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German Pages [161] Year 2017
Holger Zaborowski
Menschlich sein Philosophische Essays
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495818152
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Holger Zaborowski Menschlich sein
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen leben nicht einfach nur. Sie führen ihr je eigenes Leben. Sie müssen sich daher auch je neu damit auseinandersetzen, was es bedeutet, als Mensch zu leben, menschlich zu sein. Die verschiedenen Texte dieses Bandes unternehmen Annäherungen an diese Frage und zeigen verschiedene, einander ergänzende Dimensionen des Menschseins: die Herausforderung der Freiheit und die Sehnsucht nach Vorbildern eigentlicher Menschlichkeit; die Erfahrung der Freude und die Bejahung der Wirklichkeit; das Verhältnis von Mensch und Tier und die Aufgabe, neu die Gemeinsamkeiten des Lebendigen zu bedenken; die Kunst des Lebens und des Sterbens; die Entdeckung der Würde jedes Menschen und die Identität Europas; die moralische Herausforderung durch Flucht und Vertreibung; die Hinordnung des Menschen auf Wahrheit und Freiheit und den unbedingten Ort der Universität und die Möglichkeit des Glaubens in Vernunft und Freiheit. Ergänzt werden diese Überlegungen durch einen Text, der Nietzsche und seine Bedeutung in den Vordergrund stellt und dabei Herausforderungen gegenwärtigen Menschseins aufweist.
Der Autor: Holger Zaborowski, Promotionen in Theologie (Oxford) und Philosophie (Siegen), war von 2005–2011 Professor an der philosophischen Fakultät der Catholic University of America in Washington, D.C. Seit 2012 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Mitherausgeber des Heidegger-Jahrbuchs und des Jahrbuchs für Religionsphilosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen.
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Holger Zaborowski
Menschlich sein Philosophische Essays
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Marina Ignatova – Fotolia Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48815-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81815-2
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Inhalt
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit. Zur Herausforderung, ein Mensch zu sein . . . . . . . .
7
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit. Zum Geschenk erfüllter Zeit . . . . . . . . . . . . . . .
17
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens. Zur Aufgabe einer neuen Ökologie . . . . . . . . . . . .
37
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens. Zur Verantwortung für den anderen Menschen . . . . . .
55
Die europäische Krise, die Grenzen des Pragmatismus und die Würde des Menschen. Zur Identität Europas . . . . .
73
Flucht, Vertreibung und die Gabe der Hoffnung. Zur Verantwortung Europas . . . . . . . . . . . . . . .
93
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen. Zur Krise der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott. Zur Kritik des »neuen Atheismus« . . . . . . . . . . . . 129 Der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr und das Philosophieren mit dem Hammer. Zur Wirkung Friedrich Nietzsches . . . . . . . . . . . . 147
5 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Inhalt
Nachwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . 157
6 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit Zur Herausforderung, ein Mensch zu sein
Es war einmal … »Helden« – allein das Wort macht verlegen, lässt ein wenig verschämt nach unten oder zur Seite schauen. Wer wollte noch von »Helden« sprechen, sie gar preisen oder besingen? Ob Helden überhaupt noch einen Ort in der Gegenwart haben? Und wer das sein könnte – ein Held, heute, in heldenskeptischen Zeiten? Es ist kaum möglich, diesen Fragen zu entgehen, wenn man über Helden spricht. Doch zunächst blickt, wer »Held« sagt, zurück, bewegt sich im Vergangenen, gräbt in den Schatzkisten der Mythen und Legenden und stößt im Kuriositätenkabinett großer und kleiner Erzählungen auf manch Skurriles und Groteskes. Neben den altbekannten, oft auf ihre bloße Heldenhaftigkeit reduzierten Heroen stehen die Helden zweiter Garde, weniger illuster, weniger verehrt, aber auch weniger toterinnert. In einem gemeinsamen Heimweh, in ihrer Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt treffen sich bekannte und unbekannte Helden, Männer und Frauen, in denen ein Feuer brannte, das sie oft von innen heraus verzehrte und schnell verglühen ließ. Odysseus und seine Gefährten winken über die Zeiten hinweg den Helden moderner Revolutionen und Abenteuerfahrten zu. Freundlich grüßen David, der seinen Mut gegen Goliath bewies, 7 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
und Johanna, die heilige Jungfrau, und andere Heldinnen und Helden eines Widerstands gegen die Mächtigen und Unterdrücker, der oft erfolglos, nie aber sinnlos war. Manche von diesen Helden haben in dunklen Jahren die Ehre der Menschheit gerettet. Diese Heldinnen und Helden bleiben von Bedeutung, Vorbilder auch für die Zukunft. Doch nicht wenige Helden der Geschichte sind uns Heutigen fremd geworden. Sie sind erstarrt; ihr Handeln wird kaum noch verstanden. Freilich, ein bunter Kreis käme zusammen, wenn sich die Heldinnen und Helden aller Zeiten versammelten. Schwerter lägen neben weißen Rosen; Helme ruhten auf Büchern, die Heldinnen und Helden des Wissens und der Gelehrsamkeit geschrieben haben – um der Wahrheit willen, gegen das, was der herrschende Geist ihnen und allen anderen vorschrieb, gegen Lug und Trug und eitle Meinungen, die vor der Geschichte keinen Bestand haben sollten. Insgesamt nur wenige Frauen würden sich in dieses heroische Symposium verirren. Das Heldenhafte stehe ihnen nicht, so lässt sich vernehmen, männlich müsse der Held sein. Sie hätten, so äußern manche, andere Aufgaben oder Begabungen. Doch seien sie, so hört man auch (und ganz zu Recht), durchaus heldenhaft, nur eben anders, oft übersehen, selbstloser, weniger an Nachruhm als vielmehr an dem, was unmittelbar Not tue, interessiert. Doch ehe man sich versieht, zeigt das elysische Idyll Brüche, Schatten, Dissonanzen. Im Hintergrund sitzen andere, traurigere Helden, jene, die einen sinnlosen Heldentod starben, die sich in jungenhaftem Übermut verheizen ließen, deren phantastische Siegesgewissheit, ehe sie wieder zu Sinnen kamen, in panische Angst umschlug, die auf dem Altar der Geschichte und großer Ideale geopfert wurden – allein gelassen im Dreck, mit leeren Augen in 8 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
ein verstummtes Himmelszelt stierend, ohne Hoffnung auf ein blumengeschmücktes Grab. Kein geordneter Kosmos mehr, kein wohlwollender Gott über ihnen, nur noch ein fernes, sich in einem kalten Unendlichen verlierendes Echo ihrer letzten, tierischen Schreie, ein unvollendeter Brief an die Liebste, die bangen Eltern in der Seitentasche. Der Held, so zeigt dieser Blick auf sein vergangenes Reich, gehört – trotz mancher, die bleiben werden – zu einer aus- und absterbenden Art, ist in der Krise, war einmal …
Heldenentzug In der Erinnerung leben Helden zunächst noch weiter. Und es geht ihnen dabei nicht schlecht: Ihr Konterfei ziert Briefmarken und prächtige Bildbände, in Marmor stehen sie am Straßenrand, auf Plätzen und in zugigen Ecken. Gelegentlich noch gönnt man ihnen einen Kranz, ein Memento, einen Straßennamen. So überlebt der Held, domestiziert durch den Blick der Historiker und Literaturwissenschaftler, die ihn kategorisieren, auf den Begriff bringen, hegen und pflegen, durch das Auge der Filmkameras, die ihn stilisieren und ihm in ihrer Suche nach dem Archetypischen, dem Idealen, alles wegschleifen, was ihm ein eigenes Gepräge, den Reichtum eigener geschichtlicher Existenz gegeben hätte, oder durch feierliche Gedenkstunden und wortreiche Sonntagsreden, die schnell vergessen sind und einem unheroischen Alltag weichen. Verniedlichen lässt er sich auch, der Held, tauglich für Gute-Nacht-Geschichten oder für ein kurzes Lied, das heldenhaften Mut zu beschwören versucht – ein Abgesang 9 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
auf die großen Gestalten, von denen einst Epen kündeten. Dann entschwinden sie langsam ganz, werden hier und da spielerisch noch zitiert, auch wenn man sich ihrer nur noch blass erinnert, spielen in der Werbung, im Karneval, in virtuellen Spielwelten noch eine kleine, nur bescheidene Rolle und gleiten in eine andere, nicht mehr zugängliche Welt hinüber.
Nach dem »Tode Gottes« … Heilige gibt es, weil es Gott gibt. Ohne Gott keine Heiligen. Daher ist jeder heilige Mensch ein lebendiger Beweis Gottes. Doch irgendwie gilt dies auch für Heldenmenschen, von denen manche einst sogar zwischen den Göttern und den Menschen standen. Nur wo Gottes Existenz wahrgenommen wird, so scheint es, können Helden noch sein, was sie sein sollen. Wo es keinen Bezug zu Gott mehr gibt, wo, wie Friedrich Nietzsche vermutete, Gott tot ist, wo sich kein Sinn mehr zeigt, für den es sich zu leben, aber auch zu sterben lohnte, versiegen auch die Quellen der Helden. Was kann man – nach dem Tode Gottes – auch mit Helden noch anfangen? Was können Helden noch mit heutigen Menschen – die für sie zu spät kommen – anfangen? Wie könnten sie das, was sie taten, was sie groß machte, noch erklären oder verständlich machen? Helden müssten nämlich alte, grau gewordene Worte nutzen, von Ehre reden und von Größe, von Demut, aber auch von Pflicht; sie müssten von dem einsamen Ruf ihres Gewissens, der stillen Gewissheit, nicht anders zu können, sprechen. Und sie könnten nicht anders, als ein Wort zu wagen über das Opfer und über jenen Anspruch, der auch 10 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
das Risiko, das Leben zu verlieren, rechtfertigte. Wo Gott fehlt, wo alles sinnlos erscheint und trotzdem alles möglich geworden ist, sind jene, die Überzeugungen haben, die wissen, was sie tun sollen, die etwas oder gar sich selbst opfern, die Dummen. Das Opfer scheint dann nämlich nur noch sinnvoll innerhalb der Logik der Selbststeigerung, der permanenten Arbeit an sich selbst. Dann aber hat es einen anderen Namen. Es geht nur noch um Investitionen, um die Kalkulation auf das eigene Vorankommen und einen allzu vergänglichen Ruhm. Wird nämlich Gott als tot erfahren, nehmen Menschen seine Stelle ein und verstehen sich selbst, den bloßen Durchschnitt aller Menschen, als Maß aller Dinge. Helden, die ein anderes Leben kennen und unter anderen Menschen herausragen, stören da nur. Was stattdessen bleibt und sich in ihrem langsam verblassenden Scheine sonnt, sind die Stars und Sternchen, die Eintagsfliegen gleich sich ins Scheinwerferlicht drängen, sind Dschungelkönige und Supermodels, sind Mädchenschwärme und Altherrenphantasien.
Helden, Antihelden … Bleiben nicht auch die Antihelden? Denn wo könnten sie bedeutsamer sein als dort, wo jene, von denen sie sich absetzen, als deren Gegenteil sie erscheinen, nur noch eine untergeordnete, eine langsam verblassende Rolle spielen? Es gibt einige Anzeichen dafür, dass das postheroische Zeitalter noch nicht das post-antiheroische Zeitalter ist, dass zumindest im Modus der Negation der Held überlebt hat. Wo heute Helden gefeiert werden, im (Super-)Helden11 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
Film etwa, ist die Grenze zwischen Held und Antiheld fließend geworden. Wenn ein Held zu heldenhaft agiert, gleitet er schnell ins Komische ab. Der Held wird zu seiner eigenen Karikatur. Das Tragische und das Komische, das Heldenhafte und sein Gegensatz sind einander oft so nahe, dass das eine schnell als das andere erscheint. Denn wenn die klassischen Kriterien für den Helden nicht mehr gelten oder gar nicht mehr verstanden werden, wirkt, wer sein Leben an ihnen ausrichtet, allein schon deshalb wie ein Besucher aus einer anderen Zeit. Daher sind Kriegsfilme oft – nicht selten auch wider Willen – Antikriegsfilme. Nicht zuletzt zeigt sich doch das Ganze, der Rahmen, der Heldenhaftes überhaupt möglich macht, als zutiefst fragwürdig. Nicht selten wird dem Helden daher sein Heldsein ausdrücklich, ob er es will oder nicht, relativiert. Oft trägt er auch eine Wunde, eine Verletzlichkeit, die ihn als gar nicht so göttergleich erscheinen lässt. Andere Helden der Gegenwart umgibt der Ruf des Hochstaplers. Oder der Held ist – wie James Bond in jüngerer Zeit – so übermenschlich heldenhaft, dass das heroische Epos urkomisch wird. Wer auch immer ein solches erzählt, tut dies mit einem Augenzwinkern, spielt mit den Erwartungen und Traditionen, lässt das Heldische und Antiheldische in trauter Zweisamkeit auf die Bühne treten. Der postmoderne Held hebt sich also selbst auf, während anderswo der Antiheld auf einmal als Held erscheint – vielleicht deshalb, weil er in Wort und Tat oder einfach durch eine schlichte Klarheit, dadurch, dass er anders, als er ist, gar nicht sein kann, die Maßstäbe des Heldenhaften in Frage stellt. Dick und Doof sind – weder schön noch klug – sowohl Antihelden als auch Helden. Das gilt auch für Donald Duck aus Entenhausen oder für jene, die nur zufällig zu Helden werden oder die gar nicht merken, dass 12 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
sie Heldenhaftes getan haben und sich ob der Verehrung, die ihnen plötzlich entgegengebracht wird, nur wundern. Der Antiheld ist lebendig – doch, wie man vermuten kann, nur auf Kosten, nur im Gegenüber des Helden. Ihm scheint ein längeres Leben beschieden, ein längeres Echo in postheroischen Zeiten. Doch kann man vermuten, dass, je weiter der Held in die Vergangenheit rutscht, dieses Schicksal auch mehr und mehr den Antihelden widerfahren wird. Übrig bleibt dann unverstandene Komik, ein wohlfeiles Spiel, dem kaum noch der Name der Komödie gerecht wird. Denn ohne heldenhafte Tragödien gibt es auch keine Komödie mehr, sondern nur noch albernen Schabernack. Kein Held ohne Antiheld. Aber auch kein Antiheld ohne Held. Was aber bleibt dann? Nur noch Spuren, die darauf, was einst mal war, verweisen?
Eigentlich leben Die Sehnsucht bleibt, ein Verlangen, das sich kaum stillen lässt: nach Helden, die das Leben lebenswert machen, deren bloße Existenz einem die Gewissheit schenkt, dass der Unsinn nicht das letzte Wort behält, dass, was immer auch geschieht, nicht sinnlos, sondern gut ist. Nicht etwa, weil die Helden selbst Quelle des Sinns wären, sondern weil sie etwas bezeugen, auf etwas hinweisen, auf jenen Sinn, der Menschen leben lässt – und sterben. Anders könnte man die Omnipräsenz von Helden und Heldinnen in der Gegenwart nicht erklären, jenes Phänomen wider den Trend, dass, je weniger heldenhaft und heldenwürdig die Zeiten werden, umso mehr ihre vergangene Größe und Blüte in Erinnerung gerufen, ja, beschworen wird. 13 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
Sehnsucht nach Helden – bedeutet das eigentlich nicht: Sehnsucht nach ganz anderen Helden? Sehnsucht nach neuen Helden, die ihre Rüstung abgelegt haben? Heldinnen und Helden der Zukunft, jenseits der Klischees, Helden die zeitgemäßer sind, vielleicht auch menschlicher und dem heutigen Menschen näher? Heldinnen und Helden, die das Beste ihres Erbes bewahren und doch mitten im Jetzt stehen? Vielleicht ist das jetzige Zeitalter dann nicht einfach postheroisch, sondern jenes Zeitalter, in dem heldenhafte Menschen noch kommen werden, in dem sie nicht einfach einmal waren, sondern immer noch erwartet werden: als Versprechen oder Verheißung. Leicht könnte man von hier den Sprung zu einem nietzscheanischen Übermenschen wagen, einem neuen Menschen, dem besseren Menschen, von dem uns die Wissenschaften, die Technologien des Selbst und der Gesellschaft allzu gern ein Lied singen. Doch wäre das ein Held der Zukunft oder nicht einfach die Wiederholung eines bestimmten Heldentypus, der seine Zeit gehabt hat – und zwar zu Recht? Man könnte den Heldenmenschen der Zukunft auch anders verstehen, nicht als außergewöhnlichen Menschen – als besonders aufgrund von Eigenschaften, die modern sind –, nicht als besseren Menschen – als besser, wie auch immer Wissenschaft, Technik, Politik, Gesellschaft oder Religion menschliches Besser-Sein definieren –, sondern als eigentlichen Menschen, als jenen Menschen, der zu einem Bild dessen, was Menschsein eigentlich heißt, geworden ist, der einfach nur – nicht mehr, nicht weniger – Mensch ist, so, wie man über einen Menschen sagt: »Das war ein Mensch!« Wer so Mensch ist, ist auch ein Vorbild, aber nicht, weil er mehr als ein Mensch wäre, sondern weil er, was 14 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
selten genug vorkommt, einfach nur ist, was jeder Mensch sein soll. Das ist ein wichtiger Unterschied. Nicht jeder Mensch, ganz abgesehen von der Frage, ob das heute noch zeitgemäß wäre oder nicht, kann oder soll Übermenschliches vollbringen und ein Odysseus, Siegfried oder James Bond sein. Aber jeder Mensch kann und soll Mensch sein, also in seinem Leben dem, was er sein könnte, möglichst nahekommen. Und da Menschen immer wieder davor zurückschrecken, sie selbst zu sein, gehört Mut dazu, ein Selbst, ein Mensch zu sein. Diese Herausforderung stellt sich je neu, man wird nie mit ihr fertig: der Held, der aus der Zukunft auf uns zu kommt und der im Reich des Möglichen, des Offenen, des Überraschenden sein Zuhause hat. Eigentlich sind solche Helden keine gänzlich Unbekannten. Manch klassischer Held ist auch ein solcher Held der Zukunft – und manch Antiheld ebenso. Aber nur selten hat man diese Helden des Menschseins ausdrücklich Helden genannt. Ja, sie sind oft noch nicht einmal die berühmt-berüchtigten »Helden des Alltags«. Sie sind Helden ganz anderer Art. Helden des Gewöhnlichen, des Einfachen, der überzeugten Tat, aber auch des beherzten Sein-Lassens. Sie verdichten in ihrer Existenz eigentliche Menschlichkeit. Sie haben den Geschmack der Freiheit verspürt, das Wagnis, sich entscheiden zu müssen, und fliehen nicht vor der Verantwortung gegenüber sich selbst, den anderen Menschen, der Welt. Verwundbar sind sie. Nichts Besonderes wollen sie sein. Sie gehen ihren Weg, ohne herrschen oder alles durchschauen zu wollen, manchmal führt er auf die Höhe, dann wieder in die Tiefe, nicht selten auch in die Irre, bis in Verzweiflung und Einsamkeit hinein. Sie versuchen, hin und wieder ein eigenes, ein wahres Wort zu sprechen, einen Satz, den es nie zuvor 15 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit
gab. Sie lieben die Frische des Morgens. Das Versprechen eines neuen Anfangs nehmen sie dankbar an. Sie freuen sich über das Licht der mittäglichen Stunde, die Wärme der Sonne, die Wende vom Wachsen zum Vergehen, die Rast auf oft mühsamer Wanderschaft. Sie verweilen gerne in der Dämmerung, die einen Blick zurück erlaubt und stille werden lässt. Und sie fürchten sich nicht vor der Dunkelheit der Nacht, die sie in sich selbst finden und dort, wo das Sein keinen Grund mehr hat und sie in ein Nichts schauen lässt, das alle Fülle in sich bergen könnte. Dort, an diesem »Unort«, könnte es auch sein, dass der alte, tot geglaubte Gott sich noch einmal zu Wort meldet und sie anspricht, zärtlich vielleicht, und sie bittet, ein kleines Stück ihres Weges mitgehen zu dürfen.
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Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit Zum Geschenk erfüllter Zeit
»Allen gegenüber werde ich meine Schuldigkeit tun, denn ich schulde meine Freude allen.« 1 Pablo Neruda
Freude ist kein Spaß. Wer sich freut, erfährt Einheit, Sinn, sagt »Ja« zu allem, was ist. Sie lässt sich nicht machen, sie ereignet sich. Doch was bedeutet dies: Ereignis der Freude? Und warum geschieht die Freude nicht einfach nur in der Zeit, sondern schenkt eine eigene Zeit?
Freude versus Spaß Insbesondere jene Worte, die im alltäglichen Leben des Menschen eine große Rolle spielen, sind in ihrer genauen Bedeutung oft nur schwer zu fassen. Jeder Versuch, sie zu definieren, sieht sich angesichts des Reichtums des gelebten Lebens, der Vielfalt möglicher Bedeutungen und der feinen, vom jeweiligen Kontext abhängigen Nuancierun-
Pablo Neruda, »Ode an die Freude«, in: Pablo Neruda, Elementare Oden (1954), übersetzt von Erich Arendt, jetzt in: Das lyrische Werk, hrsg. von Karsten Garscha, München 2009, 308–311. 1
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Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
gen vor großen Herausforderungen. Manchmal können diese Worte sogar ganz unterschiedliche, wenn nicht widersprüchliche Bedeutungen annehmen. Sie zeigen nicht nur die Spuren einer langen, durch mannigfache Einflüsse geprägte Wortgeschichte, sondern auch regionale oder anders begründete Differenzen. Oft kann man sich ihren Bedeutungen nur nähern, wenn man sie von anderen Worten mit einer ähnlichen Semantik absetzt. Im Unterschied zu Anderem und Verwandtem wird dann langsam ein Bedeutungskern sichtbar. Nicht zuletzt gilt dies auch für jenes Wort, das im Folgenden im Vordergrund steht, die Freude nämlich, und somit ebenfalls für die Worte oder Phänomene, die von diesem Urwort abgeleitet sind, wie zum Beispiel das Sich-Erfreuen, das Erfreuliche oder das Freudvolle. Was also bedeutet dies – »Freude«? »Freude« verweist auf etwas, das in der Nähe des Spaßes und der guten Laune anzusiedeln ist. Doch hat, wer sich freut, nicht einfach nur Spaß oder gute Laune. In der alltäglichen Sprache wird daher – nicht allein im Deutschen – sehr sorgfältig zwischen Freude und Spaß unterschieden. Spaß hat man, so, als könne man ihn sich nehmen oder gar besitzen. Dass man Freude habe, sagt man zwar auch, aber eher selten. Meistens erfährt man Freude oder man tut etwas freudvoll, mit Freude. Dann geschieht etwas an einem. Man hat nicht einfach etwas in seiner Verfügung. Während man irgendetwas tut, erlebt man zugleich auch Freude. Das könnte bedeuten, dass sich Spaß viel direkter bewirken oder bewerkstelligen lässt, wohingegen Freude eine Art »Nebenfolge« ist, etwas, das man nicht unmittelbar anzielen kann wie den Spaß, sondern das sich aus einem anderen ergibt. Daher kann man sich aufmachen, um Spaß zu haben, wird aber dasselbe nicht machen 18 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
können, um Freude zu erfahren. Es ist deshalb meist nicht schwer zu benennen, was einem Spaß macht. Was einem im Allgemeinen Freude bereitet, ist schwieriger in Worte zu fassen. Man muss oft differenzieren: Nicht das Essen an sich oder jegliche Unterhaltung, sondern ein so und so gestaltetes Mahl oder ein glückendes Gespräch können Gründe zur Freude sein. Und dann wird man feststellen, dass genau dies nicht immer zur Freude führt. Dass manchmal alles wunderbar vorbereitet sein kann, und sich doch die rechte Freude nicht einstellt, wohingegen sie sich zu anderen Gelegenheiten ergibt, bei denen man gar nicht mit ihr gerechnet hätte. Viel stärker, so wird sich noch deutlicher zeigen, ist die Freude von Kontexten, Situationen und Stimmungen abhängig, davon, dass sie sich (er-)gibt. Den Spaß charakterisiert anders als die Freude eine gewisse Schlichtheit und Robustheit. Das ist nicht abwertend gemeint. In jedem Leben hat der Spaß seinen Ort und seine Zeit. Aber diese Koordinaten sind nicht mit den Koordinaten der Freude identisch. Die Freude kommt dem Spaß nahe, reicht aber doch in andere Bereiche, ist weniger kontrollierbar, weniger machbar, feiner, auch zerbrechlicher und unberechenbarer. An die Freude kann man Oden schreiben – Friedrich Schiller und Pablo Neruda haben dies getan. 2 Eine Ode an den Spaß könnte nur ironisch verstanden werden. Man machte sich dann einen Spaß daraus, auf den Spaß selbst die hohen Worte einer Ode anzustimmen. Dem Spaß, so scheint es, ist eine gewisse OberVgl. hier neben der bereits zitierten »Ode an die Freude« von Neruda auch Friedrich Schiller, »An die Freude«, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke 1, Darmstadt 8 1987, 133–137. 2
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Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
flächlichkeit zueigen. Man hat an etwas Spaß: am sportlichen Tun, am munteren Spiel, an einem feucht-fröhlichen Abend. Nicht selten findet der Spaß in sinnlichen Genüssen seinen Grund. An etwas erfreut man sich in der Regel nicht. Man freut sich über etwas. Sollte hier allein schon die Sprache darauf hinweisen, dass, anders als der Spaß, die Freude den Menschen erhebt, ihn über etwas hinausführt und nicht einfach an etwas auf derselben Ebene verweilen lässt? Darauf deutet auch hin, dass es bestimmte, den Menschen besonders über sein alltägliches Leben hinausführende Situationen gibt, in denen es unpassend oder sehr seltsam wäre, von Spaß statt von Freude zu sprechen. Wer auf eine Hochzeit oder einen runden, festlich begangenen Geburtstag zurückblickt, wird nur selten sagen: »Das hat Spaß gemacht!« Vielleicht hat es auf diesen Feiern etwas gegeben, das tatsächlich Spaß gemacht hat. Aber man wird, wenn es um die gesamte Feier geht, wenn es darum geht, ihren festlichen Charakter besonders zu betonen und ein Merkmal zu nennen, das die gesamte Feier durchstimmt hat, eher von Freude sprechen: »Das war ein Tag der Freude!« So wichtig ist dieser Unterschied, dass es vieles gibt, was Freude bereitet, aber keinen Spaß macht oder was – umgekehrt – viel Spaß mit sich bringt, aber keine wirkliche Freude erfahren lässt. Selbst auf seinen eigenen Tod kann man sich, folgt man Bachs berühmter Kantate »Ich habe genug« (BWV 82), freuen. In der 5. Aria heißt es »Ich freue mich auf meinen Tod, / Ach, hätt er sich schon eingefunden. / Da entkomm ich aller Not, / Die mich noch auf der Welt gebunden.« Mit Blick auf den Tod wird man allerdings kaum von Spaß sprechen können oder wollen. Dagegen könnte man einwenden, dass es doch »Freudenhäuser« gebe, wo weniger eine erhebende Freude als 20 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
vielmehr ein kurzer Spaß im Vordergrund stehe. Doch widerspricht dieses Wort dem Gedanken, dass zwischen Freude und Spaß bei allen Übergängen und Ambivalenzen sorgfältig zu unterscheiden sei, nicht. Wird ein Bordell als Freudenhaus bezeichnet, so handelt es sich um einen Euphemismus. Das schöne Wort soll verdecken, dass es doch eher um Spaß als um tief empfundene Freude geht, so als schämte man sich für den allzu sinnlichen Spaß, den das Freudenhaus seinen Besuchern verspricht. Der Spaß scheint also leicht zu verstehen und zu realisieren zu sein. Freude ist etwas anderes. Doch was genau geschieht in der Freude? Was genau ist jenes, auf das das Wort »Freude« verweist?
Freude als Urerfahrung Vielleicht gehört die Freude zu jenen Ur- oder Grunderfahrungen des Menschen, die sich nicht nur schwer, sondern gar nicht definieren lassen. Denn es könnte sich um etwas handeln, das nicht allein aufgrund einer spezifischen Differenz von anderen Phänomenen des gleichen Genus zu unterscheiden wäre. Vielleicht ist Freude nichts rein Menschliches, kein bestimmtes Gefühl, wie man zunächst denken könnte, auch wenn es tief in den Bereich der Emotionen hineinreicht und oft als Gefühl bezeichnet wird (weil es vermutlich einen Übergang von einem Gefühl der Freude zur wirklichen Freude gibt). Schiller scheint auf diesen Sonderstatus der Freude hinzuweisen, wenn er sie in »An die Freude« als »schöne[n] Götterfunken« und als »Tochter aus Elysium« bezeichnet. Als »Götterfunken« kann sie nicht rein naturhaft, rein menschlich verstanden 21 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
werden. Vieles andere, wie sich noch zeigen wird, widerspricht der Einordnung der Freude in den Bereich menschlicher Gefühle. Wenn die Freude eine Urerfahrung des Menschen darstellt, nähert man sich ihrem »Wesen«, indem man Momente dieser Erfahrung ins Auge fasst: einzelne Momente, die, wenn man sie zusammen betrachtet, eine Annäherung an jenes erlauben, was Freude genannt wird. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass man dann so etwas wie ein ewiges Wesen oder eine Substanz der Freude wird erblicken können. Viel eher wird man, wenn vom Wesen der Freude die Rede ist, »Wesen« verbal verstehen müssen: als Hinweis darauf, dass es nicht »die« Freude als vorhandenes und beobachtbares Etwas gibt, das dann distanzierend analysiert und erklärt werden könnte, sondern dass Freude geschieht, sich vollzieht oder sich ereignet – und zwar dort, wo sich jemand freut – und dass sie nur von jenen verstanden werden kann, die sich selbst freuen können.
Freude versus Verzweiflung Wer sich freut, bejaht. Bejaht wird der »Gegenstand« der Freude, jenes, worüber man sich freut. Freude ist daher konkret, d. h. sie ist Freude über dieses oder jenes, über ein bestimmtes Etwas: nicht über den Sonnenaufgang an und für sich, sondern über diesen besonderen Sonnenaufgang und über dieses besondere, je neu erfahrbare Phänomen, dass die Sonne jeden Morgen, soweit man weiß (und wie es scheint), wieder aufgeht. Daher ist die Freude nie abstrakt, wenn sie sich auch auf Abstraktes beziehen kann. 22 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Doch ist es missverständlich, von einem »Gegenstand« der Freude zu sprechen. Dies könnte den Eindruck erwecken, als stehe dieser »Gegenstand« jenem, der sich freut, gegenüber, als sei er das Objekt einer bestimmten Emotion. Dies ist nicht der Fall. In der Freude über etwas verhält man sich nämlich nicht zu einem Gegen-stand. Man vollzieht etwas, ist bei etwas, und in diesem Bei-etwas-Sein freut man sich. In der Freude zeigt sich daher eher so etwas wie eine Einheit von jenem, der sich freut, dem Geschehen der Freude selbst und dem, worüber man sich freut. Daher sind Erfahrungen der Freude immer auch Erfahrungen der Einheit mit der Welt. Entfremdungserfahrungen sind hingegen von ihrem Wesen her unerfreulich. Das Gegenteil der Freude ist daher die Verzweiflung: Eine mögliche Einheit ist nicht mehr gegeben, sie ist zerbrochen, so dass keine Freude mehr möglich ist. Allerdings beschränkt sich die Freude nicht auf ein einziges Worüber. Zugleich überschreitet jedes Sich-Freuen seinen konkreten Kontext. Wer sich freut, freut sich über mehr als nur dieses und jenes. Denn in der Freude ist immer schon alles, was überhaupt ist, mitgemeint. Wer sich freut, freut sich immer auch darüber, dass überhaupt etwas ist. Er erfährt Sinn und spricht ein »Ja« zur Wirklichkeit in all ihrer Ambivalenz. Platon und Aristoteles haben den Ursprung der Philosophie im Staunen gefunden. Andere Philosophen sehen ihn in einer Entfremdungserfahrung: Wo die Welt fremd wird, wo sie sich entzieht, wo sie verstört, stellen sich philosophische Fragen. Das sind wichtige Wurzeln des Nachdenkens über sich selbst, die Welt und all jenes, was den Horizont der Welt überschreitet. Aber es ist zu fragen, ob der Ursprung des Denkens nicht vielmehr auch in der Freude liegt, nämlich in der Freude, in der immer alles, 23 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
was ist, bejaht und angenommen wird. Es ist dies die Freude darüber, dass überhaupt etwas ist und dass dies zu bejahen ist: Ja, es ist. Bejahen, das heißt nicht allein zu sagen, dass etwas der Fall ist. Wer etwas bejaht, nimmt es nicht allein als faktisch vorhanden zur Kenntnis. »Ja« zu sagen zu etwas, bedeutet: zu sagen, dass es gut ist. Wer sich freut, stimmt damit der Wirklichkeit zu: Dass überhaupt etwas ist, ist gut, es ist ein Grund zur Freude.
Erfreuliches und Unerfreuliches Wer sich freut, sagt »Ja« zu dem, was ist, und dazu, dass überhaupt etwas ist. Doch kann nicht alles, was ist, einfach bejaht werden. Neben dem Erfreulichen, dem Guten, Schönen und Wunderbaren, steht jenes, was nicht erfreut, was verstört, verängstigt und entsetzt. Es gibt das Gute, das erfreut, aber auch das Böse und das Schlechte, das nicht erfreut, ja, nicht erfreuen darf. Wäre der, der sich an Bösem freut, nicht ein seltsamer, ein böser Mensch? Kann der, der sich freut, dies übersehen? Wer sich wirklich freut und in seiner Freude bejaht und gut heißt, dass überhaupt etwas ist, ist weder böse noch naiv. Im Gegenteil: Gerade wer sich freut, weiß um die Schatten, die in die Wirklichkeit eingeschrieben sind. Wäre alles gut und erfreulich, würde nämlich auch die Freude ihre Bedeutung verlieren. Sie wäre nichts Besonderes, keine Ausnahme, keine Unterbrechung des oft unerfreulichen Alltäglichen, sondern Norm und Regel. Wirkliche Freude lebt hingegen aus dem Kontrast. So wie der Sonntag im Gegensatz zum Alltag seine Bedeutung findet und das Licht vom Schatten her überhaupt erst 24 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
strahlen kann, kann Freude sich nur dem zeigen, der auch um die dunklen Seiten des Lebens und um den Mangel an Freude weiß. In Momenten der Freude wird der Gegenpol zur Freude sogar besonders bewusst, dass eben nicht alles, was ist, zur Freude gereicht. Diese Erfahrung ist auch eine Urerfahrung. Menschen begegnet immer auch Unerfreuliches: eigenes und fremdes Leid, das Scheitern von Plänen, Hoffnungen, die sich nicht erfüllen. Nur wer offen ist für diese Erfahrungen, wer sie annimmt als dazugehörige Momente des menschlichen Lebens, wer sie nicht relativiert oder gar leugnet, kann »Ja« sagen, ohne naiv zu sein und sich etwas vorzumachen, kann wirkliche Freude erfahren. Alles andere wäre eine Illusion, die Verkehrung echter Freude. Wer sich aber Illusionen hingibt, kann vielleicht Spaß haben, sich aber nicht wirklich freuen, auch wenn dies zunächst so aussehen mag.
Freude und Wahrheit Freude ist auf Wirklichkeit bezogen, darauf, was wirklich und nicht nur scheinbar ist. Wenn jemandem eine erfreuliche Nachricht überbracht wird, dann ist diese nur wirklich erfreulich, wenn sie wahr ist, wenn es also einen echten Grund für die Freude gibt. Sollte sich herausstellen, dass es gar keinen Grund gibt, zerfällt die Freude. Man müsste jenen, der sich über die vermeintlich gute Nachricht freut, auf seinen Irrtum hinweisen. Eine Lüge, die man erzählt, um jemandem eine Freude zu bereiten, wäre, auch wenn die Absicht lobenswert ist, unmoralisch. Dies gilt selbst, wenn der Betroffene nie erfahren wird, dass es keinen wirklichen Grund für seine Freude gegeben hat. 25 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Man kann sich vorstellen, ein Mensch sei todkrank. Die Nachricht, er werde bald gesund, wird ihn sicherlich erfreuen. Wenn sie aber falsch ist, ist auch die Freude falsch. Er wurde nämlich um die Wahrheit betrogen. Deshalb kann wirkliche Freude – anders als der Spaß – auch nicht mit Hilfe von Rauschmitteln oder Medikamenten erzeugt werden. Diese Mittel verändern nämlich den Zugang zur Wirklichkeit. Das, was ist, wird anders, als es ist, wahrgenommen. Wäre dem nicht so, wäre es ja denkbar, dass man sich mittels bestimmter Substanzen in einen Zustand dauerhafter Freude versetzen könnte. Aber so sehr man sich in einen Rausch versetzen kann, wirkliche Freude wird man dabei nicht erfahren. Denn insofern in der Freude jenes, was ist, bejaht wird, steht Freude im Raum der Wahrheit: Was voller Freude bejaht wird, soll auch wahr sein; es soll der Wahrheit entsprechen, dass etwas so und nicht anders ist. Aus diesem Grund ist das Kennzeichen wahrer Freude sogar eine gewisse Nüchternheit – nicht allein, weil sie um das Unerfreuliche weiß, sondern auch, weil von ihr Sachlichkeit gefordert ist. Wer sich wirklich freut, entspricht dem, was wirklich ist, und befreit sich von Illusionen. Wer dennoch Illusionen nachhängt, verliert nicht nur den Kontakt mit der Wirklichkeit. Indem er sich seine eigene Welt schafft, vereinsamt er auch. Denn die Welt seiner »Freude« ist nur von ihm selbst bewohnt. Das bedeutet übrigens nicht, dass sich die Freude nicht auf Fiktives – wie etwa einen Roman, einen Film oder einen Plan für die Zukunft beziehen könnte. Denn insbesondere im Fiktiven kann sich Wahrheit zeigen und Wirkliches erschließen. Auch Fiktion ist wirklich und kann tief in die Wahrheit der Welt hineinführen. Und je mehr dies geschieht, umso mehr gibt es Gründe für Freude. 26 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Die Abgründigkeit der Freude Bislang ist einige Male von Gründen der Freude gesprochen worden. Diese Redeweise ist insofern richtig, als Freude sich nicht einfach so ereignet. Wer auf die Frage, warum er sich freue, antwortet, er freue sich über nichts, wird auf wenig Verständnis stoßen. Denn über nichts kann man sich nicht freuen, es sei denn, man freue sich ausdrücklich über das Nichts. Aber genau dann freut man sich über etwas – etwa über die Stille oder die Erfahrung der Leere. Freude ist daher nicht grundlos. Doch reicht die Angabe von Gründen nicht aus, um zu verstehen, worin Freude eigentlich besteht. Wenn Schiller die Freude einen »schönen Götterfunken« nennt, deutet er, wie bereits erwähnt, an, dass die Freude nicht etwas ist, was sich als bloß natürliches Phänomen verstehen lässt, als ein Vorkommnis, das durch Angabe seiner Gründe erklärt werden kann. Was aber bedeutet dies? Führt dies nicht allzu schnell auf eine theologische oder mythologische Ebene? Es scheint notwendig zu sein, noch weiter über die Freude nachzudenken, um zu verstehen, was Schillers Wort bedeuten könnte und was damit gemeint ist, wenn hier von der Abgründigkeit der Freude gesprochen wird. Ein wenig dürfte dies schon deutlich geworden sein, als von den Gründen des Spaßes die Rede war. Wegen der Einfachheit des Spaßes lassen sich hierfür leicht Gründe angeben. Worüber man sich aber freut – nicht in einer konkreten Situation der Freude, sondern im Allgemeinen – ist wesentlich weniger leicht zur Sprache zu bringen, wenn es nicht um jene Freude geht, die an den Spaß angrenzt und manchmal auch in ihn übergeht, sondern um wirkliche, tief empfundene Freude. Ob Freude geschieht oder nicht, hängt nämlich nicht 27 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
vom menschlichen Planen, sondern von einer bestimmten Situation ab, in der man sich befindet – oder eben nicht. Daher kann man nicht sagen: »Heute wollen wir uns einmal freuen!« Freuen wollen kann man sich überhaupt nicht. Je mehr man sich freuen will, desto weniger wird man sich freuen können. Man kann nur gelassen für das Geschehen der Freude offen sein. Man kann deshalb sagen, dass die Freude nicht allein in der Hand des Menschen liegt, dass sie sich ereignet – ungeplant, unvorhersehbar, ganz plötzlich. Daher fällt die Freude aus jedem analysierbaren Kausalzusammenhang heraus und lässt sich auch nicht »machen« oder planen. Freude ist aus diesem Grund keine Erfahrung, deren Herkunft und Gründe begrifflich voll erschlossen werden könnten. In jeder Freude bricht etwas in die Ordnung des Alltäglichen ein. Die Zeit der Freude ist eine Ausnahmezeit, jede Freude ein Geschenk, das sich gibt, sich ereignet und so zu einem Eigenen, der eigenen Freude, dem je konkreten Sich-selbst-Freuen wird. Dieser Ereignischarakter der Freude kann auch als Geschenk- oder – aus religiöser Perspektive – als Gnadencharakter der Freude verstanden werden. Das erfährt nicht zuletzt jener, der sich, wo alle Menschen um ihn herum sich freuen, nicht freut – nicht etwa, weil er sich nicht freuen wollte, sondern weil sich ihm die Freude nicht schenkt. Man spricht dann beispielsweise von einem Menschen, der sich nicht freuen könne. Aber es dürfte klar sein, dass dies nicht nur eine Frage des persönlichen Könnens, der eigenen Fähigkeiten ist. Freude lässt sich nämlich nicht einfach lernen. Sie kann aber in einer durchaus einübbaren, die ganze Existenz ergreifenden Offenheit dafür, dass sie sich ereignet, empfangen werden. Ihren Ereignischarakter teilt die Freude mit anderen 28 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Grunderfahrungen des Menschen. Denn auch Liebe oder Freundschaft lassen sich nicht »machen« oder »bewerkstelligen«. Man kann sie erfahren, wenn denn Erfahrung bedeutet: dafür offen sein, dass sich etwas im Vollzug des Lebens ergibt. Die Freude führt den Menschen daher über sich selbst hinaus, weil ihm in der Freude gewahr wird, dass er sich und jenes, was er erfahren darf, nicht allein sich selbst verdankt. Freude und Religion sind daher eng aufeinander bezogen. Für religiöse Menschen, die daran glauben, dass Gott nicht allein Schöpfer, sondern auch Erhalter und Erlöser der Schöpfung ist, ist ein lebendiges Gottesverhältnis ohne Freude gar nicht denkbar – und umgekehrt ist auch nicht denkbar, dass sich Gott nicht über seine Schöpfung freut, dass Freude nicht eine Eigenschaft Gottes wäre.
Zeit der Freude Dass Freude sich ereignet, zeigt bereits, dass die Freude in einem besonderen Verhältnis zur Zeit steht. Wer sich freut, erfährt Freude nicht einfach in der vorgegebenen Ordnung der Zeit. Zwar kann man Freude datieren. Man kann sagen, dass man sich damals sehr über dieses oder jenes gefreut habe. Freude ist ein Ereignis in der Zeit, wenn mit »Zeit« die Zeit der Kalender und Uhren gemeint ist. Freude ist aber auch ein Ereignis der Zeit selber. Denn wer sich freut, erlebt Zeit anders. In der Freude zeitigt der Mensch sich selbst anders und ereignet sich ihm die Zeit anders. Was bedeutet dies? Die Erfahrung, dass, wenn man sich freut, die Zeit anders vergeht, dass sie wie im Fluge vergeht, ist bekannt. 29 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Man könnte diese Erfahrung auf ein reines Bewusstseinsphänomen reduzieren oder darauf verweisen, dass dies auch für den Spaß gilt. Denn wer Spaß hat, für den vergeht die Zeit auch schneller als für jenen, der keinen Spaß hat oder gar Langeweile erfährt. Doch gibt es Phänomene, die darauf verweisen, dass die Zeit der Freude nicht einfach auf ein Phänomen des menschlichen Bewusstseins reduziert oder mit der Zeit des Spaßes gleichgesetzt werden kann. Es gibt zum Beispiel die Vor- und die Nachfreude. Auch dies verweist darauf, dass die Freude nicht einfach ein Gefühl unter anderen Gefühlen ist. Denn es gibt keinen Vorspaß und keinen Nachspaß, keinen Vor- oder Nachzorn. Gefühle können zwar antizipiert oder erinnert werden, aber die Erwartung oder Erinnerung ist nicht selbst ein Gefühl. Es könnte einzig der Fall sein, dass in der Erwartung von oder in der Erinnerung an etwas ein Gefühl selbst wirklich wird. Dieses Gefühl ist dann aber nicht ein »Vor-« oder »Nachgefühl«. Man ist zornig, wenn man sich an eine Situation erinnert, die einen mit Zorn erfüllt hat, und wenn dabei das Gefühl wieder aktuell wird. Mit der Freude verhält es sich anders. Die Vorfreude ist nicht einfach bloß die Antizipation von Freude, genauso wenig, wie die Nachfreude eine reine Erinnerung an einen freudvollen Moment gewesen ist. Weder Vor- noch Nachfreude sind als zeitlich genau bestimmbare Akte zu verstehen (so wie der Zorn, der sich einstellen mag, wenn man sich an etwas erinnert, das einen zornig gemacht hat), so dass man sagen könnte, man habe gestern gegen Mittag Vorfreude erfahren. Denn sowohl Vor- als auch Nachfreude sind Stimmungen, die in der Freude, auf die sie sich beziehen, ihren inneren Sinn finden und in denen alles, was man erlebt und tut, erfahren wird. Sie zeigen, dass 30 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
sich das ganze Leben des Menschen, sein Handeln, Denken und Fühlen an der Freude orientiert: auf sie hin in der Vorfreude und von ihr her in der Nachfreude. Denn in der Freude ändert sich das Leben so, dass alles, was erlebt wird, anders, nämlich mit Freude, erlebt wird. Was auch immer dies ist oder was auch immer erfahren wird, zeigt sich im Lichte der Freude und kann daher in der Stimmung der Vor- oder der Nachfreude erlebt werden. Freude beginnt nicht einfach früher oder dauert länger als die genannten Gefühle, so dass man also die Vorfreude als eine erste und die Nachfreude als eine letzte Phase der Freude ansehen müsste. In Freude zu leben, ist etwas ganz anderes, als ohne Freude zu leben, so dass die Freude ihr Licht auch auf das Leben vor und nach ihr wirft. Es gibt daher nicht nur die Zeit, in der die Freude geschieht, sondern die Zeit, den zeitlichen Vollzug des Lebens, den die Freude eröffnet. Deshalb kann die Freude auch das Dunkle und Böse umfassen. Wer sich wirklich freut und Freude empfindet, kann auch jenes, was der Freude widerspricht, annehmen. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Zeit der Freude anders strukturiert ist als die Zeit des Spaßes, des Zornes oder anderer Gefühle. Wenn man aber die Freude so versteht – als nicht einfach sich zeitlich erstreckendes Phänomen, sondern als Zeit konstituierendes Geschehen –, könnte es sich immer noch um ein reines Bewusstseinsphänomen handeln. Es hat sich allerdings schon gezeigt, dass es zum Wesen wirklicher Freude gehört, dass sie nicht machbar oder vorstellbar ist, dass sie sich ereignet. Dieses Ereignis der Freude kommt aus dem Unvordenklichen, aus jenem, was vor dem Bereich des Denkens oder Machens liegt, was sich des vollen Verständnisses entzieht. Oft lässt sich ein Subjekt der Freude gar nicht angeben. Die Freude hat dann 31 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
einen unpersönlichen Charakter. Dann wird gesagt, dass »es« einen freue. Dennoch ist die Freude nichts, was man nur passiv an sich erfährt. Man sagt ja auch, dass man sich freue. Dies legt nahe, dass man selbst das Subjekt der Freude ist, dass die Freude, das Sich-Freuen also doch ein eigenes Handeln ist. Wäre dem so, könnte man die Freude leicht bewerkstelligen: indem man einfach etwas an sich tut – so, wie man sich leicht waschen oder anziehen kann. Es bedeutet allerdings etwas ganz anderes sich zu freuen als sich zu waschen. Im letzteren Fall liegt eine reflexive Handlung vor, also eine Handlung, in der jemand etwas an sich selbst vollzieht, was er auch an etwas oder einem anderen vollziehen könnte. Daher ist man, wenn man sich wäscht, das Subjekt des Sich-Waschens – und zugleich sein Objekt, aber so, dass man klar zwischen sich selbst als Subjekt und sich selbst als Objekt unterscheiden kann. Freuen kann man nur sich selbst (genauso, wie man sich nur selbst schämen kann). Jemand anderes kann man nur erfreuen. Grammatisch ist »sich freuen« daher ein echt reflexives Verb. Den echt reflexiven Verben ist eine wichtige Besonderheit eigen. Das Medium echt reflexiver Verben wie des Sich-Freuens oszilliert zwischen dem Aktiv und dem Passiv, zwischen dem, was ein Ich tut, und dem, was sich dem Ich ereignet, ohne dass es selbst dies täte oder verursachte und ohne dass sich klar zwischen der Subjekt- und der Objektdimension des Geschehens unterscheiden ließe. In jedem Sich-Freuen erfährt man sich daher auch als jener, dem, bei aller notwendigen Offenheit und Gestimmtheit für die Freude, sich etwas zueignet. Was sich zueignet, ist das Geschenk von Zeit, jener Zeit der Freude, in der man lebt und sein Leben vollzieht – durchstimmt, durchwirkt von Freude. Es ist dies das Geschenk erfüllter Zeit. Momenthaft wird kein Mangel 32 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
mehr, sondern nur noch Fülle, jenes, was menschliches Leben eigentlich sein soll, erlebt. Religiöse Menschen können daher die endliche Freude als Bild oder Hinweis auf eine nicht mehr begrenzte Freude im Angesicht Gottes deuten.
Geteilte Freude Freude geschieht oft dort, wo Menschen beisammen sind, und kann sogar eine neue Gemeinschaft stiften. Selbst die Freude eines einzelnen Menschen ist ansteckend. Sieht man jemanden, der sich freut, kann man sich mitfreuen, ohne dass man zunächst wissen müsste, worüber dieser andere Mensch sich freut. Freude – wie auch das Leid – kann Menschen auf einer tiefen Ebene miteinander in eine Beziehung bringen. Neben dem Mitleid gibt es daher auch eine – freilich nicht eigens so benannte – »Mitfreude«. Diese stellt sich ein, auch wenn man persönlich anders auf das Worüber der Freude reagieren würde. So kann sich mitfreuen, wer sich freuende Fußballfans beobachtet, ohne sich selbst über das Ergebnis eines Spiels freuen zu müssen. Es könnte sogar sein, dass das Interesse am Fußball gar nicht geteilt wird. Allein die von Freude erfüllte Ausstrahlung der Anderen reicht aus, dass man sich mitfreuen kann. Oder man kann an der Freude eines frisch verheirateten Paares teilhaben, ohne dieses Paar zu kennen. Sollte aber der Grund der Freude auch bei jenen, die sich zunächst nur so, rein äußerlich mitfreuen, ein Grund für eigene innere Freude sein, wird die Freude auf einer tieferen Ebene geteilt. In diesen Momenten können selbst fremde Menschen zu Freunden werden. 33 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Dadurch, dass Freude geteilt wird, wird sie nicht weniger. Oft gewinnt sie sogar, wo sie geteilt und gemeinsam erfahren wird, an Intensität. Es gehört sogar zum Geschehen der Freude, dass sie sich mitteilt. Man sieht einem Menschen, der sich freut, seine Freude sofort an. Daher lässt sich Freude schwer verstecken. Oft drängt sie jene, die sich freuen, dazu, lautstark von ihrer Freude Kenntnis zu geben und dadurch andere zum Mitfreuen einzuladen. Der mitteilsame Aspekt der Freude beleuchtet noch einmal ihre Wirklichkeitsbezogenheit. Denn Freude lässt sich nur teilen, wenn sie wirklich ist, wenn sich in ihr etwas, das tiefer in die Wirklichkeit führt, das sich als wahr erweist und daher auch mitgeteilt werden kann, als Grund der Freude zeigt.
Freude und Liebe Der soziale und kommunikative Charakter der Freude, ja, die Freude selbst vertieft sich noch dort, wo der »Grund« der Freude nicht einfach etwas, sondern jemand ist, wo also der Raum der Freude sich zwischen Personen eröffnet und die Freude in der Begegnung mit einem anderen Menschen geschieht. Dies erklärt, warum dort, wo die Begegnung mit anderen Menschen ihre tiefste und intensivste Form erreicht, in der Liebe nämlich, auch die Freude am größten ist: jene simple, aber alles verändernde, alles klärende, alles bejahende Freude, dass es den anderen Menschen gibt. Wenn aber jede Freude bedeutet, »Ja« zu sagen, wenn sie, was ist, in seinem Gutsein anerkennt, wenn Freude erhebt und eine neue Zeit schenkt, dann ist nicht nur in der Liebe die Freude gegenwärtig, sondern in jeder 34 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit
Freude auch die Liebe, die Zustimmung zu jemandem oder auch etwas anderem. Dann ist der verborgene Kern jeder echten Freude – die Liebe.
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Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens Zur Aufgabe einer neuen Ökologie
Natur und Kultur: Das widersprüchliche Verhältnis der Menschen zu den Tieren »Ein Held unserer Zeit: der sympathische Affenforscher, der alles schon bei den tierischen Vorfahren angelegt sieht. Er erkennt seine Mission darin, gegen die Arroganz von homo sapiens aufzutreten, der sich einbildet, er habe Neues in die Welt gesetzt. Der Gradualist setzt auf Übergänge. Vom Unterschied zwischen dem Faustkeil und der h-Moll-Messe will er nichts hören. Und das breite Publikum gibt ihm recht, weil es in seiner Schwankung zwischen dem Affen und dem Genie lieber die Tierseite wählt.« 1 »Der Hund pißt gegen das Reiterdenkmal, der Mensch öffnet sich seiner Bedeutung. Sagen die philosophischen Anthropologen. Sie sagen nicht, worauf Menschen schon gepißt haben.« 2 Peter Sloterdijk
Das Verhältnis des Menschen zum Tier ist voller Widersprüche: Viele Menschen verzichten auf Fleisch oder leben sogar vegan. Vegetarische Produkte, die wie Fleisch aussehen oder genauso schmecken, erscheinen manchen soPeter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011, Berlin 2012, 260. 2 Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011, 315. 1
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Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
gar suspekt – so, als wolle, wer Tofuwürstchen isst, sich nicht wirklich des Fleischkonsums enthalten. Eine fleischlose Lebensweise gilt als ideal, als gesund, aber auch als moralisch und politisch korrekt. Massentierhaltung und ihre ökologischen Konsequenzen werden kritisch betrachtet. Eine artgerechte Aufzucht von Tieren und die Beschränkung auf nur seltenen Fleischkonsum, so argumentieren manche, könnten einen dritten Weg zwischen ungehemmter Fleischeslust und radikalem Fleischverzicht weisen. Andere kümmern sich um diese Gedanken überhaupt nicht. Fleisch zu essen, gilt ihnen als normal und natürlich. So war es immer. Warum sollte es heute anders sein? Fleisch ist nämlich nicht nur schmackhaft, sondern verleiht Kraft, so, also könne man sich die Lebendigkeit eines anderen Wesens einverleiben, indem man es isst. Der Konsum von Fleisch lässt außerdem den eigenen Wohlstand sichtbar werden und ist ein Zeichen von Kultur, Tradition und gutem Geschmack. Wieder andere Menschen essen Fleisch, aber nur solange es nicht als Fleisch, nicht als etwas Tierisches, als ein totes Tier erkennbar ist. Fleisch wird geliebt – in der abstrakten Form von Nuggets, Buletten, Kinderwurst oder standardisierten Schnitzeln. Die Fleischindustrie befriedigt nur allzu gerne die Bedürfnisse der Fleischesser. Wo das Schnitzel oder Steak herkommt, was es einmal gewesen ist, interessiert nicht. Hauptsache billig. Hauptsache viel. Hauptsache oft. Das Tier wird zum Fleisch-, aber auch zum Eier-, Milch- oder Lederproduzenten. Unterworfen der Logik von Angebot und Nachfrage. Sein Wohl kommt erst an zweiter oder dritter Stelle – wenn überhaupt nach ihm gefragt wird. Mit jener bäuerlichen Idylle, die in der Nahrungswerbung oder auf den Verpackungen von Würstchen, Eiern und 38 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
Joghurt beschworen wird, hat die Realität nichts zu tun. Ställe sind zu Fabriken geworden, Käfige zu Todeszellen. Täglich neu wird die unschuldige Kreatur vom Menschen gequält, ohne dass man dies wirklich begründen oder rechtfertigen könnte. Es schmeckt zu gut. Zugleich werden Schweine, Hühner, Enten, Gänse, Mäuse und allerlei anderes Getier verniedlicht und verkitscht: in Film und Fernsehen, im Cartoon und in märchenhaften Geschichten, als Stofftier oder süßes Maskottchen. Manche Tiere liefern Kosenamen für die Liebenden, andere Schimpfworte. Niemand möchte ein Schwein sein, doch viele lieben ihre Schultern und Schenkel. Anderswo, fern der Öffentlichkeit fristen Tiere eine klägliche Existenz in Laboren und Versuchsanstalten. Was ihnen angetan wird, geschieht zum »Wohle« des Menschen. Ihm dienen sie. Ihre Gefühle spielen keine Rolle. Ein solches Leid kennen die meisten Haustiere nicht. Nicht wenige von ihnen werden verhätschelt und vermenschlicht – sie sind die besten Gefährten des Menschen. Nichts ist zu teuer für sie. Schön und wohlerzogen müssen sie sein. Nur das beste Futter dürfen sie zu sich nehmen. In edelsten Körbchen, wenn nicht gar im Bett ihrer Herrchen und Frauchen legen sie allabendlich ihr Haupt nieder. Wenn sie einmal sterben, wird ihr Begräbnis zu einer Inszenierung tiermenschlicher Liebe über den Tod hinaus. Folgt man jedoch einigen Denkern wie Descartes, ist diese Liebe irrsinnig. Denn Tiere, so setzen sie voraus, sind nichts anderes als komplizierte Automaten; sie gehören zur materiellen Welt, die der Welt des Geistes und der Freiheit radikal entgegengesetzt ist. Irgendwie, so scheint es, erlaubt man vielen Tieren nicht, einfach ein Tier, ein lebendiges Wesen zu sein. Einige werden fast wie Menschen, andere jedoch wie wert- und leblose Dinge behandelt. Glücklich sind jene 39 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
Tiere, so könnte man denken, die noch fern von Menschen leben! Doch auch zum Tier in sich selbst, zum Tier, das er selbst – immer auch, immer noch – ist, hat der Mensch ein zutiefst widersprüchliches Verhältnis. Einerseits sieht sich der Mensch ausschließlich als ein Tier, als Naturwesen mit Trieben und Lüsten, das allein im Horizont der Evolution verstanden werden kann. Die Rede von menschlicher Würde ist aus dieser Perspektive Zeichen überlieferter Anmaßung: Wer sind wir denn, dass wir so hoch von uns zu denken wagen? Vielleicht war es deshalb möglich, dass Menschen andere Menschen oft wie Tiere gequält haben, obwohl man weder mit Menschen noch mit Tieren so umgehen sollte. Auf der anderen Seite wird alles Animalische, Naturhafte im Menschen unterdrückt. Fast ist es so, als wolle man nicht aus der Natur stammen, ja, als schäme man sich dessen, was man mit den Tieren gemein hat. Alles, was darauf hindeuten könnte, alles, was die natürliche Endlichkeit und Beschränkung des Menschen zeigt, wird nicht nur kulturell transformiert, sondern verdrängt. Freilich, Kultur war immer verwandelte, angeeignete Natur. Doch zumeist so, dass das Ideal des Lebens darin bestehen konnte, »gemäß der Natur«, in Aneignung des Natürlichen zu leben. Dann war menschliches Leben eingebettet in den Lauf und die Ordnung der Natur. Das ist heute oft anders. Der Mensch hat sich von der Natur entfernt und ist ihr entfremdet. Natürliche Phänomene wie Geburt und Sterben finden nicht mehr in den Wohnungen der Menschen statt, sondern werden in andere, lebensfernere Räume ausgelagert und oft tabuisiert. Die plastische Chirurgie lässt die Spuren des Alterns verschwinden oder macht es dem Menschen möglich, sich äußerlich neu zu erfinden. Drogen erlauben es, dem Geist auf die Sprünge 40 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
zu helfen und allzu enge Grenzen zu überspringen. Der Körper wird wie ein Kunstprodukt verstanden und gestaltet. Ob, wann und wie man sich fortpflanzt, wird technischen Eingriffen überlassen. Sexualität wird nicht mehr innerhalb einer ars erotica kultiviert, sondern der Technik, dem menschlichen Willen zum Machen, Bewirken und Beherrschen, der Sucht nach immer neuen Sensationen untergeordnet. Die Natur des Menschen soll möglichst vollständig transformiert und perfektioniert werden: keine Schwäche zeigen, Schmerzen bekämpfen, den Körper überwinden, den Leib beherrschen, alle Lüste kanalisieren. Alles unterliegt dann den je eigenen Entscheidungen und Wünschen, der Definitionshoheit der Mehrheit oder den Trends der Mode: was und wer man ist, wie man aussieht, wie man lebt, wann man stirbt. Nur in wenigen Reservaten darf das Tier, das Natürliche, im Menschen überleben. Wie kann man diese Widersprüche zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Tier als dem Objekt unserer Macht und Begierden und dem bestens umsorgten »Übertier«, zwischen dem Menschen als bloßem Tier und dem von allen tierischen Eigenheiten befreiten Geistes- und Vernunftwesen verstehen? Was ist der Mensch – im Verhältnis zum Tier? Was ist der Mensch – als Tier? Worin liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier? Wie kann – jenseits der genannten Widersprüche – ihr Verhältnis menschlicher und zugleich natürlicher, tiergerechter gestaltet werden?
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Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
Nähe und Ferne: Der freiheitliche Riss zwischen Mensch und Tier »Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig.« 3 Friedrich Nietzsche
Die Bibel betont deutlich den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Gott hat den Menschen und die Tiere geschaffen. Doch die Schöpfung des Menschen war etwas Besonderes. Mit ihm hat Gott ein Gegenüber. Der Mensch steht daher in einem wechselseitigen Verhältnis zu Gott. Gott kümmert sich um ihn, liebt ihn und geht einen Bund mit ihm ein – umgekehrt weiß der Mensch um Gott und kann sich frei für oder gegen ihn entscheiden. Daher kann der Mensch fehl gehen, sündigen, dem, was und wer er sein soll, nicht genügen. Doch steht er deshalb den Tieren nicht einfach fremd und von ihnen radikal getrennt gegenüber. Der Mensch soll – laut Bibel – sich die Tiere untertan machen und über sie herrschen. Das bedeutet nicht, sie auszunutzen, sondern sie zu hegen, zu pflegen und – wie ein guter, wohlwollender Herrscher – für sie Verantwortung zu übernehmen. Denn Mensch und Tier teilen eine
Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders., KritischeStudienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, 248. 3
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Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
Welt miteinander. Sie gehören beide zur Schöpfung und der Mensch lebt nicht nur mit, sondern auch von den Tieren. Auch die klassische Philosophie hat den Menschen als Teil der Natur verstanden. Wenn der Mensch als animal rationale, als zoon logon echon – so die traditionelle Definition des Menschen – verstanden wird, so zeigt dies: Der Mensch ist ein animal oder zoon, ein Tier; er gehört also auch zum Tierreich, unterscheidet sich allerdings von allen anderen Tieren dadurch, dass er über die ratio oder den logos, über Vernunft oder Sprache, verfügt. Diese Unterscheidung ist eine besondere Auszeichnung – und Bürde. Denn die ratio oder der logos lässt die Menschen nicht allein etwas anderes als alle anderen Tiere sein, sondern lässt sie anders sein. Menschen verfügen nicht nur über eine zusätzliche Fähigkeit, über die andere Tiere nicht verfügen. Aufgrund der Vernunft und der Sprache bedeutet es für Menschen etwas ganz anderes zu leben als für alle anderen Tiere. Menschen leben nicht einfach nur, sondern führen ihr Leben – nicht nur als vernünftige und sprachbegabte, sondern auch als der Freiheit fähige Personen. Tiere (wenn man hier von dem Sonderfall hochstehender Primaten und der Delphine absieht, bei denen zu Recht die Frage diskutiert wird, ob man ihnen nicht Personsein zuschreiben soll) müssen sich nicht für eine bestimmte Lebensführung entscheiden; sie verhalten sich nicht eigens dazu, was sie sind. Sie müssen sich ihre Natur nicht eigens aneignen. Anders der Mensch. Wer als Mensch freiwillig fastet, verhält sich zu seiner Natur in einer besonderen Weise, indem er nämlich dem Hunger, der ihn natürlicherweise ergreift, nicht nachgeht, obwohl eigentlich Nahrungsmittel verfügbar sind. Wenn man sagt, dass auch Tiere fasten, dann nur in einem uneigent43 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
lichen Sinne: weil es zu ihrer Natur gehört, dass sie in bestimmten Phasen oder Situationen keine Nahrung zu sich nehmen. Sie treffen keine freien und vernünftigen Entscheidungen im Verhältnis zu ihrer Natur, die sie dann auch begründen und verantworten können. Anders als Tiere kann man Menschen daher zur Verantwortung ziehen. Ein Mensch, der ein Verbrechen begangen hat, kann sich nicht einfach entschuldigend darauf berufen, wie er von Natur aus ist. »So bin ich halt«, ist in den meisten Fällen keine akzeptable Entschuldigung. Menschen müssen in der Regel – d. h. solange keine pathologische Einschränkung vorliegt – nicht so sein, wie ihre Natur ihnen dies vorgibt. Sie können anders sein – und entsprechend auch anders handeln. Daher können sie nach dem guten Leben fragen – und danach, wie man leben sollte, um gut zu leben. Ein gutes Leben gibt es freilich auch für Tiere. Doch legt die Natur fest, worin es besteht. Wenn man von »artgerechter Tierhaltung« spricht, bezieht man sich auf ein solches für Tiere gutes Leben – oder zumindest auf ein Leben, das diesem Ideal sehr nahekommt (insofern es sicherlich meistens besser für Tiere wäre, in Freiheit gut zu leben). Für alle Tiere einer Art bedeutet gut zu leben aber mehr oder weniger dasselbe. Das gute Leben eines konkreten Schafes unterscheidet sich nicht prinzipiell vom guten Leben anderer Schafe, auch wenn es gewisse Differenzen zwischen verschiedenen Arten geben mag. Das ist beim Menschen anders. Denn unter Menschen gibt es nicht nur beträchtliche geschichtliche, kulturelle und regionale Unterschiede zwischen den Vorstellungen eines guten Lebens, sondern auch große, oft sehr grundsätzliche Differenzen auf der Ebene einzelner Personen. Des einen Freud’ kann des anderen Leid sein. 44 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
Insofern der Mensch auch ein Tier ist, gibt es allerdings durchaus eine artspezifische Dimension oder natürlich vorgegebene Bedingungen dessen, was für ein gutes Leben notwendig (aber noch lange nicht hinreichend) ist. Doch spricht man, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, nicht von einem artgerechten Leben. Man kann vielleicht sagen, dass Menschen dann ein Leben führen, das des Menschen nicht unwürdig ist. Für ihre grundlegenden Bedürfnisse ist gesorgt. Aber dann führt der Mensch noch lange nicht ein gutes, ein ihm wirklich würdiges Leben. Diesem kann er erst dann nahekommen, wenn er sich innerhalb des ihm vorgegebenen Rahmens selbst einrichtet – als ein Wesen, das die Freiheit hat, sich zu seiner eigenen Natur zu verhalten. Der menschliche Körper ist zum Beispiel von seiner Natur her auf bestimmte Substanzen angewiesen, die er nicht nur verträgt, sondern die ihm nützlich und teils für ihn notwendig sind. Was man aber genau zu sich nimmt und wie man es zubereitet, ist von der Natur nicht im Einzelnen vorgegeben. Ähnlich ist es mit den Talenten oder Eigenschaften, die ein Mensch natürlicherweise hat. Diese mögen ihm gewisse Tätigkeiten nahelegen, doch schreibt die Natur nicht vor, welchen Beruf jemand ergreift oder wie er überhaupt seine Zeit verbringt. Diese Entscheidungen muss der Mensch selbst treffen. Nackt, unbekleidet und in vielem unbestimmt kommt der Mensch zur Welt. Wer er ist und wird, ist eine Frage des Zusammenwirkens von Bedingtheit und Freiheit. Vieles im menschlichen Leben ist kulturell kodiert oder abhängig von Moden, Traditionen oder Gewohnheiten, anderes entscheidet der einzelne Mensch je neu bewusst für sich. Der Notwendigkeit, etwas mit sich selbst anzufangen, kann er nicht entgehen. Sich nicht zu entscheiden, ist nämlich auch eine Entscheidung. Menschsein vollzieht sich in je45 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens
ner Offenheit von Welt, in die er als Mensch immer schon gestellt ist. Wenn ein Mensch eine Entscheidung trifft, steht manchmal nicht allein eine konkrete Handlung oder die unmittelbar bevorstehende Zukunft zur Diskussion, sondern das ganze Leben. Denn dieses – nicht allein einzelne Tage oder Aspekte des Lebens – soll gelingen. Dies ist zumindest der Wunsch vieler, wenn nicht der meisten Menschen. Sie streben danach, glücklich zu sein. Daher kann ihnen auch schmerzhaft bewusst werden, dass sie kein gutes Leben führen, dass also nicht nur dies oder jenes, sondern ihr Leben als Ganzes nicht gelingt. Tiere können dies nicht. Sie können leiden und auch traurig sein. Aber sie können weder im eigentlichen Sinne schwermütig werden, wenn das Leben mühsam erscheint, noch des Lebens vor der Zeit überdrüssig werden. Wenn sie leiden, so an einer bestimmten Situation, aber nie am Leben an sich. Sie leben, auch wenn sie sich an etwas erinnern oder sogar – wie Vögel, die einen kleinen Ast als Werkzeug nutzen – geplant handeln, in einer Gegenwart, die unterschiedlich lang sein kann, aber nie das Ganze ihres Lebens umfasst –, ganz zu schweigen davon, dass ihnen dieses Ganze nie zum Gegenstand einer Reflexion wird. Denn um sich das Lebensganze überhaupt vorstellen zu können, muss man um den eigenen Tod wissen, darum, dass das Leben endlich ist und auf eine nicht überschreitbare Grenze hinausläuft. Ohne den Tod, wenn das Leben also immer weiter ginge, wäre die Frage nach dem Ganzen des eigenen Lebens sinnlos. Denn das Leben würde nie zu einem Ganzen. Ganz kann nur sein, was nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende hat. Dass Menschen nach dem Ganzen ihres Lebens fragen können, verweist nicht nur auf ihr Wissen um den Tod – das immer ein Wissen 46 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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um den je eigenen Tod ist. Es zeigt auch ihre Orientierung auf eine offene, wenn auch begrenzte Zukunft hin, die es zu gestalten gilt und der man mit Furcht oder Freude gegenüberstehen kann. Menschen leben auf ihren Tod und die Zukunft hin; nicht allerdings einfach aus der jeweiligen Gegenwart heraus, sondern mit ihrer jeweiligen Geschichte, d. h. als Menschen, die auch eine Vergangenheit haben und sich auch zu dieser verhalten müssen. In diesem »Zeitraum«, der sich im menschlichen Leben eröffnet, wurzeln nicht nur individuelle Gewohnheiten und Erwartungen, sondern auch kulturelle Traditionen und gemeinschaftliche Hoffnungen. Das Leben zeigt sich als ein Spielraum der Freiheit – eigener, aber immer auch der Freiheit des Anderen. Wenn Leben so erfahren wird, kann die Phantasie das Leben ganz anders zu gestalten versuchen. Zuvor ungedachte Möglichkeiten können sich zeigen. Die Sprache bedient sich daher nicht nur des Futur, sondern auch des Konjunktivs oder des Optativs. Das kontrafaktische »Es könnte anders besser sein!« kann tatsächlich Wirklichkeit verändern. In diesem Sinne leben Menschen nicht einfach nur in der messbaren Zeit der Uhren und Kalender oder in einer äußerlich vorgegebenen Welt. Sie haben oder vollziehen ihre je eigene Zeit, indem sie aus ihrer Vergangenheit heraus in der Gegenwart Zukunft vorwegnehmen und immer auch angesichts des Todes Welt selbst schöpferisch entwerfen: ihre je eigene Welt, aber auch die der Tiere. Dies bedeutet es, nicht nur auf der Welt zu sein oder zu leben, sondern eine Welt zu haben oder ein Leben zu führen. Menschen haben daher anders als Tiere einen »Lebenslauf«, eine Biographie, die sie auch erzählen und aufschreiben können. Allerdings darf man die Ambivalenz menschlicher »Lebensführung« nicht übersehen. Was die größten Leis47 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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tungen des Menschen erklärt, lässt auch seine schlimmsten Verbrechen verstehen. Nicht nur Bach hat sein Leben geführt und dabei die h-Moll-Messe geschrieben. Auch Hitler und Stalin haben ihre Leben geführt. Was sie zu verantworten haben, wäre keinem Tier möglich gewesen. Der Mensch steht nicht allein zwischen den Tieren und den Engeln, sondern auch zwischen den Tieren und dem Teufel. Denn er weiß nicht allein um Gut und Böse, sondern kann auch so handeln – gut oder böse. Die Definition animal rationale ist also sehr abgründig: Sie verweist nicht nur auf die besondere Auszeichnung, sondern auch auf die besondere Gefährdung des Menschen und deutet einen Riss, einen Hiatus, an, der zwischen Mensch und Tier trotz aller Gemeinsamkeiten und Verwandtschaft sich klaffend auftut – und nie geschlossen werden kann. Nie können Menschen daher wissen, was es bedeutet, ein Tier zu sein. Auf immer ist dies ihnen unmöglich – weil sie Mensch sein dürfen und müssen. Mensch und Tier verbindet eine geheimnisvolle Nähe – und trennt eine nicht weniger geheimnisvolle Differenz.
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Koexistenz und Verantwortung: Das gemeinsame Leben von Mensch und Tier »Wolf liebt die Spaziergänge mit ihm, das Streunen durch die Wälder, die Sumpfwiesen ringsum, und empfindet gleichzeitig eine fast andächtige Scheu vor dem Tier, nicht nur wegen seiner Kraft. Webster kommt ihm überlegen vor allein dadurch, dass er völlig zufrieden ist mit dem, was ihm die Schöpfung zugedacht hat, dass er nichts anderes sein will als Hund – und das nährt in ihm den Verdacht, er sei vielleicht etwas ganz anderes, eine vorzeitliche Hieroglyphe, nicht zu entziffern.« 4 Ralf Rothmann
Obwohl sie anders leben, sind viele Tiere Gefährten des Menschen. Seit langem schon leben sie nicht nur in der Nähe des Menschen, sondern auch zusammen mit ihnen und erleichtern ihnen ihr Leben. Tiere können Menschen nicht nur nähren und bekleiden, sondern auch schützen, auf sie aufpassen oder schwere Lasten tragen. Manche Tiere werden dem Menschen sogar zum »Freund«. Man kann sich auf sie und ihre Treue verlassen; sie können durch ihre Nähe trösten, mit ihrem Spiel Freude bereiten und einem die Zeit vertreiben. Man empfindet daher über den Tod eines nahen und vertrauten Tieres große Trauer – und kann gerade dann auch der Differenz zwischen dem Sterben eines Tieres auf der einen und dem eigenen Tod oder dem Tod eines Menschen auf der anderen Seite bewusst werden. Ralf Rothmann, Feuer brennt nicht, Frankfurt am Main 2009, 100 f. 4
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Insbesondere in der Neuzeit hat sich das überlieferte, Nähe und zugleich Ferne betonende Verhältnis des Menschen zu den Tieren gravierend geändert. Die genannten Widersprüche im Verhältnis des Menschen zum Tier zeigen dies sehr deutlich. Sie sind nämlich vor allem im Kontext der Moderne entstanden und vor diesem Hintergrund zu erklären. Denn das neuzeitliche Denken trennt seit Descartes sehr stark zwischen res cogitans, der denkenden Sache, und der res extensa, der ausgedehnten Sache, also zwischen Geist und Materie. Wird dem Menschen der Geist zugesprochen, so wurden die Tiere auf die Seite des Materiellen gestellt. In Reaktion darauf wird manchmal die Nähe zwischen Mensch und Tier auf Kosten ihrer Differenz überbetont. Der Mensch erscheint dann selbst als nichts als ein anderes Tier. Die Krise des einen Extrems scheint unweigerlich zu einem anderen Extrem zu führen. Die Situation scheint sogar noch vertrackter zu sein: Beide Extreme finden sich gleichzeitig und schaukeln sich wechselseitig auf. Je brutaler Tiere behandelt werden und je gleichgültiger man ihrem Leid begegnet, so scheint es, umso niedlicher präsentiert man sie in den Medien und umso verhätschelter werden jene Tiere, die mit Menschen zusammenwohnen dürfen. Massentierhaltung und Hundesalon, Billigbacon und ein Frauenrechtspreis für ein anderes, wenn auch ganz besonderes Schwein, Miss Piggy nämlich, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie sich diese Extreme und somit auch das widersprüchliche Verhältnis des Menschen zum Tier überwinden lassen. Ein möglicher Weg könnte darin bestehen, jenes in den Blick zu nehmen, was der neuzeitliche Dualismus von Geist und Materie aus den Augen verloren hat. Dies ist 50 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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ein dritter Bereich, der zwischen der ausgedehnten Materie und dem Geist liegt und beide auch miteinander verbindet: die Welt des Lebendigen, jenes Seienden, das sich dadurch auszeichnet, dass es lebt. Da zu dieser Welt sowohl Menschen als auch Tiere – jeweils auf die ihnen eigene Weise – gehören, war die »Lebensvergessenheit« für das Verständnis des Menschen, der Tiere und ihres Verhältnisses zueinander so problematisch. Umgekehrt könnte ein erneutes Nachdenken über die Welt des Lebendigen auch zu einem verwandelten Verhältnis von Mensch und Tier führen. Was das bedeutet, kann im Folgenden nur kurz angedeutet werden. Weil Menschen sich in ihrer Freiheit auch zur gesamten Welt des Lebendigen verhalten, weil sie also diese Welt zu ihrer Welt gemacht haben und machen, kommt ihnen auch eine besondere Verantwortung für sie zu. Ohne eine Grenzen anerkennende Verantwortung ist wirkliche Freiheit gar nicht zu denken. Sie wäre sonst reine Willkür. Doch wird allzu selten die Verantwortung des Menschen für das Leben beachtet. Das Lebendige wird vergegenständlicht, ausgebeutet und den verschiedensten menschlichen Interessen unterworfen. Wohin dies führt, zeigt die gegenwärtige ökologische Krise nur allzu deutlich. Wenn der Mensch seine Rolle nicht neu versteht, wenn ihm nicht wieder deutlich wird, dass er gemeinsam mit anderen Lebewesen in dieser einen Welt lebt und dass ihm diese Welt zur Fürsorge anvertraut ist und er aus Sorge für das Leben – und zwar nicht nur das eigene, sondern auch das anderer Lebewesen – heraus handeln soll, wird sich diese Krise nicht bewältigen lassen. Eine neue Ökologie, eine neue – so die wörtliche Übersetzung – »Lehre vom Haus«, das Mensch und Tier gemeinsam bewohnen und für das der Mensch in besonderer Weise Verantwortung 51 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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trägt, ist notwendig. Dies ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend ins Bewusstsein gerückt. Wenn Menschen diese Verantwortung übernehmen, wird dies auch zu einem anderen, weniger widersprüchlichen Verhältnis zu den Tieren führen – jenseits von Verdinglichung oder Vermenschlichung. Denn sie lässt fragen, was für ein Tier an sich wirklich gut ist, und führt dazu, dass dieses Gut anerkannt und ihm entsprechend gehandelt wird. Ein solches Verantwortungsbewusstsein führt aber auch zu einem anderen Verhältnis zur Natur im Ganzen. Der Mensch und seine Interessen sind eben nicht das Maß aller Dinge. Die Wünsche des Menschen haben sich wieder enger an der Natur, also auch daran, was Tiere wirklich, von ihrem Wesen her sind und was für sie gut ist, zu orientieren. Die Verantwortung für das Leben führt nicht zuletzt dazu, dass der Mensch sich zu sich selbst anders verhält und seine eigene Natürlichkeit zu respektieren lernt. Die Verantwortung, die der Mensch für sich selbst hat, ist untrennbar mit der Verantwortung, die er für Tiere und die Natur hat, verbunden. Es gibt eine Gemeinschaft von allem Lebendigen. Menschlich kann man daher nur leben, wenn man auch den Tieren erlaubt, »tierlich« zu leben – und wenn man die Natur nicht radikal »entnaturiert«, sondern sie immer auch natürlich sein lässt und ihr gemäß zu leben versucht. Die Aufgabe, Verantwortung für das Leben zu übernehmen, ist nicht einfach. Es lässt sich auch nicht immer leicht sagen, was dieses Verantwortlich-Sein des Menschen im Einzelnen und Konkreten genau bedeutet. Doch gibt es zu ihr nur die Alternative, dass die Spannungen und Widersprüche von Natur und Kultur noch weiter zunehmen – unter der Gefahr, dass der Mensch, wie wir ihn bislang kennen, wie wir selbst Mensch sind, gänzlich seine 52 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Heimat verliert und auf lange Zeit ein unbehaustes Dasein fristet oder sogar sich selbst auslöscht und einem nietzscheanischen Übermenschen weicht.
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Sterben, Tod und die Kunst des Lebens Zur Verantwortung für den anderen Menschen
Das Ereignis des Todes Manche Menschen sterben plötzlich. Sie werden, so sagt man, aus dem Leben gerissen. Nichts hat auf ihren unmittelbar bevorstehenden Tod hingewiesen. Ein Unfall, ein Herzinfarkt oder ein Gewaltakt bereitet ihrem Leben ein Ende. Andere Menschen sterben alt und lebenssatt. Aber auch wenn ihr Tod nicht überraschend kam, war sein genauer Zeitpunkt trotzdem nicht vorherzusehen. Selbst wer an einer schweren Krankheit leidet und, wie ihm die Ärzte versichern, nur noch kurze Zeit zu leben hat, weiß nicht, wann genau ihn der Tod ereilen wird. Voller Hoffnung mag er sich fragen, ob es möglich ist, noch einmal den eigenen Geburtstag oder ein Weihnachtsfest im Kreise der Familie zu feiern. Jeder Mensch weiß, dass er sterben wird. Niemand kennt jedoch die Stunde seines Todes. Wann man sterben wird, entzieht sich jeder Berechnung oder Planung. Man kann freilich versuchen, den Tod und das eigene Sterben in den Griff zu bekommen. Es ist möglich, den Freitod zu wählen und aus eigener Hand zu sterben. Doch hat man dadurch den Tod wirklich in der Hand? Man kann zwar den Zeitpunkt seines eigenen Todes planen. Selbst im (Ausnahme-)Falle des Freitodes bleibt allerdings offen, wie der Tod geschieht und was genau sich im Sterben voll55 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
zieht – ganz abgesehen davon, dass kein Tod jemals in vollem Sinne frei sein kann. Man kann sich nämlich nie entscheiden, nicht zu sterben. Der Tod, auch der geplante und absichtlich herbeigeführte, folgt einer ihm eigenen, den Menschen verschlossenen Logik und lässt sich nicht beherrschen. Er ereignet sich und geschieht einem weit eher, als dass man ihn aktiv geschehen ließe. Er zeigt sich, selbst wo ein Mensch schon mit ihm ringt, oft mit einer ihm eigenen Plötzlichkeit und kann in seiner Konkretheit nicht vorhergesehen oder genau terminiert werden. Als unvermeidbares Geschehen bricht er, ob als gewalttätig erfahren, ob als Erlösung herbeigesehnt, in das menschliche Leben ein. Niemand kann ihm entgehen. Nicht nur jedes Jetzt wird einmal vergangen sein. Jeder Mensch wird einmal nicht mehr sein. Im Tod zeigt sich somit eine unüberschreitbare und geheimnisvolle Grenze, die allem menschlichen Tun gesetzt ist. Menschliches Leben ist zwischen dem Anfang der Geburt und dem Tod als Ende aufgespannt. Es entsteht und wird unweigerlich wieder vergehen. Das eigene Sterben kann man erleben. Der Tod selber kann allerdings nie zum Erlebnis werden. Er setzt allen Erlebnissen ein Ende. Man kann nicht auf ihn zurückschauen, nicht über ihn nach-denken. Er ist kein Ereignis im Leben und gehört doch – als Grenzereignis des Lebens – zum Leben dazu. Jedoch ist der Tod nicht einfach nur das radikal Andere des Lebens, ein zwar unvermeidlicher, aber vernachlässigbarer Schlusspunkt. Der Tod ragt ins Leben hinein. Er geschieht nicht einfach nur innerhalb der menschlichen Zeit als schnell verklingender Schlusspunkt, sondern ordnet und stiftet überhaupt die menschliche Zeit, gibt ihr ein Gesicht, eine Ausrichtung, die sie ohne ihn gar nicht hätte. Menschen leben auf ihren Tod hin. 56 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
Menschliche Zeit ist gestundete Zeit und setzt das Leben des Menschen unter einen oft stillen, aber nie wirkungslosen Vorbehalt. Wie immer Menschen leben, sind sie ihres Todes, ihrer eigenen Sterblichkeit inne. Des Todes inne zu sein, das bedeutet nicht, sich immer seiner bewusst zu sein oder sich über ihn ausdrücklich Gedanken zu machen. Man kann des Todes auch unbewusst oder unausdrücklich inne sein. Manche Menschen haben, ob sie sich dies eingestehen oder nicht, große Angst vor dem Tod. Vielleicht denken sie sehr viel über das Sterben nach. Diese Angst kann sie lähmen. Andere Menschen verdrängen den Tod im Alltag und leben so, als sei ihr Leben unendlich. Doch wissen sie sehr genau, dass auch sie sterben werden und dass, wer den Tod nicht ernst nimmt, sich selbst etwas vormacht. Wie kann man dem Tod begegnen? Wie kann man mit ihm, auf ihn hin leben? Kann man lernen, auf ihn zuzugehen? Gibt es eine Kunst des Sterbens? Kann man den Tod sogar lieben – als jenen Gast, der unheimlich, aber doch vertraut, immer schon im eigenen Leben wie im Leben aller anderen Menschen seine Spuren hinterlassen hat?
Sterben lernen Alles scheint dagegen zu sprechen, dass man sterben lernen kann. Wie soll man jenes lernen, zu dem es von seinem Wesen her gehört, unwiederholbar zu sein, nur einmal zu geschehen? Man stirbt nur einmal. Eine zweite »Chance« wird einem nicht gegeben. Es ist trivial: Wer stirbt, kann vorher nicht schon einmal gestorben sein. Lernen setzt aber Wiederholbarkeit voraus: Man tut etwas 57 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
immer wieder, um es Schritt für Schritt sich anzueignen und seine entsprechenden Fähigkeiten zu verbessern. Vielleicht wird man sogar, wenn man nur lange genug übt, eine Meisterschaft in einer Tätigkeit entwickeln. Und lernen kann man auch nur jenes, was eine allgemeine, eine über eine einmalige Situation hinausreichende Dimension hat. Man kann daher lernen, dass der Mensch im Allgemeinen sterblich ist. Man stirbt aber nie den Tod im Allgemeinen, sondern immer – nur und gerade – den je eigenen Tod. Zu sterben gehört daher zu den intimsten Vollzügen des Menschen. Wie soll man das, was seiner Definition nach absolut einmalig und innerlich, dem Menschen ganz eigen ist, im Vorfeld lernen können? Weil man selbst sterben muss, seinen je eigenen Tod sterben wird, kann man auch nicht so einfach am Beispiel eines anderen Menschen lernen zu sterben. Man kann beeindruckt sein von der stoischen Ruhe, mit der ein Mensch stirbt, oder von den letzten Worten, die ein Mensch sagt, von den Gesten und Blicken, mit denen er Abschied nimmt. Man kann bestürzt sein über die Unfähigkeit eines anderen Menschen, von der Welt und jenen Menschen loszulassen, mit denen er gelebt und die er geliebt oder auch gehasst hat. Man kann tiefe Trauer empfinden über die Lethargie eines anderen Menschen im Sterben, über seine Gleichgültigkeit oder die Sprachlosigkeit, die es ihm nicht erlaubt, Abschied zu nehmen. Nie wird man allerdings aus dieser Außenperspektive heraus erfahren können, wie sich das Sterben von innen her vollzieht. Wie fühlt es sich an, seine letzten Atemzüge zu tun? Was erfährt man, wenn man spürt, dass die eigenen Kräfte versiegen und an ein allerletztes Ende kommen? Was geht einem durch den Kopf, wenn man weiß, dass man nur noch wenige Male den Anfang eines neuen 58 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
Tages, die Stunden voller Licht und Schatten, die Ruhe der Nacht erleben wird? Wie einsam geht man diesen letzten Weg? Wie verzweifelt ist man, auch wenn man sich anders zu geben versucht? Welche Hoffnungen tragen einen? Wie sehr sprechen einen Worte oder Gesten des Trostes überhaupt noch an? Was bedauert man? Worauf ist man stolz? Auf diesem letzten Weg ist jeder Mensch zwar nicht immer allein, aber doch ganz einsam. Der Sterbende kann den anderen Menschen daher nichts vormachen, nichts vorleben oder vorsterben, was sie lernen könnten und dann, in ihrer eigenen Todesstunde, nur wiederholen müssten. Das Sterben ist keine Kompetenz, die man lehren und lernen könnte. Und doch kann man sich auf den Tod vorbereiten. Sterbende können jenen, die bei ihnen sind und die ihnen bei ihren letzten Schritten beistehen, ihrerseits dabei helfen, der eigenen Endlichkeit neu zu begegnen. Es gibt keine Technik, aber durchaus eine Kunst des Sterbens, die man einüben und in der man sich auch unterweisen lassen kann. Während man bei einer Technik vorgegebenen Regeln folgt und dann etwas machen kann, was einem selbst, der eigenen Existenz, äußerlich ist, setzt die Kunst – bei allen Grauzonen zwischen ihr und der Technik – in ganz anderer Weise Freiheit, Kreativität und den Einsatz des eigenen Selbst voraus. In ihr zeigt sich nicht einfach nur, was jemand kann oder will, sondern wer jemand ist. Eine Kunst des Sterbens setzt allerdings ein besonderes Verhältnis zum Sterben voraus – und damit immer auch zum Leben. Wenn man das Sterben auf eine bestimmte Phase des Lebens – jene Tage oder Wochen unmittelbar vor dem Tod – reduziert oder auf etwas, das man irgendwie bewerkstelligen und in den Griff bekommen muss, versagt die Kunst des Sterbens. Sie vermittelt keine 59 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
Rezepte oder Tricks, derer man sich im Notfall bedienen könnte, und sie verlangt zudem, das Sterben vom Leben her und das Leben vom Sterben her zu verstehen. Sterben ist nämlich trotz der Einmaligkeit des eigenen Todes nicht etwas ganz anderes als das Leben, ein seltener Sonderfall mit eigenen Regeln, sondern im eigentlichen Sinne Leben selbst. Und umgekehrt bedeutet zu leben, immer auch zu sterben. In jeder Minute des Lebens rückt man dem eigenen Tod näher. Es gibt daher nicht eine Kunst des Lebens und eine andere Kunst des Sterbens, sondern nur eine einzige Kunst, die zu leben hilft – und aus genau diesem Grunde auch menschlich zu sterben erlaubt.
Schwieriges Sterben Trotz der Vielzahl der Lebensratgeber, die man erwerben und lesen kann, scheint es heute schwer zu sein, die Kunst des Lebens ein- und auszuüben. Die Tatsache, dass es so viele vermeintlich hilfreiche Bücher gibt, ja, dass nicht wenige Menschen mit ihrem eigenen Leben unzufrieden sind, sich überfordert und mit ihren Fragen zum Leben und zum Sterben allein gelassen fühlen und oft auch keine rechten Worte mehr finden, um zur Sprache zu bringen, woran es ihnen fehlt und wonach sie sich sehnen, zeigt diese Schwierigkeit. Vielleicht ist der technische Blick auf die Welt so übermächtig geworden, dass es keinen Raum mehr gibt für jenes, was sich der Technik immer schon entzogen hat: das gelingende Leben und Sterben. Aus der Perspektive des technischen Blickes wird alles zu einem Produkt oder Projekt. Überall gelten die Kriterien von Leistung und Effizienz. Glück wird auf körper60 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
liche Zufriedenheit reduziert. Das Gelingen des eigenen Lebens ist dann eine Frage gut geplanter Ab- und Versicherungen. Wozu eine Kunst bemühen (mit all der Unsicherheit, die mit ihr immer verbunden ist), wenn die Technik Heil und Erlösung verspricht? Wenn allerdings dieser Blick vorherrscht, ist das Sterben nicht mehr im Leben präsent, sondern wird auf die Zeit unmittelbar vor dem Tod reduziert, den es immer weiter herauszuschieben und im Alltag zu verdrängen gilt. Leben und Sterben stehen nun im Gegensatz zueinander. Denn für das Leben gelten ganz andere Regeln als für das Sterben. Man trennt jene, die noch leben, von den anderen, die schon sterben. Die Medizin wird zu einer Technik des Lebens – und versagt angesichts des Sterbens. Der Tod wird zu einer Kränkung und zu einem Tabu. Man spricht nur noch verhalten oder gar nicht mehr darüber. Man schweigt ihn tot. Es ist noch nicht lange her, dass das Sterben und der Tod im Leben der Menschen viel gegenwärtiger waren als heute. Der Friedhof lag bei der Kirche und war ein viel besuchter Ort. Zahlreiche religiöse Rituale stellten den Tod und das Sterben in ihren Mittelpunkt. Man starb im eigenen Bett und wurde zuhause aufgebahrt. Die Nachbarn übernahmen vor und nach dem Tod wichtige Aufgaben und letzte Dienste. Gewiss, man darf frühere Zeiten nicht idealisieren. Weit mehr Menschen als heute starben einen frühen oder gewalttätigen Tod. Nie war es einfach zu sterben. Tod und Sterben wurden bis vor nicht allzu langer Zeit als schrecklicher und bedrohlicher erfahren als heutzutage. Die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, die Erfolge der Medizin und das Schwinden bedrohlicher Jenseitsvorstellungen haben nicht selten dazu geführt, dass dem Sterben und dem Tod ihr Schrecken genommen wurde. Doch scheint es so, als sei die Integration 61 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
von Leben und Sterben früher einmal besser gelungen – vielleicht einfach deshalb, weil es keine Alternativen gab oder weil der religiöse Glaube mehr Menschen als heute eben auch ein hoffnungsvolles Verhältnis zum eigenen Tod erlaubte. Es ist jedoch diese Integration von Leben und Sterben, ohne die keine Lebenskunst, kein glückendes Leben auskommt. Denn die Kunst des Lebens besteht darin, die Einheit, das Ganze des Lebensvollzuges in den Blick zu nehmen und ihm Gestalt zu verleihen – jenes, das alles, was man tut, schafft oder erfährt, miteinander verbindet und ihm Sinn, eine Ausrichtung verleiht. Dann ist es nicht möglich, das Sterben zu vergessen oder so lange zu verdrängen, bis es sich nicht mehr leugnen lässt. Man kann sich freilich in Illusionen wiegen. Glücklich wird man dabei nicht. Denn zu einer Grundbedingung des menschlichen Glücks gehört das Leben in der Wahrheit. Doch wie lässt sich mit dem Tod in seiner Unerbittlichkeit, mit der Wahrheit des Sterbens – des eigenen wie dem des anderen Menschen – leben?
Gelassen leben, gelassen sterben Sich gegen den Tod aufzulehnen, ihn in Frage zu stellen, eine Weltordnung zu verdammen, zu der das Sterben gehört, und den Tod um jeden Preis zu bekämpfen, dies bringt letztlich – nichts. Den Tod zu leugnen, zu leben, als gäbe es ihn nicht, bringt auch in letzter Konsequenz – nichts. Dem Nichts des Todes kann niemand entgehen. Irgendwann schlägt die Stunde des eigenen Todes. Ob man dies will oder nicht – es gilt, das eigene Sterben und 62 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
den Tod wie alles im Leben, ja, wie das Leben selbst, in ihrer Wahrheit anzuerkennen. Damit stellt sich – in anderen Worten – die Herausforderung, die »Tatsachen« des Lebens und Sterbens sein zu lassen, was sie je und immer schon sind. Diese sein-lassende Haltung gegenüber dem Sterben und Tod ist eine Haltung der Gelassenheit zum und im eigenen Sterben, aber immer auch zum und im eigenen Leben. Gelassenheit im Leben, im Sterben, in der Gegenwart des Todes – was damit gemeint ist, kann man leicht missverstehen. Man könnte denken, dass diese Gelassenheit eine Art von Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben, aber auch gegenüber anderen Menschen und der Welt voraussetzt. Es gibt eine solche gleichgültige Gelassenheit, insbesondere angesichts des Todes. Man kann versuchen, wenn man die Perspektive ganz auf sich selbst verengt, den eigenen Tod in stoischer Gelassenheit hinzunehmen – als Endpunkt, der irgendwann einmal eintreten wird, so wie jedes Blatt einmal vom Baum fallen wird. Für jene, die in dieser Haltung leben, macht eigentlich nichts einen Unterschied. Alles ist ihnen gleichgültig und somit egal. Nichts kann sie wirklich berühren, weil alles nicht nur vorläufig, sondern sogar nichtig ist. Der Preis einer solchen Gelassenheit ist also hoch. Denn man würde für sie mit dem Leben bezahlen, indem man nämlich aufgäbe, so zu leben, wie man leben sollte. Eine solche Gelassenheit angesichts des Todes wäre daher unmenschlich. Ohnehin ist fraglich, ob sie überhaupt möglich ist. Denn wann immer sich der Tod als Preis zeigt, den man, ob man dies will oder nicht, für das Leben zu zahlen hat, oder als Gegner, den man, solange wie nur irgend möglich, zu bekämpfen hat, kann man ihm nicht mehr in gelassener Ruhe begegnen. Immer dann zeigt der 63 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
Tod nämlich seine irritierende Kraft, verletzt den Stolz des Menschen, seine Sehnsucht nach Unendlichkeit, seine Hoffnung auf Mehr, verstößt aus der Ruhe eines ansonsten oft allzu selbstgefälligen Lebens. Nur sehr wenigen Menschen mag es angesichts der oft überwältigenden Macht des Todes gelingen, ihm gegenüber gleichgültig zu sein – und zu bleiben. Zu Lebensvorbildern taugen sie nicht, weil sie sich nämlich angesichts des Todes entschieden haben, das Leben nicht mehr ernst zu nehmen, seine Tiefen und Höhen nicht mehr auszuschöpfen. Für diese Menschen bleibt als zentrale, alles bestimmende Frage, warum sie überhaupt noch leben und sich nicht umgehend töten. Für sie, die alles als absurd erfahren müssen, ist tatsächlich der Selbstmord, wie Albert Camus vermutet hat, das einzige philosophische Problem. 1 Kann, ja, darf man in diesem Sinne gelassen leben und sterben? Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn es um den Tod eines anderen Menschen geht. Kann und darf man gelassen hinnehmen, dass ein anderer Mensch sterben wird? Man müsste schon der Liebe und des Mitleids unfähig sein, um nicht den Tod als Stachel, als Anfrage an die eigene Menschlichkeit zu erfahren, und zwar nicht allein, wenn ein Mensch, der einem sehr nahe ist, den man liebt, stirbt. Ist nicht der eigentliche Skandal weniger die je eigene Sterblichkeit, sondern vielmehr die Sterblichkeit der Anderen, dass also Menschen überhaupt leiden und sterben müssen? Der zu frühe, der unerwartete oder der grausame Tod des Anderen fordert in besonderer Weise heraus, erregt Anstoß, bleibt unverständlich: Kann man diesem Tod des Anderen und überhaupt dem Sterben-Müssen anVgl. hierzu Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 16 2013, 9 ff. 1
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Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
derer Menschen gegenüber gleichgültig sein? Kann, ja, darf man ihm mit stoischer, gleichgültiger Gelassenheit begegnen? Oder bewährt sich die eigene Menschlichkeit nicht vielmehr darin, dass man Mitleid empfindet, also mit dem Anderen leidet, ihn in jener Wunde, als die sich die menschliche Sterblichkeit erweist, nicht alleine lässt, sondern bei ihm und für ihn da ist?
Verantwortung und Fürsorge im Sterben Die von Gleichgültigkeit durchzogene stoische Gelassenheit ist ein Hinnehmen von etwas. Man toleriert, oft in fatalistischer Zuspitzung, was geschieht, weil es sich ohnehin nicht ändern lässt. Man entzieht sich dabei der Verantwortung für das eigene Leben und das anderer Menschen. Man sieht dann nur noch sich selbst – ein winziges, isoliertes Teilchen im Weltall, das genauso gleichgültig gegenüber einem selbst ist, wie man sich selbst ihm gegenüber erfährt. Dann erlebt man nicht mehr, was zu den wesentlichen Wahrheiten des Menschseins gehört, dass nämlich das Sterben des Menschen immer ein soziales, ein mitmenschliches und zur Verantwortung rufendes Geschehen ist. Jeder Mensch stirbt zwar seinen je eigenen Tod. Niemand kann einem anderen das Sterben und den Tod abnehmen. Jedoch stirbt man, auch wenn man mutterseelenallein stirbt, immer auch in Beziehung zu anderen Menschen. Kein Mensch stirbt ganz ohne diese Beziehung. Was von ihm bleibt – die sterblichen Überreste –, verlangt Respekt und Achtung. Menschen können sogar jenen, die vergessen und aus dem Gedächtnis der Mensch65 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
heit gestrichen wurden, ein ehrendes Andenken bewahren. So gibt es nicht nur Gebete für jene Menschen, an die sonst niemand mehr denkt und die im Namenlosen verschwunden zu sein scheinen, sondern auch Denkmale für den »unbekannten Soldaten«. Im Sterben und im Tod zeigt sich daher eine tiefe Verbundenheit aller Menschen. Im Leben ansonsten bedeutsame Unterschiede werden angesichts dieses Letzten und Äußersten unwichtig: Der Tod holt die Reichen wie die Armen. Die Mächtigen müssen genauso sterben wie jene, die am Rande der Gesellschaft stehen. Auf eine gnädige Todesstunde hoffen alle. Dieses Band zwischen allen Menschen wird jedoch nicht recht verstanden, wenn man es so deutet, als erfahre man im Sterben des Anderen nur seine eigene Sterblichkeit. Gewiss: Wenn man vom Tod eines Menschen hört – wenn man wirklich davon hört und die Todesnachricht nicht einfach nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt –, wird einem bewusst, dass, wie jung oder gesund auch immer man ist, man selbst der Nächste sein könnte, der Abschied nehmen muss. Wenn sich jedoch die Traurigkeit angesichts des Todes eines anderen Menschen darin erschöpfte, wäre die Trauer um einen Toten eigentlich eine vorweggenommene Traurigkeit um den eigenen Tod. Mitleid wäre nichts anderes als Selbstmitleid. Zwar fordert der Tod eines anderen Menschen dazu heraus, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Der Andere, der stirbt oder gestorben ist, geht einen Weg vor, den man auch selbst irgendwann gehen muss. Doch nicht nur, weil man selbst sterben muss und im Sterben eines anderen Menschen der eigenen Sterblichkeit nahekommen kann, berührt der Tod eines anderen Menschen. Es gibt auch eine Trauer um des anderen Menschen willen, in der man von sich selbst radikal absieht. Der ster66 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
bende Andere kann zur Mitte des Universums werden. Ihm gegenüber erfährt man dann eine Verantwortung, der man nie gerecht werden kann und an der man immer scheitert: die Verantwortung, ihn in seinem Sterben beizustehen, ihn nicht alleine zu lassen. Das Sterben zeigt sich dann als ein Ereignis, das dem Anderen nicht zustoßen soll – das ihm aber zustoßen wird und ihn unweigerlich ganz einsam sein lässt. Der Tod des Anderen, so zeigt sich dann, darf eigentlich nicht sein – ganz unabhängig davon, wie es einem selbst geht und was man über seinen eigenen Tod denkt. Und das gilt nicht nur für jene Menschen, zu denen man in einer besonderen Nähe steht, sondern für jeden Menschen. Denn dass überhaupt ein anderer Mensch stirbt, ist ein »Unding«, etwas also, das die Ordnung der Welt in Frage stellt, das nicht sein soll – und trotzdem immer wieder geschieht. 2 Solange Menschen noch der Mitmenschlichkeit fähig sind, solange sie sehen, dass ihre Freiheit immer schon durch den Ruf in die Verantwortung für den anderen Menschen herausgefordert ist, ist daher nicht der eigene, sondern der Tod des Anderen der eigentliche Skandal des Lebens. Mit dem eigenen Tod kann man sich irgendwie noch arrangieren – indem man ihn etwa verdrängt oder fatalistisch hinnimmt oder auch gelassen anzunehmen lernt. Doch wie soll man angesichts des Todes eines anderen Menschen gelassen bleiben? Und noch eine andere Frage stellt sich: Wie kann der sterbende Mensch gelassen Die hier entfalteten Ausführungen zur Verantwortung für den Anderen sind angeregt u. a. von Emmanuel Lévinas (vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 4 2008; ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München 4 2011). 2
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bleiben, da er doch nie ganz alleine, nie ohne Beziehung zu anderen Menschen stirbt? Dies ist nur möglich, wenn es neben der stoischen Gelassenheit noch eine andere Weise gibt, gelassen zu sein. Man könnte von einer verantwortlichen oder fürsorgenden Gelassenheit sprechen. Man lässt sein – aber nicht einfach alles, um sich somit aus der Welt zurückzuziehen, sondern nur jenes, was sich als unhintergehbar, als unverfügbar erweist. Wenn man es sein lässt, toleriert man es nicht einfach nur. Man erkennt es an oder respektiert es als das, was es wirklich, in Wahrheit ist: dem menschlichen Verfügen, dem Planen und Bestimmen des Menschen entzogen. Wenn man das Unverfügbare des Todes anerkennt, nimmt man es aber nicht einfach nur zur Kenntnis. Man sieht in dem unverfügbaren »Dass« des Todes ein jeden Menschen einforderndes Moment des Lebens selbst – und zwar aus eigener Freiheit heraus. Anerkennung ist nämlich nicht nur ein kognitiver Akt, sondern immer auch ein moralischer Akt. Etwas (oder jemanden) anzuerkennen als das (oder den), was (oder wer) es (oder er) wirklich ist, also es nicht so zu sehen, wie man es selbst gerne hätte oder wie man es aufgrund von äußerem Druck sehen möchte, ist immer ein Freiheitsgeschehen und damit von Verantwortung für das, was man tut und wie man handelt, nicht zu trennen. Denn wer frei etwas vollzieht, hat sein Handeln auch zu verantworten – und muss, selbst wenn er in Freiheit etwas gelassen als unverfügbar anerkennt, unter Umständen auch etwas tun. Doch was kann es bedeuten, gegenüber dem Unverfügbaren des Sterbens und des Todes Verantwortung zu übernehmen? Diese Verantwortung kann sich angesichts der Unverfügbarkeit des Todes letztlich nicht auf das nackte »Dass« des Todes beziehen (auch wenn die Diskussion 68 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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um den sog. »assistierten Suizid« einen anderen Eindruck erweckt). Sie betrifft allerdings sein »Wie« – und zwar sowohl auf der Seite des sterbenden Menschen als auch auf der Seite jener, die ihn begleiten. Wie jemand stirbt oder wie sein Sterben sich einem anderen Menschen zeigt, ist nämlich – in den meisten Fällen – nicht einfach unverfügbar. Es ist durchaus eine Frage der Verantwortung, die Menschen füreinander immer schon haben, ob ein Sterbender seine letzten Aufgaben erledigt hat oder nicht und ob er, falls ihm das möglich war, Abschied genommen hat und zur Versöhnung bereit war, so dass er in Frieden aus der Welt scheiden konnte. Auch wer stirbt, ist nicht frei von aller Verantwortung. Die Gelassenheit im Sterben steht genauso wie die Gelassenheit im Leben im Horizont der Sorge für den anderen Menschen. Und auch wer weiter lebt, trägt Verantwortung und ist zur Sorge für den anderen, sterbenden Menschen aufgerufen. Es ist zumeist nicht unverfügbar, ob jemand alleine oder von anderen Menschen begleitet stirbt, ob jemand im Sterben Zuspruch, Trost oder konkrete Hilfe und Erleichterung erfährt, ob er eine Antwort auf ein versöhnendes Wort erfährt oder nicht oder ob er weiß, dass man ihm ein würdiges Andenken bewahrt. Die gelassene Kunst des Lebens, die vor ihrer Verantwortung nicht zurückschreckt, ist daher immer sowohl eine Kunst des Mit-und-bei-dem-Anderen-Sterbens als auch eine Kunst des Begleitens, des Mit-dem-AnderenLebens im Sterben. Es ist eine Kunst, die man nie alleine, so, als gäbe es keine anderen Menschen, sondern nur im Mit- und Füreinander, im Sorgen für den anderen Menschen ein- und ausüben kann. Dieses Sorgen darf dem anderen Menschen seine Freiheit nicht nehmen und ihn den eigenen Wünschen und Maßstäben unterordnen. Es kann 69 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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nur eine Sorge um des Anderen willen in seiner Andersheit, in seinem eigensinnigen Selbstsein sein, eine Sorge also, die Freiheit nicht beschränkt, sondern in jenen letzten Momenten, in denen die äußeren Notwendigkeiten allbeherrschend zu werden scheinen, Freiheitsräume bewahrt und erschließt. 3 Durch diese Sorge kann auch ein sterbender Mensch – sowohl als Sorgender als auch als »Be-sorgter« – selbst in der äußersten Bedrängnis der Todesstunde, in der kaum noch ein eigenes Handeln möglich scheint und in der die Unverfügbarkeit des Todes oft als ein bloßer, von außen kommender Zwang erfahren wird, ein Moment von Freiheit erleben, das ihn zum eigenen Sterben gelassen »Ja« sagen lässt.
Die Gabe des Todes und das Geschenk der Sterblichen In dieser Freiheit kann sich das Sterben nicht allein als rein äußere Notwendigkeit zeigen, sondern als etwas, das man darf. Der Tod gibt sich als ein Ereignis, das sich dem Leben zueignet, das ihm geschenkt wird. Dieser Gedanke ist radikal: Ist der Tod wirklich eine Gabe? Kann man so tatsächlich die Unverfügbarkeit des Todes erfahren? Raubt dieser Gedanke dem Tod nicht seinen Stachel, seine Härte und seine Unbarmherzigkeit? Das kann der Fall sein, wo
Vgl. zu den beiden Möglichkeiten einer den Anderen abhängig machenden und einer den Anderen befreienden Fürsorge auch die Ausführungen von Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977, 162 ff. 3
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immer vom Sterben-Dürfen gesprochen wird, ohne dass nicht zugleich auch vom Sterben-Müssen die Rede ist, und wo immer so dem Sterben sein unerbittlicher Ernst genommen wird. Wird das Sterben-Müssen allerdings anerkannt, kann sich auf einer tieferen Ebene der Tod als jenes zeigen, was Menschen so wie ihre Geburt auch gegeben wird, ohne dass sie dies je verdient hätten. Noch einmal zeigt sich angesichts dieses Geschenks der enge Zusammenhang von Leben und Sterben. Denn was wäre das Leben des Menschen, wenn der Mensch nicht sterben müsste? Wäre es wünschenswert, ewig zu leben? Für die Menschheit wäre dies keinesfalls wünschenswert. Menschliche Geschichte setzt die Abfolge der Generationen voraus. Im alles erdrückenden Schatten dessen, was immer schon oder für sehr lange Zeit Bedeutung hatte, können sich nämlich neue Ideen oder Impulse gar nicht entwickeln. Das menschliche Leben würde erstarren. Aber auch der einzelne Mensch darf dafür, dass er sterben muss, dankbar sein. Wenn er nicht sterben müsste, verlöre sein eigenes Leben seinen Ernst – und damit auch seinen Sinn. Es gäbe kein Ja und kein Nein, das eine letzte, das Leben in Frage stellende oder riskierende Bedeutung hätte. Wenn Entscheidungen nicht in verrinnender Zeit geschähen, könnte man sich immer irgendwann einmal anders entscheiden. Es gäbe keinen Unterschied zwischen einem Akt wirklicher Freiheit und einer spontanen Laune. Alles erschiene als gleich-gültig. Der Unterschied zwischen Sinn und Sinnlosigkeit würde verschwinden. Und noch in einem dritten Sinn darf man für das Sterben und die Gabe des Todes dankbar sein. Denn angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes kann sich zeigen, was wahre Menschlichkeit ausmacht und wer der Mensch wirklich ist – und sein soll. Der Mensch zeigt sich als 71 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens
Wesen, das nicht allein, nur auf sich bezogen, sondern mit und bei anderen Menschen lebt und ihnen in Verantwortung, solidarisch, oft sich selbst radikal hingebend zugewandt ist. Er zeigt sich aber auch als ein Wesen, das über die Grenze des Todes hinausdenken und -hoffen kann und der alles darauf setzen kann, dass dem Tod nicht das letzte Wort gehört. Nicht nur der Tod erscheint dann als eine Gabe, sondern auch Menschen können angesichts seiner, in seiner geheimnisvollen und gewaltigen Präsenz zu überraschenden und beglückenden Gaben füreinander werden.
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Die europäische Krise, die Grenzen des Pragmatismus und die Würde des Menschen Zur Identität Europas
Europa am Scheideweg Was bislang kaum für möglich gehalten wurde, was undenkbar war, weil es nicht geschehen sollte, nicht geschehen durfte, könnte Gegenwart werden. Die Europäische Union oder die Euro-Zone könnte zerbrechen. Es ist schwierig zu sagen, wie groß diese Gefahr tatsächlich ist, ob sie schon einmal größer war als jetzt, ob sie bald vorüber sein wird oder was man tun müsste, um sie endgültig zu bannen. Fraglich ist auch, was genau dieses Auseinanderbrechen bedeuten würde. Selbst unter Experten und erfahrenen Politikern herrscht in diesen Fragen keine Einigkeit. Deutlich ist jedenfalls, dass zurzeit wie selten zuvor das »Projekt Europa« zur Diskussion – und zur Disposition – steht. Der Prozess, der aus schwierigen Anfängen heraus Freundschaft zwischen ehemaligen Feinden, Gemeinsamkeit trotz unterschiedlicher Traditionen und Geschichten sowie Unterstützung füreinander über teils ferne Grenzen hinweg möglich gemacht hat, könnte durch die gegenwärtige Krise der Euro-Zone wie auch der gesamten Europäischen Union nicht allein abgebremst, sondern sogar teils umgekehrt werden. Damit ist noch nichts über die konkreten Gefahren gesagt, die mit dem »Brexit« verbunden sind oder die eintreten würden, wenn – im »Grexit« – ein Land wie Griechenland die 73 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Die europäische Krise, die Grenzen des Pragmatismus …
Euro-Zone verließe oder verlassen müsste: von der teils schon realen Möglichkeit einer langen, den gesamten Kontinent erfassenden wirtschaftlichen Krise, von der weiteren Stärkung längst überwunden geglaubter Nationalismen oder vom Ausbruch gesellschaftlicher Unruhen und Bürgerkriege oder gewalttätiger Konflikte zwischen einzelnen Ländern. Daher steht Europa an einem Scheideweg, der klare Bekenntnisse verlangt – und den Mut zur Entscheidung, den viele europäische Politiker vermissen lassen. Denn man fährt lieber auf kurze Sicht, will Wähler nicht verunsichern oder von ihnen nicht zu viel verlangen. Die Europa-Skepsis kennt viele Formen. Neben dem Populismus der neo-nationalistischen Bewegungen und Parteien steht eine Leidenschaftslosigkeit, die sich hinter der Maske von Pragmatik und Hemdsärmeligkeit versteckt und die – im Medium viel beschworener Alternativlosigkeiten – nicht nur politische Antworten auf die Herausforderungen der Stunde verweigert, sondern auch das Stellen grundlegender Fragen schlechthin vermeidet. Zur Frage steht heute nämlich nicht nur, wie die EuroKrise zu bewältigen ist. So schwer eine Antwort auf diese Frage im Detail sein mag, so einfach wäre sie doch, wenn es nur darum ginge. Eine größere Solidarität unter den Ländern der Europäischen Union wäre gefordert, der Wille, Probleme gemeinsam, nicht gegeneinander anzugehen, die Bereitschaft, die notwendigen Schritte in Richtung einer Vertiefung der europäischen Einheit im wirtschaftsund finanzpolitischen Bereich und darüber hinaus zu gehen. 1 Es geht zurzeit aber um viel mehr. Denn neben Vgl. in diesem Zusammenhang auch die wichtigen Überlegungen von Jürgen Habermas (z. B. in: Jürgen Habermas, Im Sog der Tech1
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der Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt sich eine politische und insbesondere eine kulturelle Krise Europas. Ja, es könnte sein, dass sich die Wirtschafts- und Finanzkrise in der bekannten Form überhaupt nur auch aufgrund dieser kulturellen Krise hat entwickeln können. Es ist nämlich die Identität Europas, die unsicher, brüchig, fraglich geworden ist, so dass es zu Ermüdungs- und Lähmungserscheinungen gekommen ist, wo doch eigentlich gemeinsames Handeln notwendig wäre. Mehr und mehr haben sich mögliche Vorstellungen darüber, was Europa jenseits des Wirtschaftlichen sein könnte und sein sollte, verflüchtigt; mehr und mehr stellt sich der Eindruck ein, dass jenes Europa, für das die Bürokratien von Straßburg und Brüssel symbolhaft stehen, nicht nur zu nichts gut sei, sondern mehr Schlechtes als Gutes mit sich bringe; mehr und mehr ist an die Seite des Gemeinsamen und Verbindenden ein oft unübersehbares Durcheinander von Partikularinteressen, Ränkespielen und Zynismen getreten. Selbst wo äußerlich Harmonie beschworen wird, herrschen Dissonanzen vor. Die Medien unterstützen diese Europa-Skepsis oft eher, als dass sie ihr durch eine Versachlichung der Debatte Einhalt gebieten. Woran immer wieder erinnert wird, sind Probleme und Schattenseiten, so, als ob sich hinter »Euro-
nokratie. Kleine Politische Schriften XII, Frankfurt am Main 2013, Teil III; ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Frankfurt am Main 2011; ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001, Teil IV). Vgl. zur Notwendigkeit, andere Möglichkeiten der Verbindung von Staaten als der eines »europäischen Superstaates« in den Blick zu nehmen, Roman Herzog, Europa neu erfinden. Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie, München 2014, 112 und passim.
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pa« ein äußerer Gegner versteckt, ein Komplott von abgehobenen Eliten oder eine Verwaltungsmaschine, die längst schon nur noch ihrer eigenen Logik folgt. Selten wird über Positives berichtet, über das, was Europa möglich gemacht hat und nach wie vor möglich macht und was bereits tief in das Leben der Europäer eingegriffen hat. Niemand möchte es missen. Aber nur selten rückt es ins Bewusstsein. Daher kann man sogar hören, dass es gut sei, wenn die Europäische Union, wie sie sich in Jahrzehnten entwickelt hat, scheitere, dass die Folgen dieses Scheiterns überschaubar, die Vorteile überwältigend seien und dass aus den Trümmern etwas Neues, etwas Besseres wachsen werde. Daneben gibt es Vertreter des offiziellen Europa, die eine Europa-Rhetorik entwickelt haben, die sich verselbständigt hat und die kaum noch zu überzeugen vermag. Erstarrt zu bedeutungslosen Floskeln ist, was man oft zu hören bekommt: Lippenbekenntnisse, abstrakte Formeln, die man verbreitet, weil man sie immer so gesagt hat. Bei manchen Fürsprechern Europas wundert es nicht, welche Kritiker Europa bekommen hat. Es ist noch nicht lange her, dass Politiker, wenn sie von der Notwendigkeit der europäischen Einigung sprachen, keine Floskeln verkündeten. Noch die Generation der in den 1930er und frühen 1940er Jahren geborenen Politiker hatte am eigenen Leib die Notwendigkeit Europas erfahren. Wer in dieser Generation von Europa sprach, konnte dies nicht tun, ohne persönlich zu werden, ohne sich und andere zu erinnern: an gefallene Väter, an das Leid der Mütter, an die eigene Verzweiflung, aber auch an die ersten Annäherungen an andere, noch fremde Länder und die ersten zaghaften Erfahrungen eines friedlichen Europas. Mit diesen Erfahrungen – Erfahrungen, die die Grenzen der Nationalstaaten längst überwunden hatten, Erfahrun76 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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gen ganzer Generationen – setzten sie sich für die europäische Einigung ein, forderten so manches Opfer von ihren Wählern, erwarteten viel von sich und den anderen und ermöglichten so Versöhnung zwischen Nationen und Menschen, die lange unmöglich erschien. Dieser Generation von Politikern – keine Berufs-, sondern Überzeugungseuropäer – verdankt Europa viel. Spricht man heute von Europa, gibt es daher schon eine Tradition der großen Europäer des 20. Jahrhunderts, welche die heutige Generation – und zwar nicht nur Politiker sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Entscheidungsträger – in die Pflicht nimmt. Umso beschämender ist oft, was man in der Gegenwart zu vernehmen hat – oder nicht mehr vernimmt. Doch wie kann man an diese Tradition anknüpfen? Wie kann man Europa wieder lebendig werden lassen – nicht als eine lebensferne Idee, sondern als eine Wirklichkeit, als Heimat, die mehr Einsatz, mehr Begeisterung und auch mehr Freude und Zuversicht rechtfertigt?
Jenseits des Pragmatismus Was ist Europa? Und vor allem: Wozu Europa? Selten nur werden diese Fragen gestellt. Sie klingen zu akademisch, zu theoretisch, zu überladen mit der Last der Vergangenheit. Lange hat man auf diese Fragen sehr pragmatische Antworten gefunden. Was Europa sei, welches Land dazu gehöre, welches noch nicht oder gar nie, wurde oft aus der konkreten Situation, mit Blick auf konkrete Anfragen oder strategische Überlegungen – sei es in militärischer, sei es in wirtschaftlicher Perspektive – diskutiert. Unterschwellig war klar, was Europa ist und wozu es gut ist. 77 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Unterschwellig war auch klar, dass es, selbst wenn zunächst der Weg einer tieferen Einheit auf dem Gebiet der Wirtschaft gesucht wurde, es um viel mehr ging als um Fragen der Wirtschaft. Diese spielten und spielen gewiss eine große Rolle. In Zeiten einer globalisierten Weltwirtschaft können nämlich selbst starke europäische Nationalökonomien langfristig nur erfolgreich sein, wenn sie sich zusammentun, wenn sie im Inneren Grenzen aufheben und den Güter- und Warenverkehr erleichtern und nach außen mit möglichst großer Geschlossenheit – als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum – auftreten. Der gemeinsame Markt war und ist ein Gebot der Stunde. Immer auch war er aber Mittel zum Zweck, nie ein Selbstzweck. Denn mittel- und langfristig ging und geht es um mehr als nur um einen gemeinsamen Markt. Es ging um Gemeinsamkeiten auf einer viel tieferen Ebene. Es gab noch zwei andere, tiefer reichende Gründe, die den Prozess einer europäischen Einigung notwendig erscheinen ließen. Auch diese Gründe verlieren sich nicht im Bereich abstrakter Ideen oder ideologisch untermauerter Visionen. Sie ergeben sich aus den konkreten Unheilserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Europäische Union war daher von Anfang an ein realistisches, auf die konkrete Wirklichkeit bezogenes Projekt. Zum einen entwickelte sie sich mit Blick auf die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es galt, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah in den Westen und seine demokratisch-politische Kultur einzubinden. Man hatte die Lehren aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gezogen, hatte die Gefahren der Isolierung Deutschlands nur allzu deutlich gesehen, sich aber auch der historischen Gemeinsamkeit Europas erinnert, ja, schmerzhaft erinnern müssen. Zum anderen stellten 78 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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sich Herausforderungen durch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten. Der real existierende Sozialismus machte die Selbstvergewisserung der Länder Westeuropas notwendig: Wofür standen sie ein – im Gegensatz zu den Ländern des Ostblocks? Was war ihnen gemeinsam? Wie konnten sie eine Antwort auf die Herausforderung des Kommunismus formulieren? Der weltanschauliche Gegner ließ die Einigung Europas, jenen Prozess, der zur Europäischen Union, wie man sie heute kennt, führte, nahezu alternativlos erscheinen. Das bedeutet, dass lange die europäische Identität sich vornehmlich negativ, also in Absetzung von konkreten Gefahren entwickelte: gegen die Möglichkeit wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit, gegen die Probleme, die entstanden wären, wenn Deutschland nicht in die westliche Gemeinschaft integriert worden wäre, und gegen die ideologischen Anfragen durch die real-sozialistischen Staaten und die kommunistische Ideologie. Dabei erwies sich als hilfreich, dass es eine allen politischen Differenzen zugrunde liegende kulturelle Identität insbesondere Westeuropas bereits gab, eine schwer zu fassende Gemeinsamkeit, die, wenn man auf die griechische Entdeckung von Philosophie und Wissenschaft, das römische Recht, das Christentum und das neuzeitliche Denken der Aufklärung, der Freiheit und der Menschenrechte verweist, nur allzu unzulänglich erfasst ist. Denn Europa war und ist immer mehr als seine Teile, mehr als seine Geschichten und Traditionen, mehr als jenes, was sich in historischen Geneaologien, Programmen und Manifesten zum Ausdruck bringen ließe. Ein Vergleich von Europa mit den USA zeigt dies. Wer als Europäer durch die USA reist, macht nämlich eine erstaunliche Entdeckung. Die Vereinigten Staaten sind viel 79 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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spannungsvoller und widersprüchlicher als Europa, so sehr, dass man sich oft fragen kann, worin denn eigentlich das Einheitsmoment dieses Landes besteht. Und doch dauert es nicht lange, bis man diese Momente findet, bis man feststellt, wie sehr doch das so Unterschiedliche und Widersprüchliche in einer starken, fast unverwüstlich erscheinenden Identität geeint ist. Diese Identität ist minimalistisch, wie es – vielleicht – einem Land entspricht, das die individuelle Freiheit des Einzelnen in den Vordergrund gestellt hat. Sie hat in den Riten und Dogmen der amerikanischen Zivilreligion lebendigen Ausdruck gefunden: der Beschwörung der amerikanischen Revolution, der Unabhängigkeitserklärung und Verfassung, in der Verehrung der Gründungsväter und großen Präsidentengestalten, im Glücksversprechen an alle, in der Beschwörung von Freiheit und Grenzenlosigkeit oder in der Beschränkung des Politischen auf den großen Rahmen. In Europa sieht dies anders aus. Wer auch immer durch Europa reist, wird schnell feststellen, dass von Portugal bis Polen und darüber hinaus, von Schottland bis Sizilien allen Spannungen und Differenzen – von den Sprachen angefangen über die verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen bis hin zur Vielfalt der Mentalitäten – tiefe Gemeinsamkeiten zugrunde liegen. Doch lassen sich diese nur schwer fassen. Sobald man das, was alle irgendwie schon wissen, in Worte fasst, klingt es trivial. Nie kommt man an ein Ende. Immer lässt sich mehr sagen. Immer fragt man sich auch, ob das, was nun typisch europäisch sein soll, nicht auch anderswo zu finden sei. Das Christentum ist nicht auf Europa beschränkt – noch ist es in Europa entstanden, und doch lässt sich ein Europa ohne oder gar wider das Christentum nicht denken, und zwar nicht allein
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in geschichtlicher Perspektive. 2 Ohnehin hat vieles, was europäisch scheint, seine Wurzeln außerhalb von Europa. Es gibt, so Rémi Brague, eine »exzentrische Identität« Europas. 3 Europäer sind kreative Meister in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, in der Aneignung des Anderen und in der Überschreitung der eigenen Grenzen. Das Christentum ist insbesondere auch in seiner römischen Gestalt zu einer Weltreligion geworden. Es ist genauso wie der griechische Geist oder das Denken der Aufklärung universal, nicht auf einen Kontinent oder nur einen Bereich beschränkt. Auch das römische Recht übersteigt konkrete Grenzen, ist für alle Menschen wichtig geworden – ganz abgesehen davon, dass die europäische Union heute geographisch auf der einen Seite weit über das Römische Reich hinausreicht und auf der anderen Seite vieles gar nicht zu Europa gehört, was einstmals unter der Herrschaft Roms stand. Doch nicht nur die Geschichte hilft nicht, wenn es gilt zu bestimmen, was den Kern des Europäischen ausmacht. Auch die Geographie bietet keine Hilfe. Denn auch sie erlaubt nur in beschränktem Maße, klare Grenzen zwischen Europa und dem Anderen, dem Nicht-Europäischen zu ziehen. Nicht zuletzt gehörte es daher immer zur Identität Europas, dass diese nicht in 2 Vgl. hierzu neben J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, übersetzt von Franz Reimer, Salzburg/München 2004 auch Marcello Pera / Joseph Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005; Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln 2 1992. 3 Vgl. Rémi Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, aus dem Französischen von Gennaro Ghirardello, Frankfurt/New York 1993, insbes. 105–108.
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einem distanzierten Blick von außen zu definieren und zu erklären, sondern von innen je neu mit Leben zu füllen ist. Europa, das ist nicht allein etwas, sondern immer auch ein oft schwer greifbares Ereignis, immer auch das gelebte Leben, die Vielfalt der Traditionen, Gebräuche, Haltungen und Überzeugungen, für die man lebt – und für die man auch Opfer bringt. Je näher man der Identität Europas zu rücken scheint, umso mehr scheint sich diese daher im Nebel einer heute noch zunehmenden Unübersichtlichkeit zu verlieren. Vielleicht war es in den 1950er Jahren noch leichter, eine Idee Europas zu formulieren, die auf breite Zustimmung stieß. Heute ist dies nicht zuletzt aufgrund der Erweiterung der Europäischen Union in den letzten beiden Jahrzehnten und aufgrund der kulturellen Globalisierung schwierig geworden. Verschärft hat sich diese Schwierigkeit dadurch, dass zwei wichtige Gründe für die Entwicklung der Europäischen Union selbst zu geschichtlichen Phänomenen geworden sind – auch dank des Erfolgs, den die Europäische Union für sich verbuchen darf. Die Sowjetunion ist kollabiert – und damit auch ihr Einflussbereich. Die Gegenwart zeigt, dass dies nicht bedeutet, dass es keine Herausforderungen mehr gäbe. Das Gegenteil ist der Fall. Doch sind diese anderer Natur als die großen weltanschaulichen Konflikte, die den Kalten Krieg zwischen Ost und West gekennzeichnet haben. Sie scheinen auch – wie manche andere Konfliktsituationen der letzten zwei Jahrzehnte – nicht mehr in Europa eine Einheit zu erzeugen, die zu einem gemeinsamen Handeln selbst dann führt, wenn es in bestimmten Bereichen nachteilig sein sollte. Und Deutschland ist – nach einem langen Weg – im Westen angekommen, so sehr, dass die europäische Identität in Deutschland – ohnehin ein Staat mit 82 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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einer langen föderalen Tradition, die der Idee eines in allen Differenzen geeinten Europas entgegenkommt – neben den verschiedenen regionalen Identitäten heute wesentlich stärker ausgeprägt zu sein scheint als eine nationale Identität. Wenn die gegenwärtige Krise Europas daher eine Wurzel hat, dann auch jenes Jahr 1990, dem Jahr des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Wiedervereinigung eines friedlich in Europa integrierten Deutschlands. Denn damit – also mit dem Erfolg Europas – fielen zwei wichtige Bezugspunke europäischer Identität weg. Wirtschaftliche Gründe sprachen und sprechen nach wie vor für ein geeintes Europa. Dann aber wäre die Europäische Einigung vornehmlich funktional zu verstehen. Es gibt ohne Zweifel ein sachliches Argument für Europa, für den Euro, für eine noch zu vertiefende wirtschaftliche Einheit. Doch kann dies über eine abstrakte Identität Europas hinaus zu einer notwendigen, nicht von außen gebotenen, sondern von innen heraus vollzogenen Identifizierung der Menschen mit Europa führen? Die Grenzen eines rein pragmatischen Verständnisses von Europa liegen auf der Hand. Euroskeptische Parteien tun sich – vor allem in stürmischen Zeiten – an diesen Grenzen gütlich. Sie wissen, dass die oft billige Kritik an Europa immer noch erfolgreicher zu sein verspricht als die sachliche Betriebsamkeit, die in die Politik Einzug gehalten hat. Wie also kann man einer lebendigen, in der Wirklichkeit verwurzelten Idee Europas heute noch aufhelfen? Worin liegt die Zukunft dieser Idee? 4 Nicht zuletzt wird man auf der Suche nach dem Wesen Vgl. für wichtige Beiträge zur Zukunft der europäischen Idee Frank Baasner / Michael Klett (Hrsg.), Europa. Die Zukunft einer Idee, Darmstadt 2007. 4
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Europas feststellen, dass es eine schwer zu überschauende, in sich oft widersprüchliche und manchmal auch schwer verständliche Vielfalt von Gestalten und Ideen Europas gibt. Neben einem religiösen Verständnis Europas steht ein säkulares. Neben einem rückwärtsgewandten Blick auf das, was einst war, steht eine vorwärtsgewandte Perspektive auf die Möglichkeiten Europas. Zusätzlich gibt es ideologische Versuche, Europa gegen viele vermeintliche Gefahren, gegen den Islam, gegen den Nahen und Fernen Osten oder einfach gegen den Rest der Welt zu definieren. Diese Diskurse tendieren dazu, Europa von oben zu bestimmen, im Abstrakten anzusetzen und dann die Brücke zum konkreten Leben zu schlagen. Kein Wunder, dass derlei Versuche wenig Erfolg zeigen, kein Wunder, dass zunächst ein nüchterner Euro-Pragmatismus mehr Erfolg verspricht. Doch zeigen sich jetzt – in einer Zeit, in der Entscheidungen schon getroffen wurden und weiter anstehen, die schmerzhaft sind, die Opfer verlangen und die zunächst einmal ganz unpragmatisch erscheinen – Grenzen eines solchen allzu praktischen Denkens, das schnell in Europa-Apathie umschlagen kann.
Mein Europa, unser Europa Es formiert sich, teils noch zaghaft, teils mit wachsender Kraft, der Widerstand gegen eine solche Europa-Pragmatik und -Apathie. Politiker unterschiedlichster Couleur, die ansonsten wenig gemeinsamen Grund finden, sachkundige Wissenschaftler und Experten, Bürgerinnen und Bürger, die wissen, was auf dem Spiel steht, mahnen zu einem neuen Nachdenken über Europa, ja, zu einer Neu84 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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gründung Europas. 5 Zu Recht – und zum Glück. Zu viel steht auf dem Spiel, zu wichtig ist eine wirkliche Gemeinschaft der europäischen Länder für den Frieden auf dem Kontinent und in der Welt, zu viel wurde schon erreicht: nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, dort, wo Menschen miteinander leben und jenseits aller feierlichen Beschwörungsrhetorik sehr europäisch geworden sind – vielleicht, weil sie immer schon europäisch waren, weil ihnen selbst bewusst war, dass die Phase der Nationalstaaten und des Nationalen in Europa eben dies war – nur eine kurze Phase in einer viel längeren, viel europäischeren Geschichte. Wann immer daher von Europa gesprochen wird, gilt es, die Wirklichkeit Europas nicht aus den Augen zu verlieren. Europa ist keine bloße Idee, kein Ideal. Es ist sehr lebendig, hat Gestalt gewonnen, hat im 20. Jahrhundert an eine historische Wirklichkeit, das Europa vor der Zeit der Nationalstaaten, angeknüpft. Dass es ein oft sehr diffuses Wissen darüber gibt, was Europa ist, ein Wissen, das zu allererst von außen, wenn man Europa verlassen hat und aus der Fremde den eigenen Ursprung betrachtet, deutlich wird, wurde bereits erwähnt. Wer in Nord-, Mittel- oder Südamerika ist, wer in den Nahen oder Fernen Osten reist, weiß, so europäisch bestimmt noch vieles ist, was er erfährt, so global Europa geworden ist, dass er nicht mehr in Europa ist. Unter den Europäern gibt es hingegen oft eine geheimnisvolle Verwandtschaft – über die Grenzen der Sprachen und unterschiedlicher nationaler Identitäten Vgl. hierzu das von Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit verfasste »Manifest zur Neugründung Europas von unten« mit seiner Forderung nach einem »Freiwilligen Europäischen Jahr«: http://evs4all. eu/manifesto/ (abgerufen am 03. Juli 2016). 5
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hinweg. Vielleicht besteht das Gemeinsame der europäischen Menschen in einem oft spannungsvollen Verhältnis von Identität und Differenz oder von Fremde und Heimat, das in anderen Teilen der Welt unbekannt ist – weil man entweder einander noch näher ist als die Europäer einander nahe sind oder viel ferner. Verwurzelt ist dieses Verhältnis in einer langen Geschichte von Heil und Unheil, von Krieg und Frieden, von Streit und Versöhnung, von Verwandtschaft und Entfremdung, in einem Zusammenspiel von Ferne und Nähe. 6 Vor diesem Hintergrund hat sich in den letzten Jahrzehnten in Europa – maßgeblich unterstützt durch die oft zu Unrecht geschmähten europäischen Bürokratien – etwas entwickeln können, was nicht einfach neu war, sondern an das geschichtlich Gewachsene anknüpfen konnte – und musste –, an jenes, was über Jahrhunderte der Normalfall war: die Erfahrung von Einheit und Unterschied durch Menschen, die in Europa miteinander leben, die sich kennenlernen, sich streiten und verlieben, die ein Stück des Weges gemeinsam gehen, um sich dann wieder zu trennen. 7 Es ist leicht wie selten zuvor, innerhalb Europas zu reisen, umzuziehen oder sowohl hier als auch dort zu leben. Dass Mauern und Grenzen gefallen sind, erleichtert nicht allein den Reiseverkehr. Es führt zu einer tieferen Begegnung mit dem Anderen. Es fehlt noch die rechte Kategorie, um zu beschreiben, was irgendwo zwischen EigeVgl. hierzu Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderweges, München 4 2004; Ferdinand Seibt, Die Begründung Europas. Ein Zwischenbericht über die letzten tausend Jahre, Frankfurt am Main 5 2003. 7 Vgl. hierzu auch das erste Kapitel »Europe Now!« von Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent, München 2013. 6
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nem und Anderen, zwischen In- und Ausland liegt, was aber jenseits juristischer oder völkerrechtlicher Kategorien die konkrete Lebenserfahrung von Menschen bestimmt. Wer im vereinigten Europa nämlich von einem Land ins andere reist, macht, so sehr bewusst bleibt, dass er nicht mehr im Inland ist, in der Regel nicht mehr die Erfahrung, dass er ins Ausland, in die Fremde reist. Nicht allein die äußeren Grenzen zwischen Innen und Außen sind durchlässig geworden, haben sich aufgelöst. Es haben sich vor allem in der jüngeren Generation Stimmungen und Haltungen entwickelt, die kaum noch rückgängig gemacht werden können. Sie wissen um die Bedeutung Europas – und d. h. auch der Europäischen Union – nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch darüber hinaus. Es erstaunt daher nicht, dass die jüngeren Menschen in Großbritannien mehrheitlich dem Brexit kritisch gegenüber standen. Es ist schon angedeutet worden, dass bei dieser Entwicklung auch der Euro eine wichtige Aufgabe geleistet hat, die jenen, die an seiner Einführung beteiligt waren, deutlich vor Augen stand. Denn die Väter und Mütter des Euro wussten, dass der Euro mehr als eine gemeinsame Währung ist. Viele der wirtschaftlichen Vorteile hätte man auch durch eine langfristige Bindung der Wechselkurse der europäischen Währungen erreichen können – mit dem Vorteil, dass es dann wesentlich leichter gewesen wäre, auf Änderungen der wirtschaftlichen Situation in bestimmten Nationalökonomien zu reagieren. Der Euro hatte und hat aber eine viel wichtigere Aufgabe. Unterschwellig hat auch der Euro Menschen zueinander geführt. Wo es einen gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung gibt, gehört man anders zusammen als dort, wo diese Gemeinsamkeiten nicht bestehen. Er ist 87 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Symbol und Realität, Ausdruck und Mittel der Einheit zugleich. Gerade da diese gemeinsame Währung – bei allen Problemen, die sich aus den Umständen ihrer Einführung bis heute ergeben – ihre Aufgabe mit Bravour erfüllt hat und noch erfüllt, wird so wenig darüber gesprochen. Krisengeschichten ziehen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich als Erfolgsgeschichten. Mit den Menschen, die einander begegnen, einander zugehörig fühlen, Gemeinsames und Unterschiede entdecken, kommen Gewohnheiten, Philosophien, religiöser Glaube und politische Einstellungen, Moden, Musik, Speisen und Getränke. Nähe zwischen Menschen entsteht nicht durch Verordnungen, Programme und Pläne, die den Menschen sagen, warum sie sich zusammengehörig fühlen sollten. Man kann Menschen nicht zwingen, bestimmte Erfahrungen zu machen, ihnen auch nicht eine bestimmte Geschwindigkeit vorschreiben, mit der sie dann von außen vorgegebene Ziele erreichen sollen. Möglich war und ist auf der politischen Ebene allerdings, einen Raum zu eröffnen, in dem sich in Freiheit das Spiel von Gemeinschaft und Distanz ereignen kann, das heute als europäische Identität, als europäische Differenz erfahrbar geworden ist. Diese Identität entsteht, wo gemeinsam gelebt, gemeinsam gelacht, gebetet, geglaubt, geweint, getrauert, gegessen und getrunken wird, wo der Andere nicht mehr der Fremde ist, sondern zum Mitmenschen, zum Nachbarn und Freund geworden ist. Sie entsteht, wo man teilt, was einem wichtig ist im Leben, wo man Verantwortung füreinander übernimmt, wo man einen Konsens hat über Gut und Böse, über das Gebotene und das Verbotene. Man spricht, wenn es um Europa geht, schnell von Werten. Doch all die Werte, die europäisch genannt wer88 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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den, bleiben blutleer, wenn nicht gar widersprüchlich und gefährlich, 8 solange sie nicht in einem gemeinsamen Ethos verwurzelt sind, in, wenn man (mit Martin Heidegger zum Beispiel) an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen ethos denkt, einer gemeinsamen Weise, in der Welt zu wohnen, sich in ihr aufzuhalten. Europäer halten sich nämlich in einer bestimmten Weise auf, haben eine Heimat gefunden: auf einer kleinen Landmasse am Rande Asiens, aber so, dass in jedem einzelnen Menschen eine Würde anerkannt wird, die alle Werte übersteigt. Denn Europa (freilich nicht allein Europa) hat etwas für alle Menschen Wichtiges, etwas bleibend Gültiges entdeckt: die Würde, die jeder einzelne Mensch hat, ja, die in ihm aufscheint, wenn er denkt oder glaubt, wenn er in Freiheit handelt und sein Handeln verantwortet, wenn er Schuld erfährt und Versöhnung, wenn er vor seinem Gott steht oder kniet (oder – in der Freiheit, die ihm eigen ist – auch nicht), wenn er in der Geschichte steht und auf eine offene Zukunft hin lebt. Dabei handelt es sich nicht um abstrakte, bloß theoretisch relevante Gedanken: »Eine Chiffre für ihre Erfolgsrechte, die sie der Welt im ganzen entgegenhalten«, so Peter Sloterdijk über die Europäer, »ist in der Formulierung der Menschenrechte ausgedrückt. Was diese bedeuten, muß in veränderten Zeiten neu gesagt werden. Europas tiefster Gedanke ist, daß man der Verachtung widerstehen muß.« 9 Europa als Widerstand vor der Verachtung des Menschen. Oder anders: Vgl. für eine überzeugende Kritik an Vorstellung von Europa als einer Wertegemeinschaft Robert Spaemann, »Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung?«, in: Transit 21 (2001), 172–185. 9 Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt am Main 2002, 58. 8
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Europa weiß, dass man nicht nur frei, sondern auch verantwortlich ist, für den Anderen da ist, Verantwortung trägt, dass man nur menschlich leben und wohnen kann, wenn man des anderen Menschen, seiner Not und seines Leidens eingedenk bleibt – und diesem Wissen gemäß zu handeln bereit ist. Weil Europa den einzelnen Menschen und seine Würde in seine Mitte stellt, weil, wer von Europa spricht, von der Freiheit des einzelnen Menschen und seiner Verantwortung für den Anderen spricht und sich der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, reicht das Europäische nicht nur weit über Europa hinaus, sondern bleibt die Identität des Europäischen immer auch seltsam unbestimmt, im Ungefähren und immer in der Gefahr, missverstanden oder missbraucht zu werden. Denn sie erschöpft sich nicht in allgemeinen Regeln oder Formeln (so wichtig diese in bestimmten Kontexten sein können). Sie geschieht im konkreten Vollzug des europäischen Leben, ist persönlich gefärbt, subjektiv, lässt sich nicht auf Funktionen oder abstrakte Ideen reduzieren, die nicht innerlich angeeignet, verinnerlicht wären. Helmut Schmidt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler und alles andere als ein Theoretiker, der sich im Abstrakten verloren hätte, hat eine Sammlung seiner Aufsätze unter den Titel »Mein Europa« gestellt. 10 Es gibt nicht einfach ein »Europa an sich«, keine abstrakte Größe »Europa«, sondern nur die Vielfalt des Lebens, des Wohnens in Europa, das sich nicht definieren lässt, von dem man aber erzählen kann. Die europäische Literatur ist daher nicht einfach Literatur in oder aus Europa, sondern auch eine Literatur über oder von Europa her. Das gilt auch für die europäische Kunst oder Musik. Und wenn 10
Vgl. Helmut Schmidt, Mein Europa, Hamburg 2013.
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heute Menschen von ihrem je eigenen Europa, manchmal ausdrücklich, ein anderes Mal nur nebenbei, erzählen, wenn sie zur Sprache bringen, was sie erfahren haben und erfahren, wem sie begegnet sind, wo sie sich zuhause fühlen und wo sie Freunde gefunden haben und füreinander einstehen, entsteht eine sich immer weiter fortknüpfende Erzählung von unserem Europa. Dann stellt sich auch die Frage, wozu Europa gut sei, nicht mehr – oder sie stellt sich anders. Die Antwort darauf ist selbstverständlich geworden, weil Europa selbst nicht mehr als Projekt verstanden wird, sondern Heimat geworden ist. Davon, dass diese Antwort wieder selbstverständlich wird, hängt heute viel ab, und zwar nicht allein für Europa. Denn Europa ist, solange es sich selber treu bleibt, der Entdeckung der besonderen Würde des Menschen, seiner Freiheit und Verantwortung verpflichtet – auch wenn es dieser Aufgabe allzu oft selbst nicht genügen kann, auch wenn es, in unübersichtlichen Zeiten, schwer fällt, auch wenn es der Verführung je neu zu widerstehen gilt, sich in seinen eigenen, oft zu engen Grenzen bequem einzurichten.
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Flucht, Vertreibung und die Gabe der Hoffnung Zur Verantwortung Europas
Das Trauma der Flucht Flucht und Vertreibung durchziehen die Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart hinein. Manchmal zwingt eine Naturkatastrophe zur Flucht. Oft sind es Menschen, die aus Hass, Neid oder Gier andere Menschen vertreiben. Kriege, politische Konflikte oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit zwingen Menschen, ihre Häuser, Dörfer und Städte zu verlassen und sich auf die Flucht zu begeben – ins Ungewisse, Fremde hinein. Nur das Allernötigste können sie mit sich nehmen. Sie wissen meist gar nicht, wohin es geht und ob sie jemals ihre Heimat wiedersehen werden. Wer auf der Flucht ist, verliert mehr als nur sein Haus oder seinen Wohnsitz. Er verliert Freunde und Nachbarn, manchmal die Familie, das gewohnte Umfeld, eine vertraute Landschaft, den allseits wahrnehmbaren Klang der Muttersprache, den Geschmack lieb gewonnener Speisen, das gewohnte Klima. Manche Menschen können nur ihr nacktes Leben retten; sie können noch nicht einmal das Notwendigste mitnehmen und müssen, noch mehr als andere flüchtende Menschen, darauf setzen, dass man sich ihrer annimmt und ihnen Hilfe anbietet. Nicht selten wird diese den Menschen auf der Flucht jedoch verweigert. Man begegnet ihnen mit Skepsis, Misstrauen und Verach93 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Flucht, Vertreibung und die Gabe der Hoffnung
tung. Sie geraten immer wieder unter Verdacht, einfach weil sie fremd sind, weil sie anders aussehen, sich anders kleiden, anders essen, anders beten. Sie werden übersehen, als gäbe es sie gar nicht. Eine neue Heimat in der Fremde zu finden, ist fast unmöglich. Wer seine Heimat nicht freiwillig verlassen hat, wer zuhause und auf der Flucht Unsägliches erlebt hat, jenes, das Worte nicht beschreiben können oder das unter den Deckmantel des Schweigens versteckt werden muss, wird sich nirgendwo mehr zuhause fühlen. Er mag sich an eine neue Umgebung gewöhnen; Heimat wird diese nie. Die Schatten der Erinnerung lässt kein noch so helles Licht verschwinden. Die Welt ist vielen Menschen auf der Flucht daher fremd geworden. Sie ist für sie ein abweisender, unwirtlicher Ort. Doch wo sollten sie hin? Tiefe Scham hat sie erfasst – manchmal einfach darüber, dass sie überhaupt noch leben. Nachts, wenn sie zu schlafen versuchen, tauchen Bilder auf, Erinnerungen an frühes Glück, aber oft auch tief in ihr Unbewusstes eingeschnittene Spuren des Schreckens und des Leids. Es gibt Wunden, die nie heilen. Wer im Exil lebt, bleibt, selbst wenn es ihm äußerlich gut zu gehen scheint, verstrickt – in der Trauer um das Verlorene und der Sehnsucht nach einer Möglichkeit, neu Heimat zu finden. Zugleich gibt es ein anderes, oft unbeantwortet bleibendes Verlangen: nach Gerechtigkeit, danach, dass die Täter, die geplündert, vergewaltigt, vertrieben und gemordet haben, ihrer gerechte Strafen nicht entkommen. Daneben zeigt sich eine das ganze Leben bestimmende Hoffnung darauf, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. Doch selbst wo dies möglich wird, ist die Heimat längst eine andere geworden. Sie ist, wenn den Exilanten nach Jahren oder Jahrzehnten die Rückkehr 94 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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möglich sein sollte, fremd geworden. Nur wenig erinnert dann noch an jenes Land, jene Gegend, die sie einst verlassen haben. In anderen Fällen lassen Migranten sich in der Fremde dauerhaft nieder und schlagen dort Wurzeln. Sie finden eine zweite Heimat. Was unbekannt war, wird zum Vertrauten. Fremde werden zu Bekannten und Freunden. Ihre Kinder wachsen schon in einer ihnen heimatlichen Welt auf, auch wenn sie immer wieder die Spannung zwischen dieser Heimat und der Welt ihrer Herkunft erfahren. Ihre Enkel werden, wenn alles gut geht, nur noch der fremde Name und die Erzählungen der Großeltern an die Wurzeln ihrer Familie erinnern. Irgendwann werden sich die Spuren der Emigration und der Immigration verlieren. Allzu oft sind Menschen auf der Flucht jedoch gezwungen, dauerhaft ein Leben in einem »Zwischen« zu führen. Sie dürfen sich, lediglich geduldet, immer nur auf Zeit irgendwo aufhalten, in Lagern und Übergangsheimen, dürfen nicht arbeiten, werden bestenfalls, wenn sie Glück haben, mit Speis’ und Trank und einem Dach über dem Kopf versorgt und sehen keine Perspektive, weil es eine solche für sie gar nicht gibt. Sie bleiben ein Spielball der Politik und der Mächtigen – und manchmal allein des Zufalls, weil sich kein Mensch für sie und ihr Schicksal interessiert.
Das Antlitz der Flüchtenden Man kann über Flucht und Vertreibung im Allgemeinen sprechen und sie als eine geschichtliche Konstante deuten. Doch wäre dies in der jetzigen Situation ein zu einseitiger 95 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Zugang zu diesem Phänomen. Denn die europäischen Länder erleben zurzeit die größte »Flüchtlingskrise« seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Gegenwärtig zeigt sich mitten in Europa, nicht nur an seinen geographischen Rändern, welche bleibende Aktualität dieses Thema hat. Es wird konkret in den Nachrichten und Bildern, die im Internet und allabendlich im Fernsehen präsentiert werden: überfüllte Boote auf dem Mittelmeer; aus Todesgefahr gerettete Menschen; Blicke des Schreckens und des Glücks; Eltern und Kinder, die einander in den Armen liegen; Menschen voller Erwartung und Furcht an den Küsten Afrikas oder auf der »Balkanroute«; aber auch Tote, die an den Strand gespült wurden, oder Menschen, die, ohne viele Spuren zu hinterlassen, namenlos auf ihrem Weg aus Elend und Hoffnungslosigkeit im Mittelmeer ertrinken. Viele Politiker zeigen sich überfordert, wenn nicht unwillig, auf diese Krise angemessen zu reagieren. Nun zeigen sich die »Früchte« verfehlter, wenn auch oft allzu gut gemeinter Politik: dass man viel zu lange zu wenig und gleichzeitig zu viel gemacht hat, dass man viele Probleme übersehen und andere erst erzeugt hat und dass zahlreiche Bemühungen des Westens, in den Ländern Afrikas oder des Mittleren und des Nahen Ostens für Ordnung zu sorgen, weniger zu geordneten Verhältnissen, als vielmehr zu Chaos geführt haben. 1 Die »Flüchtlingskrise« ist daher zunächst auch eine Krise der westlichen Welt, die sich so oft als Wertegemeinschaft darstellt, ohne diesem Bekenntnis wirklich Genüge tun zu können. Welche Antwort kann Europa auf diese Vgl. für eine kritische Diskussion der nordamerikanischen und europäischen Außenpolitik u. a. Michael Lüders, Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 17 2016. 1
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Herausforderungen finden? Wird sich an dieser Antwort gegenüber den Hilflosen und Hilfe Suchenden nicht auch die Zukunft Europas messen lassen müssen? Doch was bedeutet dies, wenn Europa selbst zu zerfallen droht und populistische Bewegungen die Geister längst überwundener Zeiten beschwören? Allerdings finden sich die meisten Flüchtlinge gar nicht in Europa oder auf einem Weg nach Europa. Im Vergleich zu europäischen Ländern schultern andere Länder wie der Libanon, Jordanien oder die Türkei viel größere Lasten, um Menschen auf der Flucht zu helfen. Und neben den viel diskutierten Ursachen für die großen und gut bekannten »Flüchtlingsströme« gibt es zahlreiche kleinere Krisen- und Kriegsherde, die zur Flucht zwingen. Weltweit ist 1 von 113 Menschen ein Flüchtling: also fast 1 % der Menschheit. Täglich gibt es neue Hiobsbotschaften. Doch ist es erschreckend, wie oft sich selbst trivialste Meldungen vor die Nachrichten über das Elend der Flüchtenden schieben, wie schnell man sich – und das gilt immer für einen selbst am meisten – an die Bilder kaum seetauglicher Schiffe, an die Zahlen der Ertrunkenen, an die traurigen Gründe für den Wagemut und die Aussichtslosigkeit der Flüchtenden gewöhnt hat. Was vielleicht einmal als aufrüttelnd erfahren wurde, wird nun nur noch halbbewusst zur Kenntnis genommen. Man kennt es ja. Was also soll man tun? Diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. Die Situation ist äußerst komplex. Eine Ideallösung gibt es nicht. Flucht und Vertreibung gehören daher zu den großen moralischen und politischen Herausforderungen der Gegenwart. Oder noch genauer: Flüchtlinge und Vertriebene fordern in der Konkretheit ihrer Existenz, ihres Leids und ihrer Not heraus, sie überhaupt erst einmal wahrzunehmen, sich für sie zu 97 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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interessieren, ihnen beizustehen und zu helfen, nicht als Moment einer »Krise«, sondern als Personen, die einen Namen tragen und zur Verantwortung rufen. Denn im Flüchtling begegnet uns nicht nur ein Fremder aus fernen Ländern, sondern in Zeiten einer globalen Weltgesellschaft immer auch ein Nächster, ein Mensch, der anklopft und auf eine Antwort hofft, auf jenen Beistand, jene Fürsorge, jene Solidarität, die alle Menschen miteinander verbinden sollte. Wie anders verliefen manche Diskussionen, wie viel mehr könnte geholfen werden, wenn immer der konkrete Mensch und seine Situation im Vordergrund stünde – und nicht so sehr bloß die Perspektive des Allgemeinen, der Macht oder anderer, vermeintlich dringenderer Interessen und der Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen Menschen, der Schwester, dem Bruder. Denn was Flucht ist, was Vertreibung bedeutet, zeigt sich im Antlitz dieses Kindes, dieses Mannes, dieser Frau. Irgendwann wird man sich vielleicht ihrer Geschichten erinnern. Man wird Erinnerungsorte schaffen und auf Gedenkfeiern ihrer und ihrer Leiden eingedenk sein. Doch kommt es heute darauf an, sich diese Menschen, ihre Gesichter und Namen zu vergegenwärtigen – und entsprechend zu handeln.
Die Sprache des Menschlichen Aber nicht nur die einzelnen Gesichter und Geschichten der Flüchtenden verlieren sich in der alltäglichen Berichterstattung und im Nachdenken und Entscheiden der Verantwortlichen. Auch die Präzision der Sprache lässt oft zu wünschen übrig. Nicht selten ist dies politisch gewollt. 98 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Man redet von der »Flüchtlingskrise« oder der »Flüchtlingskatastrophe«, als ob die Flüchtlinge die Krise oder Katastrophe seien und sie sich nicht selbst vor solchen auf der Flucht befänden. Ohnehin ist auffallend, dass man überhaupt von »Flüchtlingen« statt von »Migranten«, »Flüchtenden« oder von »Menschen auf der Flucht« redet. Das Wort »Flüchtling« hat sich zwar in einem zumeist rein beschreibenden Sinn eingebürgert. Doch ist das Suffix -ling (das ursprünglich eine Verkleinerungsform anzeigt) im Deutschen oft negativ konnotiert. Es gibt zwar neutrale Verwendungsweisen wie zum Beispiel in den Worten »Frühling«, »Frischling« oder »Findling«. Wenn aber Menschen bezeichnet werden, geschieht dies nicht selten mit einem abwertenden Unterton wie beim »Wüstling«, »Häftling«, »Feigling« oder »Rohling«. Auch beim »Flüchtling«, so kann man vermuten, schwingt diese abwertende Nuance manchmal mehr, manchmal weniger mit. Wäre es daher nicht angemessen, anders, weniger ambivalent über diese Menschen zu sprechen? Diese Frage stellt sich auch, wenn in Analogie zu Naturphänomenen von »Flüchtlingswellen«, »-strömen« oder »-lawinen« gesprochen wird. Man könnte sagen, dass diese Rede nicht falsch sei, so lange ihr metaphorischer Charakter bewusst bliebe. Doch wenn dieser Charakter vergessen wird, verloren geht oder bewusst verdrängt wird, zeigt sie sich als zutiefst zynisch. Sie enthumanisiert nämlich die Flüchtenden – so, als seien sie, wie ein einzelner Wassertropfen in einem Fluss, bloß Teil einer sie umgreifenden und in ihrer Größe und Macht erschreckenden Bewegung. Welche Sprache kann dem Schicksal der Flüchtenden überhaupt gerecht werden? Die Sprache der Massen99 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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medien und der politischen Slogans zeigt angesichts dieser Herausforderung schnell Grenzen. Ohne Frage muss man auch über allgemeine Zusammenhänge informieren, und die Politik muss die Perspektive des Allgemeinen einnehmen und Lösungen für möglichst viele Menschen finden. Doch darf man bei dieser Perspektive nicht stehen bleiben. Es gilt immer auch, dem Konkreten im Allgemeinen auf der Spur zu bleiben und sich um eine Sprache des Menschlichen, des konkreten Menschseins zu bemühen. Manchen Journalisten gelingt es, ein einzelnes Schicksal, die Erfahrungen eines Menschen oder einer Familie, darzustellen und in die größeren, das Individuum übersteigenden Zusammenhänge einzuordnen – und dabei auch vor unausweichlichen moralischen Forderungen nicht zurückzuschrecken. 2 Sie sprechen nicht nur über Flüchtende, sondern mit ihnen und lassen sie selbst zur Sprache kommen. Insbesondere Kunst und Literatur können aber dem einzelnen, einzigartigen Menschen seine Würde zurückgeben und ihn auch selbst zu Wort kommen lassen.
Die Gabe der Flüchtenden In jüngster Zeit wird in der Politik angesichts anstehender Entscheidungen immer wieder von »Alternativlosigkeit« Ein beeindruckendes Beispiel für diese Art des Journalismus findet sich in den Arbeiten von Patrick Kingsley, des Migrationskorrespondenten des englischen Guardian. Verwiesen sei insbesondere auf sein Buch Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, aus dem Englischen übersetzt von Hans Freundl und Werner Roller, München 2016. 2
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gesprochen – oder einfach so getan, als seien bestimmte Schritte ohne Alternative. Wenn es aber tatsächlich so etwas wie Alternativlosigkeit gibt, dann dort, wo Menschen sich entscheiden, auch unter Lebensgefahr die Bootsfahrt von der nordafrikanischen Küste bis nach Italien oder von der Türkei nach Griechenland zu wagen. Denn das Leben, das sie dort, von woher sie aufbrechen, hätten führen können, erscheint ihnen nicht mehr als lebenswert. Lieber sehen sie dem Tod ins Auge, als weiter im Elend und ohne Aussicht auf Besserung ihrer Lage zu leben. Aus mitteleuropäischer Sicht kann man sich eine solche Situation kaum vorstellen. Die europäische Antwort auf dieses Elend ist zumeist gar nicht alternativlos, sie ist bestenfalls allzu oft phantasielos, wenn nicht schlicht und einfach unmenschlich. Europa schottet sich vielfach ab, schaut nach innen, verstrickt sich in alten und neuen Gräben und verschleppt anstehende Entscheidungen. Das Menschenrecht auf Asyl wird auch in Europa vielfach gebrochen. Viele Menschen müssten sich auf ihrer Flucht nicht immer wieder der Lebensgefahr aussetzen, wenn sie sicher nach Europa einreisen oder einfach anderswo für eine bestimmte Zeit sicher und versorgt leben könnten. Auch in Deutschland fehlt zudem ein modernes, der Weltlage angemessenes Einwanderungsgesetz. 3 Viel wäre zu tun, um den Flüchtenden angemessen zu begegnen und ihnen die notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Doch könnte es sein, dass Europa in dieser Situation von ihnen auch etwas empfangen könnte? Vgl. hierzu und zu den notwendigen Schritten seitens der Politik auch Michael Richter, Fluchtpunkt Europa. Unsere humanitäre Verantwortung, Hamburg 2015, 195 ff.; Patrick Kingsley, Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, 288 ff. 3
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Könnten diese armen und verzweifelten Menschen ihrerseits Europa etwas »bringen«? Viele Kritiker der deutschen Flüchtlingspolitik haben darauf verwiesen, dass diese nicht so human sei, wie es zunächst scheint. Denn Deutschland und viele andere europäische Länder könnten vor dem Hintergrund des demografischen Wandels allein schon aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen sein, flüchtende Menschen aufzunehmen: als jene, die oder deren Kinder und Kindeskinder die Zukunft des wirtschaftlichen Erfolges und des Wohlstandes sichern. Solche und ähnliche Erwägungen über den möglichen »Nutzen« der Flüchtenden spielen bei vielen Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine Rolle (manchmal so sehr, dass man voller Sorge die Frage stellen kann, was denn wäre, wenn es diesen möglichen Nutzen der Flüchtenden gar nicht gäbe). Aber sie dürfen bei der Bewältigung lebensbedrohlicher Not nicht ausschlaggebend sein. Dieser »Nutzen« ist außerdem ohnehin nicht das Wichtigste, das die vielen Menschen auf der Flucht Europa bringen können. Sie bringen nämlich etwas ganz anderes, das sich materiell überhaupt nicht fassen lässt: die Gabe der Hoffnung. Von einer solchen »Gabe« zu sprechen, mag Erstaunen erregen. Denn allzu oft unterstellt man den Flüchtenden Hoffnungslosigkeit. Sie hätten, so hört man, jede Hoffnung verloren und seien »hoffnungslose« Gestalten. Doch ist genau das falsch. Kein Mensch flieht nur vor etwas; Menschen fliehen immer auch zu etwas hin. Wären die Flüchtenden wirklich hoffnungslos, hätten sie sich ihrem Schicksal schon längst ergeben. Sie wären dann schon tot oder würden nur noch auf den Tod warten. Allein dass sie sich auf die Flucht begeben haben, so alternativlos dies zunächst scheinen mag, zeugt von einer Hoffnung: zunächst 102 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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auf das bloße Überleben, dann aber auch auf ein besseres, ein glücklicheres Leben, wenn nicht für sie selbst, dann zumindest für ihre Kinder. Was oberflächlich betrachtet wie Hoffnungslosigkeit aussieht, erweist sich also als von großer Hoffnung durchzogen. Das ist eine erste Paradoxie in der Wahrnehmung der Flüchtenden. Es gibt jedoch noch eine zweite. Denn nicht selten leiden jene, die davon sprechen, dass die Menschen auf der Flucht keine Hoffnung mehr hätten, selbst unter tiefer Hoffnungslosigkeit. Sie kennen zwar allerlei nahe und auch ferne Ziele für ihr eigenes Leben; sie haben Wünsche und vielleicht auch noch das ein oder andere Ideal. Doch wird ihr Leben letztlich von keiner tieferen und über ihr eigenes Privatleben hinausreichenden, andere Menschen einbeziehenden Hoffnung bestimmt. Damit ist nicht einfach nur gemeint, dass der religiöse Glaube verdampft ist und sich aufgelöst hat. Es fehlt, in Zeiten eines verbreiteten Sinnverlustes, nämlich oft auch eine rein weltliche Hoffnung, die den Einzelnen über sich und sein unmittelbares Interesse an einer alltäglichen Zufriedenheit erhebt. Dies ist eine Hoffnung, die eine Gesellschaft zusammenhält, die Menschen über alle Differenzen hinweg miteinander verbindet, die nicht fatalistisch vor den Herausforderungen der Gegenwart kapituliert, sondern zur Verantwortung für eine gute, gelingende Zukunft führt. Europa war einmal von solcher Hoffnung zutiefst bestimmt. Sie gehörte zum inneren Kern des europäischen Selbstverständnisses. Heute jedoch finden sich nur noch wenige Spuren davon. Man kann dies einerseits damit erklären, dass menschliche Hoffnung im letzten Jahrhundert allzu oft missbraucht worden ist. Zu große Opfer wurden auf dem Altar einer vermeintlich besseren Zukunft er103 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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bracht. Zu ambivalent, zu weltfremd, zu gefährlich erscheint nun die Hoffnung, als dass man noch versuchen würde, mit einem »gehörigen« Maß von Hoffnung zu leben. Bewahrung und Absicherung des Bestehenden sind daher an die Stelle der Kreativität und der Innovation getreten; Lethargie hat den Platz des Mutes eingenommen; Selbstgefälligkeit und Verzweiflung haben Selbstkritik und Freude am Gestalten und Verbessern verdrängt; Pragmatismus herrscht, wo einst die Stimme der Sehnsucht erklang; Selbstbezogenheit hat die Rolle der Solidarität übernommen. Diese Schilderung kann überzeichnet erscheinen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, wenn es notwendig sein könnte, stärker zu differenzieren, bliebe doch, dass Europa der Hoffnung müde geworden ist, dass es sich am Bestehenden oder einmal Erreichten festhält und deshalb auch seine eigene Identität, das, was es eigentlich ist und soll, nicht mehr mit Leben füllen kann. Diese innere Erschöpfung ließe sich anhand vieler Beispiele nachweisen. Wer aber selbst nur noch wenig oder nur das allzu Naheliegende erhofft, kann auch anderen, den Menschen auf der Flucht etwa, nur unterstellen, sie suchten allein Wohlstand, Sorglosigkeit und Bequemlichkeit. Aber wird das denen gerecht, die sich auf ihren Weg in die Fremde gemacht haben? Suchen sie neben materiellen Gütern und existenzieller Sicherheit nicht anderes auch und eigentlich? Sehnen sie sich nicht vor allem nach einem Leben in Freiheit und Würde, dessen Bedeutung und alltägliche Gefährdung vielen Menschen in Europa kaum noch bewusst ist? Wer nach Europa flieht, so scheint es, kennt noch jene große, die unmittelbaren Interessen übersteigende Hoffnung auf ein besseres und würdevolles Leben, die in Europa selbst oft verkümmert ist. Vielleicht 104 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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hält man, was man erreicht hat, für allzu selbstverständlich; vielleicht hat man, aus Enttäuschung oder Verzweiflung, einfach die Sehnsucht verlernt. Was auch immer die Gründe für diese Hoffnungsschwäche sind, wenn mit den Menschen auf der Flucht neue Hoffnung in Europa lebendig würde, wäre dies eine große Gabe.
Die Chance Europas Wenn diese Gabe Annahme fände, könnte man das energische und so wichtige »Wir schaffen das« der Bundeskanzlerin nicht nur aus einer pragmatischen Perspektive verstehen, sondern als Ausdruck einer Hoffnung, die der geschichtlichen Bedeutung und den gegenwärtigen Herausforderungen Europas eingedenk bleibt. Europa, so dürfte sich dann auch zeigen, hat immer wieder gerade von außen erfahren, was es eigentlich ist. Das aber bedeutet, dass Europa des Anderen, der von außen kommt, immer auch bedarf. Verschließt Europa sich des Anderen und begrenzt sich auf sich selbst, versiegen jene Quellen und Anstöße von außen, die Europa lebendig halten. Diese Quellen sind dort besonders vertrocknet, wo panische Stimmen das »christliche Europa« gegen den Ansturm des Fremden zu verteidigen beanspruchen und dabei u. a. und ohne notwendige Differenzierungen vor den vermeintlichen Gefahren des Islams warnen (als gäbe es gar keine Religionsfreiheit). Ihnen ist zu entgegnen, dass die eigentliche Gefahr für Europa (und auch für das Christentum in Europa) gar nicht von außen, sondern von innen kommt. Denn für die Identität Europas ist es viel gefährlicher, wenn es seine »Werte« nur noch äußerlich 105 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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bekennt, aber sie nicht mehr kennt und nach ihnen lebt, als wenn es – bei allen Problemen und Herausforderungen, die damit immer auch verbunden sind – dem leidenden Anderen, dem Nächsten, der verwundet am Wegrand liegt, hilft. Diese Hilfe kann Verschiedenes bedeuten. Es kann bedeuten, gemeinsam mit anderen Akteuren die Gründe für Flucht und Vertreibung zu beseitigen und eine Perspektive für die Regionen, die Menschen verlassen müssen, zu entwickeln. Damit würde dann für viele Menschen, die als Asylsuchende auf Zeit nach Europa geflohen sind, auch die ersehnte Rückkehr in eine friedliche und lebenswerte Heimat zu einer ernsthaften Option. Es kann ebenso bedeuten, den Anderen bei sich aufzunehmen, ihm, dem Einwanderer und Mitbürger, die Möglichkeit einer neuen Heimat zu schenken (was auf seiner Seite auch mit Pflichten verbunden ist) und sich angesichts seiner und im Gespräch mit ihm seiner eigenen Identität zu vergewissern und diese zu einer gemeinsamen Identität werden zu lassen. Die Identität Europas ist nämlich immer etwas Offenes gewesen, das sich weiter entwickelt und überlieferte Herkunft und allererst noch kommende Zukunft miteinander verbindet. Europa wird durch die gegenwärtige »Krise«, durch die konkrete Hilfe für andere Menschen und durch die Fremden, die zu Nachbarn und Freunden werden können, anders. Aber es bleibt gerade, indem es die Chance, die in der gegenwärtigen Krise liegt, aufgreift und dabei anders wird, seiner Geschichte treu. Es bleibt – Europa. Würde es nicht anders, wäre es letztlich nicht auch dankbar für das Geschenk der Anderen, wäre es nicht mehr Europa. Denn dann würde es eine Idee verraten, die zentral mit Europa und seiner selbst spannungsvollen und 106 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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widersprüchlichen Geschichte verbunden ist. Dies ist die Idee der Gerechtigkeit. Europa ist selbst in seiner Geschichte immer wieder zum Ort der Ungerechtigkeit geworden – bis heute. Doch waren es nicht zuletzt auch diese Erfahrungen der Ungerechtigkeit, die zur Einsicht in die unhintergehbare Bedeutung der Gerechtigkeit und der eng mit ihr verbundenen Menschenrechte geführt haben. Der Stachel dieser Einsicht ist universal geworden. Welche Schande wäre es, wenn jenes kleine, aber auch so starke und wirkmächtige Europa sich dieser Einsicht und seiner damit verbundenen Verantwortung nicht mehr erinnerte und nicht mehr ihrer gemäß handelte?
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Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen Zur Krise der Universität
Idee und Krise der Universität Viel wird zurzeit über die Universität gesprochen, über ihre Krise, über ihre Reform, über ihre Chancen und Herausforderungen. Das ist nicht neu. Die Universität selbst thematisiert immer auch sich selbst: jenen Raum, den sie eröffnet und der in so vielfältiger Weise immer einen Ausnahmeraum darstellt, einen Raum, in dem Staat und Gesellschaft, Religion und Kultur nicht einfach vorausgesetzt oder in ihrer Geltung und in ihren Ansprüchen bestätigt, sondern immer auch hinterfragt werden, in dem das Leben des Geistes, so unproduktiv und sinnlos es für Außenstehende scheinen mag, sich nicht rechtfertigen muss und in dem, wie schwer dies auch immer sein mag, der Wahrheit und der Freiheit die Ehre erwiesen wird. Und die Universität ist immer auch von außen thematisiert worden: von jenen, die ihre Kosten tragen, die stolz auf sie sind und sie fördern, aber auch von jenen, die sich angegriffen oder hinterfragt fühlen, die ihre Ansprüche beschränken, ihre Macht reduzieren, ihre Freiheit eingrenzen oder sie sich nutzbar machen wollen. Immer auch neigt das Nachdenken über die Universität zu Extremen. Während auf der einen Seite das Ende der Universität beschworen wird, werden auf der anderen Seite Reformen für notwendig erachtet, die das Überleben der Universität sichern sollen. 109 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
Auch die Universität hat ihre Traditionalismen und Modernismen. Neben der Verherrlichung und der Glorifizierung der Vergangenheit gibt es eine oft ähnlich einseitige Selbstauslieferung an die Versprechungen der Zukunft. Immer wieder wird darüber, was denn die Universität sei, diskutiert und gestritten. Denn das »Wesen« der Universität – das heißt: der Vollzug des universitären Lebens – ist kontrovers. Es muss immer neu gefunden und bestimmt werden: in einer Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Vergangenheit, den Herausforderungen der Gegenwart und den Chancen der Zukunft. Dies verwundert nicht. Verpflichtet ist die Universität nämlich der Wahrheit. Diese Ausrichtung schützt sie und stellt sie in den Raum des Unbedingten. 1 Denn was wäre die Wahrheit – einschließlich der Suche nach Wahrheit –, wenn sie Bedingungen unterworfen wäre? Doch führt diese Verpflichtung zu einer unendlichen, immer offenen und von Widersprüchen, Einwänden, Ergänzungen und Korrekturen charakterisierten Geschichte: Wahrheit lässt sich nie abschließend, nie eindeutig, nie ungebrochen fassen, zumindest nicht von jenen, die im Raum der Universität nach ihr streben, von endlichen Menschen, deren Kontingenz auch ihr Wissen und ihr Handeln kontingent sein lässt. Zwar hat man immer wieder versucht, diese Kontingenz zu relativieren, etwa, indem man im Raum der Universität nicht den einzelnen Menschen, sondern die Wissenschaft selbst zum Erkenntnissubjekt gemacht hat. Doch sollte die so beliebte Rede von der Wissenschaft (so sehr damit immer auch eine Wahrheit ausgesprochen wird) nie darüber hinwegtäuschen, dass ihre Subjekte imVgl. hier auch Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt am Main 2001. 1
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mer noch Menschen sind und dass sich auch die Wissenschaft einer grundlegenden Kontingenz nicht entledigen kann, dass sich also Wahrheit und Geschichtlichkeit nicht widersprechen, sondern jenseits der falschen Antithese von Wahrheitsrelativismus auf der einen und Wahrheitsabsolutismus auf der anderen Seite einander bedingen. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil die Hinordnung auf Wahrheit immer auch eine Hinordnung in und auf Freiheit ist. Die Wahrheit bedarf nämlich der freien Anerkennung und umgekehrt bedarf die Freiheit – nicht nur dort, wo sie als »akademisch« qualifiziert wird – der Wahrheit als ihres inneren Sinns, wäre sie doch sonst reine Willkür. 2 Dass nicht nur die Idee von Universität an sich kontrovers ist, sondern dass sie auch eine kontroverse Geschichte hat, dürfte somit selbst nicht kontrovers sein. Die Geschichte der Universität ist nämlich nichts, das einem »ewigen Wesen« der Universität bloß äußerlich wäre. Im
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Inschrift auf dem Kollegiengebäude I der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität. Dort wird Joh 8,32 zitiert: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Vgl. hierzu u. a. Gerhard Kaiser, »Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universitätsdevise – ein Glaubenswort als Provokation der Wissenschaft«, in: Welche Wahrheit braucht der Mensch? Wahrheit des Wissens, des Handelns, des Glaubens, hrsg. von Ludwig Wenzler, Freiburg im Breisgau 2003, 47–103. Vgl. auch den Beitrag von Bernhard Casper, »Wahrheit und Freiheit«, in: Welche Wahrheit braucht der Mensch? Wahrheit des Wissens, des Handelns, des Glaubens, 105–121 sowie Karl Kardinal Lehmann, »›Die Wahrheit wird euch frei machen.‹ Predigt im Ökumenischen Festgottesdienst«, in: 550 Jahre Universität Freiburg. Redebeiträge zum Festakt und zum Ökumenischen Festgottesdienst, Freiburg im Breisgau 2007, 85–93. 2
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Gegenteil: Die Universität kann nur in geschichtlicher Konkretion sein, was sie ist und sein soll. Daher wäre es naiv, an einer zeitlosen Idee der Universität festzuhalten. Denn es gehört zur Idee der Universität, dass in ihr immer Identität und Differenz in ein neues Verhältnis gesetzt werden, dass die Universität sich wandeln muss, um sich treu zu bleiben. Daher ist auch die vielbeschworene »Krise der Universität« nichts Neues. Sie ist – im Gegenteil – Zeichen der Lebendigkeit der Universität. Man müsste sich Sorgen machen, gäbe es diese Krise nicht. Wirklich gefährlich wird es für die Universität, wenn es keinen Streit mehr über sie gäbe – dann etwa, wenn sie ganz in andere, ihr wesensfremde Zusammenhänge eingeordnet wäre und nur noch die ihr von außen zugewiesene Rolle spielte oder wenn die Universität allzu selbstgewiss eine historisch kontingente Gestalt ihrer selbst absolut setzte und sich somit der Möglichkeit und Notwendigkeit der Veränderung, des geschichtlichen Wandels und der Krisenerfahrung entzöge. Vergessen wäre im ersten Fall, dass die Universität sich nicht auf eine Rolle oder Funktion beschränken lässt und dass sie umgekehrt jeden Funktionalismus, jede Unterordnung von Wahrheit und Freiheit unter ihr fremde Zwecke und Ziele radikal in Frage stellt und dadurch ein Stachel wider alle Versuche bleibt, Wahrheit und Freiheit zu zivilisieren und auf das Maß gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer oder auch religiöser Erwartungen zu reduzieren. Und im zweiten Fall wäre vergessen, dass die Universität nicht nur eine einzige Gestalt hat, sondern durch die Vielfalt ihrer geschichtlichen Formen lebendig bleibt. Wenn etwas zum »Wesen« der Universität gehört, dann insbesondere auch das Krisenhafte, das je neue Scheiden und Unterscheiden des Wesentlichen vom Un112 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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wesentlichen, der Widerstand gegen jeden Versuch, ihr »Wesen« ein- und für allemal festzulegen oder sie zum Teil eines ihr übergeordneten Systems zu machen – und zwar nicht, weil es der Universität um Differenz oder um Widerstand, um Protest oder um Rebellion als ihre Hauptzwecke ginge, sondern weil jene Wahrheit und Freiheit, um die es ihr geht, sich nur im Widerstand gegen jede abschließende und einordnende Identifizierung bedenken und bewahren lassen. Wer sich mit der Universitätsgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart beschäftigt, wird daher schnell feststellen, dass die Universität immer wieder Momente des Krisenhaften zeigt. Wer von Universität spricht, so scheint es, spricht immer auch von ihrer Krise. Phasen des Aufstiegs, des blühenden akademischen Lebens und der Selbstbehauptung akademischer Freiheit stehen neben Phasen des Niedergangs, der Bedeutungslosigkeit, der Selbstüberschätzung und des Verlustes der Freiheit. Bedeutet dies, dass die gegenwärtigen Sorgen über die Universität unangebracht wären? Dass sich der oft polemische Ton in Debatten über die Universität legen wird? Dass nach Zeiten von Reform und Gegenreform irgendwann das Schiff der Universität wieder ruhigere Gewässer befahren wird? Es spricht einiges für diese Hoffnung. Man dürfe nicht so ungeduldig sein und müsse, so scheint es, nur abwarten, bis sich die Vorteile der Reformbemühungen der letzten Jahre und Jahrzehnte deutlicher zeigen. Vieles spricht aber auch gegen diese Hoffnung. Denn es könnte ja sein, dass es, so sehr das Krisenhafte zur Universität gehört, Krisen gibt, die die Universität so radikal in Frage stellen, dass nicht viel mehr als ihr Name und eine blasse Erinnerung an ihre einstige Größe bleibt. Worum also handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise? Viele 113 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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gegenwärtige Diskussionen über die Universität laufen auf diese Grundsatzfrage hinaus. An dieser Stelle wird diese Frage nicht abschließend zu klären sein. Das rührt nicht zuletzt daher, dass jene historische Distanz noch fehlt, die zu einer klaren Einschätzung der jetzigen Krise notwendig ist. Aber es lassen sich Momente aufzeigen, die deutlich auf die Dimension der gegenwärtigen Krise der Universität und somit auch auf das Ausmaß ihrer akuten Gefährdung verweisen.
Die Funktionalisierung der Universität Wenn man davon ausgeht, dass bei allen Unterschieden der Fakultäten der innere Zweck der Universität sich mit den Worten »Wahrheit« und »Freiheit« anzeigen lässt, so gibt es vielleicht eine Gefahr für die Universität, die existenzbedrohend sein könnte, nämlich eine Gefahr, die ihre Ausrichtung auf Wahrheit und Freiheit so sehr in Frage stellt, dass diese Zwecke aus dem Blick geraten oder nur noch so verzerrt wahrgenommen werden, dass ihre ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen ist. Was das bedeutet, soll im Folgenden kurz und thesenhaft – also unter den Bedingungen einer notwendigen Zuspitzung – erläutert werden. Die Universität ist ein Ort des Unbedingten, aber selbst kein Absolutes, sondern in vielfacher Weise abhängig: von einer ausreichenden Finanzierung, von Gesetzen, die Grenzen setzen und Verfahren regeln, von Menschen, die sich ihr – keiner abstrakten Institution, sondern dem konkreten akademischen Leben – widmen oder von einer Kultur, die die Suche nach Wissen um des Wissens willen 114 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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unterstützt, die nicht nur erlaubt, sondern ermöglicht, dass um Wahrheit und Freiheit gerungen wird. Noch mehr Bedingungen könnten hier genannt werden. So, wie es vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates gibt, gibt es voruniversitäre Grundlagen der Universität. Und doch ist – trotz all dieser Bedingungen – die Universität unbedingt: Als ein Ort, der der Wahrheit und der Freiheit gewidmet ist, transzendiert sie – wie auch jene Personen, die innerlich zu ihr gehören – die Bedingungen ihrer Genese und ihres Erhalts. Sie lässt sich nicht auf diese Bedingungen reduzieren und lässt etwas Neues entstehen: weder nur bloßes theoretisches Wissen noch nur neue praktische Anwendungsmöglichkeiten von Wissen, sondern immer auch jenes, was der Differenzierung von Theorie und Praxis vorausliegt und sie allererst ermöglicht: Bildung. Dabei geht es nicht um Bildung in einem abstrakten, sondern in einem konkreten Sinne, um Bildung jener Menschen, die am universitären Leben teilhaben, die manchmal nur für wenige Jahre, manchmal für immer, sich diesem Leben verschreiben und zugleich gebildet werden, wie sie sich selbst bilden: als Bild des Unbedingten, das sich an der Universität zeigt. Allerdings wird nicht selten in Frage gestellt, dass die Universität durch eine Dimension der Unbedingtheit ausgezeichnet ist. Denn oft wird die Universität nicht nur den Bedingungen ihrer Genese und Erhaltung untergeordnet. Oft wird auch von außen bestimmt, was sie eigentlich ist. Heute ist die Universität zwar nicht mehr in der Gefahr, der Religion oder bestimmten religiösen Ansprüchen und Anliegen untergeordnet zu werden. Ebenso steht die Universität nicht mehr so sehr wie in früheren Zeiten in der Gefahr, staatlichen oder politischen Zielen untergeordnet zu werden (auch wenn sich diese Gefahr angesichts von 115 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Finanzierungsfragen immer wieder zeigt). Heute ist es insbesondere der Markt, die Ordnung des Ökonomischen, in dessen Funktion die Universität gestellt wird – und sich selbst stellt. Denn ähnlich wie die Funktionalisierung der Universität durch Kirche oder Staat nicht nur eine Funktionalisierung von außen, also nicht einfach eine aufgezwungene Funktionalisierung war, sondern oft – freilich immer auch gegen Widerstand – von der Universität unterstützt und betrieben wurde, so ist die heutige Herrschaft des Paradigmas des Marktes eine Herrschaft sowohl von außen als auch von innen. Die besondere Gefährlichkeit der »Zweckentfremdung« der Universität liegt sogar darin, dass diese auch von innen heraus betrieben wird, und zwar nicht nur unter dem Vorzeichen eines vorauseilenden Gehorsams, der Bequemlichkeit oder der notwendigen Anpassung an den Druck von außen, sondern mit der Begründung, dass der einfachen Forderung, dem Gebot der Stunde zu genügen, entsprochen wird. Und dieses oberste Gebot ist ein ökonomisches. Längst schon gibt es daher jenen öffentlichen Markt, auf dem die Universitäten sich bewähren und um Zuwendung von Mitteln, um Aufmerksamkeit und Einfluss streiten müssen. Manche Universitäten stehen in einem globalen Wettbewerb mit- und gegeneinander. Was an ihr unbedingt ist und ins Unbedingte hineinragt, wird immer weiter beschnitten und auf Bedingtes reduziert. Von einer Aufgabe der Universitäten für das Gemeinwohl oder die Bildung des Einzelnen ist längst nicht mehr so oft die Rede wie in vergangenen Jahrzehnten. Bildung wird als Ware angeboten und auf Ausbildung verkürzt, deren Zwecke durch mannigfaltige außeruniversitäre Interessengruppen definiert werden. Zudem wird die Universität selbst als Markt definiert, auf dem einzelne Fakultäten und Fach116 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
bereiche miteinander in Konkurrenz treten und darum kämpfen müssen, in ihren Anliegen gehört und ausreichend gefördert zu werden. Von akademischer Freiheit im klassischen Sinne ist unter den Vorzeichen von mehr und mehr Prüfungen und immer stärker regulierten Studiengängen und Forschungsvorhaben wenig zu spüren – weder auf der Seite der Studierenden noch auf der Seite der Lehrenden. Wo alles zu einem Projekt wird und möglichst öffentlichkeitswirksam durchgeführt werden muss und wo die Anforderungen der akademischen Selbstverwaltung immer zahlreicher und umfangreicher werden, reicht die selbstvergessene »Einsamkeit« des Wissenschaftlers auch nicht mehr allzu weit. Deutlich zeigen sich diese Tendenzen in der zunehmenden Bedeutung des Paradigmas der Berechenbarkeit, das es erlaubt, alles mit allem zu vergleichen und in ein Verhältnis zu setzen. Qualität wird dadurch auf Quantität reduziert und tendenziell alles der Diktatur der Punkte unterworfen – seien es individuelle Studienleistungen oder Leistungen von Forschern oder ganzen Fachbereichen. Warner und Mahner vor den Konsequenzen dieser Unterwerfung unter die Logik des Marktes werden belächelt und als gestrig oder gar vorgestrig abgetan – wenn sie Glück haben. Wenn sie weniger Glück haben, so gelten sie als Boykotteure, als jene rückwärtsgewandten Gestalten, die an vergangenen Bildern festhalten und dem Fortschritt im Wege stehen. 3 Vgl. zu diesen Entwicklungen neben Gesine Schwan, Bildung: Ware oder öffentliches Gut?, Berlin 2011 auch Martha C. Nussbaum, Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities, Princeton 2010 und Ulrike Hass / Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.), Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution, Bielefeld 2009. 3
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Diese Deutung der gegenwärtigen Lage der Universität klingt dramatisch. Sie ist – zugegebenerweise – mit sehr groben Strichen gezeichnet und bedürfte tiefer gehender Ergänzungen und Differenzierungen. Es ließe sich zum Beispiel einwenden, dass einer romantischen Marktfeindlichkeit das Wort geredet werde oder dass die Bedeutung des Ökonomischen überschätzt werde. Auch ließe sich einwenden, dass die positiven Aspekte dieser neuesten Entwicklungen übersehen würden: Was sei denn gegen Effizienz, gegen eine klarere Formulierung der Ziele der Universität, gegen wirtschaftlich ausgerichtete Vernunft zu sagen? Im Prinzip ist dagegen nichts zu sagen. Allerdings geht es hier nicht nur darum, dass die ökonomische Vernunft Einzug in die Universität und ihre Verwaltung gehalten hat. Es ist zu hoffen (und weitestgehend auch davon auszugehen), dass diese Vernunft dem universitären Leben nie fremd war. Worüber hier fragend nachgedacht wird, liegt auf einer tieferen Ebene und ist eng mit einer weit über die Universität hinausreichenden Tendenz zum ökonomischen Funktionalismus verbunden: Der wirtschaftliche Nutzen nimmt im Vergleich zu anderen Dimensionen eine immer größere Bedeutung ein und bestimmt nicht nur, wie etwas zu nutzen sei oder welchen Wert etwas hat, sondern sogar, was etwas überhaupt ist. Es bedarf nicht vieler Worte, um aufzuzeigen, was dies für Wahrheit und Freiheit als »Leitbilder« der klassischen Universität bedeutet. Beide Leitbilder bezeichnen, wie sich gezeigt hat, etwas, das »unverhältnismäßig« ist und das nicht funktionalisiert werden darf, wenn dies bedeutet: etwas seinen Funktionen unterordnen und von diesen Funktionen her zu bestimmen. Das bedeutet nicht, dass die Universität als Wahrheits- und Freiheitsort (oder, wenn man diese räumliche Redeweise vermeiden möchte: 118 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
als Wahrheits- und Freiheitsgeschehen) keine Funktionen erfüllen würde oder gar könnte. Im Gegenteil. Die klassische Universität hat als Ort der Bildung, als jener Ort, an dem Menschen sich in Freiheit mit Wahrheit auseinandergesetzt und auf den Anspruch des Wahren geantwortet haben, immer auch zahlreiche Funktionen – für den Staat, für die Gesellschaft oder für die Kirche – erfüllt. Allerdings waren diese Funktionen sekundär zu ihrer eigentlichen Idee – und sie mussten sekundär und oft sogar unbewusst bleiben. Wenn heute aber überhaupt noch über die Idee der Universität nachgedacht wird, dann oft unter dem Vorzeichen des Primates der ökonomischen Funktionen der Universität oder – dies ist nicht weniger problematisch – unter dem Vorzeichen der Kritik des Primates dieser Funktionen. Im ersten Fall läuft es, auch wenn bestimmte Momente der überlieferten Idee der Universität bewahrt bleiben, auf eine Kapitulation der Universität vor den Tendenzen zur ökonomischen Funktionalisierung hinaus; im zweiten Fall auf eine radikale Kritik, auf ein rebellisches und revolutionäres Handeln, das sich insbesondere von dem her, was kritisiert werden soll, versteht und dabei das, was ihm eigentlich ein Anliegen sein sollte, oft aus den Augen verliert. Das ist nämlich nicht die Stimme eines bloßen Antagonismus, sondern jenes »Wesen« der Universität als Ort, an dem Wahrheit und Freiheit sich in ihrer Unbedingtheit zeigen und über die Universität hinaus wirken – als Artikulation eines Widerspruchs zu allen Tendenzen in Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Religion, abgeschlossene Systeme zu errichten. In geschichtlicher Betrachtung stand die Universität immer wieder in der Gefahr, ihr fremden oder sekundären Zwecken untergeordnet zu werden. Es gibt eine lange Ge119 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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schichte der Politisierung der Universität, der Unterordnung der Universität unter staatliche oder auch religiöse Ziele. Warum also sollte die jetzige Gefährdung, die Unterordnung der Universität unter einen ökonomischen Funktionalismus, gefährlicher als jene anderen Gefährdungen sein? Wäre es nicht ebenso vermessen, sich für besonders gefährdet zu halten, wie es vermessen ist, sich für besonders fortschrittlich und ungefährdet zu halten?
Die verlorene Frage nach der Universität Es gibt ein Symptom für den besonderes gefährlichen Charakter der gegenwärtigen Situation. Es wird nämlich – von Ausnahmen abgesehen – nur noch selten die Frage nach der Idee oder nach dem »Wesen« der Universität gestellt. Diese Frage steht nicht nur im Verdacht, eine metaphysische Frage zu sein (auch wenn sie dies nicht notwendigerweise ist). Sie ist eine Frage, die, wenn sie in Freiheit und auf Wahrheit hin gestellt wird, auf die Grenzen und Widersprüche der ökonomischen Funktionalisierung der Universität verweisen würde (und auch aus diesem Grund an Bedeutung verloren hat). Zwar verfügen auch jene, die auf die ökonomische Funktionalisierung der Universität hinarbeiten, über eine »Idee« der Universität. Allerdings ist diese Idee in ihrer (bislang nur selten vorfindbaren) Reinform mit der Wahrheit und der Freiheit als Leitbildern der überlieferten Universitätsidee nicht vereinbar, insofern sie das Unbedingte von Wahrheit und Freiheit, d. h. die eigentlich unbedingte Universität, auf ein Bedingtes reduziert: Die Universität und somit auch Wahrheit und Freiheit werden nämlich durch den Markt und seine Inte120 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
ressen bestimmt und begrenzt. Da dies zurzeit noch weithin als problematisch erscheint, wird, wo der Funktionalisierung der Universität das Wort geredet wird, selten offen von der ihr zugrunde liegenden Idee gesprochen. Dass über diese »neue Idee« der Universität so wenig gesprochen wird (und überdies am Namen der Universität festgehalten wird, obwohl sich ja auch ein neuer Name wie etwa jener der »Gesamthochschulen« anbieten könnte), verweist allerdings nicht nur auf eine strategische Vorsicht oder das schlechte Gewissen derjenigen, die der radikalen Uminterpretation der Idee der Universität zuarbeiten. Es verweist auch darauf, dass das Geschehen dieser Uminterpretation zu einem nicht unbeträchtlichen Grade ein anonymer Prozess ist, der im Verborgenen vor sich geht, ohne dass dies den beteiligten Akteuren oft ausdrücklich bewusst wäre. Das bedeutet überhaupt nicht, dass dieser Prozess undurchschaubar oder mysteriös wäre oder dass er auf eine Verschwörung kleiner und verschwiegener Gruppen zurückginge. Gesellschaftliche und kulturelle Prozesse verlaufen oft so, dass jene, die an ihnen mitwirken, sich oft nicht über ihre Rolle im Klaren sind und dass das Geschehen, an dem sie mitgewirkt haben, erst mit einem gewissen Abstand deutlich wird. Umso problematischer ist die Tatsache, dass die Universität selbst oft nicht mehr über ihre Idee, darüber also, was sie war, ist und sein soll, nachdenkt – in jener polyphonen Intensität, die diese Debatten immer wieder belebt und charakterisiert hat – und dass es auch in der Öffentlichkeit nur einen begrenzten, für das Erbe der Universität und die Leitbilder von Wahrheit und Freiheit sensiblen Diskurs über die Universität gibt. Denn dieser Umstand könnte die genannte Entwicklung, die Umdeutung dessen, was mit Universität eigentlich ge121 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
meint ist, noch unterstützen. Und wo diese Entwicklung nicht ausdrücklich unterstützt wird, wird sie dadurch, dass die Frage nach der Idee der Universität kaum noch angemessen thematisiert wird, zumindest nicht hinterfragt. Jene Disziplinen, in denen traditionellerweise dieses Nachdenken stattgefunden hat – die Theologie und die Philosophie –, haben, wie es scheint, nicht mehr die Kraft, Gedanken zum »Wesen« der Universität und somit zum Gesamt des menschlichen Bemühens um Wahrheit und Freiheit so vorzutragen, dass sie in anderen Disziplinen ernst genommen würden. Vielfach sehen sie auch nicht mehr die Notwendigkeit, derlei Gedanken zu entwickeln. Ihr Selbstverständnis hat sich oft an das der anderen Wissenschaften angeglichen. Theologen und Philosophen loben ihre eigene (Spezial- oder Einzel-)Wissenschaftlichkeit, gleichen ihr wissenschaftliches Tun und ihr akademisches Selbstverständnis an dasjenige anderer wissenschaftlicher Fächer an und verlieren dabei aus den Augen, dass es in Theologie und Philosophie immer auch um mehr und anderes als um bloße Fachwissenschaftlichkeit geht. Denn in beiden Fächern stellt sich – bei allen Unterschieden – immer die Frage nach dem Ganzen menschlichen Wissens und nach dem Ganzen des Seienden. Und es stellen sich Fragen nach den Grenzen und Möglichkeiten des Wissens sowie nach dem Bedingten, dem Unbedingten und dem Verhältnis des einen zum anderen. Und nicht zuletzt wird in beiden Disziplinen immer auch nach den grundlegenden Differenzen von Schein und Wahrheit, von Notwendigkeit und Freiheit, von Verzweckung und Selbstzweck gefragt: Gibt es Wahrheit, die sich nicht auf ihre Genese oder die Bedingungen ihrer Erhaltung reduzieren oder in der Vielfalt unendlicher Wahrheitsansprüche relativieren lässt? Und wenn es Wahrheit gibt, 122 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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wie ändert sich das menschliche Wissen und Handeln, wenn es im Horizont der Wahrheit steht, auch wenn es immer nur Annäherungen an »die« Wahrheit gibt? Und, so fragen diese Disziplinen weiter, gibt es Freiheit und, falls ja, wie zeigt sie sich? Oder unterliegt alles den Gesetzen einer sich aus strengen wissenschaftlichen Methoden erschließenden Notwendigkeit? Damit eng verbunden ist schließlich die Frage danach, ob alles verzweckt werden könne oder ob es etwas gibt, das sich nicht verzwecken lässt, weil es immer schon seinen Zweck in sich selbst hat. Wenn diese Fragen nicht mehr oder nicht mehr kraftvoll gestellt werden, zerbricht die innere Einheit der Universität. Sie ist dann nur noch eine Ansammlung von miteinander rein organisatorisch, durch bestimmte Strukturen oder durch eine gemeinsame äußere Geschichte verbundenen Einrichtungen. Nicht zuletzt zeigt sich diese Entwicklung, wenn weniger nach dem inneren »Wesen« oder der Idee der Universität gefragt wird, als dass äußere Strukturen thematisiert und reformiert werden. Die Spannung, in der die Universität als bedingtes Unbedingtes immer schon steht, die Spannung von Selbstund Fremdverständnis, von primärer Funktionslosigkeit und sekundären Funktionen, wird, wo erst einmal die innere Einheit der Universität zerbrochen und nicht mehr oder nur noch selten Gegenstand der Reflexion und des Nachdenkens ist, zuvor nicht gekannten Gefährdungen ausgesetzt. Ist nämlich die innere Einheit der Universität zerbrochen, dann wird diese aufgrund ihrer Schutzlosigkeit noch anfälliger für Versuche, das »Wesen« der Universität von außen zu bestimmen und die genannte Spannung zugunsten des Bedingten aufzuheben, als sie dies immer schon ist. Sie bedarf dann sogar dieser Sinnstiftung von außen: Weil sie selbst nicht mehr weiß, was sie ist und 123 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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was sich in ihr verwirklicht, wird sie dankbar explizite oder auch implizite Fremddefinitionen annehmen – so sehr diese auch ihrem überlieferten Zweck widersprechen. Aus diesem Grund mag die gegenwärtige Krise der Universität problematischer und gefährlicher sein als andere, heute längst Geschichte gewordene Krisen der Universität.
Die Universität und die Idee des Menschen Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine klare Forderung für jene, denen die Universität als Eröffnung von Wahrheit und Freiheit am Herzen liegt: dass vertieft über das »Wesen« der Universität nachzudenken sei und die Universität von diesem Nachdenken her Anstöße für ihre Reform und Selbstbestimmung findet. Diese Forderung gilt umso mehr angesichts der bereits kurz genannten Tatsache, dass Kritiker der Funktionalisierung der Universität sich oft auf die bloße Kritik und damit auf einen rein negativen Zugang zur gegenwärtigen Krise der Universität beschränken. Sehr deutlich wird dann, was die Universität nicht ist. Offen bleibt aber, was sie eigentlich ist: Was bedeutet es – unter den heutigen geschichtlichen Bedingungen –, der Idee der Universität Gestalt zu geben? Denn es kann ja nicht darum gehen, einem geschichtslosen Essentialismus das Wort zu reden und davon auszugehen, dass einzig ein ewiges »Wesen« der Universität zu finden sei, dass dann in die Wirklichkeit übersetzt werden müsse. Die Universität, so hat sich gezeigt, wird als Wahrheits- und Freiheitsgeschehen immer Universität ihrer je eigenen Zeit sein müssen. Ein geschichtsloser Platonismus ist in diesen Fragen genauso irreführend (weshalb hier immer 124 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
»Wesen« in Anführungszeichen gesetzt wird, um ein mögliches Missverständnis auszuschließen und auf die verbale oder Vollzugs-Dimension des »Wesens«, d. h. die Geschichtlichkeit der Idee der Universität hinzuweisen) wie ein Funktionalismus, der sich der Geschichte und ihren jeweiligen Interessen und Mächten ausliefert. Allerdings dürfte zu vermuten sein, dass diese Forderung nicht ausreicht, um der gegenwärtigen Krise und Gefährdung der Universität zu begegnen. Denn dass die Frage nach dem Wesen der Universität nicht mehr in hinreichender Weise gestellt wird, hat einen tieferen Grund: nämlich darin, dass auch der Mensch sich selbst in einer zuvor unbekannten Weise so fraglich geworden ist, dass er sich selbst zu verlieren droht. Auch die Idee des Menschen scheint undeutlich geworden zu sein: Wer ist denn eigentlich der Mensch? Lohnt es sich überhaupt noch, nach dem Menschen zu fragen? Auch hier lägen – dies sei nur nebenbei bemerkt – wichtige Aufgaben für Philosophie und Theologie. Was hier zur Diskussion steht, ist die Erfahrung einer so radikalen Fraglichkeit, dass das Fragen nach dem Menschen selbst verstummt, sich unendlich ausdifferenziert oder sich nur noch auf das vermeintlich gesicherte Wissen einzelner Fachwissenschaften bezieht, so, als ob je die Neurowissenschaft, die Genetik, die Geschichte oder die Soziologie die endgültige Wahrheit über den Menschen und die Welt verkünden könnten. Dass auch diese Erfahrung ernsthafte Auswirkungen auf die Frage nach der Idee der Universität haben dürfte, ergibt sich daraus, dass die Universität eine menschliche Einrichtung ist und als solche ein bestimmtes Verständnis des Menschen voraussetzt: Der Mensch, der im Raume der Universität lebt (also nicht einfach dort oder für sie tätig ist, sondern der uni125 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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versitär lebt, also das Leben des Geistes führt), ist auf Wahrheit und Freiheit hingeordnet. Wenn aber unklar geworden ist, wer der Mensch als Wahrheits- und Freiheitswesen eigentlich, nicht nur aus der Sicht einer einzelnen, sich absolute setzenden Fachdisziplin oder Perspektive ist, ist auch jene Einrichtung nicht mehr zu verstehen, in der das menschliche Streben nach Wahrheit und Freiheit – der Eros des Wissens – eine ihrer wichtigsten (nicht ihre einzige) Verdichtungen erfahren hat: die überlieferte, immer wieder reformierte und – bei allem Bleibenden – lebendig sich verändernde Universität.
Die Zukunft der Universität Sollte die Frage nach der Universität nicht mehr gestellt werden, weil auch die Frage nach dem Menschen nicht mehr oder nur noch in verkürzter Form gestellt wird, so wird die Universität gewiss noch eine Zeit weiter existieren. Ihre Idee ist zu stark und historisch zu wirkmächtig. Es wird weiterhin universitäre Menschen geben. Und doch wird die Universität, wie sie sich – trotz aller Krisen – in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat, immer schwächer werden, wenn sie nicht mehr unabhängig über ihre eigene Idee und die ihr innewohnende Einheit nachdenkt und vor diesem Hintergrund das akademische Leben gestaltet, sondern sich ihr Wesen und ihre Aufgabe von außen bestimmen lässt. Die Möglichkeiten grundlegender Reformen von innen werden allerdings immer unwahrscheinlicher, wenn die voruniversitären Voraussetzungen des universitären Lebens immer stärker an Kraft und Bedeutung verlieren sollten. Zuletzt könnte 126 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
nur noch ihr Name an eine längst vergangene Tradition erinnern. Verwundern müsste das nicht: Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für die Universität in ihrer geschichtlichen Gestalt. Sie ist ein geschichtliches Phänomen. So, wie sie einst entstanden ist – bedingt durch kulturelle, gesellschaftliche, politische und religiöse Voraussetzungen –, könnte sie wieder vergehen. Und dies muss auch nicht erschüttern: Denn die Hinordnung auf Wahrheit und Freiheit, die dem Menschen eigen ist, wird selbst dann weiter von Bedeutung bleiben, wenn jene Einrichtung, die diese Hinordnung so stark unterstützt hat wie nur wenige andere Einrichtungen und die in dieser Hinordnung ihre Wurzel hat, nicht mehr die sie einst charakterisierende Bedeutung hat oder nur noch in der Erinnerung lebt. Es wird dann anderswo universitäre Orte geben, die vielleicht virtuell oder der Allgemeinheit verborgen sind oder sich nur punktuell und momenthaft zeigen. Die Universität könnte ins Exil gehen (so wie viele Philosophen und Theologen in einem außeruniversitären Exil gelebt oder nur ausnahmsweise im universitären Raum gewirkt haben). Ihre Idee wird, so ist zu hoffen, überleben, wenn auch in bestimmten Phasen möglicherweise nur stark eingeschränkt, weil es, solange es Menschen gibt, jenen Raum gibt, an dem die Universität ihren Ort hat: die Offenheit von Wahrheit und Freiheit. Weil es die genannte Gefahr gibt, bleibt es wichtig, dass noch einmal neu über die Universität nachgedacht wird und dass die gegenwärtige Krise der Universität sich einordnet in die lange Geschichte der Universität als Krise: um der Wahrheit und Freiheit und damit immer auch um des Menschen willen. Nicht zuletzt wäre dies deshalb zu hoffen, weil funktionierende Demokratien auf die 127 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen
Universität – auf einen Ort des Nach- und Vordenkens, des Miteinandersprechens und Aufeinanderhörens – angewiesen sind (weshalb die gegenwärtige Krise der Demokratie auch auf eine Krise der Universität zurückgeht).
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Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott Zur Kritik des »neuen Atheismus«
Ambivalenzen der Moderne: Religion und Atheismus Die Moderne ist das Zeitalter der Religionskritik. Für manche Denker war jede Form von Religion naiv und illusorisch, wenn nicht sogar gefährlich und menschenfeindlich. Gott, so schien es vielen, war tot, ja, hatte nie wirklich existiert oder zeigt dem Menschen gegenüber keinerlei Interesse. Nicht nur Deismus und Atheismus sind im Verlaufe dieses Prozesses zu verbreiteten Optionen geworden, sondern auch jene Haltung, die man religiöse Indifferenz nennen kann. Gott spielt dann überhaupt keine Rolle mehr, noch nicht einmal als Wesen, dessen Existenz geleugnet wird oder einer ausdrücklichen Leugnung wert wäre. 1 Während der Atheismus noch etwas von der ursprünglichen Bedeutung und Kraft des Glaubens an Gott erahnen lässt, zeigt die religiöse Indifferenz, dass diese Kraft ganz in Vergessenheit geraten kann. Die Gründe für die Zweifel an der Existenz Gottes sind vielfältig. Der Atheismus ist daher, anders als oft anBernhard Welte spricht in diesem Zusammenhang von einem »negativen Atheismus« (vgl. ders., Religionsphilosophie, eingeführt und bearbeitet von Klaus Kienzler [= Gesammelte Schriften Band III/1], Freiburg/Basel/Wien 2008, 147–150). 1
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Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott
genommen, kein einheitliches Phänomen. Gott ist zum einen nicht in jener Weise erfahrbar, in der Menschen im neuzeitlichen Sinne Erfahrungen machen (und machen wollen), nämlich im wissenschaftlichen Sinne. Zum anderen lässt sich seine Existenz philosophisch, d. h. mit den Mitteln der bloßen Vernunft, nicht zweifelsfrei beweisen. Man fragte, ob, wenn denn überhaupt etwas erfahren oder bewiesen werden könne, dies nicht eher das Schweigen, die Gleichgültigkeit oder die Abwesenheit Gottes sei – oder gar die Nicht-Existenz Gottes. Würde ein allwissender, allmächtiger und zugleich allgütiger Gott das zulassen, was den Erfahrungsraum des Menschen bestimmt und insbesondere in der Neuzeit gegen den überlieferten Glauben an Gott zu sprechen schien – vom Erdbeben in Lissabon am Allerheiligentag 1755 über Kriege, Krankheiten und andere Katastrophen bis hin zur Shoah? Auch die verschiedenen Antworten auf die Theodizeefrage – als Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt – haben nicht selten dem Glauben an Gott dadurch, dass seine Existenz verteidigt wurde, einen »Todesstoß« versetzt. Denn es stellte sich die Frage, ob man an jenen Gott, der angesichts des Bösen in der Welt gerechtfertigt werden konnte, überhaupt noch glauben wollte. War dies überhaupt noch ein heiliger, ein göttlicher Gott? Zudem schienen die Erkenntnisse der Wissenschaften zunehmend den christlichen Glauben an einen den Menschen liebenden Schöpfergott ausdrücklich in Frage zu stellen. Die letzten 300 Jahre verzeichnen beträchtliche Erkenntnisfortschritte in der Biologie, der Physik, der Psychologie, der Kosmologie oder in den historischen Wissenschaften, die allesamt den Glauben an den biblischen Gott, der alles so herrlich regiere, und an den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes fragwürdig erscheinen lassen. 130 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Der Glaube an Gott, so schien es, war unter den neuen wissenschaftlichen Voraussetzungen der Moderne eine rein menschliche Illusion oder eine Projektion, die eine bestimmte Funktion in der Gesellschaft oder für das Seelenleben des Einzelnen erfüllt, aber die weitere Entwicklung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft behindern würde. Für »geschichtliche Gegenstände – wie das Christentum einer ist –« habe sich, so Kurt Flasch mit Bezug auf die neuen Methoden und dadurch möglichen Erkenntnisse in den Geschichtswissenschaften, in der Neuzeit »unabweisbar eine neue, strenge Methode entwickelt. … Ihre (scil. der Christen, H. Z.) Glaubensinbrunst mag Berge versetzen. Aber sie ersetzt nicht historische Umsicht. Ich bin kein Christ, weil ich die veränderte Lage sehe und aus ihr die Konsequenzen ziehe.« 2 Trotz der oft berechtigten Kritik an Religion, trotz des Glaubenszweifels des modernen Menschen hat sich allerdings das gehalten, was Robert Spaemann das »unsterbliche Gerücht« 3 Gottes nennt. Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist zudem viel von einer »Wiederkehr der Religion« die Rede. Es ist nicht mehr gestrig oder gar vorgestrig, religiös zu sein und sich zu seinem Glauben zu bekennen. Der Mensch, so scheint es, ist allen Abgesängen auf die Religion zum Trotz doch ein zutiefst religiöses Wesen. Es gibt in Zeiten einer wissenschaftlich entzauberten Welt sogar ein neues Bedürfnis nach Religion: nach religiösen Riten und Zeremonien, aber auch nach religiöser Sinnstiftung und Daseinsdeutung. Kurt Flasch, Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2 2013, 48. 3 Vgl. hierzu Robert Spaemann, »Das unsterbliche Gerücht«, in: ders., Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007, 11–36. 2
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Religion scheint wider alle Tendenzen, sie auf das Private zu beschränken, im öffentlichen und politischen Bereich weiterhin eine wichtige Rolle zu spielen. Auch hier, so wird oft betont, ist die Stimme der Religion und einer religiös begründeten Sicht der Wirklichkeit notwendig – zumindest in jener Spielart, die man »Zivilreligion« nennt. Würde ohne das Band der Religion, so mutmaßen einige, die Gesellschaft nicht auseinanderbrechen oder eine wichtige Grundlage des für die Gesellschaft notwendigen moralischen Konsenses verlieren? Haben Religionen wie insbesondere das Christentum nicht auch dem nicht-religiösen Menschen etwas zu sagen? Sollte man daher das Wissen der Religion über den Menschen, die Welt und Gott nicht wenigstens derart übersetzen, dass auch diejenigen, die selbst nicht religiös sind, von diesem Wissen lernen können? Dies sind Fragen, die nicht nur in der christlichen Theologie oder Philosophie intensiv diskutiert werden und die nicht allein abstrakte Probleme umreißen. Denn wo immer nach Religion und ihrer Bedeutung gefragt wird, zeigen sich im Bereich der Ethik, der Gesetzgebung und der Politik zahlreiche praktische Implikationen der Antworten auf diese Frage. Nicht zuletzt steht diese bleibende Bedeutung von Religion auch im Kontext einer redlichen Auseinandersetzung von Kirche und Theologie mit dem Phänomen des neuzeitlichen Atheismus. In diesem Zusammenhang ist der Atheismus nicht allein zum Gegenstand einer rein negativen theologischen Kritik geworden. Neben den Versuchen, Theologie ausdrücklich nach dem »Tod Gottes« zu betreiben, stehen jene Überlegungen, die nach der inneren religiösen und theologischen Bedeutung des Atheismus fragen: Was bedeutet es, dass Gott zwar nicht »tot« ist, aber sich entzogen zu haben scheint? Diese Auseinan132 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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dersetzung mit dem Atheismus und seiner inneren Wahrheit hat auch zu einer Wiederentdeckung des göttlichen, nicht von Menschen gemachten oder vorgestellten Gottes und zu einer Vertiefung des Glaubens an Gott geführt. Außerdem ist die Moderne, in deren Kontext sowohl der oft kämpferische Atheismus der Neuzeit wie auch die Religionskritik zu verorten sind, insbesondere im 20. Jahrhundert an ihre eigenen Grenzen gestoßen und hat ihre dialektische, selbstwidersprüchliche Natur gezeigt. Deutlich zeigten sich die Grenzen dessen, was dem Menschen überhaupt möglich ist, nicht allein im Bereich der Erkenntnis und Erklärung der Wirklichkeit, sondern auch angesichts seiner Fragen nach dem Sinn des eigenen Daseins und der menschlichen Geschichte. Daher stellt sich die Frage, ob man nicht nur dann modern sein kann, wenn man nicht ausschließlich modern ist, und ob die erste Aufklärung der Moderne nicht einer zweiten Aufklärung über sich selbst bedarf, um nicht in ihr Gegenteil – eine Position des Widerspruches zur und des Verrats an der Vernunft – umzuschlagen. Diese Aufklärung über die Aufklärung hat auch zu einer neuen Verhältnisbestimmung der Moderne zur Religion und zur Anerkennung ihrer bleibenden Bedeutung geführt. Somit zeigt sich in der Gegenwart ein sehr kompliziertes Bild. Auf der einen Seite stehen diejenigen, für die Religion bleibend oder neu wichtig ist und die einem vielleicht nicht ganz so neuen, oft auch sehr diffusen Bedürfnis nach Spiritualität und religiösen Traditionen, Bildern und Denkformen nachgehen, und auf der anderen Seite jene, die nicht nur daran erinnern, welches Problem der Glaube an Gott darstellt, sondern die auch im Umfeld der Religionen Verrat an der Aufklärung, Verlust der Vernunft und Einengung menschlicher Freiheit wittern. Die 133 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Frage, die sich angesichts dieser Situation erneut in den Vordergrund schiebt, ist nicht vorrangig eine historische, soziologische oder psychologische Frage nach Religion und ihrer Bedeutung. Es ist die bleibende Frage nach Gott, die sich mit neuer Vehemenz stellt. Dies verdeutlicht besonders das viel diskutierte Phänomen des »neuen Atheismus«. Welche Fragen man dieser Spielart des Atheismus aus der Sicht der Philosophie stellen kann und sollte – übrigens auch, wenn man selbst nicht an Gott glaubt –, wird im Folgenden gezeigt. Vor dem geschilderten Horizont der Moderne und ihrer inneren Spannungen wird sich der »neue Atheismus« als Wiederholung vertrauter Motive zeigen – allerdings als eine Wiederholung, die der veränderten Ausgangslage der Gegenwart und der religiösen wie auch religionsphilosophischen Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Atheismus nicht gerecht wird. Auf der einen Seite wird der »neue Atheismus« nämlich als zu wenig radikal erscheinen, auf der anderen Seite als zu wenig aufgeklärt. Beides verweist auf einen inneren, selten ausdrücklich thematisierten Selbstwiderspruch.
Herausforderung und Kritik des neuen Atheismus Die Werke der »neuen Atheisten« und Religionskritiker sind intensiv diskutierte Bestseller – nicht nur im englischsprachigen Bereich, dem viele der Vordenker des neuen Atheismus entstammen. Richard Dawkins Der Gotteswahn hat auch in Deutschland viele Leser gefunden. 4 Das
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Richard Dawkins, The God Delusion, Boston/New York 2006 (dt.
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gilt ebenso für die Bücher von Daniel Dennett, 5 Sam Harris 6 , Christopher Hitchens 7 oder für Michael SchmidtSalomons Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur 8 oder sein Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen 9 . Bei allen Unterschieden gibt es unter diesen verschiedenen Variationen des Atheismus und der Religionskritik beträchtliche Gemeinsamkeiten. Auf drei dieser den »neuen Atheisten« ge-
Übersetzung: Der Gotteswahn, aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel, Berlin 11 2011). 5 Daniel C. Dennett, Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, London 2006 (dt. Übersetzung: Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, aus dem Amerikanischen von Frank Born, Frankfurt am Main/Leipzig 2008). 6 Sam Harris, The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, New York/London 2004 (dt. Übersetzung: Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft, aus dem Englischen übersetzt von Oliver Fehn, Winterthur 2014); ders., Letter to a Christian Nation, New York 2007 (deutsche Übersetzung: Brief an ein christliches Land. Eine Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus. Mit einem Vorwort von Richard Dawkins, aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Yvonne Badal, München 2008). 7 Christopher Hitchens, God is not Great. How Religion Poisons Everything, New York/Boston 2007 (dt. Übersetzung: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, aus dem Amerikanischen von Anne Emmert, München 2007). 8 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 2 2006. 9 Michael Schmidt-Salomon / Helge Nyncke, Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen, Aschaffenburg 2007.
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meinsamen Überzeugungen sei nun in der hier gebotenen Kürze skizzenhaft und exemplarisch eingegangen. 10 Zunächst sei in diesem Zusammenhang die These von der wissenschaftlichen Selbstverständlichkeit des Atheismus genannt. Sam Harris hat in seinem Brief an ein christliches Land – sprich: an die Vereinigten Staaten von Amerika – die Position der »neuen Atheisten« folgendermaßen zusammengefasst: »Der Atheismus ist keine Philosophie; er ist noch nicht einmal eine Weltanschauung; er ist nur die Anerkennung einer offensichtlichen Tatsache. Der Begriff ›Atheismus‹ sollte im Grunde gar nicht existieren. Niemand muss sich jemals als Nicht-Astrologe oder Nicht-Alchemist bezeichnen.« 11 Es geht den »neuen Atheisten« somit nicht um die Formulierung einer Hypothese oder einer um ihre erkenntnistheoretischen Grenzen wissenden Anfrage an den Glauben an Gottes Existenz oder an das konkrete religiöse Leben. Gottes Nicht-Existenz wird als eine »offensichtliche Tatsache« beschrieben. Für Harris ist der Atheismus daher eine wissenschaftliche, d. h. wissenschaftlich nicht nur beweisbare, sondern selbstverständliche Position. Der Glaube an Gott ist umgekehrt eine abergläubische Position, die mit Astrologie oder Alchemie auf einer Stufe steht. Wenn die innere Wahrheit der Wissenschaft im Atheismus liegt, dann stehen Religion und Wissenschaft in einem Konkurrenzverhältnis. Die Religionen, so Harris Kurt Flaschs Antwort auf die Frage, warum er nicht mehr Christ sei, ist bereits kurz erwähnt worden. Seine Antwort ist allerdings der Religionskritik, aufgrund ihres agnostischen Charakters aber nicht dem (alten oder neuen) Atheismus zuzuordnen, auch wenn es manche Gemeinsamkeiten gibt. 11 Sam Harris, Letter to a Christian Nation, 51 (Übersetzung hier und im Folgenden durch den Verf.). 10
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und viele andere neue Religionskritiker, behinderten den wissenschaftlichen Fortschritt, die Aufklärung und die menschliche Freiheit und machten aufgrund ihres Gewaltpotentials Frieden unmöglich. 12 Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion sei daher, so Harris, »unvermeidbar«. 13 Es stellt sich daher um der Zukunft der Menschheit willen die Aufgabe, den Einfluss der Religionen auf die Weise, wie Menschen Wirklichkeit verstehen und wie sie Entscheidungen treffen und handeln, radikal zu beschränken. Diese Ansicht kann man als die zweite Hauptthese der »neuen Atheisten« oder Religionskritiker bezeichnen: die These von der emanzipatorischen und daher fortschrittlichen Dimension des »neuen Atheismus«. Wenn Religion aber fortschrittsgefährdend ist und sowohl die menschliche Freiheit als auch die Vernunft beschränkt, dann sind der Glaube an Gott und die institutionalisierten Religionen insbesondere in ihren politischen und öffentlichen Dimensionen gefährlich. Anhänger eines phantastischen Aberglaubens hätten in Politik und Gesellschaft zu viel Bedeutung. Daher sei auch in diesem Bereich eine Revolution notwendig, die die widervernünftigen Stimmen der Religionen zum Schweigen bringe. Dies ist die dritte These, die den »neuen Atheisten« gemeinsam ist: die These von der Notwendigkeit, im politischen und öffentlichen Raum den Einfluss von Religion auszuschlieVgl. hierzu und zum Folgenden auch Sam Harris, Letter to a Christian Nation, 79–87; ders., The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, 11–49. Für die hier vorgestellten drei Hauptthesen des »neuen Atheismus« bieten auch die o. g. Bücher von Dawkins, Hitchens, Dennett und Schmidt-Salomon reiche Belege. 13 Sam Harris, Letter to a Christian Nation, 63; vgl. hier auch 62– 79. 12
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ßen und sie allein im privaten Bereich, wenn überhaupt noch, zu tolerieren. Soweit die drei Hauptthesen des »neuen Atheismus«. Zunächst lässt sich zu ihnen und zum »neuen Atheismus« im Allgemeinen sagen, dass nicht selten zu beobachten ist, dass eine problematische Extremposition eine andere, aber nicht weniger problematische Extremposition hervorbringt. Das ist beim »neuen Atheismus« auch der Fall. Jenes durchaus zu beobachtende (und zu kritisierende) Extrem, das man »religiösen Fundamentalismus« nennt, scheint die Antwort eines »säkularistischen Fundamentalismus« zu provozieren, der sich nur vermeintlich auf seine wissenschaftlichen Grundlagen berufen kann, aber in vielem seiner Gegenposition sehr ähnlich ist. Das zeigt sich u. a. daran, dass sich die »neuen Atheisten« oft nur in sehr begrenzter Weise mit alternativen Positionen oder der Kritik an ihren Positionen auseinandersetzen und sich oft ausschließlich den problematischsten Aspekten von Religion zuwenden. Vielfach wird der Diskussionsstand der gegenwärtigen Theologie oder die Komplexität gelebter Religion nicht wahrgenommen oder lächerlich gemacht. Wo komplexe Argumente notwendig wären, finden sich oft Schlagworte, wo Gedankenschärfe angebracht wäre, findet sich Polemik. Manche Religionskritiker des 19. Jahrhunderts haben auf einem höheren Niveau argumentiert als viele ihrer gegenwärtigen Nachfolger. Diesen fehlt die Tiefe und die Brillanz eines Friedrich Nietzsche, der mit großer Freude die Trugschlüsse und Selbstwidersprüche nicht allein der an Gott Glaubenden, sondern auch der »neuen Atheisten« nachgewiesen hätte. Man wird nämlich – als kurze, nur skizzenhafte Antwort auf die erste These – erstens darauf hinweisen müssen, dass sich die Frage nach der Existenz (oder auch 138 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Nicht-Existenz) Gottes prinzipiell einer jeden wissenschaftlichen Antwort entzieht. Gott kann kein Gegenstand der neuzeitlichen Wissenschaft sein, die in ihrem Vorgehen zu Recht unter der Voraussetzung eines »methodischen Atheismus« steht – und das heißt: die sich als Wissenschaft der Gottesfrage enthält und zu enthalten hat. Überdies wäre ein Gott, der wissenschaftlich beweisbar wäre (was auch immer dies bedeuten würde), alles Mögliche – nur nicht der Gott, an den Juden, Christen oder Muslime glauben. Somit aber stellt sich die Frage nach dem Wissenschaftsverständnis der »neuen Atheisten«. Dieses scheint mit ihren weltanschaulichen Vorentscheidungen engstens verknüpft und somit ideologisch verzerrt zu sein. Der missionarische Impetus der »neuen Atheisten« zeigt nicht zuletzt, dass auch diese Kritik an der Religion – wie historisch zuvor schon der Marxismus – in eine Pseudo-Religion umschlagen kann, in die wissenschaftlich nicht ausweisbare Weltanschauung eines szientistischen Säkularismus, der nicht einfach Religion und Politik voneinander trennt, sondern dezidiert anti-religiöse Motive verfolgt und dabei weder der Vernunft noch der Freiheit des Menschen gerecht wird. Angesichts dieser Dialektik stellt sich die Frage, ob der »neue Atheismus« nicht viel radikaler religionskritisch sein müsste, um dann auch seine eigenen pseudo-religiösen Ansprüche als nicht vernünftig und gegen die Freiheit des Menschen gerichtet kritisieren zu können. Allerdings könnte er dies nur um den Preis der Infragestellung von Thesen tun, die für ihn eine zentrale Bedeutung einnehmen. Zudem könnte man – freilich polemisch zugespitzt – fragen, ob das Verständnis von Wissenschaftlichkeit, das die »neuen Atheisten« zeigen, nicht nur auf der Grundlage eines bestimmen Verständnisses 139 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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von Wirklichkeit überhaupt möglich war, das noch den Glauben an einen Gott voraussetzt. Wenn Nietzsche recht hat, setzt nämlich auch der Glaube an die Ordnung der Welt und damit an die Wissenschaft implizit noch den Glauben an Gott voraus. 14 Die Frage, ob der »neue Atheismus« nicht ausreichend (selbst-)kritisch ist und eine aus seiner Sicht eigentlich notwendige Radikalität vermissen lässt, stellt sich auch angesichts seiner zweiten These, nämlich des Anspruches, einen Beitrag zur radikalen Emanzipation des Menschen von überlieferten Traditionen und zum Fortschritt der Menschheit zu leisten. Im 20. Jahrhundert ist ein solcher emanzipatorischer Anspruch wie auch die Idee eines absoluten, nicht auf Teilbereiche beschränkten Fortschritts der Menschheit in besonderer Weise fragwürdig geworden – weil sich diese geschichtsphilosophischen Vorstellungen gegen den Menschen selbst richten und in ihrem Übermaß an Vernünftigkeit unvernünftig werden. Die Ideen der notwendigen Befreiung und des geschichtlichen Fortschritts in der von den »neuen Atheisten« vorausgesetzten Form sind auch nur denkbar als Säkularisierungen eines religiösen Verständnisses von Geschichte, nämlich des jüdisch-christlichen Verständnisses von Heilsgeschichte. Wenn es keinen Gott gibt, zerfällt die Idee einer Geschichte, so könnte man in Anlehnung an Nietzsche argumentieren, in die Vielfalt manchmal nebeneinander verlaufender, manchmal miteinander vermengter Geschichten, wenn sich die Idee von Geschichte nicht gänzlich als Illusion erweist und durch die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen ersetzt wird. Auch in dieser Hinsicht Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, §§ 108, 125.
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erscheint der »neue Atheismus« nicht radikal genug und hätte von Nietzsche und seiner Kritik an den Voraussetzungen linearer Geschichtsphilosophien lernen können. Es scheint um der inneren Kohärenz der atheistischen Position willen notwendig, noch atheistischer zu sein und den Anspruch, Geschichte als Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte verstehen zu können, ganz aufzugeben. Aus guten Gründen zieht der »neue Atheismus« diese Konsequenz seines Denkens nicht. Denn er müsste dann auch ihm wesentliche eigene Überzeugungen aufgeben. Diese mangelnde Radikalität und Selbstwidersprüchlichkeit des »neuen Atheismus« zeigt sich auch dort, wo seine Vertreter die politische oder öffentliche Bedeutung von Religion als Verhinderung von individueller und gesellschaftlicher Freiheit monieren. Denn es könnten Religionen wie insbesondere das Christentum maßgeblich dabei helfen, jene Freiheit zu bewahren, der sich die »neuen Atheisten« verpflichtet fühlen. Die folgenden Überlegungen verdeutlichen dies: Das Christentum ist an sich nicht politisch. Deshalb kann es den oft zumindest implizit artikulierten Absolutheitsanspruch von politischen (oder anderen endlichen) Systemen radikal in Frage stellen. Denn die Ordnung des Politischen ist aus christlicher Sicht wie jede andere rein weltliche Ordnung nicht von letztgültigem Charakter. Das ist allein das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Man muss allerdings kein Christ sein, um der Gefahr einer Absolutsetzung des Politischen (oder einer anderen Teilordnung des menschlichen Lebens wie etwa der Wirtschaft) entgegentreten zu können. Es reicht aus, die Möglichkeit und d. h. die Freiheit einer prinzipiellen Relativierung der Ordnung des Politischen als von immer eingeschränkter, vorletzter Bedeutung offen zu halten. 141 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Wenn aber Religion aus dem öffentlichen und politischen Bereich gänzlich verschwunden ist und in diesem Bereich keinen Einfluss mehr ausüben darf, weil, in anderen Worten, die Religionsfreiheit sich auf die Freiheit oder Befreiung von Religion oder die Freiheit zur Religion im rein privaten Kontext beschränkt, besteht die Gefahr, dass sich, solange es überhaupt noch eine geteilte menschliche Lebenswelt gibt, endliche, d. h. relative Lebensbereiche zunehmend absolut setzen. Dies kann in Gestalt politischer Ideologien, aber auch des Ökonomismus oder des Szientismus geschehen. Im Rahmen dieser Entwicklung wird die individuelle Freiheit der Menschen – nicht nur in Fragen der Religion und nicht nur der gläubigen Menschen – zunehmend begrenzt. Eingeschränkt wird dann auch die Vernunft des Menschen, die engstens mit der Freiheit des Selberdenkens verbunden ist. Aus dieser Sicht ist die Kritik der radikalen Religionskritik oder der Privatisierung von Religion auch ein Gebot der Vernunft. Auch vor dieser Konsequenz ihres Denkens – dem Gedanken, dass die geforderte Einflusslosigkeit und Abwesenheit von Religion im öffentlichen und politischen Bereich der Befreiung wie auch der Vernunft des Menschen entgegenstehen könnte – schrecken die »neuen Atheisten« zurück. Dies ist ebenfalls nur möglich, weil sie im Widerspruch zu ihrem eigenen Anliegen nicht radikal genug denken, weil ihnen der Mut fehlt, die Religionskritik auch auf Pseudo-Formen von Religion wie etwa politische, ökonomische oder auch szientistische Totalitarismen auszudehnen – da sie dann zentrale Grundüberzeugungen in Frage stellen müssten. Was angesichts der Selbstwidersprüchlichkeit des »neuen Atheismus« in seiner jetzigen Gestalt und der ihn selbst radikal in Frage stellenden Konsequenzen seines 142 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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eigenen Ansatzes notwendig wäre, ist die Position einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung. Diese verändert sowohl den Anspruch des »neuen Atheismus« wie auch das Verhältnis zur Religion.
Atheismus, Agnostizismus und die Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben Die hier vorgetragenen kritischen Anfragen an den »neuen Atheismus« bedeuten nicht, dass damit positiv die Existenz Gottes bewiesen wäre. Die Kritik beweist auch nicht, dass sich der Atheismus irrt. Sie mahnt zur Aufklärung über die Position der Aufklärung, zur Vorsicht und zur Bescheidenheit. Wenn der Atheismus nicht radikaler wird oder sein will, ob er nun die Konsequenzen seiner eigenen Radikalität fürchtet oder nicht, müsste er zumindest in seinem Anspruch gegenüber jenen, die an Gott glauben, weniger radikal auftreten, um die aufgezeigten Selbstwidersprüche zu vermeiden. Diese Bescheidenheit würde bedeuten, dass darauf verzichtet wird, mit Bezug auf die Wissenschaft, die Geschichte oder auf Politik und Gesellschaft jene radikalen Konsequenzen zu ziehen, die zu den Grundüberzeugungen der »neuen Atheisten« gehören. Sie setzt nicht voraus, dass die These von der Nicht-Existenz Gottes aufgegeben werden müsste. Man kann sogar argumentieren, dass diese Selbst-Bescheidung des »neuen Atheismus« um seiner selbst willen notwendig ist. Denn andernfalls, so hat sich gezeigt, gibt es nur die Alternative des Selbstwiderspruchs in der einen oder der Selbstaufhebung in der anderen Variante. Diese Bescheidenheit kann sich allerdings auch in 143 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott
einer radikaleren Gestalt zeigen: nämlich in der Gestalt eines Agnostizismus, der darum weiß, dass auch der Atheismus Gegenstand einer Glaubensentscheidung ist, und der sich daher jeder Glaubensentscheidung enthält. Für den Agnostiker ist es daher offen, vielleicht auch egal, ob es Gott gibt oder nicht. Diese Offenheit wie auch die bescheidenere Variante des Atheismus hätten zwei wichtige Konsequenzen. Der Glaube an Gott wäre zum einen als Möglichkeit anerkannt, die ein Mensch in Freiheit und Vernunft ergreifen kann und für die er sich nicht als wissenschaftsfeindlich, als fortschrittsvergessen oder als politisch und gesellschaftlich subversiv schämen müsste (oder für die er aus den genannten Gründen marginalisiert werden müsste). Es gibt aber, wie sich schon gezeigt hat, noch eine zweite, vielleicht sogar wichtigere Konsequenz – und zwar nicht nur für jene, die an Gott glauben. Denn allein vor dem Hintergrund dieser prinzipiellen Offenheit und Bescheidenheit ist eine Antwort auf die Transformation einer vorletzten Ordnungen zu einer Letztinstanz und somit auf die totalitäre Infragestellung menschlicher Freiheit und Vernunft möglich – finde sich dies im Bereich der Wissenschaft, der Geschichte, der Politik oder der Ökonomie. Mit der Anerkennung der Möglichkeit von Religion und der damit notwendigerweise verbundenen Relativierung von falschen Absolutsetzungen ist nämlich »wahre Toleranz«, Anerkennung des Anderen auch in seinen Differenzen zur eigenen Position, in seiner Freiheit und in seiner Vernunft möglich. Somit stellt sich für jeden, dem die Freiheit und Vernunft des Menschen ein Anliegen ist, sei er nun bescheidener Atheist, Agnostiker oder ein Mensch, der an Gott glaubt, die Aufgabe, die Radikalität des »neuen Atheismus« kritisch in Frage zu stellen. Dieser ist nicht nur 144 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott
selbstwidersprüchlich aufgrund mangelnder Radikalität seiner Kritik. Sondern sowohl in einer möglichen radikaleren wie auch in der jetzigen Gestalt stellt er eine Infragestellung der Vernunft und der Freiheit des Menschen dar – auch der Freiheit, nicht an Gott zu glauben. Denn diese Freiheit verkehrt er in eine wissenschaftliche, geschichtliche und gesellschaftliche Notwendigkeit.
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Der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr und das Philosophieren mit dem Hammer Zur Wirkung Friedrich Nietzsches
Keine Frage, dass Nietzsche gewirkt hat – und weiter wirkt, und zwar weit über den Bereich der akademischen Philosophie hinaus. In Kunst und Literatur, in Musik und Film, aber auch in den Wissenschaften oder in der Politik finden sich seine Einflüsse. Manchmal wird er ausdrücklich genannt, gelegentlich dient er als nicht eigens erwähnte Inspirationsquelle, ein anderes Mal finden sich nur Spuren einer Auseinandersetzung mit seinem Werk. Oft hat man ihn verkürzt, hat sein Denken instrumentalisiert, eigenen und ihm ganz fremden Zwecken untergeordnet. Man wusste um seine verführerischen Qualitäten, um die Kraft seines Denkens, den Sog, den ein einziger Satz von ihm bewirken konnte. Hat nicht Nietzsche, der Sokrates (und gleichzeitig Anti-Sokrates) der späten, ihrer selbst überdrüssig gewordenen Moderne, die Jugend verdorben? Wenige Denker gibt es, die derart gefährlich werden können. Und was könnte man von ihm schon lernen? Was gibt er wirklich zu denken? Verehrt wird Nietzsche, aber auch angegriffen, verachtet und verdammt. Was hat man ihm nicht alles entgegengehalten? Wie viele Gründe hat man nicht genannt, um ihn nicht ernst nehmen zu müssen? Dass er, ein Meister des Selbstwiderspruchs, sich nicht um Vernunft, Logik oder Konsistenz seiner Philosophie geschert habe. Dass er, der Kritiker des Ressentiments, selber voller Ressentiment gewesen sei. 147 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr …
Dass sein Denken sich gegen ihn selbst richten musste und nichts, rein gar nichts von ihm übrig bleiben konnte. Dass er, an sich selbst zugrunde gegangen, wahnsinnig geworden sei und, vielmehr noch, immer schon den Wahnsinn in sich getragen habe. Keinen Respekt habe er vor rein gar nichts gezeigt. Von allem habe er Abstand genommen, es in Frage gestellt und lächerlich gemacht. Zerstört habe er, was einem lieb und teuer ist: Moral, Menschlichkeit, Hoffnung, Vertrauen und den alltäglichen Anstand, den Glauben an den lieben Gott und, ja, das Denken selbst. Alles Große, Wichtige und Ehrenvolle habe er verdunsten und sich langsam, aber sicher auflösen lassen. Nichts habe unter seinen unbarmherzigen Augen Bestand gehabt. Alles habe er unter Verdacht gestellt. Nichts sei für ihn das gewesen, was es zu sein beansprucht. Alles etwas anderes und letztlich, fern von aller vertrauten Alltäglichkeit, nichts, nichts, nichts. So radikal ist das »Jenseits«, in das Nietzsche immer wieder weist, dass offen bleibt, ob man es je wird erreichen können. Wohin soll man denn noch? Wo könnte es denn liegen? Was, wenn sich nicht einmal mehr ein Diesseits identifizieren ließe? Wenn Hier und Dort, Ich und Anderes, Eigenes und Fremdes tatsächlich bloße Konventionen wären, erstarrte Äußerungen des Willens zu herrschen und zu bestimmen? Unruhig lebt es sich mit Nietzsche, dem Verführer, Vernichter, Verfolger, im Rücken: »Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen.« 1
Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce Homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner (Kritische Studienausgabe 6), München 1980, 365. 1
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Der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr …
Doch würde man mit ihm, wenn man ihn nicht mehr läse, ihn marginalisierte und indizierte, ihn gar ganz aus der Erinnerung striche, nicht gleichzeitig Sokrates noch einmal zum Tode verurteilen? Könnte man mit ihm so fertig werden? Denn so sehr Nietzsche sich gegen alles und jeden stellt, so wenig andere Denker vor seinen oft gnadenlosen Augen Bestand haben, so sehr steht er doch in jener Geschichte des Philosophierens, die mit Sokrates ihren Anfang genommen hat: einer Geschichte des vorurteilsfreien Fragens, eines Denkens, das nicht vor seinen Konsequenzen zurückschreckt, eines Lebens, das sich ganz, mit Haut und Haar, dem Philosophieren ausliefert, das die eine große Frage danach, was die Welt im Innersten zusammenhält, zu stellen wagt. Martin Heidegger hat Nietzsche daher (und aus anderen Gründen) – gegen die Verkürzungen, die bequemen, doch allzu einfachen Politisierungen oder Psychologisierungen seines Denkens – der Geschichte der Metaphysik zugerechnet. Da steht er nun, vielleicht sogar etwas verloren, der letzte aus dem Geschlecht der Metaphysiker, jener, der Platon umgedreht und für den das Sein des Seienden sich im Willen zur Macht erschöpft habe. Keine schlechte Gesellschaft, in der Nietzsche sich dort wiederfindet. Doch gehört er wirklich dahin? Kann jemand, der sich selbst als Dynamit bezeichnet hat, in die Tradition der Denker von Sokrates, Platon und Aristoteles über Augustinus, Thomas von Aquin, Scotus und Ockham bis hin zu Descartes, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel gestellt werden? Ist – noch einmal gefragt – Nietzsche überhaupt ein Philosoph, ein Denker, mit oder gegen den zu denken sich lohnen könnte? Gewiss, die philosophische Tradition kannte immer auch Ironiker, Skeptiker und Zyniker. Aber Nietzsche ist mehr. Nicht einfach ein Denker, 149 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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der sich in eine Tradition einordnen ließe. Kein normaler Relativist ist er, kein simpler Subjektivist, kein ironischer Spieler, dem nichts wichtig wäre und der ein wenig irritieren, die Sicherheit des Gewohnten und Vertrauten herausfordern will. Nietzsche will nicht bloß spielen. Sein Anspruch reicht tiefer. Radikal denkt er aus dem Gegensatz heraus, wütet, zerstört mit letztem Ernst und hinterlässt eine Spur der Verwüstung, ein Brachland, auf dem lange nichts mehr wachsen sollte: »Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt …« 2 Ja, weh dem Verwüstenden, dem Wüstenhaften, jenem, dem sich nur noch die Wahl zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten stellt. Weh dem, der nur noch beide einander gegenüber stellen kann, der die letzte, alles richtende Entscheidung heraufbeschwört und daran zugrunde geht oder alles zugrunde richtet. Denn jener kann nur noch alles zerbrechen – oder selbst zerbrechen. Seinen Interpreten macht er es daher nicht einfach. Kaum glaubt man, dass man ihn oder einen Text, einen einzigen Satz verstanden habe, macht er einem einen Strich durch die Rechnung. Leicht ist es, ihn zu verwechseln, ihn für einen anderen zu halten. Doch ist er tatsächlich immer mehr, immer anders, immer auch jemand, der sich der Einordnungen entzieht, der verwechselt werden kann, ja, der sogar verwechselt werden will. Vielleicht weil man nur dann, wenn die Täuschung auffliegt, seiner wahren Abgründigkeit nahe kommen kann, der Unendlichkeit von Bedeutungen, Ebenen und Dimensionen, der Unerschöpflichkeit des Ozeans, aus dem Nietzsche getrunken Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce Homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner (Kritische Studienausgabe 6), 382. 2
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hat, der er ist, Wellen, die einem das Atmen unmöglich machen, die in die Tiefe reißen, die jeden, der wirklich liest, schnell im Unendlichen verschwinden lassen. Daher gilt es, der allzu bequemen Verführung (der auch Heidegger erlag), ihn auf eine Position, einen oder auch mehrere Hauptgedanken zu reduzieren, zu entgehen. Nietzsche bleibt unvertraut, fremd, anders, irritierend – und muss so bleiben. Wo er vertraut wird, wo man in seine Nähe kommt, muss man sich wieder von ihm entfremden. Nur so bleibt man ihm nahe. Nur so verstellt man ihn nicht. Nietzsche habe ihn kaputt gemacht, so musste schließlich auch Heidegger bekennen. Vielleicht deshalb, weil er mit ihm fertig werden wollte. »Fertig werden« kann man mit ihm nämlich nicht. Denn wo immer es so aussieht, als sei man mit ihm fertig geworden, sticht er – wie Sokrates einer Stechmücke gleich – neu zu. Sein oft widersprüchliches, spannungsvolles und explosives Denken bleibt Aufgabe, ein Geschenk, das man, je mehr man sich mit ihm beschäftigt, doch am liebsten nicht annehmen will. Er fordert heraus – je neu, je anders. Er stellt in Frage – weil er um die Gefahren der Stellungnahmen und Systeme, eines Denkens, das sich an etwas festmacht, das feststellt, begreift und beschließt, wusste. Ihm ging es um Freiheit, nicht um etwas nur Unbedingtes, sondern um sich selbst als unbedingt, um Offenheit ohne Grenzen, ohne etwas, das einengen könnte, um den Abbau, die Zerstörung aller Vor- und Fremdurteile, um das Eigene und den Impuls seines jeweiligen Selbst, um intellektuelle Ehrlichkeit, bis selbst das Wort der Ehrlichkeit seinen Sinn verlieren würde, um jenes, was nie auf den Begriff zu bringen ist, was sich in je anderen Perspektiven zeigt, mal hier, mal dort, mal so, mal anders. Jedem Denken, das zu begründen sucht, stellt er das abgründige Ereignis seiner ei151 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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genen Denk- und Lebenserfahrung entgegen. Nicht etwa, weil er das wollte, sondern weil er nicht anders konnte. Man könnte es sich also leicht machen – und viele haben es sich leicht gemacht – und einfach weitergehen. Nietzsche mit Nichtachtung bestrafen. Ihn verdrängen, verschweigen, vergessen. Doch kann man die Herausforderung seines Denkens ignorieren? Nietzsche hat doch wie wenige zuvor die Möglichkeit der Philosophie selbst in Frage gestellt. Nicht etwa, weil er keine Lust mehr an ihr gehabt hätte, sondern weil sich ihm die einfache, doch oft unartikulierte Frage stellte, ob, wer nicht mehr an Gott glaubt, noch an die Vernunft, die Wahrheit, die Sprache, die Grammatik, ja, an ein einziges Wort glauben könne. Nietzsches Antwort war von beeindruckender Konsequenz – wenn sich denn, wenn er recht hätte, überhaupt noch von Konsequenz sprechen ließe. Ohne Gott zerbricht alles. Wir stehen nicht nur mit leeren Händen, sondern ganz ohne Hände da. Nichts mehr zu begreifen, aber auch nichts zum Begreifen. Kein Horizont mehr. Kein Sinn. Kein Ja, das etwas bejahte. Kein Nein, das etwas verneinen könnte. Nur noch Trümmer, Fragmente, Brösel und Krümel von dem, was einst mal war, nein, was einstmals gewesen sein könnte. Und vielleicht, irgendwann einmal, ein neuer Gott? Ist da was? Kommt da was? Wer? Woher nur? Wohin? Sturz. Ewig kehrt es wieder. Es, wir, was einmal war, wird wieder sein. Und immer wieder wird, wird, wird. Sollte das die ewige Wiederkehr sein? Das Versprechen, dass der Blick nach vorne der Blick nach hinten ist? Dass unten ist, was oben scheint? Von »ewiger Wiederkehr« zu sprechen, das ist tatsächlich Hammerphilosophie. Kein Stein lässt dies auf dem anderen. Wie zumeist, ist zunächst klarer, wogegen sich Nietzsche richtet, als was er positiv zu erfassen versucht. 152 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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Sein Denken ist zuallererst kritisch, negativ, destruktiv. Es muss so sein. Anders ginge es gar nicht. Als ob er gar nichts Positives suchte. Warum auch? Was er zerschlägt, liegt hingegen offen auf dem Boden. Die Ruinen können wir heute besichtigen. Da liegt die Vorstellung einer Heilsgeschichte, der Glaube, dass es nicht nur irgendeinen Gott gibt, sondern dass er etwas im Sinne habe, dass er, dunkel, nicht ganz deutlich, weiß, wohin es geht, ja dass er es gut mit den Menschen meinen könnte. Und da der Glaube an den alten Gott lange schon seine Stärke verloren hatte und der Mensch selbst an seine Stelle gerückt war, liegt da auch der Glaube an den Menschen, die Idee, dass es nur besser werden könne, immer weiter, dass es nur zu denken und zu handeln gelte, bis einmal das Ziel, das Ende aller Geschichte erreicht sei. Und auch die pessimistische Schwester dieser Hoffnung zeigt sich am Boden liegend, die Furcht, dass es früher einmal besser gewesen sei und in Zukunft nur noch schlimmer werden könne. Kein Begreifen der Geschichte ist mehr möglich, so Nietzsche, das von Anfang und Ende, von Sinn und Gradlinigkeit spricht. Alles nur ein Kreis, ein ewig sich drehendes Rad, das jedes Jetzt seine Bedeutung und Schwere verlieren lässt. Kein Augenblick ist einmalig. Nichts ist unendlich bedeutsam, weil es nie wiederkommt. Wenn alles ewig wiederkehrt, war alles schon einmal, wird alles wieder einmal sein. Nichts ist etwas Besonderes, die Zeit verliert ihren Schrecken, alles geht einfach durch sie hindurch, und je höher die Perspektive ist, die man einnimmt, um sie zu betrachten, umso mehr verschwindet sie, wird zu einem Nichts. Keine Angst vor den Wirren der Zeit, dem Altern und dem Sterben. Denn die Zeit ist aufgehoben in einem ununterbrochenen Wachstum und Vergehen, in einem Werden, das nie zu Halt kommt, immer 153 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
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weiter geht, weiter wirkt, weiter wird. Ein süßer Traum, der sich Ewigkeit nennt. Doch ist diese nicht mehr das radikal Andere der Zeit, eine reine, erfüllende Gegenwart, Erlösung von der Zeit, sondern die reine Summe aller Wiederkehr, eine unendliche Kette, die kein Anderes, keine Flucht mehr erlaubt. Ob gut ist oder schlecht, was geschieht, spielt keine Rolle. Denn nichts kann besser, nichts kann schlechter werden. Alles ist, was es ist. Nur geduldig muss man sein. Sich fügen. »Ja« sagen. Das Schicksal erdulden. Es sogar lieben. Ja, ja, ja! Müsste man dagegen nicht aufstehen? Widerstand üben gegen den Fatalismus? Ein Plädoyer wagen für die Freiheit und Würde des Menschen, für die Wahrheit und die Logik, für die Schönheit und das Wunder, dass überhaupt etwas ist und dass es gut sein könnte? Ja, man müsste es, solange man sich selbst, sein eigenes Denken, die Schönheit des Augenblicks, den Blick des anderen Menschen noch schätzen – will. Solange man dem (selbst-)zerstörerischen Dynamit die Zärtlichkeit der Anerkennung dessen, was ist, entgegenzustellen wagt. Und solange man gelassen dem Willen und verwundbar der Macht entgegenzutreten wagt. Ja, man müsste es, mehr denn je zuvor. Und würde das nicht bedeuten, Nietzsche zu danken? Für seine Konsequenz? Seine Radikalität? Seinen Ruf zur Entscheidung? Wozu Nietzsche? Weil er zum Eigentlichen, einer neuen, anderen, tieferen Menschlichkeit zurückführen könnte? Vielleicht. Und wozu heute? Weil dies heute nach Nietzsche so notwendig ist wie selten zuvor? Vielleicht auch das. Doch möglicherweise gibt es gar kein Wozu. Er denkt, weil er denkt – oder, noch schlichter, weil es denkt. So. Einfach. Oder weil er so gute Bücher schreibt? Wer wollte das sagen?
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Nachwort
Menschen leben nicht einfach nur. Sie führen ihr je eigenes Leben. Daher können sie – anders als Tiere – nicht nur von ihrem Leben erzählen und Autobiografien schreiben. Sie müssen sich auch je neu damit auseinandersetzen, was es bedeutet, als Mensch zu leben, menschlich zu sein. Die verschiedenen Texte dieses Bandes unternehmen Annäherungen an diese Frage. Sie formulieren keine systematische Anthropologie, sondern lassen verschiedene, einander ergänzende Dimensionen des Menschseins in Erscheinung treten: die Herausforderung der Freiheit und die Sehnsucht nach Vorbildern eigentlicher Menschlichkeit; die Erfahrung der Freude und die in ihr geschehende Bejahung der Wirklichkeit auch in ihren dunklen Aspekten; die Nähe und die Ferne von Mensch und Tier und die Aufgabe, neu die Gemeinsamkeiten des Lebendigen zu bedenken; die Kunst des Lebens und des Sterbens und die Verantwortung für den anderen Menschen angesichts des Todes; die Entdeckung der Würde jedes Menschen und die Identität Europas; die moralische Herausforderung durch Flucht und Vertreibung und die Verantwortung Europas; die Hinordnung des Menschen auf Wahrheit und Freiheit und den unbedingten Ort der Universität und die Möglichkeit des Glaubens in Vernunft und Freiheit – wider die Verkürzungen eines »neuen Atheismus«. Ergänzt werden diese Überlegungen durch einen Text, der Nietzsche und seine Bedeutung in den Vordergrund stellt und dabei Herausforderungen gegenwärtigen Menschseins aufweist. 155 https://doi.org/10.5771/9783495818152 .
Nachwort
Menschsein, so zeigt sich, vollzieht sich in Beziehungen: zur eigenen Natur, zum anderen Menschen, zur Welt, zur Wahrheit und zu Gott. Menschen sind frei – und bedürfen in ihrer Freiheit der Anerkennung von Grenzen, die sie erst menschlich leben lassen. Daher ist »Verantwortung« ein immer wieder auftauchender Schlüsselbegriff. Nur wenn Menschen ihre Verantwortung übernehmen, wenn sie auf jene Rufe und Herausforderungen antworten, die an sie immer wieder ergehen – in der Begegnung mit anderen Menschen, in den Grenzsituationen von Freude und Leid, in der Erfahrung von Wirklichkeit und Wahrheit oder im religiösen Glauben –, kann ihr Leben in aller Gebrochenheit und Endlichkeit glücken. Die Texte des vorliegenden Bandes sind in den letzten drei Jahren entstanden und an teils entlegener Stelle erschienen. Für die Veröffentlichung hier wurden alle Texte überarbeitet und teils erweitert. Für Kritik und hilfreiche Kommentare zu ihnen danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Dr. Alfred Denker, Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Prof. Dr. Dr. Doris Nauer, PD Dr. Ekaterina Poljakova, Martin W. Ramb und Anne Szczodrowski. Ein besonderer Dank gilt Antonia Gottwald für ihre genaue Lektüre aller Texte, ihre zahlreichen wertvollen Anregungen und unsere Gespräche über die Möglichkeiten gelungenen Menschseins. Lukas Trabert und Julia Pirschl vom Verlag Karl Alber gilt mein herzlicher Dank für die wie immer sehr angenehme Zusammenarbeit. Vallendar, im Juli 2016
Holger Zaborowski
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Helden, Antihelden und der Geschmack der Freiheit. Zur Herausforderung, ein Mensch zu sein Unter dem Titel »Von der Zukunft der Helden«, in: Martin W. Ramb / Holger Zaborowski (Hrsg.), Helden und Legenden oder: Ob sie uns heute noch etwas zu sagen haben, Göttingen 2015, 223–232.
Freude, Spaß und die Zustimmung zur Wirklichkeit. Zum Geschenk erfüllter Zeit Unter dem Titel »Vom Ereignis der Freude«, in: Diakonia. Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche 45 (2014), 2–11.
Menschen, Tiere und die Gemeinschaft des Lebens. Zur Aufgabe einer neuen Ökologie Unter dem Titel »Mensch und Tier: Nähe, Ferne und Gemeinschaft«, in: Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung, Nr. 14 (2015), 6–13.
Sterben, Tod und die Kunst des Lebens. Zur Verantwortung für den anderen Menschen Unter dem Titel »Gelassenheit im Sterben – und im Leben«, in: Hermann Brandenburg / Helen Güther (Hrsg.), Gerontologische Pflege, Bern 2015, 333–340.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die europäische Krise, die Grenzen des Pragmatismus und die Würde des Menschen. Zur Identität Europas Unter dem Titel »Unser Europa« in: Beate Beckmann-Zöller / René Kaufmann (Hrsg.), Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2015; zuvor erschienen in niederländischer Sprache unter dem Titel »Ons Europa«, trans. Huub Steegeman, in: Ronald Tinnevelt (ed.), Europa – op zoek naar een nieuw elan, Nijmegen 2014, 46–59.
Flucht, Vertreibung und die Gabe der Hoffnung. Zur Verantwortung Europas Unter dem Titel »Europas Verantwortung und die Gabe der Hoffnung«, in: Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung, Nr. 16 (2016), 34–39.
Wahrheit, Freiheit und die Idee des Menschen. Zur Krise der Universität Unter dem Titel »Krise der Universität – Universität der Krise«, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 42 (2013), 138–150.
Vernunft, Freiheit und der Glaube an Gott. Zur Kritik des »neuen Atheismus« Unter demselben Titeln in: George Augustin / Sonja SailerPfister / Klaus Vellguth (Hrsg.), Christentum im Dialog. Perspektiven christlicher Identität in einer pluralen Gesellschaft (= Theologie im Dialog 12), Freiburg / Basel / Wien 2014, 195–206.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr und das Philosophieren mit dem Hammer. Zur Wirkung Friedrich Nietzsches Unter dem Titel »Wozu Nietzsche?« erscheint dieser Text in russischer Übersetzung in: Фридрих Ницше: наследие и проект / Friedrich Nietzsche: Heritage and Prospects, ed. by Yulia Sineokaya and Ekaterina Poljakova, Moscow 2017.
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