaft. Ein Band, der elementarisiert, aber nicht simplifiziert, wissenschaftlich up to date ist und der keine bibelwissenschaftliche Vorbildung oder Kenntnisse der Alten Sprachen voraussetzt. Historische, theologische und gegenwartsorientierte Fragestellungen verbinden sich zu einem schlüssigen Konzept.

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Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an Herausgegeben von PD Dr. theol. Stefan Fischer und PD Dr. theol. Thomas Wagner in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. theol. Melanie Köhlmoos

Die neue Zeitschrift Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an setzt sich zum Ziel, die Diskussion über eine fachspezifische Hochschuldidaktik in den Bibelwissenschaften zu eröffnen und voranzutreiben. Aus dieser Diskussion heraus soll die Qualität der Vermittlung exegetischer Methoden reflektiert und gestärkt werden. Damit füllt die Zeitschrift die Lücke innerhalb der theologischen Literatur, da sie exegetische Forschung und deren Vermittlung miteinander ins Gespräch bringt. Die Themenhefte bieten praxisnahe Beiträge zu spezifischen Themen und Herausforderungen in Lehre und Unterricht. Handreichungen zur Gestaltung und Durchführung von Veranstaltungen werden im Heft, aber auch digital gegeben.

Ihre Zeitschrift für zukunftsweisende didaktische Ansätze in den Bibelwissenschaften. | 112 Seiten | Einzelpreis €[D] 28,00 | | ISBN: 978-3-7720-8598-7 | ISSN: 2366-0597 |

2016 | Heft 1: Perspektiven bibelwissenschaftlicher Hochschuldidaktik 2016 | Heft 2: Das exegetische Proseminar

Mehr Informationen auf: www.theologie.francke.de !

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ [email protected]\www.francke.de Stand: Mai 2016 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten!

Theologie

Die Methoden der neutestamentlichen Bibelauslegung haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Neben die traditionellen Schritte der historisch-kritischen Methode sind neuere Ansätze aus Linguistik, Literaturwissenschaft oder Psychologie getreten. Im vorliegenden Band wird die vielfältige Praxis der Bibelexegese methodisch aufgenommen und in ein gut zu merkendes, integratives Gesamtmodell der Textauslegung überführt. Studierende erhalten so das grundlegende ‚Werkzeug‘ für den wissenschaftlich reflektierten Umgang mit biblischen und anderen Texten. Ein Buch zum Lernen, Lehren und Arbeiten, didaktisch aufbereitet, wichtig für das gesamte Studium, aber auch für die Zeit danach. „Dieses Methodenbuch ist ein wertvoller Baustein zu einer neuen exegetischen Hochschuldidaktik, die Studierende motivieren und zur Exegese befähigen kann.“ Prof. Dr. Gerd Theißen „Ein Lehrbuch, das auf innovative Weise ‚klassische‘ und ‚neuere‘ Methodenschritte in ein Gesamtsystem der Textanalyse überführt.“ Prof. Dr. Hans-Joachim Eckstein

Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8252-4212-1

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