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German Pages [173] Year 2017
THEOLOGIE KOMPAKT Professor Dr. Thomas Hieke ist seit 2007 Professor für Altes Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (FB 01, Katholisch-Theologische Fakultät, Abteilung Altes Testament). Dipl.-Theol. Benedict Schöning ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (FB 01, Katholisch-Theologische Fakultät, Abteilung Altes Testament).
THEOLOGIE KOMPAKT
Thomas Hieke/Benedict Schöning unter Mitarbeit von Sonja Dussel und Franziska Rauh
Methoden alttestamentlicher Exegese
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandabbildung: Wassily Kandinsky, Kreis im Kreis, 1923 (Philadelphia, Museum of Art) [http://www.wassilykandinsky.net/] Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26877-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74233-2 eBook (epub): 978-3-534-74234-9
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gebrauchsanleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Vorüberlegungen und Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.Vorüberlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.Vorbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Textsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Präsentation des Textes in Äußerungseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.Text- und Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontextbildende Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Aussagegehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.Wirkgehalt: Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 V. Texttypik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.Typik des sprachlichen Ausdrucks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.Gattungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik) . . . 4. Überlieferungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Redaktionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 113 118 122 130 133
VI. Kontexteinbettung und Biblische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontexteinbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biblische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.Weitere Kontextualisierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Zusammenfassende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
Vorwort Um zu lernen, wie man biblische Texte auslegt, muss man genau das tun: biblische Texte auslegen. Es reicht nicht, sich das Wissen über Methoden anzueignen oder anderen bei ihrer Methodenanwendung zuzuschauen. Das heißt aber auch, dass man nicht lehren kann, biblische Texte auszulegen. Aus diesem Grund ist das vorliegende Buch ein Lernbuch: Der noch neue Begriff will auf das didaktische Konzept dieses Buches hinweisen. Das Lernbuch vermittelt jenes Wissen, das nötig ist, um eine exegetische Methode anwenden zu können. Somit dient das Lernbuch vornehmlich zur Vorbereitung auf entsprechende Sitzungen einer exegetischen Lehrveranstaltung (Proseminar Altes Testament). Die Kontaktzeit in der Lerngruppe kann dann dazu genutzt werden, die Methoden am eigenen Text zu üben. In der Nachbereitung und beim eigentlichen Abfassen einer exegetischen Arbeit kann man sich anhand des Lernbuchs nochmals einzelner Methodenschritte vergewissern. Später in der beruflichen Praxis, bei der Erschließung eines alttestamentlichen Bibeltextes für eine Predigt, für die Katechese, den Religionsunterricht, die Gemeindearbeit usw. oder beim Verfassen eines wissenschaftlichen Artikels kann das Lernbuch gute Dienste dabei leisten, sich an die methodische, schrittweise und dadurch ertragreiche Vorgehensweise zu erinnern. Grundsätzlich ist das Lernbuch auch zum Selbststudium ohne Begleitung durch das exegetische Proseminar geeignet, aber nicht primär daraufhin ausgelegt. Das Lernbuch ist ein pragmatischer Ansatz, um Studierende der Theologie in der Einstiegsphase und andere an der Sache Interessierte an eine auf diesem Level leistbare methodengeleitete Exegese alttestamentlicher und vergleichbarer Texte heranzuführen. Deswegen findet keine Theoriereflexion oder gar Theoriebildung im methodologischen Sinne statt. Kenntnisse der hebräischen und griechischen Sprache werden grundsätzlich nicht vorausgesetzt; in aller Regel wird mit gängigen deutschsprachigen Übersetzungen gearbeitet. Vereinzelt finden sich Hinweise, wie man mit Kenntnissen der alten Sprachen weitere Beobachtungen zum Text machen kann. Durch dieses Konzept ist der Weg einerseits offen für einen fundierten Umgang mit der Bibel in der Praxis, andererseits für die weitere Vertiefung in der Bibelwissenschaft. Das hier vorgestellte Programm speist sich aus mehreren Wurzeln (u.a. die Arbeiten von Wolfgang Richter, Erich Zenger, Hubert Irsigler, Georg Steins, Christoph Dohmen, Thomas Hieke). Eine praktikable Verknüpfung dieser Ansätze versucht das Lernbuch zu vermitteln und anwendbar zu machen. Bewährt und geschärft hat sich das Konzept seit 2000 in zahlreichen Proseminaren mit den Lehrenden Thomas Hieke, Monika Müller und Benedict Schöning. Alle diese Erfahrungen sind in ein Grundgerüst des Lernbuchs eingeflossen, das im Sommersemester 2016 in einem exegetischen Proseminar
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Vorwort
intensiv getestet wurde. Die Rückmeldungen der Studierenden wurden von den studentischen Hilfskräften Sonja Dussel und Franziska Rauh erfasst und ausgewertet. Beide haben zudem ihre eigenen Ideen und wertvolle Vorschläge eingebracht. Im Viererteam wurden die Probleme besprochen, Verbesserungen erstellt und in das Lernbuch eingearbeitet. Ein besonderer Dank gilt Dr. Andrea Klug für präzise Korrekturvorschläge und hilfreiche Anregungen. Thomas Hieke und Benedict Schöning
Gebrauchsanleitung Die Methodenschritte müssen mehrfach geübt werden, bis man sie beherrscht und ein Wissen um ihre Leistungsfähigkeit erwirbt. Dann wird sich das Erfolgserlebnis einer neuen Einsicht in den Text einstellen. Zur erfolgreichen Einübung ist der Austausch mit lehrenden Personen oder anderen Lernenden sinnvoll und hilfreich. Die Methodenschritte sind in der angegebenen Reihenfolge zu bearbeiten. Es kann aber sehr gut sein, dass man bei den früheren Schritten Beobachtungen macht, die erst zu den späteren Schritten passen – dann notiert man sich diese Beobachtungen, führt sie aber erst näher aus, wenn der methodisch sinnvolle Ort gekommen ist. Umgekehrt kann man bei späteren Schritten zu Erkenntnissen kommen, die es erfordern, eine frühere Analyse punktuell zu revidieren und zu überarbeiten. Voraussetzung ist in jedem Fall eine Vertrautheit mit allen Methodenschritten und daher deren Einübung. Die den Beispielen zugrundeliegenden Bibeltexte müssen gelesen werden. Daher sollte bei der Arbeit mit diesem Lernbuch eine aufgeschlagene Bibel ständiger Begleiter sein. Darin blättert man die Stellen und am besten noch ihren Kontext direkt nach. In den Beispielen wird in der Regel nur wenig mit Sekundärliteratur gearbeitet, um die Ausführungen überschaubar zu halten. Für eine wissenschaftliche Hausarbeit ist dennoch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur nötig. Auch die Zitationsweise ist in den Beispielpassagen nicht „vorbildlich“, sondern pragmatisch an das Format dieses Lernbuches angepasst. In exegetischen Hausarbeiten muss mit einem üblichen Zitations- und Bibliographiesystem gearbeitet werden. Inhaltlich sind die Beispiele Deutungen der Bibeltexte im Horizont der jeweils vorgestellten Methode. Prinzipiell sind an diesen Stellen immer auch andere methodisch begründete Ergebnisse vorstellbar. Was unter der Überschrift Beispiel farbig unterlegt steht, ist so formuliert, dass die Darstellung auch in einer exegetischen Ausarbeitung stehen könnte. Nicht farbig unterlegte Teile in diesen Abschnitten dienen demgegenüber als Erläuterungen. Als Begleitmaterial zu diesem Lernbuch werden zwei Musterhausarbeiten von der WBG online zur Verfügung gestellt, die über den QR-Code auf der hinteren Umschlagseite dieses Buches oder über die URL wbg-wissenverbin det.de/exegese zu erreichen sind. Diese Musterhausarbeiten folgen den Methoden im Lernbuch und wählen sie für einen konkreten Text aus, auf den sie dann angewendet werden. Bisweilen finden sich im Lernbuch Begriffe mit einem hochgestellten W (z.B. QumranW). Sie können online im Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) nachgeschlagen werden.
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Gebrauchsanleitung
Das Literaturverzeichnis (fi S. 168ff.) listet aus Platzgründen nur die Titel auf, die wir für die primäre Zielgruppe als hilfreich erachten und die wir am häufigsten für das Lernbuch herangezogen haben. Zudem ist zu beachten, dass Standardwerke, die nur für einen bestimmten Methodenschritt einschlägig sind, am jeweiligen Ort im Lernbuch, nicht aber im Literaturverzeichnis genannt sind. Kurztitel werden am Kapitelende oder im Literaturverzeichnis aufgelöst.
I. Vorüberlegungen und Vorbereitung Überblick
I
n den Vorüberlegungen gilt es, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu reflektieren: Was ist überhaupt ein geschriebener Text? Was ist Exegese, und wozu braucht man sie? Sobald man feststellt, dass es keineswegs für alle eindeutig ist, was da geschrieben steht, muss man methodisch an die Sache (genauer: den Text) herangehen. Bei einem so wichtigen Textkonvolut wie der Bibel, mit der vieles in unserer Kultur
und Gesellschaft zumindest indirekt verbunden ist, sollte man nichts dem Zufall überlassen und daher mit wissenschaftlichem Ernst und entsprechendem Aufwand vorgehen. Um das zu gewährleisten, ist methodisches Arbeiten unerlässlich. Es gilt, Analysen Schritt für Schritt durchzuführen, die Ergebnisse zu sortieren und unter Berücksichtigung von Fachliteratur darzustellen.
1. Vorüberlegungen Was ist ein Text? Zitat „Ich schließe dieses Kapitel, wie jeder Indier sein Buch anfängt: Gesegnet sei, wer die Schrift erfand!“ (Jean Paul: Levana, Kapitel 58)
Der geschriebene Text ist eine faszinierende Erfindung der Menschheit. Ungeahnte Möglichkeiten eröffnen sich: Bei der Grundform der menschlichen Kommunikation (A spricht zu B) müssen beide, Sprecher A und Hörer B, zeitgleich am gleichen Ort sein. Mit dem Telefon kann man immerhin den Raumzwang aufheben – aber der geschriebene Text überwindet Raum und Zeit! Ein Text kann das gesprochene Wort von A konservieren, und auf diesem Weg kann B (an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit) wahrnehmen, was A sagen wollte. Wissenschaftlicher kann man das so formulieren: „Eine Sprechhandlung kann … aus ihrer unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst und in eine zweite Sprechsituation übertragen werden. Die Sprechhandlung bleibt in allen oder in mehreren ihrer Dimensionen gleich – nicht jedoch Sprecher, Hörer und die Sprechsituation als ganze. Ich schlage nun vor, für eine solche, aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird, den Ausdruck ‚Text‘ zu verwenden. Nach dieser Auffas-
Der geschriebene Text als aufgespeicherte Sprechhandlung
I.
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Vorüberlegungen und Vorbereitung
sung sind Texte also durch ihre sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet.“ (K. Ehlich, Sprache, 493) Abb. 1 Text
ERSTE Sprechsituation
ZWEITE Sprechsituation
Die Unvermeidbarkeit von Auslegung
Sprecher
Rede
Autor
Text
Text
Hörer
Leser
Die Grafik versucht, die Definition von K. Ehlich anschaulich zu machen. Die erste Zeile (erste Sprechsituation) bezieht sich auf das Geschehen einer Rede: Ein Sprecher gibt eine verständliche sprachliche Äußerung (Rede) von sich, die ein (oder mehrere) Hörer wahrnimmt und versteht. Wenn ein Autor einen Text schreibt, so gibt er ebenfalls eine verständliche sprachliche Äußerung von sich, jedoch nicht in unmittelbarer Gegenwart von Hörern oder Lesern. Vielmehr konserviert der Text als schriftliches Produkt die sprachliche Äußerung. Er speichert sie auf. So kann sie in einer zweiten Sprechsituation von einem oder mehreren Lesern wahrgenommen und verstanden werden, und zwar in der Regel unter Abwesenheit des Autors. – Das Verhältnis von Autor, Text und Leser wird noch differenzierter beschrieben werden (fi S. 106ff.). Wahrscheinlich hat man sich an das geschriebene Wort längst gewöhnt, so dass es niemanden mehr wundert, dass wir heute Worte (Texte) von Menschen wahrnehmen können, die längst verstorben sind und in weit entfernten Ländern lebten (Platon, Amos, Paulus …). Gleichwohl: Die Möglichkeiten, die die Aufspeicherung von Sprechhandlungen für zweite, dritte und viele weitere Sprechsituationen (vulgo: Text) bietet, bringen auch eine neue Herausforderung mit sich. Der Leser tritt nur noch mit dem Text, nicht mehr mit seinem Autor in Kontakt. Dieser Vorgang funktioniert, sonst könnten Menschen nicht über geschriebene Texte kommunizieren, doch er funktioniert nicht störungsfrei und nicht ein-eindeutig: Es ist keineswegs so, dass der Verfasser etwas in seinen Text hineinfüllt, das dann der Leser exakt so und nicht anders wieder herausholt. Texte sind keine Container, und Lesen ist nicht das Auftauen von Tiefgekühltem. Das Lesen von Texten ist ein ebenso kreativer Prozess wie das Verfassen von Texten. Dass dieser Prozess problematisch sein kann, weiß man aus der Alltagsbeobachtung. Im Gespräch von Sprecher und Hörer kann man solche Probleme mit einer Absprache ausräumen. Hat der Leser aber nichts als den Text vor sich, so muss er sich allein einen Reim auf ihn machen. Es beginnt im Lesevorgang das, was
1. Vorüberlegungen
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man Interpretation, Auslegung, Exegese nennt. Ohne diesen Vorgang bleibt ein Text toter Buchstabe, nur das Zusammenwirken von Text und Leser „macht Sinn“ (produziert also Sinnzusammenhänge).
Was ist Exegese? Lesen oder Lektüre ist ein kreativer Prozess der Aneignung von Sinnpotentialen, die im Text vorhanden sind. Verstehendes Lesen führt (den bzw. einen) Sinn aus dem Text heraus – das griechische Wort dafür ist e’ngce´olai (exegeomai). Davon wiederum leitet sich Exegese ab: Die Grundbedeutung von Exegese im weitesten Sinne ist also, im Lektürevorgang den Sinnpotentialen eines Textes nachzuspüren, die in ihm aufgespeicherte Sprechhandlung in die je eigene Rezeptionssituation herauszuführen und damit zu aktualisieren. Einfacher gesagt: Sobald man nach dem Lesen glaubt, den Text verstanden zu haben, hat man ihn schon interpretiert, man hat Exegese betrieben und „Sinn gemacht“. Um präziser zu unterscheiden, verwendet man Interpretation für das Verstehen und Auslegen eines jeden Textes und reserviert Exegese für besonders bedeutsame, heilige oder normative Texte von überzeitlicher Bedeutsamkeit, die für eine größere Gemeinschaft identitätsstiftend sind (Pollmann, Karla: Art. Exegese, in: LBH, 166–167). Von daher wird der Begriff Exegese gerne, aber nicht ausschließlich für die Interpretation von Bibeltexten verwendet.
Lesen als Nachspüren von Sinnpotentialen
Wozu sind Methoden da? Eine plan- und ziellose Suche nach den Sinnpotentialen eines Textes ist selten von Erfolg gekrönt – man sollte über die Suche nach Sinn in einem Text gründlich nachdenken. Wer so seinen „Weg“ (griechisch: ὁδός , hodos) der Sinnsuche reflektiert, arbeitet bereits methodisch. Als Methode bezeichnet man also eine erprobte und reflektierte Vorgehensweise, gleichsam eine „Wegbeschreibung“, wie man etwas herausfindet. Stichwort
Methode „Methode, literaturwissenschaftliche (gr. méthodos: der Weg auf ein Ziel hin), allg[emein] bezeichnet M[ethode] ein planvoll eingesetztes Mittel zur Realisierung eines Ziels bzw. ein systematisches Verfahren zur Lösung einer gestellten Aufgabe.“ (Winko, Simone: Art. Methode, literaturwissenschaftliche, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Auflage 2013, 521).
Für die Exegese gibt es eine ganze Reihe von Methoden, um die Sinnpotentiale eines biblischen Textes herauszufinden und den Lektüreprozess zu re-
Methode: ein bewährter Weg
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I. Drei Intentionen
Vorüberlegungen und Vorbereitung
flektieren. Diese Methodenschritte stehen in einer bestimmten Reihenfolge, die sich aus nachstehenden Überlegungen ergibt. Da Texte keine beliebigen Zufallsprodukte sind, stecken in ihnen und im Umgang mit ihnen immer drei bestimmte Zielgerichtetheiten oder Intentionalitäten. (1) Zum einen verfolgt(e) der menschliche Autor des Textes eine bestimmte Absicht, die sich in seinem Werk niedergeschlagen hat (die intentio auctoris nach U. Eco). Waren im Laufe der Entstehungsgeschichte des Textes mehrere Verfasser, Abschreiber, Ergänzer und Redaktoren an der Produktion beteiligt, kann es sein, dass sich im Text mehrere Intentionen, vielleicht sogar in widersprüchlicher Weise, spiegeln. Die Suche nach der Absicht des oder der Autoren entspricht der Fragerichtung nach der Entstehungsgeschichte des Textes. (2) Zum anderen aber kann eine Leserschaft in einem Text weit mehr an Sinn entdecken, als ein Autor hineingelegt hat. Der Text als gespeicherte Sprechhandlung wird zu einer eigenständigen Größe, zu einem ästhetischen Subjekt, zu einem Kunstwerk, das von seinem Urheber („Autor“) unabhängig ist (vgl. H. Utzschneider, Gottes Vorstellung, 73). Deswegen heißt Lesen auch, Vermutungen über Intentionen (Absichten) des vorliegenden Textes (intentio operis nach U. Eco) anzustellen. Grundlage dieser Vermutungen sind textinterne Merkmale, also Strategien im Text auf formaler und inhaltlicher Ebene, die eine bestimmte Deutung nahelegen bzw. die Leserschaft in eine bestimmte Richtung bewegen wollen. (3) Und schließlich hat der Text nach seiner Fertigstellung im Laufe der Geschichte Wirkungen dahingehend entfaltet, dass Menschen ihn immer wieder aufgegriffen haben: sei es, dass sie ihn in neuen Texten zitiert oder auf ihn angespielt haben, sei es, dass sie ihn als Grundlage für Kunstwerke der Musik, der bildenden Kunst, der Lyrik, der Dramatik oder der Epik verwendet haben. Vergangene und heutige Leser verfolgen mit der Rezeption des Textes eine bestimmte Absicht (intentio lectoris nach U. Eco). Stichwort
Intentionen und beteiligte Personen intentio auctoris
intentio operis
intentio lectoris
die Intention des Autors, Absichten der an der Textprodukder Autoren usw. tion beteiligten Personen im Laufe der Textentstehung die Intention des Textes Textstrategien (Strukturen, Inhalte, Sprechakte usw.), die potentielle Rezipienten (auch: Modell-Leser) in eine bestimmte Richtung lenken wollen die Intention der Absichten von Leserinnen und Leserschaft Lesern im Rezeptionsprozess im Laufe der Wirkungsgeschichte des Textes
1. Vorüberlegungen
Um für die Auslegung eine verlässliche Basis zu erhalten, ist es sinnvoll, vom Sichereren auszugehen und sich von da aus zur Untersuchung des Unsichereren vorzutasten. Mehr oder weniger sicher ist der vorliegende Text als gegebene Größe. Weitaus unsicherer sind die Mutmaßungen über seine Entstehungsgeschichte in immer fernerer Vergangenheit oder über die vielen verschiedenen Rezeptionsweisen, in die nicht immer nur die Intentionen von Text und Autor eingegangen sind, sondern auch die Interessen der Leserinnen und Leser. Sie haben mitunter den Text nicht nur interpretiert, sondern auch benutzt, gebraucht und vielleicht auch manchmal missbraucht.
15 Vom Sicheren zum Unsicheren
Zitat „Zwischen der geheimnisvollen Geschichte der Hervorbringung eines Textes und der unkontrollierbaren Abdrift seiner zukünftigen Interpretation ist der Text als Text eine beruhigende Gegenwart, ein Parameter, an den man sich halten kann“ (U. Eco, Grenzen, 168).
Aus diesen Überlegungen sowie im pragmatischen Blick auf die Zielgruppe des Lernbuchs ergeben sich eine Auswahl und eine logische Abfolge der Methodenschritte, die im Folgenden genauer dargelegt werden. Herangehensweisen, die den Text in seiner vorliegenden Gestalt und seine mutmaßlichen Intentionen (auch: Sinnpotentiale) untersuchen, bilden in diesem Lernbuch den Schwerpunkt. Schwierigkeiten im Verstehen eines Textes können Ansatzpunkte für Vermutungen über eine komplexere Entstehungsgeschichte darstellen. Darüber hinaus feststellbare Voraussetzungen, die der Text hinsichtlich seiner kulturellen Enzyklopädie (sein geschichtliches Umfeld, politische und soziale Gegebenheiten, Wissensinhalte und -lücken usw.) von seiner Leserschaft abverlangt, verweisen darauf, dass die historische Rückfrage nach der Entstehungsgeschichte und der geschichtlichen Verankerung nicht vernachlässigt werden darf. Gleichwohl handelt es sich hier um fortgeschrittene Studien, die auf dem Niveau dieses Lernbuches nur durch den Verweis auf entsprechende Sekundärliteratur angedeutet werden können. – Die Wirkungsgeschichte bleibt in diesem Lernbuch ausgeklammert und sei nur als Option genannt. Fokussiert man auf der Basis der bisherigen Überlegungen den vorliegenden Text als Text, so ist dieser als Untersuchungsgegenstand zunächst zu sichern: Was ist die Grundlage der weiteren Arbeit? Zu dieser Textsicherung gehören mehrere Schritte, in denen der zu untersuchende Text genauer festgelegt und übersetzt bzw. eine vorhandene Übersetzung ausgewählt wird. Zudem werden die Textüberlieferung und die Kohärenz des Textes geprüft (Text- und Literarkritik). Ist man dann so weit, den aufbereiteten und übersetzten Text näher ins Auge zu fassen, so hat dieser zwei Aspekte: Struktur und Inhalt. Die Struktur
Abfolge der Methodenschritte
Textsicherung
Textindividualität
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I.
Texttypik
Kontextualisierung
Vorüberlegungen und Vorbereitung
als äußere Form steht klarer und zugänglicher vor dem Auge des Betrachters und ist damit das Sicherere als der in der Struktur ausgedrückte Inhalt. Nach dem Prinzip „vom Sichereren zum Unsichereren“ steht daher die Analyse des Aufbaus des Textes (Strukturanalyse) vor der Betrachtung seines Inhalts. Freilich handelt es sich um einen Untersuchungsgegenstand, bei dem Form und Inhalt zweifellos zusammenhängen. Doch durch die analytische Trennung der Beschreibung der Struktur (äußere Form) von der Beschreibung des Inhalts (Aussage-, Handlungs- und Wirkgehalt) und die Untersuchung in dieser Reihenfolge wird eine mögliche Gefahr verhindert: Man vermeidet so, dass voreilige Mutmaßungen über die „Aussage des Textes“ aus einer schnellen Erstlektüre, die möglicherweise noch von eigenen Leserinteressen (intentio lectoris) beeinflusst ist, alles Weitere überdecken und man dann nur das aus dem Text herausliest, was man immer schon wusste oder gern gelesen haben wollte. Hat man bisher nur den einzelnen Text als solchen (als „Individuum“) betrachtet, so schließen sich weitere Schritte an, die über den Text hinausblicken: Was hat der Text mit anderen Texten im gleichen Überlieferungskontext „Bibel“ gemeinsam? Was ist also daran typisch (Texttypik)? Hat man das mit anderen Texten Gemeinsame erkannt, zeigt sich das Individuelle des Untersuchungstextes deutlicher. Außerdem lassen Gemeinsamkeiten mit anderen Texten Vermutungen über literarische und motivliche Abhängigkeiten und damit auch entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge zu. Damit wird es möglich, den mutmaßlichen Platz des Textes in der Literargeschichte der Bibel zu bestimmen. Sodann ist auszuwerten, dass der zu analysierende Text schon sehr früh in einem größeren Umfeld überliefert wurde und heute in einem größeren Zusammenhang mit anderen Texten steht, den man landläufig „Bibel“ nennt: In welchen Kontext ist der Untersuchungstext eingebettet, welche intertextuellen Bezüge hat er zu anderen Texten, und was bedeutet das alles für das Verstehen des Textes, für seine Exegese? Abschließend bündelt eine zusammenfassende Interpretation die Essenz der verschiedenen Betrachtungen auf struktureller und inhaltlicher, auf individueller und typischer Ebene. Stichwort
Methodenabfolge Textsicherung
der Text
Textindividualität die äußere Form
Festlegung des Untersuchungsgegenstandes, Übersetzung, Textund Literarkritik Strukturanalyse (Aufbau/Gliederung, Zusammenhänge von Abschnitten, Personen, Orte, Zeiten, Redeweisen usw.)
1. Vorüberlegungen der Inhalt
Inhaltsanalyse (Aussagegehalt, Sprechhandlungen, Pragmatik)
Texttypik
typische Formen typische Inhalte diachrone Fragen
Gattungen Motive und Themen Traditions-, Überlieferungs- und Redaktionskritik
Kontext
Kontexteinbettung
die unmittelbare Umgebung des Textes intertextuelle Vernetzungen und ihre Bedeutungen
Biblische Auslegung Ergebnis
zusammenfassende Interpretation
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Bündelung und Zusammenschau der wichtigsten Ergebnisse aus den Analysen
Die in dieser Übersicht genannten Methoden (Methodenschritte) werden in diesem Lernbuch besprochen – sie stellen aber das Spektrum der Bibelwissenschaft nicht erschöpfend dar. Es geht zunächst um einen pragmatischen Kompromiss für das Machbare innerhalb des Theologiestudiums und in der späteren Tätigkeit als Theologin/Theologe. Hier liegt aber auch die Basis, auf der jemand aufbauen kann, der die Bibelwissenschaft vertiefen möchte.
Was ist Bibelwissenschaft? Die hier vorgestellte Vorgehensweise hat den Anspruch, wissenschaftlich zu sein. Die Wissenschaftlichkeit zeigt sich in der methodengeleiteten Arbeitsweise, die intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse erreicht und anschlussfähig für andere Wissenschaften ist. Ausgangspunkt ist erstens die methodengeleitete Arbeitsweise. Auch wenn Intuition für Forschung und Wissenschaft durchaus hilfreich sein kann und bei einem ersten Zugang auf den Text Intuition oder Bauchgefühl nicht unterdrückt, sondern gerne wahrgenommen werden soll, so kann doch eine seriöse Exegese nicht bei dem stehenbleiben, was einer Leserin oder einem Leser spontan einfällt. Gegenüber den möglicherweise unbewussten oder interessegeleiteten Assoziationen der Leserschaft sollen die vorgezeichneten Analyse- und Syntheseschritte den Text selbst zur Geltung bringen. Im Verlauf der Arbeit können dann erste intuitive Vermutungen bestätigt oder auch widerlegt werden. Der methodengeleitete Prozess soll zweitens dazu führen, dass die mit anerkannten und bewährten Methoden durchgeführten Beobachtungen zu intersubjektiv nachvollziehbaren Ergebnissen kommen. Intersubjektiv bedeutet, dass mehrere Personen die vorgelegten Beobachtungen und Schlussfolgerungen gleichermaßen erkennen und nachvollziehen können. Keineswegs müssen alle zur gleichen Sichtweise des Textes gelangen, doch die jeweiligen Argu-
Wissenschaftlichkeit
Methodengeleitet
Intersubjektiv
18
I.
Vorüberlegungen und Vorbereitung
mente, die für die eine oder andere Interpretation sprechen, müssen im ergebnisoffenen Diskurs im Austausch einer Gemeinschaft verständlich und gewichtbar sein. Auch das will die methodische Arbeit sichern. Stichwort
Exegetisch argumentieren Eine Herausforderung beim exegetischen Argumentieren ist es, den Bibeltext nicht selbst zum Argument zu machen. Wörtliche Zitate aus dem Text sind keine Argumente für eine Behauptung, denn damit setzt man voraus, dass andere Leserinnen und Leser den Text in genau gleicher Weise lesen wie man selbst. Genau diese eigene Leseweise soll aber doch mit Argumenten begründet werden. Textzitate können somit nicht als Beweis, sondern allenfalls als Veranschaulichung des ausformulierten Arguments dienen. Man muss stattdessen nachvollziehbar herausstellen, warum man zu einer bestimmten Leseweise kommt. Deswegen abstrahieren die exegetischen Methoden vom Text selbst und nutzen abstrakte Fachbegriffe, um die Wirkung eines Textes auf Leser zu beschreiben. Diese Argumente sind dann nachvollziehbar, wenn sie einer akzeptablen Schlussregel folgen. Schlussregeln sind die impliziten Annahmen, warum ein Argument überhaupt gültig ist. Am ehesten wird das an einem Beispiel deutlich. Wie man nicht exegetisch argumentiert: [Behauptung] Zwischen Gen 18,33 und Gen 19,1 gibt es einen Ortswechsel: [Argument] „33[…] Abraham aber kehrte an seinen Ort zurück. 19,1Und die zwei Boten kamen am Abend nach Sodom […]“ (ZB) Die Schlussregel wäre hier lediglich die Behauptung „Das steht so da“. Worin der Ortswechsel besteht, wird nicht explizit gemacht. Wie es besser geht: [Behauptung] Zwischen Gen 18,33 und Gen 19,1 gibt es einen Ortswechsel, [Argument] weil Abraham eine Bewegung aus dem Ort der Erzählung heraus vornimmt (18,33) und mit Sodom in 19,1 ein neuer Ort genannt wird. Die Schlussregel ist nun besser nachvollziehbar: Wenn jemand sich bewegt und neue Ortsnamen genannt werden, dann liegt ein Ortswechsel vor.
Anschlussfähig
Schließlich ist die Bibelwissenschaft drittens Disziplin einer anerkannten Wissenschaft, der Theologie, und damit zum einen anschlussfähig an weitere Disziplinen (Fächer) der Theologie und zum anderen verknüpfbar mit vielen anderen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Der interdisziplinären Kooperation sind nahezu keine Grenzen gesetzt: Sprach- und Literaturwissenschaft, Kultur-, Geschichts- und Altertumswissenschaften, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, Archäologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft u.v.m.
1. Vorüberlegungen
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Stichwort
Bibelwissenschaft methodengeleitet
nicht rein intuitiv oder assoziativ (Was mir gerade einfällt …)
intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation
kein Rückzug auf spirituelle Erfahrungen oder von außen definierte Sätze
anschlussfähig an andere Disziplinen und Wissenschaften
kein abgeschotteter Sonderweg, der nur einem Zirkel von Eingeweihten zugänglich wäre
An sich – und auch das ist Zeichen der Wissenschaftlichkeit – sind die angewandten Methoden gegenstandsneutral: Die meisten Vorgehensweisen funktionieren auch mit anderen Texten; die Bibel wird behandelt wie jeder andere Text auch. Was die Bibelwissenschaft zur Disziplin der Theologie macht, ist ihr Untersuchungsgegenstand: Auch unter historischer Perspektive war und ist die BibelW nie nur ein aus der Antike überkommener Textkorpus (wie etwa das Gilgameschepos oder die mittelassyrischen Gesetze). Vielmehr haben mindestens zwei Glaubensgemeinschaften bzw. Religionen, das Judentum und das Christentum, diese Texte immer auch als Anspruch für ihre jeweilige Gegenwart gelesen und aufgefasst – und das tun sie bis heute. Die besondere Rolle, die der Bibel in den jeweiligen Religionsgemeinschaften zugewiesen wurde und wird, gehört konstitutiv mit zu diesem Untersuchungsgegenstand und kann daher bei der wissenschaftlichen Analyse nicht außen vor gelassen werden. Auch beim Blick auf einzelne Texte ist nicht zu vernachlässigen, dass diese die längste Zeit ihrer Existenz innerhalb eines Textkorpus überliefert wurden (und werden), das für die Angehörigen von Judentum und Christentum einen identitätsstiftenden und normativen Charakter hat. Dies stellt für die methodisch-wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes keine Einschränkung dar (als dürfe man bei der Bibel, weil sie „Heilige Schrift“ sei, bestimmte Methoden nicht anwenden), sondern eine Erweiterung des Blickfeldes auf die Überlieferung und Rezeption des Textes. Dabei wird man feststellen, dass Bibel nicht gleich Bibel ist. Obwohl Judentum und Christentum den Grundgedanken des Kanons W (fi S. 149) als abgeschlossenes Arrangement heiliger Schriften mit autoritativem, normativem und identitätsstiftendem Charakter teilen, haben die Religionsgemeinschaften und in ihnen die jeweiligen Konfessionen und Denominationen unterschiedliche Ausprägungen dieses Kanons als Bibel: Die jüdische Bibel unterscheidet sich vom ersten Teil der christlichen Bibel in Umfang und Arrangement der Schriften. Die Konfessionen des Christentums lesen jeweils unterschiedlich umfangreiche Kanonausprägungen. Die Samaritaner W als sehr kleine Glaubensgemeinschaft verwenden nur die Tora (Pentateuch) als Heilige Schrift.
Der besondere Gegenstand „Bibel“
Bibel = Kanonausprägung
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I.
Vorüberlegungen und Vorbereitung Stichwort
Kanon – Kanonausprägung = Bibel Kanon
Kanonausprägung = Bibel
Beispiele: jüdische Bibel christliche Bibeln
Samaritanischer Pentateuch Biblia Hebraica Septuaginta
Übersetzungen in moderne Sprachen
für eine Auslegungs- und Glaubensgemeinschaft identitätsstiftende, autoritative und normative, da mit dem Gedanken der Offenbarung der Gottheit verbundene Sammlung von als heilig betrachteten Schriften von geschlossenem Umfang und fest definierter Abfolge die konkrete Ausprägung des Konzeptes „Kanon“ in einer konkreten Glaubensgemeinschaft (und damit der konkrete Untersuchungsgegenstand der Bibelwissenschaft) auch: TaNaK / Tanach in der katholischen Tradition mit den deuterokanonischen Schriften, die aber in der protestantischen Tradition apokryphe Schriften (Spätschriften) genannt werden und der „Heiligen Schrift“ nicht zugerechnet werden; dazu das Neue Testament als zweiter Teil. Heilige Schrift der Religionsgemeinschaft der Samaritaner (u.a. etwa 600 Personen in Nablus) der masoretische Text der Hebräischen Bibel in einer wissenschaftlichen Ausgabe die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel und einige weitere jüdische Schriften in griechischer Sprache diverse Angebote mit unterschiedlichen Orientierungen sowie verschiedener Zielsetzung und philologischer Ausrichtung
…
Eine bibelwissenschaftliche Auslegung muss stets angeben, welche Bibel (Kanonausprägung) sie zugrunde legt. Wissenschaftliche Exegese innerhalb der universitären Theologie geht normalerweise von den kritischen Texteditionen der so genannten „Urtexte“ in hebräischer und griechischer Sprache aus. Aus praktischen Gründen, am Anfang des Studiums und bei nicht (mehr) vorhandenen Sprachkenntnissen kann auch eine anerkannte und philologisch verantwortete Übersetzung (bzw. der Vergleich mehrerer solcher Übersetzungen) verwendet werden. Im deutschen Sprachraum sind dies (je nach Konfession) die Einheitsübersetzung bzw. die Lutherbibel (in der jeweils aktuellen Revision) sowie die stärker am Urtext orientierten Ausgaben der Elberfelder Bibel und der Zürcher Bibel. Wissens-Check
1. Definieren Sie die Begriffe Text, Lesen bzw. Lektüre, Exegese, Interpretation und Methode im Hinblick auf gespeicherte Sprechhandlungen!
2. Vorbereitung
2. Welche Intentionen sowie am Produktions- und Interpretationsprozess beteiligte Personen unterscheidet man? 3. Wo liegt der sinnvolle Ausgangspunkt für einen methodischen Interpretationsvorgang? Begründen Sie diese Entscheidung! 4. Entwickeln Sie die logische Abfolge der Methodenschritte! 5. Was zeichnet die Bibelwissenschaft als Wissenschaft aus? 6. Nennen und erläutern Sie die Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes Bibel!
Literatur Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München 1992. Ehlich, Konrad: Sprache und sprachliches Handeln. Band 3: Diskurs, Narration, Text, Schrift, Berlin 2007. Hieke, Thomas: Vom Verstehen biblischer Texte. Methodologisch-hermeneutische Erwägungen zum Programm einer „biblischen Auslegung“, in: Biblische Notizen 119/120 (2003) 71–89. Richter, Jean Paul: Levana oder die Erziehlehre, Kapitel 58, 1806 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/levanaoder-erziehlehre-3195/58). Wischmeyer, Oda (Hg.): Lexikon der Bibelhermeneutik (LBH), Berlin 2009. Utzschneider, Helmut: Gottes Vorstellung. Untersuchungen zur literarischen Ästhetik und ästhetischen Theologie des Alten Testaments (BWANT 175), Stuttgart 2007.
2. Vorbereitung Wie erstellt man eine wissenschaftliche exegetische Arbeit? Eine wissenschaftliche Exegese muss methodengeleitet sein. Die Methoden sind dabei der Weg auf ein bestimmtes Ziel hin. Wer dieser „Wegbeschreibung“ folgen will, muss sich vorher über das eigene Ziel klarwerden. Denn zum einen gibt es verschiedene Wege, die zu verschiedenen Zielen führen können: Man kann einen Text mit unterschiedlichen Methodensets untersuchen, je nachdem, was man herausfinden will. Und zum anderen gibt es exegetische Wege, die bei bestimmten Texten nicht zum Ziel führen. Das Methodenset, das in diesem Buch vorgestellt wird, möchte die Wirkung des Textes auf den Modell-Leser (fi S. 14; 106) untersuchen. Dementsprechend sind die darin enthaltenen Methoden ausgewählt. Auch wenn es oft den äußeren Anforderungen und der eigenen Geduld widerspricht, ist es notwendig, den Weg der Auslegung möglichst langsam zu gehen. Wer über Methoden hinwegeilt, verpasst wichtige Erkenntnisse. Daher führt der Weg der Auslegung auch schrittweise voran. Die Reihenfolge der Methoden ist bewusst gewählt, sie bauen inhaltlich aufeinander auf.
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I. Analyse und Auswertung
Vorüberlegungen und Vorbereitung
Um methodisches Arbeiten sinnvoll durchzuführen, sind Analyse und Auswertung zu unterscheiden. Auf dem Weg zur wissenschaftlichen Exegese steht der eigentliche Schreibvorgang am Ende. Ihm gehen zuerst die Sammlung von Ergebnissen (Analyse) und dann die Sortierung dieser Ergebnisse (Auswertung) voraus. Wenn man die Methoden der Exegese durchführt, dann bringen diese Ergebnisse, die mehr oder weniger hilfreich sind. Trotzdem müssen gerade am Anfang alle Methoden ausprobiert und die Beobachtungen festgehalten und gesammelt werden. Es kann durchaus sein, dass sich deren Bewertung im Laufe der weiteren Arbeit mit dem Text noch verändert – was unwichtig erschien, könnte wichtig werden, was bedeutsam erschien, erweist sich mitunter als banal. Ob eine Methode einen Ertrag für die Auslegung bringt, kann man erst nach ihrer Erprobung feststellen, daher muss man bereit sein, Arbeit für den Papierkorb zu machen. Analyseergebnisse haben immer einen vorläufigen Status, bis alle Analysen abgeschlossen sind, denn das Textverständnis entwickelt sich mit jeder Analyse weiter. Erst danach folgt die Auswertung. Hier müssen die Ergebnisse der Analyse gewichtet, sortiert und für die Darstellung sinnvoll angeordnet werden. Auf dieser Basis können die Ergebnisse dann schriftlich dargestellt werden. Zitat „Über einen Text lesen und schreiben kann also nur derjenige, der ihn unzählige Male hin und her gewandt, jede Einzelheit überlegt und schließlich eine lebendige Gesamtanschauung gefunden hat.“ (Gunkel, Hermann: Reden und Aufsätze, Göttingen 1913, 15)
Ergebnisprotokoll
Daraus ergibt sich, dass die endgültige wissenschaftliche Arbeit ein Ergebnisprotokoll dessen sein soll, was man herausgefunden hat, und kein Verlaufsprotokoll. Daher ist dort nur das aufzunehmen, was am Schluss für die Gesamtaussage über den Text wichtig ist. Weil Analyse und Auswertung verschiedene Schritte sind, entspricht die Gliederung der wissenschaftlichen Arbeit auch nicht genau der Analysereihenfolge; die Ergebnisse werden ja erst nach der Analyse endgültig ausgewählt und angeordnet. Grundsätzlich kann sich die Gliederung einer exegetischen Arbeit an folgendem Grundraster orientieren; die Abschnitte mit * sind dabei unerlässlich. Stichwort
Grundraster einer exegetischen Arbeit 1. Einstieg* (persönlicher Bezug zum Text; Relevanz des Textes; Hinführung zur Perikope)
2. Vorbereitung
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2. Textsicherung 2.1 Der Text in deutscher Übersetzung* 2.2 Textkritik (am hebräischen oder griechischen Text) 2.3 Literarkritik Abgrenzung*, Frage der Kohärenz; Identifikation von Teiltexten 3. Strukturanalyse* 3.1 Strukturübersicht 3.2 Strukturbeschreibung 3.3 Einzelanalysen (Personen, Orte, Zeitverhältnisse, Stilmittel …) 4. Inhaltsanalyse 4.1 Bedeutung wichtiger Begriffe* (Leitwörter) 4.2 Sprechhandlungen 4.3 Pragmatik* 4.4 Auswertung* 5. Texttypik 5.1 Typik des sprachlichen Ausdrucks 5.2 Gattungskritik 5.3 Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik) 5.4 Überlieferungskritik 5.5 Redaktionskritik 6. Kontexteinbettung – der Text im Kontext der Bibel* 6.1 Kontexteinbettung 6.2 Biblische Auslegung 7. (Besondere Aspekte des Textes, z.B. im Blick auf ein bibeltheologisches Thema) 8. Zusammenfassende Interpretation*
Wie recherchiert man bibelwissenschaftliche Fachliteratur? Bei der Analyse biblischer Texte ist man nicht auf sich allein gestellt. In der Regel hat die Fachwissenschaft zu allen Teilen der Bibel ihre Erkenntnisse veröffentlicht. Trotzdem ist es ratsam, die verschiedenen Methoden so weit wie möglich erst einmal eigenständig anzuwenden. Denn erst danach kann man wissen, wonach man in der Fachliteratur sucht, und beurteilen, ob man die dort getroffenen Äußerungen nachvollziehen kann. Grundsätzlich gilt, dass man nur diejenigen Positionen übernehmen sollte, die sich einem selbst vor dem Hintergrund der eigenen Analysen erschließen. Einen ersten Einstieg in die Literaturrecherche bieten die Einleitungen zum Alten Testament. Sie listen in der Regel in einem Abschnitt, der ein konkretes Buch der Bibel vorstellt, wichtige Kommentare zu diesem Buch auf. Hiervon sollte man zuerst die neuesten Kommentare zur Hand nehmen. Die Kommentare sind schon selbst hilfreiche Sekundärliteratur. Sie enthalten darüber hinaus oft speziellere Literaturlisten zu einzelnen Kapiteln des jeweiligen Buches, die auch Monographien, Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden sowie Artikel in Lexika umfassen.
Kommentare
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I.
Vorüberlegungen und Vorbereitung Stichwort
Typen exegetischer Sekundärliteratur Die Ergebnisse exegetischer Forschung werden in verschiedenen Formen von Sekundärliteratur präsentiert, die sich je nach ihrer Zielsetzung und ihrem Umfang unterscheiden. Die wichtigsten sind Kommentar, Monographie, Aufsatz und Lexikoneintrag.
Kommentar Ein exegetischer Kommentar ist eine fortlaufende Auslegung eines ganzen biblischen Buches oder einer Einheit daraus. In der Regel werden hier keine Spezialprobleme diskutiert, sondern eine Gesamtanschauung als Hilfe zum Verstehen des biblischen Buches und seiner Teile geboten. Größere Kommentare bieten auch einen Überblick über die Forschung zum jeweiligen Buch. Häufig finden sich in Kommentaren auch eigene, exegetisch verantwortete Übersetzungen, die als Basistext für die eigene Analyse dienen können. Beispiel: Kessler, Rainer: Maleachi (HThKAT), Freiburg i.Br. 2011.
Monographie Exegetische Monographien verfolgen Forschungsfragen, für deren Beantwortung ein einzelner Text besonders intensiv untersucht werden muss oder mehrere Texte miteinander verglichen werden. Andere Monographien nehmen größere biblische Themen in den Blick. Beobachtungen an einzelnen Bibeltexten werden in einen größeren, meist eigens erarbeiteten Zusammenhang eingeordnet. Beispiel: Hieke, Thomas: Kult und Ethos. Die Verschmelzung von rechtem Gottesdienst und gerechtem Handeln im Lesevorgang der Maleachischrift (Stuttgarter Bibelstudien 208), Stuttgart 2006.
Aufsatz In exegetischen Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden werden enger umgrenzte Fragestellungen behandelt, die einzelne Texte oder spezielle Phänomene in mehreren Texten in den Blick nehmen. Aufsätze sind eher auf eine Diskussion von eigenen Forschungsmeinungen mit denen anderer Wissenschaftler ausgelegt als Monographien. Beispiel: Lear, Sheree E.: The Daughter of a Foreign God: Wordplay as an Interpretive Key in Malachi 2:11, in: Vetus Testamentum 65,3 (2015) 467–473.
Lexikoneintrag Exegetische Lexikoneinträge bündeln die bestehende Forschung, um über einen Sachverhalt oder einen Namen (Person, Ort, Gottheit) kompakt zu informieren. Hier finden sich Überblicke über das bereits bestehende Wissen, ohne dass dieses diskutiert wird. Beispiel: Meinhold, Arndt: Art. Maleachi/Maleachibuch, in: Wibilex, November 2007.
2. Vorbereitung
Der zweite Weg zur Sekundärliteratur führt über Datenbanken. Hier ist an erster Stelle BILDI (Bibelwissenschaftliche Literaturdokumentation Innsbruck; http://bildi.uibk.ac.at 3 BILDI-Suche) zu nennen. Um hier Literatur zu einem bestimmten Kapitel der Bibel zu finden, muss man in das Feld „Basic Index“ die jeweilige Stellenangabe nach einem bestimmten System eingeben: pAbkürzung des Buches (wie in der Einheitsübersetzung)PpLeertastePpKapitelzahl (zweistellig, bei Psalmen dreistellig)Pp*P. Nur bei der exakten Eingabe erhält man eine vollständige Trefferliste. Zu Veranschaulichung hier einige Beispiele: Gen 05* für Genesis, Kapitel 5; Ps 023* für Psalm 23; 1 Sam 07* für 1. Buch Samuel, Kapitel 7. Wer das Ausgabeformat verschönern will, kann auf der rechten Seite noch zusätzlich „Zitat deutsch / Jahr“ wählen. Auch der „Index theologicus“ bietet eine Bibelstellensuche an. Um diese aufzurufen, muss man unter http://www.ixtheo.de eine der Sprachversionen starten und dann neben der „Expertensuche“ die „Bibelstellensuche“ auswählen. Die Bemerkungen zu den Internet-Datenbanken sind auf dem Stand vom August 2016. Hier kann sich in den nächsten Jahren noch vieles ändern. Eine dritte Onlinequelle für Literatur kann das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex; http://wibilex.de) sein. Existiert dort ein Artikel zum eigenen Thema, so enthält dieser in der Regel eine Literaturliste. Hat man einmal einen Einstieg in die Sekundärliteratur gefunden, so bietet sich das Schneeballsystem an: Autoren verweisen auf andere Autoren, deren Werke man wiederum heranziehen kann. So lässt sich die eigene Literaturliste schnell durch ältere Literatur erweitern. Grundsätzlich sollte man immer mit der jüngsten Literatur beginnen, um den aktuellsten Stand der Forschung wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann besser einordnen, welche Erkenntnisse älterer Werke noch wichtig und welche bereits überholt sind.
Welche Hilfsmittel gibt es? Neben der Fachliteratur benötigt man für die exegetische Arbeit weitere Hilfsmittel: die verschiedenen Textausgaben der Bibel, Konkordanzen und Lexika sowie Bibelsoftware. Eine ausführliche, kommentierte Auflistung dieser Hilfsmittel findet sich im Literaturverzeichnis (fi S. 168ff.). Bei den einzelnen Methodenschritten werden zusätzlich spezielle Hilfsmittel aufgeführt.
25 Datenbanken
Schneeballsystem
II. Textsicherung Überblick
D
er erste Methodenblock dient dazu, den Untersuchungsgegenstand „Text“ zu sichern und zu präsentieren. Vorgängig – und oftmals wenig reflektiert – ist die Entscheidung für eine bestimmte Übersetzung. Der Abdruck des Textes erfolgt in einer nach Äußerungseinheiten gegliederten Version, um leichter auf Details bezugnehmen zu können. Daraufhin ist präziser zu klären und zu begründen, welchen Text man genau auslegen wird: Von der ursprünglichen Abfassung in hebräischer oder griechischer Sprache ist es über viele Abschriften ein sehr weiter Weg bis zu den Übersetzungen in moderne Sprachen. Die Schwierigkeiten der handschriftlichen Überlieferung der Texte reflek-
tieren die wissenschaftlichen Ausgaben der hebräischen und der griechischen Bibel (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.), auf denen die modernen Übersetzungen in aller Regel basieren. Der damit verbundene Methodenschritt wird als Textkritik bezeichnet. Ein zweiter Methodenschritt zur Textsicherung ist die so genannte Literarkritik: Zum einen befasst sie sich mit der Frage, wie sich der ins Auge gefasste Untersuchungstext sinnvoll aus seinem jetzigen Zusammenhang herauslösen lässt (Abgrenzung). Zum anderen untersucht die Literarkritik, ob sich dieser Abschnitt störungsfrei lesen lässt oder ob es gewisse Hinweise dafür gibt, dass der Text in Stufen gewachsen ist.
Entscheidung für eine Übersetzung Wahl der Übersetzung
Der Idealfall ist es, mit hebräischen oder griechischen Sprachkenntnissen eine eigene, gründlich überprüfte Arbeitsübersetzung des Untersuchungstextes anzufertigen. Man kann aber als Ersatz auch auf moderne Übersetzungen zurückgreifen. Da es mehrere deutschsprachige Bibelübersetzungen gibt, die hier in Frage kommen, muss man sich Gedanken über die Auswahl der geeigneten Übersetzung machen. Stichwort
Übersetzung Beim Übersetzungsvorgang können nie alle Aspekte von der Ausgangs- in die Zielsprache übertragen werden. Jede Übersetzung beruht damit auf Entscheidungen und ist so immer auch eine Interpretation des Textes. Wenn man mit Bibelübersetzungen arbeitet, muss man sich darüber im Klaren sein, wie die Übersetzung angelegt ist: Steht die Zielsprache mit Blick auf eine bestimmte Zielgruppe im Vordergrund, so dass etwa eine möglichst leicht verständliche Fassung entsteht? Oder ist die Ausgangssprache der Maßstab, die durch eine „wörtliche“
Textsicherung
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Übersetzung in Form und Funktion nachgeahmt wird? Letzteres ist für die Exegese in der Regel die bessere Wahl, wenngleich jede Übersetzung Kompromisse machen muss.
Im deutschsprachigen Raum kann man die Einheitsübersetzung (EÜ), die Lutherbibel (LUT), die Elberfelder Bibel (ELB) und die Zürcher Bibel (ZB) in der jeweils aktuellen Revisionsfassung konsultieren. Ebenfalls heranzuziehen sind die Übersetzungen in fachwissenschaftlich anerkannten Kommentaren (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.). Größere Abweichungen zwischen den Übersetzungen können auf Textschwierigkeiten hinweisen, die im Laufe der Arbeit zu klären sind. Am Ende dieses Schrittes hat man sich für eine Übersetzung entschieden und gibt diese bei der Textpräsentation mit einer Fußnote und im Literaturverzeichnis an. Da jede Übersetzung bestimmten Prinzipien folgt und damit auch einen eigenen Stil ausprägt, ist es nicht ratsam, die Übersetzungen zu mischen. Man folgt zunächst einer ausgewählten Übersetzung konsequent. Wenn an einzelnen Stellen eine andere Übersetzung einer Wendung oder eines Verses ratsam erscheint, kann dies im Verlauf der Analyse an geeigneten Stellen eingebracht und dann auch begründet werden. Weil die nötigen Sprachkenntnisse häufig nicht vorhanden sind, um eine eigene Übersetzung anzufertigen, wird in diesem Lernbuch trotz gelegentlicher Verweise auf die hebräische oder griechische Originalsprache primär mit anerkannten Übersetzungen gearbeitet. Die Tatsache, dass man seinen Untersuchungen eine Übersetzung zugrunde legt, muss bei allen Analysen immer im Bewusstsein bleiben. Bei allen Beobachtungen muss kritisch geprüft werden, ob diese nicht durch die Übersetzer in den Text eingebracht worden sind. Auch hier kann der Vergleich verschiedener Übersetzungen helfen.
Das Problem „Übersetzung“
Erster Eindruck Inzwischen hat man den Text schon mehrmals überflogen und damit erste Eindrücke gesammelt (s. dazu ausführlicher T. Meurer, Einführung, 14–19). Es ist ratsam, diese Eindrücke, Fragen und Widersprüche formlos zu notieren. Man kann dies z.B. im Stil einer Inhaltsangabe machen: „In dem Text (Erzählung, Psalm, Rechtsvorschrift usw.) geht es um …“. Diese Notizen sind nicht unmittelbar für die exegetische Arbeit verwertbar. Doch kann man im Verlauf darauf zurückkommen; vielleicht müssen manche ersten Eindrücke revidiert werden, vielleicht sind die ersten Fragen die Triebfeder, mehr über den Text herauszufinden und gezielter zu suchen. Am Ende wird gegenüber diesem „ersten Eindruck“ die Feststellung stehen, dass man viel dazugelernt hat.
„In dem Text geht es um …“
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II.
Textsicherung
1. Die Präsentation des Textes in Äußerungseinheiten Beschreibung Vorgehensweise
Zur Präsentation des Textes als Untersuchungsgegenstand wird dieser in einer deutschen Übersetzung in sogenannte Äußerungseinheiten zerlegt. Damit wird der Text übersichtlicher und man kann leichter auf Details verweisen. Jede Äußerungseinheit erhält einen Kleinbuchstaben (a, b, c …), der zur Versnummer dazugesetzt wird. Die bestehende Versnummerierung bleibt dabei erhalten, es wird keine eigene Nummerierung eingeführt. Stichwort
Äußerungseinheit Eine Äußerungseinheit entspricht einem Satz mit einem Prädikat im Deutschen. Sobald mehrere Prädikate zum gleichen Subjekt auftauchen oder eines verkürzt oder erspart ist, werden weitere Kleinbuchstaben vergeben. 1 a Er kam b und sagte: c „Ich komme morgen in die Seminarsitzung“. 2 a Darauf erwiderte ich: b „Schön, c dann sehen wir uns dort.“ Die knappe Feststellung „Schön“ in 2b ist eine eigene Äußerungseinheit, denn sie ist die verkürzte Fassung des Satzes „Das ist schön“.
Relativsätze, Infinitivsätze, Vokative
Zusätzlich sollte man Relativsätze, die an einem Satz „a“ hängen, mit „R“ kennzeichnen und in eine eigene Zeile als „aR“ schreiben, ebenso Infinitivsätze („aI“). Vokative sollte man ebenfalls durch eine eigene Zeile mit „aV“ kenntlich machen, wobei der Kleinbuchstabe die Äußerungseinheit („Satz“) kennzeichnet, der der Vokativ zugeordnet ist (nota bene: Vokative können voran-, aber auch nachgestellt sein). Beispiele Gen 1,29 (ELB): 29 a Und Gott sprach: b Siehe, c ich habe euch alles samentragende Kraut gegeben, cR1 das auf der Fläche der ganzen Erde ist, c und jeden Baum, cR2 an dem samentragende Baumfrucht ist: d es soll euch zur Nahrung dienen. Erläuterung: Hier sind in die Äußerungseinheit 29c gleich zwei Relativsätze eingebettet, die die zwei Objekte „Kraut“ und „Baum“ jeweils näher bestimmen.
1. Die Präsentation des Textes in Äußerungseinheiten
29
Ps 13,2 (EÜ): 2 a Wie lange noch, aV HERR, a vergisst du mich ganz? Erläuterung: Der Vokativ „HERR“ steht hier mitten in der Äußerungseinheit 2a. Weil er von diesem Satz abhängig ist, wird er als 2aV bezeichnet. Lev 1,4 (HThKAT): 4 a Und er stemme seine Hand auf den Kopf des Brandopfers, b und (es) wird als wohlgefällig für ihn angenommen werden, bI um für ihn Versöhnung zu erwirken. Erläuterung: Dieses Beispiel stammt aus der Übersetzung im Kommentar von Thomas Hieke zum Buch Levitikus in der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ (HThKAT, Freiburg i.Br. 2014). Die Zeile 4bI ist als „um zu“Infinitivsatz der Äußerungseinheit 4b zugeordnet.
Hilfsmittel Die Gliederung in Äußerungseinheiten erfolgt an der (deutschen) Übersetzung, die man jeweils verwendet. Auch wenn der Satzbau (die Syntax) im Deutschen von der hebräischen (und griechischen) Ausgangssprache abweicht, so kann doch die transkribierte Ausgabe der Biblia Hebraica (BH t) mit ihrer Satzeinteilung eine gewisse Orientierung bieten, zumal wenn man Hebräischkenntnisse hat (auch wenn sie nur rudimentär seien). Richter, Wolfgang: Biblia Hebraica transcripta: BHt. Das ist das ganze Alte Testament transkribiert, mit Satzeinteilungen versehen und durch die Version tiberisch-masoretischer Autoritäten bereichert, auf der sie gründet (ATSAT 33), St. Ottilien 1991/1993. URL: http://www.bht.gwi.uni-muenchen.de/ Psalm 117 (BHt und EÜ) 1
2
a aV b bV a
hal[lï]lu¯ at YHWH kul[l] go¯yı¯*m ˇsabbïh.u¯=hu(w) kul[l] ha= ummı¯m kı¯ gabar al-e¯=nu¯ h.asd=o¯
b
w˙= a˙mi[t]t YHWH l˙= o¯lam
c
hal[lï]lu¯ YH
Ҵ
Ҵ ҵ
Ҵ
ҵ
Lobt den HERRN, alle Völker, rühmt ihn, alle Nationen! Denn mächtig waltet über uns seine Huld, die Treue des HERRN währt in Ewigkeit. Halleluja!
Die Vokative aV „alle Völker“ und bV „alle Nationen“ sind den Lobaufrufen 1a und 1b jeweils nachgestellt. Das „Halleluja“ in 2c ist eine traditionelle „Transkription“. Aus dem transkribierten hebräischen Text wird sichtbar, dass „Halleluja“ aus zwei Teilen besteht: dem imperativischen Lobaufruf „Lobt!“
Biblia Hebraica transcripta
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II.
Textsicherung
(wie in 1a) und dem zu YH verkürzten Tetragramm „YHWH“ („Jahwe“, „der HERR“). Daher ist „Halleluja“ in 2c ein eigener Satz („Lobt den H E[RRN]“), der einen Rahmen zu 1a bildet. Mit der Untergliederung der herkömmlich abgegrenzten Verse in Äußerungseinheiten wird die Bezugnahme (Referenz) auf Details wesentlich erleichtert. Wissens-Check
1. Was ist eine Äußerungseinheit? 2. Was bedeuten „aV“, „bI“, „cR“? 3. Wozu hilft diese Darstellungsweise?
2. Text- und Literarkritik Überblick
T
ext- und Literarkritik beschäftigen sich mit der Fragestellung, welchen Text man auslegen wird, oder genauer: welche Gestalt und Fassung des Textes den folgenden Analysen zugrunde gelegt werden. Vor der Textanalyse wird zum einen geklärt, ob der Text in der Überlieferung des Text- bzw. Zeichenbestandes Veränderungen erfahren hat (Textkritik). Zum anderen wird entschieden, welches Textstück man aus dem Gesamtzusammen-
hang der Bibel herausnehmen will, um es zu untersuchen (Literarkritik: Abgrenzung). Weiterhin wird danach gefragt, ob der vorliegende Text sich störungsfrei lesen lässt (Literarkritik: Kohärenzprüfung) oder ob sich Wachstumsspuren im Text zeigen. Wenn das der Fall ist, ist zu klären, welche Stufe der Textentstehung man fortan analysieren will (Literarkritik: Teiltexte).
Text- und Literarkritik haben ihre je spezielle Perspektive auf den Text. Sie gehören zu den Methoden, die die Geschichte der Entstehung und Überlieferung des Bibeltextes untersuchen. Den Zusammenhang dieser Schritte zeigt die Grafik (Abb. 2): In ihrer Mitte wird schematisch und vereinfacht von unten nach oben die Geschichte der Hebräischen Bibel von den mündlichen Vorstufen bis zur Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) als wissenschaftliche Ausgabe des masoretischen Textes dargestellt. Links und rechts stehen die entsprechenden Methoden, die entweder analytisch von jüngeren Stufen des Textes auf ältere zurückschließen oder synthetisch den Weg von den älteren Stufen zu den jüngeren zu erklären versuchen. Die Analyse (links, von oben nach unten) fragt zurück in die Vergangenheit und sucht nach dem ältesten greifbaren Textbestand im Handschriftenbefund bzw. nach Veränderungen des Text- und Zeichenbestandes im Laufe der Textüberlieferung (Textkritik) sowie nach möglichen literarischen und mündlichen Vorstufen (Literarkritik, Überliefe-
2. Text- und Literarkritik Analyse
Synthese
Stufenweise Festlegung des Textbestandes Redaktionsprozesse Mündliche Vorstufen
Textgeschichte Überlieferungsgeschichte
Überlieferungskritik
Literarkritik
Entstehende Dominanz des masoretischen Konsonantentextes
Geschichte
Textkritik
Fixierung der Kanonausprägungen in Judentum und Christentum
Abb. 2 Die Grafik wurde in Anlehnung an H. Utzschneider; S.A. Nitsche, Arbeitsbuch, 47, entwickelt.
Redaktionskritik/-geschichte
Masoretischer Text (Codex Leningradensis)
Heute
BHS
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rungskritik). In der rechten Spalte werden von unten nach oben die jeweiligen synthetischen Gegenstücke dargestellt: die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte von mündlichen zu schriftlichen (literarischen) Vorstufen, die Untersuchung der Redaktionsgeschichte von den literarischen Vorstufen zum sich herauskristallisierenden Endtext und die Geschichte der textlichen Überlieferung dieses Stadiums bis hin zu den heutigen textkritischen Ausgaben (Textgeschichte).
Textkritik Leitfragen Wie hat sich der Text im Verlauf der handschriftlichen Überlieferung verändert? Wie sieht die älteste erreichbare Textgestalt aus? Beschreibung Die Schriften des Alten Testaments sind nicht im Original der Verfasser erhalten, sondern nur in Abschriften (von Abschriften von Abschriften …). Sie sind um Jahrhunderte jünger als der ursprüngliche Text. Die älteste, vollständig überlieferte hebräische Bibel, der Codex Leningradensis, wird auf das Jahr 1008 oder 1009 n. Chr. datiert. Diese verhältnismäßig junge Handschrift ist die Grundlage der heutigen wissenschaftlichen Standardausgabe der hebräischen Bibel (Biblia Hebraica Stuttgartensia, BHS). Auf ihr beruhen wiederum die meisten neueren Übersetzungen ins Deutsche.
Keine Originale
32
II. Schreibfehler
Vorgehensweise
Textkritischer Apparat
Voraussetzung: Sprachkenntnisse
Grundregeln
Textsicherung
Beim fortwährenden Abschreiben der Texte kam es immer wieder zu Veränderungen, denn auch die gründlichsten Schreiber machen Fehler. Diese sind heute nicht mehr auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Viele biblische Texte sind aber in mehreren Handschriften, die zum Teil voneinander unabhängig sind, überliefert. Dieser Befund ermöglicht es, in begrenztem Maße Fehler zu identifizieren und die jeweils älteste Variante hypothetisch zu rekonstruieren. Dazu kann man hebräische Handschriften miteinander vergleichen, z.B. auch die in QumranW gefundenen Fragmente von Bibelhandschriften oder den Pentateuch der Samaritaner W. Man kann auch antike Übersetzungen des hebräischen Textes mit dem überlieferten vergleichen, etwa die Septuaginta W oder die syrischen Übersetzungen. Oder man schließt aus dem Buchstabenbestand auf typische Abschreibfehler zurück, falls sich der Text trotz gleichlautender Handschriften nicht sinnvoll lesen lässt. Wir machen das heute noch ganz selbstverständlich, wenn wir einen alltäglichen Text mit typischen Rechtschreibfehlern richtig dechiffrieren. Auch im Hebräischen gibt es typische Fehler, wie etwa die Verwechslung von Buchstaben, die sehr ähnlich aussehen, so etwa " (b) und , (k) oder $ (d) und 9 (r). Das wichtigste Hilfsmittel für diesen Methodenschritt ist der textkritische Apparat in den originalsprachlichen Bibelausgaben (für die Hebräische Bibel die BHS, fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.). Dort werden in knapper Form die möglichen Varianten des Textes mit jeweiligen Zeugen aufgeführt und mitunter auch schon gewichtet. Um mit den kritischen Editionen arbeiten zu können, ist es allerdings unerlässlich, die alten Sprachen der Bibel, Hebräisch und Griechisch, zu beherrschen. Das führt dazu, dass nicht jeder eine Textkritik selbst durchführen kann. Allerdings wurden in der Textkritik inzwischen so große Fortschritte erzielt, dass heute ein ausgezeichneter Standardtext zur Verfügung steht. Es gibt aber weiterhin einige Problemstellen, an denen die Textüberlieferung unklar ist und man Entscheidungen treffen muss, die nie eindeutig sein können. Beim Vergleich von Übersetzungen etwa kann es zu Differenzen kommen, die in vielen Fällen auf eine andere textkritische Entscheidung der Übersetzer zurückzuführen sind (vgl. das Beispiel unten). Deswegen sollte man um die Problematik wissen, derer sich die Textkritik annimmt, selbst wenn man nicht alle ihre Entscheidungen selbst überprüfen kann. Dazu gehört auch die Kenntnis der drei Grundregeln der Textkritik. Sie kommen zum Tragen, wenn bei Textvarianten entschieden werden muss, welche davon wahrscheinlich den ursprünglichen Text darstellt.
2. Text- und Literarkritik Stichwort
Grundregeln der Textkritik Zum Handschriftenbefund: 0 Manuscripta ponderantur, non numerantur. Es zählt nicht die Anzahl der Handschriften, die eine Variante bieten, sondern deren geschichtliches Gewicht. Zum Vergleich der Lesarten: 0 Lectio difficilior lectio probabilior. Die schwierigere Lesart ist wahrscheinlich die ursprünglichere, da es plausibler ist, dass spätere Abschreiber geglättet haben. 0 Lectio brevior lectio potior. Die kürzere Lesart ist die wahrscheinlichere, da spätere Abschreiber erläuternd ergänzt haben könnten. Grundsätzlich gilt, dass als älteste erreichbare Textgestalt diejenige zu werten ist, aus der die Varianten am besten (und einfachsten) erklärt werden können.
Hilfsmittel Textkritische Apparate der originalsprachlichen Bibelausgaben fi Literaturverzeichnis, S. 168ff. Beispiel Gen 4,8 EÜ (1980): Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. ELB: Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel. Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Vergleicht man die beiden Übersetzungen, so fällt auf, dass in der EÜ 1980 eine wörtliche Rede steht („Gehen wir aufs Feld!“), die es in der ELB und in der revidierten EÜ 2016 nicht gibt. Mit einer Fußnote deuten die Übersetzungen das Problem an: Der Leser erwartet diese wörtliche Rede, sie fehlt aber in den hebräischen Handschriften. Deswegen lassen viele Handschriften an dieser Stelle eine Lücke. In den antiken Übersetzungen, etwa in der LXX, gibt es an dieser Stelle die erwartete wörtliche Rede. Aus diesem Grund schlägt die BHS vor, an dieser Stelle die wörtliche Rede zu ergänzen. In der entsprechenden Anmerkung ist zu lesen: mlt Mss Edd hic interv; frt ins c @ॄ्ठ נֵלְ כָה הַ שָׁ דֶ הcf ॎ . Um diese Fußnote entschlüsseln zu können, braucht man den Schlüssel, der im Vorwort der BHS abgedruckt ist. Die EÜ 1980 ist dem Vorschlag der BHS und damit letztlich der LXX gefolgt und hat die wörtliche Rede ergänzt, die ELB und die revidierte EÜ 2016 haben sich dafür entschieden, dem hebräischen Handschriftenbefund zu folgen. Wendet man die oben genannten Grundregeln der Textkritik auf das Beispiel an, dann sind hier vor allem die zweite und dritte Regel wichtig: Die kürzere Lesart ist die ohne die wörtliche Rede. Sie ist auch gleichzeitig die schwierigere, weil sie der Erwartung widerspricht. Daher scheint die Entscheidung, die wörtliche Rede wegzulassen, textkritisch gut begründet.
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II.
Textsicherung Wissens-Check
1. Auf welches Problem mit den Bibeltexten reagiert die Textkritik? 2. Welche Kenntnisse braucht man, um Textkritik durchführen zu können? 3. Warum ist es wichtig zu wissen, was Textkritik ist?
Literarkritik Das Hauptinteresse der Literarkritik ist die Kohärenz eines Textes. Sie versucht zuerst einen möglichst kohärenten Textabschnitt zu identifizieren, der als Untersuchungstext geeignet ist. Innerhalb dieses Abschnittes prüft sie dann, ob noch Kohärenzstörungen verbleiben. Stichwort Der Begriff Kohärenz meint den inneren logischen Zusammenhang eines Textes. Eine zufällige Aneinanderreihung von Wörtern wäre ein völlig inkohärenter Text; eine wissenschaftliche Arbeit, die eine Gliederung hat und einer logischen Argumentation folgt, ist in der Regel ein sehr kohärenter Text. Texte, an denen mehrfach von verschiedenen Menschen gearbeitet wurde, haben oft eine schwächere Kohärenz, weil es nicht immer funktioniert, alle Beiträge zum Text harmonisch einzuarbeiten. Oft bleiben Brüche im Text, die auch später noch zu erkennen sind.
Leitfragen Wo beginnt und wo endet der Text? Lässt sich der abgegrenzte Text störungsfrei lesen? Und wenn nicht: Ist der Text aus mehreren Teiltexten zusammengesetzt?
Die Bibel ist ein ganzer Text
Kapiteleinteilung ist nicht Textabgrenzung
Abgrenzung Biblische Texte stehen immer in einem Gesamtzusammenhang, der für ihre Bedeutung wichtig ist; die Bibel kann nur als ganzes Buch richtig verstanden werden. Gleichzeitig hat man meistens nur Interesse an einem bestimmten Text und je nach Anforderung (Hausarbeit, Abschlussarbeit, wissenschaftlicher Aufsatz, Predigt, Schulstunde etc.) begrenzte Kapazitäten für eine bestimmte Textmenge. Daher ist es zwingend nötig, den Untersuchungsraum eindeutig einzugrenzen. Dazu dient die Textabgrenzung. Wenn man mit der Auslegung eines biblischen Textes zu tun hat, hat man meistens schon einen Textbereich im Kopf, der mit Hilfe von Stellenangaben definiert wird, etwa Gen 22,1–19; Ex 3,5–7; 1 Sam 16–17. Die Einteilung der Bibel in Verse und Kapitel ist zwar sehr praktisch, wenn es darum geht, Stellen wiederzufinden oder anderen mitzuteilen. Die Kapitelgrenzen haben aber mitunter nichts mit Textgrenzen zu tun: Dort, wo zahlenmäßig ein neues Kapitel
2. Text- und Literarkritik
anfängt, muss nicht unbedingt auch ein neuer Text beginnen. Das Gleiche gilt für die Angabe von Versen. Kapitel- und Versangaben beruhen auf einem Verweissystem, das zum Bibeltext erst lange nach seiner Niederschrift hinzugefügt wurde. Beispiel Ein einfaches Beispiel ist Gen 2,1. Man sollte meinen, dass mit dem zweiten Kapitel des Buches Genesis ein neuer Text beginnt. Dabei ist der erste Schöpfungsbericht an dieser Stelle noch gar nicht abgeschlossen, denn der siebte Tag wird erst in Gen 2,3 erzählt. Gleich danach findet sich ein Beispiel für die schwierige Einteilung in Verse. Gen 2,4 wird von vielen Bibelübersetzungen gerne aus inhaltlichen Gründen in Gen 2,4a und Gen 2,4b geteilt. Man empfindet die Textgrenze hier also mitten im Vers, was an sich legitim ist. In der Regel wird dann noch eine Zwischenüberschrift eingeführt. Aufgrund exegetischer Überlegungen wäre es hier aber auch möglich, den ganzen Vers 4 zum nachfolgenden zweiten Schöpfungsbericht hinzuzunehmen. Letztlich können darüber nur Argumente am Text entscheiden – nicht aber die Einteilungen in Verse und Kapitel.
Stichwort
Kapiteleinteilung – Verseinteilung Die Kapiteleinteilung der Bibel, die wir heute verwenden, hat Stephen Langton (ca. 1150–1228, ab 1207 Erzbischof von Canterbury) anhand der lateinischen Bibel (Vulgata) um 1206 entwickelt. Ab 1551 begann der französische Buchdrucker Robert Estienne (Stephanus; 1503–1559), in seinen gedruckten Bibelausgaben diese Kapitel durch Verse weiter zu untergliedern. Auch wenn sich dieses Referenzsystem aus praktischen Gründen durchgesetzt hat, muss man festhalten, dass die Kapiteleinteilung und auch die Verseinteilung mitunter an den internen Grenzen des Gesamttextes vorbeigehen. Kapitel und Verse dienen daher nur zur Nummerierung und Bezeichnung von Bibelstellen. Sie sind kein Argument für die Abgrenzung von Abschnitten. Die in modernen Bibelausgaben eingestreuten Zwischenüberschriften gehen auf das jeweilige Übersetzergremium zurück und sind bestenfalls als Gliederungsvorschläge, ebenfalls aber nie als Argumentationsbasis für eine Textabgrenzung zu verwenden.
Die methodische Abgrenzung versucht nun, eine verantwortete und von Argumenten gestützte Entscheidung zu treffen, wo die Grenzen des Textes liegen, damit der Text an diesen Grenzen möglichst verletzungsfrei aus seinem Zusammenhang entnommen werden kann. Einen solchen Textabschnitt bezeichnet man als Perikope.
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II.
Textsicherung Stichwort
Perikope Als Perikope (gr. peqijópsx, perikópto: rundherum ausschneiden) bezeichnet man einen Ausschnitt aus dem Bibeltext. Dieses Vorgehen zerschneidet den Kontext – man sollte sich also immer bewusst sein, dass die Perikope eigentlich in einen größeren Zusammenhang gehört. Das Bewusstsein, dass hier der Text herausgeschnitten wird, mahnt einerseits zur Vorsicht beim Ausschneiden und fordert andererseits den späteren Arbeitsschritt der Kontexteinbettung (fi S. 141ff.) ein.
Abb. 3 Im Grunde müssen wir uns den Bibeltext so vorstellen: ohne Kapitel, Verse, Überschriften oder Absätze. Daher sollte man genau überlegen, wo man ein Textstück herausschneidet.
Vorgehensweise
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. Das Trockene nannte Gott Land und das angesammelte Wasser nannte er Meer. Gott sah, dass es gut war. Dann sprach Gott: Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte bringen mit ihrem Samen darin. So geschah es. Das Land brachte junges Grün hervor, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, alle Arten von Bäumen, die Früchte bringen mit ihrem Samen darin. Gott sah, dass es gut war. Es wurde Abend und es wurde Morgen: dritter Tag. Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen; sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, die über die Erde hinleuchten. So geschah es. Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hinleuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war. Es wurde Abend und es wurde Morgen: vierter Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen. Gott schuf alle Arten von großen Seetieren und anderen Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt, und alle Arten von gefiederten Vögeln. Gott sah, dass es gut war. Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und vermehrt euch und bevölkert das Wasser im Meer und die Vögel sollen sich auf dem Land vermehren. Es wurde Abend und es wurde Morgen: fünfter Tag. Dann sprach Gott: Das Land bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor, von Vieh, von Kriechtieren und von Tieren des Feldes. So geschah es. Gott machte alle Arten von Tieren des Feldes, alle Arten von Vieh und alle Arten von Kriechtieren auf dem Erdboden. Gott sah, dass es gut war. Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen. Allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen Pflanzen zur Nahrung. So geschah es. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag. So wurden Himmel und Erde vollendet und ihr ganzes Gefüge. Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte. Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden. Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens. Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde
Man untersucht bei der Abgrenzung vier Stellen im Text: Die Verse am Anfang und am Ende des zu untersuchenden Textes sowie die Verse am Ende des vorhergehenden und am Anfang des nachfolgenden Textes. Sie stellen die Schnittkanten dar, an denen der Untersuchungstext herausgenommen wird. Dabei geht es wirklich nur um die Übergänge zwischen den Versen, die die Schnittkanten bilden. Man muss dazu nicht nacherzählen, „was bisher geschah“ oder wie es weitergeht. Die Bedeutung des Kontextes des Untersuchungstextes bleibt einem eigenen, späteren Methodenschritt (Kontexteinbettung) vorbehalten. Stattdessen fragt man an den genannten vier Stellen, welche Hinweise es dafür gibt, dass vor dem Beginn des zu untersuchenden Texts, also am Ende des vorausgehenden Texts, und am Ende des zu untersuchenden Texts wirklich etwas endet – und am Beginn des Untersuchungstextes bzw. des folgenden Textes wirklich etwas Neues beginnt. Wie man diese Hinweise entdeckt, zeigen die folgenden Kriterien.
2. Text- und Literarkritik
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Stichwort
Mögliche Kriterien für die Abgrenzung Die Kriterien für einen Textanfang oder ein Textende beziehen sich zuerst auf die Struktur der Texte: Wechselnde Zeitangaben (Wechsel der Tageszeit, Angaben über verstrichene Zeit usw.), wechselnde Personenkonstellationen, Orte, Redesituationen, Redeperspektiven sowie Erzählperspektiven deuten auf eine neue Texteinheit hin. Nach diesen eher formal greifbaren Kriterien, die nicht immer stark ausgeprägt sein müssen, blickt man auf die thematische Einheit eines Textes: Wenn ein neues Thema beginnt, kann das einen neuen Text eröffnen. Dieses Kriterium ist allerdings mit Vorsicht zu behandeln und muss mit strukturellen Kriterien korreliert werden, denn ein zusammengehöriger Text kann auch mehrere unterschiedliche Themen enthalten.
Wenn ein Text abgegrenzt wurde, sollte man die Gegenprobe machen: Ist das abgegrenzte Stück einigermaßen aus sich selbst verstehbar und verständlich? Oder fehlt etwas Wesentliches, das in anderen, etwa angrenzenden Texten steht? Letztlich sollte der innere Zusammenhang (fi Kohärenz, S. 34) des Textes größer sein als seine Verbindungen nach außen (vgl. G. Fischer, Wege, 6). Am Ende der Abgrenzung ist eine argumentativ abgesicherte Entscheidung zu treffen: Mit welchen Textgrenzen arbeitet man weiter bzw. wo genau beginnt und endet der Untersuchungstext? Die Psalmen stellen bei der Abgrenzung einen Spezialfall dar. In der Regel sind sie durch die Psalmüberschriften im ersten Vers (z.B. „von David“) deutlich voneinander abgegrenzt. Ist so eine Überschrift, die nicht mit den Überschriften der Übersetzer in den verschiedenen Bibelausgaben zu verwechseln ist, nicht vorhanden, dann kann es durchaus sein, dass zwei Psalmen, die eigene Kapitelnummern tragen, eigentlich zusammengehören. Ein Beispiel dafür sind die Psalmen 42 und 43: Ps 43 trägt keine eigene Psalmüberschrift. Die Wiederkehr des Refrains von Ps 42 (42,6.12) in Ps 43,5 ist ein Hinweis darauf, dass Ps 42–43 entgegen der trennenden Nummerierung eine Einheit bilden.
Beispiel Ex 3,1–4,17 (EÜ) Ex 2,25 Gott blickte auf die Israeliten. Gott hatte es wahrgenommen. 3,1 Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Eines Tages trieb er das Vieh über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb. Dass zwischen Ex 2,25 und 3,1 eine Textgrenze vorliegt, ist an mehreren Merkmalen zu erkennen. Zum einen wechseln die handelnden Personen. Gott und die Israeliten spielen in der folgenden Handlung vorerst keine Rolle, dafür werden Mose und sein Schwiegervater neu eingeführt. Zum anderen gibt die Bemerkung „Eines
Abgrenzung von Psalmen
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II.
Textsicherung Tages“ eine neue Zeit an, und mit der Bewegung zum Horeb ist auch ein neuer Ort erreicht. 4,17 Diesen Stab nimm in deine Hand! Mit ihm wirst du die Zeichen vollbringen. 4,18 Darauf kehrte Mose zu seinem Schwiegervater Jitro zurück. Er sagte zu ihm: Ich will zu meinen Brüdern nach Ägypten zurückkehren. Ich will sehen, ob sie noch am Leben sind. Jitro antwortete Mose: Geh in Frieden! Auch das Textende dieser Perikope ist gut zu erkennen. 4,18 beginnt direkt mit einem Ortswechsel, der Erzählbogen von 4,17 ist mit dem Ende des Gesprächs ebenfalls zu Ende gekommen. Außerdem wird Jitro als Person wieder erwähnt, der seit 3,1 nicht an der Handlung beteiligt war. V. 18 nimmt eine Sonderrolle ein. Dieser Vers ist weder dem Text 3,1–4,17 noch dem folgenden Text ab 4,19 („Der HERR sprach zu Mose in Midian: Mach dich auf, und kehr nach Ägypten zurück; […].“) eindeutig zuzuordnen. Er übernimmt die Funktion eines Scharnierverses; er vermittelt zwischen den beidenTexten vor (Jitrofi 3,1) und nach ihm („nach Ägypten“ in V. 18 und V. 19; Jitro lebt „in Midian“, V. 19).
Man kann sich den Befund mit Hilfe einer Synopse (aus dem Griechischen, „Zusammenschau“) vor Augen führen: Ex 3,1–4,17 3,1 Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. …
Ex 4,18 4,18 Darauf kehrte Mose zu seinem Schwiegervater Jitro zurück. Er sagte zu ihm: Ich will zu meinen Brüdern nach Ägypten zurückkehren. Ich will sehen, ob sie noch am Leben sind. Jitro antwortete Mose: Geh in Frieden!
Ex 4,19ff.
4,19 Der HERR sprach zu Mose in Midian: Mach dich auf und kehr nach Ägypten zurück; …
Diese Synopse zeigt, wie Ex 4,18 als Scharniervers funktioniert. Hat man die Funktion des Verses erkannt, beschreibt man diese in einem kurzen Text (s.u.), ohne dass man die Tabelle in denText einfügen muss – sie ist hier als Veranschaulichung dafür zu verstehen, wie Exegese zunächst auf einem Notizzettel betrieben werden kann: Verschiedene Arten der Visualisierung (z.B. Synopsen, Farben) helfen, Erkenntnisse zu gewinnen und diese zu beschreiben. Wenn die Beschreibung klar genug ist, kann auf die Skizze verzichtet werden. An diesem Übergang wird zugleich deutlich, wie problematisch der Methodenschritt „Abgrenzung“ bisweilen sein kann. Das Phänomen eines Scharnierverses, der zwei Perikopen verbindet, begegnet häufiger. Durch die Abgrenzung geht diese Funktion zunächst verloren und kommt erst wieder in den Blick, wenn der spätere Methodenschritt der Kontexteinbettung (fi S. 141ff.) den unmittelbaren und weiteren Zusammenhang untersucht.
2. Text- und Literarkritik Ex 3,1–4,17 Der Text Ex 3,1–4,17 ist sinnvoll abzugrenzen. Es zeigen sich an den Textgrenzen jeweils Neuansätze hinsichtlich Zeit und Ort. Außerdem bildet die Erwähnung von Jitro in 4,18 eine Entsprechung zu 3,1, die einerseits als Rückbezug und damit als Rahmen gedeutet werden kann, andererseits aber auch als parallele Anknüpfung, so dass die folgende Perikope (ab 4,18) genau dort ansetzt, wo auch die vorausgehende Perikope (ab 3,1) ihren Ausgangspunkt nahm. Eine weitere Abgrenzung innerhalb des Textes erscheint nicht sinnvoll. Die Vorbereitung des Gesprächs zwischen Gott und Mose in 3,1–3 und das anschließende Gespräch sind nicht voneinander zu trennen.
Beispiel: Neh 8,1–2.10–12 (EÜ) Um zu illustrieren, wie sensibel das Problem der Abgrenzung einer Perikope sein kann, sei auf das Kapitel Nehemia 8 und seine Aufnahme in der römisch-katholischen Leseordnung hingewiesen. In der ersten Hälfte von Neh 8 geht es um die idealtypische Verlesung der Tora des Mose vor dem ganzen Volk, um ihre Erklärung durch qualifizierte Personen („Leviten“) und ihr Verstehen durch alle Anwesenden. Man könnte auch sagen, dass hier eine ideale liturgische Begegnung mit Gottes Wort beschrieben wird. Die Leseordnung der römisch-katholischen Kirche entnimmt nur wenige Verse aus dem langen Kapitel: Neh 8,2–4a.5–6.8–10 (3. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C). Es soll hier nicht die Kürzung diskutiert, sondern nur gezeigt werden, wie die Auslassung von Neh 8,1, also die Abgrenzung nicht vor V. 1, sondern vor V. 2 den Blick auf den Text ganz erheblich verändert. Die Gottesdienstbesucher hören folgenden Einstieg in den Text: „Lesung aus dem Buch Nehemia. In jenen Tagen 2brachte der Priester Esra die Weisung vor die Versammlung, Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten. 3Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, daraus vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch der Weisung …“ (Neh 8,2–3). Mit diesem Textanfang mit V. 2 ergibt sich der Eindruck, dass die Initiative beim Priester Esra liegt, der allein aktiv ist, während das Volk passiv zuhört und belehrt wird. Dass dieser Eindruck falsch ist, wird deutlich, wenn man bei der Abgrenzung der Perikope V. 1 dazu nimmt: „ 1Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor und bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit der Weisung des Mose zu holen, die der H ERR den Israeliten geboten hat. 2Am ersten Tag des siebten Monats brachte der Priester Esra die Weisung vor die Versammlung, Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten …“ (Neh 8,1–2). Aus V. 1 erfährt man, dass die Initiative beim Volk liegt, das von sich aus den Wunsch äußert, die Weisung (Tora) des Mose zu hören und gelehrt zu bekommen. Das Volk ist also aktiv: Es versammelt sich und bittet um die Ver-
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II.
Textsicherung
kündigung der Weisung des H ERRN. Dieser wesentliche Gedanke der tätigen Beteiligung und des großen Interesses des Volkes geht verloren, wenn der „Schnitt“ zwischen V. 1 und V. 2 gesetzt und V. 1 weggelassen wird. Je nachdem, ob man mit V. 1 oder mit V. 2 die Lektüre des Textes beginnt, ergibt sich ein anderer Blickwinkel. Daher ist es notwendig, sorgfältig zu begründen, wo ein textgemäßer Einschnitt zu setzen ist. Bei Neh 8 lässt sich eine Abgrenzung nur vor V. 1 gut begründen, und so wird der Verdacht bestätigt, dass die Aktivität des Volkes am Anfang ein entscheidender Aspekt des Textes ist. Wie die Begründung der Abgrenzung vor Neh 8,1 aussehen kann, wird im Folgenden demonstriert. Neh 7,72–8,2 Neh 7,72 beschreibt das Ende einer Bewegung: Etliche Bevölkerungsgruppen lassen sich nieder; beim Herannahen des siebten Monats sind die Israeliten in ihren Städten. Diese eher statischen Aussagen sprechen für ein Textende nach Neh 7,72, während mit der Versammlung des Volkes, die zugleich einen Ortswechsel darstellt, in Neh 8,1 eine neue Handlung beginnt, die durch neue Protagonisten, das Volk und Esra, getragen wird. Dazu kommt mit dem „Buch der Weisung des Mose …, die der HERR den Israeliten geboten hat“ eine neue Größe ins Spiel, die vergleichsweise ausführlich vorgestellt wird und daher als sehr wichtig erscheint. In Neh 8,2 kann der Text nicht sinnvoll beginnen, da dort diese Weisung bereits als bekannt vorausgesetzt wird; ohne V. 1 wüsste man nicht, was das für eine Weisung ist, die der Priester Esra heranbringt. Auch wüsste man ohne V. 1 nicht, dass die in V. 2 erwähnte „Versammlung“ faktisch „das ganze Volk“ ist. V. 2 baut also auf in V. 1 eingeführte neue Größen auf. Daher kann auch die Zeitangabe am Anfang von V. 2 („Am ersten Tag des siebten Monats“) nicht als Neueinsatz gewertet werden. Vom „siebten Monat“ war bereits im vorausgehenden Textende (Neh 7,72) die Rede. Die Zeitangabe dient also nicht als Abgrenzung bzw. Neueinsatz, sondern zur Verklammerung des in Neh 8,1 beginnenden neuen Abschnitts mit dem vorausgehenden Text.
Auch am Ende ist die Abgrenzung der römisch-katholischen Leseordnung nach V. 10 ein Problem. Zwar mag es effektvoll sein, mit folgenden Worten Nehemias zu schließen: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.“ Doch dann fehlen noch zwei Verse, die eine für die Bedeutung der Stelle wichtige Information liefern: „ 11Auch die Leviten beruhigten das ganze Volk und sagten: Seid still, denn dieser Tag ist heilig. Macht euch keine Sorgen! 12Da gingen alle Leute weg, um zu essen und zu trinken und auch andern davon zu geben und um ein großes Freudenfest zu begehen; denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündet hatte“ (Neh 8,11–12). Zum einen wird hier nochmals unterstrichen, dass in das Freudenfest anlässlich der Verkündigung der Weisung des H ERRN tatsächlich auch die Armen und Mittellosen eingebunden werden: Der Auftrag von Neh 8,10 wird erst in
2. Text- und Literarkritik
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8,12 erfüllt. Zum anderen, und das ist ein wichtiger Akzent am Schluss, wird deutlich, dass das Volk die verkündete Weisung auch verstanden hat, wie das schon in V. 8 angedeutet wurde. Die Verse 11 und 12 gehören also zu dieser Perikope wesentlich dazu und beenden erst die Erzählbögen „Freudenfest“ und „Verkündigung und Verstehen der Weisung Gottes“. Schneidet man sie ab, fehlen wichtige Aspekte, und das Verständnis des Textes leidet. Auch zeigt Neh 8,10 keine Signale eines Textendes, ebenso fehlen in Neh 8,11 Anzeichen eines Neueinsatzes. Ein Einschnitt lässt sich erst nach V. 12 und vor V. 13 gut begründen: „Am zweiten Tag versammelten sich die Familienoberhäupter des ganzen Volkes sowie die Priester und Leviten bei dem Schriftgelehrten Esra, um die Worte der Weisung weiter kennenzulernen“ (Neh 8,13). Die Wendung „Am zweiten Tag“ markiert als neue Zeitangabe einen Einschnitt, denn die dazwischenliegende Nacht ist eine Zäsur. Sie ist auch dadurch begründet, dass „alle Leute“ in V. 12 nach Hause gegangen sind und sich in V. 13 am nächsten Morgen eine neue Versammlung einfindet: nicht mehr das ganze Volk, sondern wichtige Vertreter. So kann man ab Neh 8,13 mit Recht eine neue Perikope ansetzen.
Kohärenzprüfung Nahezu alle biblischen Texte haben eine Entstehungsgeschichte hinter sich. Sie stammen nicht von einem Autor, sondern wurden im Laufe der Zeit immer wieder ergänzt und neu angeordnet, bis sie letztlich etwa im zweiten Jahrhundert nach Christus in einer der damaligen Formen festgeschrieben wurden. Mit Veränderungen, die der Text danach erfahren hat, beschäftigte sich die Textkritik. Die nun folgende Frage nach der Kohärenz des Textes und der anschließenden Analyse von Teiltexten fragt nach den Änderungen am Text, die vor seiner Festschreibung entstanden sind. Literarkritik ist also nicht „Literaturkritik“, die sich mit der literarischen Gestalt des Textes beschäftigt, sondern die Frage danach, wie ein Text „Literatur“ wurde (vgl. hierzu und im Folgenden v.a. T. Meurer, Einführung, 54–71). Stichwort
Deutscher und englischer Sprachgebrauch Der deutschsprachige Begriff Literarkritik ist im Englischen eher mit source criticism (Quellenkritik) wiederzugeben, während der englische Begriff des literary criticism eher die Untersuchung der literarischen Gestalt (Struktur- und Inhaltsanalyse) bezeichnet.
Der erste zu untersuchende Aspekt ist hier die Kohärenz des Textes in sich. Wenn der Text Unstimmigkeiten aufweist, dann spricht man von Kohärenzstörungen.
Mögliche Kohärenzstörungen
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II.
Textsicherung Stichwort
Mögliche Hinweise auf Kohärenzstörungen 0 Doppelungen und Wiederholungen 0 Spannungen und Widersprüche 0 wechselnde Wortwahl und wechselnder Stil 0 wechselnde Argumentation/Tendenz
Vorgehensweise
Umgang mit Kohärenzstörungen
Bei einer Doppelung begegnet der gleiche (oder ein sehr ähnlicher) Sachverhalt zwei Mal (oder auch mehrmals) in unterschiedlichen Formulierungen bzw. Ausgestaltungen. – Bei einer Wiederholung tritt eine gleiche oder sehr ähnliche Formulierung mehrmals auf. Ob dies eine Störung oder ein Stilmittel ist, muss dann noch genauer geprüft werden. – Spannung ist ein allgemeinerer Begriff dafür, dass zwei oder mehr Aspekte innerhalb eines Textes nicht zusammenpassen. Ein Widerspruch ist die Steigerung davon: Zwei Aussagen stehen einander diametral entgegen und lassen sich auch mit gutem Willen nicht harmonisieren. Bei der Kohärenzprüfung liest man also die biblischen Texte im Hinblick auf diese Störungen. Sie fallen bei genauem Lesen deutlicher auf. Für gewöhnlich pflegt man viele Ungereimtheiten beim (schnellen) Lesen zu glätten, denn man versucht in der Regel, jedem Text einen Sinn abzugewinnen und über Probleme hinwegzusehen. Oft versuchen auch die Übersetzungen, derartige Kohärenzstörungen auszugleichen. Im einfachsten Fall ergibt sich ein einheitlicher, spannungsfreier Text. Oft aber finden sich Störungen der oben genannten Kategorien. Diese gilt es in jedem Fall zu notieren und in der späteren Auslegung zu berücksichtigen. Vielleicht lässt sich ein vermeintlicher Widerspruch durch eine genaue Analyse des Textes erklären. Zudem kann beispielsweise eine Wiederholung ein Stilmittel sein, das zum Text gehört. Vielleicht lassen sich aber auch Spuren von Überarbeitungen im Text vermuten, wenn Spannungen und Widersprüche nicht anders zu erklären sind. Dann wird der folgende Aspekt der Literarkritik, die Suche nach Teiltexten, wichtig.
Beispiele 1 Sam 17,50–51f (ELB) 50
a b c d 51 a b c
So überwand David mit der Schleuder und mit dem Stein den Philister, und er traf den Philister und tötete ihn. David aber hatte kein Schwert in der Hand. Und David lief und trat zu dem Philister und nahm dessen Schwert,
2. Text- und Literarkritik d e f
zog es aus seiner Scheide und tötete ihn vollends und hieb ihm den Kopf damit ab. …
Der Text zum Ende des Kampfes zwischen David und Goliat erwähnt zwei Mal, dass David Goliat tötet: In 1 Sam 17,50 trifft David den Riesen mit einem Stein aus seiner Schleuder „und tötete ihn“ (50c); dabei wird ausdrücklich gesagt, dass David kein Schwert benutzt. In 1 Sam 17,51 wird zum zweiten Mal erwähnt, dass David Goliat tötet (51e), diesmal aber durch dessen Schwert, mit dem er dem Riesen den Kopf abschlägt. Damit liegt eine Doppelung vor (zweimaliges Töten auf je unterschiedliche Weisen), die zumindest eine Spannung darstellt, denn man kann nur einmal auf eine Weise getötet werden. Man muss vielleicht nicht einen eklatanten Widerspruch annehmen, da man sich die Sache so zurechtlegen kann, dass der Stein dem Riesen eine tödliche Wunde zugefügt hat, der Schwertstreich dann den endgültigen Tod gebracht hat. Viele Übersetzungen glätten die Spannung in dieser Weise. In der Elberfelder Bibel wird die Glättung durch die Hinzufügung des kursiv gedruckten vollends durchgeführt. Die Kohärenzstörung ist damit jedoch nicht wirklich beseitigt.
Das folgende Beispiel wurde in Anlehnung an T. Meurer, Einführung, 63–71, formuliert. Ri 14,5–7 (ZB) 5 a b c d 6 a b c d e eR 7 a b c
Und Simson ging mit seinem Vater und seiner Mutter hinab nach Timna. Und sie kamen zu den Weinbergen von Timna, und sieh, da kam ein junger Löwe brüllend auf ihn zu. Da durchdrang ihn der Geist des HERRN, und er riss ihn auseinander, wie man ein Zicklein auseinander reißt, obwohl er nichts in der Hand hatte. Seinem Vater und seiner Mutter aber berichtete er nicht, was er getan hatte. Dann ging er hinab und redete mit der Frau; und in den Augen Simsons war sie die Richtige.
Der Text zeigt einige Kohärenzstörungen: Das erste Verb steht im Hebräischen im Singular, müsste aber bezogen auf die drei Personen Simson, Vater und Mutter im Plural stehen. Die Pronomina in V. 6 sind mehrdeutig. Wer zerreißt wen mit bloßen Händen, der Geist des HERRN Simson oder Simson den Löwen? Warum führt der Text Simsons Eltern ein, um dann zu sagen, dass sie von der erzählten Handlung nichts erfahren haben? Warum wird zweimal erzählt, dass Simson nach Timna hinabgeht? Diese Kohärenzstörungen (Doppelungen, Widersprüche, Spannungen) lassen vermuten, dass der vorliegende Text aus mehreren Texten zusammengesetzt wurde. Daher ist dieses Stück auch noch daraufhin zu untersuchen, ob sich diese Teiltexte identifizieren lassen.
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II.
Vorgehensweise
Textsicherung
Teiltexte und relative Chronologie Kohärenzstörungen in einem Text lassen sich mitunter auf das Wachstum des Textes zurückführen: Ein ursprünglicher Text wurde durch einzelne Sätze oder andere Texte erweitert. Das war in der Antike kein unüblicher Vorgang. Zwar galt der vorhandene Text vielleicht schon als wichtig und wertvoll, daher hat man ihn weiter abgeschrieben. Das schloss aber nicht aus, dass man ihm weiteren Text hinzufügte. Vielleicht wurden auch zwei Texte zusammengefügt, die ursprünglich getrennt standen. Solche redaktionellen Arbeiten können Spuren hinterlassen haben. Innerhalb einer Erzählung kann die Wiederholung einer bestimmten Wendung, mit der ein unterbrochener Erzählfaden wiederaufgenommen wird, ein Hinweis darauf sein, dass dazwischen etwas eingeschoben wurde. Man spricht dann von einer Wiederaufnahme. Bei der Frage nach Teiltexten und einer relativen Chronologie versucht man, diejenigen Blöcke eines Textes, die für sich ohne Störungen im Lesefluss als kohärente Texte lesbar sind, zu Teiltexten zusammenzufassen; man sucht also nach den Puzzleteilen, aus denen der Gesamttext zusammengesetzt wurde. Stichwort
Mögliche Verhältnisse von Teiltexten zueinander Je nachdem, wie sich die Textteile zueinander verhalten, kann die Literarkritik ihre Ergebnisse in diesen Kategorien beschreiben: 0 einfache Einheit (ein störungsfreier Text), 0 Fragment (ein störungsfreier Text, der jedoch nicht vollständig ist), 0 Erweiterung (ein in sich nicht selbständiger Text, der als Erweiterung oder Kommentar zu einem anderen Text formuliert wurde), 0 erweiterte Einheit (eine Zusammenstellung einer einfachen Einheit oder eines Fragments mit einer oder mehreren Erweiterung/en), 0 zusammengesetzte Einheit (eine Kombination aus zwei oder mehreren einfachen Einheiten oder erweiterten Einheiten).
Literarkritik und Entstehungsgeschichte
Die identifizierten Teiltexte können in eine relative Chronologie gebracht werden, wenn man begründete Vermutungen darüber anstellen kann, welcher Teiltext zuerst geschrieben wurde und welche Texte vermutlich später ergänzt wurden. Dabei geht es nicht darum, die einzelnen Teiltexte zu datieren, sondern darum, sie in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Mit Schlussfolgerungen, etwa auf eine Entstehungsgeschichte des Textes, sollte man sich am Anfang (sowohl am Anfang des exegetischen Studiums als auch am Anfang der Arbeit an einem Text!) zurückhalten. Die Literarkritik als erster Schritt nach der Textkritik hat zur Hauptaufgabe, den Untersuchungstext sinnvoll abzugrenzen und Leseschwierigkeiten zu ermitteln und festzuhalten. Eine entstehungsgeschichtliche Gesamthypothese ist nicht das Ziel der Literarkritik, wie sie hier beabsichtigt ist. Dazu dient die spätere Redaktions-
2. Text- und Literarkritik
kritik (fi S. 133ff.), die den synthetischen Gegenschritt zur Literarkritik darstellt.
Beispiel Ri 14,5–7 (ZB) Die oben untersuchten Kohärenzstörungen legen nahe, im Text verschiedene Teiltexte zu vermuten, die miteinander verwoben wurden. Die Doppelung, dass Simson zweimal nach Timna hinabgeht, ist dabei ein guter Ansatzpunkt. Sie legt nahe, dass die Löwenerzählung zwischen den beiden Hinabgängen eingeschoben ist – der Erzähler musste dann wieder auf die eigentliche Handlung zurücklenken. Hier liegt somit das oben beschriebene Phänomen der Wiederaufnahme vor. Isoliert man diese Erzählung, dann muss man auch die Erwähnung der Eltern isolieren, denn in V. 6e–eR wird die Löwenerzählung vorausgesetzt. Folglich könnte eine spannungsfreie, einfache Einheit so lauten: „Und Simson ging hinab nach Timna und redete mit der Frau; und in den Augen Simsons war sie die Richtige.“ Diese Einheit könnte dann zuerst um die Löwenerzählung erweitert worden sein, anschließend um die Erwähnung der Eltern. Die Episode mit den Eltern ist allein aus diesem kurzen Textstück heraus nicht zu erklären. Im Blick auf Ri 13 wird wahrscheinlich, dass die dort stark repräsentierten Eltern hier noch einmal aufgegriffen werden sollten. Der kurze Einschub V. 6a scheint der Löwenerzählung noch eine theologische Komponente geben zu wollen – für den Fortschritt der Handlung ist er nicht nötig. Grafisch lassen sich diese Zusammenhänge wie unten präsentieren, wobei jede Einrückungsebene ein eigener Teiltext ist. Je weiter die Einrückung ist, desto später ist der Teiltext in der relativen Chronologie zu verorten. Insgesamt ist der Text als erweiterte Einheit zu sehen. 5
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a b c d a b c d e eR a b c
Und Simson ging mit seinem Vater und seiner Mutter hinab nach Timna. Und sie kamen zu den Weinbergen von Timna, und sieh, da kam ein junger Löwe brüllend auf ihn zu. Da durchdrang ihn der Geist des HERRN, und er riss ihn auseinander, wie man ein Zicklein auseinander reißt, obwohl er nichts in der Hand hatte. Seinem Vater und seiner Mutter aber berichtete er nicht, was er getan hatte. Dann ging er hinab und redete mit der Frau; und in den Augen Simsons war sie die Richtige.
Ergebnisse der Literarkritik Die Literarkritik sollte klären, welcher Text als Basis für die Auslegung dienen soll. Seine Grenzen werden durch sie identifiziert. Gleichzeitig könnte
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II.
Textsicherung
man sich jetzt dafür entscheiden, erst einmal einen bestimmten Teiltext des Gesamttextes zu untersuchen. Es empfiehlt sich allerdings, den (kanonischen) Endtext, d.h. den Text, der in modernen Bibelausgaben und Bibelübersetzungen zu finden ist, zu wählen, denn dieser Text ist eine sichere Ausgangsbasis. Durch Analyse identifizierte Teiltexte sind und bleiben immer hypothetisch. Es besteht die Gefahr, dass man für die weitere Analyse voreilig etwas weglässt, was sich auf der Ebene der Strukturanalyse als wesentlicher Textbestandteil herausstellen könnte. Literarkritische Ergebnisse sind somit immer vorläufig. Die eventuelle Schichtung bzw. die notierten Leseschwierigkeiten kann und muss man trotzdem im Kopf behalten und sie mit den weiteren Analyseergebnissen in Beziehung setzen, sobald diese vorliegen. Wissens-Check
1. Was ist die Kohärenz eines Textes? 2. Mit welchen Kriterien lässt sich die Abgrenzung eines Textes begründen? Was sind dabei eher schwache Kriterien? 3. Welche Phänomene kann man als Kohärenzstörungen betrachten? 4. Warum ist es wichtig nach Kohärenzstörungen zu suchen? 5. Welches Ergebnis ist nach dem Schritt der Literarkritik festzuhalten?
III. Strukturanalyse Überblick
D
as Ziel der Strukturanalyse ist es, „zu begreifen, was uns ergreift“ (Emil Staiger). Es geht darum herauszufinden, wie etwas erzählt wird, dass es so spannend, verwirrend etc. ist, wie etwas poetisch gestaltet ist, dass es „schön“ ist, oder was bewirkt, dass ein Text beeindruckt, schwer oder leicht verständlich ist etc. Noch möglichst unabhängig vom konkreten Inhalt werden hier die Strukturen eines
Textes, also die Textoberfläche, analysiert. Der wichtigste Schritt ist dabei eine Gliederung des Textes und die Frage nach der Funktion seiner Einzelteile zueinander. Zur Strukturanalyse gehören aber auch Fragen nach Personen, Zeiten, Orten, nach Redesituationen, Redearten, Redeperspektiven und Stilmitteln. Die Strukturbeschreibung als Struktursynthese wertet abschließend die Analysen aus.
Vorüberlegungen Jeder Text hat Strukturen, auch wenn diese nicht immer einfach zu erkennen sind. Erst durch Strukturen wird eine Ansammlung von Wörtern zu einem Text. Die Wortherkunft von Text gleicht jener der Begriffe Textil oder Textur: Sie stammen vom lateinischen texere ab, das „weben, flechten“ bedeutet. Texte sind ebenso wie Textilien „Gewebe“. Die Elemente eines Gewebes sind horizontal und vertikal miteinander verbunden, etwa Fasern und Fäden in der Kleidung. Dieses Bild passt gut zu Texten: Das kleinste Element sind die Buchstaben, die zu Wörtern werden, die sich wiederum zu Sätzen verbinden, die dann untereinander Abschnitte bilden und die sich letztlich zu einem Text verweben. Mit der konkreten Anordnung der „Fasern“ und „Fäden“ eines Textes entsteht sein charakteristischer Eindruck: Er gefällt, er verwirrt, er ist spannend usw. Der Strukturanalyse geht es darum herauszufinden, aufgrund welcher formaler Gestaltungsweisen dieser Eindruck entsteht. Aktiv als Leitfrage formuliert: Welche Strategie verfolgt der Text mit seiner formalen (äußeren) Gestalt, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen? Wie werden aus den Buchstaben Wörter, aus den Wörtern Sätze und wie wird aus den Sätzen ein Text? Im Bild gesprochen: Wie wird aus Fasern und Fäden ein Gewebe, ein Textil? Ein Gewebe und ein Text entstehen nicht ohne Muster und Strukturen. Erkennt man diese, so sieht man mehr und versteht mehr. Mit der Strukturanalyse verschafft man sich einen Überblick über den Text und kann klarer
Text: von lat. texere, „weben“
Strukturen sind Textstrategien
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III. „Textsurvey“
Ziel von Strukturanalyse und Struktursynthese
Strukturanalyse
benennen, wie der Text aufgebaut ist. Das Ergebnis der Strukturanalyse ist eine gute Kenntnis der Textoberfläche. Zu diesem Vorgehen gibt es eine Analogie in der Archäologie (vgl. T. Meurer, Einführung, 13–14). Bevor man eine Ausgrabung beginnt, unternimmt man einen Survey, d.h. man untersucht die Erdoberfläche eines bestimmten Gebiets, um herauszufinden, welche Siedlungsstrukturen sich abzeichnen und wo sich eine Grabung lohnen könnte. Ganz ähnlich macht die Strukturanalyse ihren Textsurvey. Die tiefergehende Grabung an einzelnen Worten und Sätzen findet erst danach in der Inhaltsanalyse statt, wenn man die wichtigen Stellen identifiziert hat. Eine gründliche Strukturanalyse und Struktursynthese eröffnen den Weg zum Textverständnis und bilden die Grundlage für eine dem Text angemessene Gesamtauslegung. In seiner Struktur spiegelt der Text Intentionen und Lenkungen wider, die in späteren Methodenschritten nur dann tiefer erfasst werden können, wenn sie in diesem Schritt ausreichend reflektiert wurden. Im Ergebnis liefern Strukturanalyse und Struktursynthese ein genaues Wissen um die Oberfläche des Textes, also um seine sprachliche bzw. rhetorische Gestalt, die den Lektürevorgang steuert. Man bekommt einen Blick für die Argumentationsstruktur, man kann leichter durchschauen, wie und warum ein bestimmter Eindruck entsteht, man erkennt, ob ein Text linear auf ein bestimmtes Ziel hin fortschreitet oder eher um ein Zentrum kreist, so dass immer wieder darauf Bezug genommen wird usw. Mithin werden von der Struktur her die „Gravitationszentren“ oder „springenden Punkte“ deutlich, die man noch genauer anschauen muss. Somit ergeben sich erste Mutmaßungen über Inhalt, Aussagen und Intentionen des Textes, die hier noch nicht dargestellt, sondern in die Analysen der weiteren Methodenschritte hineingenommen und dort vertieft werden. Der Blick auf die Struktur einerseits und den Inhalt andererseits sind faktisch zwei Perspektiven auf den gleichen Gegenstand, die beim Lesen auch immer gleichzeitig eingenommen und als Einheit wahrgenommen werden. Struktur und Inhalt entsprechen einander. Ihre methodische Trennung in der Analyse dient zur Verlangsamung und Vertiefung des Lesens und leitet zum genauen Hinschauen an. Subtile Textstrategien zur Leserlenkung werden präziser wahrgenommen und vorschnelle Eintragungen eigener Eindrücke und Meinungen verhindert.
1. Strukturübersicht
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1. Strukturübersicht Leitfragen In welche Abschnitte lässt sich der Text gliedern? Welche strukturellen Elemente des Textes zeigen jeweils das Ende und den Anfang eines Abschnitts an? Lassen sich Abschnitte in Unterabschnitte unterteilen? Gibt es vergleichbar bzw. ähnlich strukturierte Teile?
Beschreibung Der erste Schritt der Strukturanalyse ist die Gliederung des Textes. Dazu teilt man zuerst den Text in Abschnitte ein, die nachher in eine Gliederung einsortiert und mit aussagekräftigen Überschriften versehen werden. Um herauszufinden, wo im Text ein neuer Abschnitt beginnt bzw. ein anderer endet, eignen sich ähnliche Kriterien wie bei der Abgrenzung (vgl. T. Meurer, Einführung, 49–50).
Vorgehensweise
Stichwort
Mögliche Kriterien für Abschnittswechsel 0 0 0 0 0 0 0 0
Erzählbögen (Beginn, Höhepunkt, Ende) neue Personen, neue Orte bzw. Ortswechsel neue Bilder, Themen, Züge Sprecherwechsel (markiert bzw. nicht markiert) Ende bzw. Unterbrechung einer ausgeprägten Leitwortstruktur Besonderheiten im Satzbau Wechsel zwischen erster, zweiter und dritter Person (ich Ee du Ee er/sie) Wechsel zwischen ausdrücklicher Nennung eines Namens oder einer Sache und dem zugehörigen Pronomen und neuerlicher Nennung (z.B. „Mose“ Ee „er“ Ee „Mose“)
Sind eines oder mehrere dieser Kriterien erfüllt, dann ist es naheliegend, von einem Abschnittswechsel auszugehen. Es ist besonders wichtig, dass die Einschnitte im Text nicht (oder allenfalls nachrangig) nach inhaltlichen Gesichtspunkten erfolgen. Die Strukturanalyse bleibt an der Textoberfläche. Blickt man zu früh und ausschließlich auf den Inhalt, ist die Gefahr groß, dass man zu schnell zu wissen glaubt, was der Text besagt: Einzelne Stichworte werden mit unreflektierten eigenen Voraussetzungen vermischt und so dem Text die eigenen Interessen übergestülpt. Stattdessen ist zuerst sorgfältig auf die äußere Form zu achten: Sie kann leichter anhand von intersubjektiv nachvollziehbaren Kriterien beschrieben werden.
Form vor Inhalt
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III.
Strukturanalyse
Beispiel Ex 3,1–4 (EÜ) In folgendem Beispiel werden ausschließlich formale Kriterien benannt, die für eine Gliederung herangezogen werden könnten: 1
Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian [neue handelnde Person; neue Ortsangaben]. Eines Tages [Zeitwechsel von immer zu eines Tages] trieb er das Vieh über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb. [Ortswechsel] 2Dort erschien ihm der Engel des HERRN [neue Person] in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch [neue Szene]. Er schaute hin: Der Dornbusch brannte im Feuer, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt. 3Mose sagte [Redeeinleitung]: Ich will dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht? [Redeende] 4Als der HERR [neue Person] sah [Perspektivwechsel], dass Mose näherkam [Ortswechsel], um sich das anzusehen, rief Gott ihm mitten aus dem Dornbusch zu [Redeeinleitung]: Mose, Mose! [Redeende] Er antwortete [Redeeinleitung]: Hier bin ich. [Redeende]
Hat man anhand von formalen Kriterien auf der Textoberfläche Abschnitte gefunden, dann ist zu überlegen, ob alle diese Abschnitte auf einer Gliederungsebene liegen. In mehreren Durchläufen kann man sich fragen: Lassen sich einzelne kleinere Abschnitte größeren unterordnen? Oder lassen sich größere Abschnitte noch feiner untergliedern? Stichwort Eine Untergliederung ist nur dann sinnvoll, wenn mindestens zwei Unterabschnitte vorliegen – ähnlich wie bei der Gliederung einer Seminararbeit der Punkt 1.1 unbedingt mindestens einen Punkt 1.2 erfordert: „sub-headers never walk alone“. Abschnitt Unterabschnitt Unterabschnitt Abschnitt Unterabschnitt Unterabschnitt Unterunterabschnitt Unterunterabschnitt Unterabschnitt Abschnitt
Formulierung von Überschriften
Im nächsten Schritt sind Überschriften für die einzelnen Abschnitte zu formulieren. Dabei kann man spontan mit dem Versuch beginnen, den Inhalt knapp auf den Punkt zu bringen. Damit darf man sich aber nicht begnügen; die Überschriften dürfen nicht einfach den Inhalt gekürzt nacherzählen. Neben dem Inhalt sind noch folgende Punkte zu berücksichtigen: (1) der Ort des jeweiligen Abschnitts im Textverlauf, (2) seine Form und (3) seine Funktion:
1. Strukturübersicht
(1) Steht der Abschnitt am Anfang, in der Mitte oder am Schluss? Oft kann man schon vom Ort im Textverlauf auf die Funktion des Abschnittes zurückschließen. Vielfach sind Texte nach dem einfachen Grundmuster „Einleitung – Hauptteil(e) – Schluss“ aufgebaut bzw. variieren dieses. Man kann versuchen, diese Basisfunktionen im Text wiederzuentdecken. Bei einem erzählenden Text etwa bildet der erste Abschnitt häufig die Exposition. In einem Psalm beispielsweise steht hier die Anrede an Gott. Weiter kann man im Textverlauf fragen: Gibt es Wiederholungen von Aspekten und Handlungen, die man nummerieren kann (z.B. erste Begegnung, zweite Begegnung usw. oder Wahrnehmung I, Wahrnehmung II …)? Werden bei einer Erzählung mehrere verschiedene Handlungen einer Person dargestellt, die aufeinander folgen (z.B. „N.s Wahrnehmung, N.s Urteil, N.s Reaktion/Handeln“)? (2) Bei der Form ist zu fragen: Dominiert die Erzählung oder eine Rede? Bei einer Rede wird es sinnvoll sein, den Sprecher in der Überschrift zu nennen (z.B. „Gottesrede“), bei einer Erzählung die entsprechende dominant handelnde Person (z.B. „Reaktion des Mose“). (3) Weiterhin kann man sich fragen, was dieser Abschnitt im Textverlauf gerade tut, worin also seine Funktion besteht: Wird die Leserschaft informiert, zu etwas aufgefordert, vor etwas gewarnt? (Ein späterer Methodenschritt, die fi Sprechaktanalyse, S. 94ff., wird dies noch vertiefen.) Blickt der Abschnitt zurück oder nach vorne („Rückblick auf X“, „Ausblick auf Y“)? Oder beschreibt er die Sprecher-Gegenwart („Darstellung von Z“)? Wie positioniert sich der Abschnitt zu dem in ihm angesprochenen Sachverhalt X („Distanzierung/Kritik von X“, „Bestätigung von X“)? Wie man an den Beispielen sieht, ist der angemessene Stil für Überschriften der Nominalstil. Die Formulierung dieser Überschriften für die Strukturübersicht ist kein statischer Moment, der ein für alle Mal abgeschlossen ist, sondern ein längerer Prozess, in dem für die endgültige Darstellung (z.B. in der exegetischen Hausarbeit) am Wortlaut der Überschriften auch gefeilt werden kann. Wenn die Einzelanalysen (fi S. 55ff.) genauere Einsichten in die Rede- oder Erzählstruktur bringen, kann und muss die Darstellung der Strukturübersicht entsprechend revidiert und an einzelnen Punkten umformuliert werden. Bei diesem Vorgehen wird man entdecken, dass bestimmte Strukturen sich wiederholen, dass Teile identisch sind oder dass Abschnitte in auffälliger Weise miteinander zu tun haben. Diese Beobachtungen macht man sowohl durch gleichartige Bezeichnungen in den Abschnittsüberschriften als auch in der Gliederung kenntlich. Zur Verdeutlichung können etwa Großbuchstaben dienen (fi Struktursynthese, S. 73ff.), oder es kann mit Klammerungen gearbeitet werden – der Visualisierung sind hier kaum Grenzen gesetzt. Das Ergebnis der Gliederung ist eine Strukturübersicht, in der die einzelnen Abschnitte jeweils mit konkreten Versangaben benannt, mit Überschriften versehen und in eine hierarchische Ordnung gebracht sind.
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Markierung von gleichen und ähnlichen Teilen
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III.
Strukturanalyse
Bei der Strukturübersicht handelt es sich um eine Visualisierung eines Textzusammenhangs. Für alle Visualisierungen, etwa Tabellen, Schaubilder, Grafiken etc. gilt, dass sie in einer schriftlichen Arbeit beschrieben werden müssen, denn jede Visualisierung ist interpretationsbedürftig. Diese Aufgabe übernimmt bei der Strukturanalyse die Strukturbeschreibung, die allerdings erst nach den diversen weiteren Analysen (fi Einzelanalysen, S. 55ff.) zu formulieren ist.
Hilfsmittel Die Segmentierung des Textes in Abschnitte und Unterabschnitte, deren Gliederung sowie die Strukturübersicht kann man sich selbst ohne Hilfsmittel erarbeiten. Anregungen findet man in aktuellen Kommentaren zur jeweiligen Stelle. Häufig werden dort Vorschläge zur Strukturierung von Abschnitten gemacht.
Beispiele Wie man es nicht machen soll: Ex 3,1–10 3,1 3,2 3,3 3,4–10
Mose als Hirte Der brennende Dornbusch Der ratlose Mose Mose redet mit Gott 4–5 Mose muss die Schuhe ausziehen 6–8 Selbstvorstellung Gottes 9–10 Gott schickt Mose
Diese „Gliederung“ ähnelt noch viel zu sehr einer Nacherzählung in Stichworten. Auch werden Verse, die einen größeren Abschnitt bilden, optisch auseinandergerissen (3,1–3), während die Verse 3,4–10 zu pauschal zusammengefasst und unter eine unpräzise Überschrift gezwängt werden. Wie man es besser machen könnte: Ex 3,1–10 3,1–3
3,4–6
Exposition der Szene: der brennende Dornbusch 1 Ortsangaben 2 Wahrnehmung des Phänomens 3 Reaktion des Mose Die Gottesbegegnung 4 Erster Kontakt (doppelte Anrufung; Bereitschaft des Angerufenen) 5 Vorbereitung der Begegnung 6 Erste Selbstvorstellung Gottes und Reaktion des Mose
1. Strukturübersicht 3,7–10 Gottesrede 7 Gottes Wahrnehmung I: sehen/hören 8 Gottes Vorsatz: Befreiung seines Volkes 9 Gottes Wahrnehmung II: hören/sehen 10 Gottes Handeln: Sendung des Mose
Hier wird der steigernde Aufbau von Exposition über den ersten Kontakt bis zur Gottesrede sichtbar. Letztere ist wiederum durch die Schritte Wahrnehmung, Vorsatz und Handeln logisch gegliedert. Das folgende Beispiel ist angelehnt an Hieke, Thomas: Psalm 26. Unerträgliche Selbstgerechtigkeit oder verzweifelter Glaube?, in: Diller, Carmen (Hg.), Studien zu Psalmen und Propheten (HBS 64), Freiburg i.Br. 2010, 65–78. Psalm 26 1a 1b–3
4–5 6–8
9–10 11–12
Überschrift Bitte um Erprobung des Betenden an JHWH 1b Bitte an JHWH um Erprobung (I) 1c–e Begründung durch bisherige Fehlerlosigkeit 2 Bitte an JHWH um Erprobung (II) 3 Begründung durch die Nähe zu Gott Distanzierung von Übeltätern Begegnung mit Gott im Kult 6–7 Positive Erwartung (im Blick auf JHWH) 8 Bekenntnis zum Heiligtum JHWHs Bitte um Distanzierung von den Sündern Positiver Ausblick 11a Positive Erwartung (Vorsatz für Fehlerlosigkeit) 11b–c Bitte um Erlösung und Zuwendung 12a Bekenntnis und Zuversicht 12b Lobgelübde: Positive Erwartung
Die Überschriften sind so gewählt, dass sie Abschnitte mit gleichen Funktionen auch gleich bezeichnen. Der konkrete Inhalt spielt dabei keine oder nur eine untergeordnete Rolle. An diesen Überschriften lassen sich schon hier in der Strukturübersicht Rahmungen und Wiederholungen gut erkennen. Wissens-Check
1. Welche formalen Kriterien markieren einen Abschnittswechsel? 2. Wie hierarchisiert man Abschnitte? 3. Wie stellt man dies in einer Übersicht dar? 4. In welchem Stil formuliert man die Überschriften? 5. Wie vermeidet man eine bloße Wiedergabe mit eigenen Worten (Nacherzählung)?
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III.
Strukturanalyse
2. Kontextbildende Funktionen Leitfragen Wie hängen die einzelnen abgegrenzten Abschnitte und Unterabschnitte untereinander zusammen? Wie reagieren sie aufeinander? Wie nehmen sie aufeinander Bezug? Welche Funktion übernehmen sie füreinander?
Beschreibung Vorgehensweise
Die Analyse der kontextbildenden Funktionen fragt noch einmal stärker nach der Funktion der einzelnen in der Gliederung ermittelten Abschnitte füreinander. Zwei oder mehr Abschnitte eines Textes stehen selten unverbunden nebeneinander, sondern allermeist in einer bestimmten Beziehung zueinander. Um diesen Zusammenhang (Kontext) zu erkennen, liest man die Abschnitte zusammen und wertet deren funktionale Beziehung zueinander aus. Stichwort
Mögliche kontextbildende Funktionen (mit Beispielen) 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Grund fi Folge; Ursache fi Wirkung (Ex 2,11–12 fi 2,13–15) Auftrag fi Ausführung (Jona 3,1 fi 3,3) Frage fi Antwort (Ex 3,13 fi 3,14) Rede fi Gegenrede (Ex 3,10 fi 3,11) These fi Erläuterung, Explikation (Mal 1,2ab fi 1,2c–5; Jes 41,1 fi 42,2–4) Aufforderung fi Begründung (Ps 117,1 fi 117,2) Erzählfolge fi Zusammenfassung, Resümee (Ex 13,17–14,28 fi 14,29–31) Thema fi Ausführung (Ex 2,23–25 fi Ex 3–15) Vordergrund fi Hintergrund (Gen 2,4.7: Vordergrund; fi 2,5–6: Hintergrund)
Es kann auch eine wichtige Erkenntnis für das Verstehen des Textes sein, wenn kontextbildende Funktionen, die man erwarten würde, nicht vorhanden sind: Wird im Text eine Frage gestellt, die nicht beantwortet wird, oder ein Auftrag gegeben, der nicht ausgeführt wird, dann ist das für die Funktion innerhalb des Textes bedeutsam (s. z.B. Jona 1,1–2 fi 1,3!). Die Ergebnisse dieser Analyse können dazu führen, dass man die Überschriften in der Strukturübersicht noch einmal umformuliert. Ansonsten fließen Erkenntnisse, die hier gewonnen werden, am Ende in die Strukturbeschreibung ein. Wissens-Check
1. Was sind kontextbildende Funktionen? 2. Können Sie drei Beispiele dafür vorführen? 3. Wozu dienen diese Überlegungen?
3. Einzelanalysen
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3. Einzelanalysen Bisher wurde die allgemeine Verwebung aller Elemente untersucht. Nun soll der Blick auf spezielle Momente gelenkt werden, die die Struktur des Textes in auffälliger Weise prägen. Nicht alle davon sind in allen Texten gleichermaßen präsent, hier muss – wie bei allen anderen Methodenschritten auch – im konkreten Einzelfall entschieden werden, welche Analyse am ehesten zu einem tieferen Textverständnis beiträgt. Es ist sinnvoll, zuerst alle Analysen durchzuführen. Eventuell werden so Textdimensionen aufgedeckt, die vorher übersehen wurden. Eine Bewertung des Ertrags der einzelnen Analyseschritte kann und muss erst danach stattfinden, wenn die Ergebnisse vorliegen. Gerade bei Erzähltexten sind in der Regel Personen, Zeiten und Orte von besonderer Bedeutung, sie können aber durchaus auch in poetischen Texten strukturierend wirken. Stilmittel hingegen sind am ehesten in den poetischen Texten anzutreffen, können aber beispielsweise auch die Rede einer erzählten Person strukturell prägen. Diese Analyseschritte lassen sich alle nach dem gleichen Schema durchführen. Zuerst sind alle Textelemente zu sammeln, die zur jeweiligen Fragestellung (nach der Personenkonstellation, nach Orten, Räumen und Zeitstrukturen, nach der Deixis etc.) gehören. Anschließend werden diese Elemente anhand der Leitfragen geordnet und gewichtet. Diese Auswertung findet am Ende zusammen mit der Struktursynthese (fi S. 73ff.) statt. Dort werden die Ergebnisse der Einzelanalysen integriert, sofern sie nicht von solcher Wichtigkeit für den Text sind, dass sie einen eigenen Abschnitt in der schriftlichen Ausarbeitung erfordern. Die Ergebnisse dieser Analysen können auch zu einer Präzisierung oder Überarbeitung der Gliederung führen. Bei dieser Untersuchung der speziellen strukturierenden Momente geht es immer um deren Funktion für die Struktur des Textes, also darum, welchen Beitrag sie zum Aufbau und logischen Zusammenhang der Perikope leisten. Es interessiert hier z.B. das Verhältnis der Akteure (Personen) zueinander, der Wechsel von Zeiten und Orten, die Abfolge von Rede und Gegenrede usw. Inhaltliche Aspekte zu analysieren ist nicht das Ziel dieser Methodenschritte. Erst bei der Inhaltsanalyse (fi S. 84ff.) wird vor allem unter dem Aspekt des Aussagegehalts gefragt werden, wie die Personen im Einzelnen zu charakterisieren sind, welche Vorstellung sich mit dem angegebenen Ort verbindet, welche Inhalte mit der Rede vermittelt werden usw. Bei der konkreten exegetischen Ausarbeitung ist daher darauf zu achten, dass bei der Strukturanalyse nicht Beobachtungen und Aspekte vorweggenommen werden, die primär auf die Ebene der Inhaltsanalyse gehören.
Spezielle strukturierende Momente
Vorgehensweise
Auswertung
Noch keine Inhaltsanalyse
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III.
Strukturanalyse Wissens-Check
1. Welches Verhältnis haben diese Einzelanalysen zur Gliederung des Textes? 2. Sind immer alle Analysen durchzuführen und sind alle Analysen immer gleich wichtig?
Personenkonstellation Leitfragen Welche Personen gibt es im Text? Wer agiert und wer interagiert mit wem? Wie verhalten sich die Personen im Text zueinander? Wer ist aktiv, wer ist passiv? Welche Gruppen und Oppositionen bilden sich? Wer sind Hauptund wer Nebenpersonen? Beschreibung Die Grundfrage der Personenkonstellation lautet salopp formuliert: „Wer mit wem?“ Konkret geht es darum, die Akteure im Text und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Akteure können dabei neben Gott, nicht-menschlichen Wesen und Menschen auch Tiere oder sogar Pflanzen sein, ebenso wie alle Dinge, die in irgendeiner Weise zu einer Handlung beitragen, an denen gehandelt oder über die gesprochen wird. Auch das Wegfallen bestimmter Personen, die man im Text erwarten würde, kann für die Analyse relevant sein. Diese Lücke, die durch das Ausbleiben von erwarteten Elementen entsteht, bezeichnet man als Leerstelle. Stichwort Eine Leerstelle entsteht in einem Text immer dann, wenn die Leser etwas erwarten, das nicht eingelöst oder übergangen wird. Das kann prinzipiell jedes Element des Textes sein, etwa eine Zeit, die nicht erzählt wird, eine Person, die nicht agiert oder auch eine Handlung, die ausbleibt. Dabei ist nicht jede Lücke im Text eine Leerstelle, sondern es ist entscheidend, dass diese Lücke beim Lesen auffällt. Eine Leerstelle verlangt vom Leser einen aktiven Lesevorgang, in dem dieser die Leerstelle selbst mit Inhalt füllen muss (fi Pragmatik, S. 105ff.).
Visualisierung
Die einfachste Herangehensweise zur Analyse der Personenkonstellation ist es, sich ein Schaubild mit allen beteiligten Akteuren anzulegen. Dieses Schaubild kann für den ganzen Text oder, falls sich im Verlauf des Textes die Konstellation verändert, für bestimmte Abschnitte des Textes gelten. In der Mitte eines solchen Schaubildes sollten die Hauptfiguren stehen. Deren Positionierung sollte die interne Hierarchie im Text abbilden (unter-, neben- oder übergeordnete Verhältnisse). Zusätzlich können mit Pfeilen oder anderen grafischen Elementen Beziehungen oder Gruppen angezeigt oder Kon-
3. Einzelanalysen
flikte verdeutlicht werden. Um die Hauptfiguren gruppieren sich dann weitere Nebenfiguren in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander. Weiterhin hilfreich können bestimmte Charakterzüge, mit Personen verbundene Symbole oder Ähnliches sein, die zu Kontrasten oder Ähnlichkeiten unter den Akteuren führen. Die Frage, welche Person(en) unter welchen Umständen zu wem reden, wird unter dem Aspekt der Redesituation (fi S. 66ff.) behandelt. Dabei geht es an dieser Stelle des Methodenablaufs immer um das strukturelle Verhältnis der Akteure zueinander. Eine Charakterisierung der Personen selbst anhand semantischer Elemente ist auf der Ebene der Inhaltsanalyse beim Aussagegehalt (fi S. 84ff.) unterzubringen.
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Keine Charakterisierung
Stichwort Grundsatzbemerkung: Die angefertigten Tabellen, Übersichten, Skizzen usw. können, müssen aber nicht „veröffentlicht“ werden. Wenn ein Text genauso viel oder mehr aussagt als eine Tabelle oder Zeichnung, ist der Text vorzuziehen. Eine Grafik oder Tabelle ist nur dann sinnvoll, wenn sich daran wirklich etwas besser und kompakter zeigen lässt als in einem Text von gleichem Umfang. – Jede Tabelle und Skizze braucht eine textliche Erläuterung bzw. Zusammenfassung mit Hinweis darauf, was die eigentliche Kernaussage dieser Visualisierung sein soll.
Beispiele Die bei der ersten Lektüre sehr verwickelt erscheinende Geschichte in 2 Sam 2,12–32 zeigt eine komplexe Personenkonstellation, die am besten grafisch zu veranschaulichen ist. 2 Sam 2,12–32 IschBoschet
David Stellverteter?
Stellverteter?
Joab
Abner
Abischai
tö te t
Söhne der Zeruja
Konflikt
Asaël Heerführer Knechte Davids
12 Kämpfer
Heerführer Kampf
gegenseitiges Töten
Nächste Brüder
Männer Israels
12 Kämpfer
Abb. 4 Personenkonstellation zu 2 Sam 2,12–32
58
III.
Strukturanalyse In 2 Sam 2,12–32 sind die beiden Heerführer Joab und Abner die Hauptpersonen, wobei Abner der größte Handlungs- und Redeanteil zukommt. Beide repräsentieren ihren jeweiligen König, auch wenn beide Könige nicht aktiv an der Handlung beteiligt sind. Isch-Boschet wird zudem – anders als David – deutlich marginalisiert, da er überhaupt nur zweimal im Text und nur an dessen Anfang genannt wird. Die beiden Protagonisten werden als Heerführer dargestellt, die Autorität über eine ihnen jeweils zugehörige Gruppe haben. Aus dieser Gruppe wählen sie je zwölf zu einem Kampf aus, in dem die Trennung der Gruppen verschwindet: Alle bringen sich gegenseitig unterschiedslos um. In der nächsten Szene werden dann noch zwei weitere Söhne von Joabs Mutter eingeführt, von denen Asaël im direkten Konflikt mit Abner getötet wird. Asaël erscheint dabei als Figur ohne eigenen Charakter; er ist vor allem ein Abbild seines Bruders Joab. Das steigert den direkten und persönlichen Konflikt zwischen Joab und Abner. Auffällig ist, dass der Text Begriffe verwendet, die die beiden kontrahierenden Gruppen zusammen ansprechen, nämlich „Brüder“ und „Nächste“. Die sonst im Text vorherrschende Opposition wird dadurch punktuell aufgehoben.
Personenkonstellationen lassen sich auch für nicht erzählende (besprechende fi Redearten, S. 68ff.) Texte ermitteln. Das folgende Beispiel zu Ps 80 zeigt, dass in den unterschiedlichen Abschnitten des Psalms das Volk sein Verhältnis zu seinem Gott und zu den Völkern um es herum in der erlebten Gegenwart anders wahrnimmt als in der Vergangenheit und sich vor diesem Hintergrund eine Änderung für die Zukunft erwartet. Dabei geht es hier unter dem Aspekt der Personenkonstellation um das strukturelle Verhältnis der beteiligten Akteure, auch derjenigen, über die gesprochen wird und die vielleicht gerade nicht anwesend sind oder nicht selbst zu Wort kommen. Die Schaubilder (s. Seite 59) sind in Anlehnung an Hieke, Thomas: Psalm 80: Praxis eines Methodenprogramms. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung mit einem gattungskritischen Beitrag zum Klagelied des Volkes (ATSAT 55), St. Ottilien 1997, 106, gestaltet. Psalm 80 A: Ps 80 beginnt mit Vokativen, die die heilvolle Vergangenheit aufleuchten lassen: Gott hat sich als guter Hirte des Volkes erwiesen und wird als solcher angerufen (V. 1–3). Diese positive Zuwendung ging zu Lasten anderer Völker, die mittelbar durch Gott und unmittelbar durch das Volk vertrieben wurden. Im erzählenden Rückblick im Mittelteil wird dies im Bild vom „guten Gärtner“ Gott und vom wachsenden Volk beschrieben (V. 9–12). Mit seiner wiederholten Bitte (C) hofft das Volk auf eine Wiederherstellung dieses guten Zustandes in der Zukunft (V. 16–19). Vor dem mächtigen („Kerubenthroner“) und wohlwollenden („Hirte“) Gott steht das Volk als Bittsteller (C). Diese Rollenverteilung ist auch für den Refrain (V. 4.8.15.20) charakteristisch.
3. Einzelanalysen A Vergangenheit
Gott als „guter Hirte“, „guter Gärtner“ Pflege, Zuwendung
Vertreibung
Vertrauen
Volk
Völker
als „Gewinner“
Vertreibung
als „Verlierer“
B Gegenwart
Gott als „schlechter Hirte“ (Tränenbrot), „schlechter Gärtner“ Begünstigung
Unheil
Klage
Feinde
Volk
als „Verlierer“, Kläger
C
Unheil
als „Gewinner“, lachende Dritte
A’ Zukunft
Gott als „mächtiger Kerubenthroner“, „guter Hirte/Gärtner“
Bitte
erhoffte Zuwendung, Wiederherstellung
erhoffte Vernichtung versprochenes, neues Vertrauen
Volk als Bittsteller, erhofft, wieder „Gewinner“ zu sein
Feinde als erhoffte „Verlierer“
Notabene: Um das strukturelle Verhältnis der Akteure „Gott“ und „Volk“ bestimmen zu können, ist hier ein Blick in den Inhalt notwendig. Es geht aber noch nicht um eine inhaltliche Charakterisierung von Gott und Volk an sich. Psalm 80 B: In der Gegenwart erweist sich Gott als „schlechter Hirte“, der mit „Tränenbrot“ speist, auf das Volk mit Zorn reagiert und für alles Unheil verantwortlich ist (V. 5–7.13–14). Während Gott auf der Anklagebank sitzt, ist das Volk zugleich Opfer und Kläger. Die Feinde sind die Gewinner und lachenden Dritten, die vom Zorn Gottes gegen sein Volk profitieren. Implizit begünstigt Gott also die Feinde des Volkes und scheint mit ihnen dem Volk Israel entgegenzustehen.
59 Abb. 5 Personenkonstellation zu Ps 80
60
III.
Strukturanalyse Der Wechsel von Konstellation A zu B erfolgt in V. 9–14 in einem zweiten Anlauf mit der Metapher „Gott als Gärtner“, der einst viel Gutes für seinen Weinstock (= das Volk) getan hat (A), ihn nun aber der Vernichtung durch die wilden Tiere des Feldes (= die Feinde) preisgibt (B). C: Die Konstellation des bittenden Volkes vor dem mächtigen Gott zieht sich durch den ganzen Text (Refrain!), bestimmt aber vor allem auch das Ende des Psalms: Das Volk hofft, wieder auf die Gewinnerseite zu kommen und wünscht den Feinden das Verderben (V. 16–20). Dazu äußert es Bitten und Versprechen, die an die alte Zeit anknüpfen, aber davon abhängig sind, dass Gott die alten Zustände wiederherstellen will. Anfang, Refrain und Schluss des Textes entsprechen sich also hinsichtlich der Personenkonstellation, doch ist sie in dieser Form nur in der Vergangenheit (A) und in der erhofften Zukunft (C) gegeben. Die Gegenwart ist durch eine Umkehrung der Verhältnisse (B) gekennzeichnet: Das Volk ist Verlierer und Opfer, Gott erweist sich als zornig sowie als schlechter Hirte und Gärtner. Ps 80 ist somit davon gekennzeichet, dass die Personenkonstellationen im vorgestellten Zeitablauf und im Textverlauf wechseln. Das verleiht dem Text große Dynamik.
Wissens-Check
1. Was sind Akteure bzw. Personen im Sinne der Personenkonstellation? 2. Was ist eine Leerstelle?
Orte und Räume Leitfragen Wo findet die Handlung statt? Gibt es Bewegungen – der Figuren oder der Erzähler-/Sprecherperspektive? Wie verhalten sich die erwähnten Orte zueinander?
Lokale Bestimmungen
Beschreibung Die Analyse der Orte und Räume sucht nach allen lokalen Bestimmungen im Text. Das sind etwa Ortsnamen, Richtungsangaben und auch nicht genannte Orte (Leerstellen), die vorausgesetzt werden müssen. Es ist zu fragen, was der Handlungsort oder Sprechort ist und was damit oder mit den anderen geographischen Angaben vorausgesetzt wird. Eine Handlung auf einem Berg hat andere Rahmenbedingungen als eine auf einem Schiff. Ebenso ist zu fragen, ob es eine Mitte des erzählten Raumes gibt, der eine Peripherie gegenübersteht, oder ob der Text zwischen gleichberechtigten Orten springt. Weiterhin geht es auch um Bewegungen im Raum, die Personen oder Gegenstände vollziehen, und wie diese sich dadurch zueinander anordnen; auch diese Zusammenhänge können gegebenenfalls in einem Schaubild dargestellt werden. Texte erschaffen die Räume, die sie verwenden, immer selbst. Diese Räume können reale Namen tragen (Jerusalem, die Wüste Juda), bleiben aber
3. Einzelanalysen
zuerst einmal vom Text gestaltet. Aus der Archäologie kann man Wissen über reale Ortslagen gewinnen. Wenn man dieses Wissen mit den Orten der Textwelt verknüpft, kann man näher an das herankommen, was der Text bei seinem Modell-Leser voraussetzt. Dabei kommt wieder der strukturelle Aspekt dieser Informationen ins Blickfeld. Sollte es sich herausstellen, dass für einen oder mehrere bestimmte Orte in einem Text nähere inhaltliche Informationen relevant sind, so gehört das auf die Ebene der Inhaltsanalyse zum Aussagegehalt (fi S. 84ff.). Der Text ist aber frei, seinen eigenen Textraum zu transformieren, zu vereinfachen und von der Realität abweichen zu lassen. Das kann bis zur völligen Auflösung des Textraumes gehen, wie sie etwa in manchen Visionsschilderungen (z.B. Sach 1,8–17) zu finden ist.
61 Das Verhältnis von Text- und realem Raum
Hilfsmittel Will man sich über die Orte informieren, die im Text Erwähnung finden, sind Bibelatlanten ein guter Einstieg. Zwickel, Wolfgang; Egger-Wenzel, Renate; Ernst, Michael (Hg.): Herders Neuer Bibelatlas, Freiburg i.Br. 2013.
Beispiele Ex 3,1–4,17 Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, ...
gypten
(schönes, weites Land)
(Gefangenschaft)
Heiliger Boden
Horeb Bewegungen im Text zukünftige Bewegungen
Midian Ex 3 beginnt mit einer Reihe von Ortsangaben: Mose befindet sich bei seinem Schwiegervater in Midian, von dort zieht er in die Wüste zum Gottesberg Horeb (V. 1). Dort bewegt er sich auf den Dornbusch zu, wird aber in seiner Bewegung von Gott aufgehalten, der den Ort als „Heiligen Boden“ qualifiziert (V. 4–5). Im anschließenden Gespräch mit Gott spielen dann zwei andere Orte eine wichtige Rolle, nämlich Ägypten als Ort der Gefangenschaft und ein anderes, besseres Land, in das das Volk Israel ziehen soll, nämlich „in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter“ (V. 8). Damit sind zum einen die Völker benannt, die das Land bisher bewohnen, zum anderen ist aber auch die Geographie dieses Landes geklärt.
Abb. 6 Orte und Räume in Ex 3,1ff.
62
III.
Strukturanalyse Die beiden Räume des Textes, Horeb und der Weg von Ägypten in das „Gelobte Land“, werden in der Sendung des Mose verbunden (V. 12): Er soll nach Ägypten gehen und in einer ersten Etappe das Volk zu diesem Berg führen.
Wissens-Check
1. Was sind lokale Bestimmungen in einem Text und wie kann man sie veranschaulichen? 2. Wie verhalten sich die Orte im Text zu realen Orten?
Zeitstrukturen Leitfragen Welche Zeiten werden im Text genannt? Welchen zeitlichen Standpunkt nimmt der Sprecher bzw. Erzähler ein? Gibt es eine Chronologie im Text? Wie verhalten sich erzählte Zeit und Erzählzeit zueinander?
Sprecherstandpunkt
Chronologie
Erzähltempo
Beschreibung Die Analyse der Zeitstrukturen nimmt alle temporalen Informationen eines Textes in den Blick. Die erste Frage richtet sich dabei auf den Standpunkt des Sprechers bzw. Erzählers des Textes. Für eine Erzählung gilt in der Regel, dass der Erzähler gegenüber der erzählten Handlung nachzeitig positioniert ist und auf diese zurückblickt. Der Sprecher eines Klagepsalms hingegen spricht vermutlich häufig aus seiner Gegenwart heraus. Eine Vision kann durchaus zukünftig orientiert sein. Danach ist zu untersuchen, ob die einzelnen Ereignisse oder Sprecheinheiten auf einer Zeitebene zu verorten (gleichzeitig) sind, ob sie linear aufeinander (chronologisch) folgen oder ob die Textreihenfolge von der zeitlichen Reihenfolge abweicht (anachronisch). Dazu kann man sich einen Zeitstrahl visualisieren und die einzelnen Ereignisse des Textes auf diesem logisch sortieren, um so Abweichungen von der Textreihenfolge festzustellen (s.u. die Beispiele zu Ps 30 und Jona 1,10, S. 63f.). Der dritte Aspekt dieser Analyse ist die Frage nach dem Erzähltempo, d.h. dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. Die Erzählzeit (A) ist die Zeitdauer, die nötig ist, um ein Ereignis zu erzählen. Die erzählte Zeit (B) dagegen ist die Dauer des erzählten Ereignisses. Grundsätzlich sind dabei drei Verhältnisse des Erzähltempos denkbar: AaB
die Erzählzeit ist kleiner als die erzählte Zeit (Zeitraffung; Normalfall einer Erzählung) Alltagsbeispiel: der Kurzbericht über die vier Tore des Fußballspiels am gestrigen Abend
3. Einzelanalysen
A=B
AAB
63
die Erzählzeit und erzählte Zeit sind identisch (Zeitdeckung; Normalfall im Dialog und Monolog) Alltagsbeispiel: die Live-Reportage eines Fußballspiels im Radio die Erzählzeit ist größer als die erzählte Zeit (Zeitdehnung; häufig bei detaillierten Beschreibungen) Alltagsbeispiel: die detaillierte Analyse der Zeitlupe einer Spielkombination, aus der heraus ein Tor fiel.
Mit jedem der drei Verhältnisse sind bestimmte Wirkweisen des Textes verbunden. Eine Zeitdeckung schildert die Ereignisse besonders spannungsreich, während eine Zeitdehnung wahlweise besonders dramatisch, eindrucksvoll oder langatmig sein kann. Bemerkenswert ist es jeweils, wenn das Erzähltempo in einem Text wechselt und dadurch die Handlungsabfolge verlangsamt oder beschleunigt wird (s.u. die Beispiele aus dem Hohelied, S. 64).
Beispiele Ps 30; Jona 1,10; Hld Versucht man, die in Ps 30 angesprochenen Ereignisse verschiedenen Zeitebenen zuzuordnen, so kann man drei Stufen in der Vergangenheit und eine Gegenwartsstufe unterscheiden. Dabei geht der Textverlauf keineswegs in einer einzigen Linie streng chronologisch, etwa von der fernsten Vergangenheit zur Gegenwart oder umgekehrt, vor. Vielmehr bewegt sich die Chronologie einmal stufenweise in die Vergangenheit zurück und arbeitet sich wieder in die Gegenwart vor, bevor sie in eine noch weiter entfernte Vergangenheit zurückspringt, um wieder stufenweise in die Gegenwart voranzuschreiten. In einem Schaubild kann man das so darstellen: Gegenwart
Vergangenheit
Textverlauf
2bc 3a
2a
3b–4 5–6
7–8 9–11 12–13a
13b Zeitachse
Die fernste Stufe der Vergangenheit ist die in V. 7–8 ausgedrückte einstige Sorglosigkeit, in die eine Notlage hineinplatzte, die als erschreckende Gottferne empfunden wurde. In Reaktion auf diese Situation hat die betende Person um Gnade und Hilfe gerufen, was sie in V. 3a und V. 9–11 berichtet. Daraufhin erfolgte in der unmittelbaren Vergangenheit die Rettung durch JHWH, was in V. 2bc; 3b–4 und
Abb. 7 Zeitstrukturen in Ps 30
64
III.
Strukturanalyse 12–13a erzählt wird. Die Reaktionen auf diese Rettung sind Dank und Lobpreis in der Gegenwart (V. 2a; 5–6; 13b). Im Textverlauf erkennt man, dass der Psalm zweimal in die Vergangenheit zurückgeht und sich von dort wieder in die Gegenwart vorarbeitet. So wird die Argumentationsstruktur deutlicher: Der gegenwärtige Dank wird durch den Rückblick in die Vergangenheit und die darin chronologisch ablaufenden Prozesse von Not, Klage, Bitte und Rettung begründet. Bei Anwendung eines späteren Methodenschritts, der strukturell ähnliche Texte vergleicht (fi Texttypik, S. 113ff.), kann man feststellen, dass es ein wichtiges Charakteristikum der „Danklieder“ ist, auf die Vergangenheit zurückzublicken und daraus die Motivation für das Lob in der Gegenwart zu ziehen. In Jona 1,10 lässt sich ein Bruch in der Chronologie feststellen. Nachdem Jona gegenüber den Männern im sturmbedrohten Schiff bekannt hat, dass er zum Gott Israels gehört, liest man: „Da gerieten die Männer in große Furcht und sagten zu ihm: Was hast du da getan? Denn die Männer erkannten, dass er vor dem HERRN auf der Flucht war, wie er es ihnen mitgeteilt hatte“ (EÜ). Die Information, dass Jona auf der Flucht ist, wurde den Männern bisher nicht mitgeteilt; sie ist aber die Voraussetzung dafür, dass sie sagen können „Was hast du da getan?“. Nach der wörtlichen Rede muss die Erzählung also etwas nachholen. Hier weicht die Chronologie von der Erzählreihenfolge ab. Man könnte darin ein ästhetisches Mittel sehen, die Dramatik durch derartige Verwerfungen zu steigern. Wechselnde Verhältnisse im Erzähltempo lassen sich gut im Hohelied erkennen. Hld 3,1–4 erzählt länger andauernde Ereignisse in kurzer Zeit – hier liegt Zeitraffung als Normalfall der Erzählung vor. Die Beschreibung der Geliebten in Hld 4,1–5 ist demgegenüber eine deutliche Zeitdehnung – sie zu lesen dauert länger, als der Anblick der Frau an sich dauert. Der Blick des Erzählers im Text wandert langsam an ihr herab, wodurch die Beschreibung besonders intensiv wirkt.
Wissens-Check
1. Welche zeitlichen Standpunkte kann der Sprecher einnehmen? 2. Wie kann der Text seine Chronologie gestalten? 3. Welche Wirkung haben die unterschiedlichen Verhältnisse im Erzähltempo?
Deixis Leitfragen Wo wird im Text von wem auf etwas verwiesen? Welche Elemente werden über Verweise wiederholt oder eingespielt? Welche Funktion übernehmen die Verweise? Beschreibung Eng mit der Analyse von Personen, Zeiten, Orten und Räumen hängt die Analyse der Deixis im Text zusammen.
3. Einzelanalysen
65
Stichwort Deixis (gr. dei´jmtli, deíknumi: zeigen) bezeichnet die Ausdrucksmittel, mit denen ein Sprecher (bzw. ein Text) einen Hörer (bzw. Leser) in einem Verweisraum orientiert, also die verwendeten Wörter, die auf etwas zeigen. So kann man auf ein Objekt verweisen („dieser“, „jener“; Demonstrativpronomina) oder auf einen Ort („hier“, „dort“, alle Arten von Ortsadverbien) oder eine Zeit („jetzt“, „damals“, weitere Zeitangaben). Man kann mit Deixis (als Textdeixis) auch den expliziten Verweis eines Textes auf einen anderen bezeichnen (meist mit Demonstrativpronomina: Was ich sagen will, ist dies: … Oder: Wie ich vorher/oben schon ausgeführt habe …). Auch die Aufmerksamkeit lenkenden Interjektionen wie „siehe“ haben deiktische Funktion.
Die Analyse richtet hier ihren Blick auf alle Verweise eines Textes in irgendeine Richtung (räumlich, zeitlich, textlich, personell). Diese werden vor allem über Pronomina hergestellt. Zu fragen ist einerseits, wer das deiktische Zentrum ist, d.h. der Mittelpunkt, von dem her alle Referenzen gelten, und andererseits, auf wen oder was jeweils verwiesen wird bzw. welche Funktion der Verweis im Vergleich zu einer direkten Nennung übernimmt. Die Zusammenhänge kann das folgende Schaubild verdeutlichen: DEIKTISCHES ZENTRUM (ich, hier, jetzt)
Personendeixis
Du/ Sie/ (Ihr) dort
(Sprecher) Ich
hier jetzt Nähe xis
vorhin, neulich, gestern, etc.
nachher, später, morgen, etc.
er/ sie/ ihr
i tde Zei
Distanz
Or tsd
eixis dort
Beispiele Gen 15,1; 1 Sam 17,26 Gen 15,1 (EÜ): Nach diesen Ereignissen erging das Wort des HERRN in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, … Mit dem Verweis auf die vorherigen Ereignisse lenkt der Erzähler den Blick der Leser auf den davorstehenden Text zurück. Diese Ereignisse scheinen für die folgende Handlung wichtig zu sein und liegen eindeutig abgeschlossen in der Vergangenheit, so dass nun etwas Neues kommt.
Abb. 8 Gestaltung der Grafik in Anlehnung an: Wesn, „Deixis (DE)“, https://commons.wiki media.org/wiki/File: Deixis_(DE).png, Farbgebung von WBG, cc BY-SA 3.0, https:// creativecommons.org/ licenses/ by-sa/3.0/legalcode.
66
III.
Strukturanalyse 1 Sam 17,26 (EÜ): David fragte die Männer, die bei ihm standen: Was wird man für den Mann tun, der diesen Philister erschlägt und die Schande von Israel wegnimmt? Wer ist denn dieser unbeschnittene Philister, dass er die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnen darf? Zweimal wird hier auf „diesen Philister“ verwiesen. Gemeint ist damit Goliat, dessen Name aber im ganzen Text von 1 Sam 17 nur dreimal genannt wird. Viel häufiger wird er aber von David mit diesem Verweis angesprochen. Dadurch, dass David den Namen Goliats vermeidet, kann er stärker betonen, dass auch dieser Goliat „nur“ ein unbeschnittener Philister ist. Gleichzeitig zeigt dieser Verweis, dass Goliat in der ganzen Handlung so präsent ist, dass man ohne weitere Erklärung auf ihn verweisen kann – selbst wenn er aktuell gar keinen Handlungsanteil hat.
Wissens-Check
1. Was wird unter dem Begriff Deixis analysiert? 2. Woran erkennt man Deixis im Text?
Redesituation Leitfrage Wer spricht mit wem oder wer spricht zu wem? Wie wechseln Rede und Gegenrede ab? Beschreibung Besteht ein Text aus Reden oder ist er selbst für sich eine Rede (das gilt etwa für Psalmen), dann sind darin jeweils weitere, redespezifische Strukturen enthalten. Die erste Frage ist die nach Sprecher und Adressaten bzw. ihrem Verhältnis zueinander (Redesituation). Grundsätzlich sind drei Verhältnisse vorstellbar: Erzählung Monolog
Dialog
Sprecherwechsel
(Sprecher = Erzähler) Gott sprach … (Gen 1,3 EÜ) (Sprecher spricht nur zu sich selbst) „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich.“ (Gen 1,26 EÜ) (Sprecher spricht zu einem Adressaten; dieser muss nicht zwingend antworten) „Seid fruchtbar und mehrt euch!“ (Gen 1,28 EÜ)
In einem Dialog wechseln Sprecher und Adressat in der Regel. Wann eine Rede endet und eine Gegenrede einsetzt, kann auch für die Struktur des Textes wichtig sein. Im Alten Testament begegnet das Problem, dass Sprecherwechsel
3. Einzelanalysen
nicht immer markiert sind, denn im Hebräischen und Griechischen gibt es keine Anführungszeichen. Umso wichtiger ist es, sich zu vergewissern, wo der Text selbst einen solchen Wechsel nahelegt. Insbesondere wenn Reden und Dialoge erzählt werden, muss man aufmerksam und genau beschreiben, wer wann was zu wem sagt. Für die Analyse kann man das durch Einrückungen veranschaulichen (s.u. das Beispiel zu Lev 1,1–2). Das Verhältnis von Adressat und Sprecher kann auch deutlich komplexer und mehrfach verschachtelt sein. Gerade im Alten Testament findet man vielfach die Konstellation, dass eine Rede gleichzeitig eine andere Rede enthält und so die Rollen von Adressat und Sprecher innerhalb einer Rede mehrfach besetzt sind. Besonders häufig kommt es etwa vor, dass Gott Mose oder einem Propheten in einer erzählten Gottesrede aufträgt, dem Volk diese und jene Sachverhalte, wieder mittels einer Rede, auszurichten. Neben dem unten aufgeführten Beispiel zu Lev 1,1–2 sei zur Übung besonders der Abschnitt Ex 3,14–16 empfohlen. In diesen wenigen Versen kann man bis zu vier Ebenen unterscheiden.
Beispiele Die drei Verhältnisse von Sprecher und Adressat – Erzählung, Monolog, Dialog – kann man am Anfang des Ijobbuches veranschaulichen: Ijob 1 (EÜ) Erzählung
Monolog
Dialog
Im Lande Uz lebte ein Mann mit Namen Ijob. Dieser Mann war untadelig und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse. (Ijob 1,1) … Denn Ijob sagte sich: „Vielleicht haben meine Kinder gesündigt und Gott gesegnet [gemeint ist: gelästert] in ihrem Herzen.“ (Ijob 1,5) Der HERR sprach zum Satan: „Woher kommst du?“ Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: „Die Erde habe ich durchstreift, hin und her.“ (Ijob 1,7)
In Lev 1,1–2 wechselt die Besetzung der Rollen Sprecher und Adressat häufig. Jede dieser Redesituationen ist mit einer Einrückung dargestellt. Lev 1,1–2 (ELB) Erzähler fi Leser 1 Und der HERR rief Mose, und er redete zu ihm aus dem Zelt der Begegnung: der HERR fi Mose 2 Rede zu den Kindern Israels und sage zu ihnen: Mose fi Kinder Israels Wenn ein Mensch von euch dem HERRN eine Opfergabe darbringen will, sollt ihr vom Vieh, von den Rindern und Schafen, eure Opfergabe darbringen.
67
Rede in einer Rede
68
III.
Strukturanalyse Die Worte, die Mose sprechen soll, sind eigentlich Gottesworte. Mose hat hier die Rolle eines Vermittlers, was die verschachtelte Sprecher-Adressaten-Struktur deutlich macht.
Wissens-Check
1. Welche Redesituationen kann es geben? 2. Welcher komplexe Fall kann bei der Analyse der Redesituation auftreten?
Redearten Leitfrage Werden Ereignisse erzählt oder Sachverhalte besprochen? Beschreibung Die Rede eines Sprechers kann als erzählende oder besprechende Rede (Redeart) klassifiziert werden. Erzählende Rede spricht über vergangene Ereignisse, während sich die besprechende auf aktuelle bzw. zukünftige Sachverhalte richtet. Grundsätzlich ist jede Erzählung erzählende Rede, das ist für sich genommen daher nicht weiter erwähnenswert. Fragen und Befehlsformen (Imperative) sind hingegen immer besprechende Rede. Interessant sind jene Stellen, an denen die Redeart wechselt oder andere Auffälligkeiten auftreten. Der Unterschied zwischen erzählender und besprechender Rede ist auch für die Aussageabsicht des Textes (fi Pragmatik, S. 105ff.) wichtig, die später in der Inhaltsanalyse untersucht wird: In besprechender Rede ist der Leser an der Diskussion verschiedener Positionen beteiligt, in der erzählenden wird die favorisierte Position in der Regel an den erzählten Figuren deutlich. Beispiele 2 Chr 5,13 (ZB) … 13und als die Trompeter und die Sänger wie ein einziger Mann eine einzige Stimme anzustimmen hatten, um den HERRN zu loben und zu preisen, und als sie einsetzten mit Trompeten und mit Zimbeln und mit anderen Musikinstrumenten und als sie den HERRN lobten: Ja, er ist gut; ja, ewig ist seine Güte!, da wurde das Haus von einer Wolke erfüllt, das Haus des HERRN. In die Erzählung von der Überführung der Bundeslade in den von Salomo erbauten Tempel wird die besprechende Lobpreiswendung „Ja, er ist gut; ja, ewig ist seine Güte!“ als abkürzendes Zitat zur Andeutung eines Preisliedes eingeschoben. Normalerweise kommt diese Wendung in besprechenden Texten vor, s. z. B. Ps 118,1–4.29; Ps 136 (Refrain).
3. Einzelanalysen Ps 80,9–15 (EÜ) 9
Einen Weinstock hobst du aus in Ägypten, du hast Völker vertrieben und ihn eingepflanzt. 10 Du schufst ihm weiten Raum; er hat Wurzeln geschlagen und das ganze Land erfüllt. 11 Sein Schatten bedeckte die Berge, seine Zweige die Zedern Gottes. 12 Seine Ranken trieb er bis hin zum Meer und seine Schösslinge bis zum Eufrat.
Erzählende Rede
13
Besprechende Rede
Warum rissest du seine Mauern ein? Alle, die des Weges kommen, plündern ihn. 14 Der Eber aus dem Wald wühlt ihn um, es fressen ihn ab die Tiere des Feldes. 15 Gott der Heerscharen, kehre doch zurück, blicke vom Himmel herab und sieh, sorge für diesen Weinstock!
Der Sprecher des Psalms berichtet von zurückliegenden Ereignissen, der Pflanzung und der Zerstörung des Weinbergs, und lenkt den Leser mit dieser erzählenden Rede zur Identifikation mit diesem Weinberg. In der klagenden Frage und dem Imperativ (V. 13a; 15) wird die Vorgabe aus der erzählenden Rede zur Diskussion gestellt: Wie konnte es zur beschriebenen Situation kommen, und wie kann diese überwunden werden? Trotz des Vergangenheitstempus in V. 13a („rissest“) zielt die Frage auf die Gegenwart. Weil der Blick in die unmittelbare Vergangenheit nicht in eine Aussage gekleidet ist, handelt es sich nicht um erzählende Rede. Fragen und Befehlsformen (Imperative) sind immer besprechende Rede.
Wissens-Check
1. Worin besteht der Unterschied zwischen erzählender und besprechender Rede? 2. Welche formalen Kriterien gibt es als Anhaltspunkte zur Unterscheidung?
Redeperspektive Leitfrage Auf welche Zeitstufe blickt der Sprecher in Relation zu seinem eigenen Standort? Beschreibung Der dritte Aspekt der Analyse von Rede(n) betrachtet die Redeperspektive, die sich in drei Kategorien aufgliedern lässt: retrospektiv, prospektiv, gegenwartsbezogen.
69
70
III.
Strukturanalyse
Wenn der Sprecher im Verhältnis zur Rede in der Zukunft steht, d.h. rückblickend erzählt, dann spricht man von einer retrospektiven (rückblickenden) Erzählung. Aussagen über die Zukunft, bei denen der Sprecher gegenüber dem erzählten Sachverhalt in der Vergangenheit steht, sind prospektive (vorausblickende) Aussagen. Geht es um die Gleichzeitigkeit von Ereignis und sprachlichen Äußerungen, dann ist die Rede gegenwartsbezogen. Bei der Analyse der Redeperspektive kommt es nicht so sehr auf die Tempora (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) in der deutschen Übersetzung an, sondern vielmehr auf die Relation zum Sprecherstandort.
Beispiel Ex 3,7–10 (ELB) 7
Der HERR aber sprach: Gesehen habe ich das Elend meines Volkes in Ägypten, und sein Geschrei wegen seiner Antreiber habe ich gehört;
retrospektiv
ja, ich kenne seine Schmerzen. 8 Und ich bin herabgekommen,
gegenwartsbezogen
um es aus der Gewalt der Ägypter zu erretten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig überfließt, an den Ort der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hewiter und Jebusiter.
prospektiv
9
Und nun siehe, das Geschrei der Söhne Israel ist vor mich gekommen; und ich habe auch die Bedrängnis gesehen, mit der die Ägypter sie quälen.
gegenwartsbezogen
10
prospektiv
Nun aber geh hin, denn ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Söhne Israel, aus Ägypten herausführst!
Der Plan Gottes, sein Volk zu retten, speist sich aus dem in der Vergangenheit gesehenen Leid und richtet sich auf die Zukunft. Daraus leitet sich die Handlung in der Gegenwart ab. – Die drei Redeperspektiven entsprechen nicht unmittelbar den Tempora in den deutschen Übersetzungen, sondern ergeben sich aus der Relation zum Sprecherstandort. So steht in V. 8a zwar im Deutschen ein Perfekt („ich bin herabgekommen“), doch der Effekt dieses Satzes ist auf die Gegenwart bezogen, da Gott sich damit als nun präsent, gegenwärtig, anwesend vorstellt. Ähnlich ist es in V. 9: Das Geschrei und die Bedrängnis der Israeliten sind vor Gott gekommen und stehen ihm damit jetzt vor Augen.
3. Einzelanalysen
71
Wissens-Check
1. Welche drei Redeperspektiven gibt es? 2. Was ist hier wichtiger als der mechanische Blick auf die Tempora in der deutschen Übersetzung?
Strukturbildende Stilmittel Leitfrage Verwendet der Text Stilmittel? Wie strukturieren diese den Text? Beschreibung Bei der Analyse der Stilmittel sind zuerst zwei grundsätzliche Kategorien zu unterscheiden, nämlich strukturbildende und inhaltlich bestimmte Stilmittel. Zur zweiten Gruppe gehören etwa Metaphern oder Merismen, also diejenigen Stilmittel, die nicht auf der Textoberfläche als solche erkennbar sind. Sie sind in der Inhaltsanalyse (fi Aussagegehalt, S. 84ff.) zu untersuchen. Strukturierende Stilmittel dagegen sind etwa Chiasmen, Parallelismen, Ringstrukturen, Inklusionen oder Paronomasien. Ein Grundproblem dieses Analyseschrittes ist die Arbeit mit Übersetzungen. Stilmittel lassen sich durchaus auch im deutschen Text einer Bibelübersetzung finden, es ist dann aber jeweils zu entscheiden, ob diese auch im originalsprachlichen Text vorhanden sind. Letztlich kann diese Analyse also nur mit altsprachlichen Kenntnissen vollständig durchgeführt werden. Hilfsweise kann man bei der Analyse von Stilmitteln anhand einer Übersetzung drei Kategorien unterscheiden: Stilmittel sind in der Übersetzung sichtbar,
an urtextnahen Übersetzungen zu beobachten,
nur am Urtext zu erkennen.
Eine dem Urtext verpflichtete Übersetzung wird versuchen, Stilmittel, die sich im Deutschen leicht nachbilden lassen, zu übertragen. Das können etwa Parallelismen sein. Einige Stilmittel lassen sich zwar im Deutschen wiedergeben, passen aber nicht zur deutschen Grammatik oder Syntax. Daher sind diese Stilmittel in der Regel nicht in den üblichen Übersetzungen zu finden, möglicherweise aber in Kommentar- oder Interlinearübersetzungen. Das gilt beispielsweise oft für Chiasmen, Paranomasien oder Anaphern. Vor allem Stilmittel, die mit Klängen und Buchstaben arbeiten, sind im Deutschen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen wiederzugeben. Entsprechend gehört in diese Kategorie etwa die Alliteration.
Problem der Übersetzung
72
III.
Strukturanalyse Stichwort Ein wichtiger Hinweis zur Anapher: Wenn in einer deutschen Übersetzung, vor allem in Erzähltexten des Alten Testaments, viele Sätze mit „und“ beginnen, dann ist das kein Zeichen für eine Anapher, sondern der hebräischen Grammatik geschuldet. Deren Regeln stellen, vereinfacht gesprochen, in narrativenTexten dem Prädikat ein & („und“) voran, was aber sowohl als Konjunktion als auch als Aspektmarker zu verstehen ist und Einfluss auf die Verwendung der Tempora in der Übersetzung hat.
Parallelismus Membrorum
Bei der Analyse ist dementsprechend darauf zu achten, dass man nach Möglichkeit die Stilmittel des Urtextes untersucht, insofern sie durch die Übersetzung durchscheinen, und nicht die Stilmittel in der deutschen Übersetzung selbst. Poetische Texte des Alten Testaments sind in der Regel im sogenannten Parallelismus Membrorum verfasst. Hier ist das grundlegende Stilmittel also gleichzeitig Kennzeichen einer literarischen Gattung. Daher ist das bloße Vorkommen eines Parallelismus in diesen Texten, besonders in den Psalmen, für sich genommen nicht auffällig. Stichwort
Parallelismus Membrorum Hiermit wird das Phänomen bezeichnet, dass in poetischen Texten in der Regel zwei aufeinanderfolgende Verse mit unterschiedlichen Formulierungen den gleichen Inhalt ausdrücken (synonymer Parallelismus). Sonderformen sind der antithetische (die beiden Inhalte sind entgegengesetzt) und der synthetische Parallelismus (erst beide Zeilen zusammengenommen ergeben eine Gesamtaussage).
Hilfsmittel Bühlmann, Walter; Scherer, Karl: Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein Nachschlagewerk, 2. Auflage, Gießen 1992. Beispiele Parallelismus Synonymer Parallelismus Ps 117,1 (EÜ): (A) Lobt den HERRN, alle Völker, (A') rühmt ihn, alle Nationen! Synthetischer Parallelismus Ps 1,3 (EÜ): (A) Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen von Wasser, (B) der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Antithetischer Parallelismus Ps 1,6 (EÜ): (+A) Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, (–A) der Weg der Frevler aber verliert sich.
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur
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Wenn die Elemente eines ersten Teils überkreuz wiederholt werden, spricht man von einem Chiasmus. Sätze mit solchen Strukturen sind dadurch besonders hervorgehoben. Chiasmus Gen 9,6 (eigene Übersetzung): Wer vergießt (A) das Blut (B) eines Menschen (C), durch einen Menschen (C) soll sein Blut (B) vergossen (A) werden.
In seltenen Fällen lassen sich auch klangliche Stilmittel in der Übersetzung nachahmen (Jes 5,7 EÜ): Paronomasie Er hoffte auf Rechtsspruch (misˇpa¯t. ) – doch siehe da: Rechtsbruch (mis´pah), auf ˙ Rechtsverleih (s. eda¯qa¯ ) – doch siehe da: Hilfegeschrei (s.e a¯qa¯).
ҵ
Diese Paronomasie, d.h. der Gleichklang mehrerer Worte, findet sich auch im hebräischen Text und ist in der Übersetzung nachgeahmt worden. Wissens-Check
1. Was ist bei der Beobachtung von Stilmitteln an einer deutschen Übersetzung des Bibeltextes zu beachten? 2. Welche Arten des Parallelismus Membrorum gibt es?
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur Leitfragen Wie lässt sich das Gesamtbild der Textoberfläche beschreiben, das sich aus unterschiedlichen Analyseperspektiven zusammensetzt? Welche Einzelanalysen haben wichtige Erkenntnisse für den Aufbau und den Zusammenhang des Textes geliefert? Wie lässt sich die Komposition des Textes beschreiben?
Vorüberlegungen Was in den Methodenschritten bis hierher erreicht wurde, ist eine vorläufige Segmentierung des Untersuchungstextes in Abschnitte und Unterabschnitte (Strukturübersicht), zu deren innerem Zusammenhang erste Mutmaßungen (kontextbildende Funktionen) gemacht wurden. Weiterhin liegen auf
Was schon „steht“ und wie es weitergeht …
74
III.
Strukturanalyse
dem Notizblock diverse Einzelanalysen vor, die je nach Text, Textumfang und Textart (bzw. Textsorte) unterschiedlich ergiebig waren. Nicht alles davon wird in die Darstellung der exegetischen Ergebnisse Aufnahme finden. Die Auswahl unter den bisherigen Analyseergebnissen kann aber erst hier stattfinden.
Beschreibung Auswerten, sortieren, gewichten
In der Struktursynthese wertet man die vorherigen Analysen aus, sortiert und gewichtet sie (fi Vorbereitung, S. 21ff.). Was als besonders ertragreich herausgefiltert wurde, wird dann auch in die schriftliche Ausarbeitung aufgenommen. Dazu gehören die Facetten, die etwas zur lebendigen Gesamtanschauung des Textes beigetragen haben, die helfen, den Text besser zu verstehen, die vorher offene Fragen beantworten oder die die eigene Erwartung an den Text irritiert haben. Selbst wenn sich ein Analyseschritt als nicht ergiebig erwiesen hat und die Notizen in den Papierkorb wandern, war er nicht umsonst. Kein Analyseschritt sollte ausgelassen werden – nur dann kann man sicher sein, keinen wichtigen Aspekt zu übersehen. Die Synthese im hier verwendeten Sinn ist bereits Auslegungsleistung. Sie verwendet Argumente, um zu einer begründeten Aussage über den untersuchten Text zu gelangen. Diese Argumente können aber nur in einer sauberen Analyse gewonnen werden. Gelangt man voreilig zur Synthese, dann besteht die Gefahr, vorgefasste Meinungen von außen in die Auslegung einzutragen. Nach einer sorgfältigen Analyse baut die folgende Zusammensetzung eines Gesamtbildes auf dem Text selbst auf. „Die analytische Zergliederung ist […] unverzichtbar für die synthetische Zusammenfügung.“ (T. Meurer, Einführung, 50). Stichwort Die schriftliche Darstellung der Ergebnisse dieses Methodenschritts in einer Seminararbeit kann unter der Hauptüberschrift „Strukturanalyse“ erfolgen. Die Unterüberschriften wären dann: 1. die Strukturübersicht (ggf. grafisch gegliedert und markiert) 2. die Strukturbeschreibung 3. die Darstellung von Einzelaspekten der Strukturanalyse, die sich als wichtig und ergiebig erwiesen haben
Strukturübersicht
Die Strukturübersicht ist bereits bei den Überlegungen zur Gliederung des Textes angelegt worden (S. 49ff.). Basierend auf der Analyse der weiteren Strukturmerkmale kann diese nun weiter ergänzt, überarbeitet und eventuell grafisch unterstützt werden. So lassen sich Bezüge und Verweise im Text mit
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur
Klammern oder Ähnlichem verdeutlichen und Strukturmuster (s.u., Komposition) eintragen. Die Strukturbeschreibung ist das ausformulierte Pendant zur Strukturübersicht. Sie beschreibt systematisierend, das heißt nicht linear an der Gliederung entlang, die aufgefundenen Strukturen im Text und macht sichtbar, was bei der Lektüre nur unterschwellig oder unbewusst wahrgenommen wird. Um das zu gewährleisten, ist es nötig vom Text zu abstrahieren und eine beobachtende Distanz aufzubauen. Was man aus dieser beobachtenden Distanz entdeckt, ist die Komposition des Textes, das logische Arrangement seiner Abschnitte und Themen nach einem bestimmten Bauplan. Diesen Bauplan gilt es zu beschreiben, denn dahinter steckt eine Textstrategie, die die Lektüre beeinflusst und somit auch – noch vor dem Inhalt – das Verstehen steuert. Komposition meint dabei, dass die Anordnung nicht zufällig geschieht. Oft sind bestimmte Muster wahrnehmbar, die für Lektüre und Verstehen Akzente setzen.
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Strukturbeschreibung
Komposition
Stichwort Komposition meint hier das logische Zusammenspiel einzelner Abschnitte des Textes untereinander zur Akzentuierung und Steuerung des Lesevorgangs. Dabei geht es um das Ergebnis, nicht um den Vorgang des Komponierens. Im Blick ist also nicht, wie ein möglicher Autor eines Textes diesen – eventuell aus älterem Material – zusammengestellt haben könnte. Vielmehr analysiert man Makro- und Mikrostrukturen im vorliegenden Gesamttext (vgl. T. Meurer, Einführung, 39–40). Die Untersuchung der Komposition schließt an die Gliederung des Textes an. Die dort ermittelten Abschnitte (auch auf der Ebene der Feingliederung) werden als kleinste Einheiten der Komposition betrachtet.
Kompositionsstrukturen lassen sich sehr gut bei wörtlichen Wiederholungen identifizieren. Hat etwa ein Psalm einen Refrain (z.B. Ps 42,6.12; 43,5; Ps 80,4.8.[15.]20), dann strukturiert dessen Wiederholung den Text: Sie grenzt einzelne „Strophen“ voneinander ab. Diese stehen dann wiederum in Bezug zueinander. Die Bezüge zwischen zwei Abschnitten können aber auch subtiler hergestellt werden, etwa über Stichwortbezüge, Leitworte, gleiche Mikrostrukturen bzw. gleiche Feingliederung eines Abschnitts oder über kontrastierende Themen. Zur besseren Veranschaulichung von Zusammenhängen kann man Abschnitte, die sich ähneln bzw. strukturell gleich sind, mit gleichbleibenden Großbuchstaben (A; B …) markieren – Variationen derselben erhalten den gleichen Buchstaben mit einem Hochstrich (A'; B' …) (vgl. T. Meurer, Einführung, 51–52). Diese Buchstaben lassen sich in die Strukturübersicht eintragen. Am Ende kann es sein, dass sich aus der Anordnung der Buchstaben Strukturmuster er-
Wiederholungen, Refrains
Veranschaulichung mit Großbuchstaben
Strukturmuster
76
III.
Strukturanalyse
kennen lassen, d.h. eine bedeutungstragende Anordnung gleicher, variierender oder kontrastierender Abschnitte. Es ist grundsätzlich möglich, dass ein Text eine Anzahl von Gedanken und Themen einzeln linear hintereinander weg erzählt oder abhandelt, also die Abschnitte A, B, C, D, E usw. aneinanderreiht und so eine einfache, lineare Kompositionsstruktur (z.B. eine logische Erzählfolge) aufweist. Meist ist die Komposition etwas komplexer, weil nicht linear aufeinander folgende Abschnitte in Beziehung zueinander stehen und sich so Auffälligkeiten ergeben. Beispielsweise kann Abschnitt E den Gedanken und/oder den Wortlaut von Abschnitt A abschließend wieder aufgreifen, so dass man ihn besser mit A' markiert. Auf diese Weise kann man eine Rahmenstruktur im Text veranschaulichen: A, B, C, D, A'. In der Beschreibung dieses einfachen Strukturmusters hält man dann eine grundsätzlich lineare Abfolge fest und notiert als Auffälligkeit, dass der einleitende Gedanke am Ende wiederholend aufgegriffen wird. Das kann literarisch-ästhetische Gründe haben und/oder diesen Gedanken besonders hervorheben. Auch andere auswertende Interpretationen sind denkbar – damit sei schon angedeutet, dass Funktion und Effekt der festgestellten Muster auch ausgewertet und interpretiert werden müssen (s.u. Vorgehensweise). Ein weiteres einfaches Strukturmuster wäre eine Parallelstruktur, also etwa eine Anordnung A B A' B' oder A A' B B'. Vorstellbar sind auch Chiasmen (A B B'A' ) oder Rahmenstrukturen (A B B' C C' A'). In alttestamentlichen Texten häufig anzutreffen sind Ringstrukturen, die auch Palindrome genannt werden (A B C [D] C' B' A' – mit und ohne Zentrum D). Letztlich können diese Strukturen auch in beliebiger Variation auftreten. Zitat „Prinzipiell gibt es so viele Kompositionstrukturen, wie es Texte gibt. Sie sind so individuell wie Gesichter […]. Alttestamentliche und altorientalische Texte neigen aber dazu, inklusorische und gerahmte Strukturen aufzuweisen. Offenbar scheint die kompositorische Rahmung eines Textes und die inklusorisch verklammernde Anordnung ihrer Textsegmente einem besonderen literarästhetischen Anspruch in der Entstehungszeit der Texte genügt zu haben.“ (T. Meurer, Einführung, 53)
Was die Veranschaulichung angeht, sind die Großbuchstaben nur eine Möglichkeit. Man kann durchaus eine gewisse Kreativität entwickeln, auf welche Weise man vom Wortlaut des Textes selbst abstrahiert, um die Strukturen, die man in ihm entdeckt, sichtbar und für andere nachvollziehbar zu machen.
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur
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Beispiel Ex 3,7–10 7 8 9 10
Gottes Wahrnehmung I: Sehen Gottes Wahrnehmung I: Hören Gottes Vorsatz: Befreiung seines Volkes Gottes Wahrnehmung II: Hören Gottes Wahrnehmung II: Sehen Gottes Handeln: Sendung des Mose
A B C – Zentrum B' A' D
Der Vorsatz Gottes, die Israeliten zu befreien und in ein schönes Land zu führen, steht im Zentrum (C) einer kleinen Einheit, die von der Wahrnehmung Gottes palindromisch gerahmt ist (A, B) und die an ihrem Ende auf die Sendung des Mose hinausläuft (D).
Um die Kompositionsstrukturen zu erkennen, hilft es, wenn man in der Strukturübersicht bei der Wahl der Überschriften darauf geachtet hat, Gleiches mit gleichen bzw. Ähnliches mit ähnlichen Überschriften zu versehen. Bei der Anlage einer Strukturbeschreibung geht man in folgender Weise vor: Zunächst fügt man alle bisher gesammelten Erkenntnisse zusammen. Die Einzelanalysen müssen dabei mit der Gliederung des Textes verbunden werden. Als Vorarbeit kann es hilfreich sein, alle bisherigen Einzelergebnisse der Strukturanalyse in einer Tabelle zusammenzutragen, um zu bewerten, was wirklich wichtig für den Textaufbau ist. Hat man somit die Strukturmerkmale gewichtet, zieht man die wichtigsten davon heran, um sie als Aufhänger für die einzelnen Abschnitte der Strukturbeschreibung zu verwenden. Auf diese Weise vermeidet man es, Schritt für Schritt am Text entlang zu gehen und diesen einfach nachzuerzählen. In der Regel beginnt man mit einer Beschreibung der Textkomposition. Dabei blickt man zunächst auf die Hauptabschnitte, deren Verhältnis zueinander und deren Funktion füreinander und geht dann auf die Unterabschnitte ein, sofern sie strukturell relevante Auffälligkeiten zeigen. Hier ist dann jeweils zu begründen, warum diese konkrete Gliederung gewählt wurde, wobei auch die Ergebnisse der Einzelanalysen weiterhelfen. Die darin erhobenen und als wichtig erkannten Strukturmerkmale werden in aller Regel die bisher ermittelte Gliederung stützen. Der Wiedergabe von Ergebnissen folgt dann eine Auswertung, die die Leitfragen der Strukturanalyse heranzieht. Damit unternimmt man einen ersten Versuch zur Interpretation der Textstrategie, wie durch die Komposition und die Textoberfläche die Lektüre gelenkt und das Verstehen gesteuert wird. Diese interpretierende Auswertung darf also Vermutungen über den Effekt bestimmter Strukturmuster auf den Lesevorgang anstellen.
Vorgehensweise
Auswertung bzw. Interpretation
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III.
Strukturanalyse Stichwort
Strukturbeschreibung: Keine Nacherzählung oder Inhaltsangabe! Die Strukturbeschreibung ist keine Inhaltsangabe, sondern bezieht sich auf die „Außenseite“ bzw. die Gestalt des Textes (Textoberfläche). Der Inhalt ist nur nachrangig im Blick, im Fokus steht die Vermittlung dieses Inhalts in einer bestimmten Form. Unbedingt zu vermeiden ist auch eine einfache Wiedergabe des Textes mit eigenen Worten (Paraphrase oder Nacherzählung), die lediglich linear am Text entlanggeht.
Das folgende Beispiel zu Ex 3,1ff. zeigt, wie man es nicht machen soll. Ex 3,1ff. Im ersten Abschnitt wird Mose als Hirte vorgestellt. Der zweite Abschnitt schildert das merkwürdige Phänomen des brennenden Dornbuschs. Während der dritte Abschnitt die Ratlosigkeit des Mose beschreibt, entwickelt der vierte Abschnitt ein Gespräch zwischen Mose und Gott. …
Faktisch handelt es sich bei diesem Negativbeispiel um eine zusammenfassende Nacherzählung. Die Strukturbeschreibung soll vielmehr die in der Analyse entdeckten Strukturen, die Abschnitte und ihre inneren Zusammenhänge, die Lenkung der Perspektive usw. zur Sprache bringen. Erheblich besser ist das folgende Beispiel zur gleichen Stelle. Ex 3,1ff. Die Eröffnung der Erzählung, die die Berufung des Mose am Dornbusch beschreibt, gliedert sich grob in drei Abschnitte: Auf eine Exposition mit dem Phänomen (Ex 3,1–3) folgt die Beschreibung des ersten Kontakts zwischen Gott und Mose (3,4–6). Damit ist die Grundlage für eine erste längere Gottesrede (3,7–10) geschaffen. Die Exposition wiederum wird von Ortsangaben dominiert, die den Blick des Lesers vom normalen Aufenthaltsort des Mose hin zum Gottesberg Horeb und dort wiederum auf das Aufmerksamkeit weckende Phänomen des brennenden Dornbuschs lenken. Nimmt der Text bis V. 3 den Blickwinkel des Mose ein („ich will hingehen …“), so wechselt in V. 4 die Perspektive in den Blickwinkel Gottes („Als der HERR sah …“). Dadurch präsentiert der Text die Szene aus einem größeren Blickwinkel, als ihn Mose in der Textwelt hat. Mit dieser „Totalen“ ist die Lektüre auf die folgende Begegnung zwischen Gott und Mose vorbereitet. Ex 3,4–6 ist strukturiert durch Gesten und Worte der wechselseitigen Kontaktaufnahme …
Im Vordergrund steht hier die Art und Weise der Vermittlung, also die Form, die Gestalt, die Außenseite, die Struktur des Inhalts. Der Inhalt wird nur rudimentär beschrieben, denn die genauere Inhaltsanalyse kommt erst noch.
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur
79
Hilfsmittel Einige Kommentare machen unter Stichworten wie „Struktur“, „Aufbau“, „Form“ oder „outline“ Vorschläge zur Strukturierung von Perikopen; gelegentlich fallen tabellarische oder grafische Übersichten im Druckbild der Kommentierungen auf. Diese Hilfsmittel sollte man aber unbedingt erst nach der eigenen Analyse heranziehen, um eventuelle Unklarheiten abzugleichen. Da es in diesem Bereich kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sollte man keinesfalls auf die eigene Strukturanalyse verzichten. Einen Strukturierungsvorschlag in der Sekundärliteratur sollte man höchstens dann vollständig übernehmen, wenn er sich mit der eigenen vorherigen Analyse weitestgehend deckt. Die Quelle einer solchen Übernahme muss in der Fußnote ausgewiesen werden (z.B. „Die Strukturübersicht erfolgt in Anlehnung an XY“). Findet man in der Sekundärliteratur (sehr) ähnliche Strukturierungsvorschläge, bestätigt das die eigenen Analysen; in der Fußnote könnte man das so andeuten: „Ähnliche Strukturierungsvorschläge finden sich bei X und Y.“ Weicht man in der Abschnittsgliederung, etwa bei der Ansetzung eines größeren Einschnitts, erheblich von den in der Sekundärliteratur üblichen Vorschlägen ab, sollte man dies in Auseinandersetzung mit den Argumenten der Forschung vertiefter begründen.
Beispiele Das folgende Beispiel ist adaptiert entnommen aus: Schöning, Benedict: Die Prüfung Bileams in Num 22,21–35. Die Eselinerzählung kanonisch gelesen, in: Protokolle zur Bibel 24, 2015, 95–117 (online verfügbar). Num 22,21–35 21 22a–b 22c–27
Aufbruch Bileams Gottes Reaktion Dreimalige Begegnung mit dem Boten 22c–23 Erste Intervention des Boten 22c Blockade durch den Boten 22d–e Keine Wahrnehmung des Boten durch Bileam 23a–b Wahrnehmung des Boten durch die Eselin 23c–d Reaktion der Eselin: Ausweichen 23e–f Reaktion Bileams: Schläge für die Eselin 24–25 Zweite Intervention des Boten 24 Blockade durch den Boten 25a Wahrnehmung des Boten durch die Eselin 25b–c Reaktion der Eselin: Ausweichen 25d Reaktion Bileams: Schläge für die Eselin 26–27 Dritte Intervention des Boten 26a–b Blockade durch den Boten
A B C D A B C D A
Kommentare
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III.
Strukturanalyse 27a Wahrnehmung des Boten durch die Eselin 27b Reaktion der Eselin: Ausweichen 27c–d Reaktion Bileams: Schläge für die Eselin 28–30 Dialog Eselin – Bileam 28a Intervention JHWHs: Sprache für die Eselin 28b–d Vorwurf der Eselin 29a–b Reaktion Bileams 29c–d Todesdrohung an die Eselin 30a–d Gegenrede der Eselin 30e Resignation Bileams 31 Wende der Erzählung 31a Intervention JHWHs: Einsicht für Bileam 31b–c Wahrnehmung des Boten durch Bileam 31d–e Reaktion Bileams: Proskynese 32–35c Dialog Bote – Bileam 32–33 Vorwurf des Boten 32a Redeeinleitung 32b Frage nach den Schlägen 32c Begründung der Intervention 32d Begründung mit dem Weg 33a–b Einsicht der Eselin 33c–d Mögliche Schläge gegen Bileam 34 Eingeständnis Bileams 35a–c Lösung des Falles durch die Rede des Boten 35d Fortsetzung des unterbrochenen Weges
B C D E D' D''
E' B' C'
D' A B D'' A' C''
Strukturbeschreibung Der untersuchte Text Num 22,21–35 beginnt mit der nach 22,20 folgerichtigen Handlung: Bileam bricht auf. Num 22,22a–b stellt dem aber ein Problem entgegen, das erst in V. 35a–c gelöst wird. Danach (V. 35d) kann Bileam aufbrechen. Damit rahmen das Gehen und seine Problematisierung (Num 22,21–22b.35) die eigentliche Handlung. Diese beginnt mit einer dreimal parallel gestalteten Begegnung zwischen Bileam, seiner Eselin und dem Boten (V. 22c–23.24–25.26–27). Der Ablauf besteht aus folgenden wiederkehrenden Elementen: Blockade durch den Boten (A), Wahrnehmung durch die Eselin (B) und Ausweichen (C), Reaktion Bileams (D). Die Begegnung mit dem Boten wird für die Eselin über die drei Abschnitte (V. 22c–23.24–25.26–27) hinweg unausweichlich. Die Steigerung führt zur unvermeidbaren Konfrontation Bileams mit dem Boten. Diese wird durch einen Dialog Bileams mit der Eselin vorbereitet (V. 28–30). Eine erste Intervention JHWHs (E), die der Eselin die Sprache gibt, ermöglicht das erste Gespräch der Erzählung. Der weitere Verlauf besteht dann fast nur noch aus Dialogen. Der Dialog Bileams mit der Eselin führt zu einem Patt, aus dem der Handlungsfluss nur durch eine zweite Intervention JHWHs (E') herauskommt: JHWH deckt die Augen Bileams auf (V. 31). Nun gelingt Bileam, was auch seiner Eselin dreimal gelungen ist, und es entspinnt sich ein Dialog zwischen Bileam und dem Boten (V. 32–35c), der parallel zu dem zwischen der Eselin und Bileam gestaltet ist. Wieder spielt die Dreizahl eine wichtige Rolle: Die Elemente „Schläge“ (D; V. 32b; 33c–d), die Rolle des Boten (A; V. 32c) und die der Eselin (B; V. 33a–b) rahmen die zentrale Begründung in V. 32d. Bileam zeigt sich einsichtig (wie zunächst die Eselin, s. C: V. 23c–d; 25b–c; 27b; C': 31d–e;
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur
81
C'': 34), und der Bote löst den Fall durch eine neue Anweisung („nichts als das Wort, das ich zu dir sage, nur es sollst du sagen“, V. 35c). Der ganze Text wird über wiederkehrende Themen und Leitwörter zusammengehalten. Die Elemente der drei Begegnungen („in den Weg stellen“, „Boten sehen“, „ausweichen“ und „schlagen“) werden alle im folgenden Gesprächsteil aufgegriffen und variiert. Die einzige Neuerung sind die Eingriffe JHWHs, die den Fortgang der Erzählung erst ermöglichen. Als wichtigstes Leitwort fällt das achtfach genannte „Weg“ auf. Der Bote stellt sich auf den Weg, von dem die Eselin abweicht und auf den Bileam sie zurückbringen will. Schließlich führt am Boten kein Weg mehr vorbei (V. 26bR). Bileam sieht das selbst (V. 31b) und gesteht sein Unwissen darüber ein (V. 34d). Der Weg Bileams selbst ist der zentrale Bezugspunkt des Boten in V. 32d. Während Bileam ab Beginn des hier untersuchten Texts unterwegs ist, kommt seine Bewegung in V. 27b zum Stehen, und er kann erst wieder gehen, als der Bote ihn lässt (V. 35b). Der Weg wird vom Boten unterbrochen, damit Bileam ihn reflektieren kann. Ebenso fällt der dreimalige Verweis auf etwas Dreimaliges, zweimal das Schlagen Bileams und einmal das Abweichen der Eselin, auf.
An dieser Stelle folgt in der Seminararbeit die Präsentation weiterer Analysen. Beim Beispieltext Num 22,21–35 bietet es sich vor allem an, die Personenkonstellation(en) sowie die Redesituation genauer unter die Lupe zu nehmen. Als Beispiel wird die Personenkonstellation (fi S. 56ff.) in einer gekürzten Form dargestellt. Num 22,21–35 Die Eselinerzählung lebt von ihrer Personenkonstellation. Der Protagonist Bileam ist dabei gegenüber allen anderen Beteiligten im deutlichen Nachteil. Nur er kann den Boten nicht sehen. Aus der Perspektive Bileams ist daher die Eselin seine Antagonistin. In Wahrheit aber ist der Bote JHWHs der Antagonist Bileams und wird als solcher sogar explizit vorgestellt (V. 22c). Die Eselin hingegen steht treu auf Bileams Seite und ist eigentlich die Retterin Bileams (V. 33c–d). Sie gerät durch das Auftreten des Boten in ein Dilemma, das aus genau dieser Loyalität erwächst. Die Verhältnisse von Bileam zu seiner Eselin und vom Boten zu Bileam sind gleich konstruiert. In beiden Fällen liegt eine hierarchische Abhängigkeit vor. Durch die jeweils nur zwei Beteiligten bewusste Anwesenheit von drei Personen wird dieses Verhältnis spannungsreich.
Im folgenden Beispiel wird die Strukturübersicht von Ps 26 vorausgesetzt, die bereits bei der Vorstellung der Strukturübersicht (fi S. 53) als Beispiel diente. Zur Markierung der Kompositionsstruktur der Hauptabschnitte wird deren Übersicht hier wiederholt.
Weitere Analysen
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III.
Strukturanalyse Psalm 26 1b–3 4–5 6–8 9–10 11–12
Bitte um Erprobung des Betenden an JHWH Distanzierung von Übeltätern Begegnung mit Gott im Kult Bitte um Distanzierung von den Sündern Positiver Ausblick
A B C B' A'
Die Einteilung von Ps 26 in fünf Abschnitte ist vor allem durch den jeweiligen Wechsel der Redesituation begründet. In V. 1b–3 spricht die betende Person Gott an, in V. 4–5 wechselt sie zu einer Rede über Dritte. In V. 6–8 wendet sie sich wieder direkt an Gott, ähnlich wie in den folgenden V. 9–10, die aber wieder dritte Personen in den Blick nehmen. Zudem ist dieser Abschnitt (V. 9–10) als Aufforderung (Bitte) mit Motivation formuliert. Der letzte Abschnitt (V. 11–12) setzt sich adversativ mit „Ich aber“ (V. 11a) vom vorherigen ab und greift zahlreiche Elemente des ersten Abschnitts wieder auf. Die fünf Abschnitte bilden eine zweifache Rahmenstruktur um das Zentrum des Textes (C: V. 6–8). Der äußere Rahmen (A: V. 1–3; A': V. 11–12) wird durch mehrere Stichwortbezüge hergestellt. In V. 1c und in V. 11a verweist das Ich jeweils auf seine Lauterkeit. Ein Blick in den hebräischen Text stützt diese Verbindung, denn nur an diesen Stellen wird das selbständige Personalpronomen „Ich“ verwendet. Auch die Standfestigkeit in V. 1c hat ihre Entsprechung in V. 12a. Zudem wird im äußeren Rahmen der Gottesname JHWH als Anrede benutzt, was im inneren Rahmen nicht der Fall ist, wohl aber wieder im Mittelteil. Der innere Rahmen (B: V. 4–5; B': V. 9–10) wird durch die jeweilige Distanzierung zu Dritten gebildet, wobei die betende Person diese Absetzbewegung zum einen berichtet (B: V. 4–5), zum anderen darum bittet (B': V. 9–10). Auch die Personenkonstellation unterstützt diese doppelte Rahmenstruktur. Der äußere Rahmen ist gekennzeichnet durch die Präsenz von betendem Ich und angesprochenem Du (bzw. Gott in dritter Person) allein. Im inneren Rahmen treten die Übeltäter und Sünder als weitere Personen hinzu. Sie werden in der Textmitte (V. 6–8) nicht mehr erwähnt. Wie im äußeren Rahmen sind dort nur Sprecher und Adressat präsent. Durch die gehäufte Verwendung von Possessivpronomen der zweiten Person (im Hebräischen entsprechende Suffixe) wird eine Nähe zwischen Sprecher (betende Person) und Adressat (Gott) hergestellt, die gegenüber allen anderen Textteilen auffällt. V. 3 greift diesem Gedanken zwar schon voraus. Er begründet die Zuversicht, in der erbetenen Prüfung durch Gott bestehen zu können, mit der bisherigen Nähe zu Gott, indem er diese Nähe wie in V. 6–8 durch Pronomen der zweiten Person markiert. Aber V. 3 ist in den meisten deutschen Übersetzungen noch retrospektiv formuliert und erläutert damit einen Hintergrund für die folgenden Abschnitte. Vom hebräischen Text her ist auch eine futurische Übersetzung möglich. Dann entspricht V. 3 strukturell V. 11a in der Hoffnung, den bisherigen Weg von V. 1c fortsetzen zu können. An diesem Element wird deutlich, dass der erste Abschnitt insgesamt die Funktion einer Einführung übernimmt. Auch die beiden Begründungen der Bitten an Gott (V. 1b.2), einmal mit dem eigenen lauteren Verhalten (V. 1c–e) und einmal mit der Nähe zu Gott (V. 3), unterstützen diese Funktion, denn beide tauchen als Bitten wieder auf, nämlich in der Bitte um Distanzierung von den Sündern (V. 9–10) und als Bitte um Erlösung (V. 11b–c).
4. Struktursynthese – Beschreibung der Struktur Betrachtet man zusätzlich die Redeperspektive des Textes, lässt sich aus diesem Befund eine Textstrategie ableiten: Die ersten beiden Abschnitte sind in der Summe retrospektiv formuliert, die Textmitte spricht gegenwartsbezogen, während die letzten beiden Abschnitte im Ganzen prospektiv orientiert sind. Die Distanzierung des Ichs von den Übeltätern in V. 4–5 ist demnach ein Phänomen der Vergangenheit, das für die Zukunft wieder gewünscht wird (V. 9–10), weil dann nämlich die positiven Bedingungen von V. 1c–3 erneut gelten werden (V. 11–12). Die Nähe zu Gott (V. 6–8) und die Distanz zu den Sündern und Übeltätern (V. 4–5; V. 9–10) sollen diesen Zustand wieder ermöglichen.
Wissens-Check
1. Wie werden die Analyseergebnisse zu einer Strukturbeschreibung verarbeitet? 2. Wie verhindert man bei der Strukturbeschreibung eine bloße Wiedergabe mit eigenen Worten (Nacherzählung)? 3. Was sind Kompositionsstrukturen? Wie können sie veranschaulicht werden? 4. Wie geht man mit Strukturierungsvorschlägen in der Sekundärliteratur um? 5. Wozu ist eine genaue Kenntnis der Textstruktur nützlich?
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IV. Inhaltsanalyse Überblick
D
ie Inhaltsanalyse nimmt die Aspekte des Textes in den Blick, die in der Strukturanalyse bisher hintangestellt wurden, nämlich die Inhalte (Aussagen, Sprechhandlungen und Absichten), die ein Text in seiner Struktur transportiert und mit denen Bedeutung aufgebaut wird. So wird jetzt anstelle der Textoberfläche die Texttiefenstruktur untersucht, oder um im Bild der Archäologie zu bleiben: An Stellen, die der Survey bereits erprobt hat, werden nun Grabungen durchgeführt. Dabei geht die Inhaltsanalyse in drei Schritten vor. Zunächst untersucht sie die Aussagegehalte der einzelnen sprachlichen Einheiten (Wort- und Wortfügungssemantik), an-
schließend deren Handlungsgehalt (Sprechaktanalyse) und schließlich den Wirkgehalt des Textes (Pragmatik). Dadurch wird die Auslegung zu einer Gesamtaussage über den Text, allerdings noch ohne Berücksichtigung seines Kontextes, hingeführt. Für die hier zusammengefassten Methodenschritte ist es in der Regel nötig, parallel zum Bibeltext Hilfsmittel und Sekundärliteratur hinzuzuziehen. Wie schon bei der Strukturanalyse und wie prinzipiell bei allen anderen Methodenschritten auch gilt wieder, dass alle Analysen durchgeführt und ausgewertet werden, danach aber jeweils ausgewählt wird, was als relevantes Ergebnis dargestellt wird.
1. Aussagegehalt Leitfragen Was bedeuten die im Text verwendeten Begriffe? Welche der möglichen Bedeutungen ist gemeint? Welche Konzepte und Vorstellungen hängen an zentralen Begriffen? Welche zusammenhängenden oder kontrastierenden Begriffe treten auf und welche Wortfelder bilden sie? Wie lässt sich dieser Befund auswerten?
Beschreibung Die Wörter, die wir sprechen, tragen für uns ganz selbstverständlich Bedeutung. Wir würden sie sonst nicht verwenden, um damit zu denken und mit anderen zu kommunizieren. Dabei ist es alles andere als selbstverständlich, dass eine bestimmte Anordnung von einzelnen Buchstaben oder Lauten für
1. Aussagegehalt
uns verstehbar ist, also eine Bedeutung trägt, die für uns einen Sinn hat. Wir merken das spätestens beim Erlernen einer fremden Sprache. Die Zuordnung von Buchstaben zu einer Bedeutung geschieht zuerst durch die Konventionen, die eine sprechende Gruppe über diese Zuordnung trifft, und dann in den Kontexten, in denen diese Buchstaben verwendet werden. Kommt man aus einer anderen Sprache und damit auch aus einer anderen Kultur, muss man sich diese Konventionen erst aneignen – was umso schwieriger ist, wenn einen wie im Fall der Bibel auch noch ein großer Zeitraum von der Ausgangssprache trennt. Es ist ja keineswegs so, dass man die Wörter und Bilder der Bibel leicht versteht, selbst wenn sie durch eine Übersetzung in der eigenen Muttersprache vorliegen. Hinter der Verwendung und damit der Bedeutung vieler Begriffe liegen gesellschaftliche und kulturelle Konventionen, denen die Bibelwissenschaft nachspüren muss. Dabei geht es nicht nur darum, einzelne Wörter des Textes besser zu verstehen, sondern auch darum, sich die Enzyklopädie des Textes anzueignen. Damit ist das Wissen über die Text- und Umwelt gemeint, das man braucht, um den Text hinlänglich zu erfassen. Der Text setzt diese Enzyklopädie zum Teil voraus (zum Beispiel Wissen aus der Alltagswelt zur Zeit der Textentstehung), baut sie zum Teil aber auch selbst auf (wenn Informationen über die Textwelt gegeben werden). Das Ziel des Methodenschritts „Aussagegehalt“ ist es somit, die Begriffswelt des Textes, also die Bedeutungen der Wörter als sprachliche Konventionen, die hinter der Verwendung bestimmter sprachlicher Zeichen stehen, besser zu verstehen: Was sagt der Text mit seinen Wörtern und Sätzen worüber aus? Zugleich gilt es damit auch, sich Wissen über die kulturelle Enzyklopädie zu verschaffen, die der Text als bekannt voraussetzt und über die er selbst auch Informationen liefert.
Referenzsemantik Die Beziehung von Zeichen zum Bezeichneten, also etwa von Wörtern zu Bedeutungen, wird in der Referenzsemantik untersucht. In der konkreten Anwendung geht es darum zu fragen, welche Bedeutung die sprachlichen Zeichen, die den Bibeltext bilden, in ihrem Verwendungskontext annehmen. Wir haben es dabei mit uns fremden Konventionen zu tun, denn die Sprachen der Bibel sind nicht unsere Sprachen. Außerdem gibt es wie in allen Sprachen auch im Hebräischen und Griechischen mehrdeutige Wörter, die je nach Kontext andere Bedeutungen annehmen können. Ziel dieses Methodenschrittes ist deswegen zuerst die Bedeutungsfindung und dann die Vereindeutigung des vorliegenden sprachlichen Zeichens (Monosemierung oder Disambiguierung).
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Sprache ist Konvention
Ziel der Analyse des Aussagegehalts
Vieldeutigkeit von Worten
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IV.
Inhaltsanalyse Stichwort
Vieldeutigkeit/Ambiguität Viele Worte tragen mehrere Bedeutungen in sich; man denke an das deutsche Wort „Hahn“, das ein Tier oder das regulierende Ende einer Wasserleitung meinen kann. In den antiken Sprachen ist die Vieldeutigkeit häufig noch größer als in den modernen. Das biblische Hebräisch verwendet das eine Wort næfæsˇ für viele Aspekte: Kehle, Atem, Seele, Leben, Wesen oder Person. Welche Bedeutung jeweils gemeint ist, wenn das Wort verwendet wird, lässt sich nur aus dem Kontext seiner Verwendung erschließen. Wer einen Text liest, ist deswegen immer – meistens unbewusst – vor die Aufgabe gestellt, den vieldeutigen Worten die aktuell gemeinte Bedeutung anzusehen, sie also zu vereindeutigen. Diesen Vorgang nennt man Disambiguierung.
Auswahl der zu untersuchenden Begriffe
In gewissem Maße ist diese Arbeit schon bei der Übersetzung des Bibeltextes geleistet worden. Aus der fremden Sprache ist ein Text in der eigenen Muttersprache geworden. Aber selbst im Deutschen muss weiter nach der Bedeutung gefragt werden. Jeder Lesevorgang ist in dieser Perspektive auch Interpretationsvorgang, weil man bei jedem Wort unbewusst Entscheidungen trifft, welche vom Text intendierte Bedeutung hinter dem Wort stehen könnte. Das hängt zum einen an der Mehrdeutigkeit von Begriffen, die es auch im Deutschen gibt, und zum anderen an den Konzepten, die die Begriffe begleiten und sich mitunter nicht einfach übersetzen lassen. Wenn ein Bibeltext von einem König spricht, dann ist das Wort mit unserem heutigen Wort König identisch. Und trotzdem bedeutet es in der Zeit, aus der der Bibeltext stammt, etwas Anderes als heute. Aus diesen Gründen lohnt es sich, bestimmten Begriffen – aber nicht allen – im Bibeltext verstärkt nachzugehen. Es geht hier vor allem um jene Begriffe, die entweder unklar geblieben sind oder eine besondere Rolle im Text einnehmen. Bei der Identifikation der letztgenannten Kategorie sollten die Erkenntnisse aus der Strukturanalyse bedacht werden. Hier können Wörter untersucht werden, die an besonders hervorgehobenen Stellen im Text erscheinen oder durch Wiederholung als Leitworte aufgefallen sind. Stichwort
Leitwort „Unter Leitwort ist ein Wort oder ein Wortstamm zu verstehen, der sich innerhalb eines Textes sinnreich wiederholt: wer diesen Wiederholungen folgt, dem erschließt sich ein Sinn des Textes oder wird auch nur eindringlicher offenbar.“ Buber, Martin: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, Beilage zum ersten Band (Die Fünf Bücher der Weisung), Köln 1954, 15; vgl. ausführlich H. Utzschneider; S.A. Nitsche, Arbeitsbuch, 95–97.
1. Aussagegehalt
Diese Begriffe schlägt man in einem exegetischen Lexikon nach. Im Idealfall tut man das mit dem dahinterstehenden originalsprachlichen Wort, wenn man entsprechende Sprachkenntnisse hat. Es gibt auch Lexika, die nach deutschen bzw. modernsprachlichen Begriffen geordnet sind. In diesen findet sich oft ein Hinweis auf die dahinterstehenden originalsprachlichen Begriffe, sodass diese wiederum selbst nachgeschlagen werden können (fi Hilfsmittel, S. 88). Die Lexika führen nicht nur zur Bedeutung von Begriffen. Gerade die ausführlicheren Artikel in den genannten Werken bringen auch Erkenntnisse über Konzepte, die mit bestimmten Begriffen verbunden sind. So steht beispielsweise Weisheit in der Bibel nicht einfach nur für kluge Lebensentscheidungen; der Begriff prägt vielmehr ganze Literaturgattungen und eine große Buchgruppe innerhalb der Bibel. Die genannten Wörterbücher und Lexika haben die Verwendung der relevanten Begriffe in ihren je verschiedenen Kontexten analysiert und die Ergebnisse dieser Untersuchungen zur Grundlage ihrer Artikel gemacht. Diesen Schritt kann man bis zu einem gewissen Grad selbst nachgehen, indem man sich verschiedene Belegstellen des untersuchten Wortes anschaut. Der jeweilige Verwendungskontext zeigt die Sinnpotentiale eines Begriffs auf. Findet sich in anderen Texten ein ähnlicher Kontext und eine vergleichbare Verwendungsweise wie im eigenen Text, kann man die gleiche Bedeutung annehmen. Das wichtigste Hilfsmittel ist dabei die KonkordanzW, üblicherweise heutzutage in der komfortablen Form von Bibelsoftware (fi Hilfsmittel, S. 89). Bei der Arbeit mit Lexikon, Konkordanz und Bibelsoftware wird man feststellen, dass bestimmte Formulierungen genau so oder sehr ähnlich in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen. Man spricht dann von Formeln bzw. geprägten Wendungen und Schemata. Die Beobachtungen zu diesem Phänomen der Verwendung geprägter Sprache notiert man sich, denn ihnen wird in einem eigenen Methodenschritt (fi Typik des sprachlichen Ausdrucks, S. 113ff.) noch nachzugehen sein. – Analog behandelt man bestimmte gedankliche Vorstellungen, auf die man in ähnlicher Formulierung immer wieder stößt. Diese Motive und Traditionen behält man zunächst im Hinterkopf und betrachtet sie bei der fi Typik der geprägten Vorstellungen (S. 122ff.) genauer. Die erwähnten späteren Methodenschritte untersuchen das Typische an der verwendeten Sprache und den eingesetzten Vorstellungen. Hier, beim Aussagegehalt, geht es zunächst um die Bedeutung der Begriffe im individuellen Untersuchungstext, die entsprechend der Verwendungsweise ein- und von anderen Bedeutungsmöglichkeiten abgegrenzt werden muss.
Relationale Semantik Nach der Begriffsklärung sucht man im Text nach den Beziehungen, die Begriffe zueinander eingehen (relationale Semantik). Sie können beispiels-
87 Vorgehensweise
Konkordanzarbeit
Geprägte Elemente
Äquivalenzen und Kontraste
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IV.
Vorgehensweise
Inhaltsanalyse
weise zueinander synonym, ergänzend, entgegengesetzt oder einander unteroder übergeordnet sein. Sie können auch häufig in einem Zusammenhang verwendet werden oder der gleichen Vorstellungswelt angehören. Der „König“ etwa steht semantisch in Beziehung zum „Thron“ oder zur „Herrschaft“ und in Kontrast zu „Hütten“ und „Zelten“. Durch ähnliche oder gleiche Bedeutung von Wörtern entstehen Wortfelder (vgl. dazu H. Utzschneider; S.A. Nitsche, Arbeitsbuch, 97–98). Mehrere Wortfelder können sich entsprechen oder zueinander im Kontrast stehen; gerade poetische Texte arbeiten oft mit kontrastierenden Wortfeldern. Für die praktische Durchführung hat es sich bewährt, eine Tabelle zu erstellen, in der man in der einen Spalte semantisch zusammengehörige Wörter (sogenannte „Äquivalenzen“) und in der anderen Spalte dazu kontrastierende Wörter aufschreibt. Für eine Auswertung lassen sich eventuell Wortfelder bestimmten Personengruppen zuordnen, die dadurch verbunden oder weiter kontrastiert werden, oder es ergeben sich Zuordnungen, die sich mit den Erkenntnissen der Strukturanalyse korrelieren lassen. Auch kann man anhand der Äquivalenzen und Wortfelder sowie ihrer Verteilung die Hauptthemen erkennen, um die der Text kreist. Ferner sieht man, ob der Text diese Themen kontrovers diskutiert, wenn eben viele Kontraste begegnen, oder ob er immer wieder in die gleiche Kerbe schlägt und bestimmte Aussagen in variierender Weise wiederholt. Auch werden bestimmte Bewertungen sichtbar: Je mehr über etwas immer wieder gesprochen wird, umso wichtiger muss es wohl sein. Für die spätere Frage nach der Pragmatik (fi S. 105ff.) werden durch die hier gemachten Beobachtungen weitere Hinweise auf das oder die Anliegen des Textes gesammelt, die zu den bei der Strukturanalyse erhobenen Erkenntnissen hinzutreten.
Hilfsmittel Die wichtigsten Hilfsmittel für die Analyse des Aussagegehalts sind die exegetischen Lexika und Wörterbücher. Eine Übersicht findet sich im fi Literaturverzeichnis, S. 168ff. Um Wörter in ihrem Verwendungskontext zu untersuchen, nutzt man Konkordanzen. Eine Konkordanz W zu einer Bibelausgabe listet Begriffe, die in dieser Bibel vorkommen, alphabetisch auf und gibt dazu alle Belegstellen an, an denen diese verwendet werden. So kann man auf einen Blick erkennen, ob man es mit einem häufigen oder seltenen Begriff zu tun hat, oder ob dieser in bestimmten literarischen Kontexten (Propheten, Tora etc.) gehäuft vorkommt. Konkordanzen sind gedruckt für alle gängigen Bibelausgaben (Urtexte und Übersetzungen) verfügbar (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.).
1. Aussagegehalt Stichwort
Bibelsoftware Als Alternative zur gedruckten Konkordanz hat sich Bibelsoftware etabliert. In der Regel enthält jede Software eine Suchfunktion, um bestimmten Begriffen nachzugehen. Sinnvoll ist diese aber erst, wenn sie lemmatisiert arbeiten kann, d.h. wenn sie nicht, wie eine klassische Volltextsuche, nur exakte Treffer für eine Suchanfrage liefert (die Suche nach „opfern“ ergibt nur Treffer mit „opfern“, nicht aber „opferte“ usw.), sondern alle Formen eines Grundwortes (die Suche nach „opfern“ ergibt dann auch Treffer mit „opferte, opferst, geopfert“ etc.). Eine ausführliche Übersicht über Bibelsoftware findet sich auf http://bibelsoftware.theologie.unimainz.de/.
Beispiel: Ps 1 In Ps 1 wird das Wort „Frevler“ (EÜ) bzw. „Gottlose“ (ELB, LUT) häufig verwendet. Schlägt man „Frevler“ etwa im Calwer Bibellexikon nach, so erfährt man, dass der Frevler in den Psalmen oft das Gegenbild zum Gerechten ist und sich dadurch auszeichnet, dass er lügt, Gewalt ausübt, Gott verachtet etc. Schlägt man den Begriff „Frevler“ dann in einer Konkordanz nach, zeigt die Verteilung der Belegstellen im Alten Testament, dass der Begriff typisch für die weisheitliche Literatur ist; die EÜ 1980 verwendet ihn 89 Mal in den Psalmen, 69 Mal im Buch der Sprichwörter, 27 Mal in Ijob, 17 Mal im Buch der Weisheit und 15 Mal in Jesus Sirach. Das ist deutlich mehr als in allen anderen Textbereichen (Rest: 22). Nimmt man die Belege für „Gerechter“ hinzu, dann bestätigt sich die Aussage des Calwer Bibellexikons: An 15 Stellen in den Psalmen stehen Frevler und Gerechte einander gegenüber. Um in der gedruckten Konkordanz herauszufinden, in welchen Versen „Frevler“ und „Gerechte“ genannt werden, muss man beide Einträge durchgehen, und die doppelten Stellenangaben notieren. Bequemer lässt sich diese Aufgabe mit Bibelsoftware lösen, die es ermöglicht, gleichzeitig nach zwei Begriffen zu suchen. Dort kann man dann neben der Suche nach Begriffen, die gleichzeitig vorkommen sollen (UND-Verknüpfung) auch zum Beispiel nach solchen suchen, die alternativ verwendet werden können (ODER-Verknüpfung). Für Ps 1 wäre es etwa interessant zu wissen, ob die Spötter aus V. 1 nicht auch ein typischer Gegensatz zu den Gerechten sind, so wie die Frevler. Bibelsoftware kann dazu anzeigen, in welchen Versen „Frevler“ ODER „Spötter“ UND „Gerechte“ stehen. Für die Psalmen ergibt sich hieraus kein neues Ergebnis. Es sind weiterhin 15 Verse, was bedeutet, dass „Spötter“ nicht die gleiche typische Funktion hat wie „Frevler“. Das Ergebnis einer Kombinationssuche der Begriffe „Frevler“ und „Gerechter“ in den Psalmen mit einer Bibelsoftware sieht z.B. so aus:
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IV.
Inhaltsanalyse
Abb. 9 LOGOS 6, i Faithlife Corporation, Bellingham, USA, 2016. Der Screenshot wurde unten um die Belege Ps 58,11; 75,11; 125,3; 129,4 und 146,9 gekürzt.
In diesem Beispiel wurde die Suche anhand der Einheitsübersetzung von 1980 in lemmatisierter Form durchgeführt. Das Programm findet nicht nur die Form „Gerechter“, sondern auch „Gerechten“ usw. Ein präziserer Befund lässt sich nur am originalsprachlichen Text erheben, in diesem Fall an der hebräischen Bibel. Dazu bietet etwa das Programm „BibleWorks“ die Möglichkeit, eine Kombinationssuche der hebräischen Begriffe für „Frevler“ (3f : , ra¯ˇsa¯‘) und „Gerechter“ (9'G 8 , s. addı¯q) durchzuführen (logische AND-Verknüpfung). Komplexere Suchroutinen kann man auch mit Hilfe einer grafischen Eingabe-Oberfläche („Graphical Search Engine“) entwickeln. Das Ergebnis der Kombinationssuche sieht dann etwa aus wie in Abb. 10. Es gibt leichte Unterschiede zu notieren: In Ps 125,3 übersetzt die EÜ 1980 ein Wort mit „Frevler“, das eigentlich das Substantiv „Gottlosigkeit, Frevel“ ist. In Ps 146,8–9 stellt die EÜ 1980 die Zeilenabfolge so um, dass „Gerechte“ und „Frevler“ in einem Vers im Parallelismus vorkommen. Im hebräischen Original sind die beiden Begriffe viel weiter auseinander, was man z.B. auch an der ELB, der ZB oder der EÜ 2016 sehen kann: Diese Übersetzungen ändern die Zeilenabfolge in den beiden Versen nicht. An diesem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass die Arbeit mit einer bestimmten Übersetzung immer auch an die Entscheidungen der jeweiligen Übersetzer gebunden ist und dass Bibelsoftware schnelle und effektive Kombinationssuchen in den originalsprachlichen Texten und in Übersetzungen sowie deren Vergleich ermöglicht. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich in die jeweilige Software mit Geduld und durch
1. Aussagegehalt
91 Abb. 10 BibleWorks, Version 10, i BibleWorks, LLC, 2016.
Nachvollziehen von Suchen, deren Ergebnisse man z.B. aus der Sekundärliteratur schon kennt, in die Handhabung der Suchfunktionen einzuarbeiten. Untersucht man Ps 1 nun auf Äquivalenzen und Kontraste, dann lassen sich folgende Wortfelder erfassen, die das oben Gesagte bestätigen: Psalm 1 Frevler, Sünder, Spötter
Gerechte
Spreu, Verwehen im Wind
Baum, Wasserbäche, Frucht, nicht welkende Blätter
Weg der Frevler fi Abgrund
Der HERR kennt den Weg der Gerechten
Die Frevler werden mit den Sündern und Spöttern synonym verwendet und den Gerechten gegenübergestellt. Dieser starke Kontrast spiegelt sich in den verwendeten Naturbildern. Während der Text die Frevler mit fruchtlosen Pflanzenteilen vergleicht, die als wertlos verworfen werden, ist das bei den Gerechten verwendete Bild ein fruchtbarer Baum, der nicht welkt und wertvolle Früchte bringt. Die deutlichen Kontraste, die den ganzen Psalm in zwei Wortfeldern durchziehen (Frevler und Gerechte, Pflanzenwelt), kennen keine Zwischentöne. Der Text legt sich auf ein strenges „entweder – oder“ fest und bewertet die beiden ausschließlichen und sich auch gegenseitig ausschließenden Alternativen deutlich. Am Ende
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IV.
Inhaltsanalyse mündet die Polarität in eine Zwei-Wege-Lehre: Nur der Weg der Gerechten ist positiv besetzt („der HERR kennt den Weg der Gerechten“), sie sind unüberbrückbar von den Frevlern getrennt.
Beispiel Ps 26 (ZB) Ps 26 lebt von den starken Kontrasten, die zwischen seinen Wortfeldern bestehen. Ein erstes auffälliges Wortfeld bilden die „falschen Menschen“ (Ps 26,4), denen das betende „Ich“ (Wortfeld 2) gegenübersteht. In einer Tabelle kann man das so veranschaulichen: Äquivalenzen Wortfeld 1: die falschen Menschen falsche Menschen, Heuchler, Rotte der Übeltäter, Frevler (V. 4–5) Sünder, Mörder (V. 9), Schandtat klebt an ihren Händen (V. 10a), Bestechung (V. 10b)
Kontraste Wortfeld 2: das betende Ich Ich: Vollkommenheit, Vertrauen, ohne zu wanken (V. 1), Wahrheit (V. 3) ich wasche meine Hände in Unschuld (V. 6) Ich: Vollkommenheit (V. 11), auf rechtem Grund (V. 12) Ich hasste die Rotte der Übeltäter (V. 5a) Ich liebe die Stätte deines Hauses (V. 8a) Die betende Person distanziert sich stark von den „falschen Menschen“, sie hasst die Rotte der Übeltäter, aber sie liebt das Haus Gottes. Der Kontrast zwischen diesen beiden Wortfeldern macht deutlich, dass die Äußerung in V. 1 „in Vollkommenheit bin ich meinen Weg gegangen“ zur Abgrenzung gegenüber den „falschen Menschen“, „Heuchlern“ usw. dient. Der Satz darf also nicht als anmaßende Selbstüberschätzung missverstanden werden: Die betende Person will sich nicht mit ihrer „Vollkommenheit“ brüsten, sondern sich zu ihrem Gottvertrauen bekennen. In V. 2 bittet sie auch darum, Gott möge diese Vollkommenheit prüfen und hoffentlich bestätigen (s.u.).
Wortfeld 3: irdische Existenz des Menschen Nieren und Herz (V. 2), Augen (V. 3), Hände (V. 6), Fuß (V. 12), Seele, Leben (V. 9).
Wortfeld 4: Sphäre Gottes Gottes Güte und Wahrheit (V. 3), dein [Gottes] Altar (V. 6), deine [Gottes] Wunder (V. 7), die Stätte deines [Gottes] Hauses, der Ort, da deine Herrlichkeit wohnt (V. 8)
Ein drittes Wortfeld wird durch „Körperteile“ (im weiteren Sinne) gebildet: Nieren und Herz (V. 2), Augen (V. 3), Hände (V. 6), Fuß (V. 12), also das ganze innere und äußere Leben (Seele, Leben in V. 9). Damit wird gezeigt, dass sich die betende Person mit ihrer gesamten leiblich-geistigen Existenz in die Gegenwart Gottes stellt. Diesem Wortfeld der irdischen Existenz der betenden Person wird in einem vierten Wortfeld die Sphäre Gottes gegenübergestellt: Gottes Güte und Wahrheit (V. 3) und alle Aussagen der Verse 6–8. Die betende Person sieht sich als unschuldig, sie tritt im Haus Gottes an den Altar und stimmt Gott das Loblied an, um seine Wunder zu
1. Aussagegehalt verkünden. Hier geht es somit immer um den Gottesdienst und das Heiligtum („der Ort, da deine Herrlichkeit wohnt“, V. 8). Wortfeld 5: Bitte um Prüfung prüfe mich, erprobe mich, erforsche mir Nieren und Herz (V. 2)
Wortfeld 6: Bitte um Rettung Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern, nicht mein Leben mit den Mördern (V. 9), erlöse mich und sei mir gnädig (V. 11)
Die betende Person ist sich sicher, dass sie sich schon auf der Seite Gottes befindet. Das erkennt man an dem fünften Wortfeld, das durch die drei äquivalenten Imperative in V. 2 aufgespannt wird: „prüfe mich, erprobe mich, erforsche mir Nieren und Herz“. Gemeinsam ist diesen drei Bitten um Prüfung die Überzeugung, diese Erprobung durch Gott bestehen zu können. Dazu bildet das sechste Wortfeld mit seinen um Rettung bittenden Imperativen einen Kontrast: „Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern, nicht mein Leben mit den Mördern … erlöse mich und sei mir gnädig“ (V. 9.11bc). Gemeinsam ist diesen Imperativen, dass in ihnen die Bitte ausgedrückt wird, nicht zusammen mit den bösen Menschen (erstes Wortfeld) vernichtet zu werden. An die Stelle der Sicherheit, von Gott als „gut“ befunden zu werden (fünftes Wortfeld, V. 2), ist die Angst getreten, von Gott mit den Bösen in einen Topf geworfen und vernichtet zu werden (sechstes Wortfeld, V. 9.11bc). Anhand der semantischen Äquivalenzen und Kontraste kann man zusammenfassen, dass sich die betende Person zwischen zwei Sphären sieht: der Sphäre der Übeltäter (die sie hasst) und der Sphäre Gottes (in die sie gelangen will bzw. wo sie sich schon sieht). An sich ist die betende Person überzeugt, zur Sphäre Gottes zu gehören, doch stellt sie sich im ersten Teil des Psalms einer Prüfung und bittet im zweiten Teil um Rettung, um nicht mit den Sündern unterzugehen. Im kontrastiven Verhältnis der Wortfelder zueinander sucht und geht die betende Person ihren Weg. Dieser Weg erfolgt in Vollkommenheit und Gottes Wahrheit (V. 1.3.11) und vermeidet massiv die Sphäre der „falschen Menschen“ (V. 4–5.9–10). Von diesem Wortfeld distanziert sich die betende Person auf ihrem Weg, der sie zum Altar und zur Wohnung Gottes (V. 6.8), also zum irdischen Teil der göttlichen Sphäre, dem Gottesdienst am Heiligtum führt. Von da aus entspringt dann der verkündigende Lobpreis (V. 7.12b).
Wissens-Check
1. Wie wird die Bedeutung eines Wortes festgelegt? 2. Welche Rolle spielt der Kontext eines Wortes bei der Suche nach dessen Bedeutung? 3. Welche Hilfsmittel sind für die Analyse des Aussagegehalts geeignet? 4. Was sind Leitwörter? 5. Auf welche Weisen können Begriffe in Beziehung zueinander treten? 6. Wie können diese Beziehungen interpretiert werden?
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94
IV.
Inhaltsanalyse
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse Leitfragen Wie handelt der Text mit seinen Reden? Welcher Eindruck entsteht, wenn man diese Sprechhandlungen klassifiziert, vergleicht und gewichtet? Wie ist dies zu interpretieren? Welchen Verlauf nehmen die Sprechhandlungen im Text?
Vorüberlegungen Sprechen ist Handeln
Beispiel aus dem Alltag
Direkte und indirekte Sprechakte
Wer spricht, gibt nicht nur Laute von sich, die eine Bedeutung tragen, sondern handelt immer auch. Die Sprechaktanalyse fragt danach, welche Handlungen (Akte) sich mit diesem Sprechen – im Fall der Exegese mit den in schriftlichen Texten formulierten sprachlichen Äußerungen – verbinden. Dieser Methodenschritt eignet sich vor allem für poetische Texte wie die Psalmen. Die Funktion der Sprechaktanalyse erschließt sich durch folgende Überlegungen aus dem Alltag: Die Äußerung „Hier ist 100“ eines Beifahrers im Auto kann je nach Situation, Tonfall und anderen Umständen ganz unterschiedliche Sprechhandlungen darstellen. Vom Satzbau her handelt es sich um einen Aussagesatz: Der Beifahrer trifft eine Feststellung, die wahr oder falsch sein kann. Die direkte Sprechhandlung ist die Informationsvermittlung. Sie entspricht der Satzart „Aussagesatz“. Das ist aber vielleicht gar nicht die primäre Handlungsabsicht des Beifahrers. Vom Tonfall her könnte der Satz auch mit einem Ausrufezeichen gesprochen werden: „Hier ist 100!“. Zeigt die Tachonadel etwa 130 km/h, steht nicht mehr die Informationsvermittlung im Vordergrund; sie wäre untergeordnet. Stattdessen will der Sprecher mit seiner Aussage anders handeln: Er will nicht informieren, sondern appellieren. Vorrangig ist dann die Aufforderung, langsamer zu fahren. Diese Aufforderung ist aber im Satzbau nicht zu erkennen; sie ist nicht direkt ausgedrückt, sondern indirekt. Die direkte Form (Satzart) für eine auffordernde Sprechhandlung wäre der Imperativ („Fahr langsamer!“). Mitschwingen können bei der Äußerung „Hier ist 100“ noch eine Reihe anderer, wiederum untergeordneter Sprechakte: die Warnung vor einem möglichen Bußgeld oder, bei einem zusätzlich leicht herablassenden Tonfall, die Kritik am zu schnellen Fahrstil. Das Beispiel zeigt, dass in einer sprachlichen Äußerung viele Sprechakte enthalten sein können. Zunächst unterscheidet man direkte und indirekte Sprechakte. Mit einer bestimmten Satzart sind nach den Regeln der Sprache entsprechende Sprechhandlungen verbunden, so beispielsweise mit Aussagesätzen eben Aussagen, mit Befehlssätzen Aufforderungen, mit Fragesätzen Fragen. Diese Sprechakte nennt man direkte Sprechakte.
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse
Dazu gesellen sich die zahlreichen indirekten Sprechakte, die nicht auf der Ebene des Satzbaus zu erkennen sind, sich aber durch entsprechende Sprachkonventionen entschlüsseln lassen. Beispielsweise ist der Satz „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ auf der Ebene der Satzart eine Frage (direkter Sprechakt); aufgrund der sprachlichen Konventionen und der Semantik muss man jedoch auch den indirekten Sprechakt berücksichtigen, der in der Aufforderung bzw. Bitte besteht, die Uhrzeit mitzuteilen. Im Alltag wie in der Exegese sind wir vor die Aufgabe gestellt zu entscheiden, welcher der Sprechakte für den Sprecher im Vordergrund steht. Wie das Beispiel aus dem Alltag zeigt, kann ein Sprecher mit einer einzigen Sprechhandlung durchaus mehrere Intentionen gleichzeitig verfolgen und auch mehrere Handlungen setzen, die teils bewusst, teils unbewusst geschehen. Es lässt sich dabei aber eine Rangfolge festlegen oder zumindest ein Sprechakt als der mutmaßlich „wichtigste“ identifizieren. Dieser Sprechakt ist dann der dominante Sprechakt, alle anderen sind untergeordnet, sie schwingen mit. Die Festlegung des dominanten Sprechakts ist bereits eine Interpretation, in sie fließen verschiedene Beobachtungen und Eindrücke ein. Es sind vor allem drei Kriterien, die man zur Beurteilung heranziehen kann: Stichwort
Kriterien für dominante und untergeordnete Sprechakte 0 Kontext: Die sprachliche Äußerung steht nicht unverbunden im Text, sondern sie fügt sich in den Textverlauf ein. Die umstehenden Äußerungen beeinflussen also, was in der einzelnen Äußerung primär gemeint ist. 0 Kohärenz: Der dominante Sprechakt einer Äußerung wird zu den anderen dominanten Sprechakten passen, die sich im Text bisher gefunden haben. Er wird diese eher aufgreifen, wiederholen oder weiterführen als plötzlich etwas völlig Neues einzufügen. 0 Das Verhältnis von Sprecher und Adressat: Wenn Sprecher und Adressat auf Augenhöhe miteinander reden, ergeben sich möglicherweise andere dominante Sprechakte, als wenn eine hierarchische Über- und Unterordnung zwischen beiden besteht.
Sind direkter und dominanter Sprechakt identisch, wenn etwa mit einem Aussagesatz auch primär eine Aussage getroffen werden soll, dann ist auf Seiten des Hörers wenig Interpretation nötig. Häufig sind es aber die indirekten Sprechakte, aus denen bei einer sprachlichen Äußerung der dominante Sprechakt erwächst. Dann muss der Adressat (Hörer, Leser) – im Falle von Bibeltexten die auslegende Person – entscheiden, welcher der vielen Sprechakte (der eine direkte oder einer der vielen indirekten) der dominante Sprechakt ist, um angemessen auf die Handlung zu reagieren. Zusammenfassend: Der Satz „Hier ist 100“ in einem Auto gesprochen ist als direkter Sprechakt eine Aussage über einen Sachverhalt, als indirekter
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Dominante und untergeordnete Sprechakte
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IV.
Inhaltsanalyse
Sprechakt aber möglicherweise ein Appell an den Fahrer, langsamer zu fahren, und vielleicht sogar eine Aussage über das Sprecher-Ich, das kundtut, mit der aktuellen Geschwindigkeit unzufrieden zu sein. Der Hörer muss nun aus diesen vielen Sprechakten denjenigen auswählen, der dominant ist, um adäquat zu reagieren. Im Alltag helfen Kontext und Tonfall von sprachlichen Äußerungen dabei, den dominanten Sprechakt zu erkennen. In geschriebenen Texten fällt der Tonfall weg, wodurch der Kontext umso wichtiger wird und die Breite der Interpretationsmöglichkeiten steigt.
Beschreibung Vorgehensweise
Für die Exegese ist dieser Vorgang Schritt für Schritt nachzuvollziehen. So ist zuerst nach den jeweils direkten Sprechakten auf der Ebene der Satzart zu fragen. Fragesätze sind hinsichtlich ihres Handlungsgehaltes Fragen, Vokative sind Anreden, Imperative sind Aufforderungen, und Aussagesätze sind eben Feststellungen. Im nächsten Schritt sind dann mögliche indirekte Sprechakte zu ermitteln: Eine Frage kann auch eine rhetorische Frage sein, also eine Aussage treffen, und ein Vokativ „Mein Herr!“ kann auch eine Vertrauensbekundung sein. Als Letztes ist anhand des Kontextes, der Textkohärenz und des Verhältnisses von Sprecher und Adressat zu entscheiden, welcher der Sprechakte jeweils dominant ist. Stichwort
Direkte und indirekte, dominante und untergeordnete Sprechakte Text
1. und 2. Schritt: direkte und indirekte Sprechakte unterscheiden
Soll denn das Schwert unaufhörlich um sich fressen? (2 Sam 2,26 EÜ)
Direkter Sprechakt: 0 fragen Indirekte Sprechakte: 0 appellieren (den Kampf zu beenden) 0 beklagen (dass gekämpft wird) Direkter Sprechakt: 0 aussagen, feststellen Indirekte Sprechakte: 0 (etwas) beklagen bzw. (Gott [„du“!]) anklagen 0 Trauer bekunden
Du hast sie gespeist mit Tränenbrot, sie überreich getränkt mit Tränen. (Ps 80,6 EÜ)
Klassifizierungs- und Beschreibungssystem
3. Schritt: dominanten Sprechakt ermitteln
untergeordnet dominant untergeordnet untergeordnet dominant untergeordnet
Um die Sprechakte genauer erfassen und vergleichen zu können, bedarf es eines standardisierten Systems für ihre Klassifizierung und Benennung. Damit
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse
97
können Ähnlichkeiten sowie der Verlauf von Sprechhandlungen in einem Text präziser beschrieben werden. Stichwort
Klassifizierung und Benennung von Sprechakten Der folgende Vorschlag zur Einteilung und Benennung von Sprechakten (Sprechaktanalyse) orientiert sich an den Ausführungen von Irsigler, Hubert: Psalm-Rede als Handlungs-, Wirk- und Aussageprozess. Sprechaktanalyse und Psalmeninterpretation am Beispiel von Psalm 13, in: Seybold, Klaus; Zenger, Erich (Hg.), Neue Wege der Psalmenforschung. FS Walter Beyerlin (HBS 1), Freiburg i.Br. 1994, 63–103. Irsigler wiederum lehnt sich an die Klassifikation von John R. Searle an. Insbesondere die Klassifikation erfolgt mit Hilfe von neu gebildeten Bezeichnungen (z.B. [assertiv], [direktiv], [deklarativ] usw.), die als Etiketten für Gemeinsames dienen. Die spezielle Terminologie hat folgende Vorteile: Man löst sich von der Wortwahl des Untersuchungsobjektes „Text“ selbst und verhindert dadurch, dass man ihn erneut und lediglich mit etwas anderen Worten wiedergibt (nacherzählt). Auch erleichtert die abstrakte Klassifikation den Vergleich der Sprechhandlungen: Ähnliche und gleiche Tendenzen werden so eher sichtbar, ebenso der Wechsel und der Fortschritt der Sprechhandlungen im Textverlauf.
Zunächst sind für die Klassifikation vier Grundorientierungen von Sprechakten zu unterscheiden: 1. Orientierung am Sachverhalt Feststellungen bzw. Aussagen bezogen auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 2. Orientierung am Sprecher-Ich Selbstverpflichtungen, Bekundungen von Gefühlen, Wünschen und Bewertungen, Setzung von Tatsachen 3. Orientierung am Adressaten Aufforderungen, Fragen, Kommunikation 4. Orientierung am Kontext Verbindungen, Übergänge
Vier Grundorientierungen
Die Klassifikation dient, wie oben gesagt, der Abstraktion vom Text, um den Vergleich und die Beobachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden mittels der Etiketten zu ermöglichen. Hat man den jeweiligen Sprechakt in dieser Klassifikation eingeordnet, macht man als nächstes in der Beschreibung semantische Differenzierungen deutlich, die sich z.B. aus der Personenkonstellation oder anderen Umständen ergeben. So kann etwa ein Sprechakt, der aufgrund einer Befehlsform (Imperativ) als [direktiv-positiv] zu klassifizieren ist, je nach Adressat unterschiedlich beschrieben werden: Steht der Adressat über dem Sprecher (z.B. Gott über der betenden Person), ist der Sprechakt als /bitten/ zu beschreiben. Im umgekehrten Fall (etwa ein Befehlshaber gegenüber einem Soldaten) wird man den Sprechakt mit dem gleichen Etikett [direktiv-positiv] als /befehlen/ beschreiben. Zur Beschreibung eignen sich Ver-
Klassifikation und Beschreibung
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IV.
Inhaltsanalyse
ben, die in den Satz „Hiermit X-e ich …“ passen (Beispiele: befehlen, auffordern, bitten, fragen, behaupten, aussagen, feststellen, ankündigen, versprechen, jmd. zu etwas erklären, nominieren, taufen, danken, gratulieren, sich entschuldigen). Ein Gegenbeispiel soll dies verdeutlichen: „Trauern“ ist kein geeignetes Verb zur Beschreibung eines Sprechakts, denn man kann auf viele verschiedene, meist auch non-verbale Weisen trauern. Der zugehörige sprachliche Akt ist die Bekundung der Trauer: „Hiermit bekunde ich meine Trauer“ kann man sagen. Hinsichtlich der Klassifikation dominiert hier die Orientierung am Sprecher-Ich; der Sprechakt ist eine Kundgabe von Gefühlen [expressiv-emotiv] (und untergeordnet vielleicht auch der Bewertung [expressiv-evaluativ]). Die Klassifikation eines Sprechakts schreibt man in eckigen Klammern, die Beschreibung in Schrägstrichen. Stichwort
Klassifikation und Beschreibung von Sprechakten 1. Grundorientierung am „Sachverhalt“ (Gegenstände, Sachverhalte: die „Welt“ oder Wirklichkeit)
Orientierung
Klassifikation
Hier geht es um die Darstellung außersprachlicher Wirklichkeit. Diese Sprechakte können als „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden. Hinzutreten kann die Zeitebene: 0 bezogen auf die Vergangenheit 0 bezogen auf die Gegenwart 0 bezogen auf die Zukunft Bei der Beschreibung können der Grad der Sicherheit (Tatsache, Mutmaßung …), der eigene Sprecherstandpunkt und der Partnerbezug berücksichtigt werden.
[assertiv] (synonym: [repräsentativ])
[assertiv-narrativ] [assertiv-konstativ] [assertiv-prädiktiv] z.B. /feststellen/, /behaupten/, /verneinen/, /jemandem etwas mitteilen/
2. Grundorientierung am Sprecher-Ich a. Sprechakte bekunden Sprechereinstellungen zum geäußerten Inhalt (Kundgabe).
Orientierung
Klassifikation
Der Sprecher geht eine Selbstver[kommissiv] pflichtung ein. Hinzutreten können folgende Aspekte: 0 etwas zu tun [kommissiv-initiativ-positiv] z.B. /versprechen/ [kommissiv-initiativ-negativ] z.B. /drohen/
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse 0 etwas zu unterlassen
[kommissiv-restriktiv] z.B. /sich etwas versagen/, /sich weigern/
Der Sprecher gibt Gefühle, Wünsche, [expressiv] Bewertungen kund. Hinzutreten können folgende Aspekte: 0 Gefühl [expressiv-emotiv-positiv] [expressiv-emotiv-negativ] 0 Ausruf [expressiv-exklamativ] 0 Wunsch, Erwartung [expressiv-volitiv] 0 Genügeleistung [expressiv-satisfaktiv], z.B. /danken/, /sich entschuldigen/ 0 Bewertung [expressiv-evaluativ-positiv] z.B. /loben/, /etwas gutheißen/ [expressiv-evaluativ-negativ] z.B. /tadeln/, /klagen/, /etwas kritisieren/, /etwas beklagen/ Wenn das Sprecher-Ich ein Gegenüber + Partnerbezug anspricht („Du“), so kann man zusätzlich den „Partnerbezug“ markieren. Beispiel: Aus dem Beklagen eines [expressiv-evaluativ-negativ] Sachverhalts wird eine Anklage, + Partnerbezug /anklagen/ wenn für den Missstand das angesprochene „Du“ verantwortlich gemacht wird. b. Sprechakte setzen gültige Tatsachen.
Orientierung
Klassifikation
Der Sprecher bekundet den Willen [deklarativ] und die Überzeugung, dass der geäußerte Sachverhalt dadurch gültig gesetzt ist, dass er ihn als herbeigeführt erklärt. Für den deklarativen Sprechakt sind Konventionen und z.T. institutionelle Rahmenbedingungen nötig. Hinzutreten können folgende Aspekte: 0 mit Bezug auf Sachverhalte, ohne in- z.B. /etwas definieren/, stitutionellen Zusammenhang /benennen/ (Bezeichnungskonventionen) 0 mit Bezug auf Fakten z.B. /als zutreffend oder schuldig erklären/ 0 mit Bezug auf einen sozialen oder z.B. /ernennen/, /kündigen/, religiösen institutionellen Rahmen /segnen/, /taufen/
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100
IV.
Inhaltsanalyse 3. Grundorientierung am Partner bzw. Adressaten Die Sprechakte zielen auf eine Reaktion des Partners: Appell, Frage, Kontakt.
Orientierung
Klassifikation
Appell
[direktiv-positiv] z.B. /befehlen/, /auffordern/, /bitten/, /raten/ [direktiv- negativ] z.B. /verbieten/, /warnen/
Frage Hinzutreten können folgende Aspekte: 0 Sachverhaltsbezug 0 Sprecherbezug 0 Partnerhandlungsbezug
[interrogativ] z.B. /jemanden nach etwas fragen/ /jemanden um Rat fragen/ /jemanden über etwas zur Rede stellen/
Kontakt
[kommunikativ-positiv] z.B. /anreden/, /anrufen/, /grüßen/ [kommunikativ-negativ] z.B. /jemanden anfahren/
4. Grundorientierung am Kontext schriftlicher Texte
Orientierung
Klassifikation
Diese Sprechakte zielen auf Verknüpfungen von Redeteilen und Textsegmenten. Differenzierungen: 0 schlussfolgern
[konnektiv]
0 andere Verbindungen
[konnektiv-konklusiv] z.B. /begründen/, /folgern/, /etwas rechtfertigen/ z.B. /entgegensetzen/
Wendet man diesen Katalog von Klassifikationen und Beschreibungen auf die Beispielsätze aus 2 Sam 2,26 und Ps 80,6 an, so sieht das etwa folgendermaßen aus, wobei die Entscheidung für den dominanten Sprechakt bereits durch Fettdruck kenntlich gemacht wird:
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse
101
Stichwort
Klassifikation und Beschreibung von Sprechakten (Beispiele) Text
Klassifikation
Soll denn das Schwert unaufhörlich um sich fressen? (2 Sam 2,26 EÜ)
Direkter Sprechakt: [interrogativ] Indirekte Sprechakte: [direktiv-positiv] [expressiv-evaluativ-negativ]
Du hast sie gespeist mit Tränenbrot, sie überreich getränkt mit Tränen. (Ps 80,6 EÜ)
Direkter Sprechakt: [assertiv-narrativ] Indirekte Sprechakte: [expressiv-evaluativ-negativ] + Partnerbezug: „Du“ (Gott!) [expressiv-emotiv-negativ]
Beschreibung /fragen/ /appellieren/ /beklagen/ /berichten/ /beklagen/, /anklagen/ /Trauer bekunden/
Wie jede Analyse bedarf auch die Sprechaktanalyse der Auswertung. Die Feststellung, welche Sprechakte vorhanden und welche davon dominant sind, holt das nach, was wir bei mündlicher Rede unbewusst sofort tun. Welche Folge das nun geklärte Verständnis der Sprechhandlungen hat, ist aber erst zu erheben. Im Überblick der diversen Sprechakte sollte noch einmal deutlicher werden, welche Tendenz der Text einschlägt, wie er argumentiert und welche Stimmung dominiert. Zu dieser Auswertung gehört die Beschreibung des Verlaufs der Sprechhandlungen. Die Abstraktion durch die Terminologie der Sprechaktanalyse ermöglicht den Vergleich der Sprechakte, so dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar werden. Dabei kann es sich ergeben, dass der Text mit vielen unterschiedlichen Ausdrücken und Wendungen über mehrere Verse hinweg doch immer wieder die gleiche Sprechhandlung vollzieht. Oder man stellt fest, dass sich bestimmte Sprechhandlungen zyklisch abwechseln (etwa wenn ein Text zwischen Bitte und Klage abwechselt). Wieder im Unterschied dazu könnte ein Verlauf auch linear (steigernd oder fallend) sein und eine Art Entwicklung oder einen Erfahrungsweg darstellen.
Hilfsmittel Sprechaktanalysen in dieser elaborierten Form finden sich in der Kommentarliteratur bisher noch nicht. Wohl aber wird häufig zwischen direkten und indirekten sowie dominanten und untergeordneten Sprechakten unterschieden, ohne dass diese Begrifflichkeit verwendet wird. So wird etwa von einer „rhetorischen Frage“ gesprochen, die „eigentlich“ eine Aufforderung darstelle (d.h. der direkte Sprechakt /fragen/ ist untergeordnet, dominant ist [di-
Auswertung
Sprechhandlungsverlauf
102
IV.
Inhaltsanalyse
rektiv-positiv] /auffordern/). Wenn gemutmaßt wird, dass hinter einer bestimmten Aussage „mehr steckt“, so könnten damit indirekte (und dann dominante) Sprechakte gemeint sein.
Beispiel: Sprechaktanalyse zu Psalm 13 (EÜ) Psalm 13 1 ab 2 a
[Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.] Wie lange noch, [interrogativ] /fragen/
aV
HERR,
[kommunikativ] /anreden/
a b
vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir?
[expressiv-evaluativ-negativ] /klagen/ + Partnerbezug: Du = /anklagen/ [expressiv-emotiv-negativ] /Gefühl des Vergessen-Seins bekunden 2a/, /Gefühl des Abgewiesen-Seins bekunden 2b/ [direktiv-positiv] /bitten um Beendigung des Zustands/
3 a
Wie lange noch muss ich Sorgen tragen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange noch darf mein Feind sich über mich erheben?
[interrogativ] /fragen/ [expressiv-evaluativ-negativ] /klagen/ [expressiv-emotiv-negativ] /Gefühl der inneren Angst bekunden/ [direktiv-positiv] /bitten um Beendigung des Zustands/
Blick doch her, gib mir Antwort,
[direktiv-positiv] /bitten (um Wahrnehmung und Antwort)/
bV
HERR, mein Gott,
[kommunikativ-positiv] /anreden/, /Kontakt intensivieren/, /Beziehung bekunden („mein“)/
c
erleuchte meine Augen,
[direktiv-positiv] /bitten (um Hilfe)/
d
damit ich nicht im Tod entschlafe, damit mein Feind nicht sagen kann: »Ich habe ihn überwältigt«, damit meine Gegner nicht jubeln, weil ich wanke!
[konnektiv] /begründen/, [expressiv-emotiv-negativ] /Befürchtung äußern/ [expressiv-volitiv-negativ] /dringenden abwehrenden Wunsch bekunden/ [direktiv-positiv] /bitten/
b c
4 a b
5 a b c d
2. Handlungsgehalt: Sprechaktanalyse 6 a
Ich aber habe auf deine Güte vertraut,
„ich aber“: [konnektiv] /entgegensetzen/ [assertiv-konstativ] /beteuern, bekennen/ [expressiv-emotiv-positiv] /Vertrauen bekunden/ [deklarativ] /Vertrauen als gesetzt erklären/ [direktiv-positiv] /um Güte bitten/ [expressiv-volitiv-positiv] /Wunsch bekunden/ [kommissiv-positiv] /versprechen/ (Inhalt des Versprechens: 6c–d) [expressiv-evaluativ-positiv] /Gottes Hilfe loben/ [expressiv-emotiv-positiv] /Freude bekunden/
b
mein Herz soll über deine Hilfe jubeln.
c
Singen will ich dem HERRN, [kommissiv-positiv] /Loblied versprechen/
d
weil er mir Gutes getan hat. [assertiv-konstativ] /feststellen/ [konnektiv] /begründen/ [satisfaktiv] /danken/
Psalm 13 beginnt mit einer in eine fragende Klage hineinverwobenen Anrede an Gott (Vokativ „HERR“, JHWH), die die Kommunikation eröffnet. An den angesprochenen Gott werden vier (mit V. 3b faktisch fünf) „wie-lange-noch“-Fragen gerichtet. Sie sind nur auf der Ebene der Syntax Fragen – in sprechaktanalytischer Hinsicht erweisen sie sich als negativ wertende Vorwürfe an Gott (JHWH), die die Sprechhandlung dominieren. Die Fragen sind somit rhetorisch, denn sie ersuchen nicht um eine Auskunft über eine gewisse Dauer, sondern beklagen die negativen Gefühle des Verlassenseins, des Abgewiesenseins durch Gott, der inneren Angst und Verwirrung. In Verbindung mit der Anrede an das Du Gottes wird daraus auch eine Anklage Gottes. Implizit schwingt aber auch eine Bitte um Beendigung des als negativ bewerteten und empfundenen Zustands mit. Ab V. 4 wird die Bitte insofern explizit, als nun auf der Ebene der Syntax Imperative begegnen (wieder in Verbindung mit einer erweiterten Anrede Gottes, die die Kommunikation intensiviert). Da die Befehlsformen vom Menschen an Gott gerichtet werden, ist die Beschreibung als „bitten“ angebracht. Zwei Bitten zielen auf die Wahrnehmung durch Gott (V. 4ab) und reagieren auf die Gottverlassenheit der klagenden Fragen, eine Bitte stellt die göttliche Hilfe ins Zentrum (V. 4c). Die Verse 4d–5 unterfüttern die Bitten mit Begründungen (drei Mal „damit nicht“). Diese Motivationen äußern Befürchtungen und den dringenden Wunsch, dass die Gegner nicht triumphieren sollen – letztlich aber dominiert auch hier die indirekte Bitte um Abhilfe. Mit V. 6 ändern sich die Sprechakte erneut: Der Klage und der Bitte wird die Bekundung des Vertrauens entgegengesetzt (V. 6a). Implizit steckt darin auch wieder die Bitte, Gott möge dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Gegen alle aktuelle Wirklichkeit deklariert die betende Person ihr Vertrauen als gesetzt und schließt daran das Versprechen an, Gott (wieder) zu preisen (V. 6b). Untergeordnet schwingen positive Gegenbewertungen und Gegenempfindungen zur negativen Ausgangslage von V. 2–3 mit. Wie der Lobpreis erfolgen wird, das stellt V. 6cd vor: Mit diesen Worten, die hier vorerst nur zitiert und versprochen, noch nicht aktuell vollzogen wer-
103
104
IV.
Inhaltsanalyse den können, werden Lob und Dank angekündigt, sobald die Hilfe Gottes eingetroffen ist. Insgesamt kann man von einem Erfahrungsweg sprechen, der sich in den Sprechhandlungen abzeichnet: Aus tiefer Verzweiflung über die Gottverlassenheit und innerer Qual ringt sich die betende Person zu Bitten an Gott durch, die von Hoffen und Bangen unterfüttert werden. Dieses Sprechhandeln als Ausdruck tiefen Glaubens mobilisiert entsprechende Vertrauensressourcen, die in der Hoffnung auf eine Rettung für die Zukunft bereits wieder das Gotteslob ankündigen.
Praktische Hinweise
Wie im Beispiel sichtbar wird, können in der Darstellung bisweilen auch mehrere Sätze (Äußerungseinheiten) zusammengefasst werden, wenn die vollständige Analyse zeigt, dass ihre Sprechhandlungen in die gleiche Richtung gehen. Auch ist es nicht notwendig, die Sprechaktanalyse immer „flächendeckend“ durchzuführen. Gerade in Erzähltexten kann der Analyseschritt – wenn überhaupt – meist nur in den Redepassagen effektiv angewandt werden. Die Darstellung in tabellarischer Form in Verbindung mit dem Text wie oben bei Psalm 13 dient dazu, die einzelnen Entscheidungen (Klassifikationen) und Gewichtungen (dominant vs. untergeordnet) transparent zu machen. Das empfiehlt sich bei besonders „dichten“ Texten mit komplexen und häufig wechselnden Sprechhandlungen. In anderen Fällen kann es genügen, die Analyse auf dem Notizblock zu machen und nur die Auswertung in die Darstellung aufzunehmen. Wie immer gilt es, Transparenz und Nachvollziehbarkeit der exegetischen Entscheidungen zu ermöglichen und zugleich überflüssige Redundanzen zu vermeiden. Wissens-Check
1. Wie erklären Sie, dass Sprechen immer auch Handeln ist? Was bedeutet das für den Alltag und für die Exegese? 2. Was sind direkte und indirekte Sprechakte und wie sind sie zu unterscheiden? Was sind dominante und untergeordnete Sprechakte und wie sind sie zu unterscheiden? – Formulieren Sie drei Alltagsbeispiele, bei denen direkter und dominanter Sprechakt nicht identisch sind! 3. Welche drei Schritte muss man bei der Analyse der Sprechakte gehen? 4. Nach welchen vier Grundorientierungen kann ein Klassifikationssystem von Sprechakten angelegt werden? 5. Mit welcher Begrifflichkeit klassifiziert man Sprechakte nach diesen Grundorientierungen? 6. Mit welchen Verben beschreibt man Sprechakte?
3. Wirkgehalt: Pragmatik
105
3. Wirkgehalt: Pragmatik Leitfragen Was will der Text bei seinen Lesern (fi S. 106) bewirken? Wie werden Leser im Text gelenkt? Welche Haltung oder Einstellung sollen Leser annehmen oder verändern? Welche Mittel setzt der Text ein, um diese Haltung zu erreichen? Mit welchen Figuren sollen sich Leser identifizieren?
Beschreibung Texte und Sprache handeln nicht nur mit ihren Äußerungen, sie wollen auch etwas damit bei ihren Lesern bewirken – dazu werden Texte verfasst und überliefert. Die Strukturen des Textes und seine Inhalte, die in den bisherigen Methodenschritten analysiert wurden, dienen letztlich dieser Wirkabsicht (Pragmatik). Mit der Frage nach der Pragmatik erreicht man nach sorgfältiger Vorbereitung und behutsamer Annäherung an den Text einen Punkt, der in einem vorschnellen, nicht methodengeleiteten Zugriff häufig ganz am Anfang adressiert wird: Was will der Text eigentlich? Stürzt man sich zu schnell und ohne Vorbereitung auf diese Frage, kann es im besten Fall geschehen, dass man viele Aspekte übersieht, im schlimmeren Fall trifft man gar nicht den Kern des Textes, und im schlimmsten Fall dominieren die eigenen Leserinteressen (intentio lectoris) so stark, dass der Text doch nur wieder dazu benutzt wird, die eigene Position zu bestärken. Die dem Text innewohnenden bzw. von der Leserschaft in verstehender (nicht gebrauchender) Lektüre zu entdeckenden pragmatischen Sinndimensionen, die unter Umständen auch die eigene Ansicht hinterfragen, werden erst in einem methodengeleiteten und schrittweise reflektierenden Herangehen vollends zur Geltung kommen. Im Folgenden wird deutlich werden, dass und wie die Pragmatik auf die vorherigen Analysen aufbaut. Die Pragmatik eines Textes wird häufig mit der Wirkabsicht seines Autors gleichgesetzt (vgl. die Unterscheidung von intentio operis und intentio auctoris fi S. 14ff.). Diese meist unbewusste Gleichsetzung zeigt sich etwa in der Frage „Was will uns der Autor mit dem Text sagen?“ oder in dem Vorwurf, man würde etwas „in den Text hineininterpretieren“, was der Autor gar nicht gewollt habe. Dabei vermischt man aber zwei unterschiedliche Dinge. Zwischen der Pragmatik des Textes und der Intention des Autors zu trennen fällt uns heute auch deswegen so schwer, weil uns viele Autoren moderner Texte scheinbar bekannt sind und wir es gewohnt sind, bei der Interpretation eines modernen Textes auch die Lebenssituation seines Verfassers zu reflektieren. Davon muss aber bei biblischen Texten schon deswegen Abstand genommen werden, weil hier die Autoren unbekannt und die Texte nur schwer zu datieren sind. Aber es gibt auch theoretische Gründe, warum diese Unterscheidung für Texte allgemein wichtig ist.
Unterscheidung von intentio operis und intentio auctoris
106
IV. Texte sind gebrochene Kommunikation
Inhaltsanalyse
Von ihrem Wesen her sind Texte als Kommunikation zwischen Autor und Leser zu verstehen (fi Vorüberlegungen, S. 11ff.). Diese Kommunikation findet aber nicht wie bei einem Gespräch direkt statt, sondern vermittelt durch das Medium Text. Dadurch kommt es zu einem Bruch: Die Autorin oder der Autor kann nicht sicherstellen, wann und von wem der Text gelesen wird. Außerdem hat sie oder er keine Möglichkeit mehr, die Kommunikation auf die konkrete Leserin oder den konkreten Leser hin anzupassen. Sie oder er muss daher den Text so gestalten, dass dieser die angezielte Absicht möglichst gut einem abstrakten Leser (implizierter Leser) vermittelt. Stichwort
Verschiedene Leser-Begriffe 0 Implizierter Leser: die von der realen Autorin bzw. dem realen Autor vorgestellte und angesprochene Leserschaft (produktionsorientierte Perspektive); 0 Impliziter Leser: die im Text wahrgenommene Leserrolle; schließt den implizierten Leser mit ein, geht aber insofern darüber hinaus, als in einem Text immer mehr Sinnpotentiale stecken, als ein(e) reale(r) Autor(in) hineingelegt hat (rezeptionsorientierte Perspektive, daher auch: Modell-Leser fi S. 14); 0 Realer Leser: die Leserinnen und Leser aus Fleisch und Blut, die zu einer konkreten Zeit den Text lesen. Ihnen tritt bei der Lektüre der implizite Leser als Strategie und Angebot des Textes gegenüber, das sie annehmen oder ablehnen können. Der implizite Leser ist als Rolle mit literaturwissenschaftlichen Mitteln zu beschreiben, die Wirkung des Textes auf ihn wird in der Pragmatik analysiert. Wenn in diesem Buch nur vom „Leser“ ohne weitere Angabe die Rede ist, ist der implizite Leser gemeint. – Die Wirkung des Textes auf reale Leserinnen und Leser wird mit empirischer Leseforschung erfasst, die hier nicht vorgestellt wird.
Der Text als Vermittler zwischen Autor und Leser
Reale Leserinnen und Leser eines Textes haben nicht die reale Autorin bzw. den realen Autor selbst vor sich, sondern ihren bzw. seinen Text. Sie müssen diesen Text interpretieren, weil gewisse Kontexte von gesprochener Sprache (etwa der Tonfall oder die Mimik) nicht vorhanden sind. Sie können dabei nur den Hinweisen folgen, die der Autor oder die Autorin im Text hinterlassen haben. Im Text steckt also neben dem implizierten Leser auch ein impliziter Autor (ausführlich erläutert bei H. Utzschneider; S.A. Nitsche, Arbeitsbuch, 147–151). Dieser ist nicht mit der realen Autorin oder dem realen Autor identisch, denn er ist nur ein Ausschnitt des realen Menschen. Zusätzlich entstehen im Schreibvorgang u.U. von realen Autoren nicht intendierte Sinnpotentiale, die bei späteren Lektürevorgängen entdeckt werden. Der Bruch, der durch die Verschriftlichung passiert, trennt also Autor und Leser so voneinander, dass der Autor nur den implizierten Leser erreichen und der Leser nur auf den impliziten Autor zurückschließen kann. Beide Rollen sind im Text (und nur dort) angelegt.
3. Wirkgehalt: Pragmatik
107 Abb. 11 Autor und Leser
impliziter Autor Autor Text: Kommunikation (orts- und zeitübergreifend) Leser impliziter Leser
Innerhalb des Textes gibt es allerdings noch mehr Kommunikationsebenen als die zwischen implizitem Autor und impliziertem Leser. Das ist vor allem bei Erzähltexten gut zu beobachten. Hier gibt es einen Erzähler, der explizit oder implizit vorhanden sein kann. Alles, was nicht Figurenrede ist, ist Aussage des Erzählers, die an einen Hörer gerichtet ist, der meistens nur implizit im Text zu erkennen ist. Gleichzeitig agieren und kommunizieren auch die erzählten Figuren miteinander. Die Differenzierung von Kommunikationsebenen hilft, die verschiedenen Kommunikationsvorgänge im Text auseinanderzuhalten. Denn Wirkabsicht gibt es auf allen Ebenen eines Textes; auch die erzählten Figuren wollen aufeinander einwirken. Diese Wirkabsicht ist aber noch nicht identisch mit der Pragmatik des Textes. Hier kann es leicht zu Verwechslungen kommen, die dem Text eine völlig neue Bedeutung geben (Beispiel zu 2 Sam 11–12fi S. 109). Die Pragmatik des Textes ist dort zu verorten, wo impliziter Autor und impliziter Leser miteinander kommunizieren. Das ist deswegen besonders anspruchsvoll, weil diese Ebene der Kommunikation nicht direkt im Text zu erkennen ist. Sie muss daher anhand der Textmerkmale erschlossen werden, die in den vorherigen Analysen betrachtet wurden. Nur so ist gesichert, dass mit der Auslegung keine eigenen Interessen in den Text hineingelesen werden. Für die Analyse der Pragmatik muss man alle bisher gewonnenen Erkenntnisse einbeziehen. Die Strukturanalyse hat Hinweise darauf gegeben, welche Strategie der Text verfolgt. Daraus kann man schließen, wie der Text seine Leser von etwas überzeugen will oder zu welchen Überlegungen er sie anregen möchte. Die bisherige Inhaltsanalyse hat herausgearbeitet, welche Wertungen der Text vornimmt, welches Wissen er voraussetzt und wie der Text sprachlich handelt. Dadurch wird deutlich, welche Haltung der Text vermitteln will. Mit diesen Erkenntnissen kann man nun der Frage nachgehen, wie der implizite Leser des Textes gelenkt wird: Welche Informationen erhält er vom Text, welche werden ihm vorenthalten? Mit welchen Figuren im Text soll der Leser sich identifizieren, von welchen soll er sich abgrenzen? Wo kann der Leser sich in den Text integrieren und wo wird er vielleicht sogar direkt angesprochen? Wo fordert der Text vom Leser eine eigene Leistung, etwa das Füllen von Leerstellen (fi S. 56)?
Vorgehensweise
108
IV.
Inhaltsanalyse
In Texten mit besprechender Rede (fi Redearten, S. 68f.) ist zu fragen, wie der Leser über die Diskussion der verschiedenen Positionen in den Text hineinverstrickt und zu einer bestimmten Haltung geführt wird. In Erzähltexten kann die Unterscheidung von Äußerungen des Erzählers und Äußerungen der Figuren hilfreich sein. Je nachdem, wie der Leser am Wissen im Text beteiligt wird, nimmt er eine andere Position ein. Der Leser kann solidarisch mit einzelnen Figuren sein, weil er deren Wissen teilt und darüberhinausgehende Informationen vom Erzähler vorenthalten bekommt. Er kann den Figuren aber auch gegenüberstehen, weil er vom Erzähler mehr oder weniger Wissen mitgeteilt bekommt, als es die Erzählfiguren haben.
Beispiele 1 Sam 17,46–47 (ELB) 46
Heute wird der HERR dich in meine Hand ausliefern, und ich werde dich erschlagen und dir den Kopf abhauen. Und die Leichen des Heeres der Philister werde ich heute noch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren der Erde geben. Und die ganze Erde soll erkennen, dass Israel einen Gott hat. 47Und diese ganze Versammlung soll erkennen, dass der HERR nicht durch Schwert oder Speer errettet. Denn des HERRN ist der Kampf, und er wird euch in unsere Hand geben! In der Erzählung von David und Goliat spricht David diese beiden Sätze zu Goliat. Die Strukturanalyse hat gezeigt, dass dieser Dialog die dritte verbale Auseinandersetzung Davids mit einem Konkurrenten ist; zuvor musste er sich schon gegen seinen älteren Bruder Eliab und gegen Saul durchsetzen. Weiterhin hat die Analyse der Äquivalenzen und Kontraste gezeigt, dass Eliab, Saul und Goliat mit Waffen, Stärke und Größe assoziiert werden, während bei David vor allem seine Beziehung zum Gott Israels und seine Hirtentätigkeit wichtig sind. Außerdem ist bei der semantischen Analyse von „Versammlung“ deutlich geworden, dass der Begriff auch die religiöse Versammlung meinen kann. Fragt man sich nun, wie Leser sich in den Text integrieren können, dann fallen vor allem die zwei Adressaten auf, die David als Ziel der Erkenntnis nennt: Die ganze Erde und diese ganze Versammlung. Hier spricht der Text in bzw. mit Hilfe der Person Davids über die im Text vorkommenden Personen hinaus die Leserschaft an. Mit der ganzen Erde kommt jeder Leser in den Blick, auch wenn er sich nicht mit Israel identifizieren kann. Die ganze Versammlung spricht ebenfalls diese Leser des Textes an; hier dürfen sich vor allem jene gemeint fühlen, die sich mit Israel identifizieren. Welche Haltung sollen diese Leser nun annehmen? Dazu gibt der Text in seiner Personenkonstellation Hinweise. David ist der Protagonist, der sich mehrfach durchsetzt und am Schluss den Sieg davonträgt. Seine Haltung dient als Vorbild, während seine Kontrahenten Eliab, Saul und Goliat deutlich negativ gezeichnet werden. Sie vertrauen nämlich auf „Schwert oder Speer“ (V. 47) und nicht auf den Gott Israels. Denn dieser ist es, der über Sieg und Niederlage entscheidet. Deswegen sollen alle Menschen („die ganze Erde“) anerkennen, dass dieser Gott zu Israel gehört und Israel selbst („diese ganze Versammlung“) soll nicht auf seine eigene Macht bauen.
4. Auswertung Der Text will bei seinen Lesern bewirken, dass sie nicht auf ihre eigene quantifizierbare Macht bauen, sondern auf den qualitativen Unterschied Israels zu den anderen Völkern, nämlich den Gott JHWH.
2 Sam 11,1–12,25 David hat durch eine militärische Anordnung dafür gesorgt, dass Batsebas Mann Urija getötet wird. Er ist damit unmittelbar für den Tod Urijas verantwortlich. Danach machte er Batseba zu seiner Frau, um so den Ehebruch mit ihr zu verschleiern. Aufgrund dieser Ungeheuerlichkeit erzählt der Prophet Natan David ein Gleichnis, um ihm die Tragweite seiner Sünde und deren Anstößigkeit vor Augen zu führen. In diesem Gleichnis begeht ein anonymer Mann ebenfalls eine schlimme Tat. Natan gibt seine Absicht mit dem Gleichnis David vorerst nicht bekannt, sondern wartet dessen Reaktion ab. David reagiert empört auf die schlimme Tat des anonymen Mannes und verurteilt ihn scharf. Natan deutet das Gleichnis daraufhin mit dem Satz: „Du selbst bist der Mann“. Für die Analyse der Pragmatik dieser Bibelstelle ist besonders wichtig, dass man die verschiedenen Wirkabsichten innerhalb des Textes auseinanderhält. Denn Natan hat ganz klar eine Wirkabsicht gegenüber David, er will ihn auf eine Sünde hinweisen. Das ist aber nicht die Wirkabsicht des Textes! Die Leser sind sich der Sünde Davids bewusst (und haben zum größten Teil selbst keine Ehemänner getötet). Ihnen wird vielmehr vor Augen gestellt, wie auch ein idealer König durch Machtmissbrauch scheitern kann und wie wichtig die Prophetie als Gegenstück zum Königtum ist, ja, wie wichtig überhaupt die Kontrolle von Machtausübung durch unabhängige Instanzen ist.
Wissens-Check
1. Warum ist die Pragmatik eines Textes nicht das Gleiche wie die Wirkabsicht seines Autors? 2. Welche Wirkabsichten im Text sind für die Analyse der Pragmatik von Bedeutung? 3. Warum ist der Blick auf den Leser eines Textes so wichtig? 4. Wie findet man heraus, welche Wirkung der Text beim Leser erreichen will?
4. Auswertung Leitfragen Was sagt der Text über die Welt aus (Weltbild)? Was sagt der Text über den Menschen aus (Menschenbild)? Was sagt der Text darüber aus, wie der Sprecher bzw. der Erzähler sich und seine Gemeinschaft sieht (Selbstbild)? Was sagt der Text über Gott aus (Gottesbild)?
109
110
IV.
Inhaltsanalyse
Beschreibung Zum Abschluss der Inhaltsanalyse sind die diversen Analysen zusammenfassend auszuwerten. Die oben genannten Leitfragen nach Welt-, Menschen-, Selbst- und Gottesbild können helfen, die verschiedenen Aspekte noch einmal zu bündeln. Zugleich zwingt diese Frageperspektive zu einer erneuten Abstraktion, also dazu, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf das Ganze zu werfen. Auf diese Weise können leichter grundlegende Aussagen identifiziert werden. Auf der Basis von sorgfältigen Analysen kann dann auch eine textbasierte Aktualisierung für heutige Zusammenhänge entwickelt werden. Die Begriffe Weltbild, Gottesbild, Menschenbild und Selbstbild beziehen sich dabei nicht auf Instanzen innerhalb der Textwelt (etwa: Welche Gottesvorstellung hat David?), sondern stellen begründete Vermutungen und Abstraktionen darüber auf, welche Sichtweisen die Texte auf die Welt, Gott, den Menschen und die eigene Person bzw. die eigene Gruppe vertreten. Der Untersuchungstext wird zum Gesprächspartner, dem man die Frage stellen kann: Wenn du diese und jene Aussage über Gott (die Welt, den Menschen) triffst, wie siehst du Gott (die Welt, den Menschen)? Ähnlich ist es beim Selbstbild: Eher selten gibt ein Text in erster Person das eigene Befinden kund (z.B. bei Klagepsalmen). Häufiger spricht ein Text über Gott, die Welt, Dinge, Sachverhalte und Menschen, verrät damit aber dennoch etwas über die Position des Sprechers zu sich selbst.
Beispiele Ps 1 (Gerechte und Frevler) Die Weltsicht und das Menschenbild von Psalm 1 ist schlicht zweigeteilt: In einer groben Schwarz-Weiß-Abstufung gibt es nur die Alternative zwischen Frevlern, Sündern, Spöttern einerseits und Gerechten andererseits. Solche klaren Ansagen sind typisch für die didaktische Pragmatik derartiger weisheitlicher Texte: Der angesprochene (junge) Mensch soll sich für einen der beiden Wege entscheiden, und zwar für den richtigen (den der Gerechten). Natürlich wussten die Menschen damals ebenso gut wie heute, dass es im wirklichen Leben „Graustufen“ gibt und der Mensch immer zugleich Gerechter und Sünder ist, nie „nur gut“ oder „nur schlecht“. Doch für diese Abstufungen ist in dieser Konzeption kein Platz – der Psalm will nicht ein differenziertes Bild vom Menschen in seiner Umwelt beschreiben, sondern eine klare Richtungsansage für die Lebensgestaltung treffen. Das Welt- und Menschenbild von Psalm 1 ist also bewusst „einseitig“, um pädagogisch und unmissverständlich in die anzustrebende Richtung zu zeigen. Das dahinterstehende Selbstbild des Sprechers ist das einer dauerhaften Entscheidungssituation. Aus einem solchen Text spricht die Überzeugung bzw. Selbsteinschätzung, in einer Welt zu leben, die ständig zu solchen Pro-und-Contra-Entscheidungen herausfordert. Der Sprecher fühlt sich also angefochten vom Lebensstil
4. Auswertung der Frevler und Spötter und sieht den Bedarf, für sich und die Gemeinschaft, in der er lebt, etwas dagegenzusetzen. Im Unterschied zum Menschenbild, das in „Schwarz-Weiß-Manier“ in Gerechte und Frevler aufgeteilt ist, favorisiert der Sprecher für sich und sein Publikum eindeutig die Seite der Gerechten, für die er mit seinem Text letztlich auch wirbt. Verabsolutiert man das aus diesem Text hervorgehende Gottesbild, so wird auch dieses etwas „einseitig“: Gott erscheint hier als klarer „Entscheider“ zwischen Frevlern und Gerechten; vielleicht wünscht sich der Sprecher einen solchen Gott, der klar Stellung bezieht. Auf eine solche Vermutung könnte man aufgrund einer vorausgehenden Sprechaktanalyse kommen: Der im Brustton der Überzeugung vorgetragene Vers 1,6 („Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber vergeht“; ZB) ist auf der Ebene der Satzart eine Feststellung oder Behauptung [assertiv-konstativ]. Dominant steht dahinter der direktive Sprechakt der Warnung vor dem selbstzerstörerischen Verhalten der Frevler [direktiv-negativ]. Zugleich aber könnte subtil und indirekt auch die Kundgabe eines Wunsches enthalten sein, dass es auch so sein möge bzw. Gott dafür sorgen möge ([expressivvolitiv]). Unterstellt man somit den Wunsch, dass Gott sich erst noch als solcher erweisen möge, der die Frevler bestraft, so wird das „schwarz-weiße“ Gottesbild dann doch etwas relativiert: Die Unterscheidung von Frevlern und Gerechten bleibt bei Gott, sie ist dem unmittelbaren menschlichen Zugriff entzogen. Denn nur Gott „kennt“ den Weg. Wie aber Gott entscheidet, bleibt ihm selbst überlassen.
Ps 13 (Klage, Bitte, Lobversprechen) Das Selbstbild der klagenden Person von Psalm 13 ist desaströs: Sie fühlt sich von Gott vergessen, leidet Schmerzen und Kummer, wird von Feinden verfolgt. Über die Welt und den Menschen an sich sagt der Psalm wenig, zu dominant ist die individuelle Notsituation, mit der das sprechende Selbst vor Gott hintritt. Gott wiederum erscheint ambivalent: Zum einen wird er für die katastrophale Situation der betenden Person unmittelbar verantwortlich gemacht („Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir?“), zum anderen verbindet die Person mit eben demselben Gott ihre Hoffnungen auf Rettung. Gott ist also sowohl Ursache für das erfahrene Leid als auch Abhilfe dafür. Dieses ambivalente Gottesbild ergibt sich als abstrahierende Auswertung einer vorausgehenden Analyse der Pragmatik, die oben nicht als Beispiel vorgeführt wurde. Sie sei hier aber kurz angedeutet und nachgetragen: Ein Aspekt der Pragmatik von Ps 13 könnte darin bestehen, sich nicht nur in Freud, sondern auch in Leid dem gleichen Gott anzuvertrauen, indem man sich an ihn wendet, auch im Modus der Klage und Anklage. Ein weiterer Punkt der Pragmatik besteht darin, Sprachmaterial für eine solche Hinwendung zu Gott (Gebetsklage) zur Verfügung zu stellen, wenn einem in Schmerz und Leid normalerweise die Worte fehlen.
1 Sam 17,46–47 (Überlegenheit durch Vertrauen auf Gott) Das Selbstbild des Erzählers, das aus diesem Passus spricht, ist einerseits davon gekennzeichnet, dass man sich grundsätzlich und dauerhaft unterlegen fühlt, und zwar nach menschlichen Maßstäben hoffnungslos. Andererseits vermittelt das
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112
IV.
Inhaltsanalyse tapfere Auftreten Davids die Botschaft, dass der Unterlegene sehr wohl Hoffnung auf Sieg haben kann, wenn er denn auf Gott vertraut. Die vollmundigen Worte Davids muss man in der Analyse kritisch „gegen den Strich“ lesen und sie mit der vorausgehenden Erzählung korrelieren. Wenn eine Geschichte so gestaltet wird, dann ist dieses tapfere Auftreten sehr wahrscheinlich das Ideal, auf das man sich ausrichten möchte bzw. soll, während die Wirklichkeit, in die hinein erzählt wird, vermutlich genau das Gegenteil des Ideals darstellt. Das Gottesbild ist von der Überzeugung gekennzeichnet, dass Gott auf der Seite derer steht, die bedingungslos und ohne Vorbehalte auf ihn vertrauen (David). Zugleich nützen menschliche Waffen und militärische Gewalt dem Menschen nichts, solange sich dieser nicht an diesen Gott zurückbindet. – Gottes- und Weltbild hängen hier insofern zusammen, als diese Verse sich zu dem Bekenntnis aufschwingen, dass es für „die ganze Erde“ von Relevanz ist, dass Israel einen Gott hat, wer dieser Gott ist und wie dieser Gott kämpft. Die Erzählung vertritt insofern einen latenten Universalitätsanspruch.
2 Sam 11–12 (Durch ein Gleichnis zur Einsicht gebracht) Diese Passage ist besonders hinsichtlich ihres Menschen- und Gottesbildes aussagekräftig. Obwohl David als König nach dem Herzen Gottes (1 Sam 13,14) aufgebaut wird, zeigt er gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht ganz erhebliche menschliche Schwächen. Dabei handelt es sich nicht um schnell verzeihliche Kavaliersdelikte, sondern um abgrundtief böses Tun (faktisch Mord zur Verschleierung von Ehebruch). Das Menschenbild dieser Erzählungen ist also abgründig und damit sehr realistisch. Die Reaktion Gottes wiederum zeigt seine Langmut: Vermittelt durch einen Propheten und eine tiefgründige Erzählung in der Erzählung führt er David fast behutsam, aber doch zwingend zur Selbsterkenntnis und zur Umkehr. Hier zeigt sich ein Gott, der dem Menschen die Freiheit gewährt und sein Handeln in Freiheit akzeptiert, ihn dann aber auch sehr wohl zur Verantwortung zieht. Zugleich eröffnet dieser Gott dennoch bei entsprechender Umkehr seitens des Menschen einen Weg zu einem Neuanfang über alle menschlichen Vorstellungsmöglichkeiten hinaus.
In allen diesen Beispielen ist zu beachten, dass die vorgeschlagenen Abstraktionen und Reduktionen auf inhaltliche Kernaussagen sowie die vorsichtigen Systematisierungen im Gottes-, Welt- und Menschenbild nicht von außen (von irgendwelchen Vorgaben her) den Texten übergestülpt werden. Vielmehr werden sie durch die methodengeleitete inhaltliche Analyse aus den Texten selbst heraus entwickelt und können damit auch an den Texten, ihren Strukturen und Inhalten, plausibilisiert werden. Zugleich zeigt sich hier, wie die Schritte der Inhaltsanalyse aufeinander aufbauen und ineinandergreifen.
V. Texttypik Überblick
D
ie bisherigen Analysen bezogen sich allein auf das, was den Untersuchungstext für sich ausmacht, d.h. auf die Textindividualität. Die nun folgenden Methodenschritte nehmen den Text im Kontext seines sprachlichen Umfeldes (biblische und außerbiblische Texte) wahr. Sie suchen nach dem, was am Untersuchungstext typisch ist, also nach Merkmalen, die der Untersuchungstext mit seinem Umfeld gemeinsam hat. Dabei finden die Methoden, die den individuellen
Text untersucht haben, ihr jeweiliges Gegenstück in der Texttypik: Das können gemeinsame Strukturen (fi Typik des sprachlichen Ausdrucks, S. 113ff.; fi Gattungskritik, S. 118ff.) oder gemeinsame Inhalte (fi Traditionskritik, S. 122ff.; fi Überlieferungskritik, S. 130ff.) sein. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse kann dann auch der synthetische Gegenschritt zur Literarkritik, die fi Redaktionskritik, S. 133ff., folgen.
1. Typik des sprachlichen Ausdrucks Leitfragen Verwendet der Text geprägte Sprachphänomene (geprägte Wendungen, Formeln)? Verwendet der Text diese Wendungen in typischer oder atypischer Weise? Welchen Einfluss haben die verwendeten typischen Elemente auf die Leserlenkung?
Beschreibung Die folgenden Analyseschritte untersuchen mit Hilfe von Textvergleichen, welche Elemente im Text auf geprägte Sprache zurückgehen und was dies für die Interpretation bedeutet. Stichwort
Geprägte Sprache Sprache ist in hohem Maße konventionell: Sie funktioniert im Grunde nur, wenn es eine grundlegende Gemeinsamkeit bzw. konventionelle Übereinkunft zwischen Sprecher und Adressat gibt, wenn also – bei einem schriftlichenText – Autor und Leser (als am Kommunikationsgeschehen beteiligte Rollen) unter der gleichen Anordnung von Zeichen auch in etwa die gleiche Bedeutung verstehen. Das gilt zum einen
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Texttypik auf der Ebene des „Lexikons“, also der verwendeten Wörter, das gilt zum anderen und noch viel mehr auf der Ebene von darüberhinausgehenden Sprachphänomenen: für bestimmte Wendungen als phrasen- oder satzhafte Abfolge von Wörtern und für bestimmte Strukturen. Wenn Sprecher (Autor) und Adressat (Leser) aufgrund des wiederholten Gebrauchs in Standardsituationen unter einer bestimmten Phrase (Wendung) das Gleiche verstehen, spricht man von geprägter Sprache. Ähnlich einer geprägten Münze, deren Aussehen aufgrund der Prägung standardisiert ist und die daraufhin in hoher Anzahl zu immer dem gleichen Zweck eingesetzt werden kann, können solche geprägten Wendungen, Formeln und Schemata sowie geprägte Strukturen (fi Gattungen, S. 118ff.) für die typische Gestaltung eines Textes für Standard-Sprechsituationen in konventioneller Weise verwendet werden.
Aussagen in Texten werden nicht allein über den konkreten Sinngehalt der einzelnen Wörter getroffen, sondern auch über deren Anordnung. Diesen Aspekt hat die Strukturanalyse für den Einzeltext (Textindividualität) bereits untersucht. Von dort aus soll nun einen Schritt weitergegangen und analysiert werden, ob die sprachlichen Elemente des einzelnen Textes etwas mit den entsprechenden Elementen in anderen Texten zu tun haben. Stichwort
Typik des sprachlichen Ausdrucks Mit sprachlicher Ausdruck ist hier die Gestaltung des Textes oberhalb der Wortebene, aber noch unterhalb der Ebene des gesamtenTextes gemeint: Sobald mehrere Wörter zu Wendungen zusammengefügt werden, geschieht dies nach den Regeln einer bestimmten Grammatik. So entstehen als sprachlicher Ausdruck gestaltete Phrasen und Sätze. Vergleicht man Texte, insbesondere innerhalb eines Sprach- und Kulturraumes, so wird man viele wiederkehrende Phrasen mit fester Formulierung und Bedeutung finden. Aus dem Fremdsprachenunterricht kennt man das als idioms, mit denen der Muttersprachler von Kindesbeinen an vertraut ist, die aber derjenige, der die Sprache als fremde Sprache lernt, sich erst mühsam aneignen muss.
Textvergleich
Der Vergleich von Texten lässt wiederkehrende Phänomene auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks erkennen, die somit als „geprägt“ gelten dürfen. Mit den jeweils gleichen Phänomenen werden häufig auch gleiche Aussageziele verfolgt. Wenn man nun diese typischen Elemente kennt, fällt es leichter, ein Aussageziel des Textes zu ermitteln. Wendet ein Text solche geprägten Elemente an, verlässt er sich darauf, dass ein Leser mit ähnlichen Kenntnissen diese Konventionen erkennt und daraus die richtigen Schlüsse zum Verstehen zieht. Wenn etwa ein deutscher Text mit „Es war einmal …“ beginnt, setzt dieser bei seinem Leser voraus, dass er ihn als Märchen identifiziert. Damit lenkt er aber auch gleichzeitig das Verstehen des Lesers; er wird den folgenden Teil eher nicht als Tatsachenbericht verstehen. Diese Markierung wird deswegen
1. Typik des sprachlichen Ausdrucks
vom Leser verstanden, weil sie in seiner Sprache bekannt ist und bereits in ähnlich intendierten, ihm vertrauten Texten verwendet wurde. Da sich unser eigener kultureller Horizont aber von dem in den biblischen Texten vorausgesetzten Wissensschatz unterscheidet, gilt es im Folgenden, diese Distanz zu überwinden und das sprachliche Umfeld des Untersuchungstextes in den Blick zu nehmen. Dieser Methodenschritt kommt naturgemäß ohne die Lektüre anderer Texte nicht aus, man macht also einen Textvergleich. Diese Arbeit kann man sich mit guter Bibelkenntnis erleichtern, sie ist aber oft von anderen Exegetinnen und Exegeten schon getan worden. Deswegen ist hier die Lektüre von Sekundärliteratur sehr wichtig. Gleichwohl ist es ratsam, die Vorschläge der Forschung durch eigene Beobachtungen an den Texten (Mehrzahl!) nachzuvollziehen. Die geprägte Sprache auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks lässt sich in Formeln, geprägte Wendungen und geprägte Schemata klassifizieren.
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Formeln, geprägte Wendungen und Schemata
Stichwort 0 Formeln nennt man kurze, festgeprägte Redewendungen, die in literarisch voneinander unabhängigen Texten wiederkehren. 0 Geprägte Wendungen sind kurze, festgeprägte Redewendungen, die in literarisch voneinander abhängigen Texten wiederkehren, also typisch für einen Verfasser, eine literarische Sammlung oder eine Redaktionsschicht sind. 0 Ein geprägtes Schema ist eine Abfolge von zwei oder mehr geprägten Wendungen oder Formeln in mehreren Texten in gleicher Anordnung oder Reihenfolge.
Die Formeln, geprägten Wendungen und Schemata im Untersuchungstext sind zunächst als solche zu identifizieren. Dabei hilft zuallererst die Intuition, also das Gefühl, so etwas schon an anderer Stelle gelesen zu haben. Man kann dann mit der Konkordanz und mit Bibelsoftware einschlägigen Begriffen nachgehen, um weitere Vorkommen dieser Wendung zu finden. Letztlich hilft es, die wichtigsten Formeln zu kennen. In der Regel wird aber auch die Sekundärliteratur auf solche Phänomene hinweisen. Anschließend müssen die Beobachtungen ausgewertet werden. Dazu sind drei Fragerichtungen zu unterscheiden, die später in der fi Traditionskritik, S. 122ff., noch einmal wichtig werden: Traditionelle/typische oder innovative/atypische Verwendung: Treten die Formel, die geprägte Wendung oder das Schema in einem erwarteten Kontext auf oder irritiert ihre Verwendung an unerwarteter Stelle? Handelt es sich um einen Normalfall oder um eine auffällige Verwendung? Relative Chronologie: Lässt sich eine Abhängigkeit feststellen, welcher Text von wo die Formeln, geprägten Wendungen oder das Schema übernimmt oder variiert? Lassen sich Aussagen treffen, welcher Text später oder früher entstanden sein muss und welcher Text auf welchen zurückgreift?
Vorgehensweise, Hilfsmittel
Auswertung
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Texttypik
IntertextualitätW: Welche Text-Text-Bezüge werden über die geprägte Sprache hergestellt? Schaffen geprägte Wendungen und Formeln Querbezüge zu anderen Texten? Welche Texte werden verbunden? Diese Einsichten in die Intertextualität können hier noch nicht ausgewertet werden, sondern finden später bei der Biblischen Auslegung (fi S. 148ff.) ihre Anwendung. Stichwort
Intertextualität Seitdem der Terminus Intertextualität 1967 von Julia Kristeva in die Literaturtheorie eingeführt wurde, hat sich keine Definition dieses Begriffs als allgemein anerkannt durchgesetzt. Gemeinsam ist den verschiedenen Verwendungen in der Regel, dass Beziehungen zwischen Texten gemeint sind, wobei sowohl das Verständnis von Text als auch das von Beziehung sehr stark variieren kann. Der Begriff Intertextualität wird hier verwendet, um das Verhältnis von schriftlichen Texten zueinander zu beschreiben, das über Hinweise an den Leser hergestellt wird. Solche Text-Text-Relationenkann der Leser anhand folgender Elemente feststellen: 0 typische Begriffe (auffällige Gemeinsamkeiten in der Verwendung einschlägiger Wörter) 0 geprägte Sprachphänomene (geprägte Wendungen, Formeln, Schemata) 0 typische Strukturen (fi Gattungskritik, S. 118ff.) 0 geprägte Vorstellungen (fi Typik der geprägten Vorstellungen, S. 122ff.) 0 die Kontextualisierung dieser Texte in einem bestimmten literarischen Korpus (fi Kontexteinbettung und Biblische Auslegung, S. 141ff.).
Beispiele Gen 15,1: Formel In der Prophetie sind drei Formeln sehr häufig zu finden, nämlich die WortereignisformelW „Das Wort des HERRN erging an …“, die Botenspruchformel (auch: BotenformelW) „So spricht der HERR“ und die Gottesspruchformel „Spruch des HERRN“ (jeweils EÜ). Für den Modell-Leser, der diese Sprachkonvention kennt, ist das Auftreten einer solchen Formel der Hinweis darauf, hier einen prophetischen Text zu vermuten. Eine atypische Verwendung einer prophetischen Formel findet sich in Gen 15,1: „Nach diesen Ereignissen erging das Wort des HERRN in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein“ (EÜ). Gen 15 ist kein prophetischer Text und Abram eigentlich auch kein Prophet. Dass die Formel hier verwendet wird, ist für den routinierten Bibelleser überraschend. Der Erzvater Abram bekommt hierdurch prophetische Züge verliehen.
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Psalter: Geprägte Wendung Der Psalter wird durch eine geprägte Wendung in fünf Bücher gegliedert. Diese besteht aus einem Lob Gottes, dem Hinweis, dass dieses Lob ewig gelten soll und einem doppelten Amen. Ps 41,14 (ZB): Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen, Amen. Ps 72,19 (ZB): Und gepriesen sei sein herrlicher Name in Ewigkeit, und die ganze Erde werde voll seiner Herrlichkeit. Amen, Amen. Ps 89,53 (ZB): Gepriesen sei der HERR in Ewigkeit. Amen, Amen. Ps 106,48 (ZB): Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und alles Volk spreche: Amen. Hallelujah. Die letzte Wendung weicht von der typischen Gestalt ab. Sie endet nicht mit einem doppelten Amen, sondern mit einem „Hallelujah“. Damit nimmt sie vorweg, was im Folgenden kommt, denn im fünften Buch des Psalters findet sich „Hallelujah“ auffällig häufiger als im restlichen Psalter.
Königebücher: Geprägtes Schema Die Königebücher summieren die Tätigkeiten eines Königs in stereotyper Weise: Anfang: Datierung des Regierungsantritts – Angabe des Alters, der Regierungsdauer und des Namens der Mutter – Disqualifikation des Verhaltens – Nennung des kultischen Fehlverhaltens; Ende: Hinweis auf eine Quelle – Todesnotiz – Bestattung(sort) – Nachfolger: 2 Kön 14 (ELB): 1Im zweiten Jahr des Joasch, des Sohnes des Joahas, des Königs von Israel, wurde Amazja König, der Sohn des Joasch, des Königs von Juda. 2Er war 25 Jahre alt, als er König wurde, und er regierte 29 Jahre in Jerusalem; und der Name seiner Mutter war Joaddan, von Jerusalem. 3Und er tat, was recht war in den Augen des H ERRN, nur nicht wie sein Vater David; aber nach allem, was sein Vater Joasch getan hatte, tat auch er. 4Nur die Höhen wichen nicht; das Volk brachte auf den Höhen noch Schlachtopfer und Rauchopfer dar. […] 15Und die übrige Geschichte des Joasch, was er getan hat und seine Machttaten und wie er mit Amazja, dem König von Juda, gekämpft hat, ist das nicht geschrieben im Buch der Geschichte der Könige von Israel? 16 Und Joasch legte sich zu seinen Vätern und wurde in Samaria begraben bei den Königen von Israel. Und sein Sohn Jerobeam wurde an seiner Stelle König. Das gleiche Schema findet sich mit anderen Namen etwa auch in 2 Kön 15,1–4.6–7 oder 15,32–38. Dieses Schema betrifft die Könige des Südreiches Juda. Bei den Königen des Nordreiches begegnet es auch, allerdings fehlen das Alter bei der Thronbesteigung, der Name der Mutter und in der Regel der Bestattungsort (vgl. z.B. 2 Kön 15,8–9.11–12). Dass das Schema bei den Südreichköni-
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Texttypik
gen mehr Details liefert, verdeutlicht den Standpunkt und das Interesse des Textes: Er nimmt eine Südreichperspektive ein.
2. Gattungskritik Leitfragen Verwendet der Text geprägte Strukturen, sodass man von einem Textbildungsmuster oder einer Textsorte sprechen könnte? Verwendet der Text diese Strukturen in typischer oder atypischer Weise? Welchen Einfluss hat die verwendete typische Struktur auf die Leserlenkung?
Beschreibung Geprägte Strukturen: Gattungen
Wenn man die geprägten Sprachphänomene nach der Satzebene auf Textebene untersucht, vergleicht man die Struktur des Untersuchungstextes, die man in der Strukturanalyse erhoben und in der Inhaltsanalyse präzisiert hat, mit den Strukturen und den damit eng verbundenen Inhalten und Themen anderer Texte. Stellt man beim Vergleichen fest, dass mehrere Texte eine sehr ähnliche Strukturierung aufweisen, ist anzunehmen, dass diese zu einer gemeinsamen Gattung gehören. Stichwort
Gattung, Textbildungsmuster, Textsorte Diese drei Begriffe können mehr oder weniger synonym verwendet werden. Gattung ist eine „Gesamtheit von Dingen, Einzelwesen, Formen, die in wesentlichen Eigenschaften übereinstimmen“ (DUDEN). Der Begriff wird u.a. in der Biologie und der Literaturwissenschaft verwendet. In der wissenschaftlichen Bibelexegese ist er sehr verbreitet. Textbildungsmuster und Textsorte sind neutralere Begriffe aus der Linguistik. Man könnte sich Textsorte in Analogie zur Obstsorte als abstrakten Oberbegriff zur Markierung von gemeinsamen Strukturen ableiten, während Textbildungsmuster eher den Entstehungsprozess beschreibt: Wer einen Text verfasst, folgt bewusst oder unbewusst meist einem bestimmten Muster.
Gattungen sind Konstrukte
Gattungen sind ein Konstrukt der Forschung zur Beschreibung von strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Texten. Aus diesen vorfindlichen Gemeinsamkeiten schließt man in einem Vorgang der Abstraktion auf ein gemeinsames Textbildungsmuster. Daher unterliegt die Beschreibung der Gattungen auch gewissen Trends und Weiterentwicklungen in der Forschung. Bereits die Zuweisung eines Textes zu einer Gattung ist ein Interpretationsvorgang, den man auch kritisieren kann. In diesem Zusammenhang ist auch da-
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rauf hinzuweisen, dass Texte nicht selbst Gattungen sind, sondern Exemplare oder Ausprägungen von Gattungen. Wenn individuell geformte Texte charakteristische Gemeinsamkeiten aufweisen, gehen sie mutmaßlich auf ein gemeinsames Textbildungsmuster, eben eine Gattung zurück. Die Texte sind aber auch frei darin, partiell von der rekonstruierten Gattung abzuweichen und eigene Akzente zu setzen. Ihren Ursprung hat die Gattungsforschung bei den Psalmen genommen, dort findet sie auch bis heute ihr größtes Anwendungsgebiet. Die wichtigsten Psalmengattungen sind der Hymnus, das Klagelied des Einzelnen, das Klagelied des Volkes und das Danklied des Einzelnen. Stichwort
Gattungsforschung: Hermann Gunkel Der Ahnvater der bibelwissenschaftlichen Gattungsforschung ist Hermann Gunkel (1862–1932). Im Zuge seiner Arbeiten zum Buch Genesis, den Psalmen und den Propheten kam er zu der Erkenntnis, dass in den biblischen Texten weniger die Schriftstellerpersonen greifbar sind als vielmehr das Typische der Texte, also ihre schriftstellerische Gattung. Wie die Grammatik waren den Verfassern die Konventionen der literarischen Formensprache geläufig. Sie wussten genau, wie sie einen bestimmten Text (etwa eine Totenklage oder ein Danklied) in einer bestimmten Situation (beim Tod eines Menschen oder bei einer Rettung aus gefährlicher Krankheit) zu verfassen hatten. Daraus schloss Gunkel wiederum auf den soziokulturellen Kontext der jeweiligen Gattungen, den sogenannten Sitz im Leben (s.u.). Bis heute sind Gunkels Kriterien für die Definition einer Gattung konstitutiv: 1. ein gemeinsamer (kultischer) Anlass (Gelegenheit im Gottesdienst); 2. ein gemeinsamer Schatz an Gedanken und Stimmungen (bedingt durch den übereinstimmenden Sitz im Leben); 3. eine gemeinsame Formensprache (vgl. Gunkel, Hermann: Einleitung in die Psalmen, Göttingen 1933, 4. Auflage 1985, 22–23). Gunkels Arbeit wurde von Zeitgenossen und Schülern weitergeführt. Seither ist die Methodologie verfeinert und die Terminologie differenziert worden.
Mit der Gattungskritik der Psalmen verbindet sich folgende Annahme: Hinter einer bestimmten Gattung der Psalmen steht jeweils ein bestimmter Anlass (im Alltagsleben bzw. im Gottesdienst), für den sie sich entwickelt hat bzw. geprägt wurde. So könnte man vermuten, dass Bußpsalmen in Bußliturgien oder Klagelieder des Volkes in Notsituationen des Volkes Israel verwendet wurden. Diesen Anlass für die Ausprägung einer Gattung, also ihren soziokulturellen Hintergrund, nennt man in der Exegese Sitz im Leben. Die Idee dahinter ist, dass die biblischen Autoren für wiederkehrende Situationen im Leben eine Art kultureller Grammatik hatten, mit deren Hilfe sie ihre Texte formulierten. Das lässt sich durchaus mit modernen Phänomenen vergleichen: Eine Trauerrede hat ihren Sitz im Leben bei einer Beerdigung, ein Liebesbrief in der Beziehung zweier Menschen – es wäre jeweils sehr irritierend, einen der beiden
Sitz im Leben
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V. Vorgehensweise
Auswertung
Texttypik
Texte im jeweils anderen Kontext zu verwenden. Solche Verfremdungen passieren aber durchaus. Das wird bei der Auswertung zu berücksichtigen sein. Bei der Gattungskritik vergleicht man die Struktur des eigenen Textes mit der Struktur anderer Texte. Um auf potentiell verwandte Texte zu kommen, hilft ein Blick in die Sekundärliteratur. In Kommentaren wird in der Regel thematisiert, zu welcher Gattung ein Text gehört. Man kann auch anhand von einer „Einleitung in das Alte Testament“ oder von Bibellexika, insbesondere WiBiLex, prüfen, ob die dortigen Gattungsbeschreibungen auf den eigenen Text passen. In den letztgenannten Werken wird man dann auch Beispieltexte für diese Gattungen finden, die man zum Textvergleich heranziehen kann. Man übernimmt die Gattungszuweisung nicht einfach nur aus der Sekundärliteratur, sondern belegt sie durch einen eigenen Textvergleich mit den als mutmaßlich verwandt identifizierten Texten. Dazu stellt man die Ergebnisse der Strukturanalyse in einer Synopse den in den verwandten Texten entdeckten Strukturen gegenüber. Man muss also – wenigstens ansatzweise – auch bei den zu vergleichenden Texten eine Strukturanalyse durchführen. Sinnvoll ist ferner ein Blick auf die Abfolge der dominanten Sprechakte (Sprechhandlungsverlauf), insbesondere bei Psalmen. Die beobachteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Untersuchungstext werden dann gebündelt und ausgewertet. Der Textvergleich selbst muss nicht in die exegetische Ausarbeitung aufgenommen werden, es genügt, die als wichtig erkannten Ergebnisse, also besonders auffällige Gemeinsamkeiten und darauf wiederum bezogene auffällige Unterschiede, herauszuarbeiten. Für die Auswertung sind jene Fragen zu stellen, die schon bei der geprägten Sprache auf der Ebene von Wendungen, Formeln und Schemata wichtig waren: Wird die Gattung traditionell/typisch oder innovativ/atypisch eingesetzt? In letzterem Fall wird die Lesererwartung gestört, was wiederum für die Aussageabsicht des Textes wichtig ist. Zudem können Gattungen an entscheidenden Stellen variiert oder mit anderen Gattungen gemischt werden. Auch die beiden anderen Fragen nach relativer Chronologie und Intertextualität (fi S. 116) können hier wieder gestellt und erste dahingehende Beobachtungen für spätere Methodenschritte notiert werden. Nach der Auswertung unter diesen drei Frageaspekten kann man Vermutungen über einen möglichen Sitz im Leben anstellen. Schlussendlich ist zurückzufragen, was die festgestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf der Ebene der Strukturen zur Auslegung des eigenen Textes beitragen.
Hilfsmittel Eine Übersicht über Gattungen im Alten Testament findet sich in WiBiLex im Überblicksartikel „Gattungen / Textsorten (AT)“, von dem aus zu Einzelartikeln verlinkt wird.
2. Gattungskritik
Beispiel Ps 117 (EÜ) 1 a aV b bV 2 a b c
Lobt den HERRN, alle Völker, rühmt ihn, alle Nationen! Denn mächtig waltet über uns seine Huld, die Treue des HERRN währt in Ewigkeit. Halleluja!
Psalm 117 gehört zur Gattung der Hymnen (vgl. Müller, Reinhard: Art. Psalmen, in: WiBiLex, Mai 2013). Das bestätigt ein exemplarischer Vergleich mit weiteren Texten dieser Gattung, die im Lexikonartikel benannt werden (Ps 96; Ps 100; Ps 135). Ps 117 selbst gliedert sich in eine Lobaufforderung (V. 1), eine Begründung des Lobs (V. 2a–b) und eine weitere Lobaufforderung (V. 2c: „Halleluja“ bedeutet „Lobt den HERRN“). Die Sprechaktanalyse hat diese Einteilung bestätigt. Dieser Aufbau findet sich ähnlich in Ps 96 (Ps 96,1–3: Lobaufforderung; Ps 96,4–5: Begründung des Lobs; Ps 96,7–13: Lobaufforderung). Ps 100 weist ebenfalls Lobaufforderung (Ps 100,1–4) und Lobbegründung (Ps 100,5) auf, allerdings gibt es hier keine zweite Lobaufforderung. Auch Ps 135 beginnt mit einer Lobaufforderung (Ps 135,1–3), auf die eine Lobbegründung folgt (Ps 135,4). Am Ende von Ps 135 steht dann wieder eine Lobaufforderung (Ps 135,19–21). Da alle verglichenen Texte mit einem Imperativ beginnen, lassen sie sich der Untergattung imperativischer Hymnus zuordnen. Im direkten Vergleich der vier Texte zeigt sich, dass die groben Strukturen sich ähneln und daher die Annahme einer gemeinsamen Gattung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig sind die konkreten Ausprägungen der Gattung in allen Texten außer Ps 117 deutlich ausführlicher. Die Texte enthalten weitere Gliederungsabschnitte, die anderen Gattungen bzw. Untergattungen zuzuweisen sind. Der Sitz im Leben der Gattung Hymnus bzw. Lobpsalm wird im Vergleich der Texte, die nach diesem Textbildungsmuster strukturiert sind, deutlich: Immer wird eine positive Erfahrung als Begründung für das aktuelle Lob herangezogen. Der Mensch, der diese Texte verwendet, deutet eine solche Erfahrung, die er positiv bewertet, lobend auf Gott hin. Ps 117 ist eine sehr kurze Verwirklichung der Gattung Hymnus und enthält keine Merkmale anderer Gattungen. Er gilt als „Musterbeispiel des imperativischen Hymnus“ (Zenger, Erich: Psalm 117, in: Hossfeld, F.-L.; Zenger, E.: Psalmen 101–150 [HThKAT], Freiburg i.Br. 2008, 304). Da sich der Psalm nicht auf eine bestimmte positive Erfahrung festlegt, mit der das Lob begründet wird, ist er offen für alle möglichen Situationen, in denen Menschen ihr Lob ausdrücken wollen. Er wirkt in seiner Kürze wie ein Formular, das je nach Situation individuell angepasst werden kann.
Für spätere Methodenschritte sind erste Beobachtungen zu notieren. Hinsichtlich der relativen Chronologie könnte man vermuten, dass Ps 117 jünger ist als andere Hymnen, denn er reduziert die Formensprache der Texte mit dem gleichen Sitz im Leben auf das unbedingt Nötige (fi Redaktionskritik S. 133). – Da die strukturell verwandten Texte als Vertreter der Untergattung „imperativischer Hymnus“ gemeinsame „Gedanken und Stimmungen“ (nach
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V.
Texttypik
H. Gunkel, s.o.) aufweisen, ist zu überprüfen, ob diese auf „geprägte Vorstellungen“ (fi Motive und Traditionen, S. 123f.) zurückgehen. – Weil durch die gleiche Gattung auch eine intertextuelle Verbindung zwischen den Texten entsteht, sind sie bei der Biblischen Auslegung (fi S. 148) daraufhin zu befragen, welches literarische und theologische Gesamtbild sich aus der Zusammenschau dieser Hymnen ergibt.
3. Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik) Leitfragen Welche typischen, geprägten Vorstellungen teilt der Untersuchungstext mit anderen Texten innerhalb und außerhalb der Bibel? Kann man die Gemeinsamkeiten am gleichen oder ähnlichen Wortlaut festmachen oder wird der gleiche Gedanke (die geprägte Vorstellung) jeweils mit anderen Begriffen ausgedrückt? Taucht die geprägte Vorstellung in verwandten oder gar literarisch voneinander abhängigen Texten auf? Ist eine bestimmte theologische Botschaft erkennbar? Welche literarische Funktion innerhalb des Textes nimmt die geprägte Vorstellung wahr? Wird die geprägte Vorstellung in konventioneller Weise eingesetzt, um an Bekanntes anzuknüpfen, oder „gegen den Strich“, um zu provozieren?
Beschreibung Geprägte Vorstellungen
Während bei der Untersuchung der Typik des sprachlichen Ausdrucks und der Gattungen geprägte Strukturen im Vordergrund standen, untersucht der Methodenschritt der Traditionskritik geprägte Vorstellungen. Geprägte Vorstellungen kennt man z.B. aus der Fernsehwerbung (vgl. T. Meurer, Einführung, 88), die gezielt damit arbeitet: In der Automobilwerbung fahren meist blitzsaubere Limousinen durch bizarre und atemberaubende Landschaften – diese Vorstellung ist geprägt. Völlig ungewöhnlich wären ein Werbespot, der ein spritschluckendes SUV beim Tanken zeigt, oder die schmutzigen Finger, die man beim Prüfen des Reifenluftdrucks bekommt. Ebenso ist der Frühstückstisch immer schon gedeckt, um einladend Werbung für Marmelade, Margarine oder sonst einen Brotaufstrich zu machen. Die Produkte können wechseln, die Motive (eine Form der geprägten Vorstellungen) gleichen sich. Noch mehr als bei geprägten Strukturen bedarf es bei der Dechiffrierung von geprägten Vorstellungen eines bestimmten kulturellen Wissens. An dieses vorausgesetzte Wissen (auch: „kulturelle Enzyklopädie“ nach U. Eco) knüpfen die geprägten Vorstellungen an. Je weiter der Untersuchungstext von der Kul-
3. Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik)
tur seiner Leserinnen und Leser entfernt ist, umso schwieriger wird es, die im Text vorausgesetzten Vorstellungen zu identifizieren, zu beschreiben und zu deuten. Im Falle biblischer Texte helfen die Lektüre und der Vergleich mehrerer ähnlicher Passagen der Bibel sowie das Heranziehen außerbiblischer Literatur aus dem kulturellen Umfeld. Die Analyse der Typik der geprägten Vorstellungen untersucht nicht den Traditionsvorgang (traditio), sondern den überlieferten, geprägten Inhalt selbst (traditum). Man unterscheidet bei der Beschreibung von geprägten Vorstellungen zwei verschiedene Arten: Motive und Traditionen. Stichwort
Motiv Ein Motiv ist eine kleinräumige geprägte Vorstellung, die nicht mit einer spezifischen theologischen Botschaft verbunden ist. Es ist „ein kleiner, selbständiger und charakteristischer Baustein in einem alttestamentlichen Text, dessen Gehalt durch seine Verwendung in verschiedenen Zusammenhängen jeweils transformiert wird“ (WAM, 10–11). Motive dienen als „Sprachmaterial“ und können wegen ihres Wiedererkennungseffekts und ihrer Konventionalität sehr unterschiedlich eingesetzt werden. Mit diesen Konventionalitäten kann literarisch gespielt werden, d.h. das Motiv kann konventionell oder in provokativer Weise völlig gegen seine ursprüngliche Aussage verwendet werden. Bei der Benutzung der Sekundärliteratur ist zu beachten, dass sie nicht immer trennscharf zwischen „Tradition“ (s.u.) und „Motiv“ unterscheidet. Es gibt drei Gruppen von Motiven (vgl. T. Meurer, Einführung, 89–90): 0 Geprägtes Bild: Damit sind gebräuchliche Metaphern gemeint, die in unabhängigen literarischen Werken immer wieder (mindestens zwei Mal) auftreten. Ein geprägtes Bild ist z.B. die Rede vom Menschen, der wie eine Blume oder wie Gras verwelkt. Ausgedrückt werden damit Hinfälligkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit des Menschen (Ps 90,5–6; Ps 103,15–16; Ijob 14,1–2; Jes 40,7–8; Jak 1,11; 1 Petr 1,24). 0 Geprägtes Thema: Anders als das geprägte Bild, das in sich verständlich ist, bedarf das geprägte Thema einer Einbettung in einen meist narrativen Kontext. Ein Beispiel für ein geprägtes Thema ist die Begegnung am Brunnen zwischen Mann und Frau (Gen 24; Gen 29,1ff.; Ex 2,15ff.; 1 Sam 9,11). 0 Geprägter Zug: Das ist ein Nebenelement in einem größeren geprägten Vorstellungskomplex und dient zur Ausgestaltung eines Themas. Ein solcher Zug ist etwa das Schöpfen von Wasser am Brunnen (Gen 24,11.13.43; Ex 2,19; 1 Sam 9,11; Joh 4,7).
Aus dem Märchenschatz kennt man beispielsweise das Motiv der guten Fee, des freien Wunsches, der Prinzessin in heiratsfähigem Alter usw. Auch die Vorstellung, dass eine Gruppe aus einem Land auszieht und nach ihrer Migration in einem neuen Land eine bessere Heimat findet, ist ein geprägtes Thema. In der Bibel kommt zu diesem Motiv noch der Gedanke dazu, dass JHWH, der Gott Israels, sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit – stellt
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Texttypik
man eine solche gleichbleibende, spezifische theologische Botschaft fest, so nennt man die geprägte Vorstellung Tradition. Stichwort
Tradition Eine Tradition ist eine geprägte Vorstellung, die eine spezifische theologische Botschaft erkennen lässt. Dahinter steht meist das Interesse von Tradentengruppen, die mit der Überlieferung der geprägten Vorstellung bestimmte Ziele verfolgen. Die Tradition ist vom einzelnen Text unabhängig und bereits vor dem konkreten Untersuchungstext entstanden. Ihre Geschichte erschöpft sich auch nicht im vorliegenden Text, sondern sie findet sich auch in anderen, literarisch nicht abhängigen Texten wieder. Die genaue Form und Formulierung der Tradition kann variieren, dennoch kehren bestimmte Leitbegriffe oder Wortfelder sowie charakteristische Formulierungsstrukturen wieder.
Trägerkreise
Rückgriff auf Sekundärliteratur
Traditionen sind komplexe Zusammenhänge, die vermutungsweise bestimmte Rückschlüsse auf Überlieferungsinteressen oder sogar Trägerkreise erlauben. Auch wenn vieles Spekulation bleiben muss, kann man festhalten, dass hinter der Einspielung einer Tradition immer eine bestimmte Absicht, gerade auch in theologischer Hinsicht, steckt. Um all dies herauszufinden, kann man nicht mehr nur allein mit dem Bibeltext oder der einzelnen Bibelausgabe arbeiten. Vielmehr muss man sich in die Sekundärliteratur einlesen. Für den Anfang helfen hier Bibellexika, eine Darstellung der Geschichte und der Religionsgeschichte Israels, eine Zusammenfassung der Theologie des Alten Testaments und andere handbuchartige Übersichten. Ausgehend von der Vermutung, dass im Untersuchungstext eine bestimmte geprägte Vorstellung vorliegen könnte, befragt man die Sekundärliteratur gezielt danach, was die exegetische Forschung bisher über diesen Sachverhalt herausgefunden hat. Stichwort
Beispiele für Traditionen im Alten Testament 0 die Vätertradition aus dem Buch Genesis (die immer wieder begegnende Nennung von Abraham, Isaak und Jakob/Israel sowie Anspielungen auf ihre Geschichten), 0 die ExodustraditionW (Anspielungen auf den Auszug Israels aus Ägypten bzw. Hinweise darauf, dass das Volk von Gott aus Ägypten heraus- bzw. heraufgeführt wurde), 0 die Rede vom Sinai als Chiffre für die Offenbarung der Gebote (ausgehend von der Sinaiperikope Ex 19–Num 10) und für die Erscheinung Gottes, 0 die Landnahmetradition (Josua), 0 die Davidtradition (Samuel- und Königebücher, Chronik, Psalmen), 0 die Rede vom ZionW (Zionstradition, v.a. in den Psalmen, aber auch in der Prophetie)
3. Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik)
Da Traditionen und Motive nicht in festen Formulierungen vorliegen (sonst wären es Formeln), funktioniert die Wiedererkennung im konkreten Text über die inhaltliche Assoziation des Lesers, der die geprägten Vorstellungen erkennen muss. Dabei helfen Signale im Text, etwa bestimmte Stichwörter oder Wortfelder (s.u., Hilfsmittel). Geprägte Vorstellungen, die in biblischen Texten belegt sind, begegnen auch in der außerbiblischen Literatur des Alten Orients und des alten Ägyptens. So müssen beispielsweise bei der Analyse der biblischen Schöpfungstexte die altorientalischen Schöpfungsmythen wie etwa Abschnitte aus Enuma Elisch oder der altägyptische Große Sonnenhymnus des Echnaton als kulturelle Hintergrundtexte mit herangezogen werden. In der Sekundärliteratur, insbesondere den Kommentaren, wird man Hinweise darauf finden, welche Texte aus dem Alten Orient und dem alten Ägypten zur Horizonterweiterung dienen können. Es gibt Quellenausgaben, die die altorientalischen Texte in deutscher oder englischer Übersetzung zugänglich machen (s.u., Hilfsmittel). Wenn es möglich ist, die in einem Text festgestellten geprägten Vorstellungen (Traditionen und Motive) zu den in anderen Texten wiederkehrenden gleichen geprägten Vorstellungen in einen zeitlichen Bezug zu setzen, dann kann man eine relative Chronologie erstellen und eine Traditionsgeschichte rekonstruieren: Man kann fragen, in welchem Text die Tradition oder das Motiv vermutlich zum ersten Mal (oder relativ gesehen früher als in anderen Texten) verwendet wird, und umgekehrt, in welchen Texten die Tradition oder das Motiv bereits als altbekanntes Sprachmaterial auftaucht. So können Anhaltspunkte für die (relative) Datierung von Texten gewonnen werden, die später auf der Ebene der Redaktionskritik fortgeführt wird. Wichtig ist neben der relativen Datierung von einzelnen Textelementen aber auch die Frage nach traditioneller und innovativer Verwendung und deren Verhältnis: In welchem Maß greift der Text auf bekanntes Material zurück, inwieweit bemüht er das Vorwissen seiner Zuhörer- und Leserschaft? Man erhebt dies für den Text insgesamt und stellt so fest, ob der Text weitestgehend in bekannten Bahnen verläuft und mehr oder weniger konventionell formuliert oder ob er mit bekanntem Material neue Ideen kreiert und innovativ wirkt. Diese Frage war auch schon bei der Analyse der Typik des sprachlichen Ausdrucks und der Gattung relevant: Was macht der Text mit dem geprägten Material? Greift er es anknüpfend und bestätigend auf, so dass die Leserschaft verständnisvoll nickt? Oder setzt er die Anspielungen auf das Vorwissen kritisch ein, so dass man genau weiß, wovon die Rede ist, aber aufgeschreckt bis schockiert darüber ist, wie das Bekannte jetzt ausgedrückt und eingesetzt wird? Die Erhebung von geprägten Vorstellungen durch die Traditionskritik und damit die Identifizierung von Traditionen und Motiven wird noch für einen weiteren Analyseschritt wichtig werden: Durch die gemeinsamen ge-
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Alter Orient, Ägypten
Traditionsgeschichte
traditionelle und innovative Verwendung
Intertextualität
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V.
Vorgehensweise
Texttypik
prägten Vorstellungen entstehen Text-Text-Relationen (fi S. 116), also intertextuelle Bezüge zwischen Texten, die dann für die Biblische Auslegung (fi S. 148ff.) ausgewertet werden. Anders als bei der Traditionskritik geht es dort nicht um die Motive und Traditionen an sich, sondern um die durch sie hergestellten Bezüge zwischen Texten und die interpretatorische Auswertung dieser intertextuellen Relationen. Geprägte Vorstellungen können zunächst mit einer guten Vertrautheit mit der Bibel, dann aber vor allem mit Hilfsmitteln (s.u.) gefunden werden. Zum Einstieg geht man den Querverweisen in den gängigen Bibelausgaben nach. Oftmals sind diese Verweise aufgrund gemeinsamer Motive oder Traditionen angebracht worden. Sodann greift man zur Konkordanz und zur Bibelsoftware, um anhand von Stichworten und Stichwortkombinationen zu prüfen, ob diese zu geprägten Vorstellungen gehören. Die in vorausgehenden Methodenschritten erkannten Leitwörter und Wortfelder sind dabei einschlägig. Hilfreich sind auch die Theologischen Wörterbücher zum Alten Testament, Bibellexika (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.) und die „Theologie des Alten Testaments“ von Horst Dietrich Preuß. Speziell für Motive ist das „Wörterbuch Alttestamentlicher Motive“ (WAM) ein gutes und aktuelles Hilfsmittel. Für die altorientalischen und altägyptischen Texte gibt es zahlreiche Quellensammlungen in deutscher und englischer Übersetzung. Nach der Erhebung der geprägten Vorstellungen sind diese unter den drei Fragerichtungen nach Traditionsgeschichte, typischer oder innovativer Verwendung und Intertextualität auszuwerten.
Hilfsmittel Fieger, Michael; Krispenz, Jutta; Lanckau, Jörg (Hg.): Wörterbuch Alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013. (= WAM) Frevel, Christian: Geschichte Israels, Stuttgart 2015. Preuß, Horst Dietrich: Theologie des Alten Testaments (2 Bände), Stuttgart 1992. Tilly, Michael; Zwickel, Wolfgang: Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 2011. Quellensammlungen: Weippert, Manfred: Historisches Textbuch zum Alten Testament. Mit Beiträgen von B.U. Schipper, J.F. Quack und S.J. Wimmer (Grundrisse zum Alten Testament 10), Göttingen 2010. (= HTAT) Kaiser, Otto (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Gütersloh 1982ff. (= TUAT) Janowski, Bernd u.a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments – Neue Folge, Gütersloh: 2004ff. (= TUAT-NF) Beyerlin, Walter (Hg.): Religionsgeschichtliches Textbuch zum AT (Altes Testament Deutsch, Ergänzungsreihe 1), Göttingen 1975. (= RTAT oder RGT) Pritchard, James B. (ed.): Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, 3. Auflage, Princeton 1969. (= ANET)
3. Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik) Pritchard, James B. (ed.): The Ancient Near East in Pictures. Relating to the Old Testament, Princeton 1954. (= ANEP) „Welt und Umwelt der Bibel“ (= WUB), eine Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks Stuttgart. Speziell zu den durch die Archäologie erhobenen Befunden der Ikonographie (Bilder im weitesten Sinne: Figurinen, Siegelabdrücke, Ritzzeichnungen, Reliefs u.v.m.) ist die folgende mehrbändige Reihe empfehlenswert: Schroer, Silvia; Keel, Othmar (Hg.): Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern, Freiburg, Schweiz 2005ff. (= IPIAO)
Beispiele Ex 3,1 (Das Motiv des Gottesberges) In Ex 3,1 spielt als Ortsangabe der Begriff „Gottesberg“ eine bedeutsame Rolle. Aus dem Wörterbuch alttestamentlicher Motive wird ersichtlich, dass der Gottesberg als Ort der Begegnung und der Theophanie ein geprägtes Thema ist (vgl. Hieke, Thomas: Art. Berg, in: WAM 2013, 57). Am Gottesberg begegnet nicht nur Mose Gott und erhält daraufhin den Auftrag und die Befähigung, Israel aus Ägypten herauszuführen. Mose trifft dort auch seinen Bruder Aaron, der ihn wie von Gott angekündigt bei diesem Tun unterstützen wird (Ex 4,14.27). In der Rede Gottes an Mose wird nach Ex 3,12 der Berg der Ort sein, an dem das Volk nach seiner Befreiung aus Ägypten Gott dienen wird. Schon in Ex 18,5 ist davon die Rede, dass Mose (wohl mit dem Volk) am Gottesberg lagert und dort auf seinen Schwiegervater Jitro trifft. Das Motiv taucht wieder in Ex 19,2 auf. Die Verheißung von Ex 3,12 wird dann endgültig eingelöst: Israel lagert dem Berg gegenüber, ist also dort angekommen, wohin Gott es durch Mose führen wollte. Ähnlich wie bei der ersten Begegnung zwischen Mose und Gott treten nun die Elemente der Heiligkeit und des Feuers auch bei der Begegnung zwischen dem Volk und Gott am Gottesberg auf (Ex 19,10–25). Der Ort des Berges (des Gottesberges) wird im weiteren Verlauf der Tora zu dem Ort für die Offenbarung Gottes und seiner Weisung schlechthin. Das geprägte Thema der Offenbarung Gottes am Gottesberg wird in 1 Kön 19 bei der Begegnung zwischen dem Propheten Elija und Gott wieder aufgegriffen. Elija wandert durch die wunderbare Speise gestärkt vierzig Tage und Nächte bis zum „Gottesberg Horeb“ (1 Kön 19,8). Über das Motiv des Gottesberges werden die Texte Ex 3, Ex 19 und 1 Kön 19 miteinander intertextuell verknüpft. Dabei wird das Motiv in Ex 19,2 bestätigend wiederaufgegriffen, während sich in 1 Kön 19 eine innovative Verwendung des Motivs findet. Die intertextuelle Nähe zu Ex 3 und Ex 19 lässt die Erwartung aufkommen, Elija werde Gott so begegnen wie Mose und das Volk Gott begegnet sind. Es treten auch die im Buch Exodus genannten Naturerscheinungen auf, doch wird klargestellt, dass Gott nicht in ihnen ist. Gott begegnet Elija vielmehr in der Stille. Die veränderten Umstände akzentuieren das Motiv in 1 Kön 19 anders. Die Einmaligkeit der Begegnung des Mose mit Gott bleibt unangetastet, aber die Begegnung des Elija mit Gott ist auf der gleichen Ebene anzusetzen: anders, aber nicht weniger.
Für die Biblische Auslegung (fi S. 148ff.) kann hier noch eine Beobachtung festgehalten werden: Liest man Ex 3,1ff. im Licht von 1 Kön 19 (intertextuelle Auswertung), so wird für Ex 3–4 deutlich, dass es nicht so sehr auf die gewaltigen (und gewaltsamen) Zeichen von Feuer und Donnerschall an-
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V.
Texttypik
kommt, sondern auf die Begegnung mit Gott. Seine Anwesenheit kann auch durch Ruhe und Stille angezeigt sein. Zugleich ergibt sich für Ex 3–4 aus 1 Kön 19 (und umgekehrt genauso) die Erwartung, dass nun ein besonderer Auftrag Gottes zur Rettung seines Volkes erfolgen wird. Am 9,7–10 (Exodustradition) In Am 9,7 findet sich die geprägte Vorstellung von der „Heraufführung aus Ägypten“ (Dahmen, Ulrich; Fleischer, Gunther: Das Buch Joel. Das Buch Amos [NSK-AT 23,2], Stuttgart 2001; hier: G. Fleischer, Amos, 263): Seid ihr für mich nicht wie die Kuschiter, ihr Israeliten?, Spruch des HERRN. Habe ich Israel nicht heraufgeführt aus dem Land Ägypten und die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir? (Am 9,7 ZB) Die Konkordanz bestätigt diese Annahme der Sekundärliteratur, es finden sich zahlreiche Formulierungen vom Heraufführen oder Herausführen aus Ägypten (z.B. Ex 20,2; Dtn 6,12; 1 Kön 9,9; Jer 2,6). Dabei gibt es eine erhebliche Variationsbreite hinsichtlich der konkreten Formulierung, z.B. „aus Ägypten“, „aus dem Land Ägypten“, „aus dem Sklavenhaus“; „heraufgeführt“, „herausgeführt“. Diese Verweise auf den Auszug aus Ägypten markieren „[…] die Schilderung in Ex 1–15 als literarisches und theologisches Zentrum des heilsgeschichtlichen Gesamtentwurfes […]“ (Berner, Christoph: Art. Exodustradition, in: WiBiLex, Dezember 2012). Hinter dieser geprägten Vorstellung steht also eine spezifische theologische Botschaft. Der Exodus ist das zentrale Ereignis in der Beziehung von Israel zu JHWH. In dieser Tat Gottes zeigt sich seine besondere Erwählung seines Volkes. Wegen dieser spezifischen Botschaft handelt es sich bei der geprägten Vorstellung um eine Tradition, die in der Exegese Exodustradition genannt wird (zur Exodustradition s. H.D. Preuß, Theologie, Band 1, § 3.1, S. 47–54; H. Utzschneider; S.A. Nitsche, Arbeitsbuch, 253–260; C. Berner, Exodustradition). Die positive, bestätigende Verwendung der Exodustradition ist die erste Stufe in deren Geschichte. In Am 9,7 wird diese spezifische Botschaft allerdings umgekehrt. Neben die Herausführung Israels aus Ägypten stellt der Text ebensolche Herausführungen der Philister und Aramäer aus anderen Ländern – und schreibt diese alle unterschiedslos JHWH zu. Hier liegt eine innovative Verwendung der Tradition vor, denn in Am 9,7 wird „[i]n einer schockierenden Weise […] der Erwählungsglaube der ‚Söhne Israels‘ […] relativiert“ (G. Fleischer, Amos, 264). Die konkrete Verwendung der Exodustradition an dieser Stelle fragt gerade deren spezifische Botschaft an: Ist wirklich nur Israel von JHWH erwählt? Wird das Heilsereignis, das man bisher für zentral hielt, zur Selbstverständlichkeit auch für ferne, feindliche Völker? Die Folge in Am 9,7–10 ist, dass Israel sich wie alle anderen Völker dem Gericht Gottes unterziehen muss. So legt die ungewöhnliche Verwendung der Exodustradition in diesem Abschnitt Widerspruch gegen eine falsch verstandene Sicherheit aufgrund der einmaligen Erwählung ein. Solche Relativierungen der Exodustradition finden sich auch Hos 8,13; 9,3 (C. Berner, Exodustradition). An diesen Stellen wird sogar gedroht, dass Israel nach Ägypten zurückkehren muss, was nicht weniger bedeutet, als dass JHWH seine Erwählung zurücknimmt. Durch die innovative Verwendung der Exodustradition und die Nähe dieser Texte zu Am 9,7 im Kanon – jeweils Teile des Zwölfprophetenbuchs – entsteht eine intertextuelle Verbindung, die in der Biblischen Auslegung (fi
3. Typik der geprägten Vorstellungen (Motiv- und Traditionskritik) S. 148ff.) weiter zu verfolgen ist. Ebenso ist für die Kontexteinbettung der Perikope Am 9,7–10 die Feststellung wichtig, dass in Am 2,10 und 3,1 die Exodustradition jeweils noch einmal konventionell verwendet wird, und zwar im Sinne der Erwählung Israels. Gleichwohl fungiert die Tradition an diesen Stellen nicht mehr als Bestätigung der eigenen Identität, sondern schon in einer neuen Rolle als Begründung des Gerichtshandelns Gottes: Die Erwählung Israels bedingt eine besondere Verantwortung des Volkes, der es aber nicht gerecht geworden ist. Daher wird es zur Rechenschaft gezogen. Insofern ist dieses Vorkommen bereits eine zweite Stufe der Verwendung der Exodustradition. Für die relative Chronologie ist der innovative Gebrauch der Tradition in Am 9,7 ausschlaggebend. Damit diese Verwendung überhaupt eine Wirkung entfalten kann, ist vorauszusetzen, dass der Leser den typischen Gebrauch der Tradition kennt. Erst dann wird die Provokation hinter der Formulierung in Am 9,7 deutlich. Die Verwendung der Tradition in Am 9,7 muss also jünger sein als die konventionelle Verwendung. Historisch ist die Exodustradition frühestens ab 722 v.Chr. anzusetzen, denn in ihr entwickelt Israel eine Identität, die nicht mehr die Monarchie als Vermittlung zwischen JHWH und dem Volk braucht (C. Berner, Exodustradition). Auf dieser ersten Stufe ist der Gedanke der Herausführung aus Ägypten eine bestärkende Bestätigung der Identität Israels. Die relativierende Verwendung der Tradition in Am 2,10 und 3,1 auf der zweiten Stufe der Traditionsgeschichte könnte dann zu einem Zeitpunkt entstanden sein, an dem die Identitätsbildung durch den Exodusgedanken allein nicht mehr funktioniert, weil äußere Umstände sie anfragen. Diese Deutung passt in die Exilszeit (6. Jh. v. Chr.; vgl. G. Fleischer, Amos, 127). Der Erfolg anderer Völker gegenüber Israel wird als Handeln Gottes gedeutet, Israels Misserfolg als Strafgericht Gottes. Zwischen diesen Positionen vermittelt auf einer dritten Stufe die in Am 9,7 innovativ verwendete Exodustradition theologisch, weil sie betont, dass die einstige Erwählung keine Garantie für die Bewahrung vor dem Untergang darstellt (vgl. ebd., 264). Damit ist die Verwendung der Exodustradition in Am 9,7 der nachexilischen Zeit zuzurechnen (vgl. ebd., 129).
Wissens-Check
1. Welche Phänomene untersucht die Traditionskritik im Unterschied zur Typik des sprachlichen Ausdrucks und der Gattungskritik? 2. Was sind Motive und Traditionen und wie unterscheiden sie sich? 3. Was haben sprachliche Äußerungen gemeinsam, sodass man sie als Motiv oder Tradition bezeichnen kann? 4. Wie wertet man diese Beobachtungen aus und für welche folgenden Methoden sind sie noch wichtig?
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V.
Texttypik
4. Überlieferungskritik Leitfragen Gibt es Kohärenzstörungen im Text, die sich nur durch die Annahme einer mündlichen Überlieferung erklären lassen? Welche mündlichen Vorstufen lassen sich im Text erkennen?
Beschreibung Die mündliche Entstehung biblischer Texte
Vorgehensweise
Im Blick auf die Entstehungsverhältnisse biblischer Texte muss man berücksichtigen, dass die Produktion und Überlieferung schriftlicher Texte in den Händen weniger Leute lag. Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten, verwendeten aber dennoch Texte und überlieferten sie in mündlicher Form. Es ist durchaus plausibel, dass Texte im mündlichen Vollzug geprägt, auswendig gelernt und so tradiert wurden – und erst später haben Schreiber sie verschriftlicht. Auf diese Weise konnte es mehrere Varianten des gleichen „Textes“ (einer Erzählung, eines Spruchs, eines Gebets) geben. Ein Schreiber, der diese Überlieferung schriftlich festhalten wollte, hatte mehrere Möglichkeiten: Er konnte die Varianten unabhängig voneinander bewahren, er konnte etwas weglassen oder die Varianten in einen Text zusammenfügen. Das geschah bisweilen nicht reibungslos. Bei der Literarkritik (fi S. 34ff.) haben sich möglicherweise schon Hinweise darauf gefunden, dass im Untersuchungstext mehrere verschiedene Überlieferungen stecken. Kann man diese nicht mehr in Form unterschiedlicher Teiltexte auf literarischer Ebene voneinander trennen, so kommt die Überlieferungskritik ins Spiel. Tritt dieser Fall ein, dann kann man zur Erklärung in spekulativer Weise auf „mögliche vorliterarische Stadien“ (vgl. C. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, 60) zurückgreifen. Die Überlieferungskritik baut also auf vorherige Analyseschritte auf. Es kann sein, dass es sich auf der Ebene der Literarkritik und in den weiteren Analysen als plausibel erwiesen hat, dass der Untersuchungstext von Anfang an als schriftliches Produkt entstanden ist. Dann kann der Methodenschritt „Überlieferungskritik“ beendet werden. Anderenfalls haben die Analysen (Literarkritik, Gattungskritik, Traditionskritik) eventuell Verdachtsmomente aufgedeckt, die die Annahme von mündlichen Vorfassungen nahelegen. Auch die Sekundärliteratur wird auf solche Fälle hinweisen.
4. Überlieferungskritik
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Stichwort
Verdachtsmomente für mündliche Vorstufen 0 Mehrfachüberlieferungen: Ein Text wurde auf unterschiedliche Weise erzählt, mehrere dieser Varianten wurden später verschriftlicht und je für sich überliefert. 0 Ähnliche Überlieferungen in außerbiblischer Literatur: Dies zeigt, dass ähnliche Stoffe in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichen Fassungen zirkulierten und überliefert wurden (fi Hilfsmittel, S. 126f.). 0 Textsorten (Gattungen), die typischerweise mündlich geprägt werden: Ein Sprichwort, ein Gebet oder eine kurze Episode haben ihren Ursprung im mündlichen Vollzug. In dieser Weise werden sie zunächst überliefert. 0 Spannungen und Brüche (Unstimmigkeiten), die nicht auf verschiedene literarische (schriftliche) Teiltexte zurückgeführt werden können.
Kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit mündliche Vorstufen des Textes vermuten und ihr Aussehen in etwa skizzieren, muss man sich auch fragen, wie der Überlieferungszusammenhang aussieht: Welche Kreise haben diese und jene Fassung geprägt, warum wurde dann diese oder jene konkrete Form des Textes aufgeschrieben, welche Interessen könnten dahinterstehen, diese Überlieferungen aufzunehmen – bisweilen unter Inkaufnahme literarischer Schwierigkeiten? Man erzählt also die Überlieferungsgeschichte, die der oder den ersten literarischen Fassung(en) eines Textes vorausgeht. In der exegetischen Arbeit im Rahmen des Studiums kann eine eigenständige Erarbeitung der Überlieferungskritik nur auf Verdacht erfolgen. Die Vermutungen müssen dann unbedingt mit den bisherigen Erkenntnissen in der Forschungsliteratur abgestimmt werden. Die Sekundärliteratur und insbesondere die Kommentare verfolgen bisweilen überlieferungskritische Ansätze und postulieren mündliche Vorstadien, um bestimmte Phänomene zu erklären. Hier kann man übernehmen, was einem selbst plausibel erscheint und was zu den eigenen Beobachtungen passt. Wie vielfach bei der Rezeption von Sekundärliteratur gilt auch hier, dass nur das in die eigene Darstellung übernommen werden soll, was man selbst nachvollziehen kann.
Beispiele Mehrfachüberlieferungen Eine Mehrfachüberlieferung liegt beispielsweise bei den Geschichten vor, in denen einer der Patriarchen seine Frau als seine Schwester ausgibt (die sogenannte „Preisgabe der Ahnfrau“): So kann die Frau dem fremden Herrscher für seinen Harem überlassen werden, ohne dass der Patriarch als Ehemann umgebracht werden müsste. Dieses menschliche Kalkül der Patriarchen gefährdet aber wiederum den göttlichen Plan. Dieser Plot wird zweimal von Abraham und Sara (Gen 12,10–20; 20,1–18) und einmal von Isaak und Rebekka
Überlieferungsgeschichte
Abstimmung mit der Forschungsliteratur
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V.
Texttypik
(Gen 26,1–11) erzählt. Dabei sind die Unterschiede so groß, dass man die Geschichten nicht literarisch voneinander ableiten kann – und doch ist es wohl die gleiche Episode, die je unterschiedlich überliefert wird.
Ähnliche Überlieferungen in außerbiblischer Literatur Zwischen dem Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) und dem Codex Hammurapi, zwischen Psalm 104 und dem Großen Sonnenhymnus des Echnaton sowie zwischen dem Buch der Sprichwörter (Spr 22,17–23,11) und der altägyptischen Weisheitslehre des Amenemope gibt es sehr enge Berührungen, die zum Teil durch mündliche Vermittlung und Überlieferung erklärt werden können. Gattungen, die typischerweise mündlich geprägt werden Einige biblische Sprichwörter sind bis heute mehr mündlich als schriftlich im Sprachgebrauch (z.B. „Unrecht Gut gedeiht nicht“, Spr 10,2). Manche prophetischen Reden sind durchaus als mündliche Performance denkbar. Auch bestimmte Erzählstoffe, die etwa in das Buch Genesis oder in das Richterbuch Eingang gefunden haben, weisen wahrscheinlich eine mündliche Vorgeschichte auf; freilich kommt man hier über Vermutungen nicht hinaus. Spannungen und Brüche, die nicht auf verschiedene literarische (schriftliche) Teiltexte zurückgeführt werden können Im ersten Schöpfungsbericht Gen 1,1–2,3, der literarisch einheitlich ist, begegnet die Unebenheit, dass acht Schöpfungswerke an sechs Tagen erfolgen. Es ist literarkritisch nicht möglich, den Text in eine Fassung mit acht Werken und eine andere Variante mit sechs Tagen aufzutrennen. Ebenso steht neben einer Wortschöpfung („und Gott sprach“) auch eine Tatschöpfung („und Gott machte“), die wiederum nicht literarkritisch zu separieren sind. Vielleicht lagen auf mündlicher Ebene unterschiedliche Vorschläge vor, die der Verfasser von Gen 1,1–2,3 geschickt integriert hat. Wissens-Check
1. Welche Stufe der Textentstehung untersucht die Überlieferungskritik im Unterschied zu den vorherigen Analysen? 2. Welche Verdachtsmomente sind zu beachten?
5. Redaktionskritik
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5. Redaktionskritik Leitfragen Wie verhalten sich die bei der Literarkritik vorläufig abgegrenzten Teiltexte entstehungsgeschichtlich zueinander? Welche Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge sprechen dafür, bestimmte Teiltexte mutmaßlich einer einzigen „Hand“ zuzuweisen? Welche unterschiedlichen Tendenzen deuten darauf hin, dass verschiedene „Hände“ an dem Text und seinen Teiltexten zu verschiedenen Zeiten gearbeitet haben (relative Chronologie)? Warum hat ein Redaktor oder warum haben mehrere Redaktoren Varianten oder Ergänzungen eingespeist? Wer (welche Interessengruppe) könnte das jeweils gewesen sein? Welche Ereignisse der Geschichte Israels werden von den einzelnen Teiltexten reflektiert, so dass es möglich ist, die Teiltexte bzw. Bearbeitungsschichten zu datieren (absolute Chronologie)? Welche Verbindungslinien zwischen dem Text und Ereignissen der Geschichte Israels ermöglichen eine Datierung des Textes?
Beschreibung Am Bibeltext, wie er heute vorliegt, gibt es Spuren, die vermuten lassen, dass mehrere Personen daran gearbeitet haben und dass währenddessen auch viel Zeit vergangen ist. Es finden sich auffällige Spannungen und Brüche, Doppelungen und Wiederholungen, also verschiedene Arten von Kohärenzstörungen. Auch sind Ergänzungs- und Überarbeitungsvorgänge erkennbar, insbesondere dort, wo größere Textbereiche, z.B. eine Prophetenschrift, zusammengestellt wurden. Diese Vorgänge der aktiven Redaktion, also den Weg des Textes von der ersten Verschriftlichung bis zum Abschluss seiner „kanonischen Endgestalt“ (s.u.), betrachtet die Redaktionskritik. Sie ist der synthetische Gegenschritt zur Literarkritik (vgl. T. Meurer, Einführung, 72). Bei der Literarkritik (fi S. 34ff.) wurde der Text auf Kohärenzstörungen hin untersucht. Hier gilt es zu überprüfen, ob diese möglicherweise auf redaktionelle Prozesse zurückzuführen sind. Das heißt aber auch: Wenn in der Literarkritik keine Analyse bzw. Abtrennung von Teiltexten vorgenommen wurde, kann es auch keine Redaktionskritik geben. Die Redaktionskritik versucht, den Weg von den ermittelten Teiltexten bis zur Fixierung des Textes in demjenigen Stadium zu erläutern, ab dem nicht mehr redaktionell an ihm gearbeitet wurde. Dieser Stand wurde oben als „kanonische Endgestalt“ bezeichnet. Ab diesem Stadium ist der Textbestand soweit gefestigt, dass sich nur noch kleinere Veränderungen durch die Überlieferung in Handschriften ergeben (fi Textkritik, Textgeschichte, S. 31ff.).
Spuren der Bearbeitung
Synthetischer Gegenschritt zur Literarkritik
Der Weg zum Text in seiner gefestigten Gestalt
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V.
Texttypik Stichwort
Begrifflichkeiten Auch wenn im Grunde ein Zeitungsredakteur heute sehr ähnlich vorgeht, nennt die Bibelwissenschaft die Personen, die die biblischen Texte zu ihrer Endfassung zusammengestellt haben, RedaktorenW. Der Redaktor hat seinen Text aus ihm vorliegenden Quellen, also schriftlichen Vorfassungen, und den von Vorgängern oder ihm selbst verfassten Ergänzungen, die bisweilen auch „sekundär“ genannt werden, zusammengestellt. Dabei hat er beispielsweise unterschiedliche Fassungen der gleichen Erzählung zu einem neuen Text verbunden oder sie mit einer Überleitungsformulierung hintereinandergestellt. Man kann auch sagen, er hat den Text „komponiert“, daher wird gelegentlich auch der Begriff Kompositionskritik verwendet. Hier meint Komposition aber den Vorgang des Zusammenstellens und damit etwas Anderes als bei der Struktursynthese (fi S. 75ff.). – Immer wieder ist von Verfassern und Redaktoren die Rede. Das bedeutet nicht automatisch, dass die damit gemeinten Personen ausschließlich und immer Männer waren. Gleichwohl ist dies aufgrund der soziokulturellen Gegebenheiten zur Entstehungszeit der Bibel allermeist der Fall. An vielen biblischen Texten zeigt sich auch klar eine männliche Perspektive (male voice). Viel seltener lässt sich mit ähnlicher Sicherheit eine weibliche Perspektive (female voice; Begriffe aus der feministischen Exegese) nachweisen. Kann man nicht sicher sein, ob ein Mann oder eine Frau den Untersuchungstext abgefasst bzw. bearbeitet hat, sollte man vorsichtiger sein und nicht automatisch von männlichen Personen ausgehen.
Vorgehensweise
Tendenzen und Intentionen hinter den redaktionellen Bearbeitungen
Redaktionsgeschichte
In einem ersten Schritt ist bei der Redaktionskritik zu fragen, wie die durch die Literarkritik geschiedenen Teiltexte zusammengestellt, miteinander verbunden und teilweise ausgeglichen wurden und wie die Redaktion eigene Akzente gesetzt hat. Dazu muss man die einzelnen abgegrenzten Textstufen den aus dem Kontext bzw. anderer Literatur bekannten Bearbeitungsstufen zuweisen bzw. im Horizont bekannter literaturgeschichtlicher Entwicklungen der Bibel erklären (vgl. C. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, 61). Man muss auch damit rechnen, dass es mehrere Redaktionen gab und dass durch die Bearbeitungen das inhaltliche und das theologische Profil eines Textes verändert wurden. In einem zweiten Schritt sammelt man Hinweise darauf, ob hinter den Bearbeitungsspuren bestimmte Tendenzen oder Intentionen zu erkennen sind, die auf eine bestimmte Entstehungszeit hindeuten. Man fragt also: Warum wurde diese Ergänzung oder Veränderung vorgenommen? Reagiert der Redaktor damit auf die Verhältnisse seiner eigenen Zeit, die sich gegenüber der Entstehungszeit des ursprünglichen Textes geändert haben? Gibt es wichtige Einschnitte in der Geschichte Israels, auf die diese redaktionellen Veränderungen reagieren? Man kann nun mit der eigenen Kenntnis der Geschichte Israels und mit Hilfe von Sekundärliteratur versuchen, die erkannten Bearbeitungsstufen (Re-
5. Redaktionskritik
daktionen) bestimmten geschichtlichen Epochen zuzuordnen bzw. mit bestimmten geschichtlichen Ereignissen zu verbinden. Verfolgt man so das Textwachstum im Laufe der Zeit, ergibt sich eine Redaktionsgeschichte. Unter Zuhilfenahme von Ereignis- und Sozialgeschichte können dann begründete Aussagen über die mutmaßliche Entstehungszeit eines Textes bzw. gewisser Textstufen getroffen werden. Auch sind die Ergebnisse der Gattungs-, Traditions- und Überlieferungskritik, die sich auf eine relative Chronologie beziehen, hier zu verarbeiten. Nimmt man alle Ergebnisse der redaktionsgeschichtlichen Untersuchung biblischer Texte zusammen, entsteht eine Literaturgeschichte, eine Geschichte der Entstehung der biblischen Literatur. Während man eine zeitliche Ansetzung der redaktionellen Bearbeitungen und des ursprünglichen Textes noch innerhalb einer Analyse eines einzelnen Textes (einer Perikope) versuchen kann (Methodenschritt Redaktionskritik, -geschichte), so muss für eine Literaturgeschichte eine Fülle an Forschungsdaten zusammengetragen werden. Das geht über eine Einzelstudie weit hinaus. Allerdings kann die Lektüre einer literaturgeschichtlichen Gesamtschau in der Sekundärliteratur helfen, eine plausible Vermutung für die geschichtliche Verortung des eigenen Untersuchungstextes aufzustellen. Entweder liest man eine Gesamtdarstellung zur Literaturgeschichte (auch: Literargeschichte) des Alten Testaments (fi Hilfsmittel, S. 138), oder aber man konsultiert eine aktuelle „Einleitung in das Alte Testament“. Zur Entstehungsgeschichte einzelner Bücher äußern sich meist auch die großen Kommentarwerke (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.). Redaktionsgeschichte und Literaturgeschichte hängen mit der Frage zusammen, wann der Untersuchungstext entstanden ist (absolute Chronologie). Diese Frage kann aber auch dann gestellt werden, wenn die Redaktionskritik faktisch entfällt, weil der Text als literarisch einheitlich anzusehen ist. Die Datierung ist jedoch in den meisten Fällen nur schwer festzulegen und wird in der Sekundärliteratur meist vorsichtig und mit Hinweis auf Unsicherheitsfaktoren, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten behandelt. Oft werden nur größere Zeiträume oder Epochen angegeben (z.B. „vorexilisch“, „nachexilisch“, „perserzeitlich“ usw.). Beim Erlernen exegetischer Methoden wird man noch keine eigenständige Datierung vornehmen, sondern sich zunächst kritisch mit den Vorschlägen in der Sekundärliteratur auseinandersetzen. Schon dazu bedarf es der Berücksichtigung vieler Beobachtungen und Erkenntnisse sowie einer guten Kenntnis der Geschichte Israels. Die historischen Zuordnungen von Texten beruhen immer auf einer Reihe von Annahmen, deswegen ist eine allgemein akzeptierte Datierung selten und die Vorschläge sind häufig umstritten.
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Literaturgeschichte
Datierung
136
V.
Texttypik Stichwort
Mögliche Kriterien zur Datierung von Texten 0 direkte Erwähnungen oder Anspielungen auf sicher zu datierende Ereignisse in der Geschichte Israels; 0 eine sprachliche Verwandtschaft mit sicher zu datierenden Texten, wobei zu beachten ist, dass viel später schreibende Autoren den Stil und die Motive älterer Texte nachahmen können (vgl. T. Meurer, Einführung, 75); 0 Erkenntnisse aus den Untersuchungen der Typik des sprachlichen Ausdrucks und der Gattung: der „Sitz im Leben“ als religiös-kulturelle Situation, die Textbildungsmuster prägt und möglicherweise einer bestimmten geschichtlichen Lage zugeordnet werden kann, ferner die Entwicklung von Textsorten (Gattungsgeschichte); 0 Rückschlüsse aus den Sachverhalten, die der Text voraussetzt; 0 Rückschlüsse auf den Adressatenkreis, den ein Text voraussetzt; 0 Erkenntnisse der Traditionskritik: Anhaltspunkte aus der Verwendung geprägter Vorstellungen (Motive und Traditionen); 0 außerbiblische Befunde aus archäologischenW, epigraphischenW und ikonographischenW Untersuchungen.
Eckdaten
Eine auf das Jahr genaue Datierung von Texten wird wahrscheinlich nie möglich sein. Trotzdem lassen sich mitunter Eckdaten nennen, die die Entstehungszeit einkreisen können. Man arbeitet hier mit den Begriffen terminus a quo und terminus ad quem. Stichwort
terminus a quo/terminus post quem Das ist der Zeitpunkt, ab dem frühestens mit der Entstehung des Textes gerechnet werden kann. So ist z.B. das Babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr. der terminus a quo für Ps 137 („an den Flüssen von Babel saßen wir und weinten“). Vor der Exilszeit ist dieser Text nicht zu datieren: Mit der Wendung „an den Flüssen von Babel“ und seiner Trauer darüber, weit weg von Jerusalem zu sein, thematisiert Ps 137 die Lage der nach Babel deportierten Judäer. Doch wann genau im Exil der Text verfasst wurde, oder ob er nicht sogar nach dem Exil in Erinnerung daran gestaltet wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
terminus ad quem Das ist der Zeitpunkt, ab dem sicher davon ausgegangen werden kann, dass der Text vorlag. Wenn man etwa einen sicher zu datierenden Text B hat, der deutlich einen anderen Text A zitiert oder diesen sonst irgendwie voraussetzt, dann ist Text A zwangsläufig früher entstanden, und das Datum des sicher zu datierenden Textes B der terminus ad quem für Text A.
Weiterentwicklungen in der Forschung
Aussagen zur Redaktionskritik und zur Datierung von (Teil-)Texten sind immer kritisch zu begutachten. Hier ist die Forschung ständig im Fluss, vieles
5. Redaktionskritik
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verändert sich im Laufe der Jahre. In jeder neuen Generation werden für selbstverständlich gehaltene Argumente mit Recht hinterfragt. Literarhistorische Modelle und redaktionsgeschichtliche Hypothesen, die noch vor zwanzig oder vierzig Jahren als gesichert und unumstößlich galten, werden mittlerweile als veraltet angesehen. Dies ist insbesondere zu beachten, wenn man Sekundärliteratur heranzieht, die schon mehrere Jahrzehnte alt ist. Neuere Modelle und Vorschläge müssen sich aber auch erst bewähren und durch vielfache Untersuchungen bestätigt oder widerlegt werden. – Sobald man von einzelnen Teiltexten und deren Verwendung spricht, basieren alle Argumente auf den Ergebnissen der Literarkritik, haben sich also schon eine Hypothese weit vom eigentlichen Text entfernt. Stichwort
Neutestamentliche Redaktionskritik Im Bereich der neutestamentlichen Exegese steht die Redaktionskritik auf etwas sichereren Grundlagen. Durch die zwei- und dreifache Überlieferung gleicher Texte bei den Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas lassen sich auf der Basis der Zweiquellentheorie diese Texte in ihren Einzelheiten gut vergleichen. Am Umgang des Matthäus- und Lukasevangeliums mit dem Markusevangelium lassen sich relativ scharfe Profile der Redaktionsprozesse ermitteln, d.h. man kennt die Interessen und sprachlichen Eigenheiten der Evangelisten so gut, dass es möglich wird, die schriftlich nicht mehr erhaltene LogienquelleW Q aus den dem Matthäusund Lukasevangelium gemeinsamen Stoffen, die über Markus hinausgehen, zu rekonstruieren.
Redaktionskritik, Redaktionsgeschichte und Textdatierungen sind nie am Einzeltext allein möglich. Daher ist es unumgänglich, Kommentare und weitere Sekundärliteratur heranzuziehen. Dabei ist das Alter dieser Untersuchungen zu berücksichtigen; man gehe von den neueren Arbeiten aus. Zudem sollte man mehrere Meinungen vergleichen und nur das übernehmen, was einem selbst einleuchtend und am Text nachvollziehbar erscheint. Gelingt es nicht, einen Text genauer redaktionsgeschichtlich einzuordnen oder zu datieren, genügt vorerst in der Regel eine ungefähre Vermutung – oder man schließt sich einer Hypothese an, zieht daraus aber keine weitergehenden Schlussfolgerungen über zeitgeschichtliche Verhältnisse oder die Datierung anderer Texte. Auch sollte man darauf achten, ob eine Datierung in der Sekundärliteratur mit Argumenten abgesichert ist, die nachvollziehbar sind, oder ob lediglich eine selbstsichere Überzeugung vorgetragen wird, die letztlich doch nur eine hypothetische Annahme ist. Lange Zeit wurde es von der Forschung als die eigentliche Aufgabe der Exegese angesehen, die Entstehungsgeschichte eines Textes herauszufinden. Daher sind viele Werke der älteren und manche der neueren Sekundärliteratur
Sekundärliteratur
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V.
Texttypik
fast ausschließlich damit beschäftigt, einzelne Textteile historischen Schichten und Redaktionen zuzuordnen. Die Redaktionskritik und der damit verbundene Versuch, den Text in die gesamte Entstehungsgeschichte der Bibel, aber auch in die Geschichte des Volkes Israel einzuordnen, sind wichtige Teilaspekte der Exegese, aber nicht ihre ausschließliche Fragerichtung. Stichwort
Das Sternchen * als Schreibkonvention In der Sekundärliteratur sieht man bisweilen Bibelstellen, die mit einem Sternchen versehen sind: z.B. Ex *19–34 oder Gen 15* oder auch Gen 20,1–22,19*. Das Sternchen kann dabei vor oder nach der Kapitel- bzw. Versangabe stehen. Es zeigt an, dass nicht alle Verse und Passagen aus dem genannten Bereich gemeint sind, sondern nur eine Auswahl daraus, meist die darin enthaltene älteste Schicht (Grundschicht). Insofern handelt es sich um eine etwas unpräzise Schreibvereinfachung. Im näheren Zusammenhang sollte ersichtlich sein, welche Verse genau dieser ältesten Schicht zugerechnet werden.
Hilfsmittel Eine hilfreiche Einführung in die Geschichte der Entstehung der alttestamentlichen Literatur ist das Werk von Schmid, Konrad: Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008. Stark an der Geschichte der Entstehung der biblischen Bücher interessiert sind auch die Beiträge in Dietrich, Walter; Mathys, Hans-Peter; Römer, Thomas; Smend, Rudolf: Die Entstehung des Alten Testaments (Neuausgabe), Stuttgart 2014.
Beispiel Das folgende Beispiel greift auf die oben vorgestellte Literarkritik zu Ri 14,5–7 zurück (fi S. 43ff.) und orientiert sich dabei am Kommentar von Groß, Walter: Richter (HThKAT), Freiburg i.Br. 2009, 657–660; 685–701. Ri 14,5–7 In der Literarkritik konnten vier Teiltexte in Ri 14,5–7 identifiziert werden: (1) die „Grundschicht“ (14,5a* [„Und Simson ging hinab nach Timna“].7bc); (2) die Löwenepisode (14,5cd.6bcd), (3) die Notizen über die Eltern (14,5a [„mit seinem Vater und seiner Mutter“].b.6e) und (4) die Rede vom Geist des HERRN (14,6a). Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, jeden dieser Teiltexte einer anderen Redaktionsstufe zuzuschreiben. Wie W. Groß in seinem Kommentar jedoch andeutet, bewährt sich diese Aufteilung auf verschiedene „Hände“, die Bearbeitungen durchgeführt haben, im Blick auf die Gesamtanlage der Simson-Geschichte nicht. So ist
5. Redaktionskritik die Löwenepisode eng mit der weiteren Geschichte (Ri 14,8–9) und insbesondere mit dem Rätsel Simsons bei der Hochzeitsfeier und dessen Lösung (Ri 14,12–18) verbunden. Literarisch lässt sich dieser Zusammenhang nicht aus der ursprünglichen Geschichte herauslösen. Es mag sein, dass Löwenepisode und Rätselsprüche im Zuge mündlicher Vorstufen dazugekommen sind, doch diese überlieferungsgeschichtlichen Überlegungen (fi Überlieferungsgeschichte, S. 131ff.) kommen über das Stadium bloßer Vermutungen nicht hinaus. Die Elternnotizen (3) und die Rede vom Geist des HERRN (4) erweisen sich dagegen auch im Blick auf die Simson-Geschichte insgesamt als eine Bearbeitung. Die Kapitel Ri 14–15* in ihrer älteren Fassung ohne diese Bearbeitung können als älterer „Erzählkranz“ einer Heldengeschichte als literarisch eigenständig gelten. Ri 14–15* kommt also auch ohne eine Bezugnahme auf „den HERRN“ (JHWH) aus. Die Simson-Gestalt wird dann aber durch eine spätere redaktionelle Bearbeitung theologisch ausgeweitet, zunächst am Anfang und am Ende seines Lebens, dann wird auch der ältere Kern entsprechend aufgefüllt. In Ri 16 wird eine vorher vielleicht mündlich überlieferte Geschichte (Simson und Delila) aufgegriffen und so umgeformt, dass am Ende Simson als Retter Israels vor den Philistern auftritt und in enger Beziehung zu JHWH steht (Ri 16,28–31). Es ist plausibel anzunehmen, dass derjenige, der dieses Ende Simsons gestaltet hat, auch für dessen Kindheitsgeschichte in Ri 13 verantwortlich ist: Dort wird Simson als von JHWH besonders erwähltes Kind, als „Gottgeweihter“ eingeführt. Dabei spielen Simsons Eltern eine wichtige Rolle, so dass die sogenannte „Elternbearbeitung“ in Ri 14 auch auf den Gestalter von Ri 13 und 16 zurückgeht: Dazu gehören u.a. Ri 14,1–3.4 sowie die oben literarkritisch ausgesonderten Verse Ri 14,5a* [„mit seinem Vater und seiner Mutter“].b.6e (Teiltext 3). Da vor allem in Ri 14,1–3.4 die von Simson angestrebte „Mischehe“ mit einer Philisterin von seinen Eltern kritisiert wird, das Thema „Mischehen mit ausländischen Frauen“ aber erst nach dem Exil (6.–4. Jh. v. Chr., s. v.a. Esra 9–10) virulent wird, vermutet W. Groß (S. 659), dass diese Bearbeitungsstufe in die nachexilische Zeit zu datieren ist. Die Erwähnung des Geistes des HERRN (14,6a), der offenbar Simson seine übernatürlichen Kräfte verleiht (Teiltext 4), muss nicht einer eigenen Redaktionsschicht zugewiesen werden, sondern passt gut zum theologischen SimsonBild von Ri 13 und 16,28–31. Die vier durch die Literarkritik von Ri 14,5–7 gewonnenen Teiltexte lassen sich somit durch den Methodenschritt der Redaktionskritik zwei zeitlich zu unterscheidenden Entstehungsstufen zuweisen: einer Grundschicht, die den älteren Kern [(1) + (2)] bildet, sowie einer Bearbeitungsschicht, die als theologisierende „Elternbearbeitung“ [(3) + (4)] aus nachexilischer Zeit beschrieben werden kann. Man könnte weiter danach fragen, ob die Geschichte in der Fassung mit der bereits theologisch aufgeladenen Simson-Gestalt (Ri 13–16) literarisch für sich existierte und dann ins Richterbuch übernommen wurde. Das wäre denkbar und wird auch von Exegeten vertreten. W. Groß weist aber darauf hin, dass zwischen Ri 13 und Ri 6 (Gideon) Parallelen bestehen, so dass es seiner Meinung nach (S. 659) wahrscheinlicher sei, dass ein und derselbe Redaktor eine ältere Erzählung über einen Helden Simson (Ri 14–15*) aufgegriffen hat, diese theologisch durch eine Kindheits- und eine Todeserzählung (Ri 13+16) sowie weitere Bearbeitungen von Ri 14–15 aufgewertet hat und mit dieser Neugestaltung in Anlehnung an Ri 6 (Gideon) die „Regentenerzählungen“ im Richterbuch abschließen wollte. Demnach sei also die theologische Bearbeitung der Simson-Figur bereits ausdrücklich für ihren jetzigen Ort im Richterbuch erfolgt.
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140
V.
Texttypik Wissens-Check
1. Wie verhalten sich Literarkritik und Redaktionskritik zueinander? 2. Was beschreibt die Redaktionskritik und wie geht sie vor? 3. Welche Kriterien gibt es zur Datierung von Texten? Wie kann man Eckdaten fixieren? Was sind terminus a quo und terminus ad quem, und wie lassen sie sich bestimmen? 4. Welche Informationen außerhalb des vorliegenden Untersuchungstextes benötigt man für die Redaktionskritik?
VI. Kontexteinbettung und Biblische Auslegung Überblick
D
ie in der Bibelwissenschaft untersuchten Texte, die Perikopen (fi S. 36), sind schon sehr früh in einem größeren Zusammenhang mit anderen Texten überliefert worden. Der heutigen Leserschaft werden sie in gedruckten Bibelausgaben präsentiert, die damit den gesamten biblischen Kontext mitliefern. In diesen Kontext gilt es nun, den zunächst herausgelösten und auf seine individuellen und typischen Merkmale untersuchten Text wieder einzubetten. Dabei geht es grundsätzlich darum, wie sich der Untersuchungstext im Lichte anderer Texte lesen lässt, wie also die Leserlenkung durch den Kontext beeinflusst wird und sich die Interpretation durch Einbeziehung des Kontextes verändert. Arbeitstechnisch lässt sich die Analyse in zwei Schritten angehen: (1) Zunächst wird der unmittelbare engere und weitere Kontext des Untersuchungstextes in
den Blick genommen (Kontexteinbettung). (2) Dann wird im Sinne einer Biblischen Auslegung nach der intertextuellen Vernetzung des Untersuchungstextes im Gesamtkontext der zugrunde gelegten Bibel gefragt – je nach Kanonausprägung kann man hier engere und weitere Kreise ziehen: Hebräische Bibel (TaNaK), Christliche Bibel (mit und ohne deuterokanonische bzw. apokryphe Schriften; mit und ohne Blick auf das Neue Testament). An dieser Stelle bietet es sich auch an, den Blick auf weitere Kontextualisierungen zu weiten und zu untersuchen, wie der biblisch überlieferte Text rezipiert wird: in der Auslegung im Frühjudentum und Frühchristentum, in der Synagoge und in der Kirche in ihren Epochen, in Kunst und Kultur von der Antike bis zur Postmoderne.
1. Kontexteinbettung Leitfragen In welchem literarischen Kontext steht der Text? Wie beeinflusst der unmittelbare und weitere Kontext das Verstehen des Einzeltextes? Welche Funktion hat der Text für den unmittelbaren engeren und weiteren Kontext, also für das „größere Ganze“, dem er entnommen ist (für den Erzählabschnitt, den Buchteil, das Buch)?
Beschreibung Am Anfang der methodischen Untersuchung eines Bibeltextes steht dessen Abgrenzung (fi S. 34ff.), also dessen Herausschneiden aus seinem Kon-
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VI. Rückblick: Abgrenzung Notwendigkeit des Kontextes
Die Bibel als literarische Einheit
Vorgehensweise
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
text. Dabei geht es nur um die Frage, ob der Anfang und das Ende des Untersuchungstextes verantwortet gewählt worden sind, so dass das Stück einigermaßen in sich verständlich ist und nichts Wesentliches fehlt. Die Abgrenzung ist nicht zuletzt auch deswegen ein neuralgischer Vorgang, weil Bibeltexte in einem größeren Kontext überliefert werden, der für das Verständnis des einzelnen Textes von großer Wichtigkeit ist. Aus dem Alltagsleben weiß man, dass eine Aussage bisweilen sehr verfremdet oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt wird, wenn sie aus dem Kontext gerissen wird. Trotz der schon aus praktischen Gründen notwendigen Abgrenzung der Perikope ist es daher notwendig, sie wieder in ihren Kontext einzubetten und nach ihrer Funktion für den Kontext und nach der Funktion des Kontextes für das Verstehen der Perikope zu fragen. Dahinter steht die Grundannahme, dass die Bibel keine ungeordnete Textsammlung ist, sondern aus größeren und kleineren, bewusst organisierten literarischen Einheiten besteht (Bücher und Buchteile). Diese Einheiten wiederum ergeben die gesamte Bibel, die in ihrer Anordnung ebenfalls einer Komposition folgt, die wir Kanonausprägung nennen. In der Kontexteinbettung geht es daher auch darum, die Relevanz der eigenen Perikope für diesen Kontext zu erkennen: Wo in einem größeren Zusammenhang steht der Text (etwa Anfang, Mitte, Ende eines Erzählzyklus; bestimmte Sammlung im Psalter)? Es ist somit unumgänglich, die den Text umgebenden Perikopen zu lesen. Dabei prüft man, ob der eigene Text Teil eines größeren Erzählzusammenhangs, einer Abfolge von Reden, eines Rechtskorpus, einer weisheitlichen Sammlung etc. ist. Dazu hilft eine Grobgliederung des biblischen Buches, in dem der Text steht. Solche Grobgliederungen finden sich in Kommentaren und in Einleitungen in das Alte Testament. Stammt der Text aus einem größeren Erzählzusammenhang, etwa aus den Erzelternerzählungen (Gen 12–36) oder aus der Aufstiegsgeschichte Davids zum König über ganz Israel (1 Sam 16 bis 2 Sam 5), so muss man sich den Gesamtaufbau dieses Zusammenhangs erarbeiten, um die Rolle des Untersuchungstextes einschätzen zu können. Auch ein einzelner Rechtstext oder ein weisheitlicher Abschnitt stehen in aller Regel in größeren Kompositionen und haben dort jeweils bestimmte Funktionen. Worin diese Funktionen für den Kontext bestehen, kann eine Weglassprobe ergeben: Was fehlte, wenn der Untersuchungstext nicht vorhanden wäre? Welche entscheidende Wendung gibt der Text dem größeren Ganzen? Umgekehrt ist zu fragen, wie sich die Wahrnehmung des Untersuchungstextes verändert, wenn zusätzliche Informationen aus dem weiteren und engeren Kontext (Erzählzusammenhang, Großkomposition, Buchteil, Buch) eingespeist werden.
1. Kontexteinbettung
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Genesis 23 Liest man Genesis 23 ohne Berücksichtigung des Kontextes, so erscheint es merkwürdig, mit welch großem Aufwand Abraham einen Grabplatz für seine eben verstorbene Frau Sara einrichtet. Nur nebenbei sei erwähnt, dass es auch wesentlich kürzer geht: Als Rahel, die geliebte Frau Jakobs, stirbt, begräbt man sie an der Straße und errichtet ein Steinmal (Gen 35,19–20). Bei Sara jedoch wird von langwierigen Verhandlungen Abrahams mit den Bürgern des Landes berichtet. Obwohl der Eigentümer den von Abraham vorgesehenen Platz, die Höhle Machpela bei HebronW, bereitwillig für die Bestattung Saras zur Verfügung stellen will, besteht Abraham darauf, den Platz für eine große Summe käuflich zu erwerben. Am Ende wird zwei Mal betont, dass das Grundstück mit der Grabhöhle in den Besitz Abrahams übergegangen ist. Aus dem Kapitel selbst heraus ist die Tragweite dieser Darstellung nicht ersichtlich. Erst, wenn man den größeren Zusammenhang der Erzelternerzählungen einbezieht, wird deutlich, dass (1) Abraham bisher immer als geduldeter Fremdling im Land umherzog und trotz seines großen Reichtums keinen Grundbesitz hatte, obwohl ihm und seinen Nachkommen das Land von Gott verheißen worden war. Mit dem rechtmäßigen Erwerb des Grundstücks geht ein erster kleiner Teil Kanaans auf völlig legale Weise in den Besitz derer über, die sich später „Israel“ nennen werden. Im Kontext der Erzelternerzählungen und der weiteren Geschichte Israels wird der Grundstückskauf zur ersten Anzahlung auf das „Gelobte Land“. (2) Darüber hinaus werden Abraham selbst (Gen 25,9) und Jakob (Gen 49,30; 50,13) von ihren Söhnen an diesem Ort bestattet, so dass die Höhle zum Familiengrab der Erzeltern Israels und damit zu einem für die Identität Israels zentralen Erinnerungsort wird. Abrahams Grundstückserwerb betrifft nicht nur die letzte Ruhestätte seiner Frau Sara, sondern auch die Zukunft seiner Nachkommen.
Einen Sonderfall für die Kontexteinbettung stellen die Psalmen dar. An sich ist jeder Psalm ein individueller Text, der sehr gut für sich allein stehen kann, also in sich verständlich ist. Allerdings existierten die Psalmen vermutlich nur eine vergleichsweise kurze Zeit als Einzeltexte; bereits sehr früh in der Textüberlieferung wurden sie gesammelt und in einer bestimmten Abfolge hintereinandergestellt und so in größeren Blöcken (Sammlungen) tradiert. Innerhalb dieser Sammlungen bzw. Sequenzen von Psalmen kann ein Leser bestimmte Zusammenhänge zwischen den individuellen Psalmen feststellen. Ausgelöst und markiert werden solche Zusammenhänge z.B. durch Stichwortverbindungen, gemeinsame Themen, Beziehungen wie Frage und Antwort, die Psalmüberschriften mit gemeinsamer Zuweisung mehrerer Psalmen zu einer Teilsammlung (z.B. „ein Psalm der Korachiter“) und anderes mehr. Die Verknüpfung zwischen den Psalmen muss nicht von ihren Autoren bzw. den Sammlern und Redaktoren des Psalters intendiert sein – solche Intentionen lassen sich auch nur schwer nachweisen bzw. bleiben Spekulationen. Unabhängig von Vermutungen über Absichten von Autoren und Redaktoren ist es möglich, dass der Leser des Psalters (fi textzentriert und leserorientiert, S. 148ff.) seine Beobachtungen macht und den untersuchten Psalm im Licht
Sonderfall Psalmen (Psalterexegese)
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
seiner Nachbarpsalmen liest und die Text-Text-Relationen für die Interpretation auswertet. Stichwort
Psalterexegese Als Ergänzung zur Psalmenexegese hat v.a. Erich Zenger für die Psalterexegese plädiert. Ihr geht es darum, das Buch der Psalmen nicht als Sammlung von Einzeltexten zu lesen, sondern als Gesamtkomposition. Im Psalmenbuch („Psalter“) erhalten die Einzelpsalmen als Teilelemente von Kompositionsbögen, Teilsammlungen oder im makrostrukturellen Zusammenhang des ganzen Buches eine theologische Aussage, die ihren jeweiligen „Einzelsinn“ übersteigt. Näheres dazu wird in der von C. Frevel herausgegebenen „Einleitung in das Alte Testament“ (E. Zenger u.a.; fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.) unter Punkt E. III. 1.3 (in der 9. Auflage 2015 auf S. 434–437) mit mehreren Beispielen dargelegt. S. ferner Zenger, Erich: Psalmenexegese und Psalterexegese: Eine Forschungsskizze, in: ders. (Hg.), The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven 2010, 17–66. – Die vielfältigen Verknüpfungen von Psalmen mit ihren Nachbarpsalmen berücksichtigen v.a. Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger in ihren Psalmkommentierungen in der Reihe „Neue Echter Bibel“ (Psalm 1–50: 1993; Psalm 51–100: 2002; Psalm 101–150: 2012) und in der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ (Psalm 51–100: 2000, 3. Auflage 2007; Psalm 101–150: 2008). Ein Beispiel zu Psalm 80 wird in folgendem Aufsatz näher ausgearbeitet: Hieke, Thomas: Psalm 80 and Its Neighbors in the Psalter, in: Biblische Notizen 86 (1997) 36–43.
Hilfsmittel Die Grobgliederung eines größeren Zusammenhangs kann man sich selbst erarbeiten und mit Hilfe von einer „Einleitung in das Alte Testament“ (z.B. die von Erich Zenger u.a.) sowie einschlägigen Kommentaren verifizieren. Bei den Psalmen ist auf die Kommentierungen von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger in den Reihen „Neue Echter Bibel“ und „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ zurückzugreifen: Jeweils am Ende der Einzelkommentierungen wird auf die Verbindungen des einzelnen Psalms zu seinen Nachbarpsalmen im Psalter hingewiesen.
Beispiel: Ex 3,1–4,17 (Die Berufung des Mose) Für die Kontexteinbettung von Ex 3,1–4,17 ist es sinnvoll, sich einen Überblick über den Gesamtaufbau des Buches Exodus zu verschaffen. Dazu kann man beispielsweise eine „Einleitung in das Alte Testament“ oder einen einschlägigen wissenschaftlichen Kommentar heranziehen (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.).
1. Kontexteinbettung Stichwort
Das Buch Exodus – Inhaltsübersicht Der Auszug aus Ägypten 1 Israel in Ägypten 2 Geburt und Rettung des Mose; Moses Flucht nach Midian 3–4 Berufung des Mose am Gottesberg Horeb/Sinai; Rückkehr 5–11 Mose und Aaron vor dem Pharao; Plagenerzählung 12–13 Pessach/Mazzot-Fest; 10. Plage; Beginn des Auszugs 14–15 Rettung am Schilfmeer; Siegeslied 16–18 Zug durch die Wüste Gottes Wohnen bei seinem Volk 19 Ankunft am Sinai; Gottes Offenbarung 20 Dekalog 21–24 Bundesbuch und Bundesschluss 25–31 Aufträge zur Errichtung des Zeltheiligtums 32–34 Abfall des Volkes (das „Goldene Kalb“) und Bundeserneuerung 35–40 Ausführung der Errichtung des Zeltheiligtums
Ex 3,1–4,17 Die Funktion des Abschnitts Ex 3,1–4,17 für den Kontext ergibt sich aus den im vorausgehenden Kapitel Ex 2 aufgebauten Lesererwartungen: Die bemerkenswerte Rettungserzählung mit dem Binsenkörbchen und die Aufnahme am Hof des Pharao wecken die Erwartung, dass mit diesem Kind noch etwas Besonderes zugunsten der „Hebräer“ (der Israeliten) geschehen wird. Doch dann wird die Karriere des Mose durch seine Tötung eines Ägypters unterbrochen, und er wird durch seine Flucht nach Midian von seinem Volk getrennt. Wie kann dieses Problem überwunden werden? Am Ende von Ex 2, in Ex 2,23–25, wird die äußerst schwierige Situation der Israeliten in Ägypten gebündelt auf den Punkt gebracht und behauptet, dass Gott seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob gedachte und auf sein Volk Israel schaut – doch wie kommen der außergewöhnliche Mose und sein außergewöhnlich leidendes Volk so zusammen, dass der Plan Gottes umgesetzt wird? Mit diesen Fragen und Erwartungen geht man in die Lektüre von Ex 3,1–4,17 hinein und erhält so viele Informationen, dass die weitere Geschichte nun Fahrt aufnehmen kann. Mose (und damit dem Leser) wird der bildlose, unsichtbare Gott im brennenden Dornbusch vorgestellt, sein Rätselname JHWH wird als Chiffre und Identifikationspunkt mitgeteilt, Mose wird seine Aufgabe zugewiesen, und zugleich wird er dafür ausgestattet. Für den folgenden Kontext wird eine Reihe von Ankündigungen gemacht: die Schwierigkeiten, die auftreten werden, die Zeichen, die Mose mittels des Stabes vorführen soll, Aaron als Vermittler usw. Ex 3,1–4,17 eröffnet somit ein großes Panorama mit vielen Einzelheiten, die im weiteren Verlauf der Erzählung nach und nach eingeholt, aufgegriffen und ausgebaut werden. Im Erzählfaden der Tora bildet Ex 3,1–4,17 die Brücke zwischen den Erzelternerzählungen im Buch Genesis und dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Die Anknüpfung an das Vorausgehende wird daran deutlich, dass sich JHWH dem Mose als ein Bekannter vorstellt: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 3,6). Damit wird nicht nur an den unmittelbar vorausgehenden summarischen Abschnitt Ex 2,23–25 (Vers 24) angedockt, sondern mittels der Namen der Patriarchen deren Geschichte aus dem Buch Genesis wachgerufen. In Ex 3,12 wird der Bogen über die gesamte Auszugsgeschichte hinweg zu Ex 19,1 geschlagen: Gott kündigt Mose an, dass Israel nach dem Auszug an diesem Berg Gott dienen wird, also am Sinai, wo Mose gerade mit Gott im brennenden Dornbusch spricht – das erfüllt sich in Ex 19,1–2. Nach dem Auszug aus Ägypten kommt das Volk Israel am Sinai an. Diese Korrespondenz von „Verheißung“ und „Erfüllung“ soll den Leser in seinem Vertrauen in den Text und den darin erzählten Gott bestärken: Gott macht seine Pläne zur Rettung des Volkes, teilt sie den Menschen mit und setzt sie in die Tat um.
Beispiel: Psalm 7 im Kontext der Nachbarpsalmen Ps 6–10 Wie liest sich Ps 7 im Lichte seiner Nachbarpsalmen? Ps 6 ist eine Klage über Krankheit und/oder unberechtigte Verfolgung. Charakteristisch ist der „Stimmungsumschwung“ in Ps 6,9–11: „Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn der HERR hat mein lautes Weinen gehört …“ (ZB). Dabei entspricht die Zeile „Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde“ (Ps 6,11ab) in ihrem Duktus einer ganz ähnlichen Rede über den Feind in Ps 7,16: „Er grub eine Grube und hob sie aus, doch er stürzte in das Grab, das er machte“. Doch Ps 7 beginnt mit einem Kontrast zu Ps 6: Aus der Euphorie oder dem Wunschdenken am Ende von Ps 6 („die Feinde werden zurückweichen“) holt der Anfang von Ps 7 den Leser zurück in die Realität. Das Vertrauen und die Zuversicht in Gott ist noch da (7,2a), doch die Gefährdung durch Verfolger keineswegs beseitigt, sondern allgegenwärtig. Ps 7 endet mit einem Lobversprechen: „Ich will den HERRN preisen für seine Gerechtigkeit, will singen dem Namen des HERRN, des Höchsten“. Der folgende Lobpsalm 8 wirkt wie eine Realisierung dieses Versprechens. Doch es gibt noch mehr Berührungen. Der Abschnitt Ps 7,8a–9a baut das Szenario eines Weltgerichts auf: Gott erscheint als Weltenrichter in der Höhe, und mit dieser Gottesvorstellung findet der Leser in Ps 8 sofort Anschluss, wenn dort Gott als Herrscher des Himmels und der Erde gepriesen wird. Ist über die Verbindungen „Lobversprechen – konkretes Lob“ und die Gottesvorstellung „der Höchste – der majestätische Herrscher des Kosmos“ einmal eine Beziehung zwischen Ps 7 und Ps 8 hergestellt, ist der Leser bereit, den eigenen Horizont zu weiten. Aus den Niederungen der zwischenmenschlichen Konflikte, mit denen sich Ps 7 herumschlägt, und der Frage nach der Ehre des einzelnen Menschen, die von anderen in den Staub gelegt werden kann (7,4d), öffnet Ps 8 den Blick auf die Großartigkeit der göttlichen Schöpfung – und auf die ehrenvolle Stellung des Menschen „wenig geringer als Gott“. Nachdem sich so durch Ps 8 die Perspektive geweitet hat, kann man versuchsweise einen Schritt weitergehen und fragen, ob auch noch Ps 9 zum größeren Zusammenhang etwas beiträgt. Folgendes fällt auf: Ps 9 stellt fest, dass das von Ps 7 erhoffte Weltgericht über die Völker und die Vernichtung der Feinde durch den in Ps 8 vorgestellten königlichen Gott und Weltenherr stattgefunden hat. Ps 9 erscheint als eine triumphierende Erfüllung der Hoffnung, die Ps 7 hegt. In Ps 9,5 wird die Bitte von Ps 7,9 als erfüllt hingestellt (ZB):
1. Kontexteinbettung 7,9: Schaffe mir Recht, HERR, nach meiner Gerechtigkeit, und nach meiner Unschuld geschehe mir. 9,5: Denn du hast mein Recht und meine Sache geführt, dich auf den Thron gesetzt als ein gerechter Richter. Gott, der in beiden Psalmen als „der Höchste“ bezeichnet wird (7,18b und 9,3), hat Recht verschafft und sich als gerechter Richter erwiesen. Dabei ist die Terminologie nicht völlig deckungsgleich, doch die semantischen Berührungen auf dem juristischen Wortfeld sowie die kontextuelle Nähe im Psalter genügen, um auf der Leserebene diesen Brückenschlag herzustellen. Unterstützt wird dies im weiteren Verlauf durch Ps 9,20, wo die Aufforderung von Ps 7,7, „Steh auf, HERR“, wörtlich wiederkehrt und sich die Bitte um das Gericht über die Völker (mit synonymer Terminologie) anschließt (Ps 9,20: „damit die Nationen gerichtet werden vor dir“; 7,9a: „Der HERR richtet die Völker“). Die in Ps 7 zu notierende Verquickung von persönlicher Gegnerschaft und dem Gericht über die Völker kehrt also in Ps 9 wieder. Eine weitere Berührung besteht zwischen Ps 9,16 und Ps 7,16: Die weisheitliche Feststellung, dass der Frevler selbst in die Grube fällt, die er für andere gegraben hat (vgl. Spr 26,27; 28,10; Sir 27,26), wird in Ps 9,16 auf die Nationen ausgeweitet. Durch die globale Perspektive von Ps 8 wird der Blick geweitet, so dass Gottes Gericht über die Völker und Gottes Eintreten für den Armen, der von (einem) Gegner(n) innerhalb des eigenen Volkes verfolgt wird, ineinander verschränkt sind. Am Ende schlagen das Vertrauen und die Hoffnung auf den wirkmächtigen Gott, den Herrscher über Himmel und Erde, durch alle Texte durch. Da in der Septuaginta die Psalmen 9 und 10 als Einheit angesehen und als ein Psalm (Ps 9LXX) gezählt werden, kann man auch noch Ps 10 versuchsweise in die Überlegungen einbeziehen. Zwischen Ps 7 und Ps 10 gibt es auf der Wort- und Motivebene eine Verbindungslinie, die einen bemerkenswerten Lesezusammenhang ermöglicht. Das heimtückische Verhalten des Feindes bzw. des Frevlers wird in Ps 10,9 wie in Ps 7,3 mit der Metapher des sich versteckenden Löwen ausgedrückt. Diese Metapher scheint zum sprachlichen Repertoire der Bitt- und Klagepsalmen zu gehören, die über Verfolgung durch Feinde klagen bzw. um Rettung davor bitten. Liest man von daher Ps 7 parallel zu Ps 10, fällt deren gemeinsame Rolle gegenüber dem jeweils vorausgehenden Text auf: Ähnlich wie Ps 7 gegenüber der am Ende von Ps 6 auftretenden Siegesgewissheit den Dämpfer der Realität aufsetzt, so macht es Ps 10 mit Ps 9: Nachdem schon über den Untergang des Frevlers triumphiert wurde (Ps 9,17), muss Ps 10 erneut die heimtückischen Ränke des Frevlers beklagen und um dessen Bestrafung bitten (10,15; vgl. Ps 7,10).
Wissens-Check
1. Worin besteht der Zusammenhang zwischen dem Methodenschritt der Abgrenzung des Untersuchungstextes und der Kontexteinbettung? 2. Wie lauten die beiden Fragerichtungen der Kontexteinbettung hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Text und seinem Kontext? 3. Wie erschließt man sich die Grobgliederung eines größeren literarischen Kontexts, innerhalb dessen der Untersuchungstext steht? 4. Was ist in diesem Zusammenhang die „Weglassprobe“ und was kann man damit herausfinden? 5. Inwiefern stellen die Psalmen einen Sonderfall der Kontexteinbettung dar?
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
2. Biblische Auslegung Leitfragen Durch welche sprachlichen Signale stellt der Text im Lektürevorgang innerhalb der Kanonausprägung Text-Text-Relationen her? Was trägt die Einbeziehung anderer Texte zum Bedeutungsaufbau des Untersuchungstextes bei? Wie liest und versteht man diesen anders im Lichte der Bezugstexte? Wie liest sich der Text als Text der Bibel?
Beschreibung Erweiterter Kontextbegriff
Textzentriert und leserorientiert
Leser
Die Biblische Auslegung bringt auf der Basis aller vorausgehenden Methodenschritte den Untersuchungstext in Dialog mit dem gesamten biblischen Kontext. Dieser Kontext besteht in der zugrunde gelegten Kanonausprägung, die sich z.B. aus der Entscheidung ergibt, mit der Einheitsübersetzung oder der Zürcher Bibel oder der Hebräischen Bibel zu arbeiten. Es sind nicht nur die unmittelbaren Kontexte vor und nach dem Untersuchungstext für das Verstehen relevant (fi Kontexteinbettung, S. 141ff.), sondern auch die Text-TextRelationen, die über verschiedene sprachliche Signale vom Untersuchungstext aus zu anderen Texten innerhalb des privilegierten Textrahmens (der Kanonausprägung) aufgebaut werden. Dieses textzentrierte und leserorientierte Auslegungskonzept, das mit dem Intertextualitätsparadigma und dem Kanonbegriff arbeitet, wird im Folgenden vertieft. Die meisten der bisher vorgestellten Methodenschritte sind textzentriert und leserorientiert. Sie fragen nicht (oder wenigstens nicht primär) danach, was der historische Autor gesagt hat bzw. mit dem Text sagen wollte. Vielmehr reflektieren sie den Lektürevorgang und beobachten Strategien im Text, die den impliziten Leser durch bestimmte Strukturen und Inhalte lenken wollen bzw. die der Leser wahrnimmt und darauf ihre Interpretation, ihr „Verstehen“ aufbaut (fi Pragmatik, S. 105ff.). Die Lektüre, das Zusammenspiel von Text und Leser, aktiviert Sinndimensionen, die über das hinausgehen können (und in der Regel hinausgehen), woran der Autor beim Schreiben gedacht hat. Das gilt nicht nur für die Bibel, sondern für jeden Text, gerade auch für Lyrik oder moderne Romane. Während der historische Autor, der im Falle der Bibel schwer bis gar nicht mehr zu „greifen“ ist, damit in den Hintergrund rückt, bleibt der Text „eine beruhigende Gegenwart, ein Parameter, an den man sich halten kann“ (U. Eco, Grenzen, 168; fi S. 15). Auch der Begriff Leser muss noch einmal reflektiert werden (fi S. 106). Es geht nicht um die historischen Erstleserinnen und Erstleser – von ihnen trennt uns der gleiche zeitliche und kulturelle Graben wie vom historischen Autor. Es geht auch nicht um heutige Leserinnen und Leser – sie könnten mit
2. Biblische Auslegung
ihren akuten Problemen und Fragen den Text überwältigen und dazu benutzen, ihre eigenen Interessen zu untermauern. „Leser“ ist im hier angesetzten Verständnis vielmehr eine im Text wahrgenommene Rolle. Sie ist die Schnittmenge aus den Voraussetzungen, die die geschichtlichen Erstleserinnen und -leser mitgebracht haben, und den Voraussetzungen, die heutige Leserinnen und Leser mitbringen müssen, um zu verstehen, was der Text mitteilen oder wozu er auffordern will. So kommt man zu einer Rolle bzw. einem Standpunkt, den der Text allen Lesern, unabhängig von der Einzelsituation, anbietet. „Leserorientiert“ bedeutet also, die im Text angelegte bzw. wahrgenommene Leserrolle so zu beschreiben, dass das Ergebnis intersubjektiv nachvollziehbar und damit wissenschaftlich überprüfbar ist. Methodisch geschieht diese Beschreibung zunächst anhand der oben vorgestellten Schritte im Blick auf das Individuelle (Struktur und Inhalt) und das Typische am Text (geprägte Strukturen und Vorstellungen, z.B. Gattungen und Motive). Darüber hinaus ist aber auch zu reflektieren, dass mindestens die heutige Leserschaft, aber auch viele Generationen in der Geschichte von Judentum und Christentum die biblischen Texte als Teil eines größeren Zusammenhangs wahrnehmen (können). Seitdem Juden und Christen angefangen haben, ihnen wichtige Texte als Heilige Schrift (englisch: scripture) zusammenzustellen, erhalten die Beziehungen zwischen diesen Texten (Text-Text-Relationen) ein neues und besonderes Gewicht. Mit der jeweiligen Kanonausprägung als Heilige Schrift entsteht ein literarischer und theologischer Gesamtzusammenhang, in dem ein einzelner Text (als Perikope) im Licht anderer Texte seines Umfelds gelesen wird. In der Literaturwissenschaft nennt man dieses Phänomen Intertextualität, ein schillernder Begriff, der nicht präzise zu definieren ist (fi S. 116ff.). Grundsätzlich könnte man zwar jeden Text mit jedem in Bezug setzen und intertextuelle Bezüge beobachten. Im Falle der biblischen Texte ergibt sich aber eine Vorauswahl, da sie im Laufe der Geschichte innerhalb eines bestimmten Korpus von Schriften überliefert wurden, das wiederum mit einer bestimmten Glaubens- und Auslegungsgemeinschaft verbunden ist: In Judentum und Christentum entwickelte sich das Konzept Kanon W. Stichwort
Kanon Das griechische Wort jamx´m, kano¯n ist ein Lehnwort aus dem Semitischen (z.B. hebräisch qa¯næh). Es hat die Grundbedeutung „Rohr“ bzw. „gerader Stab“; von da wird die Bedeutung „Maßstab, Richtschnur“ abgeleitet sowie die metaphorische Verwendung als „Regel, Standard, Vorbild“. Innerhalb des frühen Christentums wird der Begriff im 2./3. Jh. zunächst in der Bedeutung „Glaubensgrundlage, Lebensordnung“ verwendet. Ab dem 4. Jh. werden das griechische Wort und seine lateinische Entsprechung canon für kirchenrechtliche Regelungen und Entschei-
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Intertextualität
Kanon
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung dungen von Synoden eingesetzt. Von der zweiten Hälfte des 4. Jh. an bezeichnet der Begriff die als verbindlich anerkannte, im Wortlaut nicht mehr veränderliche Sammlung der heiligen Schriften, die Grundlage und Norm des Glaubens darstellen (canon 59 der Synode von Laodicea um 363 n. Chr.; Athanasius, 39. Osterfestbrief von 367). In diesem Sinne beschreibt der Terminus das Grundprinzip der Sammlung als heilig geltender Schriften der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften. Vgl. Schöpflin, Karin: Art. Kanon (AT), in: WiBiLex, April 2009. – Der Fachbegriff Kanonisierung (englisch: canonical process, canonization, closure of the canon) steht für den geschichtlichen Vorgang der Festlegung von Umfang und Arrangement der einzelnen Schriften.
Privilegierter Intertext
Für die Biblische Auslegung wird als privilegierter Kontextrahmen (Intertext) eine derjenigen Zusammenstellungen heiliger Schriften herangezogen, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einen fixierten Umfang und eine festgelegte Abfolge erhalten haben. Zitat „Der Kanon mag von seiner Entstehung her (historisch) das Produkt vieler Zufälle und Beliebigkeiten sein. In der Lektüre biblischer Texte ist er keine Zufallserscheinung, sondern der primäre Kontext, in dem uns ein Bibeltext begegnet. Alle anderen Kontexte (z.B. Entstehungssituation des Textes; ältere literarische Kontexte/ Vorstufen; religionsgeschichtliche Hintergründe) sind hypothetisch erschlossen. Daher verdient der Kanon besondere Beachtung in der Exegese. Der Kanon ist somit auch beschreibbar als privilegierter Intertext […] in der Lektüre.“ (G. Steins, Kanonisch-intertextuelle Studien, 32–33)
Dimensionen des Kanons
Kanonausprägung = Bibel
Der Kanon hat nach G. Steins, Bindung, 70, drei Dimensionen: (1) eine literarische, (2) eine soziologische und (3) eine theologische. (1) Zunächst ist der Kanon ein Text, innerhalb dessen die Leserschaft einzelne Perikopen als literarische Einheiten wahrnimmt und zwischen diesen Text-Text-Relationen beobachtet. (2) Diese einzelnen Texte werden in einer Gemeinschaft zusammengestellt, die in diesem „Kanon“ (canon, genauer eigentlich: Kanonausprägung) ihre Basisurkunde sieht bzw. diesen Text als Basisurkunde deklariert. Die einzelnen Texte werden dabei zu einem Basistext dieser Gemeinschaft, indem diese Texte von anderen Texten abgegrenzt und in sich sortiert werden. (3) Eine theologische Dimension hat der Kanon dadurch, dass diese Gemeinschaft eine Glaubensgemeinschaft ist und den Text als heilige Schrift (scripture) ansieht. Die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften (Juden, Samaritaner, Christen mit ihren Konfessionen und Denominationen) pflegen dabei mehr oder weniger unterschiedliche konkrete Ausprägungen des heiligen Basistexts. Für solche konkreten Zusammenstellungen von Texten wird der Begriff Kanonausprägung verwendet bzw. als Synonym dafür Bibel (fi Vorüberlegungen, S. 19f.).
2. Biblische Auslegung
Alle drei Aspekte der Biblischen Auslegung (Leserorientierung, Intertextualität und Kanon) sind in der Alternativbezeichnung „Kanonisch-intertextuelle Lektüre“ (Georg Steins) zu erkennen. Die Bezeichnung Biblische Auslegung dagegen deutet mit ihren beiden Teilen die hermeneutische Grundposition an. Biblisch bezieht sich auf die Besonderheit des Untersuchungsgegenstands: Biblische Texte werden als Texte der Bibel gelesen.
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Begrifflichkeit
Zitat „Biblische Texte sind als Texte der Bibel zu behandeln, das heißt: einer Einheit, die, wenn auch geworden, aus vielen und vielfältigen, ganzen und fragmentarischen Elementen zusammengewachsen, doch eine echte organische Einheit und nur als solche wahrhaft zu begreifen ist. Das bibelstiftende Bewußtsein, das aus der Fülle eines vermutlich weit größeren Schrifttums das aufnahm, was sich in die Einheit fügte, und in den Fassungen, die dieser Genüge taten, ist nicht erst mit der eigentlichen Zusammenstellung des Kanons, sondern schon lange vorher, in allmählichem Zusammenschluss des Zusammengehörigen, wirksam gewesen. Die Kompositionsarbeit war bereits ‚biblisch‘, ehe die erste Vorstellung einer bibelartigen Struktur erwachte; sie ging auf eine jeweilige Zusammenschau der verschiedenen Teile aus, sie stiftete Bezüge zwischen Abschnitt und Abschnitt, zwischen Buch und Buch, sie ließ den tragenden Begriff durch Stelle um Stelle klären, ließ die heimliche Bedeutung eines Vorgangs, die sich in der einen Erzählung nur eben leicht auftat, in einer andern sich voll erschließen, ließ Bild durch Bild und Symbol durch Symbol erleuchten. […] Wir stehen hier erst am Anfang einer methodischen Erkenntnis. Es gilt den Blick für diese Entsprechungen und Verknüpfungen und überhaupt für die Einheitsfunktion in der Bibel zu schärfen“ (M. Buber, Hinweis, 314–315).
Tatsächlich zeigt die Entstehungsgeschichte der Bibel, dass jüngere Texte auf ältere reagieren und diese fortschreiben. Es geht aber nicht nur um diese an der Entstehung festzumachenden Bezüge, sondern um alle „Entsprechungen und Verknüpfungen“, die man im Lektürevorgang beobachten und auswerten kann, wenn man einen Untersuchungstext innerhalb des größeren Kontextes Bibel bzw. Kanonausprägung mit seinen Bezugstexten verknüpft. Der Begriff Auslegung bezeichnet die Vorgehensweise, die eben nicht nur entstehungsgeschichtlichen Hinweisen nachgeht, sondern den Lektürevorgang dahingehend befragt, was durch die intertextuelle Vernetzung der Texte geschieht. Die Auslegung zeigt die vielfältigen Verständnismöglichkeiten (Sinnpotentiale) des Textes auf, die sich vor allem dadurch ergeben, dass Wissen, Können und Kreativität der Leserschaft bei der Sinnkonstituierung einen entscheidenden Beitrag leisten. Diese prinzipiell unabgeschlossenen Lektürevorgänge gilt es wissenschaftlich zu reflektieren. Auslegung meint somit, dass nicht die Erhellung der Entstehungsgeschichte des Textes und die Interpretation von Vorstadien (Quellen, Schichten, Redaktionen) das Ziel ist. Vielmehr
Biblisch
Auslegung
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
bemüht sich die Auslegung im hier vorgestellten Sinne um das Verstehen des Textes in seiner vorliegenden Form. Es geht also um die Bemühung, aus der Warte eines bibelkundigen Lesers, den sich der Text durch seine Anforderungen in Form von Querverweisen und Bezügen selbst schafft, die Sinnpotentiale so weit wie möglich auszuloten. Im Zuge dieser Lektürereflexion gilt es auch, sich der Grenzen der Interpretation bewusst zu werden und zu zeigen, wo Auslegung und Interpretation enden und wo Gebrauch und Fehlinterpretation beginnen. Zitate „Zu sagen, dass ein Text potentiell unendlich sei, bedeutet nicht, dass jeder Interpretationsakt gerechtfertigt ist. Selbst der radikalste Dekonstruktivist akzeptiert die Vorstellung, dass es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind. Das bedeutet, dass der interpretierte Text seinen Interpreten Zwänge auferlegt. Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes (was nicht heißen soll, die fielen zusammen mit den Rechten seines Autors).“ (U. Eco, Grenzen, 22) „Es bleibt Mannigfaltigkeit, aber keine Beliebigkeit. Auslegung bewegt sich auf einem offenen Feld, einem zwar nicht klar und streng abgestecktem Feld der Möglichkeiten, das Freiheit lässt, aber wie ein Spielraum begrenzt ist. Die Überschreitung der Grenzen ist zwar ohne Weiteres möglich, erscheint allerdings nicht mehr ‚sinnvoll‘ und kann nicht mehr auf weitreichende Zustimmung rechnen.“ (W.H. Schmidt, Theologie und Hermeneutik, 21)
Der Ort im Ganzen
Neben den Text-Text-Relationen, die für die Interpretation des Untersuchungstextes ausgewertet werden können, ist in bestimmten Fällen auch sein Ort im Ganzen der Kanonausprägung von Bedeutung. Das gilt vor allem für Perikopen, die den Anfang und den Schluss von Büchern, Buchgruppen oder Kanonteilen bilden. Um diese Positionen zu identifizieren, bedarf es einer Kanonhermeneutik. Sie erläutert, in welchem Verhältnis die einzelnen Teile der jeweiligen Kanonausprägung zu einander stehen und wie ihre Abfolge und Gewichtung aufzufassen sind. So stehen etwa die drei Teile der jüdischen Bibel (Tora, Propheten, Schriften) nicht einfach gleichwertig nebeneinander. Aufgrund entsprechender Schluss- und Anfangstexte ergibt sich eine Vor- und Überordnung der Tora über Propheten und Schriften, die wiederum auf die Tora als übergeordnet zurückverweisen. Näheres dazu kann man den Einleitungen zum Alten Testament entnehmen (fi Literaturverzeichnis, S. 168ff.; s. ferner T. Hieke, Ende). Mal 3,22–24 Der Schluss der Maleachischrift (Mal 3,22–24) ist nicht nur als Ende der drei Maleachi-Kapitel zu lesen, sondern auch als Abschluss des Zwölfprophetenbuches. Durch den Blick auf diese größeren Kontexte ändert sich das Verständnis von Mal
2. Biblische Auslegung
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3,22–24 ganz erheblich. In der Hebräischen Bibel (und damit der jüdischen Bibel) markiert diese Perikope den Abschluss des Kanonteils „Nebiim“. Dabei fasst der Gedanke des wiederkommenden Elija die Botschaft der Propheten zusammen (Mal 3,23–24), während die Ermahnung, an die Weisung (Tora) des Mose, des Knechtes Gottes, zu denken (Mal 3,22) den Kanonteil „Nebiim“ an die Tora zurückbindet. In der christlichen Kanonausprägung des Alten Testaments in seiner heutigen Ausformung (seit der Lutherbibel) stellt Mal 3,22–24 den Schluss des Alten Testaments und damit den Übergang zum Neuen Testament dar, das mit dem Matthäusevangelium beginnt. Auf der Ebene der christlichen Bibel gelesen erhält dieser Text, der von der Wiederkunft des Propheten Elija spricht (Mal 3,23–24), eine weitere Sinndimension, wenn man berücksichtigt, dass in der christlichen Tradition der Evangelien Johannes der Täufer als Elija identifiziert wird (Mt 11,14 u.ö.). An diesem Extrembeispiel wird deutlich, dass das Verstehen eines biblischen Textes auch von seinem Ort im Gesamtzusammenhang geprägt ist und dass eine Biblische Auslegung auch auf die Anfänge, Überleitungen und Abschlüsse von Buchteilen, Büchern, Buchgruppen, Kanonteilen usw. eingehen muss.
Die Vorgehensweise bei der „Biblischen Auslegung“ kann wie folgt beschrieben werden: Zunächst muss man sich vergewissern, welche Kanonausprägung (Bibel; fi S. 19f.) für die Auslegung zugrunde gelegt wird. Die Entscheidung wird in aller Regel gleich am Anfang der Analyse getroffen, etwa auch mit der Wahl der verwendeten Übersetzung. Daher handelt es sich hier nicht um einen eigenen Arbeitsschritt, sondern um eine methodische Sicherung der weiteren Arbeitsgrundlage. Ebenso sind für die Biblische Auslegung die bisherigen Analyseschritte vorauszusetzen. Der konkrete Arbeitsschritt der Biblischen Auslegung im engeren Sinne besteht darin, den untersuchten Hypertext mit seinen innerbiblischen Hypotexten in Beziehung zu setzen und diese Text-Text-Relationen auszuwerten. Stichwort
Hypertext und Hypotexte Für die intertextuellen Untersuchungen hat sich folgende Begrifflichkeit bewährt: Der zu untersuchende Text (die Perikope) wird als Hypertext bezeichnet. Diejenigen Texte, die dazu in wie auch immer gearteten Beziehungen stehen, die also durch bestimmte sprachliche Signale „wachgerufen“ werden, nennt man Hypotexte. Die Analogie zum Format des Internets („http“ als „hypertext transfer protocol“) ist gewollt: Eine http-Webseite enthält sogenannte Links, die meist farblich hervorgehoben werden. Klickt man auf diese Links, so öffnen sich andere Webseiten mit weiteren Texten, die – hoffentlich – zum Verstehen des Hypertextes etwas beitragen bzw. den Leser weiterbringen. Im Falle der Bibel gibt es auch solche „Links“, die jedoch nicht elektronisch funktionieren und nicht immer vom „Programmierer“ oder Autor bewusst angebracht wurden, sondern über sprachliche Signale, die vom Leser aktiviert werden, Texte miteinander verknüpfen. Wie beim Internet liegt es jedoch an der Leserschaft, durch parallele Lektüre der Texte neue Sinndimensionen zu erschließen.
Vorgehensweise
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
Die folgenden Ausführungen orientieren sich am Abschnitt „Grundzüge eines Operationalisierungskonzepts“ in G. Steins, Bindung, 99–102. Zugleich wird jeweils benannt, welche Hilfsmittel eingesetzt werden können.
Identifizierung
Analytisch-beschreibender Schritt Der erste Schritt ist die analytische Beschreibung der intertextuellen Beziehung. (a) Dazu sind zunächst die im Hypertext (Untersuchungstext) anwesenden Hypotexte zu identifizieren. Hilfsmittel dafür sind z.B. die Querverweise, die in den Bibelausgaben mitgeliefert werden. Vergleicht man mehrere Bibelausgaben, so erreicht man eine größere Auswahl solcher Querverweise, die als Hilfestellungen der Herausgeber der Bibelausgaben kein „sakrosankter“ Text, sondern kritisch zu überprüfende Hinweise sind. Sodann zieht man eine Konkordanz und Bibelsoftware heran und untersucht damit, ob bestimmte Begriffe und Wendungen so oder ähnlich auch in anderen Texten vorkommen. Manche dieser Untersuchungen wurden schon auf vorausgehenden Stufen gemacht; hier jedoch geht es nicht um die Begriffe und Wendungen an sich, sondern um die Texte, in denen sie stehen. Die gleichen oder ähnlichen Begriffe und Wendungen sind die sprachlichen Signale, die zu den Texten führen, die als Hypotexte des Untersuchungstexts (Hypertext) zu identifizieren sind. Auch die Sekundärliteratur (v.a. die Kommentare) ist daraufhin zu befragen, welche Bezugstexte (Hypotexte) hier genannt werden. In den vorausgehenden Methodenschritten, insbesondere bei der Texttypik (Gattungen, Motive, Themen usw.), sind ebenfalls Bezugstexte aufgefallen. Dieser Bestand an Hypotexten ist nun näher zu betrachten. Stichwort
Related Verses Tool In BibleWorks gibt es ein eigenes Arbeitswerkzeug, das die Arbeit mit der Konkordanz wesentlich vereinfacht. Unter „Tools“ 3 „Analyzing the Text“ 3 „Related Verses Tool“ gelangt man zu einer Suchmaschine, die in der jeweils eingestellten Suchversion diejenigen Verse findet, die mit dem Ausgangsvers am meisten Wörter gemeinsam haben. Praktisch ist dabei, dass man selbst ohne Hebräischkenntnisse in der hebräischen Originalsprache suchen lassen kann, denn die Anzeige der Ergebnisse kann auf eine geläufige deutsche Übersetzung eingestellt werden. Diese Arbeit ließe sich grundsätzlich auch mit einer gedruckten Konkordanz durchführen, wäre dann aber ungleich mühsamer. Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass man mit diesem Tool nur diejenigen Fälle erfasst, in denen die intertextuelle Beziehung durch mehrere einschlägige Stichwörter indiziert wird.
Selbst angefertigte Synopsen
Für die eigene Arbeit ist es hilfreich, Synopsen anzufertigen. Dazu werden die zu vergleichenden Texte in zwei oder mehr Spalten nebeneinander angeordnet. Dabei ist darauf zu achten, dass die Gemeinsamkeiten nach Möglich-
2. Biblische Auslegung
keit in der gleichen Zeile zu stehen kommen; zusätzlich kann man sie entsprechend markieren. Die Aufnahme solcher synoptischen Darstellungen in die spätere exegetische Präsentation (etwa eine Hausarbeit) ist nur dann sinnvoll, wenn sie Entscheidendes zur Veranschaulichung beitragen kann. Ansonsten reicht die interpretatorische Auswertung. (b) Immer noch auf der Ebene der analytischen Beschreibung gilt es darzulegen, wie die Verbindung der Texte untereinander hergestellt wird, also welche sprachlichen Signale ausschlaggebend dafür sind, dass man eine TextText-Relation annimmt. Durch welche Begriffe, Sätze und Phrasen, aber auch Strukturen und Motive ist der Bezug zu rechtfertigen? Hyper- und Hypotext können dadurch verknüpft sein, dass sie einen signifikanten typischen sprachlichen Ausdruck (fi S. 113ff.) teilen, auf das gleiche Textbildungsmuster zurückgehen (fi Gattungskritik, S. 118ff.) oder eine oder mehrere geprägte Vorstellungen (fi S. 122ff.) gemeinsam haben. (c) Schließlich ist zu bestimmen, wie der Hypotext im Hypertext „anwesend“ ist. Ist der Hypotext direkt als Zitat eingeführt, ist er vollständig zitiert oder verkürzt? Oder ist es eher eine Anspielung oder ein fernes Echo? Stichwort
Zitat, Anspielung, Echo Die Art der Anwesenheit eines Hypotextes im Hypertext kann man nach abnehmender Intensität bzw. Erkennbarkeit in folgender Weise kategorisieren: 0 markiertes Zitat (wörtliche Wiederholung einer Passage aus einem anderen Text, in der Regel drei und mehr Wörter hintereinander; die Markierung erfolgt z.B. durch eine Formel wie „wie geschrieben steht“), 0 nicht markiertes Zitat (Übernahme einer Passage ohne Markierung), 0 verkürztes Zitat (Übernahme einer Passage mit Auslassungen), 0 Anspielung (z.B. mittels eines markanten Stichworts oder einer geprägten Wendung oder Vorstellung, gleiche Abfolge von Motiven usw.), 0 Echo (keine identischen, aber doch ähnliche Formulierungen; eher subtile Anklänge). Der Übergang zwischen diesen Kategorien ist fließend, da die Intensität eine Frage der Deutung ist: Was manche noch als „massive Anspielung“ sehen, interpretieren andere schon als „nicht markiertes Zitat“ usw. Der angespielte Text ist stärker in den Untersuchungstext integriert, während das Zitat noch mehr oder weniger als Fremdkörper wirkt. Das Echo dagegen ergibt sich dadurch, dass der Leser – salopp gesprochen – „so etwas Ähnliches schon irgendwo einmal gelesen hat“ und sich daran erinnert.
Es genügt nicht, lediglich den Querverweis vom Hypertext auf den Hypotext zu notieren. Stets ist mit zu fragen, worauf dieser Querverweis beruht, welche Signale auf sprachlicher Ebene (Begriffe, Phrasen, Sätze, Strukturen, Motive usw.) genug Gemeinsamkeiten anzeigen, die es sinnvoll erscheinen lassen, die Texte tatsächlich intertextuell miteinander in Beziehung zu bringen.
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Signale für Text-TextRelationen
Art der Anwesenheit
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung Ps 1,6 (a) Identifizierung: Unternimmt man eine Suche mit dem „Related Verses Tool“ zu Ps 1,6 (Suchversion: WTM Westminster Hebrew OT Morphology), so stößt man auf den interessanten Bezugsvers Hos 14,10, den man über die Querverweise normalerweise nicht findet. Beide Verse sind durch ihren exponierten Ort ausgezeichnet: Hos 14,10 beschließt die Hoseaschrift als erste Schrift im Zwölfprophetenbuch, Ps 1,6 den ersten Psalm. Ps 1,6 (ZB)
Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber vergeht.
Hos 14,10 (ZB) Wer ist weise, dass er dies begriffe, so gelehrt, dass er es verstünde? Die Wege des HERRN sind gerade, und die Gerechten gehen auf ihnen, aber die sich vergehen, kommen auf ihnen zu Fall.
(b) Sprachliche Signale: In der Gegenüberstellung sind drei Begriffe kursiv gesetzt (der HERR, Gerechte, Weg), die den beiden Versen gemeinsam sind. Sie allein würden nicht ausreichen, um einen Bezug herzustellen, da sie häufig vorkommende Wörter sind. Man kann aber auf der Basis dieser Stichwörter den Textvergleich intensivieren: Stehen diese Stichwörter oder synonyme Begriffe in gleichen oder ähnlichen Konstellationen zueinander? Dabei wird man feststellen, dass „Frevler“ in Ps 1,6 und „die sich vergehen“ in Hos 14,10 durchaus synonym sind, ebenso „vergeht“ und „kommen zu Fall“. Schließlich sind strukturell die antithetische Formulierung (u.a. erkennbar am Stichwort „aber“) und der inhaltliche Kontrast zwischen Gerechten und Frevlern sowie die Rede vom „Weg“ als Metapher für die Lebensführung gemeinsam. (c) Art der Anwesenheit: Auf der Basis dieser Beobachtungen ist Hos 14,10 in Ps 1 nicht als Zitat anwesend, und auch von einer Anspielung zu sprechen, wäre wohl zu viel. Allerdings kann man die schwächste Art der Bezugnahme ansetzen, also das „Echo“.
Beitrag zum Bedeutungsaufbau des Hypertextes
Synthetisch-interpretatorischer Schritt Im zweiten Schritt gilt es, die intertextuellen Beziehungen synthetisch-interpretatorisch auszuwerten, weil man beim analytischen Erfassen der Bezugstexte nicht stehen bleiben und sich nicht mit dem Notieren von Parallelen begnügen darf. (a) Zunächst ist zu erheben, was der zitierte, angespielte oder als Echo wahrgenommene Text in den Untersuchungstext einbringt. Wie verändert sich die Bedeutung des Hypertextes, wenn man den Hypotext dazu liest?
2. Biblische Auslegung
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Ps 1,6 und Hos 14,10 Geht man im Beispiel oben von Ps 1,6 aus und liest man dazu Hos 14,10, wird der Gegensatz zwischen Gerechten und Frevlern bestätigt. Zugleich wird der Psalmvers noch überboten: Es ist nicht nur so, dass der HERR den „Weg“, also die Lebensführung der Gerechten kennt, sondern er geht selbst diesen Weg bzw. die Gerechten gehen auf den geraden Wegen des HERRN. Die Beziehung zwischen den Gerechten und Gott wird dadurch intensiviert. Hos 14,10 steht im Kontext einer Verheißung, die Israel Gottes Nähe und Hilfe ankündigt, wenn es denn zu Gott umkehrt und erkennt, dass Gott es gut mit ihm meint. Diese Verheißung unterstützt die Ermahnung von Ps 1, sich der Weisung Gottes zuzuwenden und nicht dem Spott der Frevler. Beide Texte stützen sich gegenseitig und vertiefen die gemeinsame Botschaft, die sowohl im Trost für die Gerechten besteht, die sich der Nähe Gottes gewiss sein dürfen, als auch in der Ermahnung, nicht den Weg derer zu gehen, die sich vergehen, da diese zu Fall kommen werden. Bezieht man noch den Ort der beiden Verse in der Bibel mit ein, so verstärkt sich die Botschaft noch weiter: Hos 14,10 ist der letzte Vers der Hoseaschrift und könnte durchaus als ihre Quintessenz gelesen werden. Die Hoseaschrift ist voller Warnungen, was alles passieren wird, wenn man sich gegen den HERRN vergeht und treulos gegenüber Gott handelt – mit dem letzten Vers ist gewissermaßen die gesamte Botschaft der Hoseaschrift zusammengefasst. Geht man von der Leserichtung der Hebräischen Bibel (Tora, Propheten, Schriften) aus, dann steht Hos 14,10 vor Ps 1. In dieser Abfolge wird die in Hos 14,10 komprimierte Botschaft der Hoseaschrift in die Rede von den beiden Wegen in Psalm 1 gewinnbringend eingespeist. Im christlichen Alten Testament geht der Psalter den Prophetenschriften voraus. Die den Psalter eröffnende Grundkonstellation der zwei Wege, dem Weg der Frevler und dem Weg der Gerechten, wird in den Psalmen immer wieder bestätigend aufgegriffen. Durch das Echo am Ende der Hoseaschrift in Hos 14,10 wird bekräftigt, dass diese Grundkonstellation auch im Hintergrund der Lektüre der Prophetenschriften als Schlüssel zum Verstehen herangezogen werden kann. Die unterschiedliche Reihenfolge der beiden Textsegmente, Ps 1,6 und Hos 14,10, in den verschiedenen Kanonausprägungen (jüdische Bibel, christliche Bibel) deutet bereits an, dass man die intertextuelle Interpretationsrichtung auch umdrehen kann. Dies wird im Folgenden angesprochen und vertieft.
(b) Man kann den Hypotext neu im Licht des Hypertextes lesen: Was geschieht mit dem Bedeutungsaufbau des Bezugstextes (Hypotextes)?
Der Hypotext im Licht des Hypertextes
Ps 1 und Hos 14,10 Liest man den Schluss der Hoseaschrift, Hos 14,10, vor dem Hintergrund von Ps 1, so erhält man eine Antwort auf die Frage, was es heißt, als Gerechter auf den Wegen des HERRN zu gehen. Was Hos 14 nicht erwähnt, ergänzt somit Ps 1: die Freude an der Weisung des HERRN, das Nachsinnen darüber bei Tag und bei Nacht – das sind die geraden Wege des HERRN, das ist der Weg der Gerechten.
(c) Nun können die beiden Bezugstexte noch verglichen werden: Welche Ähnlichkeiten oder Wiederholungen führen dazu, dass sich die Texte möglicherweise gegenseitig bestätigen? Oder gehen sie trotz ähnlicher Formulierun-
Bestätigungen, Widersprüche, Neuakzentuierungen
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
gen in jeweils ganz andere Richtungen, sind es gar Widersprüche, die sich auftun? Welche Unterschiede weisen bei aller Ähnlichkeit auf Veränderungen hin, d.h., welche Akzente werden neu gesetzt? Ps 1,6 und Hos 14,10 Im Falle von Ps 1,6 und Hos 14,10 liegen jeweils sehr ähnlich lautende abschließende Quintessenzen vor, die den Gegensatz von Gerechten und Frevlern thematisieren, vor dem verderblichen Ende der Frevler warnen und die Gerechten in große Nähe zu Gott und seinem Handeln setzen. Gegenüber Hos 14,10 bringt Ps 1,6 durch seinen Kontext den neuen Akzent des Gehorsams gegenüber der Weisung des HERRN (genauer: der Freude an ihr!) ein, d.h. der Psalm spezifiziert genauer, woran sich die Gerechten orientieren sollen. Hos 14,10 dagegen verstärkt gegenüber Ps 1 die Nähe zwischen den Gerechten und Gott (sie gehen auf den geraden Wegen des HERRN) und bringt den Gedanken der Verheißung Gottes von Hilfe und Schutz ein. Lässt man beide Texte zusammenfließen, ergibt sich ein bekanntes bibeltheologisches Grundparadigma, das in beiden Texten sehr ähnlich, aber auch mit je eigenen Akzentsetzungen ausgedrückt wird.
Synoptik der Bibel
An diesem Beispiel lässt sich auch zeigen, dass man aus solchen Beobachtungen nicht auf entstehungsgeschichtliche Verhältnisse schließen kann: Trotz der großen Ähnlichkeiten und der gewinnbringenden intertextuellen Verknüpfung hat man keinerlei Beweis dafür oder auch nur einen Hinweis darauf, dass die beiden Verse von ein und derselben Person geschrieben worden seien oder aus der gleichen „Schule“ kommen. Selbst die Entstehungszeit muss nicht die Gleiche sein, auch wenn Hos 14,10 als später redaktioneller Zusatz auf der Ebene der Buchgestaltung gilt, wie auch Ps 1 als Teil der Psaltereröffnung als spät zu datieren ist. Für das Entstehen der Texte ist also nicht viel gewonnen, viel aber für das Verstehen der beiden Texte als Texte der Bibel. Damit wurde vorgeführt, was Martin Buber die „gewaltige Synoptik der Bibel“ genannt hat. Was er über die hebräische Bibel sagt, darf für die christliche Bibel mit übernommen werden: „Die hebräische Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so dass keiner ihrer Teile in sich beschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden anderen zu offen gehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, dass er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondre die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle einander erleuchten und erläutern, sich miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologoumenon zusammenschließen. […] Man betrachte von dieser Einsicht aus die sprachlichen Bezüge etwa zwischen Propheten und Pentateuch, zwischen Psalmen und Pentateuch, zwischen Psalmen und Propheten, und man wird immer neu die gewaltige Synoptik der Bibel erkennen“ (M. Buber, Verdeutschung, 3).
2. Biblische Auslegung
Wenn die Ausführungen Bubers auch für die christliche Bibel gelten sollen, so ist ein besonderes Augenmerk auf die „Synoptik“ zwischen Altem und Neuem Testament zu richten. Zahlreiche Passagen des Alten Testaments erscheinen als markiertes oder nicht markiertes Zitat, als Anspielung oder Echo im Neuen Testament. Stellt man über die Querverweise oder die Sekundärliteratur eine solche Bezugnahme fest, so sollte man sie im Sinne einer Biblischen Auslegung auch für die Interpretation auf der Ebene einer christlichen Kanonausprägung (christliche Bibel) auswerten. Es genügt also nicht die bloße Notiz, dass der Untersuchungstext an einer oder mehreren Stellen im Neuen Testament aufgegriffen wird – es muss auch untersucht werden, an welchen Wörtern, Phrasen, Strukturen oder Motiven die Bezugnahme festgemacht wird, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede vorliegen (also ganz im Sinne der obigen Schritte). Für das Verhältnis von Altem Testament und Neuem Testament sind die Grundregeln einer christlichen Bibelhermeneutik zu beachten: Das Alte Testament als ein Ausgang der Bibel Israels ist als Eigenwort mit Eigenwert (Erich Zenger) zu betrachten, das zunächst in sich und nicht von vorne herein nur als Hintergrund des Neuen Testaments zu verstehen ist. Zudem ist das Alte Testament nicht als Vorläufer, als bloßes Schattenbild oder gar als veraltet und überwunden abzuwerten. Stattdessen ist die Kontinuität im Gottesbild und in der Theozentrik der biblischen Botschaft zu beachten: Auch in der neutestamentlichen Verkündigung Jesu steht Gott im Zentrum. Die vielfältigen Bezüge zwischen Altem und Neuem Testament sind für die christliche Verkündigung gewinnbringend zu nutzen. So, wie die neutestamentlichen Texte die alttestamentlichen lesen und darauf Bezug nehmen, ist das eine mögliche Leseweise der alttestamentlichen Texte und damit eine Anregung, sich damit auseinanderzusetzen.
Hilfsmittel Für die Biblische Auslegung gibt es einige interessante Suchfunktionen in Bibelsoftware, so z.B. das Related Verses Tool in BibleWorks, die Optionen [INFER] and Search Back Linked Text (mit oder ohne [FUZZY] search command) in Accordance oder die Features Textabschnitt-Assistent und ExegeseAssistent in Logos/Verbum. Man kann mit Bibelsoftware aber auch durch klassische Kombinationssuchen weiterkommen und auf Textbezüge stoßen. Ferner führt auch die Arbeit mit der gedruckten Konkordanz weiter. Man kann den Querverweisen in den Bibelausgaben nachgehen. Zur Visualisierung von Textbezügen und zu deren Auswertung eignen sich selbsterstellte Textsynopsen.
159 Das AT im NT
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Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
Literatur Ballhorn, Egbert; Steins, Georg (Hg.): Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart u.a. 2007. Buber, Martin: Ein Hinweis für Bibelkurse, in: Buber, Martin; Rosenzweig, Franz (Hg.), Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, 310–315, hier: 314–315. Buber, Martin: Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zu „Die Schriftwerke“, Köln/Olten 1962. Dohmen, Christoph: Biblische Auslegung. Wie alte Texte neue Bedeutungen haben können, in: Hossfeld, FrankLothar; Schwienhorst-Schönberger, Ludger (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments. Festschrift für Erich Zenger (HBS 44), Freiburg i.Br. u.a. 2004, 174–191. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München 1992. Hieke, Thomas: Vom Verstehen biblischer Texte. Methodologisch-hermeneutische Erwägungen zum Programm einer „biblischen Auslegung“, in: Biblische Notizen 119/120 (2003) 71–89. Hieke, Thomas: „Biblische Texte als Texte der Bibel auslegen“. Dargestellt am Beispiel von Offb 22,6–21 und anderen kanonrelevanten Texten, in: Ballhorn, E.; Steins, G. (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart 2007, 331–345. Hieke, Thomas: Jedem Ende wohnt ein Zauber inne … Schlussverse jüdischer und christlicher Kanonausprägungen, in: ders. (Hg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart 2013, 225–252. Hieke, Thomas; Nicklas, Tobias: „Die Worte der Prophetie dieses Buches“. Offenbarung 22,6–21 als Schlussstein der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments gelesen (BThS 62), Neukirchen-Vluyn 2003. Schmidt, Werner Hans: Zur Theologie und Hermeneutik des Alten Testaments. Erinnerungen und Erwägungen zur Exegese, in: Evangelische Theologie 62 (2002) 11–25. Schöpflin, Karin: Art. Kanon (AT), in: WiBiLex, Mai 2007; April 2009. Steins, Georg: Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg i.Br. 1999. Steins, Georg: Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (SBAB 48), Stuttgart 2009. Siehe auch: www.biblischeauslegung.de.
Beispiel Als Beispiel für eine Biblische Auslegung wird wieder auf die Eselinerzählung in der Bileamgeschichte des Numeribuches zurückgegriffen (fi Struktursynthese, S. 79ff.). Die folgenden Ausführungen sind in Anlehnung an den entsprechenden Abschnitt des Aufsatzes von Benedict Schöning gestaltet (S. 116–117). Num 22,21–35 in Biblischer Auslegung In Num 22,22 stößt man darauf, dass ein Engel des HERRN sich Bileam in den Weg stellt, und zwar noch dazu „als Widersacher“ (so auch die ZB). Schaut man das auffällige und hier sehr bedeutsame Wort „Widersacher“ in WiBiLex nach, so wird man auf den Artikel „Satan (AT)“ von Henrike Frey-Anthes (November 2009) ver-
2. Biblische Auslegung wiesen. Im Hebräischen steht wörtlich „als (ein) Satan“. Dieser Begriff oder Name kommt nicht allzu häufig vor. Eine andere Figur, der sich ein von Gott gesandter Widersacher oder Satan entgegenstellt und sie auf die Probe stellt, ist Ijob (Ijob 1,6–12; 2,1–7). Der „Widersacher“ soll in diesem Hypotext durch seine heftige Gewaltanwendung gegenüber Ijob dessen Treue Gott gegenüber auch im Leid prüfen. In der Ijob-Rahmenerzählung besteht Ijob diese Probe. Bleibt man dem Motiv auf der Spur, dass Gott (über eine Mittelsfigur, einen „Satan“ oder „Widersacher“) eines Menschen Treue bzw. Verlässlichkeit auf die Probe stellt, so fällt einem Genesis 22, die „Bindung Isaaks“, als weiterer Hypotext ein. Zwar begegnet dort das Wort „Satan“ bzw. „Widersacher“ nicht, dafür treten drei andere, eigentlich völlig nebensächliche Figuren auf, die zunächst nichts zur Handlung beitragen und auf den ersten Blick ganz unscheinbar sind: ein Tier und „zwei junge Männer“. Vergleicht man im Hebräischen Gen 22,3 und Num 22,22, so ist es einmal ein Esel, einmal eine Eselin, aber die Begleiter werden mit dem identischen Wortlaut benannt, was die Übersetzungen leider oft unnötig verschleiern („Diener“, „Knechte“). Die nächste Verbindung zwischen Num 22,21–35 und Gen 22,1–19 ist das signifikant häufig vorkommende Wortfeld „sehen“. Und schließlich ist es der „Engel des HERRN“, der in beiden Geschichten den Willen Gottes aufdeckt. Die durch den Begriff „Widersacher“ („Satan“) über die Erprobung Ijobs vermittelte Verbindung zwischen Num 22,21–35 und Gen 22,1–19 hat somit mindestens drei auffällige Bezugsindikatoren: die „zwei jungen Männer“ als unbeteiligte Nebenfiguren, das Wortfeld „sehen“ und der „Engel des HERRN“, eventuell noch das Reittier (Esel/Eselin). Diese ähnlichen Motive sind als Anspielung zu werten. Auf dieser Basis kann die Bileam-Geschichte mit seiner Eselin, dem „Engel des HERRN“ und dem Zorn Gottes als Prüfung der Treue und Verlässlichkeit Bileams im Hypertext Num 22,21–35 in Analogie zur Erprobung Abrahams im Hypotext Gen 22 gelesen werden. Obwohl Bileam an sich schon in nächtlichen Visionen mit Gott gesprochen hat, ist sein Sensorium für den Willen Gottes noch nicht fein genug – Bileam sieht das nicht, was die Eselin und der Leser sehen: den Engel des HERRN im Weg Bileams. So prüft Gott Bileam und führt ihn zur Einsicht, noch genauer aufzumerken und ausschließlich das zu tun (Num 22,20) und zu reden (Num 22,35), was Gott ihm sagen wird. Wie Abraham als Gesegneter und im Glauben an Gott Geprüfter und Bewährter aus Gen 22 hervorgeht, so geht Bileam als geprüfter und bewährter Prophet aus der Eselinepisode hervor: Gott hat ihn ausgewählt und erprobt; Bileams Tun und Verkünden wird authentisch den Willen Gottes wiedergeben. In dieser Weise wiederholt Num 22,21–35 die erfolgreiche Prüfung eines Menschen durch Gott unter anderen Bedingungen. Diese Gestaltung der Bileam-Figur ist für die weitere Lektüre der Segenssprüche und Prophetien Bileams von entscheidender Bedeutung. „Die Eselinerzählung ist also kein Störfaktor, sondern die Ouvertüre zur folgenden Segenserzählung“ (B. Schöning, Prüfung, 117). Die Biblische Auslegung von Num 22,21–35 in Verbindung mit Gen 22,1–19 hat dafür die Augen geöffnet.
Die Leistungsfähigkeit der Methode zeigt sich beispielsweise auch daran, welche Bedeutungsfülle der Schluss der Offenbarung des Johannes (Offb 22,6–21) erreicht, wenn man ihn als Abschluss des christlichen Kanons liest (s. dazu T. Hieke; T. Nicklas, „Die Worte der Prophetie dieses Buches“, und T. Hieke, „Biblische Texte als Texte der Bibel auslegen“ fi S. 160).
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung Wissens-Check
1. Was ist mit den Begriffen leserorientiert, textzentriert, Leser und Kanon gemeint? 2. Was bedeuten die beiden Teile der programmatischen Bezeichnung Biblische Auslegung? 3. Wie geht man beim analytisch-beschreibenden Schritt vor? 4. Wie geht man beim synthetisch-interpretierenden Schritt vor? 5. Welche Bedeutung hat die gewählte Kanonausprägung für die Biblische Auslegung?
3. Weitere Kontextualisierungen Für die Biblische Auslegung ist die jeweils zugrunde gelegte Kanonausprägung (Bibel) der privilegierte Kontext, in dem primär nach Text-Text-Relationen gesucht wird. Das bedeutet aber nicht, dass der Untersuchungstext nicht auch noch mit anderen Phänomenen und Texten in Bezug gesetzt werden kann. – Da sich hier ein nahezu unendliches Forschungsgebiet eröffnet, sind hier nur wenige knappe Bemerkungen und eine sehr beschränkte Angabe von Hilfsmitteln möglich.
Historische Kontextualisierung – Biblische Archäologie Zum einen ist die historische Kontextualisierung zu beachten: Wie bettet sich der Text in seine vermutete Entstehungszeit ein? Diese Frage schließt an die Methodenschritte an, die eine Hypothese zur Entstehung und Datierung entwickelt haben (v.a. die fi Redaktionskritik, S. 133ff.). Die hier erhobenen Vermutungen können mit den geschichtswissenschaftlich erschlossenen Erkenntnissen über die Geschichte Israels korreliert werden, insbesondere auch mit den aus archäologischen Forschungen gewonnenen Hinweisen. Die Archäologie fördert neben den außerbiblischen Texten (Inschriften, Schriftrollen) vor allem auch Artefakte und Siedlungsspuren zutage. Diese materialen Überreste bezeugen den sozialgeschichtlichen Alltag der Menschen der damaligen Zeit und bereichern unsere Kenntnisse über die kulturelle Enzyklopädie der biblisch gewordenen Texte. Eine kritische Hermeneutik vorausgesetzt und mit dem Wissen um die Gefahren des Fundamentalismus und Biblizismus W im Hinterkopf kann man auch vorsichtig fragen, welche Aussage die biblisch gewordenen Texte über ihre vermutliche Entstehungszeit treffen. Berlejung, Angelika: Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel, in: Gertz, Jan Christian (Hg.), Grundinformation Altes Testament, 4. Auflage, Göttingen 2010, 59–192. Frevel, Christian: Geschichte Israels, Stuttgart 2015. Oswald, Wolfgang; Tilly, Michael: Geschichte Israels, Darmstadt 2016. Zwickel, Wolfgang: Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002. Zwickel, Wolfgang: Das Heilige Land. Geschichte und Archäologie, München 2009.
3. Weitere Kontextualisierungen
Rezeptionsgeschichte (Auswahl) Zum anderen kann der untersuchte Bibeltext mit derjenigen Literatur und anderen künstlerischen Umsetzungen kontextualisiert werden, die ihn – auf welche Weise auch immer – aufgreifen. Hier beginnt die sogenannte Rezeptionsgeschichte. Man kann sie zunächst schlicht beschreiben und den Befund erheben, wo und wie der Text in späterer Literatur rezipiert wurde. Hilfsmittel dazu sind die einschlägigen Kommentare und die weitere Sekundärliteratur, die punktuell, selten umfassend und systematisch, Hinweise auf die Rezeptionsgeschichte anführen. Man kann die Rezeptionsgeschichte ferner daraufhin befragen, welche Verstehensmöglichkeiten die Generationen zwischen der Entstehung des Textes und heute in ihm entdeckt haben. Dadurch kann die eigene Interpretation des Textes durchaus bereichert oder in Frage gestellt werden. Allerdings ist auch die Rezeptionsgeschichte kritisch zu hinterfragen, und eine bestimmte Interpretation eines biblisch gewordenen Textes ist nicht allein schon deswegen „richtig“ oder gar „maßgeblich“, weil sie alt ist oder von einer jüdischen oder christlich-kirchlichen Autorität stammt. Hier ist es notwendig, sich über die hermeneutischen Voraussetzungen der jeweiligen Auslegungsgemeinschaft und ihrer Zeit zu informieren. Dohmen, Christoph; Stemberger, Günter: Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996. Sæbø, Magne (Hg.): Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation (HBOT), 3 Bände, Göttingen 1996–2015.
Frühjudentum Im Frühjudentum gibt es eine ganze Reihe von meist pseudepigraphischen Schriften (Pseudepigraphen (AT)W), die in der Zeit zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. den Texten, die zur Hebräischen Bibel werden, in Auslegung oder Fortschreibung zur Seite treten. Im englischen Sprachraum wird diese Art der Literatur auch Rewritten Scripture genannt. Dazu gehören u.a. die Schriften des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien W (ca. 20 v. Chr. – 50 n. Chr.), da er über weite Strecken die zu seiner Zeit als heilig und normativ geltenden Schriften auslegt, die zur Hebräischen Bibel werden. Der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus (ca. 37 n. Chr. – nach 100 n. Chr.) erzählt in seinem Werk Antiquitates Judaicae (Jüdische Altertümer) die Geschichte Israels und bedient sich dabei vor allem der heiligen Schriften Israels. Auch die Schriften und Fragmente, die man seit 1947 in Qumran W gefunden hat, sind Zeugnisse einer frühen jüdischen Rezeptionsgeschichte derjenigen Texte, die als scripture gelten und normativen, heiligen und kanonischen Charakter haben. Aus der Zeit des Übergangs von der Spätantike zum frühen Mittelalter stammen die Zeugnisse der rabbinischen Literatur, die sich ebenfalls mit der
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VI.
Kontexteinbettung und Biblische Auslegung
Auslegung der Hebräischen Bibel beschäftigt. Zum einen sind hier die dem TalmudW zuzurechnenden Werke zu nennen: die Mischna W, die Tosefta (Ergänzung zur Mischna), der palästinische und der babylonische Talmud. Zum anderen gibt es die Midraschim (Midrasch W): Sie sind halachische (auf die Normen für das Handeln bezogene) und haggadische (erzählende, nicht-gesetzliche) Auslegungsliteratur. Böttrich, Christfried: Art. Pseudepigraphen (AT), in: WiBiLex, Januar 2009. Kümmel, Werner Georg u.a. (Hg.): Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Gütersloh 1973ff. (JSHRZ). Lichtenberger, Hermann; Oegema, Gerbern S. (Hg.): Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit: neue Folge, Gütersloh 2004ff. (JSHRZ.NF). Maier, Johann: Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer (UTB 1862.1863.1916), 3 Bände, München/ Basel 1995–1996. Stemberger, Günter: Einleitung in Talmud und Midrasch, 9. Auflage, München 2011. www.earlyjewishwritings.org (Philo, Josephus u.a. in englischer Übersetzung).
Frühchristentum Zur frühchristlichen Rezeption der Hebräischen Bibel gehört zuerst das weite Feld der Aufnahme alttestamentlicher Passagen und Motive im Neuen Testament. Sodann sind die vielen Schriften der aufkommenden christlichen Theologie zu nennen: die Apokryphen und Pseudepigraphen (z.B. das Petrusevangelium), die Apostolischen Väter (z.B. der Hirt des Hermas, der Erste Klemensbrief, die Didache) und die patristische Literatur (Kirchenväter). Alle diese Schriften beziehen sich immer wieder in sehr unterschiedlicher Weise auf das Alte Testament. Natürlich geht die Rezeption der Bibel in Judentum und Christentum über die Spätantike hinaus weiter und prägt viele verschiedene Auslegungen und Theologien. Einen ersten Überblick dazu kann man sich in dem dreibändigen Werk „Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation“, hg. von M. Sæbø (s.o.), verschaffen. Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster/Westfalen (Hg.): Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland), 28. Auflage, Stuttgart 2013. Der Anhang III, „Loci citati vel allegati“, enthält das Register der Zitate und Anspielungen aus dem Alten Testament, den Apokryphen und den nichtchristlichen Schriftstellern. Biblia patristica: index des citations et allusions bibliques dans la littérature patristique (mehrere Bände seit 1975). Kommentarreihen: „Blackwell Bible Commentaries“; „Ancient Christian Commentary on Scripture“; „Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament – Schriftauslegung“ (zu Judentum und Christentum). www.earlychristianwritings.org.
3. Weitere Kontextualisierungen
Bildende Kunst, Musik und Literatur Schier unerschöpflich ist das Feld der Rezeption der Bibel in der Kunst aller Zeiten, in der Musik und in der Literatur. Man kann zunächst die Art und Weise identifizieren, wie ein biblischer Text oder eine biblische Figur aufgegriffen wurde. Ferner ist zu fragen, welche Aspekte des Textes, der Figur oder des Motivs weggelassen, weniger gewichtet oder besonders akzentuiert werden. Oft ist es dabei hilfreich, die Übersetzung zu analysieren, die die Künstler, Komponisten und Autoren ihren Werken zugrunde gelegt haben. Gerade auf der Basis einer methodengeleiteten Exegese einer Perikope ist es möglich, präziser zu bestimmen, welche Sinndimensionen eine Künstlerin bzw. ein Künstler besonders stark gemacht hat und welche eher vernachlässigt wurden. Stets gilt es dann auch, das Neue zu entdecken, das die künstlerische Umsetzung dem biblischen Text hinzufügt. Kircher, Bertram: Die Bibel in den Worten der Dichter, 2. Auflage, Freiburg i.Br. 2006. Long, Siobhán Dowling; Sawyer, John F.A.: The Bible in Music. A Dictionary of Songs, Works, and More, Lanham et al. 2015. Schipperges, Thomas: Musik und Bibel, Band 1: Altes Testament. 111 Figuren und Motive, Themen und Texte, 2. Auflage, Kassel u.a. 2013. Schmidinger, Heinrich (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, 2 Bände, Mainz 1999. Schöpflin, Karin: Die Bibel in der Weltliteratur (UTB 3498), Tübingen 2011. Seidl, Theodor: „Wacht auf, Harfe und Saitenspiel“ (Ps 108,3). Das Alte Testament in Kompositionen des 20. Jahrhunderts (ATSAT 96), St. Ottilien 2013. Stern, Max: Bible & Music. Influences of the Old Testament on Western Music, Jersey City 2011. Stern, Max: Psalms & Music. Influences of the Psalms on Western Music, Jersey City 2013. Stock, Alex: Poetische Dogmatik (mehrere Bände), Paderborn 1995ff. Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI). www.oxfordmusiconline.com.
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VII. Zusammenfassende Interpretation Beschreibung Gesamtaussage
Überarbeitung bisheriger Schritte
Formulierung eines Titels
Prüfstein für methodisches Arbeiten
Lebendige Gesamtanschauung
Am Schluss der exegetischen Arbeit sind die wichtigsten Ergebnisse der einzelnen Methoden zusammenzutragen. Die Auswertung jedes einzelnen Methodenschritts war schon für sich genommen eine Interpretation eines bestimmten Aspekts des Textes. Diese Teilinterpretationen sollen aber nicht für sich stehen bleiben, sondern zu einer Gesamtaussage über den Text zusammengeführt werden. Dabei ist diese zusammenfassende Interpretation kein eigener Methodenschritt. Dementsprechend können hier auch keine neuen Aspekte eingebracht werden. Beim Zusammenschreiben der wichtigsten Beobachtungen, Auswertungen und Ergebnisse kann auffallen, dass noch Fragen an den Text offengeblieben sind. Dann sollte man die betreffenden Methodenschritte noch einmal durchführen, um auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Ebenso kann sich eine genauere Nachforschung lohnen, wenn man entdeckt, dass für eine Gesamtaussage über den Text noch wichtige Elemente fehlen. Die neuen Ergebnisse sollen dann nicht hier nachgetragen werden. Vielmehr können sie im Zuge einer Überarbeitung und Erweiterung an der Stelle der passenden Methodenanwendung eingefügt werden. Auf Basis der zusammenfassenden Interpretation lässt sich in der Regel ein aussagekräftiger Titel für die geleistete exegetische Arbeit formulieren, der in wenigen Worten den Kern der Auslegung andeutet. Dass das gelingt, ist auch ein Anzeichen dafür, dass eine Gesamtaussage über den Text erreicht wurde – falls nicht, sind gegebenenfalls noch weitere Überarbeitungen nötig. Die zusammenfassende Interpretation ist kein Ort für eine eigene, unbegründete Meinung zum Text oder für Dinge, die man bisher nicht sagen konnte, aber schon immer einmal sagen wollte. Man würde die bisherige methodische Arbeit entwerten, wenn für die Gesamtaussage dann doch Aussagen wichtig wären, die nicht methodisch zu begründen sind. Insofern ist diese Interpretation auch der Prüfstein dafür, dass man methodisch gearbeitet hat. Die Bezüge zu den einzelnen Methodenschritten sollten dabei deutlich werden. Diese Gesamtauswertung kann relativ knapp ausfallen, in der Regel reicht die Darstellung auf einer Seite. Es hilft sich vorzustellen, jemand hätte nur Zeit eine einzige Seite der ganzen wichtigen exegetischen Arbeit zu lesen; auf dieser einen Seite sollen also die wesentlichen Erkenntnisse zur lebendigen Gesamtanschauung (fi S. 22) des Textes stehen – und auf die vorausgehende Ausarbeitung im Detail neugierig machen.
Zusammenfassende Interpretation
Beispiel: 1 Kön 19 Das folgende Beispiel ist entnommen aus einer der Musterhausarbeiten, die begleitend zu diesem Lernbuch online abrufbar sind (fi Gebrauchsanleitung, S. 9f.). Die Hausarbeit hat den Titel „Anleitung zum Perspektivwechsel: Gottes neue Zuwendung zu Elija (1 Kön 19,1–18)“. 1 Kön 19,1–18 Die Methodenschritte der vorangehenden Kapitel haben den Text aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die Literarkritik hat gezeigt, dass die Perikope thematisch eigenständig ist und nicht unter den Erzählbogen der Dürrekomposition (1 Kön 17–18) gefasst werden kann. Dennoch, so das Resultat der Kontexteinbettung, bestehen motivische und thematische Bezüge, über die 1 Kön 19,1–18 an die vorangehenden Erzählungen über Elija anknüpft, etwa die Speisung Elijas durch Gottes Wirken oder der Abfall Israels vom HERRN. Der Text schildert eine existenzielle Krise des Propheten Elija, die in einem in seiner Direktheit einzigartigen Todeswunsch Ausdruck findet. Gott führt Elija aus dieser Krise heraus, indem er sich ihm persönlich zuwendet und ihn zum Perspektivwechsel anleitet. Ein Prozess zunehmender Zuwendung Gottes zu Elija von der Speisung durch den Engel über die ungewöhnliche Theophanie bis hin zum persönlichen Gespräch strukturiert die Perikope. Sie ist räumlich und erzählerisch auf einen Höhepunkt ausgerichtet, die Begegnung am Horeb. Der Gottesberg Horeb bringt als wichtiger Ort des Glaubens Israels die Sinaitradition in den Text ein und stellt damit Anfang und drohendes Ende der Beziehung Gott – Israel einander gegenüber. Einzelne Motive parallelisieren Elija mit Mose und verleihen so seiner Gotteserfahrung größte Bedeutung. Am Horeb macht Elija eine außergewöhnliche Gotteserfahrung. Die Gegenwart des HERRN wird deutlich von den traditionellen Theophanieelementen Wind, Erdbeben und Feuer abgegrenzt. Diese scheinbar eindeutigen Machterweise Gottes sind nicht (mehr) die Manifestationen seiner Gegenwart. Ihnen folgt eine Erfahrung Elijas, die vieldeutig und paradox formuliert ist (19,12c). Die Erfahrung bewirkt, dass Elija aus der Höhle tritt, und ist somit Voraussetzung für sein Gespräch mit Gott und seine neuerliche Beauftragung. Die Wendung „der Ton eines leisen Wehens“ spiegelt die Abwesenheit von Gottgewissheit, eine Erfahrung der Offenheit, womöglich einen Nachhall von Elijas Kraftlosigkeit und Verzweiflung unter dem Ginsterbusch, in der Elija nun rückblickend Gottes Nähe erahnt. Diese Erfahrung ist für Elija neu, sie ergänzt sein Gottes- und sein Selbstbild und ermöglicht ihm eine neue Perspektive auf seine Situation. Der Text lädt seine Leser ein, diese Erfahrung nachzuvollziehen. Zugleich macht die Gotteserfahrung Elijas deutlich: Der HERR ist ganz anders als Baal, er ist viel mehr als ein Wettergott; seine Gegenwart ist auf verschiedene Weisen erfahrbar und zugleich mit keiner menschlichen Erfahrung, auch nicht mit der Erfahrung der Naturgewalten, gleichzusetzen. Sie ist nur umschreibbar mit einer Formulierung, die widersprüchlich ist, vorsichtig und vollkommen offen.
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Literaturverzeichnis Bibelausgaben
Konkordanzen
Wissenschaftliche Ausgaben der originalsprachlichen Texte
Zur hebräischen Bibel
Biblia Hebraica Stuttgartensia cooperantibus Hans Peter Rüger et Joseph Ziegler ediderunt Karl Elliger et Wilhelm Rudolph, ed. 5. emendata opera Adrian Schenker, Stuttgart 1997 (BHS). – Eine neue textkritische Ausgabe der Biblia Hebraica entsteht inzwischen unter dem Namen Biblia Hebraica Quinta (BHQ). Von ihr sind schon mehrere Faszikel erschienen (Stuttgart 2004ff.). Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, hg. von Alfred Rahlfs, 2 Bände, 8. Auflage, Stuttgart 1965. Aktuelle Handausgabe in einem Band: Septuaginta Editio altera, hg. von Robert Hanhart, 4. Auflage, Stuttgart 2014. Siehe auch die ausführliche kritische Ausgabe: Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931ff. (LXX). – Eine deutsche Übersetzung der Septuaginta wurde von Wolfgang Kraus und Martin Karrer herausgegeben: Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009 (LXX-D). Moderne Übersetzungen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1980; Revisionsfassung 2016. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen (revidierte Fassung), Stuttgart 1984; Revisionsfassung 2017. Zürcher Bibel, Zürich 2007, 2009. Elberfelder Bibel, Elberfeld/Wuppertal/Witten 1985, 2006. Diese Bibeltexte sind online verfügbar auf http:// www.die-bibel.de/ v Bibel v Online-Bibeln. Diese Ausgaben bemühen sich um eine eher urtextnahe Übersetzung. Andere Übersetzungen passen sich mitunter stärker an die deutsche Sprache an und sind deswegen für die Analyse des Textes weniger gut geeignet. Eine hilfreiche Übersicht aller aktuellen deutschen Bibelübersetzungen findet sich unter: https://www.die-bibel.de/ v Bibel v Bibelkenntnis v Wissen Bibelübersetzung v Deutsche Bibelübersetzungen im Vergleich.
Mandelkern, Solomon: Veteris Testamenti Concordantiae: Hebraicae atque Chaldaicae, Leipzig 1896, bearb. v. F. Margolin, Berlin 1925, u. M. GoshenGottstein, Jerusalem 1959, 9. Auflage 1971. Lisowsky, Gerhard; Rost, Leonhard: Konkordanz zum hebräischen Alten Testament, Stuttgart 2. Auflage 1958, 3. Auflage hg. von Hans Peter Rüger, 1993. Even-Shoshan, Avraham: A New Concordance of the Bible. Thesaurus of the Language of the Bible, Hebrew and Aramaic Roots, Words, Proper Names, Phrases and Synonyms, 2nd edition, Jerusalem 1993. Zu deutschen Übersetzungen Schierse, Franz Josef; Bader, Winfried: Neue Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf 1996. Große Konkordanz zur Elberfelder Bibel, Wuppertal u.a. 1993. Große Konkordanz zur Lutherbibel, Stuttgart 1993.
Bibelsoftware Bibelsoftware bietet Bibeltexte und Übersetzungen, setzt die Funktionen von Konkordanzen digital um und hat in der Regel ausgefeilte Suchfunktionen. An dieser Stelle können nur einige wichtige Produkte genannt werden. Ausführliche Übersichten und Rezensionen sind unter http://bibelsoftware.theologie.unimainz.de/ zusammengestellt. Accordance 12, Bible Software, Oak Tree Software, Inc. Bible Works 10, Software for Biblical Exegesis and Research, Bible Works LLC. Logos 7 / Verbum 7, Faithlife Corporation (Logos Bible Software).
Literaturverzeichnis MFChi, Rahmenprogramm zu den Modulen der Reihen „CD-ROM Bibel Edition“ und „Bibel digital“. Ingenieurbüro M. Frey. Deutsche Bibelgesellschaft.
Lexika Geordnet nach hebräischen Stichwörtern Botterweck, Gerhard Johannes et al. (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 10 Bände, Stuttgart 1973–2000. (ThWAT) Jenni, Ernst; Westermann, Claus (Hg.): Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 2 Bände, München 1971–1976. (THAT) Geordnet nach deutschen bzw. englischen Stichwörtern Bauks, Michaela; Koenen, Klaus (Hg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www. wibilex.de). Betz, Otto; Ego, Beate; Grimm, Werner (Hg.): Calwer Bibellexikon, 2 Bände, Stuttgart 2003; 2. völlig überarbeitete Auflage 2006. Freedman, David Noel et al. (eds.): The Anchor Bible Dictionary, 6 volumes, New York 1992. Görg, Manfred; Lang, Bernhard (Hg.): Neues BibelLexikon, Zürich u.a. 1988–2001. Kogler, Franz (Hg.): Herders Neues Bibellexikon, Freiburg i.Br. 2008 (mit CD-ROM).
Einleitungswerke Zenger, Erich u.a.: Einleitung in das Alte Testament, 9. Auflage hg. von Christian Frevel, Stuttgart u.a. 2015 (Erstauflage 1995). Gertz, Jan Christian (Hg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, 4. Auflage, Göttingen 2010. Enthält einen Überblick zur Geschichte und Religionsgeschichte Israels von Angelika Berlejung. Römer, Thomas; Macchi, Jean-Daniel; Nihan, Christophe (Hg.): Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013.
Alle drei „Einleitungen ins Alte Testament“ sind umfassende Standardwerke mit aktuellen Literaturangaben. Sie geben Auskunft zum Aufbau, zur mutmaßlichen Entstehungsgeschichte und zur Theologie der Bücher des Alten Testaments (christliche Perspektive). Liss, Hanna: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 8), 2. Auflage, Heidelberg 2008. Einleitung in die Hebräische Bibel aus jüdischer Perspektive.
Methodenbücher Dohmen, Christoph: Die Bibel und ihre Auslegung (C.H. Beck Wissen 2099), München 2006. Fischer, Georg: Wege in die Bibel. Leitfaden zur Auslegung, Stuttgart 2008. Meurer, Thomas: Einführung in die Methoden alttestamentlicher Exegese (Theologische Arbeitsbücher 3), Münster 1999. Utzschneider, Helmut; Nitsche, Stefan Ark: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, 4. Auflage, Gütersloh 2014. Zwickel, Wolfgang: Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde, Darmstadt 2002.
Kommentarreihen Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT) Biblischer Kommentar (BK) Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament (NSKAT) Das Alte Testament Deutsch (ATD) Zürcher Bibelkommentar (ZBK) Handbuch zum Alten Testament (HAT) Die Neue Echter Bibel (NEB) The Smyth & Helwys Bible Commentary Word Biblical Commentary (WBC) Internationaler Exegetischer Kommentar zum AT (IEKAT/IECOT) (neu, bisher nur wenige Bände)
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Literaturverzeichnis
Abkürzungen BILDI BHS BHt ELB EÜ
Bibelwissenschaftliche Literaturdokumentation Innsbruck (fi S. 25) Biblia Hebraica Stuttgartensia Biblia Hebraica transcripta (fi S. 29) Elberfelder Bibel Einheitsübersetzung
LBH LUT LXX ZB WAM
Lexikon der Bibelhermeneutik (fi S. 21) Lutherbibel Septuaginta Zürcher Bibel Wörterbuch Alttestamentlicher Motive (fi S. 126) WiBiLex Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet
Bibelstellenregister Gen 2 35 Gen 4 33 Gen 15 65, 116 Gen 23 143 Ex 3 37, 50, 52, 61, 70, 77, 127, 144 Ex 4 38, 144 Lev 1 67 Num 22 79, 81, 160 Ri 14 43, 45, 138 1 Sam 17 42, 66, 108, 111 2 Sam 2 57 2 Sam 11–12 109, 112 1 Kön 19 127, 167 2 Chr 5 68 Neh 8 39
Ijob 1 67 Ps 1 89, 110, 156–158 Ps 7 146 Ps 13 102, 111 Ps 26 53, 82, 92 Ps 30 63 Ps 80 58, 69 Ps 117 29, 121 Ps 137 136 Hld 3–4 64 Hos 14 156–158 Am 9 128 Jona 1 64 Mal 3 152
Stichwortregister Abgrenzung 34, 37, 39 Abschnittswechsel (Kriterien) 49 Ambiguität 86 Anspielung 155–156, 159 Äquivalenz 88, 91–92, 108 Archäologie 61, 127, 162 Äußerungseinheit 28–29 Autor, impliziter 106–107 Bibelsoftware
87, 89–90, 115, 126, 154, 159, 168 Bibelwissenschaft 17–19
Datierung 135, 137 Deixis 65
Leerstelle 56 Leitwort 86, 126 Leser (implizierter, impliziter, realer) 106, 148 literary criticism 41 Literaturgeschichte 135, 138 Methode
13 Methodenabfolge 15–16 Motiv 123, 125–127
Neutestamentliche Redaktionskritik Parallelismus Membrorum
Echo
155–156, 159 Exegese 13 Exegetisch argumentieren 18
Formel
Kontrast 88, 91–92, 108
115
137
72
Perikope 36 Psalterexegese 144
Redaktor
134
Sekundärliteratur, exegetische
Gattung
118, 121, 136 Geprägte Sprache 87, 113, 115–116, 120 Geprägte Wendung 115, 117 Geprägter Zug 123 Geprägtes Bild 123 Geprägtes Schema 115, 117 Geprägtes Thema 123, 127
24 Sitz im Leben 119, 121, 136 source criticism 41 Sprechakte 94–98, 101 Strukturbeschreibung 75, 77–78, 80
Teiltexte
14 Interpretation 13 Intertextualität 116, 126, 148–149
44, 133–134, 138 terminus a quo/post quem 136 terminus ad quem 136 Text 11–12, 47 Textbildungsmuster 118, 155 Textsorte 118 Tradition 124–125, 128 Typik des sprachlichen Ausdrucks 114
Kanon
Überschrift (Formulierung)
Hypertext, Hypotext
153–156
Intentio auctoris, lectoris, operis
19–20, 149–150 Kanonausprägung 20, 142, 148, 150, 152, 159 Kapiteleinteilung 35 Kohärenz 34, 41, 44–45, 133 Kommentar 23–24, 27, 164 Komposition (Redaktionskritik) 134 Komposition (Struktursynthese) 75–77 Konkordanz 87–88, 115, 126, 154, 159, 168 Kontextbildende Funktionen 54
50 Übersetzung 20, 24, 26–27, 71, 168
Verseinteilung
35 Vieldeutigkeit 86
Wortfeld Zitat
88, 91–92, 126, 161
155–156, 159